Dur versus Moll: Zur Geschichte der Semantik eines musikalischen Elementarkontrasts [1 ed.] 9783412518110, 9783412518097


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Dur versus Moll: Zur Geschichte der Semantik eines musikalischen Elementarkontrasts [1 ed.]
 9783412518110, 9783412518097

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Hans-Joachim Hinrichsen Stefan Keym (Hg.)

Dur

versus

Moll

Zur Geschichte der Semantik eines musikalischen Elementarkontrasts

Hans-Joachim Hinrichsen · Stefan Keym (Hg.)

DUR VERSUS MOLL Zur Geschichte der Semantik eines musikalischen Elementarkontrasts

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung Köln und der Universität Leipzig

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Quintenzirkel, aus: Johann David Heinichen, Der General-Bass in der Composition, Dresden 1728 Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51811-0

Inhalt

Einführung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Hermann Danuser

Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 Wolfgang Auhagen

Dur/Moll und die Geschichte der Tonartencharakteristik . . . . . . . . . . . . . .

 41

Nina Noeske

Keine Spielerei? Dur und Moll im (und als) Gender-Diskurs. . . . . . . . . . . . .

 51

Wolfgang Fuhrmann

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verfestigung einer Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 63

Timothy R. McKinney

Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Ludwig Holtmeier

Wie das Moll seine Autonomie verlor. Zur Entwicklungsgeschichte des Mollmodus in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Louis Delpech

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700. Lully, Couperin, Bach, Händel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Stefan Keym

Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose. Die zwei Typen der MollDur-Dramaturgie in Pariser Opernouvertüren des späten 18. Jahrhunderts und ihre Relevanz für Beethoven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Markus Neuwirth

»Durch Nacht zum Licht« (und zurück in die Nacht). Formstrategien, dramaturgische Funktionen und semantische Implikationen der Dur-Aufhellung in Reprisen »klassischer« Moll-Sonatenformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5

Inhalt

Felix Michel

Dur und Moll als Artikulationsmittel der Sonatenform um 1830 . . . . . . . . . . 219 Matteo Giuggioli

Lichtblitze und fatale Räume. Zur Dramaturgie von Dur und Moll in der italienischen Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . .

255

Marie-Agnes Dittrich

Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler.. . . . . . . .

283

Christoph Hust

Dur und Moll nach Moritz Hauptmann. Positionen und Epistemologien im Leipziger Theoriediskurs des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Arne Stollberg

Essenz des Tragischen. Dur-Moll-Konstellationen in der Symphonik des späten 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Hans-Joachim Hinrichsen · Ivana Rentsch

Dur/Moll und der tschechische Folklorismus. Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

Shay Loya

Neither Major, nor Minor. The Affective Fluctuating Third in Central-European Art Music ca. 1840–1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Signe Rotter-Broman

Dur, Moll und Neomodalität in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Benedikt Leßmann

Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

407

Ullrich Scheideler

»Aus der Zweigeschlechtigkeit ist ein Übergeschlecht entstanden!« Zum musiktheoretischen Diskurs über Dur und Moll im Kontext der Erweiterung und Auflösung der Tonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

425

Inhalt

Wolfgang Mende

»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«. Tongeschlechter im Zugriff politischer Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Valentina Sandu-Dediu

Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Felix Wörner

Dur/Moll-Klänge in »posttonaler« Musik. Erinnerungsfragmente einer verlorenen Idylle ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503

Dan Dediu

Delinquenz in der Neuen Musik nach 1970. Ein immunologischer Blick auf das Dur-Moll-Dispositiv.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

521

Martin Pfleiderer

Jenseits von Dur und Moll? Zur Tonalität in der populären Musik nach 1960.. . . 539 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

555

7

Einführung Die Polarität der beiden Tongeschlechter Dur und Moll zählt zu den elementaren Grundlagen der europäischen Musik der Neuzeit. Wie kaum ein anderer Aspekt des Tonsatzes wird sie von den meisten Hörern mit einer festen semantischen Konnotation verbunden  : Dur ist mit dem Ausdruck positiver Gehalte verknüpft (Freude, Glück oder Triumph), Moll hingegen mit negativen (Trauer, Depression oder Tragik). Weitere Assoziationen ordnen die Dur-Moll-Polarität metaphorisch den Bereichen des Hellen bzw. Dunklen, in symbolischer Hinsicht sogar den Dimensionen des Guten oder Bösen zu. Aufgrund der leichten auditiven Identifizierbarkeit von Dur und Moll (etwa im Vergleich zu einzelnen Tonarten oder zum Komplexitätsgrad von Modulationsprozessen) haben diese Konnotationen die Wahrnehmung und Deutung von Musik seit der frühen Neuzeit und bis in die Gegenwart hinein maßgeblich geprägt, in der Kunstmusik ebenso wie in der Popularmusik. Den meisten Musikhörern gilt die Dur-Moll-Polarität als eine Selbstverständlichkeit, die kaum hinterfragt wird. So hat sie schon Arthur Schopenhauer als voraussetzungslos gültig postuliert  : »Aber wie wundervoll ist die Wirkung von Moll und Dur  ! Wie erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz statt der großen, uns sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von welchem uns das Dur wieder ebenso augenblicklich erlöst.«1 Vor einem halben Jahrhundert hat Theodor W. Adorno in seiner einflussreichen Mahler-Monographie diesem scheinbar so selbstverständlichen und elementaren Phänomen die Funktion eines wichtigen Bausteins seiner eigenen Mahler-Deutung zugestanden und dabei im Rückblick auf das 19. Jahrhunderts einige gewagte Thesen formuliert. Für Adorno war Gustav Mahler der letzte große Komponist, der die in der europäischen Musiktradition gewachsene Dur-Moll-Polarität noch einmal ins Zentrum seiner musikalischen Poetik zu stellen vermochte. Insbesondere in Mahlers Sechster Symphonie hat das Changieren zwischen Dur und Moll bekanntlich eine leitmotivische und symbolische Aufgabe zu erfüllen.2 Für Adorno ist dieser ebenso sinnfällige wie plakative »Übergang von Dur in Moll«3 zunächst einmal ein klares Indiz für einen bewusst eingesetzten 1 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1 (= Sämtliche Werke 1), hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Darmstadt 1961, S. 364. 2 Siehe die analytischen Bemerkungen dazu in den Beiträgen von Hermann Danuser und Arne Stollberg im vorliegenden Band. 3 Theodor W. Adorno, Mahler  : eine musikalische Physiognomik, Frankfurt/Main 1960, S.  33  ; wieder abgedruckt in  : ders., Die musikalischen Monographien (= Gesammelte Schriften 13), hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main, S. 169.

9

Einführung

Anachronismus, und er versteht Mahlers Festhalten an der Diatonik als ein Gegenmittel zur Entqualifizierung des Materials durch die seit Richard Wagners Tristan und Isolde um sich greifende Chromatisierung  : »Mahlers Dur-Moll-Manier hat ihre Funktion. Sie sabotiert die eingefahrene Musiksprache durch Dialekt«.4 Zugleich aber erkennt er natürlich, dass Mahlers Dur-Moll-Sigel, in welchem der »Überschuss der poetischen Idee sich verschlüsselt«, eine lange Tradition voraussetzt, auf die es sich bezieht  : »Zum Sigel der Trauer wird das längst in der Syntax der abendländischen Tonsprache neutralisierte, als Formelement sedimentierte Moll nur, indem der Kontrast zum Dur es als Modus erweckt. Sein Wesen ist es, Abweichung zu sein  ; isoliert übte es jene Wirkung nicht mehr aus«.5 Wenn Adorno die »Mahlerschen Moll-Akkorde, welche die Dur-Dreiklänge desavouieren«, als »Masken kommender Dissonanzen« verstehen will,6 dann trägt er in geschichtsphilosophischer Absicht den Dur-Moll-Dualismus noch einmal dezidiert in das musikhistorische Funktionsgeflecht von Allgemeinem und Besonderem, von Regel und Ausnahme hinein. Vor allem aber gilt für Adorno (und damit in seiner Sicht auch für Mahler) noch ungebrochen die etablierte Semantik der Polarität. Bei Mahler sei (man darf vermuten  : zum letzten Mal) auch der großformale »Wechsel von Maggiore und Minore«, den das Finale der Sechsten in einer emblematischen Klangchiffre engräumig zusammenfasst, »wie vordem bei Schubert einer von Trauer und Trost«.7 Adornos gerade in ihrem souveränen Überschreiten der Grenzen zwischen Analyse und Hermeneutik, zwischen Wissenschaft und Kritik überaus anregende Ausführungen werfen eine Reihe von Fragen auf  : Wenn Mahler den (oder einen) Endpunkt der Verwendung einer historisch gewachsenen Dur-Moll-Semantik bildet, wo wären deren Anfänge zu suchen  ? Kann man hier in verschiedenen Epochen und Kulturräumen von ein und demselben Paradigma ausgehen oder wäre innerhalb dieses weiten Felds nicht zwischen verschiedenen Unterströmungen zu differenzieren  ? Bildet die Konfrontation von Dur und Moll in ein und demselben Thema (oder harmonischen Motiv), wie sie emblematisch in Mahlers Sechster, aber zuvor auch bereits etwa bei Franz Schubert (Streichquartett G-Dur D 887), Johannes Brahms (Dritte Symphonie) oder César Franck (zyklisches Thema des Klavierquintetts) zu finden ist, ein zugespitztes Spätstadium dieser Entwicklung  ? Wie verhalten sich solche Dur/Moll-Embleme im Bereich der Mikrostruktur zu großformalen Tonartendramaturgien  ? Und ist es Zufall, dass nahezu zur selben Zeit, in der Mahlers Sechste entsteht, der junge Karol Szymanowski als einer der ersten die simultane Verwendung von Moll- und Durakkord über demselben Grundton erprobt (am Ende des Kopfsatzes seiner Ersten Symphonie)  ?

4 5 6 7

10

Ebd., S. 36 (bzw. Gesammelte Schriften 13, S. 171). Ebd., S. 39 (bzw. Gesammelte Schriften 13, S. 174). Ebd., S. 40 (bzw. Gesammelte Schriften 13, S. 175). Ebd., S. 43 (bzw. Gesammelte Schriften 13, S. 177).

Einführung

Auf diese und ähnliche Fragen gibt die bisherige Forschungsliteratur keine Antworten. Denn während der der Dur-Moll-Polarität zugrunde liegende Dualismus Adornos dialektisch geschulte Denkweise und Rhetorik geradezu anregte, scheint die neuere Musikforschung darin eher eine Banalität bzw. ein Phänomen pauschaler Schwarz-WeißMalerei zu sehen, das – anders als etwa die Tonartencharakteristik8 – weder strukturell noch hermeneutisch ambitionierte Interpretationen zulässt und aus der Sicht der Postmoderne mit ihrer Neigung zur Mehrfach-Codierung geradezu »politically incorrect« anmuten mag. (Auf diese klischeehafte Einschätzung spielt die grafische Gestaltung des Buchcovers an.) Nachdem man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht hatte, die Dur-Moll-Tonalität einschließlich ihrer Semantik als eine überzeitliche, naturgegebene Tatsache ›nachzuweisen‹ (oft mit polemischer Stoßrichtung gegen die sogenannte Atonalität der Neuen Musik),9 wird heute allgemein davon ausgegangen, dass es sich um eine kulturell bedingte und historisch gewachsene Tradition handelt. Neuere psychologische Untersuchungen scheinen sogar zu belegen, dass diese Kulturalität nicht nur in kollektiver, sondern auch in individueller Hinsicht vorliegt  : Kinder im Vorschulalter sind in der Regel noch nicht bereit (oder in der Lage), Dur-Melodien als fröhlich und Moll-Melodien als traurig anzuerkennen.10 Für eine längerfristige musikgeschichtliche Perspektive jedenfalls dürfte die historische Gewordenheit des Phänomens (und damit wohl auch seine Vergänglichkeit) außer Frage stehen. Zur Ausprägung des satztechnischen Phänomens der Dur-Moll-Tonalität und seiner Geschichte liegen bereits etliche Studien vor.11 Wann, wo und wie sich das mit ihm verbundene semantische Paradigma herausgebildet und allgemein durchgesetzt hat, ist jedoch noch keineswegs geklärt.12   8 Siehe etwa Wolfgang Auhagen, Studien zur Tonartencharakteristik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main u. a. 1983, und Rita Steblin, A History of Key Characteristics in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, Ann Arbor, Michigan 1979, 2 Rochester, NY 2002.   9 Siehe etwa Hugo Riemann, Das Problem des harmonischen Dualismus. Ein Beitrag zur Ästhetik der Musik, Leipzig 1905, Jacques Handschin, Der Toncharakter, Zürich 1948, oder Ernst Laaff und Albert Wellek, Artikel »Atonalität«, in  : MGG, Bd. 1, Kassel u. a. 1949, Sp. 760–766, hier besonders Sp. 761und 763. 10 Simone Dalla Bella u. a., »Development of the Happy-Sad Distinction in Music Appreciation. Does Tempo emerge earlier than Mode  ?«, in  : Annals of the New York Academy of Sciences 930 (8.7.2001), S. 436–438. 11 Paul Beyer, Studien zur Vorgeschichte des Dur-moll, Kassel 1958, Carl Dahlhaus, Untersuchungen zur Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel 1968, Norman D. Anderson, Aspects of Early Major-Minor Tonality. Structural Characteristics of the Music of the 16th and 17th Centuries, PhD Diss., Ohio State University 1992, Michael Beiche, Artikel Dur – moll, in  : Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 23. Auslieferung, Wiesbaden 1995, sowie neuerdings die statistischen Untersuchungen von Joshua D. Albrecht und David Huron, »A Statistical Approach to Tracing the Historical Development of Major and Minor Pitch Distributions, 1400–1750«, in  : Music Perception 31/3 (2012), S. 223–243, sowie Katelyn Horn und David Huron, »On the Changing Use of the Major and Minor Modes, 1750–1900«, in  : Music Theory Online 21/1 (März 2015), www. mtosmt.org/issues/mto.15.21.1/mto.15.21.1.horn_huron.pdf, 27.1.2019. 12 Dies betont bereits Peter Benary, Artikel Dur und Moll, in  : MGG, 2. Auflage, Sachteil, Bd. 2, Kassel u. a. 1995,

11

Einführung

Dabei bietet sich dieses Thema angesichts seiner zentralen Bedeutung sowohl für die Musikästhetik als auch für die Musiktheorie sowie aufgrund seiner außergewöhnlich langen Wirksamkeit in besonderem Maße als Fallbeispiel an, um den Zusammenhang von musikalischer Struktur und Semantik in unterschiedlichen ästhetischen und kulturgeschichtlichen Kontexten zu untersuchen. *** Aussagen über die Semantik der Intervalle der großen und kleinen Terz finden sich bereits bei Musiktheoretikern des 16.  Jahrhunderts wie Gioseffo Zarlino.13 Auch in Vokalwerken aus dieser Zeit lässt sich der gezielte Einsatz punktueller Dur-Moll-Wechsel als wortausdeutendes Ausdrucksmittel vielfach nachweisen (etwa in Motetten von Orlando di Lasso oder bei den italienischen Madrigalisten). Die heute geläufige pauschale Gleichsetzung von Dur mit Freude und Moll mit Trauer war damals jedoch noch keineswegs etabliert. Sie konkurrierte vielmehr mit anderen semantischen Zuschreibungen, die aus der ursprünglichen etymologischen Bedeutung der beiden Begriffe (lat. durus = hart  ; mollis = weich) abgeleitet wurden sowie aus dem immer noch wirksamen System der Modi (Kirchentonarten).14 Die Konnotation von Moll mit Trauer war auch in der Barockzeit nur im Zusammenwirken mit anderen Stilmitteln wie langsamem Tempo, Chromatik oder absteigender Melodik standardisiert. Ein schnelles Instrumentalstück in Moll hingegen war noch bei Bach und Händel keineswegs zwingend mit einem negativen Ausdrucksgehalt verbunden. Während die satztechnische Fundierung der Dur-Moll-Tonalität bereits in der Generalbasszeit erfolgte (dies dokumentiert etwa der auf dem Cover abgebildete Quintenzirkel aus der Generalbasslehre von Johann David Heinichen15) und aus der Sicht der zeitgenössischen Musiktheorie sogar als Verlust der Autonomie des Mollgeschlechts erscheinen konnte, vollzog sich die Standardisierung ihrer Semantik offensichtlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Ausprägung eines neuen, tendenziell negativ konnotierten Allegro-Satztyps in Moll (nachdem zwischenzeitlich in der Epoche des ›galanten Stils‹ kaum noch Allegro-Sätze in Moll komponiert worden waren und sich das weiche Tongeschlecht quasi in den langsamen Mittelsatz zyklischer Instrumentalwerke zurückgezogen hatte). Freilich ist das semantische Potential der beiden Tongeschlechter stets viel reichhaltiger gewesen, als es eine oberflächliche Betrachtung wahrhaben will. Schon Eduard Hanslick hat auf das PhänoSp. 1595, der zumindest einige kursorische Hinweise zur historischen Entwicklung der Semantik des Phänomens gibt. 13 Gioseffo Zarlino, Le Istitutioni harmoniche, Venedig 1558, Teil III, S. 156. 14 Siehe etwa Eric T. Chafe, Monteverdi’s Tonal Language, New York 1992, und Joel Lester, Between Modes and Keys. German Theory 1592–1802, Stuyvesant, N. Y. 1989, sowie Bernhard Meier, Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie, Utrecht 1974. 15 Johann David Heinichen, Der Generalbaß in der Komposition, Dresden 1728, S. 837.

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Einführung

men eines traurigen oder verschatteten Dur (so etwa bei Mozart oder Schubert) aufmerksam gemacht  ; für ein frühes Beispiel verweist er auf Glucks Arie »Che farò senza Euridice«.16 Den geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Entwicklungen bildete die neue Konjunktur der ästhetischen Kategorien von Empfindsamkeit und Melancholie (vor allem in Lied, Kantate und Klaviermusik) sowie von Pathos und Erhabenheit (zunächst besonders in Oratorium und Oper, später auch in der Symphonie)  ; außerdem flossen geschlechtsspezifische Stereotypen in die Charakterisierung der beiden ›Tongeschlechter‹ ein. Exemplarisch bündelt den Komplex um 1800 der für die empfindsam-frühromantische Musikästhetik so wichtig gewordene Jean Paul  : »Auf weichsten Molltönen ging die Erblindung mit ihren langen Schmerzen vorüber […]. Dann führten ihn härtere Molltöne in den Tartarus […]. Mit einem Donnerschlage des Entzückens fiel er in den Majore-Ton«.17 Dass man sich gleichwohl vor einer einsträngig linearen Deutung dieser Entwicklung hüten sollte, zeigt etwa Ludwig Finschers Unterscheidung zwischen einem durch »Elemente aus der Opernsprache« inspirierten affektiven Moll der sogenannten »Sturm und Drang-Periode« und einem gleichsam objektiven, weil abgeklärten Mollcharakter der Londoner Symphonien Joseph Haydns, die sich in der Regel früher oder später nach Dur wenden.18 In Haydns Oeuvre vollzieht sich exemplarisch die Entwicklung »vom gleichsam neutralen Moll der barocken Tradition« bis zur Etablierung des »modernen Ausdrucks-Moll«19 und seiner schließlichen Überwindung in einer neuen Haltung gesellschaftlicher Konzilianz, die bei ihm auch dem Werkverlauf von Moll nach Dur einen neuen, weniger konflikthaften als vielmehr spielerischen Charakter verleiht. Indessen haben Komponisten wie Mozart oder der junge Beethoven (bis hin zur Klaviersonate f-Moll op. 57, der »Appassionata«) am konsequenten Mollschluss eines in Moll begonnenen Werks festgehalten. Und der spätere Haydn hat auch Schule gemacht mit dem seltenen Fall eines Mollfinales für ein in Dur begonnenes Werk (Streichquartett C-Dur Hob.  III  :77, das sogenannte »Kaiserquartett«  ; für spätere Exemplare eines entsprechenden Werkverlaufs siehe etwa Felix Mendelssohn Bartholdys »Italienische« Symphonie, das Klaviertrio op. 8 und die Dritte Symphonie von Johannes Brahms oder das Klavierquartett op. 87 von Antonín Dvořák). Mit regionalen Unterschieden ist ohnehin zu rechnen  ; zu ihnen gehört sicherlich die sprunghafte Zunahme von Mollkompositionen nach 1770 in London, die sich möglicherweise mit dem durch Edmund Burke 1757 neu angeregten Erhabenheitsdiskurs in Verbindung bringen lässt.20 16 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik in der Tonkunst, historischkritische Ausgabe, hrsg. von Dietmar Strauß, Mainz u. a. 1990, S. 57. 17 Jean Paul, Titan (= Sämtliche Werke I/3), München 1963, S. 166. 18 Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 263–273, 315–318 und 363. 19 Ebd., S. 189f. 20 Vgl. Anselm Gerhard, London und der Klassizismus in der Musik. Die Idee der ›absoluten Musik‹ und Muzio Clementis Klavierwerke, Stuttgart und Weimar 2002, S. 73f.

13

Einführung

Der politische Kontext der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege trug um 1800 zu einer weiteren Radikalisierung und Monumentalisierung der Stilmittel und Einsatzstrategien des neuen »Ausdrucks-Moll« bei, die sich insbesondere in spektakulären Moll-Dur-»Durchbrüchen« äußerte. Dadurch gewann der Dur-Moll-Kontrast – über punktuelle Wirkungen und die Wahl der Grundtonart eines Satzes hinaus – auch Einfluss auf die Tonarten-Dramaturgie instrumentaler Großformen. So prägte sich ausgehend von Pariser Opernouvertüren die Tradition aus, einem Dur-Allegro eine pathetische langsame Einleitung in Moll voranzustellen und ein Moll-Allegro triumphal in Dur zu schließen (analog zum Handlungsverlauf der sogenannten Rettungs- oder Befreiungsopern, aber auch von Schauspielmusiken wie bei Beethovens Egmont-Ouvertüre).21 Vor allem die letztere Dramaturgie, deren Semantik u. a. mit Devisen wie »per aspera ad astra«, »von Nacht zu Licht« oder »Kampf und Sieg«22 umschrieben wurde und die bei Beethoven auch Eingang in die zyklische, satzübergreifende Form der Symphonie fand, trug wesentlich zur Dynamisierung und zur Ausprägung einer neuen teleologischen Finalität ein- und mehrsätziger Instrumentalmusik bei. Dabei bliebe zu fragen, in welcher Weise diese neuartig dramatisierte Finalität sich abhebt von jener Durchbruchs-Dramaturgie, die – zur selben Zeit und kaum weniger spektakulär – am Beginn von Haydns Oratorium Die Schöpfung das Werden des Lichts inszeniert und programmatisch-semantisch weit eher durch die aufklärerische Formel »Ex nocte per auroram meridies«23 zu bezeichnen wäre. Spätestens mit Beethovens Symphonien Nr. 5 (1808) und Nr. 9 (1824) war die MollDur-Dramaturgie als ein wirkungsmächtiges Modell etabliert, das in der Instrumentalmusik des 19.  Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen und dabei variiert und weiter ausdifferenziert wurde.24 Aufgrund seiner leichten Nachvollziehbarkeit wurde dieses Modell auch gern zur Vermittlung transmusikalischer Ideen und Plots sowie aktueller politischer und/oder religiöser Botschaften eingesetzt (vor allem in Ouvertüren und

21 Vgl. Stefan Keym, »Wien – Paris – Wien. Beethovens Moll-Dur-Dramaturgie im Licht einer ›histoire croisée‹«, in  : Beethoven. Studien und Interpretationen, hrsg. von Mieczysław Tomaszewski, Bd. 4, Kraków 2009, S. 407–419, und ders., »Ein ›Hauptwerk hinsichtlich der Wirkung‹  ? George Onslows Vierte Sinfonie und die Tradition der langsamen Moll-Einleitung in Pariser Ouvertüren der Revolutionszeit«, in  : George Onslow. Beiträge zu seinem Werk, Teil 1, hrsg. von Thomas Schipperges, Hildesheim 2009, S. 195–245. 22 Siehe dazu Arne Stollberg, Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2014. 23 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica [1750], hrsg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, Bd. 1, S. 14 (§ 7). 24 Vgl. etwa Stefan Keym, »Dur – Moll – Dur. Zur Dramaturgie der Tongeschlechter in Mendelssohns Instru­ mentalmusik«, in  : Mendelssohn und das Rheinland, hrsg. von Petra Weber-Bockholdt, München 2011, S. 133–152, und ders., »›Der Unterschied zwischen Dur und Moll muß vorweg zugegeben werden‹. Robert Schumann und die ›per aspera ad astra‹-Dramaturgie«, in  : Robert Schumann. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hrsg. von Helmut Loos, Leipzig 2011, S. 173–205.

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Programmusik).25 Darüber hinaus spielte der Dur-Moll-Kontrast eine wichtige Rolle bei Strategien, den Tonartenplan der Sonatenform durch Hinzufügung weiterer Stationen zu einer komplexeren Konfiguration zu erweitern.26 Parallel dazu schlug sich die DurMoll-Semantik auch verstärkt als spektakulärer und formkonstitutiver Faktor in vokalen Gattungen wie Lied, Oper und Oratorium nieder. In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts zeigen sich unter dem Einfluss nationalfolkloristisch und/oder religiös motivierter Historismen in verschiedenen Ländern (zunächst primär außerhalb des deutschsprachigen Raums) Tendenzen, modale Elemente wieder in die Harmonik einzubeziehen und damit die zunehmend als abgegriffen empfundene Dur-Moll-Polarität einschließlich ihrer Semantik zumindest teilweise zu unterlaufen. Dadurch eröffnete sich einerseits die Möglichkeit, diese Polarität wieder als primär konstruktives, semantisch ›neutrales‹ Moment einzusetzen. Andererseits entstanden neue semantische Zuschreibungen bis hin zu der absurden patriotischen Vereinnahmung und Heroisierung des dorischen Modus durch faschistische Systeme im 20. Jahrhundert. In der Neuen Musik wurde die dreiklangbasierte Dur-Moll-Tonalität im Zeichen von Dodekaphonie und anderen posttonalen Richtungen außer Kraft gesetzt und teilweise sogar mit einem ›Verbot‹ belegt.27 Im Kontext der Atonalität konnte jedoch auch eine höchst effektvolle Umcodierung des vormals positiv besetzten Durdreiklangs erfolgen – man denke etwa an den Einsatz von C-Dur in der Szene II/1 von Alban Bergs Wozzeck, als vom Geld die Rede ist. Selbstverständlich wird dabei mit der Kenntnis der semantischen Tradition gerade gerechnet, anstatt sie in Frage zu stellen. Und auch vor der Hintergrundfolie einer durchchromatisierten, dissonanten Tonsprache ließen sich einzelne Dreiklänge oder ›tonale Inseln‹ wieder besonders wirkungsvoll als Ausdrucksmittel einsetzen, etwa um eine politische Botschaft zu vermitteln (z. B. bei Komponisten im Warschauer Pakt) oder eher mit spielerisch-ironischer Haltung in einem ›postmodernen‹ Kontext. Ob die Dur-Moll-Polarität für das heutige Komponieren endgültig obsolet ist oder immer noch expressive oder konstruktive Perspektiven bietet, soll an dieser Stelle offen bleiben. ***

25 Siehe Stefan Keym, »The Tradition of ›per aspera ad astra‹ in Polish Symphonic Music from Zygmunt Noskowski to Karol Szymanowski«, in  : Muzyka 54 (2009), Nr. 3–4, S. 21–44. 26 Hans-Joachim Hinrichsen, Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts, Tutzing 1994. Vgl. auch ders., »Arten der Enharmonik. Zu einigen Problemen der musikalischen Analyse«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 47 (1990), S. 192–206, sowie ders., »›Romantische Harmonik‹ und ›klassisches Sonatenprinzip‹. Zum harmonischen Funktionswandel der Sonatenexposition im 19. Jahrhundert«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 50 (1993), S. 217–231. 27 Vgl. Felix Wörner und Ullrich Scheideler (Hrsg.), Tonality 1900 – 1950. Concept and Practice, Stuttgart 2012.

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Einführung

Der vorliegende Sammelband zeichnet die Entwicklung der Semantik von Dur und Moll mit ihren Kontinuitäten und Brüchen nach  : von den Anfängen um 1500 bis in die Gegenwart. Er bietet gleichsam den Entwurf einer Musikgeschichte aus einer neuen, bisher ungewohnten Perspektive und versucht zugleich, die Historizität wie die Kulturalität des vermeintlich so selbstverständlichen und stabilen musikalischen Elementarkontrasts zu beleuchten. Der historische Blick (der sich in der bis auf die drei einführenden Texte primär chronologischen Anordnung der Beiträge des Bandes widerspiegelt) wird dabei gekoppelt mit einem systematischen, komparatistischen Ansatz. Dass im gesamten Panorama trotz der Bemühungen um eine Verknüpfung systematischer wie historischer Aspekte mit der größtmöglichen Fülle an individueller Konkretion einstweilen manche Lücken bleiben müssen, liegt in der Natur der Sache. In den Beiträgen stehen weniger einzelne Komponisten und Werke im Mittelpunkt (zu denen ja bereits zahlreiche Einzelanalysen vorliegen, die den Dur-Moll-Aspekt mitberücksichtigen, wenn auch kaum systematisch vergleichend untersuchen) als vielmehr breitere Strömungen und Traditionszusammenhänge, etwa in bestimmten Gattungen und Regionen. Außerdem werden Wechselwirkungen zwischen Musiktheorie und kompositorischer Praxis beleuchtet. Der Band entspricht damit der in letzter Zeit verstärkt erhobenen Forderung, musiktheoretische und werkanalytische Untersuchungen mit einer ästhetischen und kulturgeschichtlichen Perspektive zu verbinden.28 Die Mehrzahl der 24 Beiträge ist aus einer internationalen Tagung zu demselben Thema hervorgegangen,29 die vom 19. bis 22. November 2015 in Leipzig stattfand und vom dortigen Institut für Musikwissenschaft sowie demjenigen der Universität Zürich organisiert wurde. Das Thema bot in einzigartiger Weise Gelegenheit, Kolleginnen und Kollegen, deren Schwerpunkte in unterschiedlichen Epochen liegen, zusammenzubringen, um eine gemeinsame Fragestellung zu erörtern. Angesichts der ungewöhnlichen zeitlichen Spannweite wurden den Kolleginnen und Kollegen folgende Fragen als roter Faden für ihre Referate vorgelegt  : 1. Beruht die Dur-Moll-Semantik in den von Ihnen untersuchten Werken allein auf dem Einsatz der beiden Tongeschlechter oder tritt sie erst in Kombination mit anderen Stilmitteln auf (wie etwa Chromatik, absteigende Melodik, langsames Tempo)  ? 2. Kommt es zu einer Überschneidung/Interaktion dieser Semantik mit Tonartencharakteristik und/oder Modalität  ? 3. Ist der semantisch konnotierte Einsatz von Dur und Moll bei den betreffenden Werken/Komponisten als Einzelfall zu betrachten oder als personalstilistischer bzw. zeit-/ 28 Siehe etwa Dörte Schmidt, »Handlungsräume. Von der ›Universalgeschichte‹ zu einer ›Kulturgeschichte‹ der Musiktheorie«, in  : Dies. (Hrsg.), Musiktheoretisches Denken und kultureller Kontext, Schliengen 1995, S. 9–17. 29 Die Referate von Inga Mai Groote, Ulrich Leisinger und Isabel Mundry konnten leider nicht abgedruckt werden.

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Einführung

gattungstypischer Regelfall und lässt sich ggf. eine Entwicklung oder Traditionslinie im Umgang damit erkennen  ? Bei Referaten zu musiktheoretischen Themen wurden folgende Fragen gestellt  : 1. Wird eine Semantik von Dur und Moll von den Autoren überhaupt erwähnt  ? 2. Wie wird sie begründet  ? 3. Wird sie als selbstverständlich/trivial, modern oder altmodisch betrachtet  ? 4. In welchem Verhältnis steht sie zu Modalität und Tonartencharakteristik  ? Zusätzlich zu den Tagungsbeiträgen, von denen die meisten für die Schriftfassung er­ heblich erweitert wurden, ist es gelungen, einige weitere Aufsätze für den Band zu gewinnen,30 die in wesentliche Lücken stoßen, welche bei der Tagung offenblieben. Insgesamt haben die Beiträge ebenso wie die sich an ihnen entzündenden Diskussionen auf der Tagung deutlich gezeigt, dass die scheinbar selbstverständliche, oft genug sogar für banal gehaltene Thematik der Dur-Moll-Semantik viele überraschende neue Einsichten bietet, und so unser Bild davon ausgehend von dem blockhaften Schwarz-Weiß, das das Buchcover zeigt, zu einem Spektrum mit vielen Zwischenstufen ausdifferenziert. Abschließend möchten wir den Einrichtungen und Personen, die das Zustandekommen des Bandes und der ihm vorausgegangenen Tagung finanziell und organisatorisch unterstützt haben, herzlich danken  : der Fritz Thyssen-Stiftung Köln, den Universitäten Leipzig und Zürich, insbesondere Frau Katja Jehring und den studentischen Hilfskräften Franziska Sagner und Tim Rademacher, die uns während der Tagung zur Seite standen, Tim Marquard und Hendrik Herchenbach, die die Notenbeispiele angefertigt und vereinheitlicht haben, und dem Böhlau Verlag Wien für Satz und Druck des Bandes. Leipzig und Zürich, im Herbst 2019 Hans-Joachim Hinrichsen und Stefan Keym

30 Es handelt sich um die Beiträge von Dan Dediu, Louis Delpech, Felix Michel, Markus Neuwirth, Martin Pfleiderer und Valentina Sandu-Dediu.

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Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

Frau Maria Steiner herzlich zugeeignet

Topik rechnet nicht zu den klassischen Feldern der Musikwissenschaft  ; einige allgemeinere Worte zur Themenstellung seien deshalb vorausgeschickt. Und weil die Musikwissenschaft manchmal profitieren kann, wenn sie sich das Strukturprinzip des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft zu eigen macht, das jeden Artikel in die Abschnitte Wortgeschichte, Begriffsgeschichte, Sachgeschichte, Forschungsgeschichte gliedert, orientiere ich meine Diagnose grob an diesem Muster. Dabei darf die Musikwissenschaft bei den Darlegungen zur Sachgeschichte, um ihre Anliegen zur Geltung zu bringen, mittels Analyseproben auch Kompositions- und Werkstrukturen in ihre Reflexionen einbeziehen und überhaupt die allgemeine wie die disziplinäre Topikforschung von Nachbarfächern für einen heute aktuellen Begriff musikalischer Topik nutzen. Ich bilanziere zunächst den Status quo der musikwissenschaftlichen Toposforschung mit ihrem Zentrum, dem 18. Jahrhundert, äußere dann einige Gedanken zum Potenzial der Topik für die Musikologie, wende mich danach topischen Dimensionen des DurMoll-Kontrastes – Intervallen, Akkorden, Tongeschlechtern und Tonalitätsfeldern – vor und nach 1800 zu und schließe mit drei Beispielen zum Genuswechsel als Motiv.

1. Zum Status quo: Das 18. Jahrhundert – Zentrum der musikalischen Topik

Die Wortgeschichte von Topik/Topos wurzelt im Griechischen (topikē/topos), kam von dort ins Lateinische (topica/locus) – die Gelehrtensprache bis ins 18. Jahrhundert – und breitete sich seit der Neuzeit auch in den Volkssprachen, sowohl in romanischen wie dem Französischen oder Italienischen (topique/lieu  ; topica/luogo) als auch in germanischen wie dem Deutschen, aber auch im Englischen (topic/place) aus.1 Die Wortgeschichte musikalischer Topik startet am Anfang des 18. Jahrhunderts zu einer Zeit, als das Interesse an dieser Kategorie in anderen Wissenschaften – mit dem »letzten« Exponenten Giambattista 1 Oliver Primavesi u. a., Artikel »Topik  ; Topos«, in  : Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1263–1288  ; Wilhelm Kühlmann und Wilhelm SchmidtBiggemann, »Topik«, sowie Peter Hess, »Topos«, in  : Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin und New York 2003, S. 646–649 und 649–652  ; Tim Wagner, »Topik«, Michael Rupp, »Topographie«, und Martin Gessmann u. a., »Topos«, in  : Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, mitbegründet von Walter Jens, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 605–626, 626–630 und 630–724.

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Vico  – ausklingt. Die deutschen Theoretiker Johann David Heinichen und Johann Mattheson führten damals in ihre Systeme musikalischer Poetik »loci communes« oder »loci topici« ein, zumal in den Abschnitten über »inventio«, den ersten Teil der Rhetorik. In seinem Hauptwerk Der vollkommene Capellmeister (1739) stellt Mattheson eine Lehre von 15 »loci topici« im Sinn von »Erfindungs-Quellen« vor  : locus notationis, locus descriptionis, locus generis et speciei, locus totius et partium, locus efficientis, locus materialis, locus formalis etc.2 Auch auf diesem Felde erweist sich Musik demnach als eine späte Kunst. Für eine Begriffsgeschichte musikalischer Topik, die sich in andauernder Transformation befindet, sei im gegebenen Zusammenhang auf einige wenige Publikationen hingewiesen.3 Was nun die Sachgeschichte der Topik eines Dur-Moll-Kontrastes im 18. Jahrhundert betrifft, die von Restbeständen des kirchentonalen bzw. modalen Systems bis zur DurMoll-Tonalität und über sie hinaus führt, so handelt es sich hierbei um einen komplizierten, vielschichtigen Prozess mit Unterschieden nach Kulturen, Stiletappen, Gattungen sowie Komponisten-Intentionen.4 Nehmen wir zum Beispiel Mozarts lebenslanges Schaffen (von 1766 bis 1791) im Genre Variationen für Klavier  : In dieser stark improvisationsaffinen Gattung schuf Mozart, nach Kurt von Fischers Edition in der Neuen Mozart-­Ausgabe,5 insgesamt 14 Werke, die sich auf ein fremdes Thema stützen und auf einer Dur-Tonalität beruhen. Gleichwohl gibt es in diesem Sektor einen für unsere Fragestellung nach dem Dur-Moll-Kontrast wichtigen Unterschied  : Die vier Werke, die Mozart vor 1778 komponierte, enthalten keinen Moll-Kontrast, vielmehr ausschließlich Variationen in Dur  ; sämtliche zehn Werke jedoch, die Mozart nach 1778 schrieb (ab KV 354) – wie gesagt  : auch sie stehen alle in Dur –, integrieren in ihre Folge von Veränderungen eine Moll-Variation. Diesen konzeptionellen Schritt, eine einzelne Moll-Variation als Ausnahme einzubeziehen, die den Ausdrucksradius des Werkes beträchtlich erweitert, behält Mozart mit guten Gründen bis an sein Lebensende bei. In jener Phase der Musikgeschichte etablierte sich Dur/Moll tatsächlich als ein Elementarkontrast. Die wenigen Werke oder Sätze in Variationsform über ein Moll-Thema – 2 Vgl. Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739 [Reprint Kassel 1954, 41987], darin »Viertes Haupt-Stück  : Von der melodischen Erfindung«, S. 121–132. 3 Hartmut Krones, »Musik, Rhetorik und Topik«, in  : Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, hrsg. von Thomas Schirren und Gert Ueding (= Rhetorik-Forschungen 13), Tübingen 200, S. 257–272  ; Hermann Danuser, »Topos (Musik)«, in  : Historisches Wörterbuch der Rhetorik (s. Anm. 1), Sp. 711–714  ; Tobias Plebuch, »Was sind musikalische Topoi  ?«, in  : Ereignis und Exegese  : Musikalische Interpretation – Interpretation der Musik. Festschrift für Hermann Danuser zum 65. Geburtstag, hrsg. von Camilla Bork u. a., Schliengen 2011, S. 168–182  ; Danuta Mirka, »Introduction«, in  : The Oxford Handbook of Topic Theory, hrsg. von ders., Oxford 2014, S. 1–57  ; siehe auch Abschnitt 2 des vorliegenden Beitrags. 4 Vgl. hierzu die Beiträge von Wolfgang Fuhrmann und Timothy McKenney im vorliegenden Band. 5 Serie IX  : Klaviermusik, Werkgruppe 26  : Variationen für Klavier, hrsg. von Kurt von Fischer, Kassel u. a. 1961, S. VIII–XII.

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Notenbeispiel 1: Mozart, Streichquartett d-Moll, 4. Satz, T. 1-8

in anderen Gattungen als Variationen für Klavier  – folgen demselben, besser  : dem inversen Modell. Der Genuswechsel von Dur zu Moll bzw. Moll zu Dur trägt in einer Folge von Variationen strategisch zur Lenkung der musikalischen Affekte bei.6 Diese Dimension der Topik, die Cicero mit seiner Lehre von der »amplificatio« einführte – bei der Gerichtsrede zielt sie auf eine Beeinflussung der Hörer durch die Wendung vom Einzelfall ins Allgemeine –, wurde in der Wiener Klassik um der Ausdruckssteigerung willen von der musikalischen Topik aufgegriffen und vertieft. Einen aufschlussreichen Fall bietet der Schlusssatz von Mozarts Streichquartett d-Moll (KV 421) insofern, als ihn 6 Vgl. hierzu vom Verfasser, »Motion und Emotion. Strategien der Affektsteuerung in der Tonkunst«, in  : Hermann Danuser, Gesammelte Vorträge und Aufsätze (GVA), hrsg. von Hans-Joachim Hinrichsen, Christian Schaper und Laure Spaltenstein, Bd. 2, Schliengen 2014, S. 155–172.

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sowohl Kontrast- wie auch Mischprinzipien von Moll und Dur künstlerisch gestalten. Bereits das Thema selbst, das wie stets bei Variationssätzen zyklischer Werke vom Autor Mozart stammt, hat dieser – über einer Moll-Basis – in einer Art generischer Mischung geschrieben. So erfährt der Hörer den tonalen Prozess des vierten Satzes als einen ganz besonderen Vorgang  : Die Wendung zum Dur-Geschlecht in der vierten Variation und danach am Werkende fußt nicht nur in der topischen Struktur der Variationsform mit einem Genuswechsel, sondern mehr noch in der Struktur dieses Satzes, ja einer spezifischen Konzeption des Werkes.7 Die musikologische Forschungsgeschichte zur Topik richtet sich bisher vor allem auf das 18.  Jahrhundert, daher die Chiffre »Status quo«. In der deutschsprachigen Musikforschung ist zumal Hartmut Krones zu nennen, der allerdings auch über vorangehende und nachfolgende Jahrhunderte gearbeitet hat, wie Hermann Jung, Ariane Jeßulat und Tobias Plebuch.8 Die englischsprachige Forschung ist stärker, aber längst nicht mehr ausschließlich konzentriert auf das 18. Jahrhundert. Ihren Ursprung an der Stanford University bildet Leonard Ratner mit seinen Schülern Wye J. Allanbrook und V. Kofi Agawu. Von dieser Quelle aus hat sich die englischsprachige Forschung mit nennenswerten Früchten weltweit ausgebreitet,9 wenngleich es durchaus problematisch erscheinen mag, Leonard Ratner, einen Musikologen ohne spezielle philosophische Expertise, zur Basis der Toposforschung in musicis zu erklären. Daher rücke ich, bevor ich mit Dur versus Moll fortfahre, einige allgemeine Perspektiven ein, welche die Topikforschung für die Musikwissenschaft bereithält, ein durch die Unterscheidung zwischen Wort-, Begriffsund Sachgeschichte ermöglichter Zugang.

7 Näheres zu »Genuswechsel«, ebd., S. 159–162. 8 Ariane Jeßulat, Die Frage als musikalischer Topos. Studien zur Motivbildung in der Musik des 19. Jahrhunderts (= Berliner Musik Studien 21), Sinzig 2001  ; Hermann Jung, Die Pastorale. Studien zur Geschichte eines musikalischen Topos (= Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 9), Bern und München 1980  ; Hartmut Krones, »Musik, Rhetorik und Topik«  ; Tobias Plebuch, »Was sind musikalische Topoi  ?« 9 Leonard G. Ratner, Classic Music  : Expression, Form, and Style, New York 1980  ; Wye J. Allanbrook, Rhythmic Gesture in Mozart  : ›Le nozze di Figaro and ›Don Giovanni‹, Chicago 1983  ; V. Kofi Agawu, Playing with Signs  : A Semiotic Interpretation of Classic Music, Princeton 1991  ; ders., »Topic Theory  : Achievement, Critique, Prospects«, in  : Passagen. IMS-Kongress Zürich 2007  : Fünf Hauptvorträge, Five Keynote Speeches, hrsg. von Laurenz Lütteken und Hans-Joachim Hinrichsen, Kassel 2008, S. 38–69  ; ders., Music as Discourse. Semiotic Adventures in Romantic Music, Oxford 2009. Einen exemplarischen Stand über diese Entwicklung gibt mit Beiträgen zahlreicher Autoren Mirka (Hrsg.), The Oxford Handbook of Topic Theory (s. Anm. 3).

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Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

2. Potenziale der Topik für die Musikologie

Das Faszinosum der Topik für die Musikologie steckt im Umstand, dass sie, fruchtbar entfaltet, ohne falschen Kompromiss gegensätzliche Richtungen von Ästhetik und Wissenschaft zu verbinden vermag. Sie ist nämlich in der Lage, Musikwissenschaft als Kunstwie Kulturwissenschaft gemeinsam zu begründen und sie dadurch der misslichen, allzu oft empfundenen Alternative zu entheben, entweder eine kunstwissenschaftlich defizitäre Kulturwissenschaft oder eine kulturwissenschaftlich defizitäre Kunstwissenschaft zu sein. Warum und inwiefern die Topik dazu fähig sein soll, muss an anderem Ort begründet werden.10 Es hängt dies mit einer Eigenschaft zusammen, die, oft beklagt, richtig ausgeschöpft sich von methodologischem Nutzen erweisen kann  : In der langen TopikGeschichte seit den dokumentierten Anfängen bei Aristoteles und Cicero – von beiden sind einschlägige Titel erhalten, Aristoteles’ Frühschrift Topikē bzw. Ciceros Spätschrift Topica, und beide behandeln Topisches auch im Rahmen der Rhetorik (Aristoteles  : Technē rhetorikē  ; Cicero  : De inventione, De oratore)  – findet sich keine Definition des Begriffs  ; die Autoren setzen immer schon voraus, die Leser- oder Hörerschaft wisse, was Topik sei. Gerade dies verschafft ihr eine Flexibilität, die sie für musikwissenschaftliche Applikationen brauchbar macht.11 Wenn wir die erhoffte Synthese von Kunst und Kultur auf Ästhetik-Dimensionen übertragen, so eröffnet Topik eine weitere Chance  : zwischen Form und Stoff (Inhalt, Material) zu vermitteln. Diese aus dem 19. Jahrhundert stammende, bis in jüngste Zeit bedeutsam gebliebene Kluft zweier ästhetischer Pole fordert die Musikforschung noch heute heraus. Sie hat vor Jahrzehnten einen Streit über Anton Bruckners Symphonik zwischen Carl Dahlhaus, einem Exponenten der Form- bzw. Autonomieästhetik, und Constantin Floros, einem nicht minder klaren Exponenten der Inhalts- oder Heteronomieästhetik, hervorgerufen.12 Dass vor rund einem halben Jahrhundert Theodor W. Ad10 Der Verfasser möchte eine Vorlesungsreihe »Musikalische Topik«, die er im akademischen Jahr 2017/18 als Gastprofessor am Central Conservatory of Music Beijing hielt, zu einem Buch ausarbeiten. 11 Eine historiographische Voraussetzung läge in der Bereitschaft, auf einen Kultur- und Kunstbegriff im Singular zu verzichten und der größeren Vielfalt Rechnung zu tragen, die gleichzeitige Kulturen, die miteinander wohl zusammenhängen können, aber nicht miteinander identifiziert werden dürfen, zum Ausdruck bringen. Vgl. meinen Versuch »Kulturen der Musik – Strukturen der Zeit. Synchrone und diachrone Paradigmen der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts« [1987], in  : GVA, Bd. 3, S. 76–87. Die Synchronizität musikalischer Teilkulturen hat sich heute insofern verschärft – und ist sich darin treu geblieben –, als der Begriff »Musik« selbst in Frage gestellt wird. Kürzlich beschließt Frank Hilberg eine Rezension »Das Festival als Kindergeburtstag. Die Donaueschinger Musiktage [2015]« wie folgt  : »Zur Stärkung des Markenkerns sollten die Donaueschinger Musiktage eine Umbenennung erwägen, vielleicht in ›Donaueschinger Erlebnistage‹. Das Wort ›Musik‹ kann jedenfalls ersatzlos gestrichen werden.« (Musik-Texte 147 [2015], S. 77–79, hier S. 79). Hat Hilberg Recht, so erscheint dort auch die Frage nach einem Dur-Moll-Kontrast als erledigt. 12 Constantin Floros, Brahms und Bruckner. Studien zur musikalischen Exegetik, Wiesbaden 1980, S. 155–232  ; Carl Dahlhaus, »Bruckner und die Programmusik. Zum Finale der Achten Symphonie«, in  : Anton Bruckner.

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orno verschiedentlich eine »materiale Formenlehre« postulierte, weist in eine ähnliche Richtung. Jedenfalls hoffe ich, die lang reflektierte Idee einer »materialen Form«, die ich einmal als aporetisch bezeichnet hatte,13 mithilfe des topischen Arsenals weiterentwickeln zu können. Seit Aristoteles und stärker noch seit Cicero gibt es zwei komplementäre Linien  : einerseits eine formale Topik, andererseits eine materiale Topik. Was ist darunter zu verstehen  ? Indem Aristoteles zuerst von einer philosophischen Technik handelte, um für dialektische Dispute geeignete Argumentationsmuster zu finden, die es in jedem Fall ermöglichen sollten, den Gegner in einem solchen Gespräch – sei es einem Übungsgespräch, sei es einem wirklichen Gespräch – zu besiegen, wurde eine »formale Topik« ausgebildet.14 Dergestalt verwertbare Topoi als Grundmuster der Argumentation über beliebige Themen, der eine Zweig, heißen griech. »koinoi topoi« oder lat. »loci communes«.15 Die »materiale Topik«, der andere Zweig, fußt demgegenüber stärker auf den Besonderheiten einzelner Disziplinen – etwa durch Unterscheidung dreier Redetypen im Blick auf das Vergangene, Gegenwärtige oder Künftige (Gerichtsrede als Anklage oder Verteidigung, Lob- oder Tadelrede, Beratungsrede im Zu- oder Abraten) – und ermöglicht so seit der Antike die Herausbildung fachspezifischer Topiken, bei welchen weniger allgemeine Prinzipien des dialektischen Gesprächs als je besondere Ziele einzelner Fächer – Jurisprudenz, Theologie, Literatur, Musik etc., oder zusammengefasst Universalwissenschaft – die Grundlagen für Produktion wie Rezeption bilden. Zumal die erwähnte, von Cicero ausgehende Theorie der Amplifikation16 war langfristig ein Hebel, der dynamische Impulse für Effekte, Affekte und Emotionen der Musik freisetzte. Studien zu Werk und Wirkung. Walter Wiora zum 30. Dezember 1986, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 20), Tutzing 1988, S. 7–32  ; auch in Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften, hrsg. von Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Bd. 6 (= 19. Jahrhundert III), Laaber 2003, S. 717–737, v. a. S. 717–724. 13 Hermann Danuser, »›Materiale Formenlehre‹ – ein Beitrag Theodor W. Adornos zur Theorie der Musik«, in  : GVA, Bd. 1, S. 155–177. 14 Aristoteles’ Schrift Topike beginnt wie folgt  : »Die Abhandlung beabsichtigt, ein Verfahren zu finden, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen.« Aristoteles, Topik, übersetzt und kommentiert von Tim Wagner und Christof Rapp, Stuttgart 2004, S. 45. 15 2015 hat Adolf Nowak für die Musikwissenschaft eine verdienstvolle Abhandlung vorgelegt, welche die »Logik« von Klangfolgen im Sinne einer formalen musikalischen Topik beurteilt  : Adolf Nowak, Musikalische Logik. Prinzipien und Modelle musikalischen Denkens in ihren geschichtlichen Kontexten (= Studien zur Geschichte der Musiktheorie 10), Hildesheim u. a. 2015. Vgl. die Rezension des Verfassers in  : Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH) 13 (2016), S. 355–375, und Nowaks kritische Erwiderung in  : ZGMTH 14/2 (2017), beide Texte auch online. 16 M. Tullius Cicero, de inventione. Über die Auffindung des Stoffes / de optimo genere oratorum. Über die beste Gattung von Rednern, lateinisch–deutsch, hrsg. von Theodor Nüßlein (= Sammlung Tusculum), Düsseldorf und Zürich 1998, S. 106f. sowie 308f.; ders., Topica. Die Kunst, richtig zu argumentieren, lateinisch und deutsch, hrsg. von Karl Bayer (= Sammlung Tusculum), Düsseldorf und Zürich 1993, S. 84f.

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Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

Für ein aktuelles Verständnis der Aufgaben der Toposforschung ist ein Zusammendenken dieser beiden Dimensionen – der formalen und der materialen Topik der Musik – von größter Bedeutung. Bislang hatte in der kontinental-europäischen wie in der anglo-amerikanischen Forschung die inhaltsästhetische Dimension der Topos-Semantik einen Vorrang vor der formästhetisch-strukturellen, doch die künstlerische Werkindividualität verbürgen beide nur gemeinsam. Wichtige Schritte in Gegenrichtung verdankt die Musikologie William E. Caplin, Elaine Sisman, Ariane Jeßulat und Tobias Plebuch.17 Plebuch hat als erster Musikologe auf Lothar Bornscheuers Habilitationsschrift, ein auch für andere Disziplinen als die Latinistik ergiebiges Buch, hingewiesen und damit methodologisch Wichtiges angeregt. Topik, nach Bornscheuer eine »gesellschaftlich relevante Argumentationsphantasie«,18 ist für die Praxis (Komposition, Interpretation, Rezeption) wie für die Theorie der Musik fundamental, wenn man sie im Anschluss an Ciceros »locicommunes«-Lehre allgemein als »copia [Fülle] rerum et verborum« entwickelt und auf einzelne Etappen der Musik und ihrer Theorie bezieht. Für ein heute aktuelles TopikVerständnis scheint mir vor allem die These wichtig, dass Topoi nicht nur eine Quelle blind gesammelter, wenig geordneter »Gemeinplatz«-Kataloge mit Anspruch auf Traditionskontinuität sind, sondern dass sie im Einklang mit sozialen und kulturellen Prozessen gleichermaßen transformative Wandlungsenergien entfalten. Das Leipziger Symposion über den Elementarkontrast Dur versus Moll hat auch in dieser Hinsicht viel Interessantes zu Tage gebracht. Wenn man dieses Thema mit musikalischen Topoi-Feldern (Jagd, Schlacht, Gebet, Pastorale, Klage, Freude, Tänze, rhetorische Figuren u. a.m.) in Beziehung setzt, nach der Art, wie der Romanist Ernst Robert Curtius für die Philologien in seinem klassischen Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) Topoi vorgestellt und damit die literarische Topos-Forschung recht eigentlich in Gang gesetzt hat,19 dann wäre Dur/Moll in Bereichen eher einer formalen als einer materialen Topik zu verorten. Und doch erstreckt sich auch dieses Problem, wie die nähere Betrachtung zeigt, auf beide Seiten – Form wie Material –, und nur in gemeinsamer Anstrengung ist es erfolgreich zu behandeln.

17 William E. Caplin, »On the Relation of Musical Topoi to Formal Function«, in  : Eighteenth-Century Music 2/1 (2005), S. 113–124  ; ders., »Topics and Formal Functions  : The Case of the Lament«, in  : Mirka (Hrsg.), The Oxford Handbook of Topic Theory (s. Anm. 3), S. 415–452  ; Elaine Sisman, »Symphonies and the Public Display of Topics«, in  : ebd., S. 90–117  ; Ariane Jeßulat, Die Frage als musikalischer Topos. 18 Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/Main 1976  ; ders., Artikel »Topik«, in  : Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hrsg. von Klaus Kanzog und Achim Masser, Bd.  4, Berlin und New York 21984, S.  454–475, hier S.  455. Vgl. Tobias Plebuch, »Was sind musikalische Topoi  ?«. 19 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 91978  ; vgl. dazu u. a. Toposforschung. Eine Dokumentation, hrsg. von Peter Jehn (= Respublica literaria 10), Frankfurt/Main 1972.

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3. Imperfekte Intervalle bzw. Dur/Moll-Akkorde vor 1800

Bei der Verwendung von Begriffen der Tonalität für Musik vor dem 18. Jahrhundert ist Vorsicht geboten. Die Wandlung eines Systems kirchentonaler Modi in eines funktions­ harmonischer Tonalität erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte. Seit der Antike, dann seit dem christlichen Mittelalter bildeten die Modi verschiedene Möglichkeiten für die Gestaltung aus, deren Funktionen, mit oder ohne Sprachtext, an bestimmte Kirchentöne gemäß dem Kriterium eines »aptum« gebunden waren. Das Gloria aus Guillaume de Machauts Messe de Nostre Dame bietet an zwei Stellen klare Paradigmen für einen »noëma«-Topos im 14.  Jahrhundert. Diese rhetorische Figur (von griech. Gedanke, Verstand, Gesinnung) markiert Passagen durch Andersartigkeit und hebt wichtige Namen aus dem Kontext hervor. Machauts vierstimmiger, meist polyphon bewegter Satz, den die Kontrapunktlehre in der Relation der Einzelstimmen zum Tenor reguliert, mutiert hier zu einem Satz Note gegen Note mit sehr verschiedener Wirkung. Verwandelt sich die Polyphonie, welche Machaut in dieser Messe komponierte, hier in Homophonie  ? Nimmt man bei den Noëma-Tactus den Konsonanzen-Klang in simultaner Einheit wahr  ? Solche »Akkorde« lassen sich mit Termini Peter Benarys20 nach drei Klang-Typen unterscheiden  : »dural« (Großterz, mit oder ohne Quinte), »mollar« (Kleinterz, mit oder ohne Quinte), »perfekt« (Quint-Oktav-Klang ohne Terz). Der Topos tritt an zwei Stellen des Gloria-Satzes durch den im Vokativ aufgerufenen Namen aus dem Kontext hervor  : »Domine fili unigenite, Je-su Chri-ste« (T. 43–46) bzw. »Tu solus altissimus, Je-su Chri-ste« (T. 93–97), mit den Klangfolgen – T. 43 (dural), T. 44 (mollar), T. 45 (dural), T. 46 (perfekt) – T. 93 (dural), T. 94 (mollar), T. 95 (mollar), T. 96 (mollar), T. 97 (perfekt) Diese Frühformen einer duralen bzw. mollaren Klanglichkeit haben mit der Stimmführung eines im Dur-Moll-System komponierten Tonsatzes nicht das Geringste zu tun. Gleichwohl dominiert hier im Note-gegen-Note-Satz ein Klangcharakter, der durch die Präsenz von Konsonanzen bzw. die Absenz von Dissonanzen eine eigentümliche Physio­ gnomie gewinnt. Man möchte ihm »Wohlklang« zuschreiben, zeigten nicht die Endklänge der beiden Noëmas, dass der Hörer des 14. Jahrhunderts die mit Terzen durchsetzten Klänge davor als weniger rein empfand als die an diesen Endpunkten terzlos zu singenden (zur Abgrenzung von den imperfekten Konsonanzen als »perfekt« charakterisierten) Intervalle Quinte und Oktave. Die Noëma-Stilfigur im Gloria-Satz erklingt auf 20 Benary spricht in seinem MGG-Artikel »Dur und Moll« von »dural« und »mollar« dann, wenn die Zusammenklänge Dur- und Moll-Akkorden entsprechen, ohne dass bereits ein System der Tonalität ausgebildet wäre, das die Bezeichnung sensu stricto rechtfertigte. Peter Benary, »Dur und Moll«, in  : MGG2, Sachteil, Bd. 2, Kassel 1995, Sp. 1591–1599.

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Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

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Notenbeispiele 2a und b: Machaut, Gloria, T. 40–47 und 93–101

eine Weise, die dem Schmuck der Rede in einer musikalischen elocutio entspricht. So verleihen Prinzipien der Topik dem Namen von Gottes Sohn, Jesus Christus, das theologisch angemessene herausragende Gewicht. Als Elementarkontrast kommt freilich der in diesen Noëmas realisierte Klangwechsel auf keine Weise in Betracht, denn beim Wechsel zwischen dural und mollar zeigen beide Stellen keine Regelhaftigkeit. Selbst der Ort, wo im 13.  Jahrhundert noch die Kontrapunktregel gegriffen hätte, nach der sich das Intervall einer kleinen Terz in den Unisonus, das Intervall einer großen Terz dagegen in die reine Quinte aufzulösen habe, ist hier im vierstimmigen Satz nicht beachtet, denn die terzlos-perfekten Schlussklänge der beiden Noëmas werden aus verschiedenen Intervallen erreicht  : das erste Mal (T. 46) von einem duralen Klang, das zweite Mal jedoch (T.  97) von einem mollaren Klang her. Indem 27

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das Note gegen Note, Punkt kontra Punkt gesetzte Noëma jegliche Dissonanz vermeidet, spielt hier wohl der Gegensatz zwischen Konsonanz und Dissonanz, nicht aber der Gegensatz zwischen verschiedenen Konsonanzgraden (und damit ein möglicher Dur-MollWechsel) eine Rolle. Unter den Officia der Rhetorik, in welchen die Topik auftritt, ist in erster Linie die inventio zu nennen, die Anfangsphase der Herstellung einer Rede, danach folgen dispositio bzw. elocutio, die zweite und die dritte Phase. Die Bereiche sind bei musikalischer Lyrik zweifach gegenläufig aufgerufen, indem diese, ausgehend von der Poesie und hinstrebend zur Musik, einerseits als »vertonte Poesie« in Erscheinung tritt  ; und indem sie, ausgehend von der Musik und hinstrebend zur Poesie, andererseits als »vertextete Musik« sich manifestiert. Eine Geschichte des »Liedes« in weitestem Sinn – aus doppelter, musik-literarischer Perspektive – ist 2004 in dem von Siegfried Mauser herausgegebenen Handbuch der musikalischen Gattungen erschienen.21 Beide Richtungen stehen in topischem Horizont  : Bei »vertonter Poesie«, literaturwissenschaftlich im Ausgang von einer Studie zur Topik der zugrunde liegenden »Dichtung für Musik«, sucht man die Frage zu beantworten, wie die Zielkunst des künstlerischen Prozesses, die Tonkunst, ihre Möglichkeiten der Formung (Anlage, Satztypus, Abschnittsbildung, Ausdruckscharakter etc.) einlöst  ; bei »vertexteter Musik«, ausgehend von einer musikologischen Studie zur Topik der zugrunde liegenden komponierten Musik, wendet man sich der Frage zu, mit welchen literarischen Topoi sich Dichter der vorgegebenen Tonstruktur nähern, um sie zu musiklyrischer Kunst zu formen. Hier hat natürlich auch, wie die Kapitel des Doppelbandes von 2004 zeigen, die Frage nach Dur und Moll ihren Stellenwert. Indem in diesem Kontext  – primär einem musik-, sekundär einem literaturwissenschaftlichen  – bei jeder Periode zuerst die Poesie im Sinne einer »Dichtung für Musik« als Gegenstand einer interdisziplinär offenen Literaturwissenschaft und danach die musikalische Lyrik zeitigende Komposition und Interpretation als Gegenstand einer interdisziplinär offenen Musikwissenschaft behandelt werden, weist diese Disposition fast automatisch der »vertexteten Musik« einen geringeren Stellenwert zu als der »vertonten Poesie«. Jedenfalls bieten die Darstellungen zu Formen der Lyrik aus Mittelalter, Renaissance, Neuzeit, dem 18., 19. und 20. Jahrhundert hinsichtlich der materialen wie der formalen Topik (Stoffgehalte versus Vers- und Strophenschemata) ein musikwissenschaftlich reichlich ausgeschöpftes und gleichwohl für die Dur-Moll-Thematik noch weiter ausschöpfbares Analysepotenzial. Der Begriff »Dichtung für Musik« hat denn auch einen im Kern transdisziplinären Topik-Horizont, indem solche Dichtung als Poesie Bestand haben muss, aber als Poesie für ein Anderes auf Musik zielt. In der Performanz ihrer Realisierung knüpft die musikalische Lyrik klanglich-strukturell-expressiv an alle Dimensionen der aus der Antike stammenden Überlieferung von Topik und Rhetorik an 21 Hermann Danuser (Hrsg.), Musikalische Lyrik (= Handbuch der musikalischen Gattungen 8), 2 Bde., Laaber 2004.

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und bietet um wirkungsästhetischer Zwecke willen die Stufen der »mündlichkeitsanalogen« Kunst des Vortrags auf. Auf die Frage, in welcher Weise Musik topische Aspekte der von ihr in Klang umgesetzten Poesie aufgreifen könne, sind zwei Antwortstrategien möglich  : einerseits von der komponierten Struktur des Tonsatzes her – mit Intervallen, Zusammenklängen und Zäsuren –, andererseits von der theoretischen Begründung her. Jene Richtung verfolgen die in diesem Band vereinigten Beiträge von Wolfgang Fuhrmann und Timothy McKinney, welche Beziehungen zwischen topischen Textstrukturen und Musik (Freude in Korrespondenz zur Großterz  ; Trauer in Korrespondenz zur Kleinterz) aufzeigen. Diese Richtung stützen Quellentexte der Musiktheorie, etwa Le istitutioni harmoniche (1558) des Italieners Gioseffo Zarlino, der eine Korrelation zwischen bestimmten Intervallen und ihnen gemäßen Ausdruckswerten postulierte  : Der großen Terz entspreche ein freudiger Ausdruck – es fällt der Begriff »allegra« –, der kleinen Terz jedoch ein trauriger – hier fällt der Begriff »mesta«.22 Weil in manchen Sprachen für die Intervallunterscheidung imperfekter Konsonanzen dieselben Begriffe gebraucht werden wie für die Geschlechtsdifferenz Dur/Moll, drohen Verwechslungen. Darum besteht McKenney zu Recht darauf, dass bei Zarlino Mitte des 16. Jahrhunderts »maggiore« bzw. »minore« nicht Konzepte funktionaler Tonalität meinen, sondern Intervalle bzw. auf ihnen basierende Akkorde.23 Die polare Entgegensetzung, so wichtig sie im Bereich der Theorie ist, bedarf einer sorgfältigen Kontextualisierung, denn teils hält sich die kompositorische Praxis daran, teils nicht. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts ist es keineswegs ausgemacht, dass man für die Komposition eines traurigen Textes das Moll-Geschlecht zu nehmen habe. Warum hätte sonst Gluck für den ersten Teil seiner berühmten Arie »Que farò senza Euridice  ?« (aus Orfeo ed Euridice, Wien 1762), in welcher Orpheus den Verlust seiner Gattin beklagt, zum tonalen Rahmen das Dur-Geschlecht wählen dürfen  ? Obschon das 18. Jahrhundert der Zeitraum war, innerhalb dessen die kirchentonalen Modi für die artifizielle Musik mehr und mehr ihre Restbedeutung einbüßten und ein System der funktionalen Dur-Moll-Tonalität an deren Stelle trat, macht, was den Systemcharakter von Tonalität anbelangt, ein Vergleich der kirchentonalen Modi (von dorisch bis mixolydisch, mit weiteren Unterarten) und der 24 Tonarten des Dur-Moll-Systems (in Theorie und Praxis seit dem 18. Jahrhundert) deutlich, dass eine solche Gegenüberstellung nicht als diachroner Prozess, sondern eher als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu begreifen ist. Der ursprüngliche Zentralton im gregorianischen Gesang der katholischen Kirche ist bis heute d geblieben, das DurMoll-System jedoch  – erstmals theoretisch im Sinne weiterer modaler Stufen (ionisch 22 Gioseffo Zarlino, Le istitutioni harmoniche, Venedig 1558, III. Teil, S. 181  : »[…] quando si pone la Terza maggiore nella parte grave, l’Harmonia si fà allegra, & quando si pone nella parte acuta, si fà mesta.« 23 Vgl. Timothy McKinney, »Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal«, daraus Graphiken und Notenbeispiele, im vorliegenden Band.

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bzw. äolisch) von Glarean Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt – fußt auf den Zentraltönen C und a. Die prima und die seconda pratica seit 1600, der Kirchen-, der Theaterund der Kammerstil mit ihren Gattungen tendierten wohl dazu, die Differenz zwischen Modi und Tonarten zu reproduzieren, doch war die Wirklichkeit von Praxis wie von Theorie viel bunter, als es eine plakative Entgegensetzung vermuten ließe. Wie Bernhard Meier zeigte,24 unterscheiden sich die Modi durch je verschiedenartige Konstellationen zwischen Finalis, Repercussa, Ambitus und Kadenzen – mit Bedeutungsdifferenzen in der Tradition der antiken Moduslehre –, während Dur und Moll strukturell als ein in verschiedene Tonarten transponierbares System (freilich ebenfalls mit Bedeutungsdifferenzen) begriffen wurde.

4. Moll und Dur nach 1800

Während des 18. Jahrhunderts wurde der Dur-Moll-Kontrast entwickelt, um große musikalische Formen zu markieren  : sei es bei mehrsätzig-zyklischen Werken, indem DurEcksätze einen Mittelsatz in Moll umgeben oder Moll-Ecksätze einen Mittelsatz in Dur  ; sei es bei einer Sonatenform in Moll, wenn die Exposition vom Moll-Hauptsatz zum Seitensatz in der Dur-Parallele moduliert.25 Ein imprévu exemplifiziert der Dur-Klang als Symbol für Licht und Ordnung in Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung (1798/99)  : Auf eine langsame Orchester-Einleitung in c-Moll – betitelt »Die Vorstellung des Chaos« und ein Rezitativ (Raphael und Chor) auf Worte der Heiligen Schrift  : »Und Gott sprach  : Es werde Licht  ! Und es ward Licht« – ertönt nach drei monoton sotto voce repetierten g (»und es ward«) das letztgenannte Wort (»Licht«) im plötzlichen Fortissimo-Dur-Dreiklang von vollem Chor und Orchester. Dieses gewaltig erschallende C-Dur ist ein legendärer, von Haydn minutiös geplanter und bei der Uraufführung auch visuell realisierter Coup  – ein unsterbliches Symbol für das Licht der Aufklärung. Der Tutti-Schlag fällt mit dem Wechsel zum Maggiore-Genus zusammen. Es begründen die Licht-Symbolik klanglich das Dur-Geschlecht selbst sowie der Genuswechsel von Moll zu Dur, außerdem die Besetzung, der Ambitus, die Dynamik. Hier stehen sich also Chaos – die Finsternis – und Licht – die Ordnung – gegenüber, wobei das epische Meisterwerk des alten Haydn die Kontrastfaktoren klar, doch statisch einsetzt. Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, zwei Typen eines Wechsels zwischen Moll und Dur zu unterscheiden  : einen dramatischen und einen lyrischen. Beethoven, Erbe der 24 Bernhard Meier, Alte Tonarten. Dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts (= Bärenreiter Studienbücher Musik 3), Kassel u. a 1992. 25 So Stefan Keym, »Wien – Paris – Wien. Beethovens Moll-Dur-Dramaturgie im Licht einer ›histoire croisée‹«, in  : Beethoven. Studien und Interpretationen, hrsg. von Mieczysław Tomaszewski und Magdalena Chrenkoff, Bd. 4, Kraków 2009, S. 407–419, hier S. 407f.

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französischen Konzert- und Opernouvertüre um 1800, hat den dramatischen Typus der Entwicklung von Moll zu Dur geprägt.26 In seiner Fünften Symphonie stempelt er den Genuswechsel topisch zum Symbol eines Durchbruchs aus der alten Feudalepoche zur neuen Revolutionszeit, deren Ideen sich in Europa und Amerika ausbreiteten. Am Beginn des vierten und letzten Satzes explodiert geradezu aus einer wabernden c-Moll-Introduktion ein »éclat triomphal« zum gleichnamigen Dur. Diesen Zielpunkt des Mottos »per aspera ad astra« verkörpert mit dem Obertonspektrum der Trompeten der Topos der Fanfare. Aus akustischen Gründen lassen die von diesem Instrumententyp verfügbaren Töne hier eher eine Dur- als eine Moll-Tonalität erwarten. Und so großartig Beethovens Paradebeispiel für die Fanfarentopik eine sieghafte Dramaturgie symbolisiert,27 so sehr wirkt es heute doch durch ständige Wiederholung und die Zeitläufte historisch abgenutzt, ja ideologisch verbraucht. An ein Theoriemodell Karol Bergers anknüpfend, der in »narrativ« und »lyrisch« zwei Grundprinzipien künstlerischer Komposition – allgemein, nicht nur musikalisch – erkannte,28 stelle ich nun dem erwähnten dramatischen Typus des Moll-Dur-Kontrastes einen lyrischen Typus gegenüber. Während der dramatische Typus auf einer narrativen Komposition beruht, die eine zwingend begründete Folge von Teilen eines Verlaufs umfasst, verhalten sich bei der lyrischen Komposition die Teile, nach Berger virtuell austauschbar, auf andere Weise zueinander. An die Stelle eines dramatischen Moll-DurKontrastes, der die Zeit vektorial vorantreibt, tritt ein lyrischer Moll-Dur-Wechsel, der eine Klanglandschaft farblich abstuft. Beethoven hat eine solche Konstellation in der zweisätzigen Klaviersonate op. 90 ausgeschöpft, einem oft in der Nähe Franz Schuberts empfundenen Werk  : Ein erster Satz in e-Moll geht einem zweiten in E-Dur voraus, welcher  – Mitte zwischen langsamem Satz und Rondo  – im anderen Geschlechte glücklich kreist.29 Ein lyrischer Varianten-Kontrast zwischen generischen Sphären kommt zur Geltung auch in Chopins Nocturnes-Paar op. 27 (cis-Moll – Des-Dur), auf dessen Kunst geschlechtlicher Ambiguität das Paradox »Glück der Melancholie« hinweist.30 Vor Chopin aber hat mit solchen Künsten lyrischer Kontrastierung besonders Franz Schubert gespielt. Viele Beispiele ließen sich nennen  ; erwähnt seien an dieser Stelle nur das Lied »Frühlingstraum« aus Winterreise (Original in A), das zweimal einen Gegensatz 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Peter Gülke, Zur Neuausgabe der Sinfonie Nr. 5 von Ludwig van Beethoven. Werk und Edition, Leipzig 1978, S. 49–71. 28 Karol Berger, A Theory of Art, darin Kapitel 5  : »Poetics II. Narrative and Lyric  : The Poetic Forms and the Object of Artistic Presentation«, New York und Oxford 2000, S. 189–212. 29 Hermann Danuser, »Ästhetische Ambiguität als kompositorisches Problem. Bemerkungen zu Beethovens Klaviersonate e‑Moll op. 90« (1977), in  : GVA, Bd. 4, S. 62–71  ; Hans-Joachim Hinrichsen, Beethoven. Die Klaviersonaten, Kassel u. a. 2013, S. 312–319. 30 Hermann Danuser, »Glück der Melancholie. Zu Chopins cis-Moll-Nocturne op. 27 Nr. 1«, in  : GVA, Bd. 4, S. 83–93.

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aufbaut zwischen einem titelkonformen Traum in Dur (»Etwas bewegt«) – im Rahmen der Jahreszeiten-Topik steht der Frühling als Symbol für Liebe  – sowie einem harten Aufwachen in Moll (»Schnell«) – im Rahmen dieser Topik symbolisiert der Winter den Tod, auch den der Liebe – und sodann diesen Gegensatz in einem dritten Abschnitt mit Dur→Moll reflektierend potenziert (»Langsam«), oder der dritte Satz der Klaviersonate G-Dur op. 78 (D 894), ein kräftiges Menuett in h-Moll, welches ein klanglich überaus zartes, im reinen Maggiore schwebendes H-Dur-Trio umrankt. Das Gestaltungspotenzial dieser beiden Kompositionstypen – des dramatisch-narrativen und des lyrischen  – vermag die Dur-Moll-Kontrastierung vieler Werke und Entwicklungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zu begründen.31 Gleichwohl lassen mich nicht wenige Ausnahmen zögern, die Genusdifferenz Dur/Moll zu einem fundamentalen Elementarkontrast zu erklären. Eine Berücksichtigung der Ausnahmen, die konstitutiv zur Regel gehören, ist wichtig vor allem bei der Wiener Klassik, für welche sich am ehesten eine tragende Geltung des Kontrastes reklamieren lässt. Der dritte Satz in Beethovens Streichquartett a-Moll op. 132 etwa, »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart«, unterscheidet sich von Dur durch die Tatsache, dass die Quarte hier keine reine, perfekte oder natürliche Quarte ist, sondern eine übermäßige, ein aus drei Ganztönen gebildetes Intervall. In Beethovens Werk repräsentiert der »heilige Dankgesang« ein Gebet, das ein genesener Mensch nach durchgestandener Krankheit singt. Dass Beethoven statt der Dur-Moll-Dichotomie das in der kirchenmusikalischen Tradition stehende Lydische gebraucht, kreiert stilistisch einen Topos für die religiöse Sphäre. Wenn es nur Kirchentöne, keine Dur-Moll-Tonalität gäbe, wäre ein Einsatz des Lydischen zur Markierung eines instrumentalen Gebettons unsinnig. Aber gerade weil der Dur-Moll-Kontrast in der Wiener Klassik eine so starke Basisrolle spielte, erlaubt es der Ausnahmestatus, die lydische Tonart für ein Religiös-Anderes zu verwenden. Der Kontrast der Genera Dur/Moll lässt sich im historischen Prozess von 1800 bis heute gewiss nicht als jenes universal geltende System funktionsharmonischer Tonalität aufrechterhalten, als welches der Theoretiker Hugo Riemann es dargestellt hatte – als Synonym für Möglichkeiten der Musik überhaupt. Auf der Ebene der Stufenharmonik entzog sich die Wirklichkeit der beiden Geschlechter einer einfachen Systematisierbarkeit, denn der an Johannes Brahms gerühmte Stufenreichtum wurde innerhalb der Tonalität als ein Faktor wirksam, der eine schlichte Opposition zweier Tongeschlechter sprengte und verdrängte (Kirchen-)Töne wieder ins Ästhetisch-Aktuelle zurückführte. Dur/Moll ist bei Brahms zwar in wichtigen Beispielen nach dem dramatischen Typus (Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68  : Einleitung und Durchbruch zum Dur-Finale mit Alphorn-Fa) oder nach dem lyrischen Typus (Intermezzo Es-Dur für Klavier op. 117 Nr. 1) als Elementar31 Vgl. Stefan Keym, Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polnischer Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition 1867–1918 (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 56), Hildesheim 2010, S. 327–374.

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Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

kontrast ausgebildet, doch wird, wer die Geheimnisse seiner Kunst aufdecken will, bei vielen anderen Werken eher von »Dur plus Moll« bzw. »Moll plus Dur« als von »Dur versus Moll« sprechen. Auf der Ebene der Chromatik zeigt sich Ähnliches, wenn wir an Wagners Drama Tristan und Isolde, aber auch an Götterdämmerung oder Parsifal, denken. Hier leuchtet der Tristanakkord insofern mehrdeutig, als dieser Schlüsselakkord nach a-Moll geht wie am Beginn des Werkes, aber auch  – enharmonisch umgedeutet und transponiert – zu Dur-Sphären leitet wie im Liebes-Zwiegesang des Mittelaktes »O sink’ hernieder, Nacht der Liebe«. So sehen wir in Diatonik wie Chromatik Auflösungsfaktoren der Dur-Moll-Tonalität über einen langen Zeitraum wirksam. Selbst wenn in der Entwicklung zur Moderne die atonalen Phänomene der Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts mit dem Geschlechtskontrast Dur/Moll nichts mehr zu tun haben, so gibt es noch immer Erscheinungen der artifiziellen Musik, des Neoklassizismus, der Volksmusik und besonders der populären Musik, für deren Existenz der Dur-Moll-Gegensatz weiterhin einen valablen Kontrast bildet. Die topische Forschung muss hier auf Differenzierung dringen, statt nach allgemeinen Gesetzen zu suchen und damit die historische wie die theoretische Wirklichkeit zu verfehlen.

5. Dur-Moll-Wechsel als Motiv: drei Exempla

Mutmaßlich als erster Komponist der Musikgeschichte führte Franz Schubert den Geschlechtswechsel als strukturelle Möglichkeit im Sinne eines Motiv-Topos ein, der es erlaubt, instrumentalmusikalische Formprozesse zu begründen. Der Kopfsatz des Streichquartetts »in G« (D 887, 1826) – Schubert schreibt weder »Dur« noch »Moll«, doch das vorgezeichnete fis deutet auf G-Dur hin  – basiert auf einem generischen Wechsel als Kernmotiv. Der Wechsel ist nicht monodirektional, er erfolgt vielmehr in beiden Richtungen, d. h. ein Dur-Klang verwandelt sich in Moll und ein Moll-Klang umgekehrt in Dur. Die drei entscheidenden Momente des Kopfsatzes dieses Werkes, eines Satzes in Sonatenform, sind die folgenden  : – der Expositionsbeginn (T. 1ff.)  : Der Anfang des Werkes stellt fünf Takte in der Tonika (G  : I→V) fünf Takten in der Dominante (D  : I→V bzw. G  : V→V[V]) als transponiertem Vordersatz gegenüber  ; jede dieser Strukturen realisiert einen Geschlechtswechsel von Dur nach Moll mit einem Wachsen von piano zu fortissimo und einer Fortsetzung staccato. Die Kraft des Crescendo treibt den Wechsel ins andere Tongeschlecht, Moll, geradezu hervor. Die Überleitung (T. 33ff.) bringt dann eine andere Dynamik ins Spiel, indem die harmonische Disposition von Tonika zu Dominante – statt der anfänglichen zehn Takte – nun einem Sequenzschema von vier Takten weicht, so dass die Kernidee zu einer verwandten, nunmehr modulierenden Funktion von Satz und Syntax umgedeutet wird. 33

Hermann Danuser

Notenbeispiel 3a: Schubert, Streichquartett D 887, 1. Satz, T. 1–10

– die Reprise (T. 278ff.)  : Der Moment, da das Anfangsthema nach dem Mittelteil des Satzes, der Durchführung, wieder erscheint, verlockt nachgerade zu dialektischen Gedanken  : Bei identischer Grundstruktur sind Dynamik und Artikulation des Themas doch vollkommen verschieden (piano, legato und pizzicato), und auch der Geschlechtswechsel bleibt nicht derselbe, denn anstelle von Dur→Moll (wie beim Beginn) erklingt jetzt  : Moll→Dur. Wie ist ein solches Faktum zu deuten  ? Offenkundig betrachtet Schubert die Dur-Moll-Tonalität als ein »demokratisches« System, das auch einen Machtwechsel, die Umkehrung der Richtung, mit vollkommener Logik etablieren kann. 34

Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

Notenbeispiel 3b: Schubert, Streichquartett D 887, 1. Satz, T. 278–287

– schließlich das Satzende (nach Reprise und Coda, T. 437ff.)  : Hier offenbart sich die besondere Physiognomie dieses Kopfsatzes, denn in Fortsetzung der dialektischen Umkehrung der motivischen Geschlechtsbildung findet jetzt eine Synthesis statt. Die vier Takte 437–440 oszillieren zweimal zwischen den beiden Tongeschlechtern, oben (Vl. 1/2) von Dur zu Moll, einen Takt später unten (Va., Vc.) von Moll zu Dur, als eine Erinnerung an die früheren Stationen von Exposition bzw. Reprise. Sie fassen das Wesen dieser Musik in nachgerade idealer Konzentration zusammen.

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Hermann Danuser

Notenbeispiel 3c: Schubert, Streichquartett D 887, 1. Satz, T. 437–444

Beim zweiten Beispiel für diesen Topos, Gustav Mahlers Sechster Symphonie, erstreckt sich ein Dur-Moll-Wechselklang über das gesamte Werk, als eine Grundchiffre vom Kopfsatz bis zum Finale, und beansprucht also über die bei Schubert vorhandene Reichweite hinaus ein noch größeres Gewicht. Im gegebenen Rahmen fasse ich nur die erste und die letzte dieser Erscheinungen – im ersten und im vierten Satz – näher ins Auge. Zwischen dem ersten und dem zweiten Thema im Kopfsatz des Werkes, einem gigantischen Marsch, vernimmt man einen basalen Rhythmus (2 Pauken und 2 kleine Trommeln  ; T. 57f.), danach tritt der akkordische Geschlechtstopos eines Wechsels von Dur zu Moll hinzu (im Mischklang von 4 Oboen und 3 Trompeten, mit raffiniert gegenläufiger Farbdynamik  ; T. 59f., siehe Notenbeispiel 4a). Gegen Ende des vierten Satzes – also des 36

Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

Notenbeispiel 4a: Mahler, Symphonie Nr. 6, 1. Satz: T. 57–60 (Partiturausschnitt) Notenbeispiel 4b: Mahler, Symphonie Nr. 6, 4. Satz: T. 783–789 (Partiturausschnitt)

Werkes überhaupt – erscheint derselbe Topos gedehnt auf die doppelte Länge, nach jener Partie, bei welcher Mahlers Musik – so Theodor W. Adorno – ihre Bestimmung zur Idee freigibt (T. 765ff.)  :32 Genau dort, gegen Ende des Werkes, erklingt, nun ohne den in Takt 783 gestrichenen dritten Hammerschlag, erneut der Geschlechtswechsel von Dur nach Moll (T.  783ff., siehe Notenbeispiel 4b). Im Gegensatz zum phasenweise auftretenden Topos im Kopfsatz sind in der Coda des Finales drei Schichten gleichzeitig eingebunden  : erstens das Rhythmus-Motto (eine Pauke und eine kleine Trommel), zweitens der Genuswechsel-Topos, nunmehr aber auch er augmentiert und in der Farb- und Raumnuancierung eines Mischklangs disponiert (siehe Notenbeispiel 4b  : vier Flöten  ; drei Klarinetten  ; vier Fagotte  ; Englisch Horn  ; sechs, später noch drei Trompeten  ; acht, später noch vier Hörner), und drittens die aus der Einleitungsthematik hergeleitete Unisono-Melodie der Streicher, welche die topischen Elemente fremd kontextualisiert und für den Werkschluss vorbereitet. Im Hinblick auf den Namen die »Tragische«, den das UraufführungsProgrammheft, gewiss autorisiert durch den Komponisten, der Symphonie verliehen hat, wird die Richtung des generischen Wechsels nicht wie bei Schubert hier umgekehrt. Die Sechste erreicht mit einem Ausklang nach Moll, dem Gegenteil einer Teleologie »per 32 Vgl. die Diskussion der Belegstellen aus Adornos Schriften Mahler. Eine musikalische Physiognomik sowie aus den Epilegomena zu Mahler bei Hermann Danuser, »Musikalische Physiognomik bei Adorno«, in  : GVA, Bd. 2, S. 336–351, v. a. S. 340–347, und Adolf Nowak, »Inwiefern ist Mahlers Musik ›konkret zur Idee bestimmt‹  ? Zu einem Wort von Theodor W. Adorno«, in  : Arbeit an Musik. Reinhard Kapp zum 70. Geburtstag, hrsg. von Markus Grassl u. a., Wien 2017, S. 497–510.

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Hermann Danuser

Notenbeispiel 5: Rihm, Symphonie Nr. 2 (erster und letzter Satz) für großes Orchester (© 1977 by Universal Edition A.G., Wien/UE16600), T. 9–12

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Dur/Moll im Horizont musikalischer Topik

aspera ad astra«, sogar vergrößert ihr Ende.33 Am faktischen Ende (T. 820f.) besiegelt der reine Molltonika-Akkord, verbunden mit dem Motto-Rhythmus im Schlagzeug (Pesante), diesen Beinamen der Sechsten – der generische Wechsel, bis dahin Zeichen des Lebens, ist erloschen. Als letztes Exemplum für den Topos Dur-Moll-Wechsel als Motiv dient ein Werk aus den Anfängen einer europäischen Postmoderne  : die Zweite Symphonie von Wolfgang Rihm (1975). Hier erscheint die Dur-Moll-Figur aufgeschichtet zur Simultaneität. Die kompositorische Voraussetzung – der Wechsel von Dur zu Moll – wird in eine neue Konstellation verwandelt, die den Topos transformiert. Das Werk des damals 22-jährigen Komponisten beginnt – wie Richard Strauss’ Tondichtung Also sprach Zarathustra – sehr langsam (MM Viertel = 20) auf einem Orgelpunkt (Des) der tiefen Streicher crescendierend. Nach fünf Takten bricht der Klang in einer Generalpause ab, die fast drei Takte dauert. Nach diesem sehr, sehr langen Schweigen explodiert geradezu ein Orchestertutti mit dem mutierten Topos, einem nun simultanen Dur/Moll-Klang über C. Dieses Beispiel, das Ende meines Beitrags, repräsentiert nicht das Ende der Dur-MollTopik in der Musikhistorie. Die dargelegten Probleme bieten vielmehr nur kleine Ausschnitte weit breiterer Spektren. So gilt für dieses Thema, den Dur-Moll-Kontrast in der Musikgeschichte, dasselbe wie für die musikalische Topik im Ganzen  : Es sind Themen, die nach weiterer Forschung verlangen und die, weder unter- noch überforscht, in keiner Weise als ausgeschöpft gelten dürfen.

33 Vgl. Arne Stollberg, Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2014, S. 675–683, v. a. S. 677.

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Wolfgang Auhagen

Dur/Moll und die Geschichte der Tonartencharakteristik

1. Einführung

Die Geschichte der Tonartencharakteristik ist bereits mehrfach Gegenstand von Überblicksdarstellungen gewesen.1 So soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die Tonartencharakteristik bei der Etablierung des Dur/Moll-Tonartensystems in der Musiktheorie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts spielte. Es wird also schwerpunktweise um die Lehre von den Tonarten und ihrer Charakteristik in der damaligen musiktheoretischen Diskussion gehen und weniger um die Zuschreibungen von Eigenschaften zu einzelnen Tonarten, auch wenn diese immer wieder berührt werden. In der Zeit zwischen dem späten 17. und frühen 18.  Jahrhundert entstehen musiktheoretische Schriften, in denen die Tonarten des Dur/Moll-Systems erläutert werden. Zu erkennen ist die neue Sichtweise auf Tonarten unter anderem daran, dass die Töne des tonischen Dreiklangs als kennzeichnendes Merkmal angegeben werden und nicht beispielsweise Ambitus, Finalis und Repercussa der entsprechenden Tonskala.2 Auffallend ist an diesen frühen musiktheoretischen Traktaten zum Dur/Moll-System, dass sie in der Regel auch einen Abschnitt über charakteristische Eigenschaften der Tonarten aufweisen. In der nachfolgenden Übersicht sind die Traktate mit einer solchen Tonartenbeschreibung zusammengestellt  : – Jean Rousseau, Méthode claire, certaine et facile, Pour apprendre à chanter la Musique, Quatrième Edition, Paris 1691  ; – Marc-Antoine Charpentier, Règles de Composition, Manuskript [ca. 1692]  ;3 – Charles Masson, Nouveau Traité des Règles de la Composition de la Musique, Paris 1697  ; – Johann Mattheson, Das Neu=Eroeffnete Orchestre, Hamburg 1713  ; – Jean-Philippe Rameau, Traité de l’Harmonie Reduite à ses Principes naturels, Paris 1722.

1 Siehe beispielsweise Rita Steblin, A History of Key Characteristics in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, 2. Aufl., Rochester (NY) 2002  ; Wolfgang Auhagen, Studien zur Tonartencharakteristik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (= Europäische Hochschulschriften XXXVI,6), Frankfurt/Main u. a. 1983. 2 Siehe beispielsweise Charles Masson, Nouveau Traité des Regles pour la Composition de la Musique, 2. Aufl. Paris 1699, S. 10 (»Notes essentielles du Mode majeur« und »Notes essentielles du Mode mineur«). 3 Aufbewahrtungsort  : Paris, Bibliothèque nationale (F-Pn, frç. n. a. 6355).

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Wolfgang Auhagen

Die Ausführlichkeit der Beschreibungen variiert allerdings deutlich. Unter der Überschrift Energie des Modes listet Marc-Antoine Charpentier neun Dur- und neun Molltonarten mit zugehörigen charakterisierenden Adjektiven auf, beispielsweise C-Dur mit den Adjektiven »gay et guerier«, c-Moll mit den Adjektiven »obscur et triste«.4 Rameau beschreibt die Tonarten etwas ausführlicher, wobei er jeweils mehreren Tonarten gemeinsame Eigenschaften zuspricht, wie beispielsweise  : »Le Mode majeur pris dans l’Octave des Nottes, Ut, Ré ou La, convient aux Chants d’allegresse & de rejouissance«.5 Die ausführlichste Darstellung findet sich bei Johann Mattheson. Die Beschreibung nimmt hier den Raum eines ganzen Kapitels der Schrift Das Neu=Eroeffnete Orchestre ein.6 Keine Regel ohne Ausnahme  : während Masson in der ersten Auflage seiner Kompositionslehre aus dem Jahre 1697 acht Tonarten in ihren Eigenschaften beschreibt, wobei interessanterweise C-Dur als einzige vorzeichenlose Durtonart fehlt (beschrieben werden F-Dur, G-Dur, D-dur, f-Moll, g-Moll, a-Moll, c-Moll und d-Moll),7 verzichtet er ab der zweiten Auflage von 1699 auf eine solche detaillierte Charakteristik und beschränkt sich auf die Gegenüberstellung von Dur und Moll mit Zuschreibungen, die in ähnlicher Form bereits bei Gioseffo Zarlino zu finden sind.8 Johann David Heinichen schließlich, dem wir eine frühe Darstellung eines Tonartenkreises verdanken,9 hielt von der Lehre von Tonartencharakteren überhaupt nichts.10 Hierauf wird an späterer Stelle eingegangen. Eine Erklärung, worauf die Tonartencharakteristik basiere, wird in den erwähnten Traktaten nicht gegeben und die Tonartenbeschreibungen werden nicht weiter problematisiert. Es stellt sich die Frage, ob es sich bei diesen Beschreibungen um eine Art »Spielwiese« der Phantasie der Autoren im theoretischen Rahmen der Affektenlehre handelte oder ob doch mehr hinter den teilweise sehr detaillierten Ausführungen steckt. Die im Folgenden näher auszuführende Vermutung ist, dass der Tonartencharakteristik eine zentrale Bedeutung für die Legitimation des neuen Systems der Dur- und Molltonarten zukam, und dies unter drei Aspekten  : 1. Die Tonartencharakteristik der Dur- und Molltonarten knüpfte an die Charakteristik der Modi an, stellte die Tonarten also in gewisser Hinsicht in eine Tradition.

  4 Marc-Antoine Charpentier, Regles de Composition, f. 13r und 13v.   5 Jean-Philippe Rameau, Traité de l’Harmonie, Paris 1722, S. 157 (»Der Dur-Modus der Oktaven über C, D und A passt zu Gesängen des Jubels und der Freude«).   6 Johann Mattheson, Das Neu=Eroeffnete Orchestre, Hamburg 1713, S. 236–252.   7 Charles Masson, Nouveau Traité des Regles de la Composition de la Musique, Paris 1697, S. 6ff.   8 Gioseffo Zarlino, Le Istitutioni Harmoniche, Venedig 1558, Teil 3, S. 181  : »[…] quando si pone la Terza maggiore nella parte grave, l’Harmonia si fà allegra  ; & quando si pone nella parte acuta, si fà mesta […]«.   9 Johann David Heinichen, Neu erfundene und Gruendliche Anweisung […] zu vollkommener Erlernung des General=Basses, Hamburg 1711, Kap. IV. 10 In der zweiten Auflage geht Heinichen auf die Tonartencharakteristik ein  : Der General=Bass in der Composition, Dresden 1728, S. 83–87.

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Dur/Moll und die Geschichte der Tonartencharakteristik

2. Die Tonartencharakteristik diente dem Nachweis, dass es sich bei den 12 Dur- und 12 Molltonarten wirklich um individuelle Tonarten handelte und nicht nur um Transpositionen zweier Grundmodelle. 3. Die Charakteristik der Dur/Moll-Tonarten konnte zu einem System von Ausdruckswerten ausgearbeitet werden, sowohl im Bereich von Grundtonarten als auch im Bereich von Tonarten innerhalb einer Komposition, im Bereich der Modulation. Diesem letztgenannten Bereich widmet sich Rameau in den musiktheoretischen Schriften, die auf den Traité de l’Harmonie folgten. Dieses System von Ausdruckwerten ordnete die einzelne Tonart in einen größeren Kontext ein und konnte – zumindest aus Sicht Rameaus – dem Anspruch einer in sich geschlossenen Theorie genügen.

2. Die Tonartencharakteristik als Mittel zur Legitimation des Dur/Moll-Systems 2.1. Anknüpfen an Tradition

Die Charakterisierungen einiger Dur- und Molltonarten weisen deutliche Parallelen zu Modusbeschreibungen auf, beispielsweise diejenige von d-Moll, das Rousseau als »serieux«11 und Charpentier als »grave et devot«12 bezeichnet  ; Mattheson schreibt, die Tonart enthalte etwas »devotes und ruhiges / dabey auch etwas grosses, angenehmes und zufriedenes«.13 Heinrich Glarean schreibt 1547 dem dorischen Modus zu  : »Maiestatem quandam ac gravitatem praese fert«14. Es ist auch sicherlich kein Zufall, dass Mattheson seine Tonartenbeschreibung nicht bei C-Dur, der Ausgangstonart des Quintenzirkels, beginnt, sondern »beliebter Ordnung nach« bei d-Moll, um dann mit g-, a- und e-Moll fortzufahren, also solchen Tonarten, die sich zu den Modi in Beziehung setzen lassen. Um die Anknüpfung an ältere Charakterisierungen offenkundig werden zu lassen, zitiert Mattheson darüber hinaus Athanasius Kircher, beispielsweise bei der Beschreibung von g-Moll (bei Kircher handelt es sich um den hypodorischen, nach G transponierten Modus) und B-Dur, wobei er hier auf Kirchers Charakterisierung des nach B transponierten lydischen Modus verweist.15 2.2. Eigenständigkeit der Tonarten

Durch die unterschiedlichen Charaktere der Dur- und Molltonarten konnte der Kritik begegnet werden, dass es sich nicht um eigenständige Tonarten, sondern lediglich um 11 Jean Rousseau, Méthode claire, certaine et facile, Pour apprendre à chanter la Musique, Quatrième Edition, Paris 1691, S. 24. 12 Marc-Antoine Charpentier, Regles de Composition, f. 13r. 13 Johann Mattheson, Das Neu=Eroeffnete Orchestre, Hamburg 1713, S. 236. 14 Henricus Loritus Glareanus, Dodecachordon, Basel 1547, Liber II, S. 118. 15 Athanasius Kircher, Musurgia Universalis I, Rom 1650, Buch VII, S. 573 und 575.

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Transpositionen handele. Die Gegner der neuen Tonartenlehre, beispielsweise der Erfurter Organist Johann Heinrich Buttstett, sahen in der Transposition zweier Skalen ein wichtiges Argument gegen die neue Lehre  : »[…] und sind nicht 24. Tone wie der Herr Author fol. 63. fuergibt / sondern weil in stylo Ecclesiastico Tonus Authenticus und plagalis unterschieden sind / so entstehen deren 12. und bleibt auch darbey  : In stylo Motectico aber und in einem jeden Quatuor ist der Authentus mit seinem plagali verknuepffet und verbunden. Daß dahero nicht mehr als 6. unterschiedene Toni vel Modi Musici in Cantu figurali koennen statuiret werden. Denn ex Transpositione entstehet kein neuer Tonus vel Modus, sondern sie macht instrumentaliter nur einige Veraenderung / und dieses verursachet die Temperatur […].«16

Matthesons Antwort auf diese Kritik war die Schrift Das Beschuetzte Orchestre von 1717, in der gleich zu Beginn im Titelkupfer deutlich gemacht wird, dass in der neuen Musiktheorie die Solmisationssilben und die alten Modi zu Grabe getragen werden. Die Verwendbarkeit sämtlicher Tonarten sieht Mattheson in dieser Schrift durch die gleichschwebende Temperatur gegeben.17 Aufgrund der Kritik am Dur/Moll-Tonartensystem sah er sich später aber auch genötigt, eine detaillierte Begründung für die Unterschiedlichkeit und Eigenständigkeit der Dur- und Molltonarten zu geben. Er greift dabei auf eine Erklärung zurück, die bereits Rameau in seiner Schrift Nouveau Système de Musique Theorique angegeben hatte  : die ungleichschwebende Temperatur.18 In seiner General­ baß­schule von 1731 stellt Mattheson die Intervallproportionen zwischen den Skalen­ stu­fen in den verschiedenen Tonarten in großer Ausführlichkeit dar, wobei er ein Stim­mungssystem zugrundelegt, das Andreas Werckmeister in seiner Schrift Musicae Mathematicae Hodegus Curiosus von 1687 beschreibt.19 Er bemerkt dann aber, dass nach dem Kriterium der Anzahl nicht schwebungsfreier Intervalle Tonarten in dieselbe Klasse fallen, die sehr weit voneinander entfernt liegen, beispielsweise B-Dur und Fis-Dur, und endet daher die Darstellung mit dem Satz  : »Hier bricht der Circul ein Bein / und die Algebra spielt das Reiß=aus.«20 Die Begründung der Eigenständigkeit der Tonarten über unterschiedliche Intervallproportionen in den Skalen führte in Matthesons Berechnung zu dem Problem, dass einige Tonarten eine Reihe derart unreiner Akkorde produzierten, dass sie nach der alten Moduslehre keine zulässigen Transpositionen darstellten. Wolfgang Caspar Printz nennt als Voraussetzung für eine Modus-Transposition, »daß man in dem Modo Transposito alle Triades harmonicas, die man in denen Naturalibus zu denen Johann Heinrich Buttstett, Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, Tota Musica et Harmonia Aeterna, Erfurt (1716), S. 51f. Johann Mattheson, Das Beschuetzte Orchestre, Hamburg 1717, S. 87. Jean-Philippe Rameau, Nouveau Système de Musique Theorique, Paris 1726, S. 107–114. Johann Mattheson, Grosse General=Baß=Schule, Hamburg 1731, S. 81–143  ; Andreas Werckmeister, Musicae Mathematicae Hodegus Curiosus, Frankfurt am Main und Leipzig 1687, S. 71. 20 Mattheson, Grosse General=Baß=Schule, S. 111.

16 17 18 19

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clausulis formalibus vonnoethen hat / rein haben koenne / auff denen jenigen Instrumenten / so darzu gebraucht werden.«21 Um also den Gebrauch sämtlicher Dur- und Molltonarten rechtfertigen zu können, musste man sich auf die gleichstufige oder eine dieser angenäherte Temperatur beziehen  ; dann aber entfällt eine Begründung der Eigenständigkeit und Verschiedenheit der Tonarten über klar unterschiedene Intervallproportionen. Mattheson kommt daher zu dem Schluss, dass der eigentliche Unterschied zwischen den Tonarten in der unterschiedlichen »Hoehe und Tieffe«22 der Tonarten liege, womit er allerdings nicht die absolute Tonhöhe meint, sondern die Frequenzproportion, die sich zwischen den Grundtönen zweier Skalen ergibt. Diese Proportion ist beispielsweise zwischen C- und G-Dur mit 2   : 3 einfacher als zwischen F- und Fis-Dur mit 128   : 135. Letztlich meint Mattheson also den Verwandtschaftsgrad von Tonarten, der sich nach der Einfachheit der Proportion zwischen deren Grundtönen bemisst. Die ungenaue Terminologie zeigt aber, dass bei ihm das Denken in Tonartenverwandtschaft noch an die Skalenrelation gebunden war. Zudem folgen seine Zuschreibungen von Ausdruckswerten an Tonarten keinem System von Tonartenverwandtschaft, sondern beruhen auf unterschiedlichen Kriterien, unter anderem, wie gezeigt, auf älteren Modus-Charakterisierungen. Matthesons Behandlung der Tonartenlehre lässt also den Übergang vom Modus- zum Dur/Moll-System noch klar erkennen. Eine Systematisierung der Tonarten-Ausdruckswerte erfolgte kurze Zeit später in den musiktheoretischen Schriften Jean-Philippe Rameaus, die sich mit der Ableitung des tonalen Systems aus akustischen Beobachtungen an einer schwingenden Saite befassen.23 2.3 Systematisierung der Tonarten-Ausdruckswerte

In den Schriften, die auf den Traité de l’Harmonie folgen, entwickelt Rameau eine ­Akkord- und Tonarten-Theorie auf der Basis des Phänomens der Obertonreihe und des sympathetischen Mitschwingens von Saiten. Ausgangspunkt der Ableitung des Durakkordes als einer natürlichen harmonischen Einheit ist der klingende oder tönende Körper (»corps sonore«), z. B. eine schwingende Saite, die außer ihrem Grundton Obertöne, »sons harmoniques«,24 erklingen und Saiten mitschwingen lässt, die im Einklang mit diesen Obertönen stehen. Von den Obertönen treten – Rameau zufolge – besonders die

21 Wolfgang Caspar Printz, Phrynidis Mytilenaei oder des Satyrischen Componisten Erster Theil, Dresden und Leipzig 1696, S. 40, § 2. 22 Mattheson, Grosse General=Baß=Schule, S. 157. 23 Zu den unterschiedlichen musiktheoretischen Richtungen zu Beginn des 18.  Jahrhunderts siehe  : Ludwig Holtmeier, »Heinichen, Rameau, and the Italian Thoroughbass Tradition  : Concepts of Tonality and Chord in the Rule of the Octave«, in  : Journal of Music Theory 51/1 (2007), S. 5–49. 24 Jean-Philippe Rameau, Démonstration du Principe de l’Harmonie, Paris 1750, S. 13.

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Duodezime und die Septdezime hervor.25 Die Duodezime entspricht einer Saitenlänge von 1/3 der Gesamtlänge (den Grundton erzeugend), die Septdezime einer solchen von 1/5. So ergibt sich aus dem Grundton und seinen beiden hervortretenden Obertönen die Harmonische Proportion 1   : 1/3   : 1/5.26 Das Gehör nehme aber diese Intervalle aufgrund der Ähnlichkeit von Tönen im Oktavabstand nicht als Duodezime und Septdezime wahr, sondern als Quinte und Terz.27 Rameau reduziert daher die Proportion auf den Bereich einer Oktave und erhält  : 1/4   : 1/5   : 1/6.28 Dies sind die Saitenlängenverhältnisse des Durdreiklanges. Das Resonanzphänomen ist für Rameau Ausgangspunkt zur Ableitung des Moll-Akkordes  : Stimmt man Saiten so ab, dass sich ihre Längen zur Länge der schwingenden Saite wie ganzzahlige Vielfache verhalten, so werden sie erregt und geraten ebenfalls in Schwingungen. Sie schwingen aber nicht als Ganzes, sondern in Teilabschnitten der Gesamtlänge, so dass die von ihnen erzeugten Klänge mit dem Grundton der erregenden Saite einen Einklang bilden.29 Rameau wählt – in Analogiebildung zum Durdreiklang – Saiten von drei- und fünffacher Länge und bildet daraus die Arithmetische Proportion 5   : 3   : 1 zwischen Unterseptdezime, Unterduodezime und Grundton.30 Auf den Bereich einer Oktave reduziert ergibt dies die Saitenlängenverhältnisse des Molldreiklanges 6   : 5   : 4. Rameau war sich darüber im Klaren, dass dieser Dreiklang nicht direkt aus den Schwingungen der Saiten ableitbar ist, denn in diesem Fall müssten die Saiten von vielfacher Länge der Grundsaite in ihrer Gesamtlänge schwingen und eine Untertonreihe bilden, was aber nicht zutrifft. So sieht er in dieser Proportion auch nur einen Hinweis auf den Mollakkord und dies wird für die Erklärung der unterschiedlichen Wirkung beider Akkorde wichtig.31 Rameau weist dem naturgegebenen Durdreiklang die Merkmale kraftvoll, männlich und glänzend sowie eine vorrangige Stellung vor dem Mollakkord zu, auf den die Natur nur einen indirekten Hinweis gebe, der also letztlich nicht natürlich und damit schwach sei  : »Le Mode majeur, ce premier jet de la nature, a une force, un brillant, si j’osois dire, une virilité, qui l’emportent sur le mineur, & qui le font reconnoître pour le maître de l’harmonie«.32 Aus der harmonischen und der arithmetischen Proportion lassen sich zwei geometrische Proportionen ableiten  :

25 Ebd., S. 15. 26 Ebd., S. 20. 27 Ebd., S. 15–17. 28 Ebd., S. 21. 29 Ebd., S. 21. 30 Ebd., S. 22. 31 Ebd., S. 66  : »[…] mais ne suffit-il pas de trouver dans cette proportion l’indication de l’accord parfait qu’on en peut former […]«. 32 Ebd., S. 82.

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3   : 1   : 1/3 und 5   : 1   : 1/5 (auf Saitenlängen bezogen) f   : c   : g as   : c   : e Die erste Proportion bezeichnet Rameau als »proportion triple«, die zweite als »proportion quintuple«.33 Die erste Proportion ist in seinem System die wichtigere, denn sie zeige, dass der Stammton (»générateur«) zur gleichen Zeit zwei Quinten hervorbringt, eine Ober- und eine Unterquinte, die ihrerseits zu Grundtönen werden, also den auf ihnen aufgebauten Durakkord, der aus ihren Obertönen gebildet wird, mit erklingen lassen.34 Rameau bezeichnet den Stammton auch als »note tonique«, die Oberquinte als »dominante« und die Unterquinte als »sous-dominante«.35 Die drei Grundtöne Tonika, Subdominante und Dominante konstituieren mit ihren Akkorden die Tonart.36 Erweitert man die genannte Proportion nach beiden Seiten, so erhält man folgende Quintprogression  :37 solb

réb

lab

mib

sib

fa

729

243

81

27

9

3

»Arithmétique«

ut 1

sol



la

mi

si

fa♯

1/3

1/9

1/27

1/81

1/243

1/729

»Harmonique«

Auch in dieser Reihe stellt jeder Ton einen Grundton dar, der zur Tonika einer neuen Tonart werden kann und mit seinen beiden benachbarten Tönen und darauf aufgebauten Akkorden diese Tonart konstituiert. Auf der Seite der arithmetischen Proportion entwickeln sich die B-Tonarten, auf derjenigen der harmonischen Proportion die Kreuztonarten. Man kann zusammenfassend die musikalischen Erscheinungen, die Rameau aus dem Prinzip des »klingenden Körpers« ableitet, in folgender Weise gegenüberstellen  : Arithmetische Proportion Harmonische Proportion Molltonart Durtonart Subdominante Dominante ♭-Vorzeichen ♯-Vorzeichen 33 Ebd., S. 27. 34 Ebd., S. 31. 35 Ebd., S. 32. 36 Jean-Philippe Rameau, Génération harmonique, Paris 1737, S. 109  : »on doit d’ailleurs le regarder comme le centre du Mode, auquel tendent tous nos souhaits  ; il y est effectivement le terme moien de la proportion, auquel les extrêmes sont tellement liés, qu’ils ne peuvent s’en éloigner un moment  ; s’il passe à l’un d’eux, celui-ci doit y retourner sur le champ  ; tel est le droit du Mode établi sur la succession fondamentale par Quinte […]«. 37 Ebd., S. 43 (die Zahlen beziehen sich in diesem Fall auf Saitenlängen).

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Die Gegensätzlichkeit der Entstehung von Durtonart, Dominante, ♯-Vorzeichen einerseits und von Molltonart, Subdominante, ♭-Vorzeichen andererseits spiegelt sich nach Rameau auch in der unterschiedlichen Wirkung dieser musikalischen Erscheinungen wider. Seiner Meinung nach kann der Reihe der Töne, die aus der harmonischen Proportion entstehen (Obertöne), die Freude zugeschrieben werden und der Reihe der Töne, die aus der arithmetischen Proportion entstehen, Klagen und Tränen.38 Dementsprechend sind auch Modulationen in Richtung der Kreuztonarten mit einer Steigerung der Aktivität verbunden, solche in Richtung der B-Tonarten mit zunehmender Ruhe. Weshalb die naturgegebenen Klänge mit positiven Affekten belegt sind, die in analoger Weise künstlich erzeugten Klänge hingegen mit negativen Affekten, erläutert Rameau allerdings nicht weiter. In späteren Schriften zur Tonartencharakteristik wird die Gegensätzlichkeit von Kreuz- und B-Tonarten bis zum Ende des 19.  Jahrhundert hinein häufig thematisiert. Hatte Rameau vornehmlich die Wirkungen im Blick, die sich in der Aufeinanderfolge von Akkorden ergeben, so kreist die spätere Diskussion um die Wirkung von Grundtonarten, womit sich auch die Frage nach der Wahrnehmbarkeit der angenommenen Unterschiede stellte.39 So bringt beispielsweise der Komponist und Musiktheoretiker Georg Joseph Vogler die Idee der Zunahme an Helligkeit und Aktivität bei den Kreuztonarten in seinem Artikel »Ausdruck« für die Deutsche Encyclopaedie mit dem Klang leerer Saiten der Violine in Verbindung, das progressiv Matte und Dunkle der B-Tonarten mit dem immer geringer werdenden Anteil leerer Saiten an den Skalentönen.40 Ließ sich bei den Durtonarten der Aspekt der Tonartenordnung (Quintenzirkel) mit klanglichen Aspekten stimmig in Beziehung setzen, so war dies bei den Molltonarten nur eingeschränkt der Fall. Uneinigkeit bestand vor allem bei der Charakterisierung der Molltonarten mit Kreuzvorzeichnung, weil sich bei ihnen unterschiedliche Aspekte vermischten  : (klangliche) Helligkeit und Aktivität durch Kreuzvorzeichnung, Dunkelheit und negative Affekte durch das Mollgeschlecht. Noch Hugo Riemann schreibt in seinem Musiklexikon

38 Jean-Philippe Rameau, Observations sur notre instinct pour la musique, et sur son principe, Paris 1754, S. 52f.: »S’il s’agissoit ici de comparaisons, n’attribueroit-on pas naturellement à la joye cette foule de descendans qu’offrent les soumultiples, dont la résonance indique l’existence  ? C’est-là justement aussi que prennent leur source la Tierce majeure, le Mode majeur, le Diéze, le Chant dont la force redouble en montant, & la Dominante, Quinte au dessus. Et par une raison toute opposée, n’attribueroit-on pas aux regrets, aux pleurs, &c. ces multiples dont le morne silence n’est réveillé que par des divisions à l’unisson du Corps qui les fait frémir, pour marquer que c’est à lui de les représenter  ? Eh bien, c’est de ce côté-ci, pour lors, que prennent leur source la Tierce mineure, le Mode mineur, le Bémol, le chant qui s’amolit en descendant, la Soudominante Quinte au dessous […]«. 39 Siehe hierzu Auhagen, Studien zur Tonartencharakteristik, S. 180ff. und 217ff. 40 Georg Joseph Vogler, Artikel »Ausdruck (musikalisch)«, in  : Deutsche Encyclopaedie, Bd. 2, Frankfurt/Main 1779, S. 384–387.

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von 1882 von »eigenartige[n] Mischungen beider Wirkungen«, vom »Helldunkel der Durtonarten mit Been« und der »fahle[n] Beleuchtung der Molltonarten mit Kreuzen«.41

3. Tonartencharakteristik in Kompositionen

Tonarten wurden nachweislich von vielen Komponisten mit bestimmten Bedeutungen belegt, wobei es sowohl Übereinstimmungen zwischen diesen Bedeutungszuweisungen über Jahrhunderte hinweg gibt (beispielsweise bei C-, D- und E-Dur) als auch individuelle Charakteristisierungen.42 Die Vorstellung einer Gegensätzlichkeit von Kreuz- und B-Tonarten übte auf Komponisten bis ins 20. Jahrhundert hinein eine große Faszination aus. In Richard Wagners Werken gibt es entsprechende Gegenüberstellungen beispielsweise in Der fliegende Holländer und in Tristan und Isolde. Die erste Arie des Holländers, die ihn als Unglückseligen, Rastlosen kennzeichnet, steht in c-Moll (1. Aufzug, 2. Szene). Dem B-Tonartenbereich, der im 1. Aufzug vorherrscht, wird im 2. Akt die Welt von Dalands Haus in A-Dur gegenübergestellt, die Ballade vom Holländer erklingt aber wiederum in g-Moll. Die Szene mit Senta und dem Holländer steht in E-Dur, das bei den Worten »Treue bis zum Tod« bis H-Dur geführt wird. In Tristan und Isolde spielt die Gegenüberstellung von Nacht und Tag eine wichtige Rolle. Die Nacht hat hierbei mehrere Seiten. Zum einen wird sie mit Dunkelheit in Verbindung gebracht. Dies zeigt sich in der 2. Szene des 2. Aufzugs  : Wenn Tristan und Isolde singen »O sink hernieder, Nacht […]« herrscht As-Dur. Die zweite Seite ist die »süße Nacht« und in gewissem Sinne helle Nacht, die Nacht der Liebe bzw. des Liebestodes. Und dementsprechend wird bei dieser Konnotation von Wagner nun gerade der Kreuztonartenbereich gewählt, also der helle Tonartenbereich. Die Grundkonzeption scheint also ganz ähnlich derjenigen des Fliegenden Holländers zu sein  : Der Liebe, speziell der das irdische Leben transzendierenden Liebe, wird der entlegene Kreuztonartenbereich zugeordnet. In Isoldes letztem Monolog »Mild und leise«, der thematisch früheres Material aufgreift, sind diese Gedanken quasi gebündelt  : Isolde beklagt den toten Tristan und sie beginnt in As-Dur. Dann aber sieht sie ein Leuchten in Tristan und wendet sich von der Welt ab. Die Musik moduliert dieser Idee einer Abwendung vom irdischen Leben folgend in den entlegenen Kreuztonartenbereich und endet in H-Dur (auch hier könnte man eine entfernte Parallele zum Holländer sehen). Der entlegene Kreuztonartenbereich, als Grundtonart speziell E-Dur, wird von Wagner in beiden Werken mit Tod und der Erlösungsidee in Verbindung gebracht. Neben dem Aspekt der Helligkeit und der weiten Quintenzirkelentfernung von C-Dur wirkt hier eine alte Tradition nach, die 41 Hugo Riemann, Artikel »Charakter der Tonarten«, in  : ders., Musik-Lexikon, Leipzig 1882, S. 156. 42 Siehe hierzu Auhagen, Studien zur Tonartencharakteristik, S. 405ff.

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bereits bei Mattheson nachzuweisen ist und offensichtlich auf den Gebrauch gestopfter D-Trompeten bei Trauermusiken zurückgeht. Auf die Charakterisierungen, die sich aus solchen Gebrauchszusammenhängen von Musikinstrumenten heraus ergaben, kann in Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden.43 Als ein weiteres Beispiel für eine Gegenüberstellung von Kreuz- und B-Tonarten sei das Klavierlied Mein Liebchen, wir saßen zusammen von Hugo Wolf angeführt.44 Es ist insofern aufschlussreich, als in diesem Fall klangliche Differenzierungen zwischen enharmonisch verwandten Tonarten ebenso entfallen wie Intonationsunterschiede. Dennoch wird die tonartliche Umdeutung hier ganz gezielt vorgenommen. Die Grundtonart des Liedes ist Fis-Dur. An der Textstelle »Die Geisterinsel, die schöne, lag dämm’rig im Mondenglanz« findet eine enharmonische Umdeutung nach Ges-Dur statt (T. 10ff.). Für den Hörer ergibt sich hier keine auffallende Änderung, da die Klavierbegleitung vor und nach der Umdeutung nahezu identisch ist. Für den Interpreten wird aber an dieser Stelle die »Geisterinsel« tonartlich besonders hervorgehoben. *** Es bleibt abschließend die Frage zu klären, weshalb schon zu Beginn der theoretischen Auseinandersetzung mit der Unterschiedlichkeit der Dur- und Molltonarten nicht alle Theoretiker der Tonartencharakteristik zustimmten und auch nicht alle Komponisten spezifische Ausdruckswerte mit Tonarten verbanden. Johann David Heinichen setzt sich mit der Tonartencharakteristik im Rahmen der Erörterung der Loci Topici auseinander, der Erfindungsorte. Für ihn ist die Wirkung eines Musikstückes nur von der kompositorischen Idee des Komponisten abhängig. Die Wahl der Tonart richte sich ausschließlich nach praktischen Gesichtspunkten wie Umfang der Stimme bei Vokalkompositionen oder Besonderheiten der Instrumente, für die ein Stück geschrieben wird.45 Ähnlich argumentierten in späteren Zeiten auch andere Theoretiker. Auch Richard Wagner meint in einem Brief an Theodor Uhlig (31. Mai 1852),46 dass die Tonart als solche keinen spezifischen Ausdruck habe, sondern erst in der klanglichen Realisation eines Satzes durch Musikinstrumente und/oder Stimmen. Wie gezeigt knüpft aber auch er in einigen seiner Werke an Ideen des 18. Jahrhunderts an. Von dem Dur/Moll-Tonartensystem ging offensichtlich eine starke suggestive Kraft aus, da es neben der Dur-Moll-Kontrastierung eben auch die kontrastive Verwendung von Kreuz- und B-Tonarten ermöglichte.

43 Siehe hierzu ebd., S. 34f. 44 Hugo-Wolf-Gesamtausgabe, hrsg. von Hans Jancik, Bd. 7/1 (= Nachgelassene Lieder I), Wien 1980, S. 18ff. 45 Johann David Heinichen, Der General=Bass in der Composition, Dresden 1728, S. 83ff. 46 Richard Wagner’s Briefe an Theodor Uhlig, Wilhelm Fischer, Ferdinand Heine, Leipzig 1888, S. 191–194.

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Keine Spielerei? Dur und Moll im (und als) Gender-Diskurs

Die Zuordnung der beiden Tongeschlechter Dur und Moll zum männlichen und weiblichen Geschlecht reicht – soweit ersichtlich – bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts zurück. Im Folgenden seien zunächst einige Stimmen hierzu aus der deutschsprachigen1 Musiktheorie, Musikästhetik und Komposition referiert, die sich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert erstrecken. Die Frage, welche Bedeutung diese Zuordnungen über die rein theoretische Feststellung hinaus eventuell für die Musik und Musikgeschichte – d. h. für die musikalische Praxis – haben, drängt sich hierbei auf, ohne dass sie an dieser Stelle bereits abschließend beantwortet werden kann. Die Überlegungen am Ende dieses Beitrags sind entsprechend vorläufig. Johann Mattheson notierte 1731 in seiner Großen General-Baß-Schule  : »Ich dencke unmaßgeblich / das Gleichniß von menschlichen Gesichtern2 reime sich nicht uneben auf unsre Ton-Arten / da die grössern das männliche Geschlecht / die kleinern aber das weibliche bedeuten können.«3 Der Autor belässt es bei dieser knappen Feststellung  ; eine Begründung des Vergleichs von Dur und Moll mit ›männlich‹ und ›weiblich‹ bietet er ebenso wenig wie eine Herleitung desselben. Offenbar handelt es sich bei Matthesons (durchaus vorsichtig formulierter) Analogiesetzung zur Verdeutlichung des Gesagten vor allem um eine pädagogisch-didaktisch motivierte Aussage, die auf den ersten Blick tatsächlich plausibel erscheint  : Die Zahl der Elemente auf beiden Seiten (Dur/ Moll, männlich/weiblich) ist jeweils gleich (oder ungefähr gleich), es gibt Ähnlichkeiten und Verwandtschaftsverhältnisse, und sowohl Gesichtszüge als auch Tonarten weisen zumeist jeweils deutliche Charakteristika auf, die sich ohne weiteres einem bestimmten Geschlecht zuordnen lassen.

1 Weitere Untersuchungen müssten sich der Diskurse jenseits des deutschen Sprachgebiets annehmen. 2 Mattheson vergleicht zunächst den Unterschied zwischen den 24 Tonarten mit dem Unterschied zwischen menschlichen Gesichtern  : »Wer denn noch bey seinen fünff [sic] Augen bleiben / trotz Sinn und Verstand, Ohren und Vernunfft / läugnen will / daß jeder von den vier und zwantzig Tönen seine gantz eigene / keinem andern gemeine / Octaven-Gattung habe  ; der mag eben so leicht verneinen / daß die Sonne scheine / oder daß der Menschen Gesichter unterschieden sind  / weil sie alle zwey Augen  / zwey Ohren  / einen Mund und eine Nase haben.« Johann Mattheson, Große General-Baß-Schule. Oder  : Der exemplarischen OrganistenProbe zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, Hamburg 1731, S. 132, Abschnitt CCXXIII. 3 Ebd., Abschnitt CCXXIV.

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Warum aber ist mit Blick auf Moll (›weich‹) und Dur (›hart‹) bei Mattheson ausgerechnet von weiblich und männlich die Rede, nicht aber – beispielsweise – von Nacht und Tag, von schwarz und weiß, Norden und Süden, heiß und kalt, fest und flüssig  ? Annegret Huber formulierte einmal, ebenso knapp wie bündig  : »Dualismen ziehen Geschlechterkonnotationen an«  ;4 tatsächlich scheinen Vergleiche mit (vermeintlichen) anthropologischen Konstanten dem Menschen auch im Bereich des Hochartifiziellen ein Bedürfnis zu sein. Man denke beispielsweise nur an die Metapher des Organischen, die vor allem im 19. Jahrhundert in aller Munde und Feder war  : Das gelungene Kunstwerk war in dieser Zeit vielfach nur als ein organisches, d. h. ein sowohl in sich geschlossenes als auch lebendiges, gleichsam von sich aus atmendes vorstellbar  ; Analogien zur menschlichen Gestalt, aber auch – wenn ein Werk als gelungen empfunden wurde – zur körperlichen und geistigen Gesundheit, zur ›Lebensfähigkeit‹ im weitesten Sinne, finden sich im damaligen Schrifttum zuhauf.5 Doch auch jenseits des Tongeschlechter-Dualismus machte man immer wieder von der Geschlechtermetaphorik Gebrauch  : Für Richard Wagner etwa, der hier wiederum in einer langen Tradition steht,6 war die Musik bekanntlich weiblich (»Die Musik ist ein Weib«7), das der Befruchtung durch das (männliche) Wort harrt, bis im besten Fall beide zusammen ihr gemeinsames Kind  – und das bedeutet letztlich  : das Wagner’sche Musikdrama – hervorbringen  : »[…] a l l e r m u s i k a l i s c h e r O r g a n i s m u s i s t s e i n e r N a t u r n a c h a b e r   – e i n w e i b l i c h e r, er ist ein nur g e b ä r e n d e r, nicht aber z e u g e n d e r   ; die zeugende Kraft liegt a u ß e r i h m , und ohne Befruchtung von dieser Kraft vermag sie eben nicht zu gebären.«8 Auch das mittlerweile wohl bekannteste Beispiel für ›Gendering‹ im Bereich der Musiktheorie, nämlich die Beschreibung von Hauptsatz und Seitensatz im ersten Satz einer Sonate, die Adolph Bernhard Marx in seiner Kompositionslehre um 1840 vornahm und die von vielen Autoren und Pädagogen im Anschluss aufgegriffen wurde, gehört in diesen Zusammenhang. Bei Marx’ Deutung des ersten Themas als ›männlich‹ und des zweiten als ›weiblich‹ handelt es sich zunächst nur um einen vorsichtigen Vergleich, um eine 4 Annegret Huber, »Performing Music Analysis. Genderstudien als Prüfstein für eine ›Königsdisziplin‹«, in  : Gender Performances  : Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, hrsg. von Andrea Ellmeier u. a., Wien 2011, S. 21–48, hier S. 37. 5 Zu diesem Thema sind seit den 1980er Jahren zahlreiche Beiträge erschienen  ; wichtige Literaturhinweise finden sich u. a. bei Nina Noeske, »Musik als Organismus. (Politische) Implikationen eines Paradigmas«, in  : Musik  – Politik  – Ästhetik. Detlef Altenburg zum 65. Geburtstag, hrsg. von Axel Schröter, Sinzig 2012, S. 92–103. Siehe auch dies., Liszts ›Faust‹  : Ästhetik – Politik – Diskurs (= Musik – Kultur – Gender 15), Köln u. a. 2017, insbesondere Kapitel II.2. 6 Vgl.  – als ein Beispiel von vielen  – u. a. Carl Seidel, Charinomos. Beiträge zur Theorie und Geschichte der schönen Künste. Neue Ausgabe, Bd. 1, Leipzig o. J. [1825–1828], S. 42. 7 Richard Wagner, Oper und Drama, hrsg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart 2000, S. 118. 8 Ebd., S. 116 (Hervorhebungen im Original). An späterer Stelle heißt es  : »Die Musik ist die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger  ; und auf dem Gipfel des Wahnsinnes war die Musik daher angelangt, als sie nicht nur gebären, sondern auch zeugen wollte.« Ebd., S. 118.

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Verdeutlichung dessen, was mit Blick auf zwei gegensätzliche musikalische Charaktere in etwa auf dem Spiel stehen könnte. Zwar wird hier nichts festgeschrieben, doch dass der Autor nach einigen tastenden Versuchen zur Veranschaulichung ausgerechnet auf die beiden Geschlechtscharaktere kommt, die er als Metaphern offenbar für besonders geeignet hält, zeugt von der starken Präsenz derselben auch im Nachdenken über Musik. Bei Marx heißt es bekanntlich, dass der Hauptsatz »energischer, markiger, absoluter gebil­det« sei als der Seitensatz, er sei gewissermaßen »das Herrschende und Bestimmende. Der Seitensatz dagegen ist das nach der ersten energischen Feststellung Nachgeschaffne, zum Gegensatz dienende, von jenem Vorangehenden Bedingte und Bestimmte, mithin seinem Wesen nach nothwendig das Mildere«, und schließlich  : »das Weibliche gleichsam zu jenem vorangehenden Männlichen.« Erst beide zusammen aber ergeben ein »Höheres, Vollkommneres«, und beide haben – im Sinne eines umfassenden Schöpfungsplanes – »gleiche Berechtigung«.9 Dass hier bei aller »gleiche[n] Berechtigung« dennoch von einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Themen eines Sonatensatzes die Rede ist, ist kaum von der Hand zu weisen (ohne Haupt- gäbe es keinen Seitensatz)  ; die Rede vom »Nachgeschaffne[n]«, vom »Bedingte[n] und Bestimmte[n]« verweist auf die biblische Schöpfungsgeschichte. Das zweite Thema ginge damit – um die Vergleichsebene beizubehalten – gewissermaßen aus der ›Rippe‹ des ersten hervor, womit zugleich der Sonatensatz als eine Art zweite Natur, als Schöpfung eines quasi-göttlichen Genies nobilitiert wäre. Es gibt kaum eine bessere Strategie, Kunstprodukte – und dazu gehören auch musikalische Formen wie die Sonatenform – als gleichsam ›naturnotwendig‹ zu etablieren, als sie mit Naturmetaphorik zu versehen, und hierzu eignet sich die im 18. und 19. Jahrhundert als ›natürlich‹ angesehene Geschlechterordnung in besonderem Maße. Diese Legitimationsstrategie gilt auch für den Dur-Moll-Dualismus als eine Art ›natürliche‹ Ordnung der Klänge, die bereits im 18. Jahrhundert auf sehr ähnliche Weise begründet bzw. einem interessierten Publikum nähergebracht wurde. Georg Andreas Sorge, Komponist und Theoretiker, rekurrierte in seiner Abhandlung Vorgemach der musikalischen Composition (1745) bei der Schilderung musikalischer Sachverhalte direkter noch als Marx auf die biblische Genesis.10 In § 1 heißt es  : »Gleichwie in der Schöpffung immer eine Creatur herrlicher und vollkommener als die andere von GOtt erschaffen worden  ; eben also verhält es sich auch mit denen musicalischen Zusammenstimmungen. Da findet sich nun nach der Triade perfecta eine andere, so Trias mi  9 Adolph Bernhard Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch – theoretisch, 3. Theil, Leipzig 1845, S. 272f. 10 Vgl. hierzu auch Ruth Heckmann, »Mann und Weib in der ›musikalischen Republick‹. Modelle der Geschlechterpolarisierung in der Musikanschauung 1750–1800«, in  : Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts (= Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 3), hrsg. von Rebecca Grotjahn u. a., Herbolzheim 2002, S. 19–30, hier S. 21.

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nus perfecta genennet wird, welche zwar nicht so vollkommen als die erste, aber auch lieblich und wohl zu hören ist. Die erste vergleichet sich dem männlichen, diese aber dem weiblichen Geschlechte. Und gleichwie es nicht gut war, daß der Mensch (Adam) alleine war  ; also wäre es nicht gut, wenn wir keine andere Übereinstimmung hätten, als die Triadem perfectam  ; denn wie weit würden wir in der Fortschreitung von einem Satze zu andern kommen  ? […] Und gleichwie das weibliche Geschlecht ohne das männliche gar übel dran seyn würde  ; also wäre es mit der Music schlecht bestellet, wenn wir keine andere Harmonie hätten, als die so Trias minus perfecta giebt. Wir könnten nicht einmahl eine förmliche Cadentz machen«.11

Auch hier gilt also, ganz ähnlich wie für das Verhältnis der Themen im Sonatensatz  : Dur- und Molldreiklang sind zwar gleich wichtig und essenziell für den musikalischen Zusammenhang, aber die eine Seite – der Dur-Dreiklang – ist vollkommener als die andere. Begründet wird dies vor allem damit, dass die Teiltöne 4-5-6 der Obertonreihe, die zusammen einen Durdreiklang ergeben, näher an der »Unität« seien als die Teiltöne 1012-15, was, so Sorge, »aus der Praxi ohne die Theorie nicht zu erkennen ist.«12 Gleichzeitig lehnt Sorge die Bezeichnungen Dur (hart) und Moll (weich) für die beiden Tongeschlechter ab, da ihnen keine Eigenschaften auf Seiten der Tonarten entsprächen. Deutlich geeigneter seien hingegen die Begriffe »Modus masculinus« und »Modus femininus« als Bezeichnungen für Tonarten, die entweder »frisch, freudig« (männlich) oder aber »gelinde, gelassen« (weibisch) klingen.13 An anderer Stelle heißt es, dass die Molltonart mehr zum »Klagen geschickt« sei als die Durtonart  ; »gleichwie das weibliche Geschlecht eher zum Weinen und zur Wehmuth geneigt ist, als das männliche.«14 (Noch im 19. Jahrhundert war die Ablehnung der Bezeichnungen Dur und Moll verbreitet  : Gottfried Weber etwa stand diesen 1832 ebenfalls skeptisch gegenüber, da sich gerade »in den sogenannten weichen Tonarten oft die grellsten und herbesten Empfindungen aussprechen« lassen, »und umgekehrt die grösste Weichheit, Zärte und Lieblichkeit in den sogenannten harten. Es sind eben nur Namen, die keine buchstäbliche Bedeutung haben«.15 Auch der Artikel »Dur«, 1835 von einem anonymen Autor für Gustav Schillings Encyclopädie verfasst, hegt grundsätzliche Zweifel an der Angemessenheit dieser Benennungen.16) 11 Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, oder  : Ausführliche, ordentliche und zur heutigen Praxis hinlängliche Anweisung zum General-Baß. Erster Theil, Lobenstein 1745, S. 16, § 1 und 2. 12 Ebd., S. 17, § 4. 13 »Wegen der Benennung  : Dur-Ton, Moll-Ton, bin ich Werckmeisters Meynung und halte davor, daß sie sich übel schicken  : Denn wenn Tertia major die Herrschafft hat, so klingt es darum eben nicht dur oder harte [sic], sondern frisch, freudig, oder, so zu reden, männlich. Ingleichen, wenn Tertia min. herrschet, so klingt es eben nicht moll oder weich, sondern nur gelinde, gelassen, oder so zu reden, weibisch. Darum wäre es wohl nichts ungereimtes, wenn man sagte  : Modus masculinus, Modus femininus.« Ebd., S. 27, § 2. 14 Ebd., S. 31, § 18. 15 Gottfried Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, Bd. 2, Mainz u. a. 31830–32, S. 3, § 120. 16 »Die Dur- und Moll-Tonart, das eine und das andere Klanggeschlecht, ist eben so wenig hart als weich, und

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In einem aus Gender-Perspektive bereits diskutierten Passus17 geht Sorge schließlich ausführlich auf die Familienverhältnisse zwischen den Tongeschlechtern und Tonarten ein. Was er entwirft, ist eine Art Parallelgesellschaft in aestheticis, welche die gleichen Machtverhältnisse ausprägt wie die bürgerliche Gesellschaft  ; letztere aber war just Mitte des 18. Jahrhunderts im Entstehen begriffen  : »Dieser nun beschriebene und kenntlich gemachte Modus major ist gleichsam der Herr und Regent in der musicalischen Republick. Seine Gemahlin ist Modus minor, welcher sich, wie schon gedacht, auf Triadem minus perfectam gründet. Nun fraget sich  : Was hat C dur vor eine Gemahlin  ? Mancher wird dencken, C moll wird die Ehre haben. Allein es ist schon gesagt worden, daß C moll so zu reden nur eine Concubine von C dur wäre  ; A moll aber hat die Ehre eine Gemahlin des berühmten C dur zu seyn, denn es bedienet sich eben der natürlich-diatonischen Klänge, die C dur gebrauchet. […] Da möchte Modus major oder C dur zu A moll sagen, wie Adam zu Eva  : Das ist doch Fleisch von meinem Fleisch, und Bein von meinen Beinen.«18

Kurz darauf heißt es  : »Es ist gantz was besonders, daß Modus minor A moll alle die Klänge zu gebrauchen befugt ist, die sein so genannter Eh-Gemahl C dur brauchen darff. Wer siehet hier nicht in der Music ein deutliches Bild des Ehestandes, und der beyderley Geschlechter  ? Denn gleichwie eine Frau in den Gebrauch und Genuß aller Güter ihres Mannes gesetzt wird  ; also darff unser Modus minor oder femininus alle Klänge seines ihm vermählten Modi masculini brauchen […]. Und […] so ist dem A moll die Ausweichung ins C dur, als die Fina-Chorde seines Gemahls, die allernatürlichste, schönste und vornehmste.«19

Es muss offen bleiben, ob hier die Ordnung der Klänge durch den Rekurs auf Gesellschaftliches begründet oder, umgekehrt, die Gesellschafts- und damit auch  : Macht- und Besitzordnung durch eine (auch emotional) einleuchtende Harmonik gerechtfertigt und bestätigt werden soll  ; womöglich spielt beides eine Rolle. Sowohl die Klang-Ordnung als auch die Ordnung von Haus und Hof werden als gleichsam natürlich gegeben vorausgesetzt  ; der Autor versteht sich hier lediglich als ein Beobachter, der offenkundige und für ihn auf der Hand liegende Parallelen zwischen zwei unterschiedlichen Systemen wollte man sich auch erlauben, einer gewissen Tonerscheinung die Beschaffenheit von Härte oder Weichheit beizumessen, sie mit hart oder weich zu bezeichnen, so klingt gewiß ein Moll-Accord an und für sich eben so hart und weich als ein dergl. in der Dur-Tonart.« Q., Art. »Dur«, in  : Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst, hrsg. von Gustav Schilling, Bd. 2, Stuttgart 1835, S. 516f. 17 Vgl. Heckmann, »Mann und Weib in der ›musicalischen Republick‹«, S. 21. 18 Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, S. 30, § 12. 19 Ebd., S. 32, § 20.

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zieht. Doch nicht nur Ehegatten, sondern auch die mitunter in bürgerlichen Kreisen anerkannte ›Nebenfrau‹ hält in das harmonische System metaphorisch Einzug  : So stelle die Mischung von C-Dur und c-Moll laut Sorge ein Szenario vor, in dem »einer neben seiner Ehe-Frau noch eine Concubine hält* [*oder wenn ein Mann Weibs-Kleider anziehet]«.20 Bewertet wird dies nicht weiter, doch handelt es sich offenbar keinesfalls um Verbotenes, auch wenn die Verhältnisse hier zumindest ein Stück weit in (aus Perspektive des Autors eher harmlose) Unordnung geraten. Dass die große Terz schließlich als »Sohn« der Quinte, die kleine Terz hingegen als deren »Tochter« dargestellt wird, verweist erneut auf vermeintlich naturgegebene Charakterunterschiede zwischen den Geschlechtern, denn, so Sorge, die Tertia minor wirke gegenüber der so »prächtig und männlich klingende[n]« Tertia major »nur weichlich und weibisch«. Zugleich gelte  : »Doch hat der Sohn ein grosses Vorrecht vor der Tochter.«21 In vielerlei Hinsicht schließt Josef Riepel an die Ausführungen Sorges an  ; so etwa, wenn er zehn Jahre später (1755) notiert, dass die »weibliche Tonart […] ihre Wesenheit von der männlichen her« habe, »und für sich selbst gar keine Leiter« habe.22 Die bei Sorge herangezogene biblische Abhängigkeit des Weiblichen vom Männlichen wird bei Riepel ergänzt durch das hieraus abgeleitete, damals aktuelle, noch bis ins frühe 20. Jahrhundert verbreitete Menschenbild, wonach es sich beim weiblichen Organismus um eine letztlich defizitäre Sonderform des männlichen handelt  ;23 diese Vorstellung wurde auf Eigenschaften des Charakters übertragen. So vermutet der imaginäre Schüler in Riepels Grundregeln zur Tonordnung, dass es zur Identifikation von Moll mit weiblich und von Dur mit männlich vor allem deswegen gekommen sei, »weil Terz major deutlicher oder verständlicher [ist] als Terz minor. Denn die Männer (pflegt mein Herz oft ganz still und seufzend zu sagen) [sind] viel aufrichtiger und verständiger erschaffen worden als die Weiber.«24 Allerdings setzt der Lehrer in Riepels Abhandlung einen anderen – hier  : positiven – Schwerpunkt, wenn er erklärt, dass die (weiblichen) Molltonarten grundsätzlich »in den Ohren viel sanfter und schmeichelhafter« klängen als die Durtonarten.25 Anders als bei Sorge liegt der Schwerpunkt bei Riepels Ausführungen nicht in der Konstruktion von Familienverhältnissen, sondern in der Schilderung von Arbeitsverhältnissen, die wiederum ihrerseits geschlechtlich markiert sind  : So wird den Dur-Akkorden männliches landwirtschaftliches Personal (Meyer = Tonika, Oberknecht = Dominante, Taglöhner = Subdominante) zugeordnet, den Moll-Akkorden hingegen eine weibliche 20 Ebd., S. 29. 21 Ebd., S. 107. 22 Joseph Riepel, Grundregeln zur Tonordnung insgemein. Abermal Durchgehends mit musicalischen Exempeln abgefaßt und Gespräch-weise vorgetragen, Frankfurt/Main und Leipzig 1755, S. 121. 23 Ausführlich hierzu Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt/Main und New York 1991. 24 Riepel, Grundregeln zur Tonordnung, S. 22. 25 Ebd.

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Dienerschaft (Obermagd = Tonikaparallele, Untermagd = Dominantparallele, Unterläuferin = Subdominantparallele). Die jeweilige Mollvariante der Durtonika ordnet Riepel, ähnlich wie Sorge, potenziell gefährlichen, oder zumindest Unordnung stiftenden Frauenfiguren zu  ; zwar steht hier keine Konkubine im Mittelpunkt, doch ist mit der »schwarzen Gredel« ebenfalls eine Außenseiterfigur etabliert  : »C mit Terz minor ist sonst die Obermagd des E b. [W]eil sie aber hier manchmal eben auch mithelffen kann, so wollen wir sie für die schwarze Gredel gelten lassen.«26 Es handelt sich hierbei somit um eine nicht ganz domestizierte, nichtsdestotrotz innerhalb der gesellschaftlichen (und, so könnte man hinzufügen, tonalen) Ordnung nützliche Figur. Mit Blick auf Riepel erläutert Annegret Huber  : »Mit der ›schwarzen Gredel‹ rekurriert er ebenso auf etliche gleichnamige Heilige und mythologische Frauenfiguren, die Männern widerstanden, ihre Macht über/für diese nutzten oder über spezielles Wissen […] verfügten, wie auf Herrscherinnen, die sich wie Königin Margareta Sambiria von Dänemark (1230–1282) oder Gräfin Margarete von Tirol, genannt Maultasch (1318–1369), in einer von Männern dominierten Gesellschaft behaupteten.«27 Die metaphorische Übertragung des musikalisch-harmonischen Bereichs auf Familien- und Arbeitszusammenhänge findet eine späte Fortsetzung in Johanna Kinkels Acht Briefe[n] an eine Freundin über Clavier-Unterricht von 1852  ; allerdings wird hier – in einer bildlichen Beschreibung der Sonatenform – dem Hausherrn, der Tonika, als Gattin die Dominante, mithin ebenfalls eine Durtonart, zur Seite gestellt.28 Dur und Moll spielen bei Kinkel als Geschlechtergegensatz hingegen keine Rolle. 1758 spricht Jacob Adlung in seiner Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit von »männlicher« und »weiblicher« Tonart  ; »männlich« heißen die Durtonarten, so heißt es knapp, aufgrund »der grössern Vollkommenheit des männlichen Geschlechts«.29 Dieser Aspekt wurde schon mehrfach erwähnt und zieht sich auch durch die erste Hälfte des 19.  Jahrhunderts  : Für Gustav Schilling (1838) etwa hängt die Tatsache, dass im Moll »niemals eine so große und vollständige Befriedigung für das Ohr« liege »als im Dur«, mit der Benennung der beiden Tongeschlechter (weiblich und männlich) unmittelbar zusammen  : »Die Durtonart ist viel bestimmter, ist stets der Ausdruck einer sich klar bewußten Kraft. Daher nennt auch Riepel sehr treffend allen Durton männlich, das Moll hingegen, wo stets das Weiche, Sanfte und zärtlich Schmelzende als natürlicher Charakter 26 Ebd., S. 66. 27 Huber, »Performing Music Analysis«, S. 36. Siehe auch Gretchen A. Wheelock, »›Schwarze Gredel‹ and the Engendered Minor Mode in Mozart’s Operas«, in  : Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship, hrsg. von Ruth Solie, Berkeley, Los Angeles und London 1995, S. 201–221, hier S. 203  : »The power of schwarze Gredel is not far to find  : unnaturally feminine/masculine, she shares the Master’s tonic, and her chromatic mutability is capable of destabilizing his natural domain.« Im 16. Jahrhundert war ›Grete‹ ein pejorativer Begriff für einen effeminierten Mann  ; bei Frauen stand er u. a. für ein nicht domestiziertes Landmädchen oder für eine mürrische Ehefrau. Vgl. ebd., S. 204, Anm. 8. 28 Johanna Kinkel, Acht Briefe an eine Freundin über Clavier-Unterricht, Stuttgart und Tübingen 1852, S. 64f. 29 Jacob Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, Erfurt 1758, S. 218 (Anm. b).

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haftet, weiblich.«30 Dabei geht Schilling, anders die genannten Autoren des 18. Jahrhunderts, wesentlich ausführlicher auf den Charakter der jeweiligen Tongeschlechter ein  : »Durtöne sind feurig und belebend, Molltöne dagegen rührend u. mehr abspannend  ; jene sind prächtig und glänzend, diese matt und düster. In dem Mollgeschlecht allein klagen Schwermuth und Trauer allmächtig ergreifend, während Frohsinn und Heiterkeit ihren wahrhaftesten Ausdruck finden im Dur.«31 (Das Wort »prächtig« hatte auch Sorge im Zusammenhang mit der großen Terz verwendet.) Im Vordergrund der Zuordnung von Dur und Moll zu den Geschlechtern männlich und weiblich steht somit insbesondere die (biblische) Idee der Ableitung des Weiblichen aus dem Männlichen  : Ersteres ist demzufolge weniger vollkommen als Letzteres, weniger selbständig, vielmehr abhängig, auf welcher Annahme letztlich die bürgerliche Gesellschaftsordnung seit dem 18. Jahrhundert beruht. Auch in seiner Herleitung des Begriffs »Geschlecht« in »Tongeschlecht« (im Gegensatz zu »Tongattung«) rekurriert Marx 1841 darauf, dass »Gattung« grundsätzlich auf »Verschiedenes« deute, während »Moll aber […] nicht ursprünglich Verschiedenes« sei, »überhaupt nicht ursprünglich Eigenes, sondern aus Dur hervorgegangen oder gemacht.«32 Fast hegelianisch klingt die Ableitung von Moll aus Dur bei Moritz Hauptmann  ; zwar rekurriert er dabei nicht auf den Geschlechterdiskurs, doch vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen schimmert dieser hindurch  : »Der Mollaccord, als geläugneter Duraccord, wird daher d i e s e n selbst, dessen Negation er ist, erst wirklich voraussetzen müssen  ; denn es kann etwas Wirkliches nicht vom Negativen ohne positive Voraussetzung ausgehen.«33 Dass Hauptmann das Denken in Geschlechterdualismen nicht fern lag, zeigt dessen kurzer, 1857 erschienene Essay »Männlich und weiblich«  : Die Oktave entspreche, so heißt es hier, dem männlichen Prinzip, die Quinte hingegen dem weiblichen. Begründet wird dies damit, dass »das Männliche […] überall das Primäre, das Positive, das Weibliche das Secundäre, das Relative« sei. Hauptmann verweist hier explizit auf die biblische Schöpfungsfolge  : »Ohne Adam keine Eva. Adam aber konnte zuerst allein da sein  ; erst dass die Einheit zu Verstand kommen, sich selbst begreifen konnte, musste die Zweiheit kommen.«34 Auch Johann Christian Lobe rekurriert in seinen 1855 in der Gartenlaube veröffentlichten »Populäre[n] Briefe[n] über Musik« auf die Genesis, wenn er festhält  : 30 Adolph Bernard Marx und Gustav Schilling, Art. »Tongeschlecht«, in  : Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst, hrsg. von Gustav Schilling, Bd. 6, Stuttgart 1838, S. 662–664, hier S. 663. 31 Ebd. 32 Adolph Bernhard Marx, Allgemeine Musiklehre  : Ein Hülfsbuch für Lehrer und Lernende in jedem Zweige musikalischer Unterweisung, Leipzig 21841, S. 47, Anm. 33 Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig 1853, S. 36. 34 Ders., »Männlich und weiblich« (1857), in  : ders., Opuscula. Vermischte Aufsätze, Leipzig 1874, S. 127–131, hier S. 131.

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»Die männliche, harte Tonleiter ist unmittelbar aus der Natur der mitschwingenden Töne geschaffen worden, sie ist ursprünglich und consequent, der Adam  ; die weibliche, die Eva, ist aus der männlichen gebildet, hat in einem Intervall einen weichern, in einem andern Intervall einen herbern Zug, ist aufsteigend anders wie absteigend, also unconsequenter und launischer als die von Dur, aber nichts destoweniger höchst liebenswürdig.«35

Damit aber ist – neben dem Aspekt der größeren oder verminderten Vollkommenheit – ein weiterer Gesichtspunkt benannt  : die Analogiesetzung von (vermeintlichen) Eigenschaften des Tonmaterials auf der einen mit menschlichen Eigenschaften auf der anderen Seite. Hierzu zählt auch eine Beobachtung Georg Christian Friedrich Schlimbachs, die dieser in seinem Artikel »Bemerkungen über einige musikalische Kunstausdrücke«, erschienen 1805 in der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung, festhielt (und die Lobe offenbar 50 Jahre später wieder aufgriff). Schlimbach hebt hervor, dass die Durtonleiter im Gegensatz zur Molltonleiter geradliniger, weniger schwankend sei, da man hier auf gleichem Wege hinauf- wie hinabsteige, während bei der Molltonleiter der Schritt von der sechsten zur siebten Stufe – je nachdem, in welcher Richtung man sich bewegt – unterschiedlich groß sei. Die Molltonart sei demnach »nicht so fest, so determiniert, sie ist veränderlich, gekünstelt«36 und daher weiblich. Ob jedoch die »heftigsten Leidenschaften, Zorn, Wuth etc.«, die laut Schlimbach durch Moll erregt werden können, tatsächlich »im Charakter des Weibes liegen«, lässt er offen.37 Gleichzeitig steht für ihn fest, dass »wir die Ausdrücke, m ä n n l i c h , w e i b l i c h nicht für Spielerei halten« dürfen, »da wir ja in mehreren Fällen, z. B. in der Poesie, derselben uns bedienen, und männliche, weibliche Reime sagen.«38 – Der Aspekt des Weiblichen als des Beweglicheren, Schwankenderen, negativ gesprochen  : Kapriziöseren (das also Halt benötigt) ist ein zentraler Topos des Geschlechterdiskurses spätestens seit dem deutschen Idealismus.39 Auf ein weiteres, ebenfalls in den Augen vieler Zeitgenossen zentrales Merkmal des Geschlechterdualismus wies 1835 Robert Schumann hin, als er in der Neuen Zeitschrift für Musik notierte  : »Der Unterschied zwischen Dur und Moll muß vorweg zugegeben werden. Jenes ist das handelnde, männliche Princip, dieses das leidende, weibliche.«40 Der Gegensatz aktiv35 Johann Christian Lobe, »Populäre Briefe über Musik (II)«, in  : Die Gartenlaube (1855), S.  648–650, hier S. 649. 36 Georg Christian Friedrich Schlimbach, »Bemerkungen über einige musikalische Kunstausdrücke«, in  : Berlinische Musikalische Zeitung 1/67 (1805), S. 263–265  ; 1/68, S. 267–268, hier S. 267. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Vgl. u. a. Wilhelm von Humboldt, »Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur«, in  : Die Horen I/1.2 (1795), S. 99–132. Musikalisch verfolgen lässt sich diese Vorstellung bis hin zu Richard Strauss’ Sinfonia domestica, in der die weibliche Hauptperson (Pauline) mit wesentlich kapriziöseren Charakterzügen ausgestattet wird als der männliche Protagonist. 40 Robert Schumann, »Charakteristik der Tonleitern und Tonarten«, in  : Neue Zeitschrift für Musik 1/11

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passiv zieht sich als wesentliches Element des Geschlechterdualismus seit der Antike durch die abendländische Kulturgeschichte und wurde oftmals von der (vermeintlichen) Biologie auf Charaktermerkmale übertragen  ; warum aber Dur eher handelnd und Moll eher leidend sein soll, lässt Schumann offen. Ein Blick auf die Tonartencharakteristika, die Christian Friedrich Daniel Schubart zwischen 1777 und 1787 für seine posthum (1806) veröffentlichten Ideen zu einer Aesthe­ tik der Tonkunst verfasste (und die von Gustav Schilling fast durchgängig, von Ferdinand Hand in seiner Aesthetik der Tonkunst in Teilen übernommen bzw. abgeschrieben wurden),41 bestätigt den ›Geschlechterdualismus‹ von Dur und Moll. So sind sämtliche explizit weibliche Eigenschaften ausschließlich Moll-Tonarten zugeordnet  : »a-Moll  : fromme We i b l i c h k e i t und We i c h h e i t des Charakters d-Moll  : schwermüthige Weiblichkeit, die Spleen und Dünste brütet […] e-Moll  : n a i v e , w e i b l i c h e u n s c h u l d i g e L i e b e s e r k l ä r u n g , K l a g e o h n e M u r r e n  ; S e u f z e r von wenigen Thränen begleitet  ; nahe H o f f n u n g der reinsten in C dur sich auflösenden S e l i g k e i t spricht dieser Ton. Da er von Natur nur eine Farbe hat  ; so könnte man ihn mit einem Mädchen vergleichen, weiß gekleidet, mit einer rosenrothen Schleife am Busen. Von diesem Tone tritt man mit unaussprechlicher Anmuth wieder in den Grundton C dur zurück, wo Herz und Ohr die vollkommenste Befriedigung finden.«42

Doch auch die Ausführungen zur Tonartencharakteristik bei Johann Mattheson (1713), Jean-Philippe Rameau (1722), Jean-Jacques Rousseau (1768), Justin Heinrich Knecht (1792–1798) und Francesco Galeazzi (1791–1796) verweisen im- oder explizit auf eine entsprechende Semantik der Geschlechter.43 Was im 19.  Jahrhundert noch zum ernsthaften musiktheoretischen Diskurs zählte, wirkt im 20. eher kurios – so etwa wenn Hans Kayser 1950 auf Zahlenproportionen rekurriert, die den verschiedenen Elementen des Kosmos zugeordnet werden. So bezeichnet er das Verhältnis von Mann und Frau, ausgehend von deren Scheitelhöhe im Verhältnis zur (wie er es nennt) »Einheit«, mit den Proportionen 5/6 zu 4/5  ; dies aber entspreche

(6.2.1835), S. 43f., hier S. 44. Vgl. dazu Stefan Keym, »›Der Unterschied zwischen Dur und Moll muß vorweg zugegeben werden‹. Robert Schumann und die ›per aspera ad astra‹-Dramaturgie«, in  : Robert Schumann. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hrsg. von Helmut Loos, Leipzig 2011, S. 173–205. 41 Vgl. hierzu Matthias Tischer, Ferdinand Hands ›Aesthetik der Tonkunst‹. Ein Beitrag zur Inhaltsästhetik der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts (= Musik und Musikanschauung im 19.  Jahrhundert 12), Sinzig 2004, S. 245–259. 42 Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hrsg. von Ludwig Schubart, Wien 1806, S. 377–380. 43 Vgl. hierzu die Tabelle in Wheelock, »Schwarze Gredel«, S. 208, sowie den Beitrag von Wolfgang Auhagen im vorliegenden Band.

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präzise dem Verhältnis von kleiner Terz (5/6) zu großer Terz (4/5).44 In seiner posthum herausgegebenen Harmonikalen Symbolik hingegen bezeichnet er Moll explizit als weiblich und Dur als männlich  ; es handele sich bei den Tongeschlechtern, so Kayser, um die »psychischen Aspekte des allgemeinen Weltdualismus oder Weltpolarität«.45 Ähnlich unerheblich für die musikalische Praxis war, wenn nicht alles täuscht, die Theorie des Psychologen Leopold Szondi, der in seiner Triebpathologie psychosexuelle Impulse in hart und weich, Dur und Moll, männlich und weiblich einordnete und analysierte.46 *** Hatte der Tongeschlechter-Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts – der sowohl ein ›Reden über‹ musikalische Sachverhalte in Termini des Geschlechtergegensatzes, also eine bloße Metaphorik beinhaltet, als auch einen Diskurs im Sinne Foucaults ausprägte, d. h. Teil des Geschlechterdiskurses war, diesen fortsetzte und fortwährend bestätigte  – Auswirkungen auf die Musik selbst, auf deren Komposition und Rezeption  ? Oder handelt es sich vielmehr um einen Spezialdiskurs, der sich vor allem auch aus didaktischen Gründen bestimmter, zwar nicht gänzlich beliebiger, aber doch letztlich arbiträrer Metaphern bediente  ? – Offenbar ist es auch mit Blick auf den geschlechtlich markierten Dur-MollDualismus nicht sehr ergiebig, den Geschlechtergegensatz in abstracto zu analysieren, diesen Diskurs also abzukoppeln von anderen Bestimmungen, sowohl auf Seiten der Musik als auch mit Blick auf menschliches Zusammenleben. So erweist es sich womöglich als wenig sinnvoll zu untersuchen, ob in Opern, Kunstliedern oder Filmmusik der Geschlechterdualismus durch einen (ggf. auch in Frage gestellten) Tongeschlechterdualismus zum Tragen kommt, wenn letzterer nicht explizit thematisiert wird. Vielmehr kommt es wohl auf den Einzelfall und konkreten Zusammenhang an  : Welcher sozialen Gruppe gehört eine Figur an, in welcher Situation und seelisch-psychischen Disposition befindet sie sich, wie ist deren Rolle im Gesamtgefüge der Komposition  ? Ist sie alt oder jung, naiv oder gebildet  ? Und, dies nicht zuletzt  : Wie war der Geschlechterdiskurs der entsprechenden Zeit beschaffen  ? Wurden Geschlechterdualismen eher festgeschrieben oder aufgebrochen bzw. in Frage gestellt  ? Jedwede mögliche praktisch-musikalische Bestätigung des dargestellten Diskurses wäre also höchstwahrscheinlich eine vermittelte  : Da sich in der Vorstellung des 19. Jahr44 Vgl. hierzu Huber, »Performing Music Analysis«, S. 37  : »Wenn man so will, dann gilt Kaysers Beobachtung für die Sexualität der Harmonik ebenso wie für die Mathematik der Geschlechterverhältnisse.« 45 Hans Kayser, Orphikon. Eine harmonikale Symbolik, aus dem handschriftlichen Nachlass hrsg. von Julius Schwabe, Basel und Stuttgart 1973, S. 345. 46 Vgl. u. a. Leopold Szondi, Ich-Analyse. Die Grundlage zur Vereinigung der Tiefenpsychologie, Bern 1956  ; hierzu Monika Zenklusen Müller, »Jenseits von Dur und Moll. Bemerkungen zu Szondis Theorie der Geschlechterverhältnisse«, in  : Szondiana 2 (1997), S. 6–29, hier S. 8  : »Nach Szondi treten die Dur-Strebungen besonders im Triebleben des Mannes in den Vordergrund, die Moll-Strebungen vor allem im Triebleben der Frau.« Online  : http://www.szondi.ch/szondiana/documents/Szondiana2.97.pdf, 2.10.2017.

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Nina Noeske

hunderts häufig Frauen einer bestimmten (bürgerlichen oder kleinbürgerlichen) Schicht durch besondere Empfindsamkeit auszeichnen, unglücklich lieben, eine bestimmte Form von Frömmigkeit pflegen oder auch dem Wahnsinn verfallen, kommen hier  – möglicherweise  – bestimmte Moll-Tonarten eher zum Einsatz als solche in Dur. Doch dies ist lediglich eine (sehr fragile) Hypothese, die es durch konkrete Fallbeispiele zu bestätigen oder zu widerlegen gilt. Dafür spricht eine Untersuchung Gretchen A. Wheelocks, wonach von 24 Moll-Arien in Mozarts Opern 17 Frauen zugeordnet sind, zwei werden von Kastraten gesungen und fünf von Männerstimmen – zu letzteren zählen u. a. Arien des exotischen, liebeshungrigen, dem Diskurs der Zeit zufolge entsprechend unmännlichen Osmin in Die Entführung aus dem Serail (»Wer ein Liebchen hat gefunden«, gMoll),47 Don Alfonsos aus Così fan tutte, der sich hier jedoch ironisch verstellt (»Vorrei dir, e cor non ho«, f-Moll)48 oder Colas’ g-Moll-Zauberspruch aus Bastian und Bastienne (»Diggi, daggi«).49 Ein weiteres Beispiel für den Tongeschlechterdualismus als (hier  : in Frage gestellten) Geschlechterdualismus stellt möglicherweise  – zu diesem Schluss jedenfalls kommt Rainer Grübel – Schumanns Carnaval op. 9 dar  : Demzufolge ist es das von Michail Bachtin beschriebene Konzept des Karnevals im Mittelalter als subversive Lachkultur, das von Schumann in seinem Stück romantisch anverwandelt und zu einer Art musikalischem Cross-Dressing mit fließenden Gender-Grenzen überführt wird  ; das mehrdeutige Spiel mit den (von Schumann selbst explizit ›gegenderten‹) Tonarten wiederum trage hierzu maßgeblich bei.50 Fest steht, dass es niemals das Geschlecht allein ist, welches einen bestimmten musikalischen Ausdruck nahelegt (oder gerade nicht), wie auch der Charakter eines Musikstückes sich niemals durch das bloße Konstatieren von Dur oder Moll festlegen lässt. Dies gilt auch für den Bereich der sogenannten absoluten Musik  : Jedwede mögliche These, dass etwa der Dur-Schluss eines Musikstückes in Moll grundsätzlich oder in Einzelfällen den Geschlechtergegensatz ideologisch bestätige und die männliche Herrschaft festige, muss entweder Spekulation bleiben oder bedarf zu ihrer Bekräftigung (wie auch Widerlegung) eines enormen methodischen Aufwands. 47 »With a monopoly on the minor mode throughout the opera, Osmin’s deep bass voice is far from sweet and tender, grieving and fearful  ! In representing an exotic and erotic power, he may be a stand-in for schwarze Gredel […]«. Wheelock, »Schwarze Gredel«, S. 215. 48 »The only minor-mode aria of grief for a male character is […] a charade. […] In choosing F Minor Mozart perhaps sets Alfonso apart from genuinely grieving women (heard typically in G Minor) […]. The minor mode is essential here, both to the success of Alfonso’s affective disguise and to the irony of his duplicity  : the young women recognize and respond to the conventional signs of sorrow in his song, while the audience comes to know that Don Alfonso can express pity only in a borrowed voice.« Ebd., S. 214. 49 Ebd., S. 210 sowie Tabelle 2 (S. 212f.). 50 Rainer Grübel, »Schumanns Klavierzyklus ›Carnaval‹ op. 9 und seine ›Sinfonischen Etüden‹ op. 13 im Gender-Horizont von Bachtinschem Karnevalismus und poststrukturalistischer Maskeraderie«, Vortrag auf der Tagung Musik und Homosexualität – Homosexualität und Musik, gehalten am 29.1.2016 an der Hochschule für Künste Bremen. Ich danke dem Autor für die freundliche Überlassung des Vortragsmanuskripts.

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Wolfgang Fuhrmann

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Die Verfestigung einer Semantik

1.

Die Marienmotette Flos florum dürfte Guillaume Du Fay etwa um 1430 komponiert haben.1 Sie gehört einer damals verbreiteten Subspezies dieser Gattung an  : der sogenannten »floriden Motette«, einer Art »Koloraturarie« der Oberstimme über langsamer fortschreitenden Unterstimmen. Und sie huldigt auch im Text der »Blume der Blumen«, eben Maria.2 Zu Beginn des zweiten Verses, »Spes veniae«, gibt es für einen Augenblick einen Klang, den das moderne Ohr unwillkürlich als eine »Moll-Färbung« hört – einen Einsatz von musica ficta, also von Tönen, die im mittelalterlichen Tonsystem nicht vorgesehen sind  : Das Akzidens ♭ (b molle) macht den Ton e la mi zum e fa, oder modern gesprochen  : zum es (Notenbeispiel 1, T. 12). Der Eindruck eines c-Moll-Klangs wird noch deutlicher dadurch, dass sich der unmittelbare klangliche Kontext dieser Passage für unser Ohr geradezu funktionsharmonisch deuten lässt als Folge von »Dominante« und »Tonika«  : Das in den zuverlässigsten Quellen als Akzidens notierte ♮ (b durum) im Tenor (T. 11), das unserem h entspricht, scheint ebenso wie das b ♮ im Superius (T. 12, letzte Note) die Terz eines »Dreiklang in Grundstellung«, der Doppeldominante G-Dur, zu bilden. Das tonale Zentrum des Stücks ist f, es steht im fünften (oder lydischen) Modus, der für uns sehr deutlich an F-Dur anklingt  ; ein Eindruck, der durch die häufig angesteuerte Zwischenkadenzstufe c verstärkt wird. 1 Guillaume Dufay, Opera omnia, hrsg von Heinrich Besseler, o. J. 1951–1966, Bd. 1 (= Corpus mensurabilis musicae I/1), S. 6f. Besseler hatte das Stück mit einer deutschen Übersetzung bereits in  : Guillaume Dufay, Zwölf geistliche und weltliche Werke, Wolfenbüttel 1932 (= Das Chorwerk 19), S. 5–7, herausgegeben. – Alle im Folgenden angeführten Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir. 2 Zum Begriff der »floriden Motette« vgl. Robert M. Nosow, Equal-Discantus and Florid Motet Styles of Fifteenth-Century Italy, Ph. D. diss., University of North Carolina, Chapel Hill 1992. Wohl nicht zufällig trägt auch ein weiteres dieser Stücke einen »floriden« Titel, nämlich Johannes Brassarts O flos fragrans, und sicher nicht zufällig ist mit der angesprochenen »Blume der Blumen« die Jungfrau Maria gemeint. Vgl. auch Julie E. Cumming, The Motet in the Age of Du Fay, Cambridge 1999, S. 113–117, die die »floriden« Motetten nach ihrem Mensurationszeichen »Cut-Circle«-Motetten bezeichnet. Zu dieser Varietät gehören auch Texte des Hohelieds, die gleichfalls marianisch gedeutet wurden.

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Wolfgang Fuhrmann

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Notenbeispiel 1: Guillaume Du Fay, Flos florum, T. 1–15 (Quellen: GB-Ob MS. Canon. Misc. 213, fol. 25v–26r | I-Bc Q 15, fol. 267v–268r | I-MOe MS α.X.1.11, fol. 59v–60r)3

In diesem Zusammenhang wirken die Takte 11–13 wie ein bewusst eingeführter Wechsel des Tongeschlechts, gewissermaßen die auskomponierte Molldominante der Tonika.4 Freilich hat Du Fay nicht in Kategorien wie Dominante, Tonika und Tongeschlecht gedacht, die es damals ja noch gar nicht gab – und das ist auch hier nicht zu übersehen. 3 Alle Quellen stimmen in der Akzidentiensetzung überein; die erstgenannte hat zudem ein fa (#) auf der letzten Note in Superius, T. 12. 4 Eine »dominantische Tonalität« hatte Heinrich Besseler beim frühen Dufay feststellen wollen  ; vgl. unten Anm. 57. Bei der Zuordnung des Stücks zum fünften Modus orientiere ich mich am Tenor  ; auch der Con­ tratenor steht im fünften, der Cantus im sechsten (hypolydischen) Modus.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Zum einen erinnert uns das Auflösungszeichen, das im Tenor in Takt 11 notiert ist, daran, dass die beiden Unterstimmen mit dem Vorzeichen b versehen sind, während die Oberstimme kein Vorzeichen hat. (Im Folgenden werden solche für ein gesamtes Stück geltende Vorschriften – englisch  : »signatures« – als »Vorzeichen« und punktuell notierte Vorzeichen  – englisch  : »accidentals«  – als »Akzidentien« bezeichnet.) Es handelt sich also um die in der spätmittelalterlichen Musik sehr verbreiteten »conflicting signatures« zwischen verschiedenen Stimmen.5 Oft werden die daraus entstehenden Spannungen oder übermäßigen Intervalle in Ausgaben wie in Aufführungen angeglichen, indem die Vorzeichen der tieferen Stimmen als Akzidentien in die höheren übernommen werden. Für Flos florum wird das in der Edition von Heinrich Besseler mehrfach vorgeschlagen, indem beispielsweise die Oberstimme in Takt 1 und 3 ein b statt des h singt – meines Erachtens ein überflüssiges Zugeständnis an harmonisch-tonal geprägte Hörgewohnheiten.6 Obwohl eine solche Angleichung konfligierender Vorzeichen punktuell sicher sinnvoll ist, besteht im Allgemeinen kein Grund dafür. Gerade der Konflikt zwischen ♭ (b molle) und ♮ (b durum) auf derselben Stufe in unterschiedlichen Stimmen, sei er sukzessiv oder sogar simultan, war für das Hören in der Renaissance offenbar nicht anstößig, so alarmierend er für uns klingt.7 Wie dem auch sei, in der uns hier interessierenden Passage lässt Du Fay keinen Zweifel daran, dass sowohl e ♭ (es) als auch b ♮ (h), also »Mollterz« und »Leitton«, zu singen sind, sodass die vertikalen wie auch die horizontalen Rahmentöne also eine verminderte Quarte, eine »relatio non harmonica«, ergeben. Nun war eine solche »unharmonische Beziehung«, oder wiederum modern bezeichnet  : ein solcher Querstand in der Musik des 5 Eine allgemein akzeptierte Erklärung für dieses Phänomen existiert bis heute nicht. Für einen kurzen Überblick mit weiterführenden Literaturangaben siehe Karol Berger, »Musica ficta«, in  : Howard Mayer Brown und Stanley Sadie (Hrsg.), Performance Practice  : Music Before 1600 (= The Norton/Grove Handbooks in Music), New York und London 1987, S. 107–125, hier S. 111f. Vgl. ausführlich auch Karol Berger, Musica ficta  : Theories of Accidental Inflections in Vocal Polyphony from Marchetto da Padova to Gioseffo Zarlino, Cambridge 1987. 6 Das gilt sowohl für die Gesamtausgabe dieses Stücks (vgl. Anm. 1) als auch für Besselers frühere Ausgabe. Dies wurde leider übernommen in die ansonsten sehr schöne Aufnahme des Ensembles Cantica Symphonia unter der Leitung von Giuseppe Maletto  : Guillaume Dufay  : Quadrivium (Glossa 2005). – Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unterstreichen, dass die folgenden Ausführungen, obwohl sie in für Musikwissenschaftler typischer Weise kompositorische Strukturen scheinbar abstrakt beschreiben, sich entscheidend sowohl der Hörerfahrung wie dem eigenen Musizieren (vor allem nach der originalen Notation der Quellen) verdanken. Gerade Fragen, die im weitesten Sinn musikalische Expressivität betreffen, können meines Erachtens ohne die unmittelbare musikalische Erfahrung (dank kompetenter Interpretationen) gar nicht behandelt werden. 7 Vgl. Willi Apel, Accidentien und Tonalität in den Musikdenkmälern des 15. und 16. Jahrhunderts, phil. Diss., Berlin 1936. Apel demonstriert das an Intabulaturen von Vokalwerken, die im Gegensatz zur Mensuralnotation präzise Tonhöhen vorzeichnen. Vgl. auch Howard Mayer Brown, »Accidentals and Ornamentation in 16th-Century Intabulations of Josquin’s Motets«, in  : Edward E. Lowinsky (Hrsg.), Josquin des Prez, London 1976, S. 475–522, sowie die Beispiele bei Margaret Bent, »Musica Recta and Musica Ficta«, in  : Musica disciplina 26 (1972), S. 73–100, hier S. 94f. Vor allem gegen imperfekte Oktaven argumentiert jedoch Berger, Musica ficta, S. 93–115.

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Wolfgang Fuhrmann

14. und frühen 15. Jahrhunderts durchaus nichts Ungewöhnliches. Guillaume de Machauts Musik oder die Werke der sogenannten Ars subtilior sind voll von solchen und noch querständigeren chromatischen Relationen, zudem noch verbunden mit teils scharfen Dissonanzen. Dies geschieht allerdings vor dem Hintergrund einer Ästhetik des Neuen, Aparten, Verwunderlichen, Subtilen. So schreibt Machaut nicht ohne Stolz über eine seiner Balladen, sie erscheine »moult estranges et moult nouviaus« (sehr seltsam und sehr neu),8 und aus der gesteigerten »subtilitas«, auf die sich die Theoretiker um 1400 etwas zugute hielten, hat letztlich Ursula Günther ihren Epochennamen der Ars subtilior abgeleitet.9 Man kann auch, wie es Willi Apel für die Notation um 1400 getan hat, die vorherrschende »Ästhetik« unter dem Schlagwort des Manierismus fassen  : Es geht um die Neutönerschaft einer auserlesenen Musikergemeinschaft, die sich an ungewohnten oder auch bizarren melodischen und harmonischen Wendungen ergötzt.10 Obwohl der junge Du Fay dieser Ästhetik streckenweise nicht ganz fern stand, findet seine Verwendung der chromatischen Alteration einer großen in eine kleine Terz, wie mir scheint, vor einem wesentlich anderen Hintergrund statt. Tatsächlich stellt – so die im Folgenden plausibel zu machende These – Flos florum ein Beispiel für den Übergang zu jener Semantik dar, die im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht  : die Semantik einer Entgegensetzung von positivem und negativem Affekt durch Dur und Moll. Entscheidend ist dabei nicht die kleine Terz an sich, die ja im dorischen oder phrygischen Modus ohnehin über dem Grundton steht, sondern ihr unerwartetes und manchmal geradezu dramatisch inszeniertes Auftreten mittels Akzidentien – und das ist nur in einem »Dur«-Kontext, also im lydischen (oder dem eher seltenen mixolydischen) Modus möglich. Ferner verwendet Du Fay zur Kennzeichnung des negativen Affekts hier und in anderen Kompositionen mit Vorliebe die »relatio non harmonica« zwischen einer durch Akzidentiensetzung erzielten »Moll«-Terz (in einem »Dur«-Kontext) und einer in der verminderten Quarte darunter liegenden »Dur«-Terz, wobei die Klänge, in die diese Töne eingebettet sind, eben für unser Ohr dominantisch klingen. Eine solche durch die Theorie nicht geforderte und manchmal sogar abgelehnte Bildung muss als eine bewusste Setzung, nicht als bloße Realisierung von Tonsatz-Regeln, angesehen werden, wenn man sie denn auf die Entscheidung des   8 Das Machaut-Zitat bei Daniel Leech-Wilkinson, »Le Voir Dit. A Reconstruction and a Guide for Musicians«, in  : Plainsong and Medieval Music 2 (1993), S. 103–140, hier S. 134. Vgl. auch Jacques Boogaart, »Encompassing Past and Present  : Quotations and Their Function in Machaut’s Motets«, in  : Early Music History 20 (2001), S. 1–86, Anm. 139 auf S. 77. Machaut bezieht sich hier auf seine Ballade Nes que on porroit, die sowohl b ♭ als auch f ♯ freizügig verwendet  ; vgl. The Works of Guillaume de Machaut, Second Part (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century 3), hrsg. von Leo Schrade, Monaco 1956, Reprint 1974, S. 122f. Die Frage, wie weit Machauts Schaffen als »repräsentativ« für das (spätere) 14. Jahrhundert gelten kann, muss hier nicht erörtert werden. Vgl. dazu jetzt Felix Diergarten, Komponieren in den Zeiten Machauts. Die anonymen Liedsätze des Codex Ivrea, Habilitationsschrift Würzburg 2017.   9 Vgl. Ursula Günther, »Das Ende der ars nova«, in  : Die Musikforschung 16 (1963), S. 105–120. 10 Vgl. Willi Apel, Die Notation der polyphonen Musik, 900–1600, Leipzig 1962 und Wiesbaden 1981.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Komponisten statt auf die Initiative eines Schreibers zurückführen möchte (und für die erste Annahme spricht das Auftreten solcher akzidentiell gebildeten Intervalle in unterschiedlichen Stücken Du Fays, die in unterschiedlichen Quellen überliefert wurden). Mit anderen Worten  : »Musica ficta« (also Akzidentien, die außerhalb des spätmittelalterlichen Tonsystems gesetzt werden und zu deren Legitimation in der Theorie ein weiteres, fiktives Hexachord angenommen wird)11 kommt hier nicht zum Einsatz, um eine R e g e l zu befolgen – etwa um illegitime Intervalle (übermäßige oder verminderte Oktaven, Quinten, Quarten) oder Fortschreitungen (Tritonus) zu verhindern  ; auch nicht, um Kadenzen regelgerecht zu formen.12 Sondern »musica ficta« wird vom Komponisten bewusst zur Erzeugung einer frappierenden lokalen melodischen oder klanglichen Wirkung eingesetzt – ob man das Motiv dafür nun in dem Bemühen um Schönheit, in einer aparten Reizwirkung oder im Versuch der Affektdarstellung und -erregung vermuten möchte. Es geht also um eine kompositorische Entscheidung im »ästhetischen Freiraum«.13 Diese Unterscheidung entspricht den beiden Begründungen, die die mittelalterliche Musiktheorie für den Einsatz von »musica ficta« vorbrachte  : Notwendigkeit (»causa necessitatis«) und Schönheit (»causa pulchritudinis«).14 11 Streng genommen ist hier nur das e ♭ zur »musica ficta« zu rechnen, als Teil eines fiktiven Hexachords (eine sogenannte »coniuncta«) über b ♭  ; während das b ♮ einen Teil des mittelalterlichen Tonsystems darstellt, wie es durch die »guidonische« Hand repräsentiert wird, also »musica recta« (in den beiden oberen Oktaven des Systems wird die Septime über dem c durch die Doppelstufe b ♭/ b ♮ repräsentiert, beide Stufen sind also gleichermaßen »diatonisch«). Vgl. für eine unmissverständliche Erläuterung dieses Sachverhalts Bent, »Musica Recta and Musica Ficta«, S. 79–81. Um nicht in allzu komplizierte Formulierungen zu verfallen, ist im Folgenden daher meist von Akzidentien die Rede. 12 Die übliche Ansicht in der Musikwissenschaft und auch in der Aufführungspraxis ist, dass solche Korrekturen auch dort vorgenommen werden müssen, wo sie nicht vorgeschrieben sind – also etwa aus der (verminderten) Quinte e la mi – b ♭ fa die Quinte e ♭ fa – b ♭ fa zu erzeugen oder die kleine Sext e mi la – c ut fa sol im Kontext einer Klausel zur großen Sext zu erweitern (sei es als ♭ e fa – c ut fa sol oder als e mi la – ♯ c mi). Dies wird gemeinhin als »musica ficta« bezeichnet, obwohl es die Äußerungen der Musiktheoretiker wenigstens bis zum späten 15. Jahrhundert zumindest offenlassen, ob sich der Begriff »musica ficta« (musica falsa, coniuncta, synnemmenon) nicht ausschließlich auf n o t i e r t e Vorzeichen bezieht. Siehe Berger, »Musica ficta«, und ders., Musica ficta, und contra Thomas Brothers, Chromatic Beauty in the Late Medieval Chanson  : An Interpretation of Manuscript Accidentals, Cambridge 1997, S. 21–39. Meines Erachtens überzieht Brothers seine Schlussfolgerung, »musica ficta« liege nur dort vor, wo Vorzeichen in den Quellen notiert seien, in massiver Weise und entwertet damit seine sehr bemerkenswerten Interpretationen. 13 Die Formulierung stammt von Frank Hentschel, Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie. Strategien der Konsonanzwertung und der Gegenstand der musica sonora um 1300 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 47), Stuttgart 2000, S. 175–211. Hentschel bezieht sich allerdings primär auf den musiktheoretischen Diskurs. 14 Berger, Musica ficta, S. 122 f, erwähnt das Konzept der »causa pulchritudinis« im Vorübergehen, ist aber an Regeln statt an Setzungen im ästhetischen Freiraum interessiert. Selbst Bergers Versuch, die Akzidentiensetzung in der Renaissance einer möglichst stringenten Systematik zu unterwerfen, muss aber die Möglichkeit »unkonventioneller« Setzungen anerkennen  ; vgl. ebd., S. 172.

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Die Begründung »causa pulchritudinis« für den Einsatz von »musica falsa« (musica ficta) findet sich erstmals in einem auf ca. 1300 zu datierenden Traktat  : »Die ›falsche‹ Musik wurde aber aus zwei Gründen erfunden, nämlich aufgrund der Notwendigkeit und der Schönheit des Gesangs an und für sich. Aufgrund der Notwendigkeit, weil wir nicht die Quinte, Quarte oder Oktave haben konnten wie in den im Kapitel von den Proportio­ nen angegebenen (Ton-)Orten. Aufgrund der Schönheit, wie es in den ›cantilenae coronatae‹ offenbar ist«.15

Mit »cantilena coronata« scheint der »grand chant courtois« des Troubadour-Repertoires gemeint, die Aussage bezieht sich also nicht (primär) auf Mehrstimmigkeit.16 Etwa hundert Jahre nach Anonymus II schreibt Philipoctus de Caserta  : »Boethius aber erfand die ›musica ficta‹ aus zwei Gründen, nämlich aufgrund der Notwendigkeit und aufgrund der Schönheit des Gesangs. Der Grund der Notwendigkeit ist, weil wir nicht an allen (Ton-)Orten Konsonanzen haben konnten, wie oben erwähnt wurde. Der Grund der Schönheit aber wird in den Gesängen offensichtlich.«17

Offenbar beruhen die Aussagen von Philipoctus bis in die Formulierungen hinein auf Anonymus II, und Thomas Brothers vermutet wohl zu Recht, dass auch hier mit »cantilenae« weltliches (mehrstimmiges  ?) Repertoire angesprochen ist.18 In jedem Fall führt

15 »Fuit autem inventa falsa musica propter duas causas, scilicet, causa necessitatis et causa pulchritudinis cantus per se. Causa necessitatis, quia non poteramus habere diapente, diatessaron, diapason, ut in locis visis in capitulo de proportionibus. Causa pulchritudinis, ut patet in cantilenis coronatis.« Anonymus II, Tractatus de Discantu, CS 1, S. 303–319, hier S. 312  ; bzw. Anonymous II, Tractatus de Discantu (Treatise Concerning Discant) (= Colorado College Music Press Texts/Translations 1), übers. und hrsg. von Albert Seay, Colorado Springs 1978, S. 32f. 16 Vgl. dazu die Diskussion bei Brothers, Chromatic Beauty, S. 1–6. 17 »Boecius autem invenit fictam musicam propter duas causas, scilicet causa necessitatis et causa pulchritudinis cantus. Causa necessitatis est quia non poteramus habere consonantias in omnibus locis ut supra dictum est. Causa vero pulchritudinis ut patet in cantilenis.« Zitiert nach Brothers, Chromatic Beauty, S. 16, Anm. 22. 18 Ebd. – Wörtlich gleich wie die eben zitierte Formulierung findet sich diese Aussage auch in einigen theoretischen Fragmenten einer Handschrift aus Sevilla  ; vgl. Bent, »Musica recta and Musica Ficta«, S. 78, mit Verweis auf F. Alberto Gallo, »Alcune fonti poco note di musica teorica e pratica«, in  : ders. (Hrsg.), L’Ars Nova Italiana del Trecento  : Convegni di Studi 1961–1967, Certaldo 1968, S. 49–76. In welcher Abhängigkeits- oder Identitätsbeziehung dieses Traktatfragment zu dem Traktat von Philipoctus steht, ist hier nicht von Interesse. Auch Henricus Helene kennt die Unterscheidung von »causa necessitatis« und »causa pulcritudinis«, verweist aber hier für weitere Erläuterungen auf den Tractatus de Discantu  ; vgl. Henricus Helene, Summula, nach der Quelle Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, MS lat. VIII.24 (3434), ff. 10r–44r, transkribiert von Peter M. Lefferts, in  : Thesaurus musicarum latinarum (http://www.chmtl.indiana.edu/tml/14th/HEHESUMM_MVBM8–24, 5.10.2017).

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Philipoctus zur Begründung der Schönheit nichts anderes als die sinnliche Evidenz, die ästhetische Wahrnehmung selbst, ins Feld. Wenn die im Folgenden vorgetragenen Überlegungen stichhaltig sind, muss diese Alternative zur Trias erweitert werden  : Denn die Verwendung von Akzidentien zur Erzeugung von »Dur« und »Moll« geschieht, so die These, nicht »causa necessitatis« und noch nicht einmal ausschließlich »causa pulchritudinis«, also aus ästhetischem Wohlgefallen, sondern aus Gründen der expressiven Textumsetzung – man könnte dies einen Ansatz »causa textus« nennen (was die »pulchritudo« natürlich nicht ausschließt).

2.

Der Text von Flos florum reiht topische Verherrlichungen Marias aneinander  : Blüte aller Blüten, Quell aller Gärten, Königin der Himmel, Licht der Freude usw. In dieser sticht die Textphrase der Mollwendung, »spes veniae«, heraus  : »Du Hoffnung auf Vergebung«, das stellt einen Bezug her zur irdischen Sündhaftigkeit der Subjekte  – auch jener, die da gerade singen. Du Fay verdeutlicht diesen Textbezug nicht nur durch den plötzlich eingeführten Moll-Kontrast, sondern auch durch die Absenkung der Stimme aus dem bisher zentralen Tonbereich um die Quinte f ’-c’’ in die darunter liegende Region um die Quarte c’-f ’, ein Vorgang, der notwendig zu einer tieferen, gleichsam demütigeren Stimmfärbung führt  ; und er unterstreicht diesen Kontrast auch durch den Verzicht auf jene Art elaborierter Koloraturen, die dem Genre der »florid motet« zu seiner Spezifik verhelfen. Das »spes veniae« wird als eine Art musikalischer Demuts- und Pathosgeste zugleich gesungen  : in erniedrigter Tonlage, mit erniedrigtem Vorzeichen in unharmonischer Relation und in schlichter, fast syllabischer Vertonung. Nun könnte es als zu weit hergeholt erscheinen und einer flüchtigen Wendung zu viel Gewicht beimessend, wenn dieses eine isolierte e ♭ gleich als historischer Beleg für die Semantisierung des Dur-Moll-Kontrasts in Anspruch genommen wird. Solche momentanen Umfärbungen von Terzen kommen nämlich häufig in der Musik dieser Zeit und namentlich bei Du Fay vor. Heinrich Besseler hat dafür den Begriff der »Terzfreiheit« geprägt.19 Gemeint ist damit die Freiheit des Komponisten, große und kleine Terz über dem jeweiligen Grundton im Verlauf des Stücks miteinander abzuwechseln.20 Ist es also legitim, in diesem Stück von einer bewusst eingesetzten Dur-Moll-Semantik »causa tex19 Heinrich Besseler, Bourdon und Fauxbourdon, Leipzig 1959, S. 44  ; 2., veränderte Auflage, hrsg. von Peter Gülke, Leipzig 1974, S. 43 u. ö. 20 Wenn wir dem Stückverlauf weiter folgen, scheint sich diese These, wonach das e ♭ nur eine flüchtige Farbe um des Augenblicksreizes wäre, sogar zu bestätigen. Denn in T. 29f. wird in scheinbar recht genauer Analogie wiederum, diesmal sogar in doppelter chromatischer Alteration, die verminderte Quarte f ♯ – b e ♭ im Superius gesungen, in noch expliziterer direkter Abfolge und hier ohne jeden erkennbaren semantischen Bezug  : »Virga recens«, junger Zweig, wird hier Maria genannt. Satztechnisch handelt es sich hier um die in

69

Wolfgang Fuhrmann

tus« zu sprechen  ? Oder handelt es sich doch nur um im wahrsten Sinne des Wortes »akzidentiell« gesetzte Tonfärbungen »causa pulchritudinis«  ? Marchetto von Padua schlug sogar, um den missverständlichen, scheinbar abwertenden Ausdruck »musica falsa« zu vermeiden, den Ausdruck »musica colorata« vor, in direkter Anlehnung an die »colores«, also die Figuren und Verfahren der Rhetorik.21 Die Doppelfunktion der »colores rhetorici« als reiner Schmuck der Rede und als Versuch, auf die Affekte der Hörer einzuwirken, gibt genau den interpretatorischen Zwiespalt wieder, vor dem wir stehen. Eine Antwort lässt sich nur gewinnen, wenn wir Du Fays Gebrauch von »Moll«-Klängen umfassender untersuchen. Am nächsten liegt es, einen Blick auf den Schluss des Stücks zu werfen, die Vertonung der Zeile »pasce tuos, succurre tuis, miserere tuorum« (»nähre die Deinen, komm den Deinen zu Hilfe, erbarme dich der Deinigen«, Notenbeispiel 2). Hier ändert Du Fay die Textur der Koloraturarie  – die nur hin und wieder durch textlose – teilweise imitative – Duette der beiden Oberstimmen aufgelockert wurde, radikal, und zugleich verändert sich der Ausdruckscharakter. Die drei Stimmen finden zu einem emphatischen gemeinsamen Anruf an die Gottesmutter zusammen, in lang ausgehaltenen, durch fermatenartige Zeichen wohl noch gedehnteren Note-gegen-NoteKlängen – anachronistisch formuliert  : eine Noëma-Passage. Solche blockhaften Klänge am Ende eines Stücks sind nichts Ungewöhnliches beim jungen Du Fay  ; seine beiden Alma redemptoris-Vertonungen, sonst kompositorisch ganz unterschiedlich, enden in einer sehr ähnlichen Textur, und zwar jeweils auf die Worte »Sumens illud Ave, peccatorum miserere«. Der hier beabsichtigte Effekt ist offensichtlich der einer durch extreme Verlangsamung eindringlich gemachten Deklamation, eines feierlich-ehrerbietigen Innehaltens, und zumindest im vorliegenden Fall auch eines aus der verdunkelten Perspektive eines sündenbeladenen Kollektivsubjekts aufgerufenen flehenden Affekts. (Und man müsste schon wirklich ein besonders unsensibler Anhänger »aufführungspraktischer« Dogmatik sein, um in dieser Stelle einen »punctus organi« als Aufforderung für spontane Verzierungen durch die Sänger erblicken zu wollen.) Der Unterschied zu der eingangs betrachteten Passage aus den Anfangstakten von Flos florum besteht darin, dass hier der zuvor lediglich angedeutete Mollcharakter so deutlich wird, dass von einer flüchtigen Färbung oder einer beliebigen Terzfreiheit nicht mehr die Rede sein kann. Die dreistufige Steigerungsstruktur der kunstvoll gefügten Textzeile – jedes Glied hat mehr Silben als das vorhergehende (4–5–7), das Verbalobjekt steht wie in einem Grammatiktest zunächst im Akkusativ, dann im Dativ, zuletzt im Genitiv – diese dreistufige Struktur wird in der Klangfolge ebenso kunstvoll reflektiert, denn Du Fay steuert noch einmal die beiden entscheidenden tonalen Zentren des Werks, dieser Zeit gerade aus der Mode kommende sogenannte Doppelleittonklausel, die zu einer für den vorherrschenden lydischen Modus etwas ungewöhnlichen Klausel auf der zweiten Stufe führt. 21 Marchetto von Padua, Pomerium (= Corpus scriptorum de musica 6), hrsg. von Giuseppe Vecchi, o. O. 1961 S. 71  ; vgl. Brothers, Chromatic Beauty, S. 35.

70

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

die Finalis (den Grundton) f und die Confinalis c, an. Dabei scheint Du Fay am Ende der zweiten Phrase in c-Moll zu kadenzieren, am Schluss des Stücks in f-Moll (auch wenn die Schlussklänge in T. 63 und 65 terzlos sind). 120

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Notenbeispiel 2: Du Fay, Flos florum, T. 60–65 (die Akzidentiensetzung folgt I-Bc Q 15)22

Es soll hier nicht diskutiert werden, ob damit ein Übergang in einen anderen Modus erfolge, der etwa als f-Dorisch aufzufassen wäre (was eine im 15.  Jahrhundert meines Wissens singuläre Transposition wäre), ob es sich um eine bloße »commixtio tonorum« handle oder wie immer dieser Schluss vor dem Hintergrund der Lehre von den Kirchentonarten sonst zu deuten wäre – falls die Werke vor allem des frühen Du Fay sich in ihrer Konzeption überhaupt auf die Kirchentonarten beziehen lassen.23 Nicht solche eher verwaltungstechnische Fragen, sondern die unbestreitbar brillante rhetorische Inszenierung dieser Schlusspassage ist hier von Interesse. Die durch den blockhaften Satz und die lang ausgehaltenen Klänge forcierte Aufmerksamkeit auf den vertikalen Aspekt und die damit verbundene klare Textverständlichkeit lässt, wie bei den beiden Alma redemptoris, 22 Vgl. auch die Verwendung dieser Passage in I-TRbc MS 1377 (90), fol. 463v. 23 Dagegen argumentiert Brothers, Chromatic Beauty, vor allem S. 202–209.

71

Wolfgang Fuhrmann

die zentrale Aussage des Texts klar hervortreten.24 Es ist die Bitte um Schutz, Hilfe und Erbarmen, und sie endet, wie in den Alma redemptoris-Motetten, mit dem Schlüsselwort »miserere«, erbarme Dich. Die »Moll«-Klanglichkeit ist offenbar essenzieller Teil dieser Inszenierung. Die gesamte Passage trägt den Ausdruck der sündenbeladenen Hilfsbedürftigkeit der christlichen Gemeinde. Spätestens hier muss nun ein entscheidendes Problem angesprochen werden, nämlich das der Textüberlieferung. Gerade die Akzidentiensetzung ist oft von Quelle zu Quelle unterschiedlich  ; und insbesondere nicht-konventionelle Akzidentien neigen dazu, von Schreibern ignoriert, mit anderen Worten ins Diatonische »korrigiert« zu werden.25 (Eine Huldigungsmotette an den Trienter Bischof Georg Hack, Imperitante octaviano, enthält eine, wie es scheint, nachträglich hinzugefügte Schlusspassage, die notengetreu die Schlusstakte von Flos florum übernimmt – um eine Quarte nach unten transponiert und ohne jedes Vorzeichen außer einem fis auf dem viertletzten Ton der Mittelstimme, analog zu T. 136 von Notenbeispiel 2.26) »The beautiful accidentals drift through the written records like butterflies moving from flower to flower«.27 Das wirft die Frage auf, welche Quellen als autoritativ gelten können – eine Frage, über die aber im Großen und Ganzen (trotz schwieriger Einzelfälle) in der Du Fay-Forschung weitgehender Konsens herrscht. 24 Hier ist noch einmal auf die Unterscheidung zwischen »causa necessitatis« und »pulchritudinis« zurückzukommen. Bent, »Musica Recta and Musica Ficta«, S. 78, schreibt  : »[…] though it is never explicitly stated, there is a strong tendency to equate ›ficta causa necessitatis‹ with harmonic reasons and ›ficta causa pulchritudinis‹ with melodic reasons for chromatic inflection.« Um diese These zu stützen, beruft sie sich auf die oben (Anm.  17) erwähnte Stelle (»Boecius autem invenit…«). Dagegen hat Edward E. Lowinsky in einer vielzitierten Interpretation mit charakteristischer Apodiktik erklärt  : »Necessity deals with rules pertaining to perfect consonances, beauty with rules pertaining to imperfect consonances«  : Musica nova accomodata per cantar e sonar sopra organi  ; et altri strumenti […], hrsg. von H. Colin Slim, mit einem Vorwort von Edward E. Lowinsky (= Monuments of Renaissance Music 1), Chicago und London 1964, S. viiif. (Lowinsky berief sich auf seine umfangreichen Studien zum Problem der »musica ficta«, die er in einer – nie erschienenen – Abhandlung zu behandeln gedachte, vgl. Anm. 10, S. viii). Dufays Flos florum bietet für beide Thesen Anhaltspunkte  : Die erste diskutierte Stelle ist eher melodisch, die zweite eher »harmonisch« gedacht. Natürlich sind in polyphoner Musik melodische und klangliche Aspekte immer gleichzeitig präsent, aber nicht in gleichem Maß. Und zu behaupten, die Schönheit (pulchritudo) liege im Ohr eines spätmittelalterlichen Musikers eher da als dort, wäre zumindest verwegen. 25 Thomas Brothers, »Contenance angloise and Accidentals in Some Motets by Du Fay«, in  : Plainsong and Medieval Music 6 (1997), S. 21–51, hier S. 44f.; ders., Chromatic Beauty, S. 28f. (und passim). 26 I-TRbc MS 1377 (90), Nr. 1141, fol. 463v (ediert in Denkmäler der Tonkunst in Österreich 7 [14/15], S. 81f.). Der Hauptteil der Motette stellt ein Contrafactum der anonymen Chanson Pour l’amour qui est en vous dar (vermutlich ist Nr. 1142, fol. 464r, ediert ibid., ein Contrafactum der Chanson Helas mon cuer helas mon oeil, der zweite Teil dieser Motette.). Die aus Flos florum entlehnte Passage hat den neuen Text »Ob id laudes inclitus praesul Georgius soli deo«. Vgl. Bonnie J. Blackburn, »The Dispute about Harmony c.1500 and the Creation of a New Style«, in: dies. und Anne-Emmanuelle Ceulemans (Hrsg.), Théorie et analyse musicales 1450–1650, Louvain-la-Neuve 2001, S. 1–37, hier S. 19. 27 Brothers, Chromatic Beauty, S. viii.

72

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

3.

Ein weiteres Beispiel soll anhand eines weltlichen Werks die Vermutung, dass Du Fay »Moll«-Klänge bewusst zur Unterstreichung bestimmter Textaussagen einsetzte, erhärten. Es handelt sich um das lediglich in I-Fn 176 überlieferte Rondeau Ne je ne dors  ; die etwa auf 1480 zu datierende Quelle legt nahe, dass es sich hier um eine der spätesten Chansons des 1474 verstorbenen Du Fay handelt.28 Der Text lautet  : Ne je ne dors ne je ne veille, Tant ay fort la puce en l’oreille, C’est du mains que de souspirer.

Weder schlafe ich noch wache ich, So sehr habe ich die Jungfrau [den Floh] im Ohr,29 Und selbstverständlich30 seufze ich.

Car contraint suis de desirer Que mort contre moy se resveille.

Denn ich bin gezwungen, mir zu wünschen, dass der Tod sich gegen mich erhebe.31

Desir ne veult que je sommeille L’œil ouvert ennuy me conseille Que je transisse de pleurer Ne je ne dors ne je ne veille … Je n’ay pas la coleur vermeille, C’est par vous, dont je m’esmerveille, Comment vous povez endurer

›Begehren‹ will nicht, dass ich schlafe, bei offenem Augen tröstet mich ›Überdruss‹, dass ich durch Weinen sterben sollte. Weder schlafe ich noch wache ich … Ich habe keine gesunde Farbe mehr, Daran seid Ihr schuld, über die ich mich verwundere, Wie Ihr es ertragen könnt,

Que pour vous craindre et honnourer Je souffre douleur non pareille.

Dass, um Euch ehrfürchtig zu verehren, ich Schmerz ohnegleichen fühle.

Ne je ne dors ne je ne veille … Car contraint suis de desirer …

Weder schlafe ich noch wache ich … Denn ich bin gezwungen, mir zu wünschen …

Der Text ist originell darin, dass er die Begründung der angestimmten Klage, nämlich die nicht erhörte Verehrung durch die geliebte Frau, in die Strophe verlegt, während der Refrain (kursiviert) lediglich den leidensvollen Zustand des Sprechers beschreibt und

28 Nach 1458 hielt sich Du Fay zwar nur noch im Norden auf, doch wie sein undatierter Brief an Piero und Giovanni de’ Medici (vermutlich von 1456) und ein Brief von Antonio Squarcialupi an Du Fay vom 1.5.1467 (in Reaktion auf einen verschollenen Brief Du Fays) beweisen, riss der Kontakt zu Florenz nicht ab. Vgl. Fallows, Dufay, S. 71f. und 76f. 29 Vermutlich ist hier ein unübersetzbares Wortspiel intendiert  : »puce« heißt im Altfranzösischen sowohl »Floh« (von lat. »pulex«) als auch »junge Frau«, »Jungfrau«, »Mädchen« (von vulgärlat. »pullicella«). 30 Vgl. Adolf Tobler und Erhard Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Berlin und Wiesbaden 1915ff., Bd. 6 (Wiesbaden 1963), Sp. 149. 31 »resveiller« heißt eigentlich wecken oder aufwachen (mit militärischen Assoziationen).

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

erst in der zweiten Hälfte der Aufführung enthüllt. Es ist jedoch primär oder sogar ausschließlich der Refrain, auf den der Komponist bei seiner Vertonung Bezug nimmt.32 Für Du Fays Vertonung ist zunächst der Umstand bemerkenswert, dass es keine »conflicting signatures« gibt – alle drei Stimmen tragen dieselben Vorzeichen, nämlich gar keine (Notenbeispiel  3). Methodisch erlaubt das, den Einsatz von Akzidentien als bewusste Setzung zu analysieren, nicht als Kompromiss, um unharmonische Intervalle zu vermeiden (etwa wo ein b ♭ im Tenor mit einem b ♮ im Sopran konfligiert). Die trübe Stimmung, in der sich das lyrische Ich befindet, wird durch die Deklamation der Oberstimme gleich zu Beginn deutlich  : Vier Breven (T. 1f.: halbe Noten in der Transkription), also vergleichsweise lange Notenwerte, in tiefster Lage und ein Halbtonschritt als einziges melodisches Intervall – das ist ein selbst für Du Fay radikales Verfahren.33 Wer will, kann im Gegensatz der Stimmführung im Folgenden, wo rasch die Oktave durchschritten wird, auch einen tonmalerischen Kontrast zwischen »Schlafen« und »Wachen« sehen (aber das lässt sich auch als die völlig konventionelle Abfolge von syllabischer Deklamation und Melisma zur Kadenz am Versende interpretieren). Wichtiger erscheint, dass auch die zweite Textzeile in ihren repetierten Semibreven (T. 8  : als Viertel transkribiert) einen eher statischen, unprofilierten Duktus aufweist. Die dritte, in T.  12 anhebende Zeile verknüpft nun beide melodische Bewegungsarten, die man als eine Umsetzung der melancholischen Passivität der Stimme ansehen kann. Dabei kehrt sie wieder in die tiefste Stimmlage zurück  ; hier wird nun das erste Akzidens, e ♭, eingesetzt (T. 14, wohl auch für T. 15 noch gültig). Nicht nur im dunklen Klang, sondern auch in der seufzerartig die kleine Sekunde umschreibenden Wechselnote erinnert diese Wendung frappant an weit frühere Werke wie Vergene bella (»miseria estrema«, T.  55–57) oder eben das »spes veniae« aus Flos florum (T. 11–13), und sie vertont eben genau das »souspirer«. Die Mollfärbung und die ihr inhärente Spannung spielen noch in den Beginn des B-Teil hinein, wo in der vierten Zeile ein weiteres e ♭ gleich in Takt 16 im Tenor auftritt, während die Singstimme einen Takt später, wieder in einer »relatio non harmonica«, auf der übermäßigen Quinte im b ♮ einsetzt, in einer außergewöhnlichen Spannung (auch durch die höhere Lage) zum Vorangegangenen. In der Fortsetzung scheint die Klanglichkeit ins »Dur« zurückzukehren – doch dies setzt Du Fay (wenn die Überlieferung seine Intentionen präzise übermittelt) nur als Kontrast ein, um in der letzten Zeile mit nicht weniger als sieben Akzidentien den Todeswunsch des Sängers zu unterstreichen  :

32 Vgl. Don Michael Randel, »Dufay the Reader«, in  : Studies in the History of Music, Bd. 1  : Music and Language, New York 1983, S. 38–78, hier S. 71. 33 Die Expressivität dieser fast unbeweglichen Stimmführung wird überdeckt und gemildert, wenn der aus technischen Gründen über dem Superius geführte Tenor ebenfalls vokal besetzt wird – obwohl die Argumente für eine rein vokale Ausführung weltlicher Musik im 15. Jahrhundert keineswegs von der Hand zu weisen sind (wenn sie auch in ihrer Ausschließlichkeit wenig überzeugen), erscheint mir in diesem Fall eine instrumentale Besetzung der Unterstimmen ästhetisch befriedigender.

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Folgt man zudem der Notation in der (einzigen) Quelle genau, so ist im Superius in Takt 21 ein verminderter Quartsprung H–Es (b ♮ – e ♭) gefordert, und der Tenor hat von Takt 20 auf 21 einen kleinen Sextsprung nach oben zu bewältigen, ebenso (wenn auch als totes Intervall) der Superius in Takt 25.34 Man kann diese und vergleichbare Chansons mit Thomas Brothers als »musica ficta-Essays« betrachten, in denen die unharmonischen Relationen dem Stück lediglich Spannung und Impetus verleihen35 – aber eine solche Sichtweise hat den Preis, den Text und seine Semantik zu ignorieren. Sicherlich greift nicht jede von Liebesleid kündende Chanson Du Fays zu so drastischen Mitteln – diesem Komponisten standen zahlreiche Ausdrucksregister zur Verfügung. Und auch nicht jeder Einsatz von Akzidentien »causa pulchritudinis« gehorchte einem Ausdrucksbedürfnis – Brothers hat einleuchtend die Konvention der »pre-cadential lowered thirds« als Spannungsbewegung hin zum Kadenzton beschrieben (und diese Erklärung, wie mir scheint, bei seiner Analyse von Helas ma dame auch sogleich überspannt).36 Doch ist die Frage einer »Dur-MollSemantik« bei Du Fay komplexer und bedarf eines systematischen Überblicks.

4.

Tabelle 1 gibt einen – keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden – Überblick über die Verwendung der Mollterz und ihrer querständigen Verbindung mit einem leittönigen »Dominant-Klang« in Du Fays Werk insgesamt.37 Obwohl viele Fälle ausführlicherer Diskussionen 34 Eine genau diesen Notentext realisierende Aufnahme kenne ich nicht  ; sie hätte zudem zwei (wenn auch nur flüchtige) mi-fa Oktaven zu bewältigen (a ♭ versus a ♮)  : Superius-Tenor in T. 23 und Superius-Contratenor in T. 26. Die Lösung, das a des Sopran zum as zu machen, führt in beiden Fällen in weitere unharmonische Relationen – Das f ♯ in T. 24 des Superius wurde im Übrigen in der Chanson-Ausgabe von Besseler übersehen, es findet sich nur in der Revision von CMM I/6 durch Fallows. 35 Brothers, Chromatic Beauty, S. 198  : »The tension of the cross relation drives the piece forward.« (Hervorhebung im Original). Brothers bezieht sich hier auf Belle veulliés moy retenir, doch seine Bemerkung ist generell gemeint, und Ne je ne dors ist sein nächstes Beispiel. 36 Ebd., S. 187–194. Brothers versucht, aus dieser präkadenziellen erniedrigten Terz den Gebrauch von »Moll«Klängen bei Du Fay insgesamt zu erklären, vgl. ebd., S. 201  : »[J]ust as a pre-cadential lowered third marks the end of a phrase, so does Du Fay often use the more melodically weighty inflection towards the end of a piece.« Das scheint mir die lokale Geltung dieses Verfahrens zu übersehen – und ebenso die expressiven Potenziale, die Du Fay in manchen dieser Passagen entfaltet. 37 Nicht berücksichtigt wurden hier die »isorhythmischen« Motetten, die im Allgemeinen schon durch ihre

76

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

wert wären, wird deutlich, dass Du Fay diese »relatio non harmonica« bzw. Mollfärbungen insgesamt vor allem in seinem Frühwerk eingesetzt hat, und dass man sie in den Choralparaphrasen (Ordinariumssätze und Marienantiphonen) kaum antrifft. Doch sind die in dieser Hinsicht auffälligsten Stücke, wie Thomas Brothers betont hat, nicht solche des ganz jungen Du Fay, sondern gehören vor allem der Phase an, in der das »tempus perfectum« vorherrscht.38 Werk (Band/Nr. in Ed, ggf. in P)

Finalis, Vorzeichen

Kyrie IV/1,I

G ♮, ♭, ♭

Gloria IV/5, I

F ♮, ♮, ♮, ♭

Credo IV/5, II

F ♮, ♮, ♮, ♭

Textpassage, Taktangaben, ­Akzidentien

Bemerkungen

Messsätze, Messzyklen

»[Kyrie e]leison« T. 25–28| b ♭, f ♯

»benedicimus te, adoramus te, glorificamus te« T. 14–19 (≈isomelische Variante Credo 5, II T. 22–28) | e ♭, b ♭ »[no]stram. Qui sedes ad dexteram Patris, miserere nobis« T. 73–83 | e ♭, b ♭, (f ♯) »Amen« T. 123–132 | e ♭, b ♭, a ♭ »filium Dei unigenitum. Et ex patre natum ante omnia saecula. Deum de deo, lumen de lumine, deum verum de deo vero« T. 20–36 (vgl. Gloria 5, I, T. 14–19) | e ♭, b ♭, (f ♯) »sub Pontio Pilato« T. 85–88 | e ♭, b ♭ »cuius regni non erit finis« T. 119–122 | e ♭ »[Qui cum pa]tre et filio simul adoratur et conglorificatur«

In Ed im Superius ab zweiter Akkolade Vorzeichen b ♭ (entgegen der Hauptquelle I-Bc Q 15 sowie I-AO 15 und F-F-CA MS D 11, aber übereinstimmend mit F-F-CA MS D 6 und 11). temp. imp. prol. mai. temp. perf. prol. min. temp. imp. (perf) prol. mai. (vgl. KB IV, S. xviii)

temp. imp. prol. mai. temp. perf. prol. min. temp. imp. prol. min. (in KB IV, S. xix irrtümlich temp. perf.)

Mehrtextigkeit anderen Strukturprinzipien als dem einer Textausdeutung folgen. Beim wichtigsten Fall, Nuper rosarum flores, kommt hinzu, dass die »relatio non armonica« strukturell an einer bestimmten Stelle in der Periodik eingesetzt wird. Vgl. Brothers, »Contenance angloise«, S. 48–50. 38 »Straightforward pre-cadential lowered thirds occur in a handful of Du Fay’s songs that move in major prolation with imperfect tempus (for example, J’atendray, Je ne suy plus, L’alta belleza tua)  ; the gesture continues to appear in minor prolation, perfect tempus songs (for example, Se la face ay pale, Quel fronte signorille). But the more expansive, melodic use of Terzfreiheit occurs only in perfect tempus [, …] it is part of the same lyric impulse that gives rise to the new mensural preference and […] to fewer sharps«. Brothers, Chromatic Beauty, S. 200. Eine innere, relative Chronologie von Du Fays Werk nach den verwendeten Mensuren wurde prominent versucht von Charles Hamm, A Chronology of the Works of Guillaume Dufay Based on a Study of Mensural Practice, Princeton (New Jersey) 1964, und liegt auch Besselers im selben Jahr erschienener Edition der Chansons als Bd. 6 der Opera omnia zu Grunde.

77

Wolfgang Fuhrmann

Werk (Band/Nr. in Ed, ggf. in P)

Finalis, Vorzeichen

Sanctus IV/6

C ♮, ♮, ♮

Gloria IV/21 Missa sine nomine (oder Missa Resvelliés vous) II/1 | P 03/01

G ♮, ♭, ♭

Missa Sancti Jacobi (für Sankt Giacomo in Bologna, ca. 1426–1428?) II/2 | P 03/02

G, ♮, ♮39 D ♮, ♮, ♮

Missa Ecce ancilla Domini (ca. 1463/64) III/3 | P 03/06

C ♮, ♮, ♮, ♭

Missa Ave regina celorum (um 1470?) III/4 | P 03/07

C ♮, ♮, ♮, ♮

Ave regina celorum III (ca. 1465) V/51 | P 01/06

C ♮, ♮, ♭, ♮

Textpassage, Taktangaben, ­Akzidentien

Bemerkungen

T. 135–139 | e ♭, b ♮, (f ♯) »[et exspec]to resurrectionem mortuorum. Et vitam venturi saeculi« T. 155–160 | e ♭, a ♭

»[Osanna in ex]cel[sis]« T. 85f. | e ♭, b ♭, f ♯

»Domine deus, agnus dei« T. 43–46 | b ♭, f ♯ Gloria: »[Qui tollis peccata mundi] miserere nobis« T. 42–46 (P: T. 92–103)| b ♭, f ♯ »Jesu Christe. Cum sancto spiritu« T. 84–90 (P: 159–165) | e ♭, b ♭, f ♯ »[patris]« T. 98f. (P: 173f.) | b ♭, f ♯

temp. imp. prol. min. temp. imp. prol. mai.

Credo: »Deum de deo, lumen de lumine, deum verum de deo ve[ro]« T. 32–40 | e ♭, b ♭, (f ♯) »descendit de caelis, et incarnatus est de spiritu sancto« T. 64–6940 (P: 74–79)| e ♭, b ♭

temp. perf. prol. min. temp. imp. prol. mai.

Christe: »eleison« T. 62–66 (P: 77–85) | e ♭, b ♭ Gloria: »gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam« T. 26–35 | e ♭, b ♭, f ♯

temp. imp. dim. temp. perf. prol. min.

Agnus Dei 2: »miserere nobis« T. 72–82 (P: 107–127) [nach der Motette Ave regina caelorum]41 | e ♭, b ♭, a ♭, f ♯

temp. perf. prol. min.

Motetten

»Miserere« T. 21–23 | e ♭ »Miserere, miserere supplicanti Dufay« T. 86–9642 (P: 95–117) | e ♭, b ♭, a ♭, f ♯

temp. perf. prol. min. temp. imp. dim.

39 Da in diesem Satz Vorzeichen und Finales ohne erkennbaren Grund variieren, wurde hier beides gemäß dem jeweiligen Abschnitt angegeben. 40 Dazu vgl. Brothers, »Contenance angloise«, S. 40f., mit Verweis auf Graeme Boone, Dufay’s Early Chansons  : Chronology and Style in the Manuscript Oxford, Bodleian Library, Canonici misc. 213, Ph.D. diss., Harvard University (1987), S. 192ff. 41 Vgl. Rob C. Wegman, »Miserere supplicanti Dufay  : The Creation and Transmission of Guillaume Dufay’s Missa Ave regina celorum«, in  : The Journal of Musicology 13 (1995), S. 18–54, hier S. 33. 42 Vgl. Anmerkung 4.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Werk (Band/Nr. in Ed, ggf. in P)

Finalis, Vorzeichen

Flos florum (ca. 1420/30) I/2 | P 01/18

F ♮, ♭, ♭

O beate Sebastiane (ca. 1430)43 I/10 | P 01/21

C ♮, ♭, ♭

O proles Hispanie/O sidus Hispanie I/6 | P 01/16

G ♮, ♭, ♭, ♭

Vergene bella (ca. 1430) VI/5 | P 01/23

D ♮, ♮, ♮

C’est bien raison (Ballade, für Niccolò d’Este, 1433? 1437?) VI/16

F ♮, ♭, ♭

Textpassage, Taktangaben, ­Akzidentien

Bemerkungen

»spes veniae« T. 10–12 (P: 21–23)| e ♭, b ♮ »virga recens« T. 29 (P: 57) | b ♭, c ♯, f ♯ »pasce tuos, succure tuis, miserere tuorum« T. 61–65 (P: 120–140) | e ♭, b ♭, a ♭, b ♮ »fides tu[a]« T. 20–21 (P: 34–36) | e ♭, b ♮ »Intercede pro nobis« T. 25–27 (P: 44–50) | e ♭, b ♭, c ♯, f ♯ »Jesum Christum« T. 31–32 (P: 56–59) | e ♭, b ♮

temp. perf. prol. min. dim.

»O/ O« T. 2–3; 5–6 (P: 4–5; temp. perf. prol. min. dim. 10–11)| b ♭, f ♯; e ♭, f ♯ »Nobile depositum/Forma puritatis« T. 27–30 (P: 51–59) | e ♭, b ♮ »[Pa]duanae/ [puritatis?]« T. 37–39 temp. perf. prol. min. (P: 74–77)| e ♭, b ♮ »[credi]tum/ [Padu]ae« T. 64–65 temp. perf. prol. min. dim. (P: 108–109) | b ♭, f ♯ »Amen/ Amen« T. 84–87; 94–98 (P: 134–140; 154–163) | e ♭, b ♭, f ♯; e ♭, b ♭, b ♮, c ♯, f ♯

»[so]le« T. 10–11 (P: 21–22) |c ♯ »[co]lui ch’in amando te si [pose]« T. 29–30 (P: 58–61) | b ♭, f ♯ »Miseria estrema« T. 55–57 (P: 93–95) | b ♭, f ♯ »Ben ch’i sia terra, tu del ciel re[gina]« T. 75–79 (P: 116–122) | b ♭, f ♯, cis ♯

temp. perf. prol. min. dim. temp. perf. prol. min. temp. perf. prol. min. dim.

Weltliche Lieder

»[de] devoir essaucier« T. 8–10 | e ♭, b ♮ Schlussmelisma T. 16–19 = T. 51–54 | b ♭, a ♭, b ♮ »[fai]re re[lacion / D’un tres no] ble, digne de tout honneur« T. 23;T. 26–27 | e ♭, b ♮; e ♭, b ♮

43 Da die beiden Quellen I-MOe MS α.X.1.11 und I-Bc Q 15 in der Akzidentiensetzung stark voneinander abweichen, folge ich hier der »collated version« 01/21c in P, S. 7–9. Vgl. auch Karol Berger, »The Martyrdom of St Sebastian  : The Function of Accidental Inflections in Dufay’s O beate Sebastiane«, in  : Early Music 17 (1989), S. 342–357. Allerdings hat Planchart in T. 46/47 seiner Edition das c ♯ im Superius (gemäß I-MOe MS α.X.1.11) übersehen.

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Wolfgang Fuhrmann

Werk (Band/Nr. in Ed, ggf. in P)

Finalis, Vorzeichen

Craindre vous C ♮, ♭, ♭ vueil (Rondeau, Akrostichon: Cateline Dufay, vor 1430?) VI/61 T. 1–25 auch mit dem Text G ♮, ♮, ♮ Quel fronte signorille (= ursprüngliche Version? Strophenlied, 1428–1433)44 VI/7 Donnés l’assault (Rondeau, ca. 1420/30) VI/70

C ♮, ♭, ♭, ♭

Helas ma dame (Rondeau, ca. 1420/30) VI/45

C ♮, ♭, ♭♭

Helas mon dueil (Virelai, nach 1450) VI/23

G ♮, ♭, ♭

Ma belle dame, je vous prie (Rondeau, ca. 1420/30) VI/31

F ♮, ♭♭, ♭♭

Textpassage, Taktangaben, ­Akzidentien

Bemerkungen

»[Bien] est doté peuple d’un [tel seigneur]« T. 40–45 | e ♭, b ♭, a ♭, b ♮ »[lou]er en fais et dis«/»scorge l’anima mia« T. 8–10 | e ♭ »Le cueur de moy tant que je seray vis« T. 26–3045 | e ♭

»[Hault dieu d’amours], je vous supplie« T. 18–22 | e ♭, a ♭, f ♯, b ♮ »Boutés hors m’adverse partie« T. 23–29 | e ♭ »[He]las ma dame par amours« T. temp. imp. prol. mai. 7–10 | e ♭, b ♭, f ♯ »Qui suy seulet et esgaré/ Hors du pays en plains et plours« T. 16–2746 | e ♭, b ♭, f ♯, b ♮ »Helas mon dueil« T. 1 | b ♭, f ♯ »Il ne fault que je voise a l’amer« T. 21–24 | e ♭, f ♯, b ♮ Schlussmelisma T. 27–3147 | a ♭

temp. imp. prol. min.

temp. imp. prol. mai. (einmalig in Du Fays Chansons) Besselers Edition las das ff♭ als ee♭.

44 Die einzige Quelle des Stücks, GB-Ob 213 fol. 73r, vermerkt  : »Guillermus du[fa]y Rome conposuit«, daraus ergibt sich die Datierung. 45 Die ohnehin schwer beantwortbare Frage nach der Priorität der beiden Fassungen dieses Stücks – der kürzeren mit italienischem und der längeren mit französischem Text  – wird noch komplizierter durch den einzigen tiefgreifenden musikalischen Unterschied  : die unterschiedlichen Vorzeichen (»Craindre« hat in den drei »zentralen« seiner sechs Quellen b durum in den Unterstimmen). Vgl. Fallows, The Songs, S. 44–46 und 169–172. 46 Fallows, The Songs, S. 139, weist auf die Möglichkeit hin, dass in GB-Ob 213 (der einzigen Quelle) die Vorzeichen in der dritten Stimme (b und es) erst später hinzugefügt wurden  : »Most details appear to be confirmed by the (now) superfluous written accidentals, though there would be a good case for 4iii3E  : natural [= T. 4, unterste Stimme, 3. Note e statt es].« Vgl. die Diskussion bei Brothers, Chromatic Beauty, S. 187–194  ; ferner Brothers, »Contenance angloise«. 47 Dieses Stück und Belle veulliés moy retenir haben die sehr merkwürdige Vorzeichenkombination von zwei b molle

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Werk (Band/Nr. in Ed, ggf. in P)

Finalis, Vorzeichen

Mille bonjours (Rondeau [nur Refrain erhalten], vor 1450) VI/63

C ♮, ♭, ♭

Mon chier amy (Ballade, ca. 1420/30, für Carlo Malatesta, 1427?)49 VI/15

D ♮, ♮, ♮

Navre je suis (Rondeau, vor 1430) VI/34 Ne je ne dors ne je ne veille (Rondeau, nach 1450) VI/77

C ♮, ♭, ♭ C ♮, ♮, ♮

Or pleust a Dieu (Rondeau, vor 1430) VI/60

G ♭, ♭♭, ♭♭

Puisque celle qui me tient en prison (Rondeau? vor 1450) VI/64

F ♭, ♭♭, ♭♭

Passato è il tem- F ♮, ♭, ♭ po omaj (Ballata, ca. 1420/30) VI/3

Quel fronte signorille

Textpassage, Taktangaben, ­Akzidentien

Bemerkungen

»[Priés pour lui, laissiés ce] dueil aller« T. 25–28 | b ♭, f ♯

temp. imp. prol. mai.

Eröffnungsmelisma T. 1–7 | e ♭ »[Mille bonjours] je vous presente/ Joyeusement, ma dame« T. 10–20 | e ♭, a ♭, e ♮ »[Le jour de l’annee] nouvelle/ Je vous donne corps et entente« T. 24–3548 | e ♭, b ♭

»[son] doulx regart [Aymable me l’a point] jusques au vif« T. 18; T. 22–26 | e ♭; e ♭, a ♭, b ♮ »[C’est du mains] que de soupirer« T. 14–16 | e ♭ »Que mort contre moy se resveille« T. 21–27 | e ♭, b ♭, a ♭, f ♯

temp. imp. prol. min. dim.

»[Car qui je] puis vivre et mourir« T. 27–2850 | e ♭, b ♮ »longi martiri« T. 28–31 | e ♭, b ♮ »Ancor più mi tormenta il gran erore chi m’a conduto a« T. 37–5151 | e ♭, b ♭, a ♭, b ♮

[Text fehlt] T. 16–21? | e ♭, a ♭, b ♮

siehe Craindre vous vueil

Tabelle 1: Verwendung von »Moll«-Klängen, verminderten Quarten oder anderen »relationes non harmonicae« in Guillaume Du Fays Werk: eine repräsentative Auswahl52 in den Unterstimmen (die in einem späteren Arbeitsgang vom Schreiber nachgetragen wurden, vgl. Fallows, The Songs, S. 110–113) und keinem in der Oberstimme. »Terzfreiheit« ist hier gleichsam vorprogrammiert, und die Frage, ob dies in der Aufführung durch »musica ficta« ausgeglichen werden soll, ist extrem heikel. 48 Fallows, The Songs, S.  9, bezeichnet die Akzidentiensetzung in dieser Chanson als »utterly baffling« und äußert sich skeptisch gegenüber der Quelle E-E MS V.III.24 (S. 176). 49 Fallows, Dufay, S. 30. 50 Die einzige unzweideutige »relatio non harmonica« (zwischen S und Ct) in diesem Stück. 51 Vgl. die Interpretation bei Berger, Musica ficta, S. 177–188, insbesondere S. 187f. 52 Die Tabelle baut auf den Untersuchungen von Brothers, »Contenance angloise«, vor allem S. 36–48, auf. Da es

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Wolfgang Fuhrmann

Alle Werke werden mit Bezug auf Besselers Edition mit Bandzahl und Nummer, ggf. weiteren Unterteilungen zitiert. Die Akzidentien folgen Besselers Edition, die sich jeweils an einer Hauptquelle orientiert.53 Gelegentlich wurden Akzidentien in Klammern hinzugefügt, die in weiteren Quellen belegt sind. Wenn nicht anders angegeben, stehen die Stücke im »tempus perfectum cum prolatione minori«, der senkrechte Strich (virgula) durch die tempus-Zeichen wird der Einfachheit halber als »diminutum« bezeichnet. Ed = Guillaume Dufay, Opera omnia (= Corpus mensurabilis musicae I/1–6) hrsg. von Henricus [Heinrich] Besseler, o. O. 1951–1966 KB = der kritische Bericht in Ed. P = Guillaume Du Fay Opera Omnia, hrsg. von Alejandro Enrique Planchart (bis jetzt nur Messzyklen und Motetten  ; frei zugänglich unter https://www.diamm.ac.uk/resources/music-editions/du-fay-operaomnia/). temp. perf./imp. = tempus perfectum/imperfectum | prol. mai./min. = prolatio maior/minor | dim. = diminutum

Werke mit (überwiegend) »negativ« konnotierten Mollklängen Missa Ave regina celorum Ave regina celorum III, Flos florum, O beate Sebastiane, Vergene bella Donnés l’assault (?), Helas ma dame, Helas mon dueil, Mon chier amy, Ne je ne dors, Or pleust a Dieu, Passato ormai è il tempo Werke mit (überwiegend) neutral oder positiv konnotierten Mollklängen Kyrie 1, I, Gloria 5, I, Credo 5, II, Sanctus 6, Gloria 21, Missa Sancti Jacobi, Missa Ecce ancilla Domini O proles Hispanie/O sidus Hispanie C’est bien raison, Craindre vous vueil/Quel fronte signorille, Mille bonjours, Navré je suis Der Überblick versteht sich als repräsentativ  ; ich habe vor allem solche Werke ausgewählt, die ziemlich deutlich »Moll-Dur«-Kontraste bieten (und meistens dafür »relationes non harmonicae« verwenden). Fälle, in denen die formale Konvention der »pre-cadential mir aber nicht um Akzidentien im Allgemeinen, sondern um »Moll«-Klänge oder -Wirkungen geht, weicht sie in vieler Hinsicht davon ab und erweitert sie vor allem erheblich. 53 Bei den Chansons folge ich dem von Fallows revidierten Text von Ed VI. Hier ist die jeweils zugrunde gelegte Primärquelle anhand des kritischen Berichts leicht zu eruieren. In der Ausgabe erhielten nach Maßgabe der Quellenbewertung und gemäß der philologischen Regel der »lectio difficilior« (oder vielleicht eher  : »lectio improbabilior«) im Allgemeinen nicht-konventionelle, »ungewöhnliche« Akzidentien den Vorzug (so beispielsweise bei Vergene bella die Lesart von GB-Ob 213 gegenüber I-Bc Q.15 oder I-Bu MS 2216). Die jeweils zugrunde gelegte Primärquelle der Edition ist auch Fallows, Catalogue, zu entnehmen. Vgl. auch Brothers’ Studie »Contenance angloise and Accidentals in Some Motets by Du Fay«, in der die wichtigsten Quellen für den frühen und mittleren Du Fay – insbesondere die oberitalienischen Handschriften GB-Ob 213, I-Bc Q 15, I-MOe MS α.X.1.11, E-E MS IV.a.24 und P-Pm 714 sowie der burgundische – oder neapolitanische  ? – Chansonnier E-E MS V.III.24 – bevorzugt werden gegenüber »peripheren«, etwa deutschen Quellen wie D-Mbs Clm. 14274 (Emmeram) oder dem Großteil der Trienter Codices.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

lowered thirds« (Brothers) die Akzidentiensetzung eindeutig motiviert, wurden nicht aufgenommen, und natürlich auch keine Akzidentien »causa necessitatis«. Varianten der Akzidentiensetzung in den einzelnen Quellen zu diskutieren, hätte die Tabelle unübersichtlich gemacht  ; jedenfalls bietet Besseler (bzw. im Fall der Chansons Besseler/Fallows) im Allgemeinen die Lesart einer zeitgenössischen Quelle und damit das Ausgangsmaterial zeitgenössischer Aufführungen. Nur im Fall von Du Fays Ave regina celorum III bin ich dem Vorschlag einer Konflation von Lesarten mit der Parallelüberlieferung in der Messe gefolgt.54 Natürlich lässt sich der endgültigen Auswahl bis zu einem gewissen Grad »Subjektivität« vorwerfen. Auch gibt es keine Garantien, dass die Akzidentiensetzung, die in der Tabelle vorausgesetzt wird, auf Du Fays Intention statt auf textliche Korruption oder schreiberische Initiative zurückgeführt werden kann. Auf beide Einwände lässt sich dasselbe entgegnen  : Gerade die in unterschiedlichen Quellen oft übereinstimmenden »lectiones difficiliores« in e i n e r Chanson (etwa in den Lesarten von Craindre vous vueil in GB-Ob 213 und E-E MS V.III.24), aber auch die konsistente Erzeugung von »Mollfeldern« durch Akzidentiensetzung in unterschiedlichen (und in unterschiedlichsten Quellen überlieferten) Chansons deuten darauf hin, dass hier doch eine spezifische auktoriale Poetik wirksam war.55 Hier kommt freilich für die Interpretation alles darauf an, die vom Komponisten intendierte Textdeutung in Rechnung zu stellen, doch trotz der eklatanten Schwierigkeiten, die der Versuch einer exakten Textplatzierung in dieser Zeit bekanntlich mit sich bringt,56 kann bei Du Fay stets ein sehr bewusst gesetztes Verhältnis von textlicher und musikalischer Phrase unterstellt werden. Dabei fällt auf, dass viele (freilich nicht alle) der hier vertonten Stellen im Text Schmerz, Leid, Melancholie, Sündenbewusstsein und allgemeine Einsicht in die Nichtigkeit des menschlichen Daseins thematisieren. So können neben Flos florum ­Passagen aus den Motetten Vergene bella, Ave regina celorum III und der darauf beruhenden Passage in der Missa Ave regina celorum so interpretiert werden. Auch sind es wohl die 54 Vgl. Anm. 41. Taktangaben folgen gleichfalls der Ausgabe Dufay, Opera omnia (hrsg. von Heinrich Besseler, Bd. 6, rev. von David Fallows). Vgl. die dortigen kritischen Berichte und zu Bd. 6 David Fallows, The Songs of Guillaume Dufay  : Critical Commentary to the Revision of Corpus Mensurabilis Musicae, Serie 1, Bd. VI (Musicological Studies & Documents 47), Stuttgart 1995. 55 Von Du Fays Chansons, insbesondere von den frühen, konnte hier nur notgedrungen selektiv eine Gruppe besonders prägnanter bzw. eklatanter Fälle, die über eine momentane Färbung hinausreichen, zusammengestellt werden. Du Fay verwendet in sehr vielen Chansons an der einen oder anderen Stelle »Moll-Terzen« und »Leittöne« (z. B. Dona gentile T. 25f.; Se la face ay pale, T. 14  ; La plus mignonne de mon cueur, T. 24  ; Franc cueur gentil, T. 7 usw.) oder andere klanglich frappierende Wendungen (z. B. Je languis en piteux maniere, T. 13). Auch eine vermutlich sehr späte Chanson wie Belle vueilles moy vengier weist gleich in T. 3 ein frappierendes f ♯ auf, doch ist es nicht mit Sicherheit zu sagen, ob Mollklänge in diesem Stück nicht ohnehin in Anpassung an b ♭ und e ♭ in den Unterstimmen auch in der Oberstimme dominieren. 56 Dazu Graeme M. Boone, Patterns in Play  : A Model for Text Setting in the Early French Songs of Guillaume Dufay, Lincoln, Nebraska, 1999.

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Wolfgang Fuhrmann

beiden Ausrufe »Helas« (Oh weh  !) zu Beginn der Chansons Helas ma dame und Helas mon deuil, die die Vertonungsstrategie mit einer verminderten Quarte herausgefordert haben.57 Andere Passagen werfen hingegen Interpretationsfragen auf  : So lässt sich in O beate Sebastiane die Berufung auf »fides tua« (dein Glaube) nur indirekt – nämlich als Kausalursache – auf das Märtyrertum des Heiligen beziehen, während die anderen durch Moll-Klänge hervorgehobenen Textzeilen eher emphatische Anrufungen unterstreichen  ; zudem hat Karol Berger dafür argumentiert, dass Du Fay hier (zumindest in der durch I-MOe MS α.X.1.11 überlieferten Fassung) durch die Häufung von Akzidentien eben den Märtyrertod durch Pfeilwunden symbolisieren wollte, es sich hier also eher um »Augenmusik« handelt.58 Auch der Passage von der Menschwerdung Christi in der Missa Sancti Jacobi kann ein vergleichbarer Symbolismus unterstellt werden  : Mit der Inkarnation begibt sich Christus in das Reich der Verwundbarkeit und des Schmerzes. Ebenso vorsichtig muss mit der Mollpassage in Donnés l’assault umgegangen werden, einem offenbar ironischen oder sogar satirischen Stück, in dem der »Angriff auf die Festung« der (offenbar abgeneigten) Dame durch pseudo-militärische »Signalfiguren« der Unterstimmen unterstützt wird. Aber selbst wenn man die Interpretation so weit spannt, muss zugegeben werden, dass in anderen Kompositionen Du Fays eine solche Identifikation von Mollklängen mit negativem Affekt nicht plausibel gemacht werden kann. Das gilt vor allem für Mess-Sätze, so für einige vergleichsweise frühe Stücke wie das Gloria-Credo-Paar Nr. 5 in Besselers Ausgabe, die erste unter den in der Tabelle angeführten Credo-Stellen der Missa Sancti Jacobi, die geradezu architektonisch wirkende Abfolge von »Moll«- und »Dur«Abschnitten in O proles Hispaniae/O sidus Hispaniae, aber auch noch für ein vergleichsweise spätes Werk wie die Missa Ecce ancilla Domini. Die hier vertonten Textpassagen suggerieren sicher keine »Mollsemantik«. Sie erklären sich eher aus der Bemühung um eine klangliche »varietas«, sofern sie nicht direkt konstruktiven Überlegungen folgen wie 57 Wulf Arlt, »Musik und Text«, in  : Die Musikforschung 37 (1984), S. 272–280, erklärt im Hinblick auf Helas mon deuil, »daß im textgeprägten Gestus des Cantus – um es provozierend zu formulieren – ein klagendes Ich der Dichtung unmittelbar ins Bild tritt« (S. 272). Alejandro Enrique Planchart, »Notes on Guillaume Du Fay’s Last Works«, in  : Journal of Musicology 13 (1995), S. 55–72, hier S. 63, betrachtet den (dritten) Tropus in Ave regina celorum III mit seiner unharmonischen verminderten Quarte sogar als »a near quotation of the opening« von Helas mon dueil. (Zum Text dieser Chanson vgl. auch Nicoletta Gossen, »Helas mon dueil, a ce cop sui je mort  : Allgemeines und Besonderes in einem Chanson-Text von Guillaume Dufay«, in  : Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 14 (1990), S. 37–57.) Zu Hélas ma dame vgl. die Kontroverse über die Frage, ob dieses Stück eine »dominantische Tonalität« auspräge  : Besseler, Bourdon und Fauxbourdon, S. 38–43, 2. Auflage, S. 39–43, und Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel 1968, S. 74–77. Besseler lehnte übrigens in diesem Zusammenhang eine semantische Deutung von Dur und Moll für die Zeit um 1430 mit Verweis auf das von ihm postulierte Prinzip der Terzfreiheit ausdrücklich ab (S. 44  ; 2. Aufl. S. 43). 58 Karol Berger, »The Martyrdom of St Sebastian  : The Function of Accidental Inflections in Dufay’s O beate Sebastiane«, in  : Early Music 17 (1989), S. 342–357.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

etwa die Passage in Nuper rosarum flores. Sie sind offenbar »causa pulchritudinis«, aber nicht »causa textus« gesetzt worden. Wie wäre dies zu erklären  ?

5.

Meine Vermutung ist, dass Du Fay hier zwischen zwei ausdruckstechnischen Epochen steht. Es wurde schon angedeutet, dass das ausgehende 14. und frühe 15. Jahrhundert Musik von einer Akzidentienfülle und Chromatik kannte, gegen die Du Fays eigene Werke zurückhaltend erscheinen. Und blickt man noch auf die Werke seines (freilich älteren) Zeitgenossen Guillaume Legrant, dann zeichnen sich diese durch eine geradezu exzessive Chromatik aus, deren »relationes non harmonicae« weit über alles Zeitgenössische hinausreichen und eine Brücke zurück bis zur Ars subtilior schlagen. Wenn es stimmt, dass imperfekte Konsonanzen im frühen 15.  Jahrhundert eher als Spannungsmoment wahrgenommen wurden denn als Wohlklang, dann ist damit auch etwas über die Ästhetik dieser Kunst gesagt.59 Das gilt für die beiden Gloria-Sätze und das (in Oxford 213 mit der Jahreszahl 1426 versehene) Credo, in etwas milderer Form auch für Legrants Chansons.60 So findet sich beispielsweise die direkte melodische Folge a-g-bas-g-fis-g in der Oberstimme am Ende eines Duetts des ersten Gloria (Notenbeispiel 4, T. 42–44), das zumindest in einer Quelle – GB-Ob MS. Canon. Misc. 213 – notengetreu so überliefert ist (Legrant war von 1418 bis mindestens 1421 Sänger der päpstlichen Kapelle). In der durchgehenden Diatonisierung des Tonsatzes, die sich unter anderem dem englischen Einfluss auf dem Kontinent verdankte, gewann Akzidentiensetzung ein ganz anderes Gewicht. »Musica ficta« und »relationes non harmonicae« erlangten dort, wo sie noch zum Einsatz kamen, eine besondere Signalwirkung  ; die durch sie mit Spannung aufgeladenen Klänge ließen das Ohr aufmerksam werden. Und wenn nicht alles täuscht, wurden sie zunächst vor allem dazu genutzt, bestimmte Passagen rhetorisch hervorzuheben, ohne besondere Rücksicht auf deren Affektgehalt. 59 Brothers, Chromatic Beauty, S.  190  : »Helas ma dame demonstrates also the continuing importance, even now, in Du Fay’s mature songs of the mid-1420s, of thirds as markers of harmonic tension. Much later in the century, Tinctoris will recommend thirds for decorating sonorities  ; that way of thinking represents a completely different assessment of the interval.« Brothers verweist auf Tinctoris, Liber de arte contrapuncti, I, c. 4  : »Siquidem quaelibet tertia sive perfecta sive imperfecta sive superior sive inferior fuerit, per se suavissima est omnibusque notis tam extremis quam mediis consonantissime accomodabilis.« (Hrsg. von Albert Seay, hier zitiert nach http://www.chmtl.indiana.edu/tml/15th/TINCPT1). Meines Erachtens lässt sich diese Um- bzw. Aufwertung der imperfekten Konsonanzen aber deutlich früher datieren, und zwar im Gefolge des englischen Einflusses auf den Kontinent ab etwa 1415. Vgl. dazu Abschnitt 6. 60 Die Messsätze (und die weltlichen Werke) sind ediert in Gilbert Reaney (Hrsg.), Early Fifteenth-Century Music 2 (= Corpus mensurabilis musicae 11,2), o. O. 1959, S. 53–66.

85

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Notenbeispiel 4: Guillaume Legrant, Duo aus Gloria 1 (Quellen: I-AO 15 (A), fol. 63v—64r | GB-Ob MS. Canon. Misc. 213 (O), fol. 104v–105r | I-Bc Q.15 (Q), fol. 57v—58r | I-TRbc MS 1379 [92] (T), fol. 74v—75r, originale Foliierung)61

Johannes Ciconias Credo 2 vertonte in der Phrase »ex Maria virgine, et homo factus est« (T.  67–70) die Worte »et homo« unter Verwendung zweier parallel verschobener Dreiklänge (nach heutiger Terminologie  : Es-Dur und D-Dur)  ; und vermutlich findet sich in »simul adoratur« (T. 130f.) dazu eine Parallele.62 Dass Ciconia die entscheidende Passage der Menschwerdung Christi durch dieses ungewöhnliche, ja drastische Mittel unterstrich – wobei er die daraus zwangsläufig resultierende, in der Theorie eigentlich schon seit längerem obsolete Quintparallele offenbar billigend in Kauf nahm  –, ist ein frappierender Befund. Ein spezifischer und gar negativer Affekt kann ausgerechnet dieser Passage aber nicht unterstellt werden. Und selbst die bewusste Hervorhebung dieser Glaubenstatsache 61 Akzidentien finden sich nur in den jeweils angegebenen Quellen) 62 The Works of Johannes Ciconia (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century 24), hrsg. von Margaret Bent und Anne Hallmark, o. O. 1985, S. 6–12.

86

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

erscheint als eher zweifelhaft, denn eine ganz analoge Fortschreitung – bei der allerdings in der Quelle mit Akzidentien sparsamer umgegangen worden ist  – findet sich bei der textlich durchaus nicht zentralen Aussage über den Heiligen Geist, dass er mit Vater und Sohn gemeinsam angebetet wird (»simul adoratur«). Zwar war das Verhältnis des Heiligen Geistes zu den beiden anderen göttlichen Personen bekanntlich einer der großen theologischen Streitpunkte der Christenheit – auf unterschiedliche Standpunkte in dieser Frage ist ja die Spaltung zwischen westlich-katholischer und östlich-orthodoxer Kirche zurückzuführen, die gerade im 15. Jahrhundert mehrfach, wenn auch letztlich vergeblich, zu beheben versucht wurde  ; hätte Ciconia aber diesen Punkt unterstreichen wollen, so wäre das »qui ex Patre Filioque procedit«, der eigentliche Stein des Anstoßes, zweifellos die geeignete Stelle gewesen. Just diese Passage hat Du Fay aber in seinem Credo 5 unterstrichen. Und überhaupt fällt auf, dass etliche der so hervorgehobenen Passagen bei Du Fay sich mit dem Verhältnis der drei göttlichen Personen befassen (etwa im Credo 5 und der Missa Sancti Jacobi auch die Passagen über das Verhältnis von Gott, Vater und Sohn). Du Fay nutzt also »Moll«-Klänge auch, um überhaupt Aufmerksamkeit auf eine Passage zu lenken. Eine stringente Systematik lässt sich dahinter nicht erkennen, und womöglich haben rein ästhetische Erwägungen wie die Suche nach klanglicher »varietas« eine ebenso große Rolle gespielt wie textbezogene (und dazu wären wohl auch noch nicht mehr rekonstruierbare Bedingungen der Aufführungspraxis, der Kontexte und Auftraggeber sowie des vorherrschenden Geschmacks in Rechnung zu stellen). Ob beispielsweise die Verwendung einer direkten verminderten Quarte fis-b im Alleluja. V. Ora pro nobis von Reginald Lieberts Missa de beata virgine gerade bei dem Namen »Maria« (T. 40) Signalfunktion hat oder doch nur beliebig bleibt, muss dahingestellt bleiben.63 Eine mögliche Parallele zur Dur-Moll-Semantik bei Du Fay stellt hingegen ein Gloria von Estienne Grossin (fl. 1418–1421) dar, von dessen Popularität seine Überlieferung in gleich vier Hauptquellen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeugt und dessen Vertonung des »miserere nobis« (T. 38–42 bzw. 54–58) möglicherweise Berührungen mit Du Fays Flos florum aufweist. Angesichts der ziemlich widersprüchlichen Überlieferung der Quellen nicht nur in der Akzidentien-, sondern auch in der Vorzeichensetzung, bei der es sich um schreiberische Nachlässigkeiten, aber auch um »schreiberische Initiative« handeln könnte, ist jedoch die Konfrontation von Dur- und Moll-Klängen innerhalb der blockhaften Fermatenakkord-Passagen einigermaßen schwer zu erhärten (Notenbeispiel 5)  : So weist die Handschrift I-AO 15 »Durklänge« zu Beginn der ersten Phrase (so implizit auch I-TRbc MS 1374 [87] und I-Bu MS 2216) und am Ende der zweiten Phrase auf, während I-Bc Q.15 ein e molle in T. 40 vorzeichnet. Weitere sind möglicherweise 63 Ediert in Reaney (Hrsg.), Early Fifteenth-Century Music 3, S. 75–77. Das Stück ist nur in Trient 92 überliefert. Vgl. auch die noch frappierenderen Chromatismen in T. 53–60. Die verminderte Quarte tritt, wenn auch nicht in direkter melodischer Abfolge, auch im Offertorium desselben Werks (Edition, S. 86–88, T. 5 und 27f.) und im Sanctus (S. 88–92, T. 25f. und 43f.) auf.

87

Wolfgang Fuhrmann

durch die mi contra fa-Regel impliziert  ; nimmt man vor diesem Hintergrund die Überlieferung in I-AO 15 als die autoritative an, käme die Konfrontation von »Dur«- und »Moll«-Klängen mit den daraus folgenden »relationes non harmonicae« der Strategie von Flos florum auffallend nahe.64 (Dass Grossin im Gegensatz zu Legrant und Du Fay nie in Italien gewesen zu sein scheint, erklärt die stärker divergierende Überlieferung der Akzidentien ein wenig.) kein b : U, T Schlüssel Terz zu hoch: T

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Notenbeispiel 5: Etienne Grossin, Gloria, T. 38–42 bzw. 54–58 (Quellen: I-AO 15 (A), fol. 76v—77r | I-Bc Q.15 (Q), fol. 100v—101r | I-TRbc MS 1374 [87] (T), fol. 2v—3r | I-Bu MS 2216 (U), 13v—14r)65

64 Das Werk ist ediert ebd., S. 46–49, allerdings unter Konflation der durchaus unterschiedlichen AkzidentienPolitik der Quellen. 65 Akzidentien finden sich nur in den jeweils angegebenen Quellen. Kleine Differenzen in der Überlieferung der Dauernwerte (inklusive zusätzlicher Pausen) wurden ignoriert  ; wir folgen dem rhythmischen Befund in I-Bc Q15.

88

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Wenn sich der Befund überhaupt zusammenfassen lässt, dann erscheint die hier angesprochene Verwendung von »Moll«-Klängen, unharmonischen Relationen usw. entweder als ein geradezu beliebig angebrachter Schmuck ohne Textbezug, oder aber (und dies, wie es scheint, zunehmend) als ein Mittel der Emphase, der rhetorischen Unterstreichung eines wichtigen Worts oder einer zentralen Phrase – dies aber ohne eindeutige positive oder negative Affekt-Kodierung. Und schließlich wird bei Grossin und Du Fay eine Verwendungsweise von »Dur«- und »Moll«-Klängen merklich, die uns an die aus der neueren Musik vertraute Polarisierung erinnert. Du Fays Akzidentiensetzung, insbesondere sein Gebrauch der »relatio non harmonica«, bewegt sich zwischen den Polen eines klanglichen Schmucks im Sinne der »varietas« und einer semantischen Aufladung.

6.

Als Bernhard Meier vor nun schon über vier Jahrzehnten sein großes Buch Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie mit einem Kapitel über »›Dur‹- und ›Moll‹-Klänge in der Musik des 16. Jahrhunderts« beendete, da glaubte er, die Anfänge dieser Kontrastsemantik im frühen 16. Jahrhundert, und zwar vor allem in Josquins Stabat mater, erkannt zu haben.66 Wie die gerade diskutierten Beispiele zeigen sollten, reichen die Anfänge dieser Semantik vielmehr bis ins frühe 15. Jahrhundert zurück. Dennoch sind Meiers Thesen auch hier gültig. Sie lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen  : 1. Im Laufe der sogenannten Renaissance bildet sich eine geschärfte Wahrnehmung für den ästhetischen Unterschied von Klängen mit großer oder aber kleiner Terz bzw. Dezime über dem Grundton heraus. Im 16. Jahrhundert wird dies in der Musiktheorie vielfach thematisiert. Pietro Aron bezeichnet 1520 den »Durdreiklang«, wie wir ihn vereinfacht nennen wollen, als »gratissimus auribus concentus«, einen dem Gehör höchst erfreulicher Zusammenklang.67 Nicola Vicentino (1555) ist wohl der erste, der explizit von einer emotionalen Semantik von »Dur« und »Moll« spricht, diese aber zugleich mit weiteren kompositorischen Merkmalen (gleichsam als Abweichungsverstärkung) verbindet  : Damit eine Komposition »heiter« (allegra) klinge, müsse man die große Terz bzw. Dezime mit »gradi incitati«, was wohl soviel heißt wie großen Intervallen und schneller Bewegung verbinden  ; für traurige Musik (Vicentino spricht von »compositione malenconica«, attestiert also als möglicherweise erster Musiktheoretiker der Musik das Vermögen, Melancholie auszu66 Bernhard Meier, Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie, Utrecht 1974, S. 388–403, und Anmerkungen, S. 451f. 67 Folgerichtig erhöht Aron in den Beispielen zur Konsonanzfortschreitung seines De institutione harmonica am Ende jedes Beispiels die kleine Terz akzidentiell zur großen. Pietro Aron, Libri tres de institutione harmonica, Bologna 1516, III, c. 30 und 48, fol. Giir–v und Hir–v.

89

Wolfgang Fuhrmann

lösen bzw. darzustellen, statt sie zu vertreiben) habe man »moto tardo«, »gradi molli« und »le consonanze minori« zu verwenden, also langsame Bewegung, kleine melodische Intervalle und Konsonanzen mit kleiner Terz/Dezime.68 Ähnliche Aussagen finden sich wenig später auch bei Gioseffo Zarlino und Pietro Pontio.69 Dass hier Vicentino den Terminus »Moll« auf melodische Fortschreitungen anwendet statt auf die Zusammenklänge, weist einmal mehr auf die zahlreichen unterschiedlichen Verwendungen der Termini Dur und Moll hin, wie sie Carl Dahlhaus aufgezeigt hat.70 Entscheidender als die Terminologie ist aber die Tatsache, dass hier die Klänge als Ausdrucksphänomene eines Affekts verstanden werden und dass sie sich mit anderen kompositorischen Verfahren – langsame vs. schnelle Bewegung, kleine vs. große melodische Intervallik – wechelseitig verstärken und so zu einem bipolaren Ausdrucksmodell anordnen lassen.71 Die Zuordnung von Konsonanz und Dissonanz zu diesen Polen findet sich etwa gleichzeitig in der (vor allem madrigalistischen) Praxis. 2. Zu Recht weist Meier darauf hin, dass es sich hier keineswegs um die moderne Polarität von Dur- vs. Molltonart handelt. Die tonale Grundlage der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts bildet nach wie vor die Moduslehre, auch wenn im späteren 16. Jahrhundert, nach Glareans Dodekachordon, Uneinigkeit darüber herrscht, ob es nun acht oder zwölf Modi seien. Dur- und Mollklänge sind nicht Teil einer Tonart, sondern lokale Phänomene. Ohnehin lassen sich »harmonische« Phänomene im weitesten Sinne, die kompositorische Akzentuierung von Klängen und Klangverbindungen, in dieser Zeit nur als Lokaleffekte, oft mit einer textausdeutenden Funktion, erkennen, nicht aber als theoretische Grundlage der Komposition.72 Dass es sich hier um eine kasuelle, nicht auf Regeln zu bringende Verfahrensweise handelt, erklärt vermutlich, warum die Theorie der kompositorischen Praxis so ungewöhnlich lange hinterherhinkt, denn zwischen Du Fays Flos florum und Vicentinos Ausdruckstheorie liegen mehr als hundert Jahre. Dur und Moll wandeln sich vom ausgehenden 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert von bloß akzidentiellen Phänomenen zu substanziellen. Meier schreibt  :

68 Nicola Vicentino, L’antica musica ridotta alla moderna prattica, Rom 1555 (Faksimile hrsg. von Edward E. Lowinsky [= Documenta musicologica 17], Basel – Kassel 1959), IV, c. 21, fol. 81v-82r. 69 Meier, Tonarten, S. 389–391. Vgl. den Beitrag von Timothy McKinney in diesem Band. 70 Carl Dahlhaus, »Die Termini Dur und Moll«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 12 (1955), S. 280–296. 71 Vgl. auch Anm. 73. Dass in der kompositorischen Praxis die Phänomene oft differenzierter behandelt wurden, ist schon Vicentino klar, wenn er erklärt, dass rasche Bewegungen auch bei consonanze minori heiter wirken können (Meier, Tonarten, S. 390). Ebenso ist Vicentino bewusst, dass Komponisten oft gegen diese Ausdrucksregeln verstoßen und dass Sänger die Wirkung langer Noten durch Diminutionen ruinieren. 72 Wolfgang Fuhrmann, »Harmonik im 15.  Jahrhundert«, in  : Angelika Moths u. a. (Hrsg.), Musiktheorie an ihren Grenzen  : Neue und Alte Musik. 3. Internationaler Kongress für Musiktheorie, 10.–12. Oktober 2003, Bern u. a. 2009, S. 243–288.

90

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

»Die Musik des 16.  Jahrhunderts trägt also in sich gleichsam schon die Keime dessen, was dann im Lauf des ›krisenhaften‹ 17. Jahrhunderts die Grundlagen des altüberlieferten Systems der Modi aufgelöst hat  ; nicht anders, als die Anfänge moderner ›Atonalität‹ sich schon in der Musik des 19. Jahrhunderts finden. Hier wie dort aber erwächst das ›zukunftsträchtige‹ Neue zunächst nicht im Widerspruch zum Überlieferten, sondern gleichsam an dessen Rand […]«.73

3. Da in jedem Modus Dur- und Molldreiklänge gebildet werden können, kommt es im Falle einer intendierten Kontrastsemantik darauf an, Strategien der Aufmerksamkeitserregung zu entwickeln. Man könnte hier an Vicentinos Empfehlungen zur »Abweichungsverstärkung« – die Kopplung von »Dur« oder »Moll« mit Bewegungstypen und Intervallfortschreitungen  – erinnern. Meier nennt zudem »die Einführung des Satzes nota contra notam (oder einer diesem nahekommenden Satzweise), die ungewöhnlich feste, orgelpunktartige Führung der Baßstimme oder auch die ›imitatio tubarum‹.«74 Bei Du Fays Flos florum greift eine solche Strategie in der Schlusspassage  : Bleibt die »spes veniae«-Stelle vom Beginn vergleichsweise diskret, so wird in den letzten Takten durch den Texturwechsel und den sehr konsequenten Einsatz von nicht weniger als acht Akzidentien auf engstem Raum den Hörern (und Sängern) der Affektkontrast gewissermaßen auf dem Tablett serviert.

7.

Im Folgenden sollen einige weitere Beispiele für Dur-Moll-Kontraste im 15. (und frühen 16. Jahrhundert) angeführt werden, um die These einer Korrespondenz zwischen dem Gebrauch dieser Klänge und einer intendierten affektiven Wirkung zu unterstreichen. Zunächst ein weiteres Beispiel von Du Fay, das etwas knapper behandelt sei, weil es ohnehin berühmt ist  : Die Motette Ave regina celorum … Miserere tui, vermutlich 1464 komponiert (also mindestens dreißig Jahre nach Flos florum), die laut Du Fays eigenem, testamentarisch verfügtem Wunsch an seinem Sterbebett gesungen werden sollte (auch wenn das dann am 27. November 1474 aus logistischen Gründen leider nicht geklappt hat).75 Überliefert ist dieses heute so vielzitierte Werk nur in einer einzigen Quelle, einem Chorbuch des Petersdoms.76 Auf den ersten Blick handelt es sich um die polyphone Bearbeitung einer Marienantiphon, wie sie im 15.  Jahrhundert zu Dutzenden komponiert wurden. Doch unterscheidet sich Dufays Ave regina von allen anderen dadurch, 73 Meier, Tonarten, S. 402. 74 Ebd., S. 394. 75 Craig Wright, »Dufay at Cambrai  : Discoveries and Revisions«, in  : Journal of the American Musicological Society 28 (1975), S. 175–229, hier S. 219. 76 I-Rvat MS S. Pietro B.80, fol. 25v–27r.

91

Wolfgang Fuhrmann

dass auf jeden der Doppelverse ein textlich und musikalisch freier Einschub erfolgt, ein Tropus, in dem der Komponist selbst um Erbarmen der Himmelskönigin angesichts seiner Todesstunde fleht. Zwei von diesen Stellen – m i n d e s t e n s zwei, wenn man die schlechte Quellenlage bedenkt  – sind durch einen ausgesprochenen Mollcharakter charakterisiert. In beiden tritt wiederum das Wort »miserere« als Affektträger stark hervor. So heißt es im ersten Einschub drastisch genug  : »Miserere tui labentis Du Fay/Peccatorum non ruat in igne fervorum« – »Erbarme Dich Deines sündigen Du Fay, damit er nicht ins Feuer der Sünder stürze«. Hier folgt auf die lockere Symmetrie der beiden einleitenden Duette zwischen Sopran – Alt und Alt – Bass, die die beiden ersten Zeilen der Choralmelodie paraphrasieren, der Tropus ausgerechnet mit dem Einsatz des eigentlichen »cantus firmus« im Tenor und dem Erreichen der realen Vierstimmigkeit (Notenbeispiel 6).

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Notenbeispiel 6: Guillaume Du Fay, Ave regina celorum III, T. 21–26 (Quelle: I-Rvat MS S. Pietro B.80, fol. 25v–27r)

Mit dramatischem Effekt setzt die höchste Stimme eine kleine Dezime über dem c des Tenors ein, also auf der Mollterz es, worauf sich die melodische Linie über genau diese kleine Dezime hinunterschwingt  – ein Abstieg, der unzweifelhaft wiederum eine Demutsgeste symbolisiert und der in der Originalbesetzung wohl trotz der Stimmkreuzung mit Alt und Tenor in T. 25 bzw. 26 klangfarblich prägnanter geriet als in den meisten modernen Wiedergaben des Stücks.77 Denn laut Du Fays Angaben war die Oberstimme von Chorknaben der Kathedrale von Cambrai auszuführen, die drei Unterstimmen jeweils von einem erwachsenen Sänger. 77 Auch bei diesem Stück sieht Besseler, Bourdon und Fauxbourdon, S.  44 (2. Aufl. 43) keine Mollsemantik, sondern erklärt  : »[Das Stück] schöpft aus der Terzfreiheit Harmoniewirkungen von großartig kühner Farbenpracht«.

92

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Noch bemerkenswerter ist die Kontrastwirkung beim zweiten hier zu erörternden »Miserere«-Tropus (eigentlich der dritte). Die syllabische Vertonung und die Imitation zwischen den Oberstimmen, nicht zuletzt aber die Wendung zur Mollklanglichkeit stellen einen Bruch mit der vorangegangenen Textur dar und heben die Stelle dramatisch vom Vorangehenden ab. Auch hier spielt die verminderte Quarte, hier es-h, melodisch eine bedeutende Rolle. Die etwas periphere Überlieferung in dem römischen Chorbuch legt es allerdings nahe, gerade in der Akzidentiensetzung die Zweitüberlieferung dieser Stelle als Kryptozitat im Agnus Dei 2 von Du Fays Missa Ave regina celorum zu berücksichtigen (Notenbeispiel 7).78 100

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Notenbeispiele 7a und b a: Du Fay, Missa Ave regina celorum, Agnus II, T. 107–127 (Quelle: B-Br MS 5557, fol. 119v–120r; nach Wegman, Miserere supplicanti [wie Anm. 78], S. 33) b: Du Fay, Ave regina celorum III, T. 95–111

In seinem relativ freien Einsatz von Akzidentien »causa pulchritudinis« oder auch »causa textus« erwies sich Du Fay (wie etwa auch sein Zeitgenosse Gilles Binchois) der Tradition des 14. und frühen 15. Jahrhunderts verpflichtet. Mit der um die Jahrhundertmitte auftretenden neuen Komponistengeneration um Johannes Ockeghem und Antoine Busnoys wird dagegen die durch die englische Musik eingeleitete Diatonisierung des Tonraums vorherrschend, die auch mit einer stärkeren Anbindung an die Modalität des Chorals

78 Rob C. Wegman, »Miserere supplicanti Dufay  : The Creation and Transmission of Guillaume Dufay’s Missa Ave regina celorum«, in  : The Journal of Musicology 13 (1995), S. 18–54, hier S. 31–34, eine synoptische Edition der Passage auf S. 33.

93

Wolfgang Fuhrmann

einhergeht.79 Eine sehr bemerkenswerte Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang allenfalls Johannes Regis dar, dessen (geistliche) Musik die Freiheit der Akzidentiensetzung der Du Fay-Ära fortführt und zudem oft, wie es scheint, aus eindeutig klanglichen Erwägungen heraus.80 Allerdings sind diese, soweit ich sehen kann, nicht von einer textgezeugten Dur-Moll-Semantik veranlasst. Sucht man nach weiteren Beispielen für Mollwendungen in der Musik des 15. Jahrhunderts, wird man eigentlich erst wieder bei Josquin Desprez fündig. Einleuchtende Analysen von Josquins Stabat mater und Huc me sydereo finden sich bei Meier.81 Ich weise nur auf eine der frappierendsten Passagen im erstgenannten Stück hin, nämlich die Takte 131–135, in denen mittels eines e ♭ »c-Moll«-, »g-Moll«- und »d-Moll«-Klänge (mit einem einzigen kurz interpolierten B-Dur-Klang) direkt aufeinanderfolgen und damit der Anrufung Worte »Fac me tecum plangere« (Lass mich mit Dir weheklagen) Ausdruck verleihen (Notenbeispiel 8).

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Notenbeispiel 8: Josquin Desprez, Stabat mater, T. 131–136 (nach New Josquin Edition 25: Motets on Non-Biblical Texts 5: De beata Maria virgine 3, hrsg. von Willem Elders, Utrecht 2009, S. 45)

Weitaus schwieriger ist es hingegen, Durklänge mit semantischem Potenzial in der Musik des 15. Jahrhunderts aufzuspüren. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass tendenziell Akzidentien eher im B- als im Kreuz-Bereich gesetzt wurden, Terzen also eher erniedrigt als erhöht wurden. Ein Durkontrast innerhalb von Mollklängen wurde 79 Vgl. Brothers, Chromatic Beauty, S. viii, der von einem »marked dropping off of expressively charged accidentals in songs by Okeghem, Busnoys and their contemporaries« spricht und dies in Verbindung mit der Theorie einer polyphonen Modalität bei Tinctoris bringt. 80 Vgl. Sean Gallagher, Johannes Regis, Turnhout 2010, vor allem S. 124–131 und 153f. 81 Meier, Tonarten, S. 392f. und 394.

94

»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

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Notenbeispiel 9: Beginn von Josquin Desprez/Nicolas Champion, De profundis, T. 1–16 (nach The Motet Books of Andrea Antico, hrsg. von Martin Picker, Chicago 1987 [= Monuments of Renaissance music 8], S. 67)

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Wolfgang Fuhrmann

daher zumeist eher innerhalb der reinen Diatonik angesiedelt, also jenseits von »musica ficta«. Das erschwert die Deutung. Ein Werk, bei dem sich dafür argumentieren lässt, dass hier »Dur«-Klänge bewusst herausgestellt wurden, ist die Psalmmotette De profundis, die von so kompetenten Zeitgenossen wie Ludwig Senfl und Andrea Antico Josquin zugeschrieben wurde, wahrscheinlich aber von dem weit obskureren Nicolaus Champion stammt – was für uns hier keine Rolle spielt.82 Der Beginn dieses Werks setzt den Text des sechsten Bußpsalms83 jedenfalls in beeindruckender Weise um, wobei die Modalität für den gleichsam natürlichen Mollcharakter bürgt (Notenbeispiel 9). Die Worte des Beginns lauten übersetzt »Aus der Tiefe habe ich zu Dir geschrien, o Herr« – wobei die »Tiefe« durchaus im lutherischen Sinn als »aus tiefer Not« zu verstehen ist. Dies wird hier durch die Tiefe des Tonraums versinnlicht  : Die fallende Quinte springt im von oben nach unten gestaffelten Einsatz der ohnehin tiefen Stimmen immer weiter nach unten, der stilistisch höchst ungewöhnliche kleine Sextsprung aufwärts im unmittelbaren Anschluss malt das »clamavi« fast madrigalistisch aus. Der letzte Quintfall, im Bass, erreicht zugleich den tiefsten Ton, der in diesem Stück überhaupt berührt wird, und zwar zum ersten und letzten Mal. Von nun an geht es, sozusagen, aufwärts. Nur am Rande erwähnt werden kann die intrikate modale Struktur dieses Stücks, das, scheinbar im dorischen Modus auf d beginnend, tatsächlich e zum tonalen Zentrum hat.84 Von Interesse sind die letzten Sätze des Psalms. Dieser vollzieht einen Stimmungswandel von der anfänglichen Verzweiflung des aus der Tiefe Rufenden, um Erhörung Flehenden hin zu einem Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit, zugleich vom sündigen Ich zum kollektiven Wir  : »Et ipse redemit Israel ex omnibus iniquitatibus eius« – »Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.« Gerade auf das »aus allen seinen Sünden« stimmt nun der Komponist einen C-Dur-Klang über einem Orgelpunkt an – er vertont offensichtlich nicht (wie später viele Komponisten) das Konzept »Sünde«, sondern die Bedeutung des gesamten Satzes (Notenbeispiel 10). Und der eigentliche Psalm schließt, bevor mit dem »Gloria patris« die sogenannte Doxologie ihr liturgisches Gewohnheitsrecht behauptet, mit einer emphatisch hellen Kadenz auf C, dem zuvor nur selten erreichten Spitzenton des Superius, in einem Klangraum, der gut um eine Oktave über jenem des Beginns liegt. Zwar ist c als repercussio

82 Siehe zusammenfassend Patrick Macey, »Josquin and Champion  : Conflicting attributions for the Psalm Motet De profundis clamavi«, in  : Uno gentile et subtile ingenio  : Studies in Renaissance Music in Honour of Bonnie J. Blackburn, hrsg. von M. Jennifer Bloxam und Gioia Filocamo, Turnhout 2009, S. 453–468. 83 Psalm 129 nach der Vulgata, 130 nach der hebräischen und protestantischen Zählung 84 Glarean hat dies mit dem lateinischen Adagium »A dorio adphrygium« in Verbindung gebracht, vgl. Heinrich Glarean, Dodekachordon, Basel 1547, S. 91 und 364. Vgl. auch Bernhard Meier, »The Musica Reservata of Adrianus Petit Coclico and Its Relationship to Josquin«, in  : Musica disciplina 10 (1956), S. 67–105, vor allem S. 72–74.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

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Notenbeispiel 10: Josquin/Champion, De profundis, T. 120–134 (The Motet Books, S. 73f.)

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Wolfgang Fuhrmann

durchaus eine typische Kadenzstufe des dritten (phrygischen) Modus, hier aber scheint mir der Klang aus semantischen Gründen herausgestellt. Diese Beispiele, die sich – freilich um nicht allzu viele – vermehren ließen, belegen, dass sich die Dur-Moll-Semantik im Laufe des 15.  Jahrhunderts allmählich verfestigt, auch wenn sie, wie die Textausdeutung generell bis etwa 1480, punktuell und wenig systematisch bleibt.85 Warum Komponisten dieser Zeit manchmal bestimmte Textphrasen, einzelne Wörter oder auch generelle Affekte sehr emphatisch zum musikalischen Ausdruck brachten, manchmal aber auch einfach darüber hinwegkomponierten, muss dahingestellt bleiben.

8.

Versuchen wir, ein Fazit zu ziehen und zugleich einen Ausblick zu geben. Im 15. Jahrhundert sind, besonders bei Guillaume Du Fay und Josquin Desprez, erste Ansätze erkennbar, eine textbezogene Dur-Moll-Semantik zu etablieren – Ansätze, die im 16. Jahrhundert aufgegriffen und intensiviert werden sollten. Zugleich gibt es weitere Versuche, das musikalische Material semantisch aufzuladen und affektsteigernd zu manipulieren. So werden wenigstens ansatzweise Versuche deutlich, Dissonanzen expressiv einzusetzen. Meier sieht das etwa in Josquins Huc me sydereo, T. 78–80, realisiert in einem »über dem Baßton b durchgeführtem Skalenmotiv, das ›harte‹ Durchgangsdissonanzen e­ rzeugt«  ;86 ich würde auch das »descendere«-Motiv insbesondere in T. 19–35 so verstehen, das sicherlich in erster Linie tonmalerisch ist, aber in seinem wuchtigen Einsatz gegen einen liegenden Basston (T. 19–24) beziehungsweise in den Reibungen der sich überlagernden Imitationen (T. 25–35) wohl auch den düsteren Affekt dieser Klage des am Kreuze leidenden Christus nachzeichnen soll. Jedenfalls gleicht es satztechnisch auffallend dem Motiv der absteigenden Skala, das in Josquins Psalmmotette Miserere mei deus einige der 21 litaneiartigen Wiederholungen des Eingangsrufs begleitet  : nämlich erstmals T. 58–62 (nach dem Vers »amplius lava me ab iniquitate mea, et a peccato meo munda me«) und dann bei allen Anrufungen des dritten Teils mit Ausnahme der zweiten.87 85 Es ist durchaus möglich, dass es, gerade im Bereich der Mollklänge, mehr Beispiele gegeben hat, die uns durch die Flüchtigkeiten der Überlieferung verloren gegangen sind. Denn Akzidentien sind oft von Quelle zu Quelle unterschiedlich oder fallen ganz weg, die besprochenen Dufay-Motetten bieten dafür Belege. 86 Meier, Tonarten, S. 394. 87 Der Grund dafür, dass gerade auf die Verse »quoniam si voluisses sacrificium dedissem utique holocaustis non delectaberis« in der »tertia pars« die absteigende Skala nicht folgt, ist vermutlich darin zu suchen, dass Josquin dieses in T. 14–18 des Abschnitts erstmal wieder erklingende Motiv gerade in diesem Vers als Soggetto nimmt  ; auch wird dieser dadurch mit dem folgenden zu der theologisch zentralen Aussage (Ablehnung des physischen Opfers) zusammengefasst.

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»Dur« und »Moll« in der Musik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Nur die Chromatik ist, zumindest in der direktesten Form der chromatischen Skala, erst im 16. Jahrhundert dem Ausdrucksrepertoire hinzugefügt worden, bis in die extremen Konsequenzen bei Luca Marenzio und vor allem Carlo Gesualdo. Dur- und Mollklänge ordnen sich somit einem bipolaren Schema ein, das bis in die harmonische Tonalität des 19.  Jahrhunderts hinein zwar stetig verfeinert und angereichert, aber nicht mehr grundsätzlich revidiert worden ist und auch im 20. Jahrhundert (beispielsweise in der Filmmusik) sein Recht behauptet hat  :88 Affekt

Positiv

negativ

Klang

Dur

Moll

Tonsatz

Konsonanz

Dissonanz

Tonsystem

Diatonik

Chromatik

Das 15.  Jahrhundert stellt so die Weichen hin zu einer schärferen Ausprägung von expressiver Detaildeutung in textgebundener Musik und zur Expressivität von Kunstmusik überhaupt. Daran ließe sich die Frage anschließen  : Warum kommt es gerade ab 1420/30, dem Zeitraum, in dem Werke wie Flos florum und Vergene bella entstanden sind, zu ersten Ansätzen einer Semantisierung und Polarisierung von Dur und Moll  ? Wie so viele historische »Warum«-Fragen kann auch diese nur spekulativ beantwortet werden. Ich vermute hier eine Kombination zweier großer historischer Tendenzen  : Zum einen dürfte mit der »contenance angloise«, also dem Strom englischer Musik und Musiker, der im Gefolge der letzten Phase des Hundertjährigen Kriegs die europäische Musikgeschichte nachhaltig geprägt hat, a u c h eine neue Form der Intonation mit importiert worden sein  : eine Intonation, die die große und kleine Terz den Verhältnissen der Naturtonreihe anglich und so diesen »consonantiae imperfectae« einen Verschmelzungsgrad verlieh, der auf dem Kontinent bis dahin unbekannt gewesen war. Ein Beleg dafür ist die ab der Jahrhundertmitte zunehmende Tendenz, Binnenschlüsse, ja sogar Finalklänge mit einer (großen) Terz zu versehen, wo zuvor nur die pythagoreisch sanktionierten Konsonanzen Oktave, Quinte und Quarte als zulässig betrachtet worden waren.89 Gerade indem der »Durdreiklang« als sich schlüssig aus dem immer schon vorhandenen Obertonspektrum entwickelnder Klang dem Hören zur zweiten Natur wurde, konnte der »Molldreiklang« als defizient, schmerzlich, negativ empfunden werden  – und zwar gerade dort, w o e r e i n e m g l e i c h n a m i g e n D u r k l a n g e n t g e g e n g e s e t z t w u r d e . Deswegen geht

88 Vgl. Wolfgang Fuhrmann, »Musikalischer Ausdruck als musikalische Subjektivität. Umrisse einer Theorie«, in  : Ausdruck in der Musik, hrsg. von Jürgen Stolzenberg, Druck in Vorbereitung. 89 Ein ziemlich frühes Beispiel bietet das Salve regina, das neuerdings wiederum (wie ich meine zu Unrecht) Du Fay zugeschrieben wird. Vgl. Fuhrmann, »Harmonik«.

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Wolfgang Fuhrmann

der Dur-Moll-Kontrast nicht von »Tonarten« aus, sondern vom punktuellen, akzidentiellen Wechsel zum Mollklang. Es musste jedoch eine zweite Tendenz hinzukommen, die man der historischen Anthropologie zurechnen darf, um eine solche expressive Durchdringung des musikalischen Materials nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll zu machen  : nämlich eben das Bedürfnis nach Expressivität, d. h. nach der Darstellung oder Vermittlung des affektiven Lebens durch Musik, und wiederum nach psychagogischen musikalischen Wirkungen zurück auf das affektive Leben. Diese Entwicklung ist, wie mir scheint, mit der humanistischen Wiederentdeckung der Rhetorik und der Rezeption der antiken Ethostheorie nur oberflächlich erklärt. Ihr liegt vielmehr ein grundlegendes Interesse daran zugrunde, in der Musik S u b j e k t i v i t ä t ( e n ) z u r e p r ä s e n t i e r e n . Das bekannteste und offensichtlichste Beispiel dafür ist natürlich die Oper und ganz grundsätzlich die Monodie. Aber dieser Prozess einer S u b j e k t i v i e r u n g beginnt bereits in der Polyphonie (mindestens) des 15.  Jahrhunderts.90 So wenig es geleugnet werden soll, dass die Liebesmelancholie in den genannten Chansons Du Fays (und in vielen anderen von ihm und seinen Zeitgenossen) beeindruckenden Ausdruck erfährt, so liegt der Schwerpunkt dieser Subjektivierungstendenz doch, und nicht zufällig, im religiösen Bereich, und hier vor allem in der (Devotions-)Motette. Denn der eigentliche Hintersinn dieser Polarisierung, das wurde an den Beispielen deutlich, ist der mentalitätsgeschichtliche Druck der Suche nach Heils- und Gnadengarantien durch das Subjekt, sei es das kollektive (wie in Flos florum), das sich mit dem Volk Israel identifizieren lässt wie in De profundis, oder aber das einzelne Individuum Guillaume Du Fay. Es scheint, als habe der Druck des spätmittelalterlichen Religionssystems, das ein Übermaß an Sündenbewusstsein produzierte, in der Musik und namentlich in der Motette eine Repräsentation von Subjektivität hervorgetrieben, die sich als Mangelerfahrung  : als Suche nach Erbarmen, als reuiges Flehen, als Melancholie in Moll darstellt, während Dur mit Hoffnung, Gnade und Erlösung assoziiert wurde. Die Polarisierung der musikalischen Techniken zur Kontrastsemantik ist, so scheint es, ein spezifisch spätmittelalterlicher Beitrag zur Ausbildung moderner Subjektivität im musikalischen Medium.

90 Vgl. dazu Wolfgang Fuhrmann, »Subjektivierung von Polyphonie. Die Devotionsmotette im Kontext der Gattungstransformation 1420–1450«, in  : Musikalische Repertoires in Zentraleuropa (1420–1450). ­Prozesse und Praktiken (= Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge 26), hrsg. von Björn Tammen und Alexander Rausch, Wien u. a. 2014, 171–225 (ganzer Band unter  : http://www.boehlau-verlag.com/download/163925/ 978-3-205–79562–9_1_OpenAccess.pdf), sowie demnächst ders., »Musik und Subjektivität in Europa  : Ein historischer Abriss«, in  : Daniel Martin Feige und Gesa zur Nieden (Hrsg.), Musik und Subjektivität. Beiträge zur Ästhetik, Soziologie und Geschichte der Musik (in Vorb.).

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal As early as the 1550s music theorists presented systematic theories that assigned specific expressive meanings to musical intervals and separated the major and minor intervals into opposing categories. These theories of interval affect reinterpreted the concepts of “major” and “minor” as qualities of sound rather than merely as quantities of relative interval size. These new ideas appeared in Nicola Vicentino’s treatise L’antica musica ridotta alla moderna prattica of 1555, and Gioseffo Zarlino’s monumental treatise Le istitutioni harmoniche of 1558.1 Both of these men were influenced by the compositional practice of renowned composer Adrian Willaert.2 For Willaert and his disciples, major intervals were suitable for the expression of “hard” concepts, minor for “soft” ones. “Hard” concepts include things such as happiness, hardness, harshness, roughness, strength or power, and so forth, while “soft” concepts include things such as sadness, softness, sweetness, smoothness, weakness, and so forth. Generally speaking, in the 16th century major and minor effects were created within the structure of a musical composition on a local basis rather than a global one, though it is certainly true as well that the composer’s choice of mode could be influenced by the overall mood of the words to which the music would be composed. That is to say, that while an attempt to emphasize major or minor harmonic quality does interact with the structure of the various diatonic modes, it is not as dependent upon these modes as would be the case within the modern major and minor modes of the common-practice era. It will be useful here to quote Zarlino’s well-known remarks that divide the modes into two expressive categories based upon the quality of the third above the final  : 1 Nicola Vicentino, L’antica musica ridotta alla moderna prattica, Rome 1555, facs. ed. Kassel and Basel 1959  ; translated by Maria Rika Maniates as Ancient Music Adapted to Modern Practice, New Haven and London 1996. Gioseffo Zarlino, Le istitutioni harmoniche, Venice 1558, facs. ed. New York 1965  ; part 3 translated by Guy Marco and Claude Palisca as The Art of Counterpoint, New Haven and London 1968  ; part 4 translated by Vered Cohen as On the Modes, New Haven and London 1983. Citations here from L’antica musica ridotta alla moderna prattica and Le istitutioni harmoniche will be made by book, chapter, and page or folio followed by the page number of the English translation in parentheses  ; e.g., Zarlino, Le istitutioni harmoniche, 3.10, p. 156 (21). The English translations presented here may have been edited to facilitate consistency in terminology. 2 I have examined many ways in which Zarlino’s and Vicentino’s theories of musical expression can be traced back to specific compositional strategies Willaert employed in the Musica nova madrigals  ; see Timothy McKinney, Adrian Willaert and the Theory of Interval Affect  : The ›Musica nova‹ Madrigals and the Novel Theories of Zarlino and Vicentino, Burlington, Vermont 2010.

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“The property or nature of the imperfect consonances is such that some of them are lively and cheerful, accompanied by great sonority  ; and others, although sweet and smooth, tend to be sad and languid. The former are the major third and sixth, with their compounds  ; the latter are the minor forms. All these have the capacity to alter every composition and to make it sad or cheerful, according to their respective natures. This may be seen from the fact that certain compositions are lively and full of cheer, whereas others on the contrary are somewhat sad and languid. In the first named the major imperfect consonances are often heard on the finals or medians of certain modes or tones, namely the fifth, sixth, seventh, eighth, eleventh, and twelfth, as we shall see. These modes are very gay and lively, because in them the consonances are frequently arranged according to the nature of the sonorous number, that is, the fifth is harmonically divided into a major and minor third, which is very pleasing to the ear. […] In the other modes, then, which are the first, second, third, fourth, ninth, and tenth, the fifth [above the final] is […] arithmetically divided by a middle note, in such a way that often one hears the consonances arranged contrary to the nature of the sonorous number. Whereas in the first group [of modes] the major third is often placed beneath the minor, in the second [group of modes] the opposite is true, with a result I can only describe as sad or languid, and which renders the entire composition soft. The effect is heard as often as the particular arrangement is sounded, to suit the nature and property of the mode in which the composition is written.”3

The final line of this quoted passage is very significant. In it, one may see that Zarlino did not believe that musical affect resides in the modes themselves, but rather in the 3 Zarlino, Le istitutioni harmoniche, 3.10, p. 156 (21–22)  : “Il proprio, o Natura delle Consonanze imperfetta è, che alcune di loro sono vive & allegre, accompagnate da molta sonorità  ; & alcune, quantunque siano dolci, & soavi, declinano alquanto al mesto, overo languido. Le prime sono le Terze, & le Seste maggiori, & le replicate  ; & le altre sono le minori. Tutte queste hanno forza di mutare ogni cantilena, & di farle meste, o vero allegre secondo la lor natura. Il che potemo vedere da questo  ; che sono alcune cantilena, le quali sono vive, & piene di allegrezza  ; & alcune altre per il contrario, sono alquanto meste, over languide. La cagione è, che nelle prime, spesso si odena le maggiori consonanze imperfette, sopra le chorde estreme finali, o mezane de i Modi, o Tuoni  ; che sono il Quinto, il Sesto, il Settimo, l’Ottavo, l’Undecimo, & il Duodecimo  ; come vederemo al suo luogo  ; i quali Modi sono molto allegri, & vivi  : conciosia che in essi si odono spesse fiate le consonanze collocate secondo la natura del numero sonoro, cioè la Quinta tramezata, o divisa harmonicamente in una Terza maggiore, & in una minore  ; il che molto diletta all’udito. Dico le Consonanze esser poste in essi secondo la natura del numero sonoro  : percioche allora le consonanze sono poste ne i loro luoghi naturali  ; Onde il Modo è più allegro, & porge molto piacere al sentimento, che molto gode, & si diletta delli oggetti proportionati  ; & per il contrario, hà in odio, & aborisce li sproportionati. Ne gli altri Modi poi, che sono il Primo, il Secondo, il Terzo, il Quarto, il Nono, & il Decimo, la Quinta si pone al contrario, cioè mediata arithmeticamente da una chorda mezana  ; di modo che molte volte si odeno le consonanze, poste contra la natura del Numero sonoro. Per il che, si come ne i primi, la Terza maggiore si sottopone spesse volte alla minore  ; cosi ne i secondi si ode spesse fiate il contrario, & si ode un non sò che di mesto, o languido, che rende tutta la cantilena molle  ; il che tanto più spesso si ode, quanto più spesso in esse sono poste a tal modo  ; per seguir la natura, & la propietà del Modo, nel quale è composta la cantilena.”

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

arrangement of the imperfect consonances, and, more specifically, in the arrangement of the harmonic intervals more than the melodic ones. Mode, which is essentially a melodic construct, is not of primary importance in his theory of musical affect despite his familiarity with the long theoretical tradition stretching back to Classical Antiquity of attributing music’s expressive power in large part to modal ethos.4 While Zarlino does mention traditional affective descriptions of the modes elsewhere in his treatise, in the passage cited above he presents a more consistent and rational theory for explaining music’s expressive power.5 Because the happy or sad effect lasts only as long as the appropriate harmonic consonances actually sound, we may infer that any mode may be made to sound happy or sad in polyphony because the major and minor imperfect consonances are accessible within each mode  ; one merely must emphasize the appropriate quality.6 Vicentino would agree with Zarlino, saying that “The entire substance of music consists of knowing how to provide the motion, steps, and consonances appropriate to the subject on which you are composing. First, let me warn you that the consonances are the most important of the three resources […]. If a composer wishes to make a work cheerful, he should always match a fast or very fast rate of motion with tense steps and take care that the major third and major tenth are never missing among the consonances and unisonances. On the other hand, if he wishes to make a melancholy composition, he should do everything exactly the opposite to that in the cheerful work  : he should select a slow pace and slack steps and use minor consonances”.7 4 For a recent overview of 16th-century descriptions of the characteristics of the modes, see Anne Smith, The Performance of 16th-Century Music  : Learning from the Theorists, New York 2011, pp. 165–231. 5 Zarlino, Le istitutioni harmoniche, 4.5, pp. 301–302 (20–26). 6 This inference becomes a straightforward assertion a few decades later in the writing of Pietro Pontio, who states that music may be rendered sad or happy regardless of the mode by introducing the minor third or major tenth and slow or fast rhythmic motion, respectively. Pietro Pontio  : Dialogo del R. M. Don Pietro Pontio Parmigiano, ove si tratta della theorica, e prattica di musica, Parma 1595, p. 58  : “Quando adunque vorrà, che la sua cantilena sia mesta, si servirà di tai moti tardi, & anco della Terza minore, la qual rende assai mestitia. Se poi vorrà la sua compositione allegra, si servirà delli moti veloci, come si può vedere nelle compositioni volgari, & in luogo della Terza minore si servirà della Decima maggiore, & di altri movimenti, che fanno la Musica allegra. Si che havendo questa intelligenza potrà ad ogni Tuono tramutar la sua natura. Questa è la ragione, per la quale si può far il Tuono mesto, & allegro, come più al Compositore piace.” 7 Vicentino, L’antica musica, 4.21, fols. 81v-82r (p. 254)  : “Tutto il continente della Musica stà nel sapere dare il moto, & gradi, & consonanze, in proposito del suggietto sopra di che s’habbi da comporre & prima si dè avvertire che le consonanze, sono le principali, fra questi tre ordini […]. […] se il Compositore, vorrà far la compositione allegra, quello sempre dè accompagnare il moto veloce & velocissimo, con i gradi incitati, & che fra le consonanze, & unisonanze non manchi mai la terza maggiore, & la decima maggiore, & poi quando si vorrà far una compositione malenconica, si dè far tutto all’opposito della compositione allegra, si dè eleggere il moto tardi, i gradi molli, et usare le consonanze minori […].” See also his famous remarks on fol. 86r (p. 270)  : “Music set to words has no other purpose than to express in harmony the meaning of the words, their passions and their effects . . .. When a composer is writing something sad, slow motion and

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Notice that Vicentino says nothing at all here about mode, but mentions only rhythm, melodic intervals, and harmonic intervals. Though both Vicentino and Zarlino state that polyphonic music must be written within a prescribed mode, and both mention the possibility of deviating from the mode in order to express the words,8 for both the primary factor controlling music’s expressive power is the imperfect consonances.9 To illustrate the flexibility with which the imperfect consonances might be manipulated for expressive purposes within a given mode, there is no better example than the famous opening of Willaert’s madrigal Liete e pensose from the Musica nova collection (Example 1). There also is no simpler example of the expressive dichotomy that associates major chords with happy affects and minor chords with sad affects. Here “liete” (happy) is set with two harmonic major thirds, while “pensose” (pensive) is set with three minor ones.10 Willaert emphasizes the appropriate chord qualities without leaving the boundaries of the mode, which Zarlino identified as Mode 8, or Hypomixolydian.11 Such harmonic reactions to affective keywords resemble word painting  ; just as one might set a word denoting a high place with a high note, or a word denoting the idea of fleeing with running notes, one may set a happy word with a major third and a sad word with a minor third. At other times, Willaert and composers after him emphasized major or minor thirds for expressive purposes that are more sophisticated and not tied so directly to such simple and obvious emotional contrasts in the words being set, but rather to other “hard” or “soft” concepts that might require reading more deeply into the text, as we shall see. In order for expressive meaning to emerge from the ebb and flow of major and minor intervals within a madrigal, the intervals must be emphasized in such a way that the expressive intent is clear. In his discussion of “‘Dur’ und ‘Moll’ –Klänge” in his Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie, Bernhard Meier many years ago enumerated some of the ways such emphasis might be manifested  : minor consonances help him. When he his writing something joyful, major consonances and rapid motion are appropriate”. ([L]a musica fatta sopra parole, non è fatta per altro se non per esprimere il concetto & le passioni & gli effetti di quelle con l’armonia […]. [E] quando il Compositore vorrà comporre mesto il moto tardo, et le consonanze minori serviranno à quello  ; et quando allegro, le consonanze maggiori et il moto veloce saranno in proposito molto”.   8 Vicentino refers specifically to secular works  ; L’antica musica, 3.15, fol. 48r (p. 150)  ; Zarlino, Le istitutioni harmoniche, 3.57 (p. 175).   9 Vicentino also cautions that rhythmic motion can threaten or overpower the desired affect if it is not matched appropriately with the harmonic consonances  ; L’antica musica, 2.1, fol. 27 (p. 87). 10 Other Dur / Moll contrasts, though not as precisely delineated, occur in Liete e pensose at “Ov’è la vita” (where is [my] life) and “ove la morte mia” (where [is] my death) in bars 14–25 and “Liete siam” (we are happy) and “Dogliose” ([we are] sad) in bars 37–44. 11 Zarlino, Le istitutioni harmoniche, p. 329 (p. 76). Though this mode offers the possibility of changing the quality of the chord built on the tonal center from major to minor by introducing B-flat, Willaert in this case simply shifted the bass to pitches over which minor chords occur naturally. Willaert does introduce the B duro / B molle contrast for affective purposes in the opening of Aspro core, also a Mode 8 madrigal.

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

Example No. 1

“die Einführung des Satzes nota contra notam (oder einer diesem nahekommenden Satzweise), die ungewöhnlich feste, orgelpunktartige Führung der Baßstimme oder auch die ‘imitatio tubarum’. Es handelt sich also vornehmlich um Satzweisen, die es möglich machen, die Zusammenklänge ganz besonders deutlich wahrzunehmen”.12

Meier further notes that these techniques may be intensified by other changes in rhythm or meter, vocal range, or modally irregular cadences. To Meier’s list I would add the following factors  : a slowing of the harmonic rhythm, that is, the rate at which new chords are introduced  ; the emphasis in the lowest-sounding voice of the tones of the gamut over which major or minor chords might be built  ; the introduction over these bass tones of certain voice-leading patterns that allow major or minor sonority to be sustained  ; or the addition of accidental inflections to create the desired major or minor quality. Before looking more closely at the use of major and minor chords as expressive devices, I first must define what I mean by those terms while acknowledging the anachronism of using the term “chord” at all, which I do merely for convenience. Simply put, what I will be referring to as a major chord will have a major third above the lowest-sounding voice, and what I will be referring to as a minor chord will have a minor third above the lowest-sounding voice. As illustrated in Example 2, these are broader definitions than we use today and reflect the fact that 16th-century theory calculated chords as collections of intervals rather than pitches. As shown in Example 2a, modern theory would interpret 12 Bernhard Meier, Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie, Utrecht 1974, p.  394  ; translated by Ellen S. Beebe as The Modes of Classical Vocal Polyphony, New York 1988, p. 412  : “[…] the introduction of noteagainst-note style (or a style that approaches this)  ; unusually rigid, ‘pedal point-like’ voice leading in the bass  ; or ‘imitatio tubarum’. Thus, it is a question primarily of compositional styles that make it possible to hear the chords especially clearly”.

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Timothy R. McKinney

a chord containing the pitches F, A, and C as a major triad regardless of the vertical arrangement of those tones. As shown in Example 2b, however, for Zarlino and Vicentino placing F below A and C yields a collection of major intervals above the bass, yet placing A below F and C produces a collection of minor intervals above the bass. My use of the term “major chord” here follows 16th-century practice and will apply to chords such as those shown in Example 3a, while my use of the term “minor chord” refers to chords such as those shown in Example 3b. The fact that the quality of the third and sixth above most tones of the gamut is the same – that is, both major or both minor – supports this way of classifying interval affect, and, as Example 4 illustrates, also allows for the use of expressive contrapuntal 6-5 or 5-6 motions over the same bass tone in order to prolong the major or minor sonority. Furthermore, the minor sixth moves by minor second and the major sixth moves by major second, thus matching the quality of harmonic and melodic intervals.

Examples No. 2, 3, 4

The expressive use of major and minor sonorities might be divided at the broadest level into two basic categories, which, for the sake of convenience, we might call “diatonic” and “chromatic.” To the first category belong those that rely for the most part on relatively subtle shifts in harmonic quality within the prevailing pitch system, which as Example 5a illustrates includes the seven diatonic pitches plus pitches such as B-flat or E-flat that might be added to avoid false relations in the cantus durus and cantus mollis signatures, respectively. The opening of Liete e pensose falls into this category, as we have just seen. To the second category belong those that rely on the introduction of accidentals that lie outside the typical gamut (Example 5b). Though some of these tones might appear in the normal course of a composition as cadential inflections, at other times they might come to the forefront as expressive devices. These accidental inflections become progressively more 106

Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

Example No. 5

common and more daring throughout the century, culminating in the hyper-expressive madrigals of composers such as Wert, Marenzio, Gesualdo, and Luzzaschi. A fairly simple example of this second category may be seen in the passage from Willaert’s madrigal Aspro core given in Example 6. The verses of the poem set in this passage contain an antithesis between “Non è sì duro cor” (“There is no heart so hard”) and “che lagrimando, Pregando, amando talhor non si smova” (“that weeping, praying, loving cannot move it”). Willaert highlights the entry of the “hard” text “Non è sì duro cor” by introducing the cross relation between F and F-sharp in bar 103 that transforms a D minor chord into a D major one. A further six bars of exclusively major chords follow. The harmonic rhythm is slow, roughly twice as slow as the prevailing motion within the madrigal as a whole. The “hard” affect of the words is further emphasized through two contrapuntal 5-6 motions in bars 105 and 108. The resulting major sixths sound for a semibreve each  ; it is unusual for harmonic sixths to sound longer than a minim. Both Vicentino and Zarlino describe the major sixth as inherently harsh and appropriate for the expression of harshness.13 In bar 110 at the entrance of “lagrimando” (weeping), the emphasis changes to minor harmony and Willaert creates a literal Dur / Moll contrast. He first sets “duro” in the canto with B-natural (B duro) and G major chords in bars 104 and 107, then sets “lagrimando” and “amando” in the same voice in bars 110 and 113 with B-flat (B molle) and G minor chords. The two basic categories of expressive uses of major and minor chords—the diatonic and chromatic—were used to project a wide variety of meanings in the Italian madrigal, even contradictory ones. To illustrate this latter point, we will consider several methods by which the concept of sweetness might be expressed. Each of these methods was used more or less widely, yet in the remainder of this study I will be drawing examples from the madrigals of Andrea Gabrieli, a composer about whose music I have not written previously, in order to give some sense of how fluid these practices were even within the work of a single composer. In the first and oldest of these methods, the composer introduces B molle in the cantus durus signature or E molle in cantus mollis, with both the accidental flat itself and the softer hexachord it represents serving as symbols of a softer, sweeter pitch space (see Example 7).14 This convention was used throughout the 16th 13 Vicentino, L’antica musica, 2.20, fol. 35v (115), and 4.21, fol. 82r (255)  ; Zarlino, Le istitutioni harmoniche, 4.32, p. 339 (95). Zarlino’s brief musical exemplar of harsh harmony in Le istitutioni harmoniche features prolonged suspended major sixths  ; 3.66, p. 264 (234). 14 A similar concept is mentioned in another context by dancing master Guglielmo Ebreo in his treatise De pratica seu arte tripudii (On the Practice or Art of Dancing) of 1463. When writing on the importance of adapting one’s dancing style to the music, Ebreo writes  : “It should be noted furthermore that in playing [music] there

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Timothy R. McKinney

Example No. 6

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

century, and may interact with the expressive use of major and minor intervals in more than one way. For example, the accidental flat may allow for expressive minor melodic intervals or minor chords when it appears in an upper voice, as we saw in Example 6. When placed in the bass, however, it will create major harmony. In Example 8, within the cantus mollis signature an E-flat enters precisely with the word “dolce” in bar 4 in the quinto and basso, first as part of a C minor chord, then as part of an E-flat major chord when E-flat appears in the basso. In examples such as this, the symbolic accidental and its general effect on pitch space are of greater importance than harmonic quality. A second method of representing sweetness in the Italian madrigal introduces minor intervals because they are inherently soft, as we have seen.15 Like the idea of introducing “soft” flats and the softer hexachords they represent, the idea of using minor intervals for sweetness is based directly upon semantic play between Dur and Moll, but in a different way. In the case of expressive flats, it is the visual symbol and the pitch space it represents that are considered softer, while in the case of minor intervals, it is the intervals themselves that are softer. In bar 15 of Example 9, Gabrieli again introduces E-flat into a cantus mollis madrigal at a reference to “dolce”, yet this time it is not primarily for a change into a softer pitch space alone, as evidenced by the B-natural, or B duro, that appears in the are two chiavi called B molle [B flat] and B quadro [B natural], and when the player plays, whoever wishes to dance a bassadanza or saltarello (or whatever else) well, must know and recognize if B molle or B quadro is being played, inasmuch as it is of the greatest importance that his steps and gestures conform and accord with those strains, sweetnesses, semitones, or syncopation[s] that are played for a particular misura, that is, either in B molle or B quadro, and to understand and follow them well with body and gesture. Note that the misura of B quadro is far more airy than that of B molle, but it is somewhat coarser and less sweet”. (“Anchora e da notare chome nel sonare sonno due chiave chiamate B. molle. & B. quadro. et bigiogna quando il sonatore suona che chi vuol ben danzare o bassadanza o saltarello, o che altro si sia, che quello intenda & cognosca se suona per .B. molle, o per .B. quadro. impero che e summamente necessario che i passi & gesti suoi s[i]ano conformi & concordanti a quelle voci. dolceze. et semituoni o sincopare, che in quella tal misura si suona, cio e o per .B. molle, o per .B. quadro. et quelle ben intendere et seguir colla persona & colli gesti. Et nota che .B. quadro e molto piu ariosa la sua misura, che quella di .B. molle. ma e alquanto piu cruda & men dolce.”) Guglielmo Ebreo, De pratica seu arte tripudii, Ms. 1463  ; edited and translated by Barbara Sparti as De pratica seu arte tripudii (On the Practice or Art of Dancing), Oxford 1993, pp. 104–105. 15 The association of sweetness with minor is exemplified by the most famous of Willaert’s Musica nova madrigals, Aspro core, in which, as has been widely discussed, the harsh first line of Petrarch’s poem – “Aspro core, e selvaggio, e cruda voglia” – is set with predominantly major harmony, and the sweet second line – “In dolce, humile, angelica figura” – with predominantly minor harmony. See McKinney, Adrian Willaert and the Theory of Interval Affect, pp. 24–28, 57–58, and 63–73  ; further bibliography there. For Willaert this traditional theoretical distinction was enhanced by his familiarity with literary theorist Pietro Bembo’s notion of quality in poetry, in which words were separated into two expressive categories called “gravità” and “piacevolezza” based upon their sound as well as their literal meaning. Thus the notion of defining styles and expressive categories was in the air in the Venetian intellectual circles of Willaert’s day, and the development of a theory of interval affect based upon a distinction between major and minor intervals is a logical musical application of this notion.

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Timothy R. McKinney

Examples No. 7 and 8

basso. Instead, the E-flat allows Gabrieli to introduce four successive minor sonorities before ending the phrase on a major chord, as is his habit.16 A third method for representing sweetness stems from a competing theoretical and practical tradition that considered the major third to be sweet based solely upon its aural effect. For example, though he has no systematic theory of interval affect, in his Recanetum de musica aurea of 1533 Stephanus Vanneus twice describes the effect of the minor third or tenth as being less sweet (“parum dulcedinis” or “parum suavis”) than that of the major third or tenth.17 In compositional practice, major thirds were often created through the introduction of accidental sharps. This method also draws on a long theoretical tradition stretching back to Classical Antiquity of associating the chromatic genus with sweetness and the diatonic genus with harshness. Vicentino subscribed to this 16 The accidental E-flats, B-natural, and even the concluding F-sharp create expressive semitones, another method for representing sweetness that will be discussed in a moment. However, it is the prevailing minor quality of the chords, emphasized by the slowing of the harmonic rhythm in comparison to the passages on either side, that seem to be Gabrieli’s primary concern here. 17 Stephanus Vanneus, Recanetum de musica aurea, Rome 1533, facs. ed. Kassel etc. 1969, fols. 81r and 91r. Vicentino also states that one should not conclude the middle of a work with a minor consonance of the length of a breve because this ending sounds poor unless it is occasioned by a sad word  ; L’antica musica, 4.15 (incorrectly marked 4.16), fol. 79r (p. 247).

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

Example No. 9

tradition,18 and stated also that “chromatic music, which is full of semitones, produces sweeter harmony than music filled with whole tones”.19 Zarlino stated that natural movements may make a composition more sonorous and virile, while accidental movements may make it sweeter and somewhat more languid.20 Example 10 illustrates several of the points made thus far. First, the word “soave”, which also has the connotation “sweet”, is set with an accidental B-flat in bar 2, drawing upon the tradition of using flats to symbolize sweetness. At the entry of “dolcemente” in bars 5-7, however, Gabrieli creates a different type of sweet music by using accidental major chords, including a B major chord in bar 7. With this remote major chord built upon B duro, Gabrieli has moved far beyond the typical boundaries of the harmonic language utilized earlier in the century, and in terms of representing sweetness, he has moved far from sweet flats and sweet minor chords as well. Having examined theoretical considerations associated with the expressive use of major and minor chords, and having examined isolated musical passages containing such uses, I will now conclude by looking at two representative examples illustrating how a composer might use major or minor harmony to shape the expressive structure of larger musical contexts. Examples 11 and 12 contain two excerpts from Andrea Gabrieli’s well18 Vicentino, L’antica musica, “Libro della theorica musicale”, fol. 4v (p. 12). 19 Ibid., 2.9, fol. 32r (p. 102)  : “[…] la Musica Cromatica piena di semitoni, darà più dolce armonia, che non farà quella fatta piena di toni”. Vicentino also indicates that sharps are cheerful and flats impart melancholy  ; ibid., 4.19, fol. 81r (p. 252). 20 Zarlino, Le istitutioni harmoniche, 4.32 (p. 95).

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Timothy R. McKinney

Example No. 10

known madrigal Ecco l’Aurora from his Il primo libro di madrigali a cinque voci of 1566. For this relatively light setting Gabrieli chose the F mode with B-flat, or essentially F major. This mode allows emphasis of major sonorities throughout most of the madrigal. As may be seen in Example 11, the surface rhythm is quick, moving primarily at the minim and semiminim level. The harmonic rhythm is quick as well, also moving predominantly at the minim and sometimes even semiminim level. As shown in Example 12, a striking change in each of these characteristics occurs in bars 27-30 at the entry of the words “Et io pur piango” (“and yet I weep”). After the initial F major chord in bar 27, harmonic quality changes to minor for two complete bars. The addition of E-flat creates a C minor chord that is embellished with a neighboring minor sixth chord above B-natural. This is the only location in the entire madrigal where minor harmonic quality is heard for more than three minims in succession. The lengthening of the harmonic rhythm in these bars helps the minor passage stand out clearly from its surroundings. At the cadential arrival on C on the third beat of bar 30, harmonic quality returns to major for the remainder of the madrigal. The introduction of minor harmony at “Et io pur piango” is particularly salient, therefore, and I suggest that it represents much more than simple word-painting of a sad word. It marks instead an important change in the poem and underscores the poem’s deeper meaning. Up until this point the poem’s narrator has given an objective description of the beauty of the break of day  :

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

Ecco l’Aurora con l’aurata fronte,

Behold Dawn with her golden brow,

Ch’a passo a passo ci rimena il giorno;

Who step by step brings back the day;

Ecco che spunta sopra l’orizonte,

Behold her breaking above the horizon,

Col volto suo di bianca neve adorno;

Her face with white snow adorned;

Ecco la Notte ne l’adverso monte,

Behold Night on the opposite mountain,

Che va fuggendo al suo antico soggiorno;

Who goes fleeing to her ancient retreat;

Et io pur piango all’apparir de l’alba

And yet I weep at the appearance of dawn

Ch’ormai d’intorno l’aere tutto inalba.

That now whitens the air all about.

Vincenzo Quirino

Example No. 11

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Timothy R. McKinney

Example No. 12

At the bolded text, however, the narrator subjectively inserts himself into the narrative and tells us that he weeps. Presumably he weeps because the coming of dawn signals that he must leave his lover, a common trope in dawn songs. Gabrieli captures the change in poetic voice and mood brilliantly through the brief turn toward C minor harmony before returning to the lighter narrative tone for the remainder of the madrigal.21 I believe Ga21 Gabrieli’s alteration of pitch space in order to underscore a shift toward greater subjectivity in the words

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Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

brieli chose the F mode because its predominantly major harmony serves as an effective backdrop for casting the minor passage at “Et io pur piango” in sharp relief.22 The beginning of Gabrieli’s setting of Petrarch’s I’ vo piangendo provides another opportunity to observe how changes in harmonic quality might be used to project broader expressive trajectories and deeper poetic readings. As may be seen in Example 13, the mode is G Dorian, a very appropriate choice for obtaining minor harmony to accompany the sad affection of the opening line of the poem  : “I’ vo piangendo i miei passati tempi”. Although occasional major sonorities do appear in these opening measures, far more significant are the sustained minor harmonies and very slow harmonic rhythm. Beginning in the second bar and continuing through the fifth bar, a D minor sonority sounds for fourteen consecutive minims. Notice also the two minor sixths that are introduced over D in bars 2 and 3, which help prolong the minor harmonic quality while also providing a degree of variety. In bar 6 an A minor chord follows the long-held D minor chord, allowing minor harmony to be sustained for a further four minims. The final A major sonority in bars 8-9 appears for reasons of musical structure more than expressive ones  ; as I stated earlier, Gabrieli ends most phrases on a major sonority regardless of the affect of the words being set. Gabrieli changes to predominantly major harmonic quality for the setting of the next line, “I quai posi’in amar cosa mortale” (“that I spent in loving a mortal thing”). If the minor chords accompanying the opening line represent weeping, the major chords here may be taken to represent recollection of a happier time of love. Gabrieli’s manipulation of major and minor sonority in these opening lines to contrast present sorrow and loneliness with remembrance of past love and companionship is not different in principle from the shifts from the minor mode to the major mode such as Schubert would make more than two centuries later  ; see, for example, Schubert’s setting of Ihr Bild in Schwanengesang. Both Schubert and Gabrieli create musical antitheses based on Dur vs. Moll contrasts. What differs, of course, are the specific techniques used. While Schubert might change to the parallel major mode, Gabrieli for the most part merely shifts the bass to those tones within the gamut capable of bearing major sonorities.23 being set to music certainly is not without precedent. Consider the well-known and much-earlier instances of such shifts in two passages of Guillaume Dufay’s four-voice setting of Ave regina caelorum, discussed in Wolfgang Fuhrmann’s contribution to this volume. See also McKinney, Adrian Willaert and the Theory of Interval Affect, pp. 17–20. 22 An earlier E-flat and brief emphasis of C minor in bar 59 as the sun breaks the horizon might be read as foreshadowing of this moment, yet likely was prompted instead by the practical need to avoid outlining a melodic tritone with a preceding B-flat. 23 Gabrieli does end on a G major chord that contradicts the prevailing G dorian mode, yet this chord does not represent a change to a parallel major mode per se. As mentioned above, it is Gabrieli’s habit to end phrases with an arrival on a major sonority, and often one created through accidental inflections and resembling more a half cadence than an authentic one. There are comparable arrivals on G major chords at the close of textual phrases in bars 18 and 26.

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Timothy R. McKinney

Example No. 13

The next significant contrast of harmonic sonority in Gabrieli’s I’ vo piangendo may be seen in Example 14 and occurs between the lines “Tu che vedi i miei mali indegni et empi” (“You who sees my vile and impious evils”) and “Re del Ciel, invisibile immortale” (“King of Heaven, invisible, immortal”). In the first of these lines Gabrieli chose to focus on the protagonist’s vile and impious evils. His setting of the line features suspensions and frequent unstable harmonic sixths, and the phrase ends with a plangent Phrygian cadence in bar 32. He next creates an extremely strong contrast of texture and harmonic quality at 116

Major and Minor Thirds and Chords as Means of Expression in the Italian Madrigal

the following reference to the King of Heaven. Gabrieli now introduces stable five-three chords and the harmonic rhythm slows to a crawl once more in order to let the harmonic quality be clearly heard. After six minims of a G sonority without third, the major third enters and is sustained for ten minims, followed by ten more minims of major sonorities on C and F. Only the D minor sonority that prepares the half-cadence on an A major chord in bars 39-40 intrudes upon the exclusive use of major sonorities in this passage. The heavy emphasis of major chords strongly contrasts the power of the King of Heaven with the weakness of the frail human whose evils were depicted in the previous line and whose weeping was set with minor harmony in the madrigal’s opening measures. Once again these expressive uses of harmony go beyond mere word painting and reflect instead an interpretive reading that creates expressive semantic arches that connect both closely juxtaposed and widely separated points in the structure of the madrigal.24 In conclusion, we have seen how the theory of interval affect developed by Adrian Willaert in the 1530s and disseminated both through his musical compositions and the theoretical treatises of his disciples Zarlino and Vicentino remained an option on the palette of expressive devices from which composers crafted their madrigal settings in the remainder of the century. We have seen how major or minor effects typically are created on a moment-to-moment basis within a madrigal, and that while certain modes tend toward a natural emphasis of major or minor harmony, the normal course of composition generally results in an ever-shifting mixture of the two qualities unless the composer intentionally focuses on one quality or the other. In general, Dur vs. Moll semantics in the 16th-century madrigal were based more on the deployment of the harmonic imperfect consonances within the modes than on the modes themselves. This would change, of course, with the evolution and polarization of the modern major and minor modes in the centuries to come.25 24 Zarlino created similar expressive semantic arches in his setting of this same poem. As does Gabrieli’s, Zarlino’s reading emphasizes minor harmony in a slow harmonic rhythm for the opening “I’ vo piangendo” and major harmony at “Re del Ciel, invisibile immortale”. See McKinney, Adrian Willaert and the Theory of Interval Affect, pp. 256–262. 25 There is much work yet to be done toward understanding the transition from the older modal system to modern major-minor tonality, and toward establishing the reasons for this transition and the attendant change from interval-dominated affective designations to ones based more on major-minor tonality (in which differences in interval quality remain a vital component, of course). Various steps have been taken in these directions, however. See, for example, Joshua Albrecht and David Huron, “A Statistical Approach to Tracing the Historical Development of Major and Minor Pitch Distributions, 1400–1750”, in  : Music Perception 31/3 (2014), pp. 223–243. Changes in affective associations for major and minor between the 16th and 18th were documented many years ago by D. p. Walker, Studies in Musical Science in the Late Renaissance, London 1978, p. 63. Changes in the prevalence of major and minor modes corresponding to changes in cultural tastes in the 18th and 19th centuries are noted in Katelyn Horn and David Huron, “On the Changing Use of the Major and Minor Modes”, in Music Theory Online 21/1 (2015), www.mtosmt.org/issues/mto.15.21.1/mto.15.21.1.horn_ huron.html, 22.6.2016. Reference to other relevant studies may be found in these sources.

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Timothy R. McKinney

Example No. 14

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Ludwig Holtmeier

Wie das Moll seine Autonomie verlor Zur Entwicklungsgeschichte des Mollmodus in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts

Das musikalische 18. Jahrhundert ist bekanntermaßen sehr lang, von vielen kleinen Brüchen und – nach verbreiterter, wenn auch nicht unumstrittener Einschätzung – von einem größeren Bruch um die Jahrhundertmitte durchzogen. Auch in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts spiegeln sich diese kleinen und großen Brüche wider. Man kann dem sehr allgemeinen und weitgefassten Thema, dem ich mich in diesem kurzen Text widme, grundsätzlich auf zweierlei Art begegnen  : Entweder man versucht, auf einen einzelnen musiktheoretischen Aspekt und/oder auf einen bestimmten Autor einzugehen, oder man schreibt essayistischer, betrachtet gleichsam aus der Vogelperspektive die großen Strömungen und Tendenzen in der Kompositionslehre und Musiktheorie dieses Jahrhunderts. Das Essay hat in der deutschen Wissenschaft weder eine große Tradition noch einen guten Ruf. Ich werde mich dennoch darum bemühen, der Idee dieser Publikation zu entsprechen und »breitere Strömungen und Traditionszusammenhänge« in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts zu beleuchten. Es sei also im Folgenden ein musiktheoretischer, essayistischer Blick auf die Dur-Moll-Problematik des 18. Jahrhunderts geworfen, wobei ich vier Gedanken thesenhaft zuspitzen möchte. Wenn man sich mit der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts auseinandersetzt, besteht ein wesentliches Verständnisproblem darin, dass sich der musiktheoretische Diskurs der Zeit zwar allen ausgeprägten nationalen Traditionen zum Trotz einerseits als durchaus homogen darstellt, andererseits aber auf keinem holistischen, »systematischen« Theoriebegriff etwa wie dem des mittleren 19.  Jahrhunderts, insbesondere jenem der sogenannten »bürgerlichen Harmonielehre« gründet.1 Die Forschung zur Musiktheorie des 18. Jahrhunderts ist aber immer noch jenem Theorieverständnis in starkem Maße verpflichtet  : Dass etwa die europäische und insbesondere die deutsche Musiktheorie des 18.  Jahrhunderts von der dominanten und zugleich »progressiven« Musiktheorie JeanPhilippe Rameaus bestimmt worden sei, der gegenüber alle anderen musiktheoretischen Diskurse der Zeit zu unwesentlichen, restaurativen Nebenströmungen herabgesunken seien, ist eine Vorstellung, die erst seit den letzten Jahren ins Wanken gerät.2 1 Vgl. Ludwig Holtmeier, »Feindliche Übernahme  : Gottfried Weber, Adolf Bernhard Marx und die bürgerliche Harmonielehre des 19. Jahrhunderts«, in  : Musik & Ästhetik 63 (2012), S. 5–25. 2 Vgl. ders., Rameaus langer Schatten  : Studien zur deutschen Musiktheorie des 18. Jahrhunderts (= Studien zur

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Ludwig Holtmeier

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gehen fast zeitgleich an unterschiedlichen Orten und aus unterschiedlichen Traditionen alle jene harmonischen »Theorien« hervor, die noch heute den Diskurs der harmonischen Analyse bestimmen  : Die »règle de l’octave«, die »basse fondamentale«, die seit dem Plan abrégé3 entwickelte »Funktionstheorie« Rameaus sowie die deutsche und die norditalienische »Stufentheorie« (»basso fondamentale« und »moderne« Trias Harmonica-Tradition).4 Alle diese theoretischen Ansätze entwickeln sich vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gleichsam unabhängig voneinander. Sie präsentieren unterschiedliche musiktheoretische und satztechnische Traditionen, bilden eigenständige und deutlich unterschiedene Perspektiven aus und beziehen sich auch auf ein je unterschiedliches musikalisches Repertoire. Sie sind dabei keineswegs streng einzelnen Schulen, nationalen und regionalen Traditionen oder gar einzelnen Autoren zuzuordnen, sondern existieren oft in demselben musiktheoretischen Oeuvre Seite an Seite. Es ist hier bewusst schwammig von »Perspektiven« die Rede, denn die Terminologie in den musiktheoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts gaukelt oft eine trügerische Einheitlichkeit vor  : Ein und derselbe musiktheoretische Begriff kann bei ein und demselben Autor aber etwas ganz Unterschiedliches meinen, je nachdem, in welchem »perspektivischen« Kontext er steht und zu verstehen ist. In den musiktheoretischen Schriften wird zudem so gut wie nie auf diesen Wechsel der Bezugsebene hingewiesen. Das kann die Lektüre so mancher musiktheoretischer Traktate des 18. Jahrhunderts zu einer großen Herausforderung machen. Es lassen sich in der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts vier zentrale Bereiche, vier zentrale musiktheoretische Perspektiven ausmachen, in denen jedes musiktheoretische Phänomen, jede musiktheoretische Frage- und Problemstellung verortet ist bzw. aus der heraus es betrachtet werden kann. Die Festlegung hat ihren Ursprung nicht in der strukturellen Gliederung von Rameaus Traité de l’Harmonie in die vier Bereiche »géneration des sons«, Akkordlehre, Kompositionslehre, »accompagnement«, aber es ist auch kein Zufall, dass sie weitgehend mit ihnen übereinstimmt  : – Zum einen ist da der Bereich der Ableitungslehre, der »génération des sons«, die die Herleitung des musikalischen Materials (Akkorde, Klänge, Skalen, die Definition von Konsonanz und Dissonanz) aus ihm zugrunde liegenden (musiktheoretischen, »natürlichen«) Prinzipien behandelt. Er fußt im 18. Jahrhundert im Allgemeinen auf dem »pythagoreischen« Erbe der »musica theorica«, also auf einer »zahlenbezogenen«, proportionalen Herleitung des Materials. Überwiegend wird das musikalische Geschichte der Musiktheorie 13), Berlin 2017. 3 Jean-Philippe Rameau, »Plan abrégé d’une Méthode nouvelle d’accompagnement pour le clavecin«, in  : Mercure de France, Juni 1730, S. 489–501. 4 Vgl. Holtmeier, »›Accord‹, ›disposition‹, ›face‹, ›Griff‹, ›Trias harmonica‹ – Überlegungen zum Akkordbegriff des 18. Jahrhunderts«, in  : Martin Skamletz u. a. (Hrsg.), Musiktheorie im 19. Jahrhundert. 11. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie in Bern 2011, Schliengen 2017, S. 171–188.

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Wie das Moll seine Autonomie verlor

Grundmaterial aus dem Senario (bzw. Septenario, »complesso armonico«)5 hergeleitet, gegen Ende des Jahrhunderts dann fast exklusiv aus der Obertonreihe. – Dann ist da die Trias harmonica-Tradition und ihr eng mit der Praxis des sogenannten »vollstimmigen« Komponierens (also des mehr als fünfstimmigen Komponierens) verbundener Akkord-, Klang- und Dissonanzbegriff, der sich besonders durch eine sehr spezifische Art von Dissonanzverständnis auszeichnet.6 – Der Bereich der »kontrapunktischen« Satz- und Akkordlehre, der auf der grundlegen­ den Differenz von kontrapunktischen Gerüst- und Ergänzungsstimmen gründet, ist für die praktische Kompositionslehre der zentrale. Man könnte seine Zusammenklangs- und Progressionslehre als lingua franca der europäischen Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts beschreiben.7 – Im Umfeld der Lehre vom »accompagnement« hat sich eine »haptische« Musiktheo­ rie herausgebildet, die zwar eng mit der kontrapunktischen Satz- und Akkordlehre verbunden ist, aber dennoch eine sehr eigene Begrifflichkeit und auch ein sehr eigenes Verständnis von Klang, Dissonanz und insbesondere harmonischer Prozessualität bzw. Progression ausbildet. Sie wird insbesondere in französischen Quellen des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts beschrieben.8 These 1: Der Moll/Dur Gegensatz als Problemstellung ist Gegenstand der »génération des sons«, aber eigentlich kein Problem der praktischen Kompositionslehre bzw. der praktischen Musiktheorie. »Pour ce qui est du Mode mineur, il ne differe du majeur qu’en ce que la Tierce & la Sixte doivent y être mineures, avec quelques circonstances à l’égard de la Sixte.«9

5 Der Senario bzw. »numero Senario« oder auch »complesso armonico« bezeichnet die Folge der sechs Zahlen 1  :2  :3  :4  :5  :6, die im Sinne proportionaler Verhältnisse verstanden wird und Intervallverhältnisse wiedergibt, verstanden sowohl in Bezug auf die pythagoreische Saitenteilung (Monochord) als (später) auch auf die Obertonreihe bzw. die Schwingungsverhältnisse. Klingende Ausdrucksform dieser Zahlenverhältnisse ist die Trias harmonica – der perfekte (Dur-)Dreiklang. Mitunter findet sich in der Trias harmonica-Tradition auch der Begriff der Septenario  : Da der »vollständige« Senario, der die Herleitung aller konsonanten Intervalle aus dem »complesso armonico« gestattet, auch noch die vierte Oktave hinzunehmen muss und somit aus sieben Tönen besteht, bezeichnet Septenario bisweilen auch diesen siebentönigen Komplex. 6 Jene Tradition, die alle wesentlichen musiktheoretischen Elemente und Teilbereiche (harmonischer Raum, Akkord-, Progressions-, Dissonanzlehre etc.) in Bezug auf die Trias harmonica bzw. den Senario bestimmt, wird mit Trias harmonica-Tadition bezeichnet. Vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 238ff. 7 Der moderne Akkordbegriff, aus dem sich dann die moderne »Stufentheorie« entwickelt hat (»basso fondamentale«), stammt aus einer Verbindung der Praxis des vollstimmigen, also des mehr als fünfstimmigen Komponierens des späten 17. Jahrhunderts und des haptischen Akkordbegriffs. 8 Vgl. Holtmeier, »›Accord‹, ›disposition‹, ›face‹, ›Griff‹, ›Trias harmonica‹«, S. 186. 9 Rameau, Traité de l’Harmonie, Paris  : Ballard 1722, S. 145 (»Was den ›mode mineur‹ anbelangt, so unterschei-

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Die Rameau-Forschung der letzten 60 Jahre konzentriert sich fast exklusiv auf das, was Choron einmal polemisch den »Rameau des Philosophes« nannte, also auf den Erfinder und Anwalt des »corps sonore«, den Autor der Génération harmonique10 und der Démonstration du Principe de l’Harmonie.11 Démonstration und Génération enthalten aber kaum Schlüssel zur reifen praktischen Musiktheorie Rameaus.12 Seine wesentlichen Schriften dieser Zeit, allen voran Dissertation, Plan abrégé, Code de musique13 und vor allem der von Thomas Christensen wiederentdeckte Traktat L’art de la basse fondamentale14 werden kaum beachtet. Rameau hat diese fehlgelaufene Rezeption selbst am Ende seines Lebens in seiner großen, vor allem an Jean-Jacques Rousseau gerichteten Replik wortreich beklagt.15 Die behauptete Identität von »basse fondamentale« und »sons fondamentaux« bzw. der »sons fondamentaux du mode« schafft eines der zentralen Verständnisprobleme der Rameauschen Musiktheorie.16 Wollte man die komplexe Beziehung auf eine griffige Formel bringen, dann könnte man sagen, »basse fondamentale« bezeichne die konkreten »marches fondamentales« auf der satztechnischen Ebene, während die »sons fondamentaux« mit der »theoretischen« Generierung des Modus und auch der Akkorde aus dem »corps sonore« zusammenhängen  : »Basse fondamentale« wäre demnach eher eine praktische, »sons fondamentaux« eine eher theoretische Kategorie. Wie deutlich Rameau zwischen modusgenerierenden »sons fondamentaux« und seiner »basse fondamentale« unterscheidet, zeigt sich schon daran, wie radikal er die Terminologie des Traité im Nouveau Systême17 geändert, ja geradezu entsorgt hat. Der Begriff der »tonique« findet gerade ein einziges Mal und dann nur beiläufig Erwähnung,18 der der »dominante-tonique« ist sogar vollständig verschwunden. In der Génération erkennt man besonders deutlich, wie sehr die einzelnen Begriffe bestimmten Sphären zugeordnet sind  : Erst am Ende des Buchs, im berühmten 18. Kapitel, der eigentlichen Kompositionslehre, ist von »tonique« und »dominante-tonique« die Rede.

det er sich vom ›mode majeur‹ nur in der Hinsicht, das die Terz und die Sexte klein (›mineures‹) sind, wobei in Bezug auf die Sexte einige Besonderheiten zu beachten sind”.) 10 Rameau, Génération harmonique ou Traité de musique théorique et pratique, Paris  : Prault fils 1737. 11 Rameau, Démonstration du principe de l’harmonie servant de base à tout l’art musicale théorique et pratique, Paris  : Durand 1750. 12 Hier ist natürlich das 18. Kapitel auszunehmen. 13 Rameau, Code de musique pratique, Paris  : L’Imprimerie royale 1760 [1761]. 14 [Rameau und] Pietro Gianotti, Le Guide du compositeur [l’art de la basse fondamentale], Paris  : Durand 1759, vgl. Thomas Christensen, »Rameau’s ›L’Art de la basse fondamentale‹«, in  : Music Theory Spectrum 9 (1987), S. 18–41. 15 Rameau, Erreurs sur la musique dans l’Encyclopédie, Paris  : Sébastien Jorry 1755. 16 Vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 20. 17 Rameau, Nouveau système de musique théorique, Paris  : Ballard 1726. 18 Ebd., S. 38.

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Die Rezeptionsgeschichte hat nicht zufällig Rameaus spekulative Schriften in den Vordergrund gestellt und den vielleicht musikhistorisch relevantesten und interessantesten Teil seines Oeuvres vernachlässigt  : Die Dur-Moll-Problematik steht im 18. Jahrhundert weit weniger im Vordergrund der Musiktheorie, als es die Rezeptionsgeschichte glauben machen will. These 2: Im Laufe des 18. Jahrhunderts überformt die Ebene der »Génération des sons« immer mehr auch die praktische Musiktheorie/Kompositionslehre.

Auch hier soll ein näherer Blick in die Musiktheorie Rameaus dazu dienen, eine übergreifende historische Entwicklung zu verdeutlichen  :19 Die Generierung (»génération«) bzw. die Notwendigkeit (»nécessité«) der Dissonanz wird in der späten Musiktheorie Rameaus folgendermaßen begründet  :20 Ohne Dissonanzen ließen sich die Grenzen eines »ton« oder »mode« nicht genau bestimmen. So habe der Ton c zwei Fundamentalklänge (C-Dur und G-Dur) mit dem Ton g gemein und ebenfalls zwei mit dem Ton f (C-Dur und F-Dur)  : Nie könne die Folge C-Dur  – G-Dur also präzise und eindeutig einem »ton« zugeordnet werden. Um der »uniformité de l’harmonie«21 zu entgehen und damit den »sons fondamentaux« ihre Zufälligkeit bzw. Ziellosigkeit (»arbitraire«)22 zu nehmen, müssten, so Rameau in der Génération, den benachbarten Fundamentalklängen23 des »son principal« charakterisierende Dissonanzen beigefügt werden  : Nur auf diese Art können die »bornes du mode«, die Grenzen des Modus, bestimmt werden. Sonst verbleibe ein Zustand, in dem sich jeder »son fondamental« (Fundamentalklang) zum »son principal« (Prinzipalklang bzw. Prinzip) und damit zum »générateur« eines neuen »mode« aufschwingen könne. Die Einheit des »mode« erfordere also eine »subordination« unter die Herrschaft des »son principal«,24 die durch die Hinzufügung der Dissonanz vollzogen wird, die selbst wieder aus der Verschmelzung (»réunion«) der beiden »untergeordneten« »sons fondamentaux« entsteht. Erst die Dissonanzen fixieren die beiden Dominanten eindeutig auf den »son principal« und bestimmen damit auch die Grenzen der diatonischen Ordnung. Erste Ansätze dieses Beweises der »Notwendigkeit der Dissonanz« mögen sich tatsächlich im Traité finden lassen  ; so etwa in der Vorstellung, dass erst die »progression naturelle«25 der hinzugefügten Dissonanz die Kadenz19 Vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 18ff. 20 Etwa in den sogenannten »Clermont Notes«. Vgl. René Suaudau, Le premier système harmonique (dit Clermontois) de Jean Philippe Rameau, Clermont-Ferrand 1958  ; ders., Introduction à l’harmonie de Rameau, ebd. 1960. 21 Rameau, Génération harmonique, S. 107. 22 Zum komplexen Begriff des »arbitraire« vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 19. 23 Also die Dreiklänge auf den Skalenstufen der »Sous-dominante« und »Dominante«. 24 Rameau, Génération harmonique, S. 110. 25 Die »progression naturelle« ist hier mit Rameaus Begriff des »progrès obligé« (Rameau, »Plan abrégé«,

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schritte verdeutlicht.26 Aber der enge Zusammenhang zwischen Dissonanzgenerierung und »mode«, der sich in den späten Schriften zeigt, ist grundlegenden Prämissen von Rameaus erster musiktheoretischer Arbeit geradezu entgegengesetzt, denn »mode« nimmt im Traité eine gänzlich andere Position ein als in Rameaus späteren Arbeiten. Abgesehen von der bündigen Generierung der Diatonik im Sinne Gioseffo Zarlinos im ersten Buch des Traité, wird das Thema erst gegen Ende des zweiten Buchs wieder aufgegriffen27 und dann in aller Intensität im dritten Buch, der eigentlichen Kompositionslehre, ausgeführt. Eine ähnlich zentrale Position nimmt »mode« dann ebenfalls im vierten Buch, der Lehre vom »accompagnement«, ein. Schon das allein zeigt deutlich, dass Mode im Traité eine musiktheoretische Kategorie der Praxis ist  : Die Kapitel, in denen »mode« im Traité behandelt wird, sind genau jene, in welchen sich Rameau intensiv mit der Oktavregel auseinandersetzt  : Im Traité sind »mode« und Oktavregel quasi identisch. Der »mode« erwächst aus der Oktavregel ebenso organisch wie umgekehrt deren harmonische Progression aus dem »mode«. Und es sei hier nur beiläufig erwähnt, dass Rameau an den dort entwickelten Vorstellungen im Kern festgehalten hat. »mode« aber hat im Traité mit den »sons fondamentaux« noch rein gar nichts zu tun.28 »Mode« gehört im Traité der »praktischen« Ebene der »kontrapunktischen« Satz- und Akkordlehre, vor allem aber der des »accompagnement« an. Mit der Idee des »corps sonore« wandelt sich die Funktion von »mode« in Rameaus Musiktheorie radikal.29 Vielleicht ist es der größte und wichtigste Einschnitt innerhalb seiner musiktheoretischen Entwicklung überhaupt. Seit dem Nouveau Systême wird die Generierung des »mode« zum Ursprungsmoment und Schöpfungsakt der Harmonie überhaupt, und das Thema beherrscht sowohl die Génération als auch die Démonstration  : Aus den Tönen der Dreiklänge über den »sons fondamentaux«, den »harmoniques«, entsteht die diatonische Ordnung des »mode«  :30 Rameaus gesamte spekulative MusikS. 496) bzw. der »route détérminée« (Rameau, Code de musique, S. 93) identisch. Damit ist die allgemeine Bewegungstendenz aller (dissonanten) Zusammenklänge, ihr Progressionswille, ihr »Zwangsweg« beschrieben. Dem steht die tendenzielle Bewegungsfreiheit der Konsonanzen (»l’arbitraire«) entgegen. 26 Rameau, Traité, S. 53. 27 Ebd., S. 143ff. 28 Vgl. hierzu Thomas Christensen, Rameau and Musical Thought in the Enlightenment, Cambridge 1993, S. 169ff. »Mode« fällt im Traité einerseits mit der Tonleiter, der »gamme« bzw. dem »diatonique« zusammen, andererseits geht der Begriff darüber hinaus. »Mode« ist dort eigentlich eine Mischung zweier Tonarten. Die Generierung des »mode« aus dem »corps sonore« im Nouveau Systême verlangt dann aber zwingend die Einheit des »ton« und die Einheit des diatonischen Materials. Nachdem Rameau im Nouveau Systême und vor allem in der Génération harmonique noch jenen modalen Purismus vertreten hat, hat er sich in der Démonstration wieder seinen Anfängen im Traité zugewandt und gewissermaßen den »reinen« »mode« der »sons fondamentaux« mit dem »doppelten« »mode« der »règle de l’Octave« verbunden. 29 Vgl. Thomas Christensen, »Eighteenth-Century Science and the ›Corps Sonore‹  : The Scientific Background to Rameau’s Principle of Harmony«, in  : Journal of Music Theory 31/1 (1987), S. 23–50. 30 Es ist ein Signum des Traité, dass er quasi eine »autonome« Theorie der Klangverbindungen entwirft. Die

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theorie arbeitet sich von da an vor allem am prekären Verhältnis von »mode« und »sons fondamentaux« ab. Ich habe Rameaus Musiktheorie deshalb ausführlicher dargestellt, weil sich in ihr eine für die europäische Musiktheorie des 18. Jahrhunderts exemplarische Entwicklung besonders deutlich und artikuliert vollzieht. Ein ähnliches Überformen der praktischen Satzlehre durch die Ableitungslehre (Génération des sons) lässt sich auch bei Georg Andreas Sorge31 oder Johann David Heinichen32 beobachten, um hier neben Rameau die beiden bedeutendsten Musiktheoretiker des 18. Jahrhunderts zu nennen. Ich habe Rameaus Erzählung von der Entstehung des Modus aus seiner reifen Musiktheorie aber auch deshalb gewählt, weil sein Versuch, den »mode« direkt aus der Génération des sons abzuleiten, einen der wichtigsten musiktheoretischen Begriffe des 18.  Jahrhunderts in den Vordergrund rückt. Dieser Begriff hat das Verständnis davon, was einen Dur- und Mollmodus ausmacht, entscheidend bestimmt und bestimmt es bis auf den heutigen Tag  : »le diatonique« – die Diatonik. These 3: Das Konzept der Diatonik und der Einheit der Tonart wird im Laufe des 18. Jahrhunderts zum dominierenden Paradigma: Aus den »dynamischen« Modi werden in der Folge die statischen Tonarten. »eux [nos Auteurs en théorie] qui ne jugeoient du rapport des consonances que sur une comparaison entre les produits, bien-tôt ils auroient vû tous leurs édifices s’écrouler …, puisqu’il est impossible d’établir aucun systême diatonique dans l’étendue d’une Octave, sans qu’il ne s’y rencontre des consonances altérées«.33

Wenn Rameau hier von »l’étendue d’une Octave« spricht, dann ist damit eigentlich die »règle de l’Octave« gemeint, also jene »natürliche Fortschreitung der Tonarten«,34 die als »System« verstanden eine an der Skala ausgerichtete Theorie harmonischer Funktionalität darstellt  :35 Sie bestimmt, welche Akkorde bzw. Akkordformen auf den jeweiligen Ansätze zur späteren Funktionalität im Sinne einer Zentrierung auf die »tonique« sind bereits in der Interpretation der Oktavregel deutlich ausgebildet, aber sie dominieren die Progressionslehre des Traité noch nicht. 31 Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition. Anderer Theil, Lobenstein  : Selbstverlag 1746, S. 115. Sorge leitet den (diatonischen) Modus von den drei »Haupt- und Grund-Klängen« ab. 32 Vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 127ff. 33 Rameau, Démonstration, S. 40. (»Unsere musiktheoretischen Autoren, die die Beziehung der Konsonanzen nur aufgrund der Zahlenverhälltnisse beurteilen, werden bald sehen, wie ihre [Gedanken-]Gebäude einstürzen  : Denn es ist unmöglich, irgendein diatonisches System im Oktavraum zu etablieren, ohne dass sich dort alterierte Konsonanzen fänden.«) 34 Johann Friedrich Daube, General-Baß in drey Accorden, Leipzig  : Andrä 1756, S. XIII. 35 Zur Funktionalität der Oktavregel vgl. Holtmeier, »Heinichen, Rameau, and the Italian Thoroughbass Tra-

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Stufen der Skala ihren natürlichen »Sitz« haben. Das Grundprinzip der Oktavregel ist der »motus gradativus«,36 der Stufengang. Jeder Stufe der Tonleiter werden bestimmte Akkorde zugeordnet. Wesentlich ist der Oktavregel, dass streng zwischen »absteigenden« und »aufsteigenden« Akkordfunktionen unterschieden wird. Die Oktavregel und die mit ihr einhergehende Akkord- und Progressionslehre sind grundsätzlich dynamischer Art  : Die Funktion einer Stufe und des ihr zugeordneten Klangs hängt von ihrer Bewegungsrichtung ab (aufwärts, abwärts, Sprung). Dur und Moll sind zu Beginn des 18. Jahhunderts tatsächlich Modi  : Sie definieren sich als Skalen, als Tonleitern, deren inneres Wesen gleichsam die stufenweise Bewegung ist und deren Skalentönen bestimmte Bewegungstendenzen eignen. Beim »mode mineur« wird das unmittelbar greifbar, indem Moll in der Aufwärts- und in der Abwärtsbewegung eine andere Gestalt hat  : Die Skalenstufen 6 und 7 sind je nach Bewegungsrichtung variabel  : Moll ist hierin der wahre Erbe des Dorischen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird man so gut wie nie eine Darstellung der Modi bzw. der Tonleitern finden, die nicht genau jene unterschiedlichen Bewegungsrichtungen (aufwärts / abwärts) auch darstellte. Und das nicht allein beim »mode mineur«, sondern eben auch beim »mode majeur«. Überspitzt könnte man sagen, dass Moll im Wechsel seiner variablen Töne sein modales Wesen in der Skalengestalt selbst sichtbar nach außen kehrt, während die vermeintliche Identität der Töne der auf- und absteigenden Durskala dieses verbirgt  : Aber tatsächlich wird auch der »mode majeur« der Oktavregel wie ein echter Modus behandelt  : Er ist variabel durch die unterschiedlichen Bewegungstendenzen vermeintlich gleicher Skalentöne. Die modale Qualität der Oktavregel zeigt sich vor allem darin, dass sie – wie Rameau bereits im Traité ausdrücklich festhält – eigentlich aus zwei Tonleitern besteht  : nämlich der Haupttonleiter und der Tonleiter der fünften Stufe, der Dominante.37 Aber bereits Heinichen hat in seiner Beschreibung des Systems der Oktavregel diese diatonisiert38 und damit eine Entwicklung vorgezeichnet, die wohl in erster Linie für das Verschwinden der Oktavregel als dominierendes musiktheoretisches Paradigma in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verantwortlich sein dürfte. Die Skala ist bereits gegen Ende des 18. Jahrhundert gerade bei den führenden Musiktheoretikern nicht mehr das grundlegende »principe«, aus dem alles andere hervorgeht, so wie es in der praktischen Musiktheorie der Fall war, sondern entsteht aus der Horizontalisierung jener drei Ak-

dition  : Concepts of Tonality and Chord in the Rule of the Octave«, in  : Journal of Music Theory 51/1 (2007), S. 5–49. 36 Meinrad Spieß, Tractatus Musicus Compositorio-Practicus, Augsburg  : Johann Jakob Lotters Erben 1745, S. 23. 37 Zur historischen Herkunft der Oktavregel aus einer Kette von Doppia-Kadenzen vgl. Holtmeier, »Heinichen, Rameau, and the Italian Thoroughbass Tradition«, S. 17. Klar ist, dass diese natürliche, historisch gewachsene Gestalt quer zum Konzept einer diatonischen Einheit steht. 38 Vgl. ebd., S. 28ff.

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korde, die bei Rameau als »harmoniques«39 direkt aus dem »générateur«, dem »principe« hervorgegangen sind. Dabei tritt aber das dynamische Wesen der Skala, der Tonleiter, also das stufenweise Durchschreiten eines Tonraums in den Hintergrund  : Es wäre sicher übertrieben zu behaupten, dass der neuere Begriff der »Tonart«, der im Laufe des 18. Jahrhunderts aufkommt und sich verbreitet, genau diesem Materialverständnis zugeordnet sei, doch das langsame, aber unaufhaltsame Zurücktreten der Begriffe »Tonleiter«, »gamme«, »scale«, »Skala«, »scala«, »mode« etc. zugunsten der Begriffe »ton«, »tono«, »Tonart«, »Ton« hängt mit diesem gewandelten Verständnis von Modus ursächlich zusammen. Die Horizontalisierung der Dreiklänge (»triades«) der vierten und fünften Stufe des »modus major« hat in der Trias harmonica-Tradition seit Henricus Baryphonus eine lange Tradition, wie auch in ihr die Diatonik herrschendes Prinzip ist. Georg Andreas Sorge, dessen musiktheoretisches Werk Ausgangspunkt sowohl für Friedrich Wilhelm Marpurg als auch für Johann Philipp Kirnberger war, erklärt die Skala in diesem Sinne wie Rameau – wenn auch aus einer Tradition heraus, in der die Diatonik ein noch stärkeres Gewicht hat.40 Die Durskala mit ihrem in der Aufwärts- wie der Abwärtsbewegung gleichbleibenden Tonmaterial mag in das moderne Konzept der Diatonik noch hineinzuzwängen sein  ; die Mollskala fügt sich nur gewaltsam und mit weitreichenden Folgen, die bis heute in der immer noch an vielen Orten vermittelten »bürgerlichen« Harmonielehre zu sehen sind. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Gottfried Weber etwa ist die künstliche Zerlegung des Moll in ein »natürliches«, »harmonisches« und »melodisches« Moll bereits vollzogen  :41 Pointiert könnte man sagen, dass dem modalen Moll das Gewand des diatonischen Dur übergezogen wurde  : Auch der »mode mineur« brauchte eine eindeutige Gestalt von invariablen »pitch classes«  : Im natürlichen Moll wurde diese Gestalt gefunden und damit gleichzeitig auch die Angleichung an den »mode majeur« vollzogen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die »Entmodalisierung« der Modi weitgehend abgeschlossen, die Lehre von der harmonischen Prozessualität fast exklusiv auf die Akkordlehre übergegangen. 39 Rameau, Génération harmonique, S. 110. 40 Vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 213ff. In Rameaus Nouveau Systême ist die geometrische Progression das entstehungsgeschichtlich und systematisch Vorgeordnete  : Erst werden die »sons fondamentaux« generiert, anschließend entstehen auf ihnen die »sons harmoniques«, die Dreiklangstöne  ; aus ihnen bildet sich dann die diatonische Oktave. In Sorges ganz in der deutschen Trias harmonica-Tradition verankertem System hingegen entsteht alles unmittelbar aus der Trias harmonica selbst. Die drei Töne des Dreiklangs »strahlen« ihre Ober- und Unterquinttöne aus und generieren so die »drei Hauptklänge« einer Tonart. Hier enden dann die Ähnlichkeiten mit Rameau  : Denn die Idee von »leitereigenen«, diatonischen Klängen, die auf den Stufen der diatonischen Skala errichtet werden, also der Gedanke, dass die Diatonik nach ihrer Zeugung auf jene Klänge, aus denen sie selbst hervorgegangen ist, wieder zurückgreift, ist der Rameauschen Musiktheorie wesensfremd. 41 Holtmeier, Artikel »Weber, Gottfried«, in  : MGG2, Personenteil, Bd. 17 (2007), Sp. 574–577, hier Sp. 576.

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These 4: Mit seiner modalen Identität verliert der »modus minor« im Laufe des 18. Jahrhunderts auch seine modale Autonomie.

Am Anfang des 18. Jahrhunderts existiert der Mollmodus meist noch in Gestalt des Dorischen. Am Ende des Jahrhunderts steht das, was Rameau mit »cohabitation des modes« bezeichnet.42 Dass diese Entwicklung stark mit den Bestrebungen zusammenhängt, die Molltonleiter im Sinne der Obertonreihe und dann auch im Sinne des »corps sonore« oder eben der Trias harmonica-Traditon abzuleiten, ist allgemein bekannt und wird auch in anderen Beiträgen dieses Bandes thematisiert. Diese Ableitung kann grundsätzlich nur in Analogie zur »echten« Obertonleiter oder zum »echten« Senario erfolgen. Am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts findet man in Publikationen mit musiktheoretischen Inhalten häufig die Gegenüberstellung von C-Dur und d-Dorisch.43 Am Ende des 18. Jahrhunderts ist der »mode mineur« auf re faktisch verschwunden.44 Beim Moll-Dorischen ist die modale Autonomie vom »mode majeur« schon allein durch die Vorzeichnung gegeben. Im Traité und auch später noch in der Génération findet sich auf der Ebene der Ableitungslehre dann die (implizite) zahlenmäßige Ableitung aus dem Akkord der »médiante« (e-Moll in C-Dur).45 Aber auf der Ebene der praktischen Musiktheorie tritt schon im Traité a-Moll an die Seite von C-Dur, als durch das geteilte Skalenmaterial »verwandte« Molltonart. Sorge versucht, die theoretische und die praktische Ableitungstheorie gleichsam zu versöhnen, indem er in seinem Compendium argumentiert, dass nicht nur e-Moll, sondern auch E-Dur in den Obertönen angelegt sei – und somit durch die in den Obertönen angelegte Dominanttonart auf aMoll verweise.46 Thomas Campion ist der einzige mir bekannte Autor des 18. Jahrhunderts, der den Unterschied zwischen dem dorischen Mollmodus und dem Mollmodus auf a ausführlich thematisiert. Es gebe, so schreibt Campion 1730 in seiner Addition au Traité d’Accompagnement, die »octaves Réyennes« und die »octaves Layennes«.47 Beides 42 [Rameau und] Gianotti, Le Guide du compositeur, S. 99. Vgl. Holtmeier, Rameaus langer Schatten, S. 34ff., und den Beitrag von Nina Noeske im vorliegenden Band. 43 Das Moll-Dorisch bleibt bis weit ins 18.  Jahrhundert hinein insbesondere in bestimmten musikalischgeographischen Milieus gleichsam das Urmuster des »modus minor«. Arcangelo Corelli zeichnet g-Moll grundsätzlich nur mit einem Vorzeichen, c-Moll nur mit zwei etc. In der Barockforschung hat sich dafür bezeichnenderweise der Terminus »dorische Notation« durchgesetzt. 44 Einst fest verankerte Traditionen haben bekanntermaßen ein langes Nachleben. Auch die Tradition des Moll-Dorischen, vor allem die Tradition der Vorzeichnung, lebt bis ins 19. Jahrhundert hinein weiter. Mitunter wird sie – wie etwa bei Beethoven – in einem bewusst archaisierenden Sinne verwandt. 45 Rameau, Traité, S. 31. 46 Georg Andreas Sorge, Compendium harmonicum oder kurzer Begrif der Lehre von der Harmonie, Lobenstein  : Selbstverlag 1760, S. 3. 47 Thomas Campion, Addition au Traité d’Accompagnement et de Composition par la règle d’octave, Paris  : [Selbst­verlag] 1730, S. 48ff.

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seien Ausdrucksformen und Notationskonventionen des »mode mineur«. Er plädiert für eine Beibehaltung von insgesamt drei »modes«  : des »mode majeur« und der zwei Formen des »mode mineur«. Campions sehr eigenwillige Argumentation berührt sich dabei mit dem »modernen« Verständnis des »diatonique«  : »Natürlich« ließen sich nur Skalen singen, die keine zusätzlichen Vorzeichen benötigten.48 Campion erklärt (aus der Solmisationspraxis) heraus den Mollmodus letztlich als aus der »octave Réyenne« und der »octave Layenne« zusammengesetzt  : In der »Réyenne« schreitet man aufwärts, in der »Layenne« abwärts. Dass in der Notations- und Aufführungspraxis die Erhöhungen notwendig sind und damit dem »mode mineur« die alte modale Richtungsvariabilität grundsätzlich erhalten bleibt, ist für Campion eine Frage der Praxis – und damit ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts kein Widerspruch zur Theorie seiner drei »Oktavregeln«. Die Gleichsetzung von Natürlichkeit und Diatonik bzw. die Verlagerung des Natürlichkeitsbegriffs von der »multitonalen« Oktavregel auf die »reine« Diatonik zeigt sich auch in Campions Theorie von der »règle de l’octave«. Die »octave Layenne« setzt sich schließlich durch und wird in der Folge durch die »Ehemanntonart« C-Dur49 gleichsam geschluckt. Rameau findet dafür in seinen späten Schriften den Begriff der »cohabitation des modes«. Da die absteigende Skala von a-Moll, also das spätere sogenannte »natürliche Moll«, die gleichen Töne enthalte wie die C-DurSkala, sei es von C-Dur abhängig. Dass bei der ableitungslogischen Vereinnahmung des Mollmodus durch das »parallele« Dur, die ein Signum fast aller ambitionierten Musiktheorie des späten 18. Jahrhunderts war, das dem Modus inhärente Moment der Instabilität eine gewisse Rolle gespielt haben mag ebenso wie der musiktheoretische Diskurs der sogenannten »Verwandtschaft«, der die modale Variabilität zurück- und die Nähe zur »parallelen« Durtonart hervortreten lässt, ist nicht von der Hand zu weisen. Entscheidend für diese Entwicklung waren aber vorrangig die Diatonisierung und die Entmodalisierung der Skala  : Die »bürgerliche Harmonielehre« hat diese Tendenzen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gleichsam vollstreckt. Das Verständnis der Tongeschlechter und ihres Verhältnisses zueinander, das dort entwickelt wurde, prägt die Harmonielehre bis auf den heutigen Tag. Das »Verschwinden« des autonomen Mollmodus ist selbst wiederum eingebettet in die übergeordnete, beherrschende musiktheoretische Entwicklungstendenz des späten 18. und 19. Jahrhunderts  : in das Streben hin zu einer in sich geschlossenen, einheitlichen, systematischen, holistischen Musiktheorie, die die zusammenhängenden, aber dennoch autonomen Bereiche der »génération«, des »accompagnement«, des Kontrapunkts etc. nicht länger bestehen lässt, sondern sie einer einheitlichen Begrifflichkeit und vereinheitlichten Ableitungslogik unterwirft. Dieser moderne Theoriebegriff kann

48 Ebd., S. 49. 49 Vgl. Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition. Erster Theil, Lobenstein 1745, S. 30 und 32, zitiert im Beitrag von Nina Noeske zum vorliegenden Band, S. 55.

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in der aufregenden Vielfalt der musiktheoretischen Perspektiven, die das frühe 18. Jahrhundert prägt, nur Mangel an Stringenz und logischer Konsequenz erkennen.

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Louis Delpech

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700 Lully, Couperin, Bach, Händel

Die Entstehung, Kodifizierung und Rezeption des französischen Stils im 17. und frühen 18. Jahrhundert ist bislang kaum unter Berücksichtigung seiner tonalen bzw. modalen Aspekte untersucht worden, sondern vor allem in Bezug auf Gattungen, Aufführungstraditionen, Rhythmik und Instrumentationspraxis.1 Diese Beschränkung geht einerseits auf die zeitgenössischen Quellen zurück, die dem französischen Stil keine Besonderheit in der Anwendung der Modi bzw. Tonarten zuerkennen, andererseits auf das Unbehagen an einer musikalischen Sprache, die sich aus heutiger (und anachronistischer) Sicht in einem unbestimmten Grenzbereich zwischen alten Kirchentonarten und moderner Tonalität bewegt.2 Die verbreitete Sichtweise, dass französische Theoretiker im Gegensatz zu ihren deutschen und italienischen Kollegen der »seconda pratica« lange abgeneigt blieben und dementsprechend bis zur Mitte des 17.  Jahrhunderts die Harmonielehre von Gioseffo Zarlino unverändert und konservativ tradierten (was auf die vermeintlich späte Einführung des Generalbasses in Frankreich sowie manchmal auch auf gesellschaftliche Strukturen zurückgeführt wird), spielt wahrscheinlich auch eine Rolle bei dieser Einschätzung.3 Daher bleibt die Diskussion über die Verwendung der 1 Unter den wenigen Studien, die diese Fragestellung anhand des französischen Repertoires behandeln, sind Bertrand Porot, »Tonalité et modalité dans les pièces de clavecin de d’Anglebert  : éléments pour une analyse harmonique«, in  : Musurgia 7/1 (2000), S. 61–87  ; ders., »Les tonalités dans les divertissements des opéras de Lully et Quinault  : approche dramaturgique«, in  : Formes et formations au dix-septième siècle, hrsg. von Buford Norman, Tübingen 2006, S. 133–147  ; Jean Duron, »Le Bel édifice  : l’architecture des tonalités«, in  : Vénus & Adonis (1697), tragédie en musique de Henry Desmarest. Livret, étude et commentaire, hrsg. von Jean Duron und Yves Ferraton, Sprimont 2006, p. 151–156  ; Gérard Geay, »Le style des vingt-quatre violons et les premières compositions du jeune Lully«, in  : La naissance du style français (1650–1673), hrsg. von Jean Duron, Wavre 2008, S. 115–134. 2 Vgl. etwa zu einer Sarabande von Jacques Champion de Chambonnières James Anthony, French Baroque Music from Beaujoyeulx to Rameau, London 1973, S. 242f.: »This example is atypical of much seventeenth-century harpsichord music whose harmony operates, in part, in a pre-tonal shadow zone. It is both an irritant, to those of us who unfortunately began life with a built-in tonal bias, and at the same time a constant delight to have one’s tonal compass totally disoriented.« 3 So etwa Thomas Christensen, Rameau and Musical Thought in the Enlightenment, Cambridge 1993, S. 44f.: »On the whole, we may say that until mid-century, French theorists tended to be rather traditional. For example, we find Zarlino’s restrictive rules of counterpoint taught faithfully in France long after they were aban-

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Louis Delpech

Tonarten in Frankreich vor Jean-Philippe Rameaus Traité de l’Harmonie (1722) oft auf die Charakterisierung der verschiedenen Modi in Marc-Antoine Charpentiers Règles de composition beschränkt – ein Text, dessen breite Rezeption im 20. Jahrhundert im Gegensatz zu seinem ursprünglichen handschriftlich-privaten Charakter als pädagogisches Kompendium für den Duc de Chartres steht.4 Zwar gab es zwischen der französischen, italienischen und deutschen Harmonik keine scharfe Grenze, sondern fließende Übergänge, und ausgerechnet Charpentiers eigene Harmonik wurde von italienischen Modellen, u. a. von Giacomo Carissimi, stark beeinflusst.5 Nichtsdestotrotz scheinen gewisse harmonische Charakteristika, auch wenn sie nicht explizit theorisiert oder reflektiert wurden, eine wichtige Rolle sowohl bei der Konstitution als auch bei der Rezeption eines – bekannterweise eher auf Harmonik als auf Kontrapunkt fokussierten  – französischen Stils gespielt zu haben. Zu diesen harmonischen Mitteln zählt u. a. der Wechsel in die Varianttonart, der kaum im italienischen Stil anzutreffen ist, ab den 1650er Jahren aber zum strukturellen Parameter und stilistischen Merkmal der französischen Instrumental- und Vokalmusik wurde. In Musik aus Frankreich oder nach französischer Art scheint der Variantklang die Beziehung zwischen Dur und Moll in der Tat besonders stark zu prägen und lässt folglich die zwei Geschlechter einer Tonart als zwei mögliche sekundäre Eigenschaften ein und desselben Grundtons erscheinen. Zugleich wird aber das expressive Potenzial des Wechsels in die Variante, die oft als diametraler Gegenpol einer Tonart eingesetzt wird, von den Franzosen sehr bewusst und sehr oft geltend gemacht. Es ist mehrfach bemerkt worden, dass in der französischen Theorie die Polarität der beiden Tongeschlechter Dur und Moll schon relativ früh mit Bezug auf Zarlino behauptet wurde und die zwölf Modi der Antike bzw. acht Kirchentonarten anhand ihrer großen bzw. kleinen Terz auf die beiden C- und d-Modi reduziert wurden.6 Schon in den 1670er Jahren sprach Antonio Bertali von einer »französischen Meinung, daß nit mehr als zwey doned in most other countries. The reason for the conservative nature of French theory might be explained in part by a confluence of social and political factors in which the church, court, and music guilds sought to maintain tight control over musical pratice by keeping at bay many of the innovations stemming from the Italian seconda pratica.« Vgl. auch Robert Zappula, Figured Bass Accompaniment in France (= Speculum Musicae 6), Turnhout 2000, S. VIII  : »Clearly, the conservative French were slow in adopting the thoroughbass technique but by the mid-XVIIth century or so had finally embraced it.« 4 Theodora Psychoyou, »Les Règles de composition par Monsieur Charpentier  : statut des sources«, in  : Les Manuscrits autographes de Marc-Antoine Charpentier, hrsg. von Catherine Cessac, Wavre 2007, S. 201–221. 5 Vgl. neuerdings Graham Sadler und Shirley Thompson, »The Italian Roots of Marc-Antoine Charpentier’s Chromatic Harmony«, in  : Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel 1650–1750 (= Analecta Musicologica 52), hrsg. von Anne-Madeleine Goulet und Gesa zur Nieden, Kassel 2015, S. 546–570. 6 Walter Atcherson, »Key and Mode in Seventeenth-Century Music Theory Books«, in  : Journal of Music Theory 17/2 (1973), S. 204–232, hier S. 225  : »The second option, C major paired with D Dorian, seems to be a French phenomenon.« Vgl. auch Bertrand Porot, »Tonalité et modalité«, S. 64  : »La réduction des modes à deux est, en fait, une notion qui apparaît assez tôt en France et qui semble être une spécificité théorique de ce pays.«

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Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Toni seindt, einer per B moll, der ander per quadro von ihnen genent.«7 Ausgangspunkt dieser doppelten Klassifizierung der Modi, die mit dem alten System der Kirchentonarten parallel geht, bildet wohl Marin Mersennes Traité de l’Harmonie (1636)  : »Par où l’on peut conclure qu’il n’y a que deux Modes qui soient differens en leurs cadences, ou chordes principales, & que ceux qui reduisent tous les tons, & les Modes à deux sortes de modulations, ou de deductions, à sçavoir au quarre, & au mol, ne parlent pas sans raison  : car la plus grande difference des Modes vient de ce que les uns ont la Tierce mineure, où les autres ont la majeure  : ce qui arrive par le moyen du ♭ mol & du ♮ carre […].«8

Die Reduktion aller Modi auf lediglich zwei Dur- und Mollskalen kann anhand von Anleitungen zur Komposition oder zum Generalbass ins späte 17. Jahrhundert weiterverfolgt werden. Zum Beispiel beschreibt Guillaume Gabriel Nivers diese beiden Grundmodi für die Figuralmusik in seinen beiden späteren Traktaten.9 Ab den 1690er Jahren werden sie in knapper Form auch von Charpentier10 und Michel de Saint-Lambert11

  7 Antonio Bertali, Instructio Musicalis, zitiert nach  : Hellmut Federhofer, »Zur handschriftlichen Überlieferung der Musiktheorie in Österreich in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts«, in  : Die Musikforschung 11/3 (1958), S. 264–279, hier S. 275.   8 Marin Mersenne, Harmonie Universelle contenant la théorie et la pratique de la musique, Bd. 1, Paris 1636, S. 187f., vermutlich hier mit Anspielung auf Zarlino. In der folgenden Proposition schreibt Mersenne  : »Puis que toute la Musique Diatonique à une, deux, ou plusieurs parties, se chante par ♭ mol, ou par ♮ quarre, il n’y a nul doute que l’on peut y réduire tous les modes.«   9 Guillaume Gabriel Nivers, Dissertation sur le chant grégorien, Paris 1683, S.  105  : »Pour l’intelligence parfaite de ces choses, l’on doit sçavoir que tout le Chant consiste en huit Modes ou Tons, lesquels peuvent se réduire à quatre par leurs finales, & mesme à deux par la seule difference de la Tierce majeure & de la Tierce mineure.« Dieser Unterschied findet sich zwar nicht im früheren Traité de la composition (Paris 1672), aber noch im späteren Vorwort zu den Motets à voix seule (Paris 1689)  : »Tous les Modes & tous les Tons, naturels et transposez, de toutes sortes de Pieces generalement quelconques, se réduisent & se rapportent à trois sortes de maniere ou progres [sic] de chant. La premiere maniere se traite & se réduit par l’ut, c’est le chant que l’on appelle Becarre, qui procede par la Tierce majeure sur sa Note finale. La seconde maniere se traite & se réduit par le re, c’est le chant qu’on appelle Bemol, qui procede par la Tierce mineure sur sa note finale. […] Il y a une troisième maniere de chant & particuliere aux cadences qui se font en mi en descendant par le fa. Ce ton est plus ordinaire au Pleinchant [sic] qu’aux Pieces de Musique.« 10 Marc-Antoine Charpentier, »Règles de composition« [vor 1690], in  : Catherine Cessac, Marc-Antoine Charpentier, Paris  : Fayard, 1988, S. 454  : »Tous les modes peuvent se rapporter au mode d’ut ou au mode de ré. Le mode d’ut a la 3ce majeure. Le mode de ré a la 3ce mineure. Tous les modes qui ont la tierce majeure ressemblent au mode de l’ut. Tous les modes qui ont la tierce mineure ressemblent au mode de ré.« 11 Michel de Saint-Lambert, »Nouveau traité d’accompagnement« [1707], in  : Basse Continue France 1600–1800, hrsg. von Jean Saint-Arroman, Courlay 2006, S. 282  : »Il n’y a que deux Modes en Musique  : le Mode majeur, & le Mode mineur. Le Mode d’un Air est majeur quand la tierce, la sixième, & la septième de la finale ou note tonique sont majeures. Le Mode est mineur quand la tierce, la sixième, & la septième de la finale sont mineures.«

133

Louis Delpech

erläutert sowie in einigen anonymen handschriftlichen Quellen.12 Noch 1707 vermerkt Saint-Lambert explizit, dass die Terminologie noch nicht festgelegt war und das Begriffspaar Dur-Moll entweder »majeur-mineur« oder nach altem Brauch »bécarre-bémol« genannt werden konnte, wobei er schon die erste, moderne und unserem heutigen Usus entsprechende Variante bevorzugte.13 In seiner Gesangsschule hatte Jean Rousseau 1678 die zwei Grundmodi aus etymologisch-visuellen Überlegungen mit besonderen Affekten verbunden  : Moll habe einen weichen, zarten und sehnsüchtigen Ausdruck, Dur im Gegensatz dazu einen freudigen, hüpfenden.14 Nicht nur die große bzw. kleine Terz der Modi, sondern auch die Anzahl und Positionierung ihrer Kadenzstufen (»cordes«) dienten zur melodischen und zugleich harmonischen Unterscheidung zwischen Dur und Moll. Laut Charpentier besitzen »Moll-Modi« drei Kadenzstufen  : die Tonika, die Mediante und die Dominante. Dagegen haben die »Dur-Modi« nur zwei Kadenzstufen  : die Tonika und die Dominante.15 Daher ergibt sich eine Asymmetrie zwischen Dur und Moll  : Während es in Moll üblich ist, auf der III. Stufe (tonal gesehen die Durparallele) zu kadenzieren, kann man in Dur weder auf der III. noch auf der VI. Stufe (tonal gesehen die Mollparallele) kadenzieren, ohne den Ausgangsmodus zu verlassen. Die Abwesenheit einer gegenseitigen Parallelverwandtschaft zwischen Dur- und Molltonarten spiegelt sich konsequent in der Kompositionspraxis wi12 Vgl. etwa die anonymen »Règles pour l’accompagnement« [ca. 1690], in  : Basse Continue, France 1600–1800, hrsg. von Jean Saint-Arroman, Bd. 1, Paris  : 2006, S. 145  : »Il y a deux modes qui sont le mode majeure et le mode mineure [sic].« 13 Saint-Lambert, »Nouveau traité d’accompagnement«, S. 283  : »Quelques Musiciens au lieu d’user des termes de majeur & de mineur pour exprimer le mode d’un Air, se servent des anciens termes de Becarre & de Bemol. Pour marquer qu’un Air est en C Sol Ut Mode mineur, ils disent qu’il est en C Sol Ut Bemol  ; Pour marquer qu’un autre est en D La Re Mode majeur, ils disent qu’il est en D La Re Becarre, & ainsi des autres  ; mais ces expressions qui sont peut-être les plus communes, ne sont pas neanmoins si convenables que les autres.« 14 Jean Rousseau, Méthode claire, certaine et facile pour apprendre à chanter la musique, Amsterdam ca. 17105 [Paris 1678], Reprint Genf 1976, S. 73  : »Ces termes de ♭ mol & de ♮ quarre font deux Voix ou Modes qui tirent en quelque façon leur étimologie [sic] des effets qu’ils produisent  : Car quand on dit ♭ mol, c’est comme si l’on disoit ♭ doux  ; parce que le ♭ mol est un Mode propre pour les chant doux, tendres, & languissants  ; & quand on dit ♮ quarre, c’est comme sil l’on disoit ♭ gay, parce que le ♮ quarre est un Mode propre pour les chants gais  : Je ne veux pourtant pas dire, qu’on ne puisse composer des Airs gais par ♭ mol, & des Airs tendres par ♮ carre  : mais il est certain que le ♭ mol est plus propre pour le tendre, & le ♮ quarre pour le gay. Il semble que les Anciens nous ont voulu faire connoître cela par les figures mesmes qu’ils ont données au ♭ mol & au ♮ quarre  ; car le ♭ mol a une figure ronde, & il est certain que toute figure ronde est propre à rouler doucement  ; au lieu que le quarre a une figure quarrée, & l’expérience nous apprend que toute figure quarrée ne peut rouler qu’en sautillant, par bonds, & en faisant quelque bruit.« 15 Vgl. etwa Charpentier, »Règles de composition«  : »Les modes ont trois cordes essentielles, savoir la finale qui est la note du mode, la tierce au-dessus de la finale que l’on appelle la médiante, et la quinte au-dessus de la finale qu’on appelle la dominante. Les modes qui ont la tierce majeure n’ont que deux cordes essentielles, savoir la finale et la dominante. Les modes qui ont la tierce mineure ont trois cordes essentielles, savoir la finale, la médiante et la dominante.«

134

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

der, was natürlich für die tonalen Strukturen des französischen Stils weitreichende Konsequenzen hat und ihn sehr deutlich von dem italienischen bzw. deutschen Stil abgrenzt. Tatsächlich hat Florian Edler am Beispiel der italienischen Triosonate vor Arcangelo Corelli eine allmähliche Standardisierung der Modulation in die Paralleltonart als Alter­ native zur Wendung in die Oberquinttonart feststellen können, sowohl bei Moll- als auch bei Durtonarten.16 Auch in anderen vokalen oder instrumentalen Gattungen erscheint diese Parallelverwandtschaft strukturierend sowohl im italienischen als auch im deutschen Bereich.17 Wie Bella Brover Lubovsky gezeigt hat, können V ­ ariantverhältnisse ausnahmsweise zwar auch bei Antonio Vivaldi gefunden werden, ohne jedoch die strukturelle Bedeutung der Parallelverwandtschaft zu schwächen.18 Dagegen scheint die grundlegende Funktion, die die Paralleltonart ab den 1680er Jahren in der italienischen und deutschen Musik einnimmt, im zeitgenössischen Frankreich keine Entsprechung zu haben, insbesondere im Fall von Durtonarten. Stattdessen hat in der französischen Musik zwischen Lully und Rameau, so meine These, eher die Varianttonart eine strukturelle Funktion inne, da in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen sehr oft und unmittelbar von der Grundtonart in die Varianttonart gewechselt wird, freilich nur bei Tonarten, die diesen Wechsel innerhalb der üblichen Tonarten erlauben – d. h. vor allem c, d, g und a, aber nicht f, h oder e. In der französischen Kompositionspraxis scheint also der Wechsel ex abrupto in die Variante sehr geläufig und unproblematisch zu sein und diese Verwandtschaft die Beziehung zwischen Dur und Moll zu strukturieren. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass der Wechsel in die Varianttonart um 1700 zu einem grundsätzlichen Merkmal des französischen Stils wurde und dass diese Besonderheit von deutschen Komponisten stillschweigend wahrgenommen und bei ihrer Anwendung des französischen Stils bewusst eingesetzt wurde. Diese These, die meines Wissens bisher nicht explizit erörtert wurde, soll hier anhand zweier Repertoireschichten exemplarisch überprüft werden  : zum ei16 Florian Edler, »Der Dur-Moll-Kontrast in der italienischen Triosonate«, in  : Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3 (2006), S. 307–326. 17 Bella Brover Lubovsky, Tonal Space in the Music of Antonio Vivaldi, Bloomington 2008, S. 91–114. Vgl. auch Michael Talbot, »How Recitatives End and Arias Begin in the Solo Cantatas of Antonio Vivaldi«, in  : Journal of the Royal Musical Association 126/2 (2001), S. 162–192, und Ellen Harris, »Harmonic Patterns in Handel’s Operas«, in  : Eighteenth-Century Music in Theory and Practice  : Essays in honor of Alfred Mann, hrsg. Mary Ann Parker, Stuyvesant 1994, S. 77–118. 18 Bella Brover Lubovsky, »›Die Schwarze Gredel‹, or the Parallel Minor Key in Vivaldi’s Instrumental Music«, in  : Studi Vivaldiani 3 (2003), S.  105–131, besonders S.  106f.: »In France the juxtaposition of major and minor modes over the same note tonique appears routinely. […] For minor-key contrast within a major-key movement or cycle of movements, Italian composers and their northern imitators move for choice to the relative minor and its satellites, not to the parallel minor. The adoption of the parallel minor key as a means of offering modal contrast arrives only at the end of the century. […] Speaking generally, the contraposition of parallel major and minor keys is an exceptional, not a regular, feature of Italian music of the seventeenthcentury.«

135

Louis Delpech

nen in einem genuin französischen Repertoire, anhand verschiedener Gattungen (Ballett, Oper, Kirchenmusik, Musik für Tasteninstrumente) vor allem in Kompositionen von Jean-Baptiste Lully und François Couperin  ; zum anderem in mehreren Kompositionen nach französischer Art von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel.

1. Variantverhältnisse im französischen Repertoire

Den ersten Bereich, in dem sich ein regelmäßiger Wechsel in die Variante beobachten lässt, bildet das französische Repertoire zwischen ca. 1650 und 1730. Die Tanz- bzw. Orchestersuite stellt hier ein besonders gutes Beispiel dar, da sowohl das Ballett als auch die Suite wegen ihrer raschen Abfolge von kurzen, abgeschlossenen Sätzen für plötzliche Kontraste oder Wechsel sehr gut geeignet sind. Hier erfolgt der Wechsel in die Variante zwar nicht innerhalb eines Satzes (dessen erster Teil in der Regel vom Grundton zur Dominante und – im Falle von Molltonarten – zunehmend zur Mediante moduliert), aber sehr oft von einem Satz zu dem folgenden. Schon 1653 im Ballet Royal de la Nuict, dem ersten königlichen Ballett nach der Fronde unter Beteiligung von Isaac de Benserade (Libretto) und Jean de Cambefort (Teile der Musik), spielt dieses Variantverhältnis eine sehr wichtige Rolle. Nach der Ouvertüre in gMoll19 werden die ersten beiden Rezitative als kontrastierendes Paar auf der Moll- bzw. Dur-Dominante gestaltet  : Dem von »Mr de Cambfort« solistisch gesungenen, nächtlichen und traumhaften »Récit de la Nuict« in d-Moll mit seinen langen Notenwerten und ausgeprägter Chromatik folgt ein energischer und diatonischer »Récit des Heures« in D-Dur, vom Solisten und dem Chor gesungen, auf einen Text zum Lob der Sonne. Nach diesem Satz singt Cambefort in einer Art Da capo erneut die zweite Strophe seines Récits, mit einem entsprechenden Wechsel nach d-Moll, und der Chor setzt danach wieder in D-Dur ein. Die darauffolgenden Entrées sind ebenfalls durch den Wechsel in die Variante geprägt, dieses Mal aber im Tonika-Bereich  : Die 1. und 2. Entrée (die Stunden und Protée) stehen in g-Moll, die 3. und 4. Entrée (die Nereiden und die Jäger) dagegen in G-Dur. Erst mit dem 2. Air für die Jäger kehrt man nach g-Moll zurück. Der Rest des Balletts wechselt ständig zwischen g-Moll und G-Dur, mit Ausnahme einer kurzen Episode im Bereich der Mediante B-Dur am Anfang des 2. Teils (vgl. Tabelle 1). Insgesamt fällt die extreme Stabilität der Grundtonart auf, da der (moll- oder durgefärbte) Grundton fast nicht verlassen wird  : Auf der Makro-Ebene werden zwar gelegentlich die Mediante und die Dominante des Grundtons berührt, aber auf der Mikro-Ebene spielt der Variantklang eine wichtigere Rolle.

19 Hier wie im Folgenden werden der Einfachheit halber Tonarten angegeben, obwohl die Harmonik von den Kirchentonarten stark beeinflusst bleibt und die zeitgenössische Terminologie lieber von Modi spricht.

136

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Erster Teil

Zweiter Teil

Ouverture

g

1e Entrée, 3 Parques et la Vieillesse et la tristesse

g

Récit de la Nuict »Languissante clarté«

d

Récit de Venus »Fuyez bien loin«

C

Récit des Heures »Vous poussez le soleil«

D

2 Entrée, Les Jeux les Ris l’Hymen

G

La Nuict »Je descends pour charmer«

d

3 Entrée, Deux Pages

g

Chœur »Tenez donc vos rideaux«

D

4 Entrée, Roger Bradamante & toute sa compagnie

B

1re Entrée, Les 4 Heures

g

5e Entrée, La Nourisse & l’Enfant

B

2 Air pour les mesmes

g

6 Entrée, Medor & Angélique

g

2e Entrée, Protez

g

2e Air pour les mesmes

G

3e Entrée, 5 Nereïdes

G

7e Entrée, Cardet & Guidon

g

4e Entrée, 6 Chasseurs

G

8e Entrée, Richardel & Fleur Despine

G

2e Air pour les mesmes

g

2e Air Triolet pour les mesmes

G

5 Entrée, 2 Bergers & deux bergeres

g

9 Entrée, Thetis & Pelée

g

6e Entrée, Un Mercier

G

2e Air pour les mesmes & 3 Grasses

G

2e Air pour les mesmes et 2 Bandits

g

3e Air, Mercure en mercier

g

3e Air pour les mesmes un Carosse

g

7e Entrée, 2 Galants & deux coquettes

g

2 Air pour les mesmes

G

e

e

e

8 Entrée, Les Egyptiens et les Egyptiennes

g

9e Entrée, 2 Gagnes-petis [sic]

G

10e Entrée, Les Boutiques se ferment

g

11 Entrée, 3 Allumeurs de Lenternes

G

e

e

12 Entrée, 4 Porteurs de Chaisse

g

2e Air les mesmes

G

13e Entrée, 2 Filoux

g

14 Entrée, Les Gueux les estropiez & soldats

g

e

e

e

e

e

Tabelle 1: Tonarten der Sätze in den ersten beiden Teilen des Ballet Royal de la Nuict von Isaac de Benserade und Jean de Cambefort [u. a.], 1653. Abschrift von Philidor, ca. 1690 (F-Pn, Rés. F-501)

In späteren Ballets de cour von Lully finden sich ebenfalls zahlreiche Beispiele, bei denen unmittelbar vom Grundton in die Variante gewechselt wird. Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass dieser Wechsel nicht so systematisch wie im Ballet de la Nuict erfolgt und andere Kandenzstufen wie die Dominante, die Subdominante oder im Fall von Molltonarten die Mediante durchaus und zunehmend präsent sind. Im Ballet des Saisons LWV 15 aus dem Jahr 1661 lassen sich diese beiden parallelen Entwicklungen sehr gut 137

Louis Delpech

beobachten. Der Anfang ist ganz nach dem Prinzip des Wechsels zwischen g-Moll und G-Dur gestaltet  : Nach der Ouvertüre und dem Chœur des Bergers in g-Moll erklingt die 1.  Entrée für die Faune in G-Dur, dann der Récit der Nymphe von Fontainebleau wiederum in g-Moll. Am Ende des Balletts wird aber ab dem Récit der Masken in der Mitte des 7. Auftritts nach B-Dur gewechselt, also in die Mediante von g-Moll, und das Ballett in B-Dur abgeschlossen (vgl. Tabelle 2). Im Ballet de Flore LWV 40 von 1669 wird das tonale Zentrum weniger stabil, der Wechsel in die Variante seltener und die Präsenz von Subdominant-, Dominant- bzw. Parallelverwandtschaften auf einer Metaebene noch deutlicher behauptet  : Nach einem gleichförmigen Anfang in d-Moll wechselt die 4. Entrée nach g-Moll bzw. G-Dur, ab der 7. Entrée befindet man sich in B-Dur bzw. F-Dur, ab der 10. Entrée in g-Moll bzw. G-Dur, und in der letzten Entrée in C-Dur. Der Variantklang erscheint also in diesem Werk nur im Zusammenhang mit g-Moll und eher selten  : einmal im ersten Block (LWV 40/9) und dreimal im zweiten (LWV 40/22, 27, 29). Damit erscheint der Wechsel in die Variante eher auf Satzpaare beschränkt, die einen kontrastierenden Charakter aufweisen sollen (vgl. Tabelle 3). Ouverture

LWV 15/1

g

Chœur des Bergers

LWV 15/2

g

I. Entrée

LWV 15/3

G

Recit de la Nymphe de Fontainebleau

LWV 15/3

g

II. Entrée Diane et ses nymphes

LWV 15/5

G

2 Air

LWV 15/6

G

Bourée pour les mesmes

LWV 15/7

G

III. Entrée Flore et les Jardiniers

LWV 15/8

g

IV. Entrée Ceres et les Moissonneurs

LWV 15/9

g

e

Gavotte pour les mesmes

LWV 15/10

g

V. Entrée L’Automne

LWV 15/11

g

2 Air

LWV 15/12

G

VI. Entrée Les gallands

LWV 15/13

g

VII Entrée Une Bohemienne et les Masques

LWV 15/14

g

e

Les Masques

LWV 15/16 [sic]

g

Recit des Masques

LWV 15/17b

B

Ritournelle

LWV 15/17a

B

VIII Entrée

LWV 15/19

B

Premier air pour le Printemps

LWV 15/20

B

IX. et dernière Entrée

LWV 15/21

B

Tabelle 2: Tonarten der Sätze in Jean-Baptiste Lullys Ballet des Saisons LWV 15

138

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Ouverture

LWV 40/1

d

Récit de l’Hyver

LWV 40/2

d

Chœur des Glaçons

LWV 40/3

d

Second couplet



d

I. Entrée, Le Soleil

LWV 40/4

d

II. Entrée, Flore et ses Compagnes

LWV 40/5

d

III. Entrée, Les Nayades et les Driades

LWV 40/6

d

Bourée pour les mesmes

LWV 40/7

d

IV. Entrée, Le Printemps

LWV 40/8

g

V. Entrée, Les Jardiniers et les Galants

LWV 40/9

G

VI. Entrée, Les Galants et les Dames

LWV 40/10

g

Menuet pour les mesmes

LWV 40/11

g

VII. Entrée, Les Esclaves

LWV 40/12

B

VIII. Entrée, Les Débauchez

LWV 40/13

B

Menuet pour les mesmes

LWV 40/14

B

Serenade pour des nouveaux Mariez, Ritournelle

LWV 40/15

F

L’Hymen »Si vous vous aymez bien tous deux«

LWV 40/16a

F

Tous trois

LWV 40/16b

F

L’Amitié, la Fidélité »Amour veut qu’on suive«

LWV 40/17

F

IX. Entrée, Le Marié et la Mariée

LWV 40/18

B

Une Musicienne [nur in einer Quelle]

LWV 40/19

F

X. Entrée, L’Aurore

LWV 40/20

g

XI. Entrée, Les Heures et les Graces

LWV 40/21

g

XII. Entrée, Vertumne

LWV 40/22

G

Plainte de Vénus, sur la mort d’Adonis. Ritournelle

LWV 40/24a

g

Vénus »Ah quelle cruauté«

LWV 40/23b

g

XIII. Entrée, Proserpine et deux de ses Compagnes

LWV 40/25

g

Pluton enlevant Proserpine

LWV 40/26

g

Les Demons

LWV 40/27

G

XIV. Entrée, Les Héros

LWV 40/28

g

Bourée pour les mesmes

LWV 40/29

G

Airs pour Jupiter et le Destin

LWV 40/30-32

G

XV. Entrée, Prelude pour les Quatre Parties du Monde

LWV 40/34a

C

Recit de l’Europe

LWV 40/34b

C

Chœur des quatre parties du monde

LWV 40/36a

C

La marche des Nations

LWV 40/33

C

139

Louis Delpech

Air pour l’Europe

LWV 40/35

C

Canaries

LWV 40/38

C

Menuet pour les Faunes

LWV 40/39

C

Second recit des Quatre Parties du Monde

LWV 40/36b

C

Second Chœur des Quatre Parties du Monde

LWV 40/37

C

Tabelle 3: Tonarten der Sätze in Jean-Baptiste Lullys Ballet de Flore LWV 40

Wenn man im späten Ballet de cour ab 1660 eher eine Schwächung oder zumindest eine Diversifizierung des um 1650 noch allgegenwärtigen Variantverhältnisses als Hauptachse zwischen Moll- und Durtonarten beobachten kann, bleibt diese Verwandtschaft trotzdem sehr präsent und auch im Rahmen der Tragédie lyrique, sowohl im normalen Bühnenverlauf als auch in den daraus kompilierten Instrumentalsuiten (Airs à jouer), erhalten. In diesem Zusammenhang ist Lullys Tragédie en musique Armide (1686) ein gutes Beispiel, sowohl wegen ihrer musikalischen Qualität und der sorgfältigen Planung der Tonarten als auch wegen ihrer sofortigen Anerkennung als Meisterwerk des Surintendant und sogar als Muster der Tragédie en musique  : eine Sonderstellung, die auch Lecerf de la Viéville und noch die spätere Auseinandersetzung zwischen Rousseau und Rameau bezeugt. Obwohl auch hier eine stärkere Rolle der Dominant- und Parallelverwandtschaften festzustellen ist – so bereits im Prolog in C-Dur, wo insgesamt die Parallele aMoll sowie die Molldominante g-Moll als die beiden tonalen Gegenpole zur Haupttonart C-Dur fungieren –, spielt das Variantverhältnis an gewissen entscheidenden Stellen eine wichtige Rolle und scheint als eine Art maximaler Kontrastverstärkung zwischen den beiden Tongeschlechtern zu funktionieren. Dass die Mollvariante als eigentliche Kehrseite einer Durtonart öfter aus dramatischen Gründen eingesetzt wird, zeigen mehrere Beispiele. Im I.  Akt wird etwa am Ende der 3. Szene, einer Triumphszene, wo Hidraot und das Volk von Damaskus den Sieg Armides über die Ritter von Godefroy mit einem langen Chor bejubeln, innerhalb des Rondeau plötzlich mit einem neuen Refrain von C-Dur nach c-Moll gewechselt (I/3, T. 329). Der noch triumphierende Text (»Que la douceur d’un triomphe est extrême, Quand on n’en doit tout l’honneur qu’à soy-même«) wird durch diesen Wechsel ironisch eingetrübt, da ein paar Takte später der dramatische Auftritt von Aronte (»O ciel  ! ô disgrâce cruelle  ! Je conduisois vos captifs avec soin«) und dessen Ankündigung, dass Renaud noch während des Triumphs die Kriegsgefangenen befreit hat, ebenfalls in c-Moll stehen. Der Wechsel in die Mollvariante lässt hier Armides Niederlage anklingen, noch ehe sie davon erfährt. Der ersten Nennung von Renaud (I/4, T. 21f.) folgt unmittelbar die Rückkehr nach CDur (I/4, T. 24)  : Hier bringt der Chor seinen Rachedurst zum Ausdruck und schließt damit den I. Akt in Dur. Im ebenfalls in C-Dur beginnenden II. Akt wird wiederholt zwischen G-Dur und gMoll gewechselt. Nach der 2. Szene in G-Dur, wo Renaud Armide in die Falle geht, be140

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

ginnt die 3. Szene in g-Moll, da Renaud, allein, über seine erzwungene Abreise aus Jerusalem klagt, von Armide verhext wird und einschläft. Der tonale Kontrast zwischen den beiden Szenen wird noch durch die Dämpfung der Streicher verschärft. In der 4. Szene, einem Divertissement, in dem als Nymphen und Schäfer erscheinende Dämonen den schlafenden Renaud umringen und mit Blumen umwinden, wechselt die Tonart wiederholt zwischen g-Moll und G-Dur. Die 5. Szene beginnt hingegen unmittelbar in der Parallele e-Moll mit dem Auftritt von Armide und dem berühmten Récit »Enfin, il est en ma puissance.« Später im III. Akt wird im eröffnenden Dialog zwischen Armide und Sidonie, in dem die erstere ihre Liebe für Renaud eingesteht, wiederholt von g-Moll nach G-Dur gewechselt, da Armide zwischen der Hingabe an ihre Gefühle und der Unterdrückung ihrer Liebe schwankt. In den zwei folgenden Szenen wird von D-Dur nach d-Moll gewechselt, als am Anfang der 4. Szene der von Armide in der 3. Szene gegen die Liebe angerufene Hass auf der Bühne erscheint. Auch im weiteren Verlauf dieser Tragédie erklingt mehrmals die Variante einer Ausgangstonart. Aber bereits anhand der wenigen hier angeführten Beispiele kann man deutlich feststellen, dass der Variantklang, auch wenn er nicht allgegenwärtig ist und nicht die einzige Abweichung nach Moll darstellt, das bevorzugte harmonische Mittel für den Ausdruck plötzlicher und möglichst weitgespannter tonaler Kontraste bleibt. Nicht nur in weltlicher Vokal- und Instrumentalmusik, sondern auch im Bereich der Kirchenmusik sind Übergänge in die Mollvariante an gewissen entscheidenden, expressiven Stellen zu beobachten. Ein gutes Beispiel hierfür bietet das Te Deum LWV 55 von Lully. Das ganze Stück und jeder einzelne Vers stehen in C-Dur. Die gelegentlichen Ausweichungen nach G-Dur, a-Moll, F-Dur und d-Moll sind immer sehr kurz gehalten und kehren stets zur Grundtonart zurück, sodass das berühmte Anfangsritornell immer wieder und in verschiedenen Metren erscheinen kann und am Ende jedes Verses erneut in C-Dur kadenziert wird. Erst gegen Ende des Stücks, für den dramatischen Vers »Dignare Domine« (»In Gnaden wolltest Du, Herr, an diesem Tag uns ohne Schuld bewahren …«), wechselt der Komponist plötzlich in die Variante c-moll mit einem feierlichen Récit de basse (vgl. Notenbeispiel  1). Dieser unerwartete Wechsel innerhalb weniger Takte unterstreicht natürlich den bittenden und büßenden Charakter des Textes, ja sogar den Kern der soteriologischen Dramaturgie, hebt aber die ganze Passage auch sehr deutlich vom Rest des Werks ab und lässt den letzten Vers als eine Art Coda in C-Dur erscheinen. Dieser Umschwung wird durch den Taktwechsel und den ouvertürenmäßigen Duktus unterstrichen, die die gravitätische und dramatische Atmosphäre betonen. Sein besonderer Charakter wird auch dadurch ersichtlich, dass an dieser Stelle ein einziges Mal die Vorzeichnung geändert und zwei b hinzugefügt werden. Auch im Cembalo-Repertoire lässt sich eine zunehmende Tendenz beobachten, innerhalb einer Suite verschiedene Sätze auf demselben Grundton, aber in beiden Varianten zu gruppieren. Schon 1677 hatte Nicolas Lebègue in seinem 1. Buch von Pièces de clavecin die Stücke nach der Tonartenfolge d-Moll – D-Dur – g-Moll – G-Dur angeordnet, 141

Louis Delpech

Notenbeispiel 1: Jean-Baptiste Lully, Te Deum LWV 55, T. 1011–1020 (Klavierfassung des Orchesters und Dessus)

ohne dass man allerdings eindeutig auf die Präsenz von zwei »bitonalen« Suiten (die erste in d-Moll und D-Dur, die zweite in g-Moll und G-Dur) oder gar von vier verschiedenen Suiten schließen könnte.20 Auch im 1. Buch für Cembalo von Elisabeth Jacquet de la Guerre (1687) findet man in der 1. Suite in d-Moll eine Chaconne in D-Dur. Die vier Suiten von Jean Henry d’Anglebert, die 1689 veröffentlicht wurden, weisen auch eine Art Variantverhältnis auf der Ebene der Sammlung auf  : die 1. Suite steht in G-Dur, die 2. in g-Moll, die 3. in d-Moll und die 4. in D-Dur. Vor allem in Couperins Pièces de clavecin (1713–1730) umfassen viele Suiten (»Ordres«) sowohl Stücke in der Grundtonart als auch in der Variante, sofern dieser Wechsel im Rahmen der üblichen Tonarten bleiben kann. Zum Beispiel enthalten alle Suiten des ersten Livre de pièces de clavecin Stücke sowohl in der Dur- als auch in der Mollvariante der Grundtonart  : Die 1. Suite steht in g-Moll und G-Dur, die 2. in d-Moll und D-Dur, die 3. in c-Moll und C-Dur, die 4. in F-Dur und f-Moll und die 5. in A-Dur und a-Moll. Dagegen weist der Sixième Ordre in B-Dur aus dem Second Livre de pièces de clavecin kein Stück in b-Moll auf. Auch auf der Mikro-Ebene scheint der Variantklang strukturierend zu wirken  : Innerhalb der 7. Suite in G-Dur ist zum Beispiel die Abfolge von vier Stücken 20 Betrand Porot, »Tonalité et modalité«, S. 66.

142

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Notenbeispiel 2: François Couperin, Premier Livre de Pièces de Clavecin, Cinquième Ordre, La Logivière – Allemande, T. 5–10

über die Lebensalter (Les Petits Ages  : 1. La Muse Naissante, 2. L’Enfantine, 3. L’Adolescente und 4.  Les Délices) vom ständigen Wechsel zwischen G-Dur und g-Moll geprägt. Im zweiten Teil eines Stücks kann auch die Durvariante der Molltonart erscheinen, wie z. B. D-Dur nach d-Moll in La Babet (2.  Ordre) oder A-Dur nach a-Moll in Les Agrémens und La Villers (5. Ordre). Zum Titel passend wird im 4. Couplet des Rondeau L’Épineuse (26. Ordre) von fis-Moll nach Fis-Dur gewechselt. Auch innerhalb weniger Takte kann der Wechsel in die Variante flüchtig, aber sehr charakteristisch erfolgen  : In der ersten Allemande der 5.  Suite in A-Dur (La Logivière) wird ab Takt  6 über einem zweitaktigen Orgelpunkt die Mollvariante der Dominante (e-Moll) berührt, die in Takt 7 als Dominantseptakkord mit großer Terz zur Variante des Grundtons bzw. Subdominante der Molldominante (a-Moll) führt. Das Ganze wird wiederum auf der Doppeldominante h sequenziert wiederholt, wo von H-Dur zu h-Moll und zurück zu H-Dur gewechselt wird, um endlich in die Variante der Dominante (e-Moll) zu gelangen, die dann im letzten Takt der ersten Teiles erneut erscheint (Notenbeispiel 2). Auch im Orgelrepertoire und besonders in den Offertoires, die innerhalb der Gattung des Livre d’orgue zu den wenigen Stücke zählen, denen weder ein Cantus firmus noch eine Alternatim-Funktion zugrunde liegt und die daher nicht an die alten Kirchentonarten gebunden sind, wurde die Modulation in die Variante zu einem Topos der Gattung, indem im Mittelteil sehr oft in die Variante gewechselt wird. Man denke hier nur an den berühmten Grand Dialogue aus Louis Marchands 3. Livre d’orgue, wo der mittlere Teil plötzlich von C-Dur nach c-Moll wechselt, oder an Couperins Offertoire aus der Messe pour les Paroisses und der Messe pour les Couvents (ebenfalls von C-Dur nach c-Moll). 143

Louis Delpech

Notenbeispiel 3: François Couperin, Messe pour les Paroisses, Offertoire: Anfang des 3. Teils

Die Komponisten scheinen sich dieses Unterschieds zwischen französischem und italienischem Stil sehr wohl bewusst gewesen zu sein. Es sieht so aus, als ob sie auch die Variant- bzw. Parallelbeziehung dem französischem bzw. italienischem Stil zugewiesen hätten. Couperin moduliert in seiner Apothéose de Corelli ausschließlich in die Paralleltonart, wohingegen er in seiner Apothéose de Lully die Variante verwendet  : auch wenn er im ersten Teil der Apothéose de Lully von g-Moll in die Parallele B-Dur und dann von Es-Dur nach c-Moll moduliert, konzentriert er sich in der zweiten Hälfte des Stücks ausschließlich auf die beiden Varianten g-Moll und G-Dur (vgl. Tabellen 4a und 4b). Es ist daher davon auszugehen, dass der Verfechter der »goûts réunis« den Unterschied und das jeweilige Übergewicht des Parallel- bzw. Variantverhältnisses in der italienischen respektive französischen Musik sehr wohl wahrgenommen und in den beiden Stücken reflektiert hat. 1

Corelli au pied du Parnasse

h

2

Corelli, Charmé de la bonne réception

h

3

Corelli buvant à la Source d’hypocrene

D

4

Entouziasme de Corelli

D

5

Corelli après sont entouzisame s’endort

D

6

Les Muses reveillant Corelli

D

7

Remerciment de Corelli

h

Tabelle 4a: Tonarten in François Couperin, Le Parnasse, ou L’Apothéose de Corelli. Grande Sonade, en Trio (aus der Sammlung Les Goûts-réünis ou Nouveaux Concerts, Paris 1724)

144

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

1

Lulli aux Champs Elysées: Concertant avec les Ombres liriques

g

2

Air pour les Memes

g

3

Vol de Mercure aux Champs Elisés

B

4

Descente d’Apollon

B

5

Rumeur souterraine

Es

6

Plainte des memes

c

7

Enlevement de Lulli au Parnasse

G

8

Accueil entre-Doux

g

9

Remerciment de Lulli à Apollon

G

10

Apollon persuade Lulli et Corelli

G

11

Air léger

G

12

Second Air

g

13

La Paix du Parnasse

g

14

Saillie

g

15

Rondement

G

16

Vivement

G

Tabelle 4b: Tonarten in François Couperin, Concert instrumental sous le titre d’Apothéose Composé à la mémoire immortelle de l’incomparable Monsieur de Lully (Paris 1725)

2. Variantverhältnisse in Werken deutscher Komponisten

Es ist erstaunlich zu beobachten, dass diese Praxis offenbar auch von prominenten deutschen Komponisten verstanden und gelegentlich aufgegriffen wurde, wenngleich ohne den systematischen Charakter, den sie noch in der französischen Musik hatte. Das soll hier anhand von einigen Beispielen aus Kompositionen von Bach und Händel gezeigt werden. Bei diesen beiden Komponisten kommt der Wechsel in die Moll- bzw. Durvariante insgesamt extrem selten vor und bezeichnenderweise nur in Kombination mit einer französischen Topik oder einem mit französischem Stil verbundenen Kompositionsauftrag oder -projekt. In Johann Sebastian Bachs sogenannten »Englischen Suiten« BWV 806–811, die eigentlich Six Suites avec leurs Préludes pour le Clavecin heißen und wahrscheinlich nur wegen eines geheimnisvollen Untertitels (»fait pour les Anglois«) auf der Titelseite einer Abschrift von Johann Christian Bach so genannt wurden, erfolgt fast systematisch in den manchmal sogenannten »Galanteriesätzen« ein Wechsel in die Variante. Daran wie an manchen anderen Satzdetails und der konsequent französischen Terminologie wird er-

145

Louis Delpech

sichtlich, dass diese Sammlung wohl die französischste von Bach ist.21 In den Tanzpaaren mit einem leichtfüßigen, manchmal sogar volkstümlichen Charakter und einer DacapoWiederholung des ersten Satzes vor der abschließenden Gigue steht in der Regel der zweite Satz in der Variante des Grundtons  : Ein Variantverhältnis besteht in der 1. Suite in A-Dur zwischen beiden Bourrées (BWV 806 Nr. 6 und 7), ebenso in der 2. Suite in a-Moll zwischen beiden Bourrées (BWV 807 Nr. 5 und 6), zwischen Gavotte I und Gavotte II oder Musette aus der 3. Suite in g-Moll (BWV 808 Nr. 5 und 6), zwischen dem Passepied I en Rondeau und dem Passepied II aus der 5. Suite in e-Moll (BWV 810 Nr. 5 und 6) sowie zwischen beiden Gavottes aus der 6. Suite in d-Moll (BWV 811 Nr. 5 und 6). Die einzige Ausnahme in dieser Sammlung stellt die 4. Suite in F-Dur dar, in der zwischen den beiden Menuetten nicht etwa in die Variante f-Moll gewechselt wird, sondern in die Parallele d-Moll. Das gleiche Phänomen kommt einmal in der Ouvertüre nach französischer Art (BWV 831) im 2. Teil der Klavierübung vor. Auch wenn von den drei Tanzpaaren der Sammlung (zwei Gavotten und zwei Passepieds zwischen der Courante und der Sarabande, sowie zwei Bourrées zwischen der Sarabande und der Gigue) das erste und das letzte in h-Moll bleiben, wechselt nach dem ersten Passepied in h-Moll der zweite nach H-Dur. Diese etwas unbequeme und ungewöhnliche Tonart war in der Frühfassung BWV  831a in c-Moll nicht vorhanden, da dort das zweite Passepied in C-Dur stand. Auch in den Orchestersuiten findet man einen Wechsel in die Variante  : Die 2. Bourrée aus der 1. Suite C-Dur BWV 1066 steht in c-moll, alternativ mit der 1. Bourrée in C-Dur. Dagegen weisen die Suites pour le clavessin (die sogenannten »Französischen Suiten« BWV 812-817) erstaunlicherweise keinen Wechsel in die Variante auf, obwohl die gängigen Tonarten der Sammlung ihn durchaus erlaubt hätten, zumal hier auch Satzpaare mit volkstümlichem Charakter und Dacapo-Wiederholung des ersten Satzes vor der Gigue vorhanden sind. Die Frage, warum der Wechsel in die Variante in den Englischen Suiten systematisch eingesetzt wird, in den Französischen Suiten dagegen nicht, muss vorerst offen bleiben. Zumindest in zwei anderen Fällen lassen sich in Bachs Œuvre jeweils in mehr oder weniger enger Verbindung mit der Gattung der französischen Ouvertüre flüchtigere Ausweichung in die Variante bzw. in die Variante der Dominanttonart (in letzterem Fall also genau wie in Couperins La Logivière) beobachten. In der Ouvertüre der Orchestersuite D-Dur BWV 1069 wird vorübergehend am Ende des ersten und des letzten Teils jeweils auf einem Orgelpunkt auf der Doppeldominante bzw. der Dominante in die Variante 21 Vgl. Peter Williams, Bach. A Musical Biography, Cambridge 2016, S. 218  : »In conveying so many details of the usual dances, the ›English Suites‹ are the most French of Bach’s sets, especially as copied and ornamented (on uncertain authority) by his pupils.« Auch Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach, Frankfurt/Main 2000, S. 200, bemerkt  : »In seiner reifsten und anspruchvollsten Sammlung von Claviersuiten aus der Weimarer Zeit […] verwendet Bach durchweg konsequent französische Terminologie. Seine grundlegende Orientieung am französischen Stil ist also kein bloßes Lippenbekenntnis.«

146

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Notenbeispiel 4: Johann Sebastian Bach, Ouvertüre D-Dur BWV 1069 und Kantate Unser Mund sei voll Lachens BWV 110, letzte Takte des 1. Satzes (Klavierauszug)

der Dominante bzw. der Tonika ausgewichen, was die ansonsten feierliche Atmosphäre plötzlich überschattet  : In T. 19–21 wird von A-Dur nach a-Moll und für die abschließende Kadenz am Ende des ersten Teils (der auf der Dominante endet) wieder zurück nach A-Dur gewechselt, ebenso in T. 184–187 am Ende der transponierten Wiederholung. Beim zweiten Mal erfolgt der Wechsel von der Tonika D-Dur zur Variante d-Moll (vgl. Notenbeispiel 4). Auch in der Kantate BWV 110 Unser Mund sei voll Lachens, deren 147

Louis Delpech

Eröffnungssatz auf diese Ouvertüre (mit Einsatz des Chors im fugierten Mittelteil) zurückgreift, erfolgt der Wechsel zweimal auf dieselbe Art und Weise. Georg Friedrich Händels Oper Ariodante (HWV 33), 1735 in London uraufgeführt, ist in unserem Zusammenhang von großem Interesse, da er zusätzlich zu der Oper Ballettmusik für die französische Tänzerin Marie Sallé und ihre Truppe schrieb, die für die Spielzeit 1735/36 am Covent Garden Theater verpflichtet waren, und sich daher vor der Notwendigkeit sah, das traditionelle Muster der italienischen Opera seria unmittelbar mit französischer Tanzmusik zu kombinieren.22 Diese Oper, die übrigens durch eine offenbar sehr sorgfältig geplante, konsistente Verwendung der Tonarten charakterisiert ist, zeichnet sich zudem durch verschiedene Wechsel zur Variante in den getanzten Divertissements aus. Nach der französischen Ouvertüre und der darauffolgenden Gavotte in g-Moll beginnt der I. Akt von Ariodante mit einer fröhlichen Aria der Ginevra in G-Dur (Vezzi, lusinghe) und wechselt damit unmittelbar in die Durvariante der Ausgangtonart. Es ist außerdem bemerkenswert, dass Händel im zweiten Teil der Gavotte von der typisch französischen Trio-Besetzung mit zwei Oboen und einem Fagott ausgiebigen Gebrauch macht (T. 45–60). Am Ende des I. Akts wird erstaunlicherweise im Ballett (Ballo di ninfe, pastore e pastorelli) zunächst nicht in die Variante, sondern in die Durparallele moduliert  : von F-Dur (Ballo Nr. 15) nach D-Dur (Musette I und II Nr. 16 und 17) gewechselt, dann in deren Variante d-Moll (Allegro Nr. 18) und schließlich nach F-Dur zurück (Coro e Soli, A tempo di Gavotta Nr.  19). Nach Nr.  19 beginnt der II.  Akt in D-Dur, sodass die Beziehung zwischen F-Dur und D-Dur noch einmal betont wird. Am Ende des II. Akts hingegen wird im Ballett nicht moduliert, da beide Tanznummern (Entrée de’ Mori Nr. 31 und Rondeau Nr. 32) in e-Moll bleiben, d. h. in derselben Tonart wie die direkt vorangehende Aria, die letzte des Akts (Nr. 30). Es besteht auch keine tonale Beziehung zum Beginn des III. Akts, da dieser in d-Moll beginnt. Das Divertissement am Ende des III. Akts bewegt sich jedoch von D-Dur (Coro Nr. 45) nach g-Moll (Gavotte Nr. 46) und dann nach G-Dur (Rondeau Nr. 47 und alle weiteren Nummern). Händel benutzt also das Variantverhältnis zurückhaltend, aber bewusst in den Divertissements der Oper, da diese im französischen Stil geschrieben sind (vgl. Tabelle 5).

22 Zu französischen Modellen in den Opern dieser Periode vgl. Herbert Schneider, »Affinitäten und Differenzen zwischen Rameau und Händel in Opern der Jahre 1735–1737«, in  : Händel-Jahrbuch 50 (2004), S. 91– 138  ; Monika Woitas, »Getanzte Träume  : Händel, Marie Sallé und die Verzauberung der Oper«, in  : Göttinger Händel-Beiträge 14 (2012), S. 95–103. Vgl. auch Stefan Keym, »Herrschaftssymbolik, Gattungskontext und Personalstil  : zur französischen Ouvertüre bei Lully und Händel«, in  : Händel Jahrbuch 60 (2014), S. 317–334.

148

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Nr.

Titel

Position in der Oper

Tonart

Ouverture

g

Gavotte

g

1

Aria Ginevra [Vezzi lusinghe]

Ariodante, I/1, Nr. 1

15

Ballo di ninfe, pastore e pastorelli – Ballo

F

16

Musette I Lentement

D

16a

Air Lentement

g

17

Musette II Andante

D

18

Allegro

d

19

Coro et Soli A Tempo di Gavotte

F

20

Sinfonia

Ariodante, II/1, Nr. 20

D

31

Aria Ginevra Larghetto [Il mio crudel martoro]

Ariodante, II/10, Nr. 31

e

31

Entrée des Songes agréables, Fragment

G

31

Entrée de’Mori

e

31a

Entrée des Songes agréables

Alcina, II/13, Nr. 28

31c

Entrée des Songes funestes

Alcina, II/13, Nr. 29

a

31d

Le combat des Songes funestes et agréables

Alcina, II/13, Nr. 30

A

32

Rondeau

e

45

Coro

D

46

Gavotte

g

46a

Gavotte

G

47

Rondeau

G

47a

Rondeau

G

47

Gavotte, Fragment

G

47

Bourée

g

48

Andante allegro

G

49

Coro

G

G

E

Tabelle 5: Tonarten in den Divertissements von Georg Friedrich Händels Ariodante

Auch die unvollendeten, gestrichenen bzw. ersetzten Skizzen zu den Divertissements am Ende des II. Akts (die teilweise im selben Jahr noch für die Divertissements zur Oper Alcina verwendet wurden) sind in unserem Zusammenhang von Interesse. Dort, wo in 149

Louis Delpech

der Endfassung vom 8. Januar 1735 nach der Aria der Ginevra Nr. 30 in e-Moll bis zum Ende des Akts gar nicht mehr moduliert wird, hatte Händel offenbar einen größeren Nummernkomplex geplant, aber gestrichen  : Nach der unvollendeten Skizze einer Entrée des Songes agréables in G-Dur im Kompositionsautograph hat er offensichtlich in einer separaten Partitur mit Tänzen vier Auftritte für die Träume geschrieben  : eine Entrée des Songes agréables in E-Dur, eine Entrée des Songes funestes in a-Moll, eine Entrée des Songes agréables effrayés in A-Dur und schließlich Le combat des Songes funestes et agréables ebenfalls in A-Dur. Auch in seinen Skizzen kreist Händel also um Variantverhältnisse  : Der Variantklang A-Dur der letzten beiden Sätze kann hier wohl als eine Art tonale Synthese zwischen E-Dur, der ursprünglichen Tonart der seligen Träume, und a-Moll, der Tonart der Albträume, verstanden werden, vor allem aber als Relikt eines typisch französischen Wechsels in die Variante. Falls diese Skizzen für die Uraufführung von Ariodante beibehalten worden wären, hätte sich außerdem zwischen der Aria der Ginevra in e-Moll, der ersten Entrée in E-Dur und dem abschließenden Rondeau in e-Moll ein Variantverhältnis ergeben. Vielleicht hat sich Händel hier explizit an den »Sommeil« in Lullys Atys erinnert, mit den berühmten »Entrée des Songes agréables«(LWV 53/58) und »Entrée des Songes funestes« (LWV 53/60)  ; andererseits handelt es sich ja dabei um einen Topos der französischen Oper bzw. des französischen Balletts. Auch für das Ende des III. Akts wurden offenbar Tanzsätze skizziert, die nie aufgeführt wurden  : In diesen verschiedenen Sätzen wird wie in der Endfassung zwischen G-Dur und g-Moll gewechselt. Die Reihe ließe sich noch fortsetzen  : Die Varianttonart wird nicht nur in den Divertissements von Ariodante und Alcina verwendet, sondern auch einmal im zweiten Teil der von Ariodante gesungenen Aria Nr. 21 (Tu preparati a morire) im II. Akt, denn dort wird von E-Dur nach e-moll gewechselt – eine überraschende Ausnahme, da ansonsten alle Arien dieser Oper (wie auch allgemein in fast allen Opern) im B-Teil eher in die Paralleltonart modulieren und am Ende des B-Teils gleich vor dem Da Capo bzw. Dal Segno auf der Parallele, der Dominante oder dem Gegenklang kadenzieren. Dieser ungewöhnliche tonale Verlauf betont die Sonderstellung dieser Arie, da sie die erste Vorankündigung des Selbstmords von Ariodante enthält und das Paradox seines unheroischen, ja fast christlichen Heldentums am deutlichsten entblößt. Auch der Kontrast zwischen den beiden Textzeilen könnte kaum größer sein  : Einerseits wird Polinesso mit dem Tod bedroht, andererseits kündigt Ariodante schon an, dass er selbst vor Verzweiflung sterben werde, falls Ginevra ihn betrogen hat. Hier erscheint der Wechsel in die Variante keinen direkten Bezug auf einen französischen Stil mehr zu haben, sondern dient lediglich als Ausdrucksmittel. Die Frage ist natürlich, ob sich Händel auch in diesem Fall nicht von den französischen Divertissements, die er für diese Oper komponierte, hat inspirieren lassen.

150

Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Notenbeispiel 5: Johann Sebastian Bach, Praeludium pro Organo pleno BWV 552/1, T. 43–51

3. Französischer Stil oder galante Schreibart? Ein Ausblick auf das 18. Jahrhundert

Ein letztes Beispiel aus Bachs Orgelwerk soll abschließend einige weiterführende Fragen aufwerfen. Der dritte Teil der Klavierübung von Johann Sebastian Bach wird bekanntlich mit dem Praeludium pro Organo pleno Es-Dur BWV 552 eröffnet, das mit einem festlichen Gestus, einem an eine französische Ouvertüre erinnernden Rhythmus anhebt. Das zweite und das dritte Thema stehen ebenfalls in Es-Dur bzw. c-Moll und weisen jeweils verschiedene Stilrichtungen auf. Auffällig ist hier vor allem der Wechsel von B-Dur nach b-Moll innerhalb der zweiten Themengruppe in Takt 44, der in Takt 51 wieder nach BDur mündet (vgl. Notenbeispiel 5). Hier wird die zunächst in B-Dur vorgestellte synkopierte Figur in den Variantklang transponiert und entwickelt. Bei der zweiten transponierten Vorstellung dieses Themas auf der Tonika erfolgt der Wechsel von der Grundtonart Es-Dur in die Variante es-Moll und wieder zurück nach Es-Dur (T. 124–131). Danach moduliert auch die zweite, erweiterte Präsentation des dritten Themas mehrfach in die Mollvariante der Dominante  : zu151

Louis Delpech

nächst von B-Dur nach f-Moll (T. 151) und dann von Es-Dur nach b-Moll (T. 159–161). Man darf sich hier allerdings fragen, ob in diesem Kontext der Einsatz der Variante als Relikt des französischen Stils im Sinne des Ouvertürenrhythmus des ersten Themas zu sehen wäre oder ob er nicht eher im Einklang mit der thematischen Figur des zweiten Themas und ihrer Begleitung eine perfekte Illustration von Friedrich Wilhelm Marpurgs Beschreibung der »galanten Schreibart« darstellt. In seinem Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition nennt der Berliner Theoretiker in der Tat nur einen einzigen Fall, in dem man von einer Tonart in ihre Variante modulieren darf  : »In der galanten Schreibart ist es erlaubt, einen kurzen Rhythmus, bey welchem eine Durtonart zum Grunde liegt, bey der Wiederholung desselben auf eben denselben Stuffen, in eine Moltonart zu versetzen, worauf man in die Durharmonie wieder zurücke geht. Dieser Proceß findet aber im geringsten nicht umgekehrt Statt, wenn bey der zu wiederhohlenden Passage ein Moltonart zum Grunde liegt.«23

Diese Äußerung ist insofern interessant, als sie von einem guten Kenner des französischen Stils geschrieben wurde und genau beschreibt, was im zweiten Thema von Bachs Präludium passiert. Die Frage ist hier aber, ob diese galante Anwendung der Variante noch etwas mit einer (wenn auch nur sublimierten oder impliziten) französischen Art im Sinne des frühen 18. Jahrhunderts zu tun hat oder ob sie als völlig neue, u. a. durch Antonio Vivaldi eingeführte harmonische Möglichkeit des galanten Stils zu betrachten ist.24 Wenn unsere vorherigen Betrachtungen zutreffen, ist der galante Stil in dieser Hinsicht vielleicht explizit in der Kontinuität des alten französischen Stils zu sehen – eine Tatsache, die von Spezialisten der Periode immer noch nicht wahrgenommen wird, obwohl in anderen Bereichen der deutschen Kultur das Adjektiv »galant« immer wieder mit französischen Produkten in Zusammenhang gebracht wird. Diese etwas polemische Randbermerkung soll aber hier nicht weitergeführt werden, sondern nur auf das Potenzial einer harmonischen Figur wie des Wechsels zur Variante hinweisen, und vielleicht letztendlich zu der Debatte führen, ob der galante Stil eher italienischer oder französischer Herkunft ist.25 23 Friedrich Wilhelm Marpurg, Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition, Berlin 21762, S. 25. 24 Diese These wird von Bella Brover-Lubovsky, »Die Schwarze Gredel«, vertreten, obwohl sie auch den Wechsel in die Variante bei den Franzosen richtig sieht und auswertet (S. 118)  : »Minorisation may be regarded, therefore, as a hallmark of Vivaldi’s individual style and harmonic-tonal expression. The impressive incidence and variety of its use in his music, which achieved wide circulation during his lifetime, cannot have failed to leave its mark on composers and theorists of a younger generation, even if specific testimony is lacking. Perhaps no other feature in Vivaldi’s music ›looks forward‹ so strinkingly to the Classical style that began to emerge at the end of his life.« Vgl. auch Bella Brover-Lubovsky, Tonal Space in the Music of Antonio Vivaldi, S. 91–121. 25 Vgl. dazu Wilhelm Seidel, Artikel »Galanter Stil« [1995], in  : MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kas-

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Der Wechsel in die Varianttonart als Merkmal des französischen Stils um 1700

Ein Ausblick in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt, dass sich der Wechsel in die Variante im Bereich der Instrumentalmusik ausschließlich in bestimmten Formen bzw. Gattungen mit französischem Hintergrund aufrechterhalten hat und folglich zu einer Art Topos für ganz bestimmte Satztypen wurde. In Klaviersonaten bzw. Streichquartetten der Wiener Klassik finden sich Modulationen in die Mollvarianttonart nur in drei Satztypen  : Variationen, Rondos und Menuette. Zudem werden diese Modulationen sehr oft mit einem archaisierenden, barockisierenden Typus verbunden, so dass sie nicht nur tonal, sondern auch stilistisch eine gewisse Verfremdung hervorrufen. Ob sich die Komponisten dieser Besonderheit und ihrer historischen Wurzeln bewusst waren, ist schwer zu rekonstruieren. Für den heutigen aufmerksamen Hörer aber ist die nicht parallelenbezogene Behandlung von Dur und Moll ohrenfällig und sehr typisch für Gattungen, die mit der Welt der Tanzmusik und letztendlich mit französischer Musik des Barock zu tun haben. Erst ab der Romantik wird diese Art von Modulation in die Variante von ihren historischen bzw. formalen Wurzeln getrennt und für sich stehen  : Unter den vielen Modulationen in die Variante bei Franz Schubert kann man zum Beispiel an den Anfang des Impromptu As-Dur op. 90 Nr. 4 denken, das eigentlich in asMoll beginnt und später auch die Variante der Subdominante (Des-Dur) enharmonisch in Moll (cis-Moll) erscheinen lässt.

sel u. a. 2016ff., sowie Mark A. Radice, »The Nature of the ›Style galant‹  : Evidence from the Repertoire«, in  : The Musical Quarterly 84 (1999), S. 607–647.

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Stefan Keym

Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose Die zwei Typen der Moll-Dur-Dramaturgie in Pariser Opernouvertüren des späten 18. Jahrhunderts und ihre Relevanz für Beethoven

Ein von Moll nach Dur führender Tonartenplan zählt zu den wirkmächtigsten Dramaturgien ein- und mehrsätziger Instrumentalwerke des ›langen 19. Jahrhunderts‹. Gleichwohl hat diese Konstellation weder in der zeitgenössischen Form- und Kompositionslehre Resonanz gefunden, noch wurden bis vor kurzem systematisch vergleichende Forschungen zu ihrer historischen Entwicklung und ihren transdisziplinären kulturellen Kontexten unternommen. Dieses Desiderat ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Perspektive auf das Thema lange einseitig auf das Modell des spektakulären MollDur-Durchbruchs in Ludwig van Beethovens Symphonien Nr. 5 und 9 verengt war, das aufgrund seiner vielfachen Verwendung im 19. Jahrhundert geradezu selbstverständlich und trivial erschien. Schon Richard Wagner mokierte sich 1849 in Das Kunstwerk der Zukunft über das »gedankenlose Heer der Nachahmer [Beethovens], die aus gloriosem Dur-Jubel nach ausgestandenen Moll-Beschwerden sich unaufhörliche Siegesfeste bereiteten«.1 Tatsächlich wurden Instrumentalwerke in Moll, die sich nicht früher oder später definitiv nach Dur wenden, nach Beethoven vor allem in der Symphonik immer seltener2 und es dauerte bis in die 1880er Jahre, dass eine bewusste Gegenbewegung dazu einsetzte.3 Untersuchungen zu einem derart weit verbreiteten, gleichsam zum Topos4 gewordenen Modell erschienen einer werkanalytisch-monographischen Forschung, die, besonders im deutschsprachigen Raum, primär die Originalität des einzelnen Werks herauszuarbeiten suchte, wenig attraktiv.5 Dabei wurde übersehen, dass es innerhalb dieses großen, gattungsübergreifenden Repertoires eine Vielzahl unterschiedlicher Wegstrategien von Moll nach Dur gibt und dass die Art und Weise, wie ein Komponist damit umgeht, viel über ihn und das Konzept des jeweiligen Werks verrät. Im Übrigen wurde die Moll-Dur-Dramaturgie in sehr unterschiedlichen semantischen und kulturgeschichtli1 Richard Wagner, »Das Kunstwerk der Zukunft« (1849), in  : ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig 1887, S. 93. 2 Vgl. Susanne Steinbeck, Die Ouvertüre in der Zeit von Beethoven bis Wagner. Probleme und Lösungen, München 1973, S. 29f. 3 Man denke etwa an Brahms’ Vierte, Dvořáks Siebte, Tschaikowskys Sechste oder Sibelius’ Erste Symphonie. 4 Zur Toposforschung vgl. den Beitrag von Hermann Danuser im vorliegenden Band. 5 Siehe etwa den geringschätzigen Kommentar von Wulf Konold in  : Ludwig van Beethoven, 5. Sinfonie c-Moll, op. 67. Einführung und Analyse. Mit Partitur, München und Mainz 1979, S. 43 und 57.

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chen Kontexten eingesetzt. Dabei haben sich verschiedene komponisten­übergreifende Traditionslinien entwickelt, die herauszuarbeiten sich lohnt. Im Gegensatz zur jüngeren Forschungsliteratur hat das ältere Musikschrifttum dem Thema zumindest punktuelle Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Korpus von Konzertund Partiturrezensionen sowie Konzertführern wurden einige markante Metaphern geprägt, um Ausdruck und Bedeutung der instrumentalen Moll-Dur-Dramaturgie näher zu bestimmen. Abgesehen vom Begriff des »Durchbruchs«, der anscheinend erst im 20. Jahrhundert von Paul Bekker und Theodor W. Adorno mit Bezug auf die Symphonien Gustav Mahlers eingeführt wurde,6 haben sich diese Metaphern vor allem im Rahmen der frühen Beethoven-Rezeption herausgebildet. Tatsächlich kann die Moll-DurDramaturgie geradezu als ideale Verkörperung eines lange dominanten Beethoven-Bilds betrachtet werden, das um die Begriffsfelder »Leiden – Wollen – Überwinden« kreiste.7 Namentlich die Fünfte Symphonie wurde im Hinblick auf ihre tonale Anlage schon früh mit Devisen wie »von Nacht zu Licht«,8 »durch Kampf zum Sieg«9 oder »per aspera ad astra«10 charakterisiert. Entstammt die erste Metapher der christlich-religiösen Sphäre (und verweist auf den Gesangstext des spektakulären Moll-Dur-Durchbruchs in Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung, 1797), so hat die zweite sowohl neostoizistische11 als   6 Paul Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921, S. 62 (mit Bezug auf das Finale der Ersten Symphonie), und Theodor W. Adorno, »Mahler. Eine musikalische Physiognomik« [1960], in  : ders., Die musikalischen Monographien, Frankfurt/Main 1986, S. 154 und 190ff.   7 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht, Zur Geschichte der Beethoven-Rezeption, Wiesbaden 1972, S. 57. Speziell zur Dramaturgie der Fünften Symphonie, ihrer Rezeption und Vorbildwirkung für die Symphonik des 19. Jahrhunderts siehe auch Mechtild Fuchs, ›So pocht das Schicksal an die Pforte‹. Untersuchungen und Vorschläge zur Rezeption sinfonischer Musik des 19. Jahrhunderts, München und Salzburg 1986, besonders S. 127–137, und Arne Stollberg, Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2014, S. 126–135.   8 E.T.A. Hoffmann, Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie, in  : Allgemeine musikalische Zeitung 12, Nr. 40f., 4.-11.7.1810, Sp. 630–642 und 652–659, hier Sp. 655  : »Mit dem prächtigen, jauchzenden Thema des Schlusssatzes, C dur, fällt das ganze Orchester […] ein – wie ein strahlendes, blendendes Sonnenlicht, das plötzlich die tiefe Nacht erleuchtet.«   9 Wilhelm von Lenz, Beethoven. Eine Kunststudie, Bd.  3, Teil  2, Hamburg 1860, S.  71–77. Adolf Bernhard Marx, Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen, Berlin 1859, Bd. 2, S. 66, hält beide Metaphern offenbar für synonym  : »Durch Nacht zum Licht  ! / Durch Kampf zum Sieg  !« Vgl. auch Richard Taruskin, »C-Minor Moods. The ›Struggle and Victory‹ Narrative and Its Relationship to four C-Minor Works of Beethoven«, in  : ders., The Oxford History of Western Music, Oxford 2005, Bd. 2, S. 691–739. 10 Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal, Bd. 1  : Sinfonie und Suite, Leipzig 1887, S. 88. Einen früheren Beleg in Richard Pohls Rezension von Brahms’ Erster Symphonie in  : Musikalisches Wochenblatt 7 (1876), S. 658, erwähnt Markus Neuwirth in seinem Beitrag zum vorliegenden Band. Fast zur selben Zeit verwendete der polnische Komponist Zygmunt Noskowski das Motto als Titel für das Finale seiner Symphonie Nr. 2 c-Moll (1876–79). Siehe dazu Stefan Keym, Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polnischer Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition 1867–1918, Hildesheim 2010, S. 327–331 und 342. 11 Siehe Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 127f.

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

auch bellizistisch-aggressive Facetten, während in der letzteren das bürgerlich-protestantische Arbeitsethos mitschwingt.12 Im Übrigen hat kein anderer als Wagner das Motto »per aspera ad astra« 1841 unter die Orchesterskizze seiner Ouvertüre zum Fliegenden Holländer gesetzt, die ebenfalls von Moll nach Dur führt. Untersucht man das Repertoire systematisch, so stellt sich zuerst die Frage nach dem W i e , also in welcher Weise der entscheidende Wechsel von Moll nach Dur in einem Werk gestaltet ist (etwa als spektakulärer Durchbruch oder als unauffälliger Übergang). Eng damit verbunden ist die Frage nach dem Wo b z w. Wa n n , d. h. an welcher Stelle der Wechsel erfolgt (in Ouvertüren etwa schon nach der Einleitung oder erst in Reprise/ Coda  ; bei mehrsätzigen Werken bereits im ersten Satz wie beim späten Haydn oder zu Beginn des Finales wie bei Beethovens Symphonien Nr. 5 und 9 oder gar erst in der Finalcoda wie bei Mendelssohns »Schottischer« und Tschaikowskys Fünfter Symphonie). Beide strukturellen Aspekte beeinflussen maßgeblich die Semantik, also das Wa r u m , das als dritter Punkt zu beleuchten ist. Steht die zentrale Bedeutung des spektakulären Moll-Dur-Durchbruchs für die Beethoven-Rezeption außer Frage, so ist doch zu betonen, dass dieses Modell in seinem Schaffen vergleichsweise selten, spät und primär in Orchestermusik erscheint  : neben den beiden Mollsymphonien vor allem in der Chorfantasie (1808) und in der Egmont-Ouvertüre (1810),13 dagegen in keiner der vier großen Klaviersonaten in Molltonarten (op. 13, 27/2, 31/2, 57). Der Kopfsatz der späten Sonate c-Moll op. 111 wiederum endet mit einer plagalen Schlusskadenz, die sich mit einem Decrescendo von der Mollsubdominante zur Durtonika wendet. Bei dieser Wendung, die Beethoven auch bereits in diversen, überwiegend frühen Klavier- und Kammerwerken einsetzte (Klaviertrio op.  1/3,14 Streichtrio op. 9/3, Klaviersonaten op. 10/1 und 49/1  ; Streichquartett op. 18/4  ; Streichquintett op. 104), übrigens meist in Verbindung mit c-Moll,15 handelt es sich um eine Variante des verlöschenden »morendo«-Schlusses, den Jürgen Neubacher als einen zentralen SchlussTypus bei Haydn nachgewiesen hat16 und der im 19.  Jahrhundert zum romantischen Verklärungsschluss weiterentwickelt wurde.17 Hier erfolgt der Moduswechsel gleichsam 12 Vgl. Manfred Jung, »›Per aspera ad astra‹. Ein philosophisch-literarisches Denkmodell und seine kompositorische Ausprägung im geistlichen Schaffen von Johannes Brahms«, in  : Peter Tschuggnall (Hrsg.), Religion – Literatur – Künste II. Ein Dialog, Anif und Salzburg 2002, S. 400–408. 13 Die Presto-Stretta in C-Dur nach der Solokadenz im Finale von Beethovens 3. Klavierkonzert c-Moll hat – wie ihr offensichtliches Vorbild in Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466 – keine sehr dramatische Wirkung. 14 Vgl. Taruskin, »C-Minor Moods«, S. 695–701. 15 Vgl. Joseph Kerman, »Beethoven’s Minority«, in  : ders., Write All These Down. Essays on Music, Berkeley 1994, S. 217–237. 16 Siehe Jürgen Neubacher, ›Finis coronat opus‹. Untersuchungen zur Technik der Schlußgestaltung in der Instrumentalmusik Joseph Haydns, dargestellt am Beispiel der Streichquartette, Tutzing 1986, S. 239–246. 17 Siehe etwa den Kopfsatz von Johannes Brahms’ 1. Symphonie sowie das Finale von Felix Draesekes Sinfonia tragica. Vgl. den Beitrag von Arne Stollberg im vorliegenden Band sowie Gerhard J. Winkler, »Wagners ›Erlösungsmotiv‹. Versuch über eine Schlußformel. Eine Stilübung«, in  : Musiktheorie 5 (1990), S. 3–25.

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im letzten Moment, wobei auf einen dramatischen Durchbruch ebenso verzichtet wird wie auf eine triumphale Geste. Dieser Typus bildet eine eigene Traditionslinie des MollDur-Wechsels, die (ebenso wie die im barocken Repertoire gebräuchliche Schlusskadenz mit »pikardischer Terz«18) wenig mit dem emphatischen Durchbruch in den symphonischen Werken zu tun hat. Einen spektakulären, wenn auch sehr zeitigen Durchbruch bietet hingegen Beethovens Symphonie Nr. 4 B-Dur (1804–07), deren Kopfsatz eine langsame Einleitung in der Varianttonart b-Moll vorangestellt ist. Für diese Kombination gab es im späten 18. Jahrhundert zahlreiche Vorbilder  : in Symphonien, weit häufiger jedoch in Ouvertüren und zwar vor allem in solchen, die für Opern in Paris geschrieben wurden. In der französischen Metropole kam es in den Jahren vor und nach der Französischen Revolution zu einer bedeutenden Entwicklung der Ouvertüre, die primär auf Ausdruck und Inhalt zielte, aber auch die Form betraf. Die betreffenden Opern und ihre Ouvertüren waren damals international sehr bekannt, auch und gerade in Wien dank der engen dynastischen Beziehungen seit der Heirat Ludwigs XVI. mit Maria Antonia von Habsburg (1770). Unter den zahlreichen ›ausländischen‹ Komponisten, die sich an der Pariser Neuausrichtung der Ouvertüre beteiligten, befanden sich auch Gluck und Salieri. Haydn, Mozart und Beethoven haben zwar keine Opern für Paris geschrieben, traten jedoch in fruchtbaren Austausch mit dieser Entwicklung. Tatsächlich werden die Moll-Dur-Strategien, die sie in diversen Werken verwendeten, erst vor dem Hintergrund des Pariser Repertoires voll verständlich. Die Wiederentdeckung dieser Ouvertüren für die Forschung ist vor allem Patrick Taïeb und Matthias Corvin zu verdanken.19 Dagegen wurden sie in einschlägigen Arbeiten zur langsamen Einleitung, die in allen betreffenden Werken eine prominente Rolle spielt, komplett ausgeblendet.20 Dass dieses Repertoire auch über Paris hinaus und speziell für 18 Vgl. dazu Thomas Synofzik, »Die ›Tierce de Picardie‹ als Stilmerkmal im 17. und 18. Jahrhundert«, in  : Musik und kulturelle Identität, Kongressbericht Weimar 2004, hrsg. von Detlef Altenburg u. a., Kassel u. a. 2012, Bd. 3, S. 53–65. 19 Patrick Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France de Monsigny à Méhul, Paris 2007, und ders., L’Ouverture d’opéracomique de 1781 à 1801. Contribution à l’histoire du goût musical en France à la fin du XVIIIe siècle, Diss., Univ. François Rabelais, Tours 1994, sowie Matthias Corvin, Formkonzepte der Ouvertüre von Mozart bis Beethoven, Kassel 2005  ; vgl. ferner Boris Schwarz, French Instrumental Music between the Revolutions (1789–1830), New York 1987, und Basil Deane, »The French Operatic Overture from Grétry to Berlioz«, in  : Proceedings of the Royal Musical Asscociation 99 (1972/73), S. 67–80. 20 Vgl. Rudolf Klinkhammer, Die langsame Einleitung in der Instrumentalmusik der Klassik und Romantik. Ein Sonderproblem in der Entwicklung der Sonatenform, Regensburg 1971, Marianne Danckwardt, Die langsame Einleitung. Ihre Herkunft und ihr Bau bei Haydn und Mozart, Tutzing 1977, und Eberhard Müller-Arp, Die langsame Einleitung bei Haydn, Mozart und Beethoven. Tradition und Innovation in der Instrumentalmusik der Wiener Klassik, Hamburg und Eisenach 1992 (dass letzterer die französischen Ouvertüren ausspart, erscheint nicht nur angesichts deren Einflusses auf Beethoven unverständlich, sondern auch insofern, als er Pathos und die »Idee des Dramatischen« als zentrale Prinzipien der langsamen Einleitung herausstellt  ; vgl.

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

Wien von wesentlicher Bedeutung war, habe ich bereits 2009 in einem kleinen Aufsatz aus der Perspektive der Kulturtransferforschung sowie in einem gattungsgeschichtlich vergleichenden Teilkapitel eines Beitrags zu George Onslows Vierter Symphonie dargelegt.21 Die Bezüge sind jedoch sowohl gattungsgeschichtlich als auch semantisch komplexer, als ich damals angenommen hatte, betreffen sie doch Instrumental- ebenso wie Vokalmusik (vor allem Opern, aber auch Oratorien) und sowohl ein- als auch mehrsätzige Formen. Vermutlich aus diesem Grund sowie wegen der generellen Unterschätzung der Ouvertüre als einer im Niemandsland zwischen Vokal- und Instrumentalmusik vagierenden Gattung22 sind sie der sich gern innerhalb klarer Gattungsgrenzen einrichtenden analytischen Forschung bislang weitgehend entgangen. Im Folgenden wird die Entwicklung des spektakulären Moll-Dur-Wechsels in zentralen Beiträgen zu dem Pariser Ouvertüren-Repertoire einer vergleichenden Analyse unterzogen, die auch die Bezüge zur Wiener Klassik und vor allem zu Beethoven offenlegt. Dabei wird zwischen zwei Typen der Moll-Dur-Dramaturgie unterschieden  : Beim ersten Typus erfolgt der entscheidende Wechsel bereits nach der langen Einleitung, beim zweiten erst vor dem triumphalen Schlussteil.

1.  Ouvertüren in Dur mit langsamer Einleitung in Moll: von Gluck und Salieri bis zu Beethoven

Das hinsichtlich seiner Rezeption durch andere Komponisten wohl wirksamste und bis heute bekannteste Beispiel des ersten Typus’23 bildet die Ouvertüre zu Iphigénie en Aulide

ebd., S. 263 und 266). Auch James Hepokoski und Warren Darcy, Elements of Sonata Theory. Norms, Types, and Deformations in the Late-Eighteenth-Century, New York 2006, berücksichtigen das Pariser OuvertürenRepertoire nicht. 21 Stefan Keym, »Wien – Paris – Wien. Beethovens Moll-Dur-Dramaturgie im Licht einer ›histoire ­croisée‹«, in  : Beethoven. Studien und Interpretationen, hrsg. von Mieczysław Tomaszewski, Bd. 4, Kraków 2009, S. 407–419, und ders., »Ein ›Hauptwerk hinsichtlich der Wirkung‹  ? George Onslows vierte Symphonie und die Tradition der langsamen Moll-Einleitung in französischen Ouvertüren der Revolutionszeit«, in  : George Onslow. Beiträge zu seinem Werk, Teil 1, hrsg. von Thomas Schipperges, Hildesheim 2009, S. 195–245, hier S. 202–215. 22 Neuere überzeugende Studien zur Ouvertüre sind immer noch rar. Die vorzügliche Arbeit von Steven vande Moortele, The Romantic Overture and Musical Form form Rossini to Wagner, Cambridge 2017, die auch Kapitel zur langsamen Einleitung und zur apotheotischen Reprise enthält, untersucht Werke des Zeitraums 1815–1850. 23 Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France, S. 254 und 280f., erwähnt die langsamen Molleinleitungen dieses Repertoires kurz  ; etwas detailliertere Angaben liefert er in seiner Dissertation  : L’Ouverture d’opéra-comique, S. 325–333 (zu Molltonarten allgemein) und 401–418 (zur langsamen Einleitung). Auch Corvin, Formkonzepte der Ouvertüre, berührt das Thema wiederholt im systematischen Teil seiner Arbeit (S. 64, 66 und 75) sowie in seinen Werkanalysen, ohne ihm jedoch eine eingehende Darstellung zu widmen. Hepokoski und

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(1774), der ersten Pariser Oper von Christoph Willibald Gluck.24 Sie beginnt mit einem 19-taktigen Andante in c-Moll, das sich nahezu durchgängig im Piano und in kammermusikalisch-imitatorischem Satz bewegt. Seine chromatische Seufzermotivik (Notenbeispiel  1) verweist auf die Sphäre des Lamento und lässt am negativen Ausdrucksgehalt dieser Einleitung keinen Zweifel. Tatsächlich entstammt das Thema dem unmittelbar auf die Ouvertüre folgenden Rezitativ des Agamemnon, in dem sogleich das Kernproblem der Handlung beim Namen genannt wird  : »Diane impitoyable, en vain vous l’ordonnez cet affreux sacrifice« (»Unerbittliche Diana, umsonst befehlt Ihr dies furchtbare Opfer«). Nach einer Generalpause exponieren die Streicher fortissimo ein monumentales Unisono-Thema in C-Dur (T. 20  : Grave), bevor in derselben Tonart, aber schnellem Tempo (T.  28  : Animé) das volle Orchester mit rauschenden 1/16-Figuren einsetzt. Diese ungewöhnliche Entwicklung ergibt einen starken Kontrast und zugleich eine zielstrebige dreistufige Steigerungsdramaturgie.25 Bereits im Vorwort zu seiner Oper Alceste hatte Gluck 1767 den (zuvor schon von Theoretikern wie Johann Adolf Scheibe und Francesco Algarotti formulierten) gattungspoetischen Anspruch erhoben, dass eine Ouvertüre das Publikum auf die Handlung vorbereiten solle. Tatsächlich hat er mit der Alceste-Ouvertüre die Verwendung einer Moll-Grundtonart in der neueren, einsätzigen Ouvertüre überhaupt erst salon- bzw. bühnenfähig gemacht.26 Seine Iphigenien-Ouvertüre ist freilich nicht die erste, die sich nach einem kurzen initialen Mollteil nach Dur wendet. Frühere Beispiele finden sich in programmatischen Opernouvertüren von Jean-Philippe Rameau. Dort ist in der Partitur durch ein Vorwort bzw. Überschriften genau angegeben, welche Bedeutung der jeweilige Moduswechsel hat. So entwirft der initiale d-Moll-Abschnitt der Ouvertüre zu Zoroastre (1749) ein »tableau fort et pathétique du pouvoir barbare d’Abramane«, während in den folgenden D‑Dur-Teilen zunächst »l’espoir renaît« (doux calme) und dann »la puissance bienfaisante de Zoroastre« (vive et riant) geschildert wird. Bei Acante et Céphise (1751) werden eingangs die »Vœux de la nation« in einem klagenden c-Moll-Teil artikuliert, auf den Feuerwerk und Fanfaren in C-Dur folgen. Es ist durchaus möglich, dass Gluck diese Werke kannte.27 Jedoch stehen die einzelnen Teile bei Rameau unverbunden nebeneinanDarcy, Elements of Sonata Theory, S. 301, erwähnen den Typus flüchtig mit Beispielen von Haydn, Clementi und Mozart. 24 Vgl. die detaillierte Analyse und Aufarbeitung des produktions- und rezeptionsästhetischen Kontexts dieser Ouvertüre bei Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 232–251. 25 Das Tempo der Dur-Teile von Glucks Ouvertüre ist nicht ganz klar. Im Erstdruck ist kein Tempowechsel angegeben  ; in frühen Abschriften ist der überleitende Dur-Teil (ab T.  19) mit Grave bzw. Maestoso und der Dur-Hauptteil (ab T. 27) mit Animé bzw. Allegro moderato bezeichnet (vgl. den Kritischen Bericht von Marius Flothuis in der Gluck-Gesamtausgabe, Bd. I/5b, Kassel 1989, S. 585, sowie Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 244f.). 26 Vgl. Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 224–232. 27 Möglicherweise gibt es auch noch andere Vorbilder. Die Grande Simphonie op. 8 Nr. 2 F-Dur (ca. 1768) von

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

Notenbeispiel 1: Gluck, Iphigénie en Aulide, Ouvertüre, Einleitungsthema und Übergang zum Allegro

der und entsprechen noch einem älteren, rationalistischen Form- und Semantikkonzept, das mehr mit der Suite als mit entwicklungshafter Symphonik gemeinsam hat. Dagegen ergibt sich bei Gluck ein übergreifender Spannungsbogen  ; der Übergang von Moll nach Dur wird dramatisch inszeniert und der Dualismus der beiden Tongeschlechter spielt auch im weiteren Verlauf des schnellen Hauptteils (einem sehr freien Sonaten-Allegro) eine wichtige Rolle. Gemäß Glucks Gattungspoetik ist davon auszugehen, dass die spektakuläre Moll-DurDramaturgie der Iphigenien-Ouvertüre in Zusammenhang mit der Handlung der Oper steht. Während die Bedeutung der Moll-Einleitung durch das Zitat aus dem Rezitativ eindeutig konkretisiert wird, erscheint die Semantik des Grave-Themas weniger klar. Aus einer an Beethoven orientierten Perspektive mag der durchbruchartige Moll-Dur-Wechsel wie eine frühzeitige Vorwegnahme des »lieto fine« anmuten (also der Rettung Iphigenies vor ihrer Opferung). Richard Wagner, der Glucks Ouvertüre mit einem vielgespielten Konzertschluss versah, hat diese Stelle jedoch ganz anders gedeutet  : Er bezeichnete das François-Joseph Gossec wird ebenfalls von einer langsamen Einleitung in Moll eröffnet  : einem 34-taktigen Largo im 3/4-Takt und reiner gedämpfter Streicherbesetzung (1. und 2. Violine, Viola), an das sich ein Allegro im 4/4-Takt im Tutti anschließt. Außerdem ist an die ältere französische Tradition zu denken, Formteile in Varianttonarten nebeneinander zu stellen. Siehe dazu den Beitrag von Louis Delpech im vorliegenden Band.

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Thema als »Motiv der Gewalt, der gebieterischen, übermächtigen Forderung« des Menschenopfers, die von den Göttern erhoben und vom kriegsdurstigen griechischen Heer aufgegriffen wird.28 Patrick Taïeb und Arne Stollberg haben auf ähnliche Deutungen in der zeitgenössischen französischen Publizistik hingewiesen sowie auf weitere motivische Bezüge zur Oper, die anzeigen, dass die Handlungsproblematik im schnellen Hauptteil der Ouvertüre weiter ausgetragen wird.29 So liegt es nahe, das Allegro aufgrund des Einsatzes von Pauken und Trompeten auf das kriegsbereite griechische Heer zu beziehen. Wie lässt sich jedoch der spektakuläre Moll-Dur-Wechsel in Takt  20 mit der Deutung des Unisono-Themas als dem Protagonisten Agamemnon feindlich gesinntes Schicksal in Einklang zu bringen  ? Gilt hier noch die ursprüngliche Bedeutung von Dur im Sinne von »hart, unerbittlich«  ? Jedenfalls wäre es fragwürdig, die Form der Ouvertüre als Vorwegnahme des positiven Handlungsausgangs der Oper zu deuten. Glucks Absicht dürfte primär darin bestanden haben, verschiedene Charaktere, Positionen und Affekte der Handlung zu exponieren  ; dies geschieht jedoch in einer mitreißenden musikalischen Form, die später zum Vorbild für andere, in ihrer teleologischen Semantik eindeutigere Gattungsbeiträge werden sollte. Dass es sich bei Glucks Iphigenien-Ouvertüre um ein Beispiel aus einer Übergangszeit handelt, wird besonders deutlich beim Vergleich mit einem etwas älteren Werk, das bemerkenswerte Parallelen zu ihr aufweist. Gemeint ist die Ouvertüre zu Armida von Glucks Schüler Antonio Salieri, die bereits 1771 in Wien uraufgeführt wurde. Auch sie beginnt leise mit einem langsamen, getragenen Teil (Adagio con un poco di moto  ; Notenbeispiel 2) in c-Moll und einem imitatorischen Einsatz. Darauf folgt ein abrupter Wechsel zu einem Allegro in C-Dur, das wiederum fortissimo mit Unisono-Schleiferfiguren der Streicher beginnt, um bald über Allegro assai in ein furioses Presto überzugehen. Anders als bei Gluck ist hier die Semantik klar, denn es handelt sich um eine Programm-Ouvertüre, die die Vorgeschichte der Handlung evoziert  : die Ankunft des Helden Ubaldo auf der Zauberinsel Armidas »durch dicken dunkeln Nebel« sowie seinen Kampf mit den sie bewachenden Ungeheuern.30 Der Umschwung von Moll nach Dur ist hier nicht affektiv motiviert, sondern pittoresk-narrativ  :31 Er steht für das Zerreißen der Nebelschleier und 28 Richard Wagner, »Glucks Ouvertüre zu Iphigenia in Aulis« [1854], in  : Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 5, Leipzig 1913, S. 111–122, hier S. 118. 29 Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France, S. 173–179, und Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 232–251. Taïeb bezieht die Autorität des Unisono-Motivs in T. 20 allerdings aufgrund einer missverständlichen Übersetzung von Wagners Text auf Agamemnon. 30 Beschreibung von Adam Gottlob Thorup, zitiert von Carl Friedrich Cramer in seiner »Vorrede« zu dem von Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen eingerichteten Klavierauszug der Oper mit deutschem Text von Cramer  : Armida. Eine tragische Oper von Carlo Coltellini und Antonio Salieri, hrsg. von Carl Friedrich Cramer, Leipzig 1783, S. V, Anm. 2. 31 Ein Pariser Beispiel für eine programmatisch bedingt von Moll nach Dur führende Ouvertüre ist diejenige zu Le Jugement de Midas (1778) von André-Ernest-Modeste Grétry.

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

für die kriegerische Aktion. Salieri verweist damit noch deutlicher als sein Lehrer zurück auf die Barockzeit, in der Kriegsmusik meist mit Dur verbunden war. Immerhin bewegt ihn die instrumentale Schilderung des Kampfes in dem in einer freien, rhapsodischen Form gehaltenen schnellen Hauptteil der Ouvertüre zu einem außergewöhnlichen Modulationsplan, der bis nach es-Moll und H-Dur führt, bevor ein kurzes tändelndes Andantino grazioso im 3/4-Takt nicht nur den Blick auf eine »anmuthige und bezaubernde Gegend« freigibt, sondern die Ouvertüre auch in traditionelle Bahnen zurücklenkt und in C-Dur abschließt.

Notenbeispiel 2: Salieri, Armida, Ouvertüre, Einleitungsthema, Übergang zum Allegro und Menuettthema

Zukunftsweisender für die hier diskutierte Entwicklung war die langsame Einleitung der Ouvertüre zu Salieris für Paris geschriebener (und zunächst unter Glucks Namen dargebotener) Oper Les Danaïdes (1784). Anders als bei den beiden bislang erörterten Beispielen wird die Molltonalität hier mit jener pompösen Monumentalität verbunden, die für den Beginn vieler langsamer Orchestereinleitungen typisch ist  : Das nur zwölftaktige Andante maestoso setzt fortissimo mit einer Klangfläche ein, die durch zwei Posaunen verstärkt wird (damals noch primär Instrumente der Kirchenmusik), zugleich aber innerlich bewegt ist durch pochende synkopierte Tonrepetitionen (Notenbeispiel 3). Dieser Topos wurde bereits von Gluck in der gleichfalls in d-Moll gehaltenen AlcesteOuvertüre verwendet, wenig später von Mozart aufgegriffen (Klavierkonzert d-Moll und Symphonie D-Dur KV 504) und sollte bis zu Wagners Götterdämmerung weiterwirken (Vorspiel zum Zweiten Aufzug). Dagegen scheint sich die Oberstimmenmelodie ab Takt 9 (mit Auftakt) mit ihren Punktierungen und dem abwärts rauschenden 1/32-Lauf retrospektiv an der französischen Ouvertüre Jean-Baptiste Lullys zu orientieren. Versatzstücke dieses Modells wurden damals im Zuge der mit Gluck verbundenen (neo-) klassizistischen Strömung in vielen Pariser Ouvertüren wieder aufgegriffen. Wenngleich ihr satztechnischer Kontext innerhalb des klassischen, homophonen Stils ein anderer 163

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ist als im 17.  Jahrhundert,32 ist das Ziel dieser Rückgriffe ebenso wie das der Wiederentdeckung der Molltonalität und der Einführung der langsamen Orchester-Einleitung klar erkennbar  : Es ging darum, nach all der tändelnd-heiteren Dur-Musik des mittleren 18. Jahrhunderts wieder große, erhabene Wirkungen zu erzielen. Dieser neue ästhetisch-expressive Anspruch der Pariser »ouverture tragique«, die vor allem auf »la grandeur & la magnificence« zielt,33 wurde in der zeitgenössischen Gattungspoetik klar formuliert, vor allem in der explizit an Gluck orientierten Poëtique de la musique des Grafen Étienne de Lacépède  : »Ce que le péristile, qui sert de vestibule aux palais des rois, est à ces grands & superbes édifices, l’ouverture l’est à la tragédie. De même que l’entrée d’un bâtiment indique sa destination par sa magnificence […]  ; de même l’ouverture doit annoncer la tragédie, & en montrer le but & la majesté. Il faut donc qu’elle soit imposante, grande, belle, qu’elle offre des proportions étendues & hardies. […] Mais quelque espèce d’ouverture que le musicien adopte […], qu’il ne cesse d’y répandre de grands traits, de beaux chants, de grandes masses d’harmonie  ; […] qu’il ait recours aux unissons placés adroitement, aux crescendo bien ménagés, &c.; qu’elle soit pathétique, toujours noble, souvent même terrible, & que le musicien, en la produisant, songe qu’il élève l’entrée d’un temple consacré à la pitié, à l’admiration, à la tendresse touchante, mais où la terreur sanguinaire a aussi ses autels.«34

In seiner Danaïdes-Ouvertüre erzielt Salieri durch die Gegenüberstellung der düster-monumentalen Einleitung mit einem heiter-spritzigen Dur-Allegro einen starken Kontrast. Anders als bei Armida geht es ihm hier nicht mehr um deskriptive Handlungsschilderung, sondern um die Exposition der Hauptaffekte des Dramas. Noch ungewöhnlicher als die langsame Einleitung ist, dass sich die auf das Allegro folgende Presto-Coda wieder nach Moll zurückwendet und damit das düstere Ende der Oper antizipiert.35 Während diese Rückwendung nach Moll vorerst ein Ausnahmefall blieb, wurde das Modell der 32 Siehe dazu Danckwardt, Die langsame Einleitung, S.  239–241, sowie Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France, S.  280f. Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S.  336, vertritt die Auffassung, dass »fortissimo-Tuttiklang, punktierte Rhythmen und Tonleiterläufe« in der langsamen Einleitung zu Haydns »Pariser« Symphonie Nr. 85 B-Dur (1785) »ganz deutlich die französische Ouvertüre evozieren«. Dass das Modell der französischen Ouvertüre à la Lully noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts präsent war, belegt nicht nur die bis 1770 reichende Pariser Aufführungstradition seiner Opern, sondern auch die Tatsache, dass in dieser Zeit im deutschen Raum immer noch Ouvertüren mit ähnlicher Anlage geschrieben wurden, z. B. Anton Schweitzer, Alceste (Weimar 1773), und Christian Cannabich, Electra (Mannheim 1781). 33 Étienne Comte de la Cépède, La Poëtique de la musique, Paris 1785, Bd. 2, »De l’ouverture de la Tragédie lyrique«, S. 1–38, hier S. 15. 34 Ebd., S. 1f. und 20f. 35 Vgl. Corvin, Formkonzepte der Ouvertüre, S. 122–126.

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

Notenbeispiel 3: Salieri, Les Danaïdes, Ouvertüre, Einleitung und Beginn des Allegro

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monumentalen langsamen Moll-Einleitung zum Dur-Allegro ab Mitte der 1780er Jahre zunehmend häufiger verwendet und ist auch in die französische Kompositionslehre eingegangen.36 Ein weiteres frühes Beispiel ist die Ouvertüre zum Ballett La Mort d’Orphée (1784) des aus Mannheim gebürtigen und in Bordeaux wirkenden Komponisten Franz Beck (welche auch bei diversen französischen Aufführungen von Glucks Oper Orfeo ed Euridice deren ursprüngliche Ouvertüre ersetzte). Sie steht in c-Moll/C-Dur wie Glucks Iphigenien-Ouvertüre, mit der sie vor allem im Allegro-Teil diverse stilistische Parallelen aufweist (z. B. das Schleifermotiv des Themenkopfs). Das initiale 23-taktige Largo zeigt zwei weitere für diesen Formteil typische Ausdrucksmittel, die noch aus der Generalbasszeit stammen (Notenbeispiel 4)  : den monumentalen, portalartigen Unisono-Beginn, den auch Lacépède erwähnt (und der an das »Thema Regium« aus Johann Sebastian Bachs Musikalischem Opfer erinnert, welches Beck indes kaum gekannt haben dürfte37), sowie eine Kette chromatischer Vorhaltdissonanzen (gemäß dem alten Satzmodell der »durezze e ligature«). Auch das anschließende Allegro molto enthält Chromatik- und Mollepisoden. Beck achtet somit nicht nur auf den punktuellen Kontrast zu Beginn, sondern auch auf ein einheitliches Gesamtkonzept.

Notenbeispiel 4: Beck, La Mort d’Orphée, Ouvertüre, Einleitungs- und Hauptthema

Offensichtlich entsprach der neue Ouvertürentyp mit pathetisch-monumentaler MollEinleitung einem allgemeinen Bedürfnis der Zeit, denn er fand auch außerhalb von Paris rasche Verbreitung. Bereits 1786 griffen ihn etwa der Dresdener Hofkapellmeister Johann Gottlieb Naumann in seiner für Kopenhagen geschriebenen Oper Orpheus og Eurydike38 36 Antoine (Anton) Reicha, Traité de haute composition musicale, Bd. 2, Paris 1824, S. 321, erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit, für die langsame Einleitung eines Sonatensatzes in Dur die Mollvariante zu wählen. 37 Außerdem ähnelt dieser Beginn dem Einleitungsthema von Mozarts Klavierfantasie c-Moll KV 475 (1785). 38 Naumann verband den Moll-Dur-Typus mit der sog. »Reprisenform«, bei der die Durchführung durch eine

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

und der ebenfalls in der dänischen Hauptstadt wirkende Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen in seiner Ouvertüre zu Klopstocks Schauspiel Hermann und die Fürsten39 auf. Nachdem in Wien Salieri selbst den neuen Typus mit seiner Oper La Grotta di Trofonio (1785) eingeführt hatte, eignete ihn sich auch Wolfgang Amadeus Mozart an, verlieh ihm in der Ouvertüre zu Don Giovanni (1787) jedoch ein individuelleres und dramatischeres Gepräge. Die Wahl der Tonart d-Moll verweist auf Glucks Alceste und Salieris Danaïdes. Ebenso wie bei Glucks Iphigénie en Aulide spannt der initiale Mollteil einen Bogen zur Introduktion (Wiederkehr von d-Moll in der Zweikampfszene) und antizipiert Elemente aus der Oper (Komturszene im Zweiten Akt). Der Beginn fällt ähnlich monumental aus wie bei den Pariser Vorbildern  ; Mozart verzichtet jedoch auf Reminiszenzen an das Modell der barocken französischen Ouvertüre  ; auch tendiert seine Einleitung weniger zum Pathetischen als vielmehr zum Unheimlichen. Daneben ist Mozarts Symphonie D-Dur KV  504 zu nennen, bei deren ausgedehnter langsamer Einleitung die zweite Hälfte in d-Moll steht und so einen Kontrasteffekt nach Pariser Vorbild erzielt, ohne auf die traditionellen feierlich-pompösen Eingangstakte in Dur verzichten zu müssen. Dagegen hat sich Joseph Haydn den Pariser Typus erst spät systematisch angeeignet  : in der Ouvertüre zu seiner für London geschriebenen Oper L’Anima del filosofo (1791) und dann in den Kopfsätzen von immerhin gleich drei seiner »Londoner Symphonien« (Nr. 98, 101 und 104  ; 1792-95). In Haydns Umgang mit dem Modell ist weniger ein Bemühen um Dramatik erkennbar als vielmehr ein geistreiches Spiel mit dem zur Mode gewordenen Topos (einschließlich der Floskeln aus der älteren französischen Ouvertüre)40 und den daran geknüpften Hörerwartungen. Im Kopfsatz der Symphonie Nr. 98 B-Dur (1792) teilen Moll- und Dur-Teil dasselbe Dreiklangsthema, das im Adagio forte und unisono eingeführt und von den üblichen Punktierungen beantwortet wird, im Allegro hingegen piano erklingt. Das Eingangs-Adagio zur Symphonie Nr. 101 D‑Dur (1794) ist fast durchgängig in geheimnisvollem Piano gehalten und kombiniert zwei Anfangsgesten der Pariser Ouvertüren simultan  : eine Unisono-Linie der Bassstimmen und einen Halteton der hohen Streicher und Holzbläser. Haydns letzte Symphonie D-Dur Nr. 104 wird eröffnet von einer portalartigen punktierten Unisono-Figur, deren lapidare Quintlangsame Episode ersetzt wird, und ließ die Reprise in c-Moll einsetzen, womit er einen Bogen zurück zur langsamen Einleitung schlug. 39 In Kunzens Ouvertüre kehrt die langsame Einleitung und mit ihr die Ausgangstonart d-Moll am Ende wieder, so dass sich eine Bogenform ergibt. Vgl. Stefan Keym, »Eine ›zweckmäßige und natürliche Fortschreitung der Gefühle‹. Die Ouvertüre als ein Schlüssel zur norddeutschen Instrumentalmusik des späten 18. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Fr. L. Ae. Kunzen«, in  : Der Komponist Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen (1761–1817). Gattungen, Werke, Kontexte., hrsg. von Melanie Wald-Fuhrmann u. a., Köln u. a. 2015, S. 66–89, hier S. 82. 40 Deshalb ist der Vermutung von Klinkhammer, Langsame Einleitung, S. 31, und Müller-Arp, Langsame Einleitung, S. 89, Haydn habe sich zu seinen späten Moll-Einleitungen von Mozart anregen lassen, zu widersprechen.

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Quart-Melodik (d2-a2  ; d2-a1) zunächst offen lässt, ob das Adagio in Dur oder Moll beginnt. Indes hatte Haydn bereits in einem deutlich früheren Werk einer Ouvertüre in Dur eine Einleitung in Moll vorangestellt  : in seinem Oratorium Il Ritorno di Tobia (1775).41 Ebenso wie in Glucks Iphigénie en Aulide antizipiert das 13-taktige Largo motivisch den Beginn der ersten Vokalnummer, die wiederum attacca an die Ouvertüre anschließt. Allerdings steht das Thema im Eingangschor in der Tonikaparallele Es-Dur, so dass sich insgesamt der ungewöhnliche Modulationsplan c-moll – C-Dur – Es-Dur ergibt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Haydn hier an eine oratorienspezifische Gattungstradition anknüpfte (die auch Gluck gekannt haben dürfte)  : Vier von Johann Adolf Hasses Oratorien der 1740er/50er Jahre beginnen mit einem langsamen Teil in der Mollvariante, auf den ein Allegro in Dur folgt.42 Allerdings hat Hasse bei seiner Wiener Neufassung (1772) eines dieser Oratorien, Sant’Elena al Calvario, die Haydn mit Sicherheit kannte, die Ouvertüre der Dresdener Erstfassung (1746), welche mit einer langsamen Einleitung in es-Moll (!) anhebt (Un poco lento), durch das ältere Gattungsmodell der dreisätzigen Opernsinfonia ersetzt.43 Jedenfalls griff der späte Haydn in seinem Oratorium Die Schöpfung (1797) erneut auf die initiale Moll-Dur-Dramaturgie zurück, diesmal jedoch in einer ganz eigentümlichen Weise, bei der der Durchbruch nicht in der Orchestereinleitung (Die Vorstellung des Chaos), sondern erst innerhalb der ersten Gesangsnummer erfolgt zu den Worten  : »Und es ward Licht.«44 Insgesamt dominiert bei den Beiträgen zum ersten Ouvertürentypus, in Paris wie in Wien, die punktuelle Kontrastfunktion  : Indem dem Sonaten-Allegro in Dur eine kurze, meist monumentale Moll-Einleitung vorangestellt wird, sorgt der Komponist frühzeitig für einen scharfen Gegensatz und deutet an, dass sich das beginnende Werk (sei es eine Oper, ein Oratorium oder eine Symphonie) nicht in der heiteren Ausdruckssphäre des Eingangs-Allegro in Dur erschöpfen wird, ohne jedoch auf letzteres verzichten bzw. es selbst in einer Molltonart anlegen zu müssen. Die expressiven Ambitionen dieses Ouvertürentypus’ gehen somit deutlich über die bei damaligen langsamen Einleitungen generell konstatierte Funktion hinaus, das Allegro-Hauptthema von seiner Eröffnungsfunktion zu entlasten und ihm einen unprätentiösen Piano-Beginn zu ermöglichen.45 41 Vgl. Howard Smither, A History of the Oratorio, Bd. 3  : The Oratorio in the Classical Era, Chapel Hill und London 1987, S. 168–172. 42 Nach Michael Koch, Die Oratorien Johann Adolf Hasses. Überlieferung und Struktur, Pfaffenweiler 1989, Bd. 1, S. 188, handelt es sich um I Pellegrini, La Desposizione, Sant’Elena al Calvario und Magdalena (1742-ca. 1755). Inwieweit diese zwei- bis dreisätzigen Ouvertüren mit der französischen Ouvertüren- oder der italienischen Triosonaten- bzw. Opernsinfonietradition in Verbindung stehen, kann hier nicht diskutiert werden. 43 Allegro c-Moll – Lento amoroso G-Dur – Molto allegro C-Dur. 44 Vgl. Karl H. Wörner, Das Zeitalter der thematischen Prozesse in der Geschichte der Musik, Regensburg 1969, S. 16ff. 45 Vgl. Danckwardt, Langsame Einleitung, S. 107.

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

Tendenzen einer dynamischen, den engen Rahmen des Einleitungsteils überschreitenden Gestaltungsweise sind hingegen noch kaum erkennbar, denn die beiden kontrastierenden Formteile bleiben strikt getrennt, oft durch eine Generalpause.46 Erst ab dem 19. Jahrhundert wurden zunehmend Strategien entwickelt, um diese tiefe Zäsur zu überwinden und bereits innerhalb des langsamen Einleitungsteils zum Allegro überzuleiten. Prototypisch dafür ist Beethovens Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60 (1804– 07), in deren einleitendem Adagio zunächst zweimal ein (wie bei Haydns Symphonie Nr. 101) in geheimnisvollem Pianissimo gehaltenes und unisono zusammen mit einem flächigen Halteton exponiertes Thema präsentiert wird. Nach einer gattungstypischen schweifenden Modulationsphase sorgen eine plötzlich hereinbrechende monumentale Tutti-Klangfläche (T. 36) und ein nicht weniger als sechsmal erklingendes Vorschlagmotiv (T. 39), die beide auf einem dominantischen Orgelpunkt basieren, über den Tempowechsel (T. 39) hinweg für einen überraschenden, dramatischen Durchbruch zur Durtonalität und zugleich zum schnellen Hauptteil des Satzes, Allegro vivace. In seiner experimentellen Fantasie für Pianoforte, Chor und Orchester op.  80 (1808) schiebt Beethoven zwischen dem initialen Adagio in c-Moll, das allein vom Klavier bestritten wird und von einem improvisatorischen Gestus geprägt ist, und dem odenhaften Allegro-Hauptteil in C-Dur einen überleitenden Abschnitt ein (T.  31-64), der noch in cMoll steht, aber bereits in schnellem Tempo gehalten ist und in dem Solist und Orchester alternieren. Ähnliche Tendenzen einer Dynamisierung des Übergangs von der Einleitung zum Hauptteil sind auch in den zunehmend seltener werdenden und meist sehr individuell gestalteten Beiträgen zu diesem Moll-Dur-Typus im weiteren 19. Jahrhundert erkennbar (von Hector Berlioz’ Symphonie fantastique über Piotr Tschaikowskys Dritte bis zu Vincent d’Indys Zweiter Symphonie  ; vgl. Tabelle 1).

2. Ouvertüren und Symphonien mit finalem Moll-Dur-Wechsel: von Vogel und Cherubini zu Beethoven

Richtungsweisender für die Symphonik des langen 19. Jahrhunderts von Beethoven bis Mahler wurde der zweite Typus, bei dem der definitive Moll-Dur-Wechsel nicht gleich nach der Einleitung, sondern erst später erfolgt und so einen größeren Einfluss auf die

46 Dies gilt auch noch für die Ouvertüre zu Étienne-Nicolas Méhuls Oper Euphrosine ou le Tyran corrigé (1790), deren mit 39 Takten recht umfangreiche langsame Moll-Einleitung zwar eine große Crescendo-Phase aufweist, die in ihrer Dramatik bereits dem zweiten hier erörterten Ouvertürentypus ähnelt, jedoch am Ende wie die meisten ihrer Vorgängerinnen pianissimo auf einem Halbschluss ausklingt. Vgl. Keym, »Ein Hauptwerk«, S. 209–211.

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Gesamtdramaturgie der Komposition nimmt.47 Auch dieser Typus wurde bereits in den 1780er Jahren ausgeprägt in Wechselwirkung zwischen Wien und Paris. Eine katalysierende Rolle spielte hier Haydn, der es sich – im Gegensatz zu Mozart48 – zur Gewohnheit machte, bei den wenigen Mollsymphonien, die er ab den 1780er Jahren noch schrieb (Nr. 80, 83 und 95), bereits den Kopfsatz in Dur abzuschließen und das Finale gleich in Dur zu beginnen. Der konstitutive Moll-Dur-Wechsel erfolgt dabei mit dem Repriseneinsatz des Seitenthemas des Kopfsatzes.49 Ein dramaturgischer Nachteil dieser »semi-minor sonata-form«50 liegt darin, dass sich der entscheidende Moment der Tonartendramaturgie im Rahmen der transponierten Wiederholung eines bereits in der Exposition vorgestellten thematischen und harmonischen Verlaufs ereignet. Im Grunde wiederholt er den expositionstypischen Wechsel von Moll nach Dur, nur diesmal nicht zur Durparallele, sondern zur Durvariante.51 Zudem setzt der Seitensatz oft piano ein und erscheint daher als dramatischer Wendepunkt weniger geeignet. Tatsächlich macht Haydn um diesen definitiven Moll-Dur-Wechsel wenig Aufhebens  ; hier lässt sich keineswegs von einem emphatischen »Durchbruch« sprechen im Sinne Beethovens, der dieses Modell seines Lehrers denn auch kaum verwendet hat. Im Kopfsatz der Fünften Symphonie hat er es sogar explizit verworfen, indem er ihm zunächst zu folgen scheint (Reprise des Seitensatzes in C-Dur), jedoch in der Coda überraschend und umso wirkungsvoller nach c-Moll zurückkehrt.52 Dabei entsprechen die Durreprisen der Seitensätze von Haydns späten Mollsymphonien, wie Floyd Grave gezeigt hat,53 keineswegs stereotyp dem Expositionsverlauf, sondern werfen auf diesen durchaus neues Licht, wenn auch nicht in dramatischer oder triumphaler Weise. Weshalb der späte Haydn zum obligatorischen Durschluss tendierte, ob er etwa, wie Grave vermutet, aufklärerisch-rationalistischen Vorbehalten gegen Moll als einem vermeintlich unnatürlichen, unvoll47 Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France, S. 252, erwähnt auch diesen Typus kurz, ohne jedoch seine Entwicklung oder die Bezüge zu Haydn und zu dem anderen, älteren Typus zu diskutieren. Gleiches gilt für Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 313f., die sich auf Beethoven konzentrieren. 48 Bei Mozart enden beide g-Moll-Symphonien ebenso in Moll wie die beiden Klaviersonaten (a- und c‑Moll) sowie das Klavierkonzert c-Moll. Allein das Klavierkonzert d-Moll KV 466 schließt in der Durvariante. 49 Reicha, Traité de haute composition musicale, Bd. 2, S. 299, beschreibt dies als eine reguläre Tonartenstrategie bei Mollsätzen, schlägt jedoch außerdem noch die Möglichkeit vor, bereits mit der Reprise des Hauptthemas definitiv in die Durvariante zu wechseln. 50 Rey M. Longyear, »The Minor Mode in the Classic Period«, in  : The Music Review 32 (1971), S. 27–35, hier S. 33. 51 Allgemein zu diesem Problem siehe den Beitrag von Markus Neuwirth im vorliegenden Band sowie Rey M. Longyear, »The Minor Mode in Eighteenth-Century Sonata Form«, in  : Journal of Music Theory 15/1–2 (1971), S. 182–229, besonders S. 211–220. 52 Vgl. Julian Horton, »Introduction  : Understanding the Symphony«, in  : ders. (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Symphony, Cambridge 2013, S. 1–12, hier S. 5f. 53 Floyd Grave, »Galant Style, Enlightenment, and the Paths from Minor to Major in Later Instrumental Works by Haydn«, in  : Ad Parnassum, Jg. 7, Nr. 13 (April 2009), S. 9–41, besonders S. 15–29.

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kommenen und daher unbefriedigenden Modus Rechnung tragen54 oder eher dem Gros seines wachsenden internationalen Publikums ein Übermaß an Expressivität ersparen und zugleich den Kennern ein von Ironie und Humor geprägtes Spiel mit den beiden Tongeschlechtern bieten wollte, wie Matthew Riley meint,55 kann hier nicht diskutiert werden. Sollte letzteres der Fall gewesen sein, so kam es jedenfalls bald zu einem eklatanten »misreading« des neuen Tonartenplans.56 Denn in Paris fiel das Moll-Dur-Sonatenformmodell Haydns sehr rasch auf fruchtbaren Boden (die Symphonie Nr. 83 g‑Moll hatte er 1785/86 für die Pariser »Concerts de la Loge Olympique« geschrieben, welche von der Königin Marie-Antoinette protegiert wurden). 1788/89 kamen dort zwei konkurrierende Vertonungen des (schon von Pietro Metastasio für die Oper aufbereiteten) antiken Sujets des Demophon auf die Bühne  : eine von dem kurz zuvor aus Italien über London nach Paris gelangten Luigi Cherubini, die andere von dem aus Nürnberg gebürtigen, früh verstorbenen Johann Christoph Vogel (1756–1788).57 Beide greifen Haydns Modell auf, stellen ihm jedoch eine pathetische Moll-Einleitung im Pariser Stil des ersten hier erörterten Typus’ voran, was Haydn in seinen Mollsymphonien strikt vermieden hat. Dadurch gewinnt die anfängliche Mollsphäre entschieden mehr Gewicht als bei Haydn, in dessen Sonatensätzen sie oft schon nach wenigen Takten verlassen wird. Zudem wirkt die Einleitung bei beiden Ouvertüren in die thematische Struktur des Allegro-Hauptteils hinein, der jeweils sehr appassionato gestaltet ist und darin an Haydns frühere, sog. »Sturm und Drang«-Kompositionen erinnert. Im Übrigen fallen die beiden konkurrierenden Ouvertüren jedoch sowohl in ihrer thematischen Anlage als auch in der Gestaltung des Moll-Dur-Durchbruchs recht verschieden aus. Vogels Démophon-Ouvertüre, die im Gegensatz zu der von ihr eröffneten Oper bereits vor der Französischen Revolution, im Februar 1789, aufgeführt wurde, ist klar monothematisch angelegt  : Haupt- und Seitenthema des Allegro unterscheiden sich (wie oft bei Haydn) primär durch die Tonart ihrer Exposition (f-Moll bzw. As-Dur).58 Beide basieren auf einem Quintzug abwärts, mit dem anschließend auch die erste Gesangsnummer vom Orchester eröffnet wird (in f-Moll). Zudem ist auch das Hauptmotiv des 19-taktigen, überwiegend piano gehaltenen Largo von schrittweise absteigender Melodik geprägt (Notenbeispiel 5). 54 Ebd., S. 20f., und ders., »Recuperation, Transformation and the Transcendence of Major Over Minor in the Finale of Haydn’s String Quartet op. 76 No. 1«, in  : Eighteenth-Century Music 5/1 (2008), S. 27–50, besonders S. 27–33. 55 Matthew Riley, The Viennese Minor-Key Symphony in the Age of Haydn and Mozart, Oxford 2014, S. 206–219. 56 Vgl. Harold Bloom, A Map of Misreading, New York und Oxford 1975. 57 Die Bedeutung beider Werke betont Norbert Miller in  : Carl Dahlhaus/Norbert Miller, Europäische Romantik in der Musik, Bd. 1  : Oper und symphonischer Stil 1770–1820, Stuttgart und Weimar 1999, der vor allem auf Vogel detailliert eingeht (S. 136ff.). 58 Vgl. Corvin, Formkonzepte der Ouvertüre, S. 143–148, und Elisabeth Schmierer, »Johann Christoph Vogels Démophon. Zur ›Tragédie lyrique in der Revolutionszeit«, in  : Die Musikforschung 51 (1998), S. 393–408, besonders S. 406–408.

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Notenbeispiel 5: Vogel, Démophon, Ouvertüre, Einleitungs-, Haupt- und Seitenthema

Angesichts dieser thematischen Einheitlichkeit erscheint es sehr plausibel, dass Vogel auf eine Reprise des Allegro-Hauptsatzes verzichtet, so dass auf die konfliktreiche Durchführung unmittelbar die Reprise des Seitensatzes in der Tonikavariante F-Dur folgt.59 Der Wechsel nach Dur erfolgt so überraschender als in Haydns Mollsymphonien und fällt zudem mit der Rückkehr zum Grundton zusammen. In der bei Weissenbruck in Brüssel erschienenen Partitur wird der finale Durteil explizit mit »majeur« überschrieben (S. 17 oben  ; wie bei Moduswechseln in zeitgenössischen Variationswerken oder Rondos) und durch eine Generalpause mit Fermate vom vorangehenden Durchführungsteil abgesetzt, der offen auf der Dominante endet (wie eine langsame Einleitung). Moll- und Durteil bleiben hier somit klar getrennt  ; auch beginnt der Durteil nicht triumphal, sondern piano (analog zur Seitensatz-Exposition). Beides verweist auf den ersten Moll-Dur-Typus zurück. In dem auf die Reprise des Seitenthemas folgenden Passagenteil wird die Dynamik allerdings rasch zum Fortissimo gesteigert und motivisch für eine Abweichung vom analogen Abschnitt der Exposition gesorgt. Alles scheint auf einen brillanten, furiosen Schluss hinauszulaufen, dessen Kulmination in einer triumphalen F-Dur-Kadenz auch eine letzte kurze Eintrübung (S.  22) nicht mehr zu vereiteln vermag. An die Kadenz schließt sich jedoch ein seltsam zopfiger Piano-Epilog mit Holzbläserbesetzung an, der in der Exposition fehlt und dem ein ebenfalls neuer, graziöser Abschnitt in kammermusikalischem Streichersatz folgt. Mit der variierten Wiederholung dieser beiden Elemente klingt die Ouvertüre pianissimo aus. Der heitere Epilog, der nach dem vorangegangenen Pathos überrascht (im Allegro kommen sogar drei Posaunen zum Einsatz), erscheint der älteren Gattungstradition verpflichtet, eine Ouvertüre – sei sie französisch oder italie-

59 Haydn wählt diese Strategie allerdings im zweiten Satz seines programmatisch-sakralen instrumentalen Zyklus Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze (1786), Hodie mecum eris in Paradiso.

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Von der langsamen Einleitung zur Schlussapotheose

nisch – mit einem heiteren, tänzerischen Satz zu beschließen (oft einem Menuett), ähnlich wie in Salieris Armida. Im Unterschied zu Vogel greift Cherubini zu Beginn der langsamen Einleitung seiner in c-Moll gehaltenen Démophoön-Ouvertüre, einem 20-taktigen Lent, auf diverse Topoi dieses Formteils zurück  : pompöse Halteakkorde, Schleifer, abwärts gerichtete 1/32-Läufe und Punktierungen (Notenbeispiel 6). Im mittleren Abschnitt der Einleitung folgt ein kantables Thema, das später in der Durchführung wieder aufgegriffen wird (dort in der Partitur von Le Duc in doppelten Werten notiert  : S. 9, T. 12). Von Beginn an setzt Cherubini somit deutlich mehr motivisch-thematisches Material ein. Sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit ist hingegen, dass seine langsame Einleitung ohne Zäsur, gleichsam atemlos, in den schnellen Hauptteil übergeht. Das Hauptthema des Allegro spiritoso ist wie bei Vogel von einem kurzen prägnanten Motiv geprägt, hier mit Dreiklangsmelodik, das zunächst in passioniertem Fortissimo und dann noch einmal piano vorgestellt wird. Demgegenüber fällt der Beginn des Seitensatzes in G-Dur motivisch unauffällig aus (S. 6, T. 10).

Notenbeispiel 6: Cherubini, Démophoön, Ouvertüre, Einleitungs- und Hauptthema

Zu Beginn der Reprise greift Cherubini zwar den Kopf des Hauptthemas noch einmal zitathaft auf (S. 10 unten), gestaltet den übrigen Verlauf der Exposition jedoch kaleidoskopisch um unter Einbeziehung neuen Materials. Der entscheidende Wechsel zur Durvariante wird durch ein 14-taktiges Stehen auf der Dominante lange hinausgezögert (ab S. 12 unten), wobei freilich schon hier in der Notation die ♭-Vorzeichen aufgelöst und durch ♯-Chromatik ersetzt werden. Der Einsatz von C-Dur erfolgt dann auf einem weiteren, achttaktigen Orgelpunkt (S. 13 unten), verbunden mit einem großen Crescendo, stürmischen Streicherpassagen und schließlich einem neuen, triumphalen Klopfmotiv (Notenbeispiel  7).60 Konsequenter als bei Vogel wird hier das finale Erreichen der Tonikavariante als singuläres dramatisches Ereignis inszeniert. Allerdings lässt sich auch Cherubini am Ende wieder von Konventionen leiten, indem er auf die Durchbruchphase den epilogartigen zweiten Teil der Seitensatzes aus der Exposition folgen lässt (S. 14 unten), bevor die Ouvertüre mit einer kurzen marschartig-martialischen Coda abschließt. 60 Zur Ouvertüre von Cherubinis Démophoön siehe Dahlhaus und Miller, Europäische Romantik, Bd. 1, S. 151f.

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Notenbeispiel 7: Cherubini, Démophoön, Ouvertüre, Moll-Dur-Durchbruch in der Reprise

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Stefan Keym

In den Démophon-Ouvertüren Cherubinis und Vogels wird das moderate Moll-DurModell aus den Kopfsätzen von Haydns späten Mollsymphonien unter Anknüpfung an die von Gluck ausgehende Pariser Ouvertüren-Tradition zu einer wirkungsvollen Dramaturgie umgeformt, die von einer monumentalen, pathetischen Moll-Einleitung über ein passioniertes Moll-Allegro zu einem spektakulären Durchbruch nach Dur führt, der das »lieto fine« der Oper vorwegnimmt. Dass die expressive Zuspitzung des Haydn’schen Modells gerade in Paris erfolgte, ist zum einen auf die Vorbildwirkung des älteren Ouvertürentypus’ mit langsamer Molleinleitung zurückzuführen, der ja ebenfalls bereits auf Monumentalität und Pathos zielt  ; zum anderen ist der explosive politische Kontext unmittelbar vor der Französischen Revolution zu berücksichtigen. Tatsächlich hat sich der neue Typus während und nach der Revolution weiter verbreitet und radikalisiert – in- und außerhalb des Gattungskontexts der Ouvertüre, die in Frankreich immer mehr zum »genre symphonique national« avancierte, weil sie dem dortigen »goût dramatique« besonders entgegenkam.61 Im Repertoire der für die öffentlichen Massenzeremonien des neuen Revolutionsregimes komponierten Musikstücke finden sich mehrere Ouvertüren in Dur mit langsamer Molleinleitung (von CharlesSimon Catel und Louis Emmanuel Jadin).62 Eine ähnliche tonale Dramaturgie bestimmt auch einige größere vokal-orchestrale Kompositionen, darunter Cherubinis Hymne du Panthéon (1795), die eine dramatische Wendung von einem langsamen, trauermarschartigen Mollteil (Lent) zu einem agitatorisch-bewegten Durteil (Allegro moderato) nimmt, wobei dem ersten Teil im Verhältnis zur Einleitung einer Ouvertüre mehr Gewicht zukommt.63 Verweisen diese Beispiele zurück auf den ersten Typus, so wurde in Opernouvertüren nach 1789 vor allem der zweite, finale Typus mit den »effets terribles«64 der Revolutionsmusik angereichert und weiter ausgebaut zu einem instrumentalen »morceau de force« (Grétry).65 Bei der wie Vogels Werk in f‑Moll stehenden Ouvertüre zu Étienne-Nicolas Méhuls Stratonice (1792) sind Durchführung und Reprise des Hauptthemas miteinander kombiniert in einem Modulationsteil, der nicht weniger als sechs Quinten durchmisst (von as- nach d-Moll), bevor unerwartet und unter erstmaligem Einsatz des dreifachen 61 Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France, S. 339. 62 Im Klavierauszug publiziert von Constant Pierre (Hrsg.), Musique des fêtes et cérémonies de la Révolution française, Paris 1899, S. 501–506 und 514–518. 63 Abgedruckt ebd., S. 367–386. Auf den Einfluss dieser Hymne auf Beethoven verwies bereits Arnold Schmitz, Das romantische Beethovenbild. Darstellung und Kritik, Berlin und Bonn 1927, S. 166f. 64 André-Ernest-Modeste Grétry, Mémoires ou Essais sur la musique, 2. Auflage, Paris 1797, Bd. 1, S. 55. Zum Stil der französischen Revolutionsmusik vgl. Taïeb, L’Ouverture d’opéra en France, S. 211–297, zu ihrer deutschen Rezeption Ulrich Schmitt, Revolution im Konzertsaal. Zur Beethoven-Rezeption im 19.  Jahrhundert, Mainz 1990, S. 52–64, Martin Kaltenecker, La Rumeur des batailles. La musique au tournant des XVIIIe et XIXe siècles, Paris 2000, S. 100f., sowie Schmitz, Das romantische Beethovenbild, S. 163–174. 65 Grétry, Mémoires, Bd. 3, S. 504.

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Forte zur Dominante C-Dur umgeschwenkt wird.66 Nach einer dezenten Reprise des kantablen Seitenthemas knüpft die effektvolle, mitreißende Coda wieder an das emphatische Pathos der Mollteile an, das hier jedoch nicht mehr mit Trauer und Schrecken, sondern mit stürmischem Jubel verbunden ist (und bereits auf Gioachino Rossinis Ouvertüren vorausweist). In Daniel Steibelts Roméo et Juliette (1793) erfolgt der entscheidende Moll-Dur-Wechsel erst in der Mitte der Reprise des Seitensatzes,67 während in Gaspare Spontinis La Vestale (1807) in der Reprise ein neues, drittes Thema in Dur eingeführt wird. Inhaltlich wurde die Moll-Dur-Dramaturgie der Ouvertüren öfter auf die politische Thematik der von ihnen eröffneten postrevolutionären ›Rettungsopern‹ bezogen, namentlich in Pierre Gaveaux’ Oper Leónore ou l’amour conjugal (1798), deren Libretto bekanntlich als Vorlage für Beethovens Fidelio diente. Gaveaux’ Ouvertüre lehnt sich eng an das Modell von Vogels Démophon an  : Sie steht ebenfalls in f-Moll, beginnt die Einleitung piano und legt das Sonaten-Allegro monothematisch an, so dass die Reprise des Hauptthemas wiederum entfallen kann und stattdessen gleich der Seitensatz in FDur wiederkehrt (S. 20 oben in der bei Frères Gaveaux erschienenen Partitur  : »Majeur«). Dieser setzt wie bei Vogel und Méhul piano ein, wird aber durch ein langes Stehen auf der Dominante vorbereitet und mit einer kurzen brillanten Coda abgeschlossen. Gaveaux’ Partitur hat Beethoven sicher in Händen gehabt, doch dürfte er auf das hier vorgestellte Repertoire bereits vorher aufmerksam geworden sein, denn viele Pariser Opernouvertüren wurden mitsamt der jeweiligen Oper oder separat in Wien und anderen deutschen Städten aufgeführt und auch in Drucken und Abschriften verbreitet.68 Auf Wiener Bühnen setzte eine verstärkte Rezeption der französischen Rettungsoper ab 1802 ein  ;69 1808 wurde dort auch Vogels Démophon gespielt. Besonders populär war die Ouvertüre zu diesem Werk, die in zahlreichen Separatdrucken erschien, u. a. bei Diabelli in einem Arrangement für Klavier zu vier Händen von Beethovens Schüler Carl Czerny. In derselben Verlagsreihe bearbeitete Czerny zahlreiche weitere Pariser Opernouvertüren, darunter die zu Méhuls Stratonice. Beethoven dürfte mit der Pariser Gattungstradition also während der Entstehungszeit des Fidelio70 und der Sinfonia eroica verstärkt in 66 Zu dieser Ouvertüre vgl. Corvin, Formkonzepte der Ouvertüre, S. 156–160, sowie Keym, »Ein Hauptwerk«, S. 203–206. 67 Vgl. Corvin, Formkonzepte der Ouvertüre, S. 165–171. 68 Nach Mary Sue Morrow, Concert Life in Haydn’s Vienna  : Aspects of a Developing Musical and Social Institution, Stuyvesant, NY 1989, S.  156, war Cherubini zusammen mit Haydn, Mozart und Beethoven der mit Abstand meistgespielte Komponist im Wiener Konzertrepertoire des frühen 19. Jahrhunderts. Vgl. auch Schmitt, Revolution im Konzertsaal, S. 191–220. 69 Siehe dazu Michael Jahn, »Aspekte der Rezeption von Cherubinis Opern im Wien des 19. Jahrhunderts«, in  : Ders. (Hrsg.), Festschrift Leopold M. Kantner zum 70. Geburtstag, Tutzing 2002, S. 213–244. 70 In Beethovens Fidelio weisen alle drei großen Solo-Nummern der Hauptfiguren (Leonore, Florestan, Pizarro) eine Moll-Dur-Dramaturgie auf.

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Stefan Keym

Berührung gekommen sein, in der er zeitweilig sogar einen Umzug nach Paris erwog.71 Diese Eindrücke haben dann in seinen folgenden Orchesterwerken zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Moll-Dur-Dramaturgie beigetragen  : in der Vierten Symphonie (1804–07) und der Chorfantasie (1808) wie bereits gezeigt mit dem älteren Moll­ einleitungsmodell, in der Fünften Symphonie (1803–08) und in der Egmont-Ouvertüre (1809/10) mit dem jüngeren, finalen Typus. Die Egmont-Ouvertüre teilt mit den Pariser Vorbildern nicht nur die inhaltliche Idee der politischen Freiheit sowie das monumentale Pathos der von langen Halteakkorden und scharfen Punktierungen72 geprägten langsamen Einleitung in Moll (f-Moll wie bei Vogels Démophon und Méhuls Stratonice), sondern ist auch für das Verhältnis von MollDur-Dramaturgie und Sonatenform von besonderem Interesse  : Die Reprise wiederholt hier den Moll-Dur-Wechsel der Exposition, führt aber nicht – wie bei Haydn und im Kopfsatz von Beethovens Fünfter – zur Tonikavariante, sondern zur Subdominantparallele Des-Dur. Diese ungewöhnliche tonale Wendung wird erst zu Beginn der Coda korrigiert (in durchaus theatralischer Weise  : Begräbnismusik zum Tod des Helden), bevor schließlich im zweiten Teil der Coda die genuin als Bühnenmusik für das Ende des Schauspiels konzipierte frenetisch-jubelnde »Siegessymphonie« eingesetzt wird und dem Publikum deutlich macht, dass die Idee, für die der Held starb, am Ende triumphieren wird (der nationale Freiheitskampf der Niederlande, mit dem Beethoven offenkundig auf die aktuelle Situation der napoleonischen Besatzung Wiens anspielte). Bemerkenswert ist, dass eine solche »Siegessymphonie« bereits im Nebentext von Johann Wolfgang Goethes Drama vorgesehen war. Auch aus der Sicht des Dichters sollte es der Instrumentalmusik vorbehalten sein, einem in Worttext und Bühnenhandlung negativ endenden Schauspiel doch noch einen Ausblick auf eine positive Zukunft zu geben. Der Einfluss dieser Konzeption auf die Neigung namentlich deutschsprachiger Komponisten des 19.  Jahrhunderts, eine Mollsymphonie fast immer in Dur zu beenden (während man gleichzeitig in der Oper zunehmend auf das herkömmliche »lieto fine« verzichtete), ist nicht zu unterschätzen. Was die Inszenierung des Durchbruchs bei Beethoven betrifft, so fällt auf, dass dieser sowohl in der Fünften Symphonie als auch in der Egmont-Ouvertüre (T. 287–294) wie schon zuvor in der Vierten Symphonie von einem crescendierenden Orgelpunkt auf der Dominante vorbereitet wird, so dass der entscheidende Eintritt der definitiven Durton71 Siehe Martin Geck und Peter Schleuning, ›Geschrieben auf Bonaparte‹. Beethovens ›Eroica‹. Revolution, Reaktion, Rezeption, Reinbek 1989, S. 130–144. 72 Die Punktierungen sind hier allerdings mit dem »spanischen« Sarabanden-Rhythmus gekoppelt. Auf die barocke französische Ouvertüre zurückweisende Punktierungen hat Beethoven ansonsten vor allem in den langsamen Einleitungen einiger Klaviersonaten verwendet  : sehr früh schon in der »Kurfürstensonate« f-Moll WoO 47 (1782/83), sodann in den programmatischen Werken Sonate pathétique c-Moll op. 13 (1798/99) und Das Lebewohl/Les Adieux Es-Dur op. 81a (1809/10). Sie finden sich auch im mutmaßlichen Vorbild der Les Adieux-Sonate  : der Klaviersonate The Farewell Es-Dur op. 44 von Jan Ladislav Dusík (1800).

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art mit einer authentischen Quintfallkadenz zusammenfällt, wie bereits in Cherubinis Démophoön-Ouvertüre. Bleiben die Orgelpunktphasen in der Vierten und bei Egmont mit sieben bzw. acht Takten im Rahmen des Cherubini’schen Modells, so geht Beethoven beim Übergang vom dritten zum vierten Satz der Fünften weit darüber hinaus (Notenbeispiel  8)  :73 Hier verharrt die Harmonik zunächst 18  Takte trugschlüssig auf der Untermediante As-Dur (ab T.  324 des Scherzo), kreist dann kurz um die V.  Stufe (ab T. 342  : Basslinie g-fis-g-as-g), um schließlich für weitere 28 Takte auf dieser zu verharren (T. 346-373). Die statische Harmonik trägt zusammen mit der tiefen Lage (Basston und Unisonoklang c-c1) sowie dem ostinaten Pochen der Pauken dazu bei, die Spannung zu verstärken, indem der vom Hörer erwartete Eintritt der Tonika scheinbar endlos hinausgezögert wird.74 Auf der Ebene der Oberstimmenmelodie greifen die Ersten Violinen ab Takt 339 den Kopf des Scherzothemas auf, spalten ein Dreitonmotiv ab und entwickeln daraus eine ostinate Drehbewegung, die sich allmählich bis in die dreigestrichene Oktave hinaufschraubt. Obwohl dabei schon in Takt 355 die Durterz e2 erreicht wird, hat das Fortdauern der hämmernden Orgelpunktmusik im tiefen Register zur Folge, dass der eigentliche Durchbruch erst in Takt 374, mit der Kadenz auf c und dem Einsetzen des Tutti im Allegro erfolgt. In den letzten Takten der Überleitung wird dieses Ereignis zusätzlich vorbereitet durch einen stark crescendierenden Akkord der hohen Streicher und Bläser, der zunächst auf der Dursubdominante f erklingt und damit einen Vorhalt zum Basston g ergibt (T. 367), bevor er sich in den Dominantseptakkord auflöst (T. 370). Vollständige Kadenzierung (S-D-T), Crescendo und Tuttibesetzung tragen somit dazu bei, den entscheidenden Moll-Dur-Wechsel als ein hochdramatisches Ereignis zu inszenieren. Diesen Übergang mit der Devise »Kampf und Sieg« zu charakterisieren, erscheint indes kaum angebracht, da die ganze Überleitung wenig Kämpferisches an sich hat (militärische Topoi werden erst nach dem Durchbruch bei der Siegesfeier des Finales bemüht, in der erstmals auch drei Posaunen zum Einsatz kommen, wie in Vogels Ouvertüre). Im Hinblick auf den extremen Kontrast der Register liegt die Hell-Dunkel-Metaphorik weitaus näher. Auch in der Egmont-Coda spielt dieser Kontrast eine Rolle, denn die Siegessymphonie bewegt sich in extrem hohem, fast schrillem Diskantbereich, wobei hier allerdings durch den Einsatz der Piccoloflöte auch ein militärisches Moment hinzutritt. Ob Beethovens Gestaltung des Moll-Dur-Durchbruchs geeignet ist, eine unmittelbare emotionale Wirkung auf den Zuhörer auszuüben (bei der dieser gemäß dem illusionistisch-identifikatorischen Kunstideal Wagners und anderer Protagonisten des 19.  Jahrhunderts alles um sich herum vergisst), erscheint durchaus zweifelhaft, denn die hier 73 Zu dieser Übergangspassage vgl. auch Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 149. 74 Robert Schumann fasste diesen Eindruck wie folgt in Worte (ca. 1833)  : »Ich erinnere mich, daß in der Cmoll-Sinfonie im Übergang nach dem Schlußsatz hin, wo alle Nerven bis zum Krampfhaften angespannt sind, ein Knabe fester und fester sich an mich schmiegte und, als ich ihn darum fragte, antwortete  : er fürchte sich  ! Eusebius«. Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, 5.  Auflage, hrsg. von Martin Kreisig, Leipzig 1914, Bd. 1, S. 27f.

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Notenbeispiel 8: Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll, Übergang vom 3. zum 4. Satz

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aufgebotenen Ausdrucksmittel sind für die damalige Zeit so gewaltig und ungewöhnlich, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen, d. h. auf die handwerkliche Machart. Dass Beethoven hier stark auf den Effekt zielt, wurde ebenso frühzeitig bemerkt75 wie die Affinität der im Finale eingesetzten militärischen Stilmittel zu Musiken der Revolu­ tionszeit und der Napoleonischen Kriege.76 Im Übrigen attestierte schon E.T.A. Hoffmann dem Finale, es habe »beynahe den Schwung der Ouverture«, was einmal mehr den Bezug zu dem hier erörterten Pariser Repertoire bestätigt. Musikgeschichtlich noch bedeutsamer als die satztechnischen Details der Übergangspassage in der Fünften Symphonie war indes der Umstand, dass Beethoven hier den bislang im Rahmen der klassischen Ouvertürenform (Sonaten-Allegro, ggf. mit langsamer Einleitung) auf die Einsätzigkeit beschränkten spektakulären Moll-Dur-Durchbruch auf die zyklische viersätzige Form übertrug. Dabei nutzte er die Möglichkeit des unmittelbaren Attacca-Übergangs vom Mittelsatz zum Finale, der auch bereits in Instrumentalwerken des 18. Jahrhunderts verwendet wurde, bei den Wiener Klassikern (anders als zuvor bei Carl Philipp Emanuel Bach77) jedoch bis dahin eher unspektakulär ausgefallen war, indem der vorletzte Satz – wie viele langsame Einleitungen – leise auf der Dominante der Finaltonart schloss.78 In Beethovens Fünfter Symphonie hingegen wird der Übergang durch den langen Orgelpunkt, das Crescendo und den theatralischen Wechsel von Moll nach Dur in extremer und neuartiger Weise dramatisiert.79 Während die Kopplung des Durchbruchs mit einem Attacca-Übergang vom dritten zum vierten Satz in der Symphonik des 19. Jahrhunderts eher selten blieb (wahrscheinlich gerade weil sie allzu deutlich auf das Modell Beethoven verwies),80 wurde das mit ihr 75 Beethovens Zielen auf den Effekt an dieser Stelle wird kritisch bemerkt in einer ihrer frühsten Analysen  : Alexander Oulibicheff, Beethoven, ses critiques et ses glossateurs, Leipzig und Paris 1857, S. 207–209. 76 Vgl. ebd., S. 202–206, Schmitz, Das romantische Beethovenbild, S. 174, und Peter Gülke, Zur Neuausgabe der Sinfonie Nr. 5 von Ludwig van Beethoven, Leipzig 1978, S. 49–55. 77 Siehe dazu Stefan Keym, »›Kunst des Übergangs‹ oder ›Übergangskunst‹  ? Zur zyklischen Form vornehmlich in Carl Philipp Emanuel Bachs späteren Instrumentalwerken«, in  : Carl Philipp Emanuel Bach im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aufbruch, hrsg. von Christine Blanken u. a., Hildesheim 2016, S. 365–390. 78 Beispiele sind etwa Haydns Klaviersonaten Nr. 34 und 37 sowie Beethovens Klaviersonate op. 53. 79 Vorbereitet wird dieser Effekt in der Klaviersonate f-Moll op. 57 (dort allerdings mit negativen Vorzeichen  : Rückkehr zur Molltonika, die in die feierliche Ruhe des in Des-Dur gehaltenen Mittelsatzes einbricht). Dem Durchbruch in der Fünften Symphonie besonders nahe kommt der programmatisch motivierte Übergang vom Mittelsatz (L’Absence) zum Finale (Le Retour) in Beethovens Sonate Es-Dur op. 81a (Das Lebewohl/Les Adieux). Des Weiteren ist der ebenfalls programmatische, wiederum mit einem Moll-Dur-Wechsel verbundene Übergang vom vierten zum fünften Satz in Beethovens Sinfonia pastorale zu erwähnen. 80 Man findet sie u. a. in Robert Schumanns Vierter und Felix Mendelssohn Bartholdys Fünfter Symphonie (Reformation), beide in d-Moll. Siehe Stefan Keym, »›Der Unterschied zwischen Dur und Moll muß vorweg zugegeben werden‹. Robert Schumann und die ›per aspera ad astra‹-Dramaturgie«, in  : Robert Schumann. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hrsg. von Helmut Loos, Leipzig 2011, S. 173–205, hier S. 195–200, sowie Anm. 84 des vorliegenden Beitrags.

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verbundene zyklische Finalitätsprinzip der Fünften Symphonie richtungsweisend für die weitere Gestaltung von Mollsymphonien. Der entscheidende Wechsel zur Durvariante im Finale gewinnt in diesem Werk seine besondere dramatische Wirkung nicht zuletzt dadurch, dass er nicht mehr, wie in den späten Mollsymphonien Haydns, bereits im Kopfsatz erfolgt, sondern dort ostentativ verhindert wird,81 um schließlich erst im Finale einzutreten, wobei die diversen zwischenzeitlichen C-Dur-Episoden im zweiten und dritten Satz als Stationen auf diesem Weg aufgefasst werden können. Der Beginn des Finales wird so zum Ziel einer zyklischen, satzübergreifenden Dramaturgie der beiden Tongeschlechter. In seiner Neunten Symphonie hat Beethoven den entscheidenden Durchbruch in die Einleitung des Finales verlagert. Anders als bei der Fünften ist hier klar, dass er das Publikum am künstlerisch-kompositorischen Reflexionsprozess, der diesen Moment herbeiführt, bewusst teilnehmen lassen will  : Der rhetorische Gestus des Instrumentalrezitativs, das die Episoden der Einleitung miteinander verbindet, spricht ebenso dafür wie die Reminiszenzen an die Hauptthemen der drei vorangegangenen Sätze. Der vorläufige Übergang von d-Moll nach D-Dur erfolgt in Takt 77 etwas abrupt, wirkt aber im Rahmen der generellen Diskontinuität dieser fantasieartigen Einleitung nicht besonders spektakulär. Angesichts des quantitativen Gewichts der darauf folgenden rein instrumentalen Präsentation und Variation des »Freudenthemas« (T. 77–207) kann man sich fragen, ob der anschließende »Rückfall« ins initiale d-Moll mit seiner Tutti-»Schreckensfanfare« (T. 208–236) nicht seinerseits nur eine Reminiszenz darstellt (ähnlich wie diejenige an das Scherzothema vor der Reprise des Finales in der Fünften Symphonie und wie auch in der Chorfantasie82). Durch den gattungsgeschichtlich völlig überraschenden Einsatz der Singstimme in Takt  217 gelingt es Beethoven jedoch, diesem Moment die Bedeutung des alles entscheidenden, dramatischen Wendepunkts zu sichern  : Der Übergang von der rein instrumentalen zur vokal-instrumentalen Sphäre fällt mit dem definitiven Moll-Dur-Wechsel zusammen. *** Die Modellfunktion von Beethovens Moll-Dur-Dramaturgie für die weitere Gattungsgeschichte der Symphonie ist hinlänglich bekannt.83 Jedoch erscheint es wichtig, abschlie81 Den Zusammenhang der Moll-Dur-Dramaturgie der beiden Ecksätze betont bereits E.T.A. Hoffmann, indem er die Nacht-Licht-Metaphorik bei der Charakterisierung des Seitenthemas des Kopfsatzes einführt, um sie später beim Übergang zum Finale wieder aufzugreifen (Hoffmann, Rezension, Sp. 638 und 655). 82 Wie in der Neunten Symphonie wird auch in der Chorfantasie das finale Dur-Gesangsthema zunächst lang und breit vom Orchester (und dem Klavier) exponiert und variiert, bevor eine kurze c-Moll-Reminiszenz zur Wiederkehr des Themas und dem damit verbundenen Einsatz des Chors überleitet. Jedoch setzt der Chor hier erst nach dem definitiven Moduswechsel ein und dieser chorsymphonische Teil (Allegretto, ma non troppo) hat eher eine reprisenhafte Funktion von deutlich geringerer emotionaler Wirkung. 83 Zur Verwendung dieser Dramaturgie in politisch-patriotischen Kontexten siehe Keym, Symphonie-Kulturtransfer, S. 327–373.

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ßend darauf hinzuweisen, dass schon ab den 1820er Jahren (also parallel zur Entstehung der Neunten) mehrere jüngere Komponisten Strategien einer Erweiterung und Differenzierung des orchestralen Moll-Dur-Paradigmas erprobten  : 1.  Carl Maria von Weber schließt in seiner Freischütz-Ouvertüre (1821) das Sonaten-Allegro in Moll nicht nur mit einem Durchbruch nach Dur ab, sondern stellt ihm auch eine von Dur nach Moll führende langsame Einleitung voran und kombiniert so beide Pariser Typen der Moll-Dur-Dramaturgie zu einer neuartigen dreiteiligen Anlage (Dur-Moll-Dur). Diese wurde von Felix Mendelssohn Bartholdy in seiner »Reforma­ tionssymphonie« (1830) unter programmatischen Vorzeichen auf den viersätzigen Zyklus übertragen.84 2.  Dagegen entschied sich Richard Wagner in seiner König Enzio-Ouvertüre (1831) für die umgekehrte Konstellation, ein Sonaten-Allegro in Dur mit langsamen Mollteilen zu umrahmen.85 3.  Mendelssohn wiederum wählte in seiner Jugendsinfonie Nr.  11 F-Dur/f-Moll (1823) sogar einen Weg von Dur nach Moll,86 den es gemäß der idealistisch gestimmten deutschen Musiktheorie von Johann Nikolaus Forkel bis Ferdinand Hand aus ethischen Gründen gar nicht hätte geben dürfen.87 Die Jugendwerke von Mendelssohn und Wagner deuten darauf hin, dass die hier aufgezeigten Modelle aus Paris und Wien damals auch anderswo, etwa in Berlin und Leipzig, wohlbekannt waren und dass die jungen Künstler in ihrem Kompositionsunterricht ganz bewusst – möglicherweise unter Anleitung durch ihre Lehrer – damit experimentierten. Jedenfalls lassen die strukturellen Bezüge klar erkennen, dass die Vertreter dieser »romantischen Generation« neben dem immer dominanter werdenden Modell Beethoven auch noch dessen eigene Vorbilder aus dem Pariser Ouvertüren-Repertoire im Blick hatten und kreativ weiterentwickelten. Auch Hector Berlioz würdigte die »ouvertures expressives« Glucks und seiner Nachfolger als »péristyles superbes de temples écroulés«.88 Die dargelegte Entwicklung zeigt, dass es eine Vielzahl verschiedener orchestraler Wegstrategien von Moll nach Dur gab und dass diese früher für die instrumentale Großform relevant wurden als vielfach angenommen. Harmonik, Form und Semantik gingen 84 Siehe Stefan Keym, »Dur – Moll – Dur. Zur Dramaturgie der Tongeschlechter in Mendelssohns Instrumentalmusik«, in  : Mendelssohn und das Rheinland, hrsg. von Petra Weber-Bockholdt, München 2011, S. 133– 152, hier S. 143–148. 85 Siehe ders., »Tradition und Innovation in Wagners frühen Ouvertüren  : von König Enzio über Polonia bis zum Tannhäuser«, in  : Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, hrsg. von Helmut Loos, Leipzig 2013, S. 31–38, hier S. 33f. 86 Siehe ders., Dur – Moll – Dur, S. 138–140. 87 Siehe Johann Nikolaus Forkel, »Ueber eine Sonate aus Carl Phil. Emanuel Bachs dritter Sonatensammlung für Kenner und Liebhaber, in F moll«, in  : Musikalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1784, Leipzig 1783, S. 22‑38, hier  : S. 34, und Ferdinand Hand, Aesthetik der Tonkunst, Bd. 2, Jena 1841, S. 374f. 88 Hector Berlioz, A travers chant, Paris 1971, S. 176.

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dabei nicht immer Hand in Hand  : Ein neuartiger Formverlauf konnte zunächst in Verbindung mit einem eher traditionellen mimetischen Konzept und unter Einbezug älterer, ggf. retrospektiver Stilmittel erprobt werden. Insgesamt dürfte jedoch klar geworden sein, dass das Bemühen Glucks und seiner Nachfolger, in der Ouvertüre die Kernidee der Handlung zu antizipieren, auch zu einer Umgestaltung der Formdramaturgie und des Tonartenplans der Gattung beitrug, bei der der dramatisch wirkungsvolle Wechsel des Tongeschlechts eine zentrale Rolle spielte. Gerade die fruchtbare Wechselwirkung zwischen den genuin auf die Oper fokussierten Pariser Komponisten und ihren überwiegend auf dem Gebiet der Instrumentalmusik innovativen Wiener Kollegen Haydn und Beethoven hat wesentlich dazu beigetragen, die spektakuläre Moll-Dur-Dramaturgie als einen der Hauptstränge der Symphonik des 19. Jahrhunderts zu etablieren.

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Datum

Komponist

Werk

1771

Salieri, Antonio

Armida, Ouvertüre (C)

1774

Gluck, Christoph Willibald

Iphigénie en Aulide, Ouvertüre (C)

1775

Haydn, Joseph

Il Ritorno di Tobia, Ouvertüre (C)

1784

Salieri, Antonio

Les Danaïdes, Ouvertüre (D)

1784

Beck, Franz Ignaz

La Mort d’Orphée, Ouvertüre (C)

1785

Salieri, Antonio

La Grotta di Trofonio, Ouvertüre (C)

1785

Philidor, François A. D.

Thémistocle, Ouvertüre (C)

1785/87

Piccinni, Niccoló

Pénélope, Ouvertüre (A)

1786

Naumann, Johann Gottlieb

Orpheus og Eurydike, Ouvertüre, 1. Satz (C)

1786

Kunzen, Friedrich L. Ae.

Hermann und die Fürsten, Ouvertüre (D)

1787

Mozart, Wolfgang Amadeus

Don Giovanni, Ouvertüre (D)

1790

Méhul, Étienne-Nicolas

Euphrosine ou Le Tyran corrigé, Ouvertüre (D)

1791

Haydn, Joseph

L’Anima del filosofo, Ouvertüre (C)

1792

Haydn, Joseph

Symphonie B-Dur Nr. 98, 1. Satz

1794

Haydn, Joseph

Symphonie D-Dur Nr. 101, 1. Satz

1795

Haydn, Joseph

Symphonie D-Dur Nr. 104, 1. Satz

1795

Kreutzer, Rodolphe

Ouverture de la journée de Marathon (C)

1795

Vandenbroeck, Othon J.

Symphonie C-Dur La Prise de la Bastille, 1. Satz89

1798

Cherubini, Luigi

L’Hôtellerie portugaise, Ouvertüre (D)

1798

Reichardt, Johann Friedrich

Die Geisterinsel, Ouvertüre (D)

1800

Dusík, Jan Ladislav

Klaviersonate Es-Dur op. 44 The Farewell, 1. Satz

1803

Mayr, Simon

Ercole in Lidia, Ouvertüre (D)

1804–07

Beethoven, Ludwig van

Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60, 1. Satz

1808

Beethoven, Ludwig van

Fantasie für Klavier, Chor und Orchester op. 80 (C)

1809/10

Beethoven, Ludwig van

Klaviersonate Es-Dur op. 81a Les Adieux, 1. Satz

1822/23

Mendelssohn Bartholdy, Felix

Jugendsymphonien Nr. 8 D- und 9 C-Dur, 1. Satz

1826

Beethoven, Ludwig van

Streichquartett F-Dur op. 135, 4. Satz

1829/30

Berlioz, Hector

Symphonie fantastique C-Dur, 1. Satz

1830

Onslow, Georges

Symphonie Nr. 1 A-Dur, 1. Satz

1832

Wagner, Richard

Ouvertüre zu Raupachs Schauspiel König Enzio (E)

1836

Wagner, Richard

Ouvertüre Polonia (C)

1846

Onslow, Georges

Symphonie Nr. 4 G-Dur, 1. Satz

1862-67

Borodin, Alexander

Symphonie Nr. 1 Es-Dur, 1. Satz

1875

Tschaikowsky, Piotr

Symphonie Nr. 3 D-Dur, 1. Satz

1902/03

d’Indy, Vincent

Symphonie Nr. 2 B-dur, 1. Satz

Tabelle 1: Instrumentalwerke in Dur mit langsamer Einleitung in Moll90 89 Diese Symphonie wurde lange fälschlich Carl Ditters von Dittersdorf zugeschrieben. 90 Neben Orchesterwerken sind auch einige wichtige Beispiele aus anderen Gattungen aufgelistet, um die Aus-

187

Stefan Keym

Datum

Komponist

Werk

1768

Haydn, Joseph

Symphonie Nr. 26 d-Moll, 1. Satz

1772

Haydn, Joseph

Symphonie Nr. 45 fis-Moll »Abschied«, 4. Satz

1782

Haydn, Joseph

Symphonie Nr. 78 c-Moll, 4. Satz

1784

Haydn, Joseph

Symphonie Nr. 80 d-Moll, 1. Satz

1785

Mozart, Wolfgang Amadeus

Klavierkonzert KV 466 d-Moll, 3. Satz

1785/86

Haydn, Joseph

Symphonie Nr. 83 g-Moll, 1. Satz

1788

Cherubini, Luigi

Démophoön, Ouvertüre (c)

1788

Vogel, Johann Christoph

Démophon, Ouvertüre (f)

1791/92

Haydn, Joseph

Symphonie Nr. 95 c-Moll, 1. Satz

1792

Méhul, Étienne Nicolas

Stratonice, Ouvertüre (f)

1793

Steibelt, Daniel

Roméo et Juliette, Ouvertüre (c)

1798

Boieldieu, François-Adrien

Zoraïme et Zulnar, Ouvertüre (c)

1798

Gaveaux, Pierre

Léonore ou L’amour conjugal, Ouvertüre (f)

1799-1804

Beethoven, Ludwig

Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37, 3. Satz

1807

Spontini, Gaspare

La Vestale, Ouvertüre (d)

1803-08

Beethoven, Ludwig van

Symphonie Nr. 5 c‑Moll op. 67, 3./4. Satz

1807

Hummel, Johann Nepomuk

Klaviersonate f-Moll op. 20, 3. Satz

1809/10

Beethoven, Ludwig van

Egmont op. 84, Ouvertüre (f)

1810/11

Beethoven, Ludwig van

Streichquartett f-Moll op. 95, 4. Satz

1821

Weber, Carl Maria von

Der Freischütz, Ouvertüre (c)

1823

Mendelssohn Bartholdy, Felix

Jugendsymphonie Nr. 9 C-Dur, 4. Satz

1823/24

Beethoven, Ludwig van

Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125, 4. Satz

1824/25

Beethoven, Ludwig van

Streichquartett a-Moll op. 132, 4. Satz

1829/30

Mendelssohn, Bartholdy, Felix

Symphonie Nr. 5 d-Moll (Reformation), 3./4. Satz

1831–?

Dobrzyński, Ignacy Feliks

Symfonia charakterystyczna w duchu muzyki polskiej c-Moll, 4. Satz

1829/41

Mendelssohn-Bartholdy, Felix

Symphonie Nr. 3 a-Moll (»Schottische«), 4. Satz

1841

Wagner, Richard

Der fliegende Holländer, Ouvertüre (D)

1841/52

Schumann, Robert

Symphonie Nr. 4 d-Moll, 1. und 3./4. Satz

Tabelle 2: Instrumentalwerke in Moll mit Schlussteil in Dur 91

breitung des genuin orchestralen Modells zu skizzieren. 91 Für die Zeit nach 1810 werden nur noch einige wenige Werke exemplarisch genannt, d. h. die Liste ließe sich hier erheblich erweitern.

188

Markus Neuwirth

»Durch Nacht zum Licht« (und zurück in die Nacht) Formstrategien, dramaturgische Funktionen und semantische Implikationen der Dur-Aufhellung in Reprisen »klassischer« Moll-Sonatenformen

1. Moll als »das Andere«

Der Umstand, dass es gerade die Mollwerke sind, die aufgrund ihrer individualisierten Expressivität im allgemeinen Bewusstsein heutiger Hörer besonders stark verankert sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese vor allem im 18.  Jahrhundert zur absoluten Minderheit gehörten. Statistische Schätzungen variieren zwischen zwei und acht Prozent, je nachdem, welcher Repertoireausschnitt zu Grunde gelegt wird.1 Doch insbesondere vor dem Hintergrund der weitverbreiteten Dur-Norm können Mollwerke besondere Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nehmen. Tatsächlich wurden sie in den vergangenen Dezennien wiederholt zum Gegenstand von Spezialstudien, in denen sie nicht selten unter dem historiographisch zweifelhaften Schlagwort eines musikalischen »Sturm und Drang« diskutiert wurden.2 Die kontrastive Gegenüberstellung von Dur und Moll zählt bekanntlich zu den grundlegenden Maßnahmen, die im Verlauf der Musikgeschichte in unterschiedlichsten Spielarten gattungsübergreifend genutzt wurden, um vielfältigste Arten von Bedeutung hervorzubringen. Die unauflösbare Interdependenz sowie das dezidiert asymmetrische Verhältnis von Dur und Moll hat nicht zuletzt Theodor W. Adorno klar erkannt  : »Zum Sigel der Trauer wird das längst in der Syntax der abendländischen Musiksprache neutralisierte, als Formelement sedimentierte Moll nur, indem der Kontrast zum Dur es als Modus 1 Siehe z. B. William S. Newman, The Sonata in the Classical Era (= A History of the Sonata Idea 2), Chapel Hill 1963, S. 137ff.; Rey M. Longyear, »The Minor Mode in Eighteenth-Century Sonata Form«, in  : Journal of Music Theory 15/1–2 (1971), S. 182–229, hier S. 28  ; Ethan T. Haimo, »Parallel Minor as a Destabilizing Force in the Abstract Music of Haydn, Mozart, and Beethoven«, in  : Dutch Journal of Music Theory 10/2 (2005), S. 190–200  ; Matthew Riley, The Viennese Minor-Key Symphony in the Age of Haydn and Mozart, Oxford 2014, S. 1, sowie Uri Roms Rezension von Rileys Buch in  : Music Theory and Analysis 3/1 (2016), S. 103–113, hier S. 103. Eine seriöse und umfassende statistische Studie hierzu steht meines Wissens noch aus. 2 Für eine Kritik am musikalischen Sturm und Drang als historiographisches Konzept siehe Ludwig Finscher, »›Sturm und Drang‹ in der Musikgeschichte  ?«, in  : ders., Geschichte und Geschichten  : Ausgewählte Aufsätze zur Musikhistorie, Mainz 2003, S. 53–74. Siehe auch die Ausführungen bei Riley, The Viennese Minor-Key Symphony, S. 24–36.

189

Markus Neuwirth

erweckt. S e i n We s e n i s t e s , A b w e i c h u n g z u s e i n   ; isoliert übte es jene Wirkung nicht mehr aus. Als Abweichung bestimmt dies Moll zugleich sich als das nicht Integrierte, nicht hinein Genommene, gleichsam noch nicht Seßhafte. […] Moll ist das Besondere, Dur das Allgemeine  ; das Andere, Abweichende wird, mit Wahrheit, dem Leiden gleichgesetzt. So schlägt im Dur-Moll-Verhältnis der Ausdrucksgehalt sinnlich-musikalisch sich nieder.«3

Was Adorno etwas pauschal behauptet, dürfte zumindest auf das im Folgenden behandelte Repertoire uneingeschränkt zutreffen. Hier zeigt sich mit Blick auf den von Adorno angesprochenen Ausdrucksgehalt noch ein weiterer Aspekt, der die Asymmetrie des Dur-Moll-Verhältnisses unterstreicht  : Dem Moll eigne, so Robert Hatten in ausdrücklichem Bezug auf »Classical Works«, ein deutlich geringeres Ausdrucksspektrum als dem Dur, denn während das Moll lediglich auf das Tragische beschränkt sei, umfasse das Dur eine weitaus breitere Palette des Nicht-Tragischen, die u. a. das Heroische, das Pastorale oder auch das Komische beinhaltet.4 Das bedeutungsgenerierende Potenzial des Dur-Moll-Kontrastes ist nicht nur in textgebundenen Gattungen und Formen anzutreffen, sondern findet sich gerade auch im Kontext der sogenannten »absoluten Musik« und ihrem Aushängeschild, der Sonatenform. Da Sonatenformen in Durtonarten in der überwiegenden Mehrheit waren, haftete ihnen ein gewisser normativer Charakter an. Durch die Wahl einer vergleichsweise seltenen Option wie das Komponieren eines Sonatensatzes in Moll scheint sich also ein besonderer Ausdruckswille des Komponisten zu artikulieren, der zu semantisierenden Deutungsversuchen geradezu einlädt. Diese semantischen Implikationen sollen im abschließenden Teil des Beitrags ausführlich zur Sprache kommen. Zunächst sollen aber die musikstrukturellen Probleme diskutiert werden, die Sonatenformen in Moll aufwerfen, sowie die Lösungsansätze, die im Verlauf der Kompositionsgeschichte entwickelt wurden.5

3 Theodor W. Adorno, »Mahler. Eine musikalische Physiognomik«, in  : ders., Die musikalischen Monographien (= Gesammelte Schriften 13), Frankfurt/Main 2003, S. 174 (Hervorhebung vom Verfasser MN). Die für unsere Belange irrelevante Pointe von Adornos Argumentation liegt gerade mit Blick auf Mahler darin, dass »im permanenten Dur-Moll-Spiel« das »Medium der Moderne« (S. 174) gesehen wird, denn die »Mahlerschen Moll-Akkorde, welche die Dur-Dreiklänge desavouieren«, seien nichts anderes als »Masken kommender Dissonanzen« (S. 175). 4 Robert Hatten, Musical Meaning in Beethoven. Markedness, Correlation, and Interpretation, Bloomington 1994, S.  36. Siehe außerdem ders., »Four Semiotic Approaches to Musical Meaning  : Markedness, Topics, Tropes, and Gesture«, in  : Muzikološki zbornik 41/1 (2005), S. 5–30. 5 Für eine (berechtigte) Kritik am Problemlösungsmodell siehe etwa Leonard B. Meyer, Style and Music  : History, Theory, and Ideology, Philadelphia 1989, S. 138 und 146.

190

»Durch Nacht zum Licht« (und zurück in die Nacht)

2. Die Moll-Sonatenform als kompositorisches Problem

Ein zentraler, geradezu »himmelweiter Unterschied«6 zwischen Sonatensätzen in Dur und solchen in Moll liegt in ihrem jeweiligen modulatorischen Gang, wie er sich in der Exposition für gewöhnlich vollzieht  : Während in Dursätzen der Weg in die Tonart der V. Stufe das gesamte 18. Jahrhundert hindurch obligatorisch war7 und erst zu Beginn des 19.  Jahrhunderts zur Disposition gestellt wurde,8 ist ein entsprechender Tonartenplan auf Mollsätze nicht ohne Weiteres übertragbar. Tatsächlich sind Mollsätze, die von der Grundtonart in die Tonart der v. Stufe modulieren, gegenüber solchen, die die Tonart der III. Stufe aufsuchen, deutlich in der Minderheit  : Dieser Tonartenplan tritt bevorzugt in kleiner dimensionierten Sätzen auf, wie sie für die Frühzeit der Sonatenform typisch sind.9 Nachdem sie im Lauf der 1760er Jahre geradezu verschwunden waren, wurden sie erst um die Jahrhundertwende wieder gängiger, so etwa bei Beethoven.10 Doch ist dies dann nicht als Wiederbelebung einer früheren Praxis zu verstehen, denn das Aufsuchen der Tonart der V. Stufe erscheint nun nicht mehr als unbelastete, duranaloge Option, sondern vielmehr als bewusstes Umgehen der wesentlich näher liegenden Option, die Tonart der III. Stufe als Nebentonart zu etablieren.   6 Georg Joseph Vogler, Betrachtungen der Mannheimer Tonschule [1780], S. 355. In Hepokoski und Darcys »Sonata Theory« ist treffend von »the extra burden of the minor mode« die Rede  ; siehe James Hepokoski und Warren Darcy, Elements of Sonata Theory. Norms, Types, and Deformations in the Late-Eighteenth-Century, New York 2006, S. 306  ; generell zur Thematik des vorliegenden Aufsatzes siehe ebd., S. 306–317.   7 Dabei konnte der Gang zur Tonart der V. Stufe durch einen Kontrastteil bzw. ein Seitenthema in der Molldominanttonart dramaturgisch wirkungsvoll hinausgezögert werden, so etwa in einigen frühen Symphonien Haydns und seiner Wiener Zeitgenossen (vgl. Michael Polth, Symphonieexpositionen des 18. Jahrhunderts  : Formbildung und Ästhetik, Kassel 2000, S. 274–284) oder noch in den 1780er und 1790er Jahren in einigen Klaviersonaten Leopold Koželuchs (op. 2/2/i  ; op. 8/1/i  ; op. 10/1/i, op. 10/2/i und op. 35/2/i).   8 Solche Ausnahmen treten erst gegen Ende des Jahrhunderts vor allem bei Beethoven auf (so etwa andeutungsweise im Kopfsatz der Sonate D-Dur op. 10/3, wo zunächst die Tonart der vi. Stufe thematisch artikuliert wird (T. 23ff.), bevor allerdings schließlich in T. 34 doch die erwartete Hinwendung zur Dominanttonart erfolgt).   9 Beispiele aus den 1740er Jahren sind  : Giovanni Benedetto Platti, Sonate Nr. 4 g-Moll, 2. Satz  ; Sonate Nr. 10 a-Moll, 1. und 3. Satz  ; Sonate Nr. 11 c-Moll, 2. und 3. Satz  ; Carl Philipp Emanuel Bach, Sonate a-Moll Wq. 49/1 (bzw. H. 30), 1. Satz. Weitere Beispiele finden sich unter den Sonaten Domenico Scarlattis. 10 Mollwerke, die in die Tonart der v. Stufe modulieren und nicht zugleich Dreitonarten-Expositionen aufweisen, sind ab ca. 1770 ausgesprochen selten. Erst Beethovens op. 31/2 (Kopfsatz), komponiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts, stellt wieder ein relevantes Beispiel dar  ; wie Hans-Joachim Hinrichsen mit Blick auf die Ecksätze zu Recht feststellt, ist hier eine denkbar kompromisslose Anlage verwirklicht, in der »der Durtonart überhaupt kein Auftritt vergönnt war« (Hans-Joachim Hinrichsen, Beethoven. Die Klaviersonaten, Kassel 2013, S. 259). Vergleichbares begegnet später bei Mendelssohn wieder, u. a. im Kopfsatz der Symphonie aMoll op. 56. Für eine detaillierte Behandlung der Mendelssohn’schen Dur-Moll-Dramaturgie siehe Stefan Keym, »Dur – Moll – Dur. Zur Dramaturgie der Tongeschlechter in Mendelssohns Instrumentalmusik«, in  : Mendelssohn und das Rheinland, hrsg. von Petra Weber-Bockholdt, München 2011, S. 133–152.

191

Markus Neuwirth

Die Theoretiker der Zeit nehmen gegenüber der Wahl der v. Stufe als Nebentonart von Moll-Expositionen eine zwiespältige Position ein. Während manche Theoretiker dies lediglich neutral als mögliche, wenn auch seltener genutzte Option erwähnen (z. B. Johann Adolph Scheibe11), sahen Autoren wie etwa der Mannheimer Georg Joseph Vogler darin ein veritables Problem, auf das sich einzulassen ein Komponist tunlichst vermeiden sollte  : »Ein Stück in der weichen Tonart darf diesem Plan [dem für Dur üblichen Gang in die Tonart der V. Stufe] keineswegs folgen  ; denn die kleine Dritte [Terz] ist viel zu schwach, als daß ein Stück bei Kräften bleibe, wenn immer die weiche Tonleiter herrschet. Man kann also wohl ein Stück in harter Tonart setzen, ohne in die weiche überzugehen  ; nicht aber in weicher Tonart sich aufhalten, ohne die harte fast durch die Hälfte des Stückes zu Hülfe zu nehmen.«12

Ganz ähnlich heißt es auch bei dem ebenfalls hörpsychologisch argumentierenden Carl Czerny  : »Da die Moll=Tonarten überhaupt einen ernsteren, oft traurigen Eindruck auf den Hörer machen, so hat der Tonsetzer, bei Instrumental=Compositionen überhaupt, wohl darauf zu achten, dass die Ideen nicht ins Weinerliche oder Harte und Grässliche ausarten, und in Molltönen mehr auf grossartige als auf klagende Wirkung zu sehen. Daher ist der Mittelsatz in einer Dur=Tonart stets ansprechender, und wird vom Gehör als ein Bedürfniss erwartet.«13

Das kompositionspraktische Korrelat der von Vogler und Czerny geltend gemachten theoretischen Präskription liegt in der Neigung vieler Komponisten, die Molltonart vergleichsweise schnell zu verlassen, um den Großteil der Exposition in der parallelen Dur-

11 Bei Scheibe heißt es schlicht  : »So schließt also der erste Theil eines geschwinden Satzes in einer Symphonie, die aus einer großen Tonart geht, in die Quinte der Tonart  ; ist aber die Tonart klein, so schließt der erste Theil am besten in die Terz, wiewohl man endlich auch in die Quinte schließen kann« (Johann Adolph Scheibe, Der Critische Musicus, 68. Stück, Hamburg 1739, S. 623). 12 Vogler, Betrachtungen der Mannheimer Tonschule [1780], S. 355. Siehe auch Vogler, Betrachtungen der Mannheimer Tonschule [1778], S. 52  : »Deswegen ist die weiche Tonart schwach und matt. Die Symphonien aber, wie gegenwärtige öfters mit Beifalle vor der Comödie ist aufgeführet worden, sollen feurig sein. Sie müssen das Geblüt in eine Wallung setzen, die Fantasie erhitzen, und das Herz des Zuhörers mit harmonischer Kraft heftig anfallen, um es zu den Leidenschaften biegsam, und zu allen Empfindungen weich zu machen. Dies ist die bestimmte Wirkung der Symphonie, die desto schwerer durch die weiche Tonart erzwungen wird, als matter die kleine Dritte von Natur ausfällt.« Zu Zarlino siehe Carl Dahlhaus, »Die Termini Dur und Moll«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 12/4 (1955), S. 280–296, z. B. S. 291. 13 Carl Czerny, »Über die Formen und den Bau jedes Tonstückes«, in  : Anton Reicha, Vollständiges Lehrbuch der musikalischen Composition, Bd. 1, übersetzt aus dem Französischen von Czerny, Wien 1832, S. 316–339, S. 330.

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»Durch Nacht zum Licht« (und zurück in die Nacht)

tonart zu verbringen  ; die Molltonart wird häufig wie ein »heißes Eisen« fallengelassen.14 Für den modulatorischen Gang in die Tonart der III. Stufe bieten sich zwei standardisierte Optionen an  : So kann die Modulation entweder durch wenige harmonische Zwischenschritte oder aber durch eine abrupte mediantische Rückung beinahe gewaltsam herbeigeführt werden. Eine solche Rückung entsteht, wenn direkt nach einem Halb- oder (seltener) Ganzschluss der Grundtonart die Tonart der III. Stufe einsetzt.15 Geschieht dies im symphonischen Kontext, so tritt nach dieser ersten »Mittelzäsur«, nach welcher die Nebentonart bis zum Ende der Exposition beibehalten wird, ein Dur-Tutti mit Überleitungscharakter ein  ; erst eine zweite interpunktische Zäsur kündigt den (kantablen) Seitensatz an.16 Im nicht-symphonischen Kontext dagegen fungiert in der Regel bereits der erste gewichtige Halbschluss als Vorbereitung des Seitensatzes.17 Besonders ausführlich zum Problem der Nebentonart in Mollsätzen hat sich Heinrich Schenker in seiner 1906 erschienenen Harmonielehre geäußert. In seinen Überlegungen wiederholt er den aus dem 18. Jahrhundert bekannten Gegensatz von naturgegebenem Dur und künstlich hergeleitetem Moll.18 Auf den Punkt gebracht argumentiert Schenker, dass bereits die Molltonart an sich eine Abweichung von der natürlichen Ordnung darstellt, weswegen eine weitere Lizenz, nämlich die vom »Naturgesetz der Oberquint«, legitim erscheint, um einer potenziell ermüdenden »Gefahr eines solchen Übermaßes von Moll« entgegenzuwirken – ein Übermaß, vor dem bereits Vogler und Czerny warnten. Explizit schränkt Schenker den Geltungsbereich seiner Argumentation auf den »Mollsatz großen Umfanges« ein und lässt so die um ca. 1750 verbreitete Option, in

14 Vgl. Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 111  : »In minor-mode expositions the move to the key of the mediant major frequently occurs rather early, almost in a premature or precipitous manner.« Ein schlagendes Beispiel ist der Kopfsatz aus Haydns Klaviertrio fis-Moll Hob. XV  :26, wo bereits in Takt 8 die Hinwendung zur parallelen Durtonart erfolgt, die bis zum Expositionsende (T. 37) dominiert. 15 Eine mediantische Rückung nach einem Ganzschluss findet sich in Haydns Streichquartett c-Moll op. 17/4 (Kopfsatz), in der Klaviersonate c-Moll Hob. XVI  :20 (Finale) sowie in Rosettis Streichquartett c-Moll op. 6/4 (Finale). 16 Im Falle eines Halbschlusses spricht Riley von »Mediant Tutti«  ; ders., The Viennese Minor-Key Symphony, S. 12–24. Einschlägige Beispiele sind Mozarts Symphonie g-Moll KV 183 sowie Rosettis Symphonie g-Moll Murray A42 (jeweils der Kopfsatz). Für eine Diskussion der Formfunktion des »Mediant Tutti« siehe Michael Polth, Symphonieexpositionen des 18. Jahrhunderts, S. 236–238, sowie Riley, The Viennese Minor-Key Symphony, S. 14. 17 Z. B. Haydns Klaviertrio g-Moll Hob. XV  : 1 (Kopfsatz) oder die Klaviersonate D-Dur XVI  : 24 (2. Satz in dMoll). 18 Heinrich Schenker, Harmonielehre (= Neue musikalische Theorien und Phantasien 1), Wien 1978, Nachdruck der Ausgabe von 1906. Siehe außerdem Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 1911, S. 111  : »Die Molltonart ist somit ein reines Kunstprodukt und die Versuche, sie als naturgegeben hinzustellen, sind zwecklos  : ihre Natürlichkeit ist nicht unmittelbar, sondern, wie die der Kirchentonarten, mittelbar.« Pars pro toto für die im 18. Jahrhundert gängige Auffassung, der Molldreiklang und mit ihm die Molltonleiter seien nicht in der Natur begründet, siehe Vogler, Betrachtungen der Mannheimer Tonschule [1778], S. 51.

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Markus Neuwirth

geringer dimensionierten Sätzen in die Tonart der v. Stufe zu modulieren, unberührt. Es lohnt, Schenkers Ausführungen nahezu in ihrer Gänze zur Kenntnis zu nehmen  : »In Moll freilich tritt häufiger als in Dur eine Abweichung von diesem Naturgesetz der Entwicklung ein. Nach obigem müßten ja die auf die Hauptgruppe folgenden Gedankengruppen alle in der Molltonart der Dominante stehen, was ein kontinuierliches Moll ergeben würde  ; so wenig nun aber unter Umständen in einem kleinen Rahmen ein durchgängiges Moll unsere Empfindung ermüdet, so erweist es sich anderseits in einer großen Form undurchführbar, am Mollsystem sowohl in der Tonika (in der ersten Gruppe), als auch in der Dominante (in der zweiten und dritten Gruppe) festzuhalten, zumal die Reprise, die alle diese Gruppen nunmehr auf dem Boden derselben Tonart vereinigt, uns dadurch aus dem Moll ja überhaupt nicht mehr entließe. Mit Recht sträubt sich die Empfindung des Künstlers, in solchen Fällen dem Naturgesetz der Oberquint nachzugeben  ; bedenken wir indessen, daß das Mollsystem […] eigentlich kein natürliches System ist, und daher nur willkürlich und zwar per associationem des Dursystems von den Künstlern den Naturgesetzen unterworfen wird, so dürfen wir nicht einmal sagen, daß sie sich einer Naturverletzung dadurch schuldig machen, wenn sie in einem Mollsatz großen Umfanges statt der Molltonart der Dominante lieber und öfter eine Durtonart der Ober- oder Unterterz – je nachdem Entwicklung oder Inversion herrscht – setzen.«19

Ginge es also lediglich um den von Schenker eingeforderten modalen Kontrast als solchen, kämen prinzipiell alle Durtonarten in Frage. Allerdings ist die Wahl der Tonart der III. Stufe aufgrund ihrer engen Verwandtschaft mit der Grundtonart besonders naheliegend (erst im 19. Jahrhundert, wohl ab den 1820er Jahren, etabliert sich die Tonart der VI. Stufe als gangbare Alternative, daneben auch die Tonart der V. Stufe  ; siehe unten). Auf den Aspekt einer Art Transformationsökonomie heben etwa Aldwell und Schachter ab, wenn sie darauf hinweisen, die Tonart der III.  Stufe ließe sich von der parallelen Molltonart aus ohne jegliche chromatische Alteration erreichen.20 Mag dieser Verweis hier auch seine Berechtigung haben, universell verallgemeinerbar ist er kaum, denn Komponisten wählten durchaus immer wieder Tonartenkonstellation, die nicht auf dem kürzesten Weg bzw. durch ein Minimum an Stimmführungsbewegung miteinander verbunden sind. Dieser Einwand betrifft auch Longyears Erklärung, die Tonart der III. Stufe sei deshalb als Nebentonart bevorzugt worden, weil die Toniken beider Tonarten zwei gemeinsame Töne aufweisen – ein Merkmal, das auch auf die Tonart der VI. Stufe zutrifft und darüber hinaus im Falle einer Verallgemeinerung nolens volens die Prävalenz der V. Stufe in Durwerken t h e o r e t i s c h in Frage stellen würde.21

19 Schenker, Harmonielehre, S. 328f. 20 Edward Aldwell und Carl Schachter, Harmony and Voice-Leading, Australia (USA) 2003, S. 228. 21 Spezifischer ist demgegenüber Longyears historisches Argument, das auf eine aus dem hypodorischen Mo-

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»Durch Nacht zum Licht« (und zurück in die Nacht)

Zwar bringt nun der Gang von der Grundtonart in die Tonart der III. Stufe den von Vogler und Czerny eingeforderten Kontrast im Tongeschlecht mit sich  ; allerdings scheint dies den Preis einer drastischen Minderung der tonalen Spannung zu fordern, denn eine auflösungsbedürftige »Dissonanz«, wie sie zwischen Grund- und Dominanttonart gemeinhin angenommen wird, liegt zwischen i. und III. Stufe gerade nicht vor.22 Dieses Problem hat möglicherweise eine weitere Variante hervorgebracht, eine, die beide Optionen, den Gang sowohl in die III. als auch in die v. Stufe, derart kombiniert, dass daraus eine Dreitonarten-Expositionen erwächst. Diese spezifische Tonarten-Disposition hat vermutlich Carl Czerny erstmals beschrieben  : »Ausserdem kann man nach dem Dur=Mittelsatze, in die Oberdominante der Haupttonart, (jedoch moll) ausweichen, in derselben alle, dem Mittelsatz folgenden Passagen, und endlich den Schluss des ersten Theils ausführen.«23 In dieser Spielart der Dreitonarten-Exposition wird ein großräumiges Aufwärts-Arpeggio artikuliert  : Ein erster (in der Regel kürzerer) Seitensatz in der Tonart der III. Stufe, gefolgt durch einen zweiten (nachdrücklicheren) Seitensatz in der Tonart der v. Stufe.24 Der mittleren Tonart haftet der Charakter des Durchgängigen an  ; sie teilt die Wegstrecke zwischen der i. und v. Stufe in zwei Hälften und bildet somit einen »Terzteiler« im Sinne Schenkers. Strukturell dominiert die V. gegenüber der eingebetteten III. Stufe. Auch die Dreitonarten-Exposition garantiert den eingeforderten modalen Kontrast, ermöglicht allerdings zugleich das duranaloge Spannungsverhältnis zwischen I. und V. Stufe. Man mag hierin eine Lösung des von Vogler aufgeworfenen Problems erkennen, dass eine Exposition, deren zweite Hälfte durchgängig bis zum Schluss mittels einer Molltonart bestritten wird, zu »schwach« geraten würde, weswegen es angebracht erscheint, die Durtonart wenigstens vorübergehend »zu Hülfe zu nehmen«. Im 19. Jahrhundert ist es das von Schenker ausführlich beschriebene Konzept der tonalen »Mischung« (bzw. MacKays Idee der »formalen Mischung«), das die für die tonale Gestaltung von Exposition und Reprise verfügbaren Optionen weiter anwachsen lässt  : dus (ein plagaler Modus mit der Finalis D und dem Rezitationston F) hervorgegangene Praxis verweist (siehe Longyear, »The Minor Mode«, S. 197). 22 Vgl. William E. Caplin, Classical Form  : A Theory of Formal Functions for the Instrumental Music of Haydn, Mozart, and Beethoven, New York 1998, S. 195  : »[…] the notion of a structural dissonance in the exposition may be evident enough in major-mode movements, in which the subordinate key is the dominant region. But in most minor-mode movements, in which home and subordinate keys share the same basic scale, the sense of a genuine tonal polarity is less palpable.« Für eine Kritik am tonalen Spannungs-Lösungsmodell siehe Markus Neuwirth, »Surprise Without a Cause  ? ›False Recapitulations‹ in the Classical Repertoire and the Modern Paradigm of Sonata Form«, in  : Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 10/2 (2013), S. 259–291. 23 Czerny, »Über die Formen und den Bau jedes Tonstückes«, S. 330. 24 Der Begriff der Dreitonarten-Exposition geht auf Felix Salzer zurück, er spricht vom »Dreitonarten-System der Exposition«  ; ders., »Die Sonatenform bei Franz Schubert«, in  : Studien zur Musikwissenschaft 15 (1928), S. 86–125, hier S. 102. Siehe auch Rey M. Longyear und Kate R. Covington, »Sources of the Three-Key Exposition«, in  : The Journal of Musicology 6/4 (1988), S. 448–470, sowie Graham G. Hunt, »When Structure and Design Collide  : The Three-Key Exposition Revisited«, in  : Music Theory Spectrum 36/2 (2014), S. 247–269.

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Markus Neuwirth

Strategien, die im Dur-Kontext gängig sind, werden in den Moll-Kontext transferiert, bzw. vice versa.25 Wie bereits erwähnt, kristallisierte sich in den 1820er Jahren zunehmend eine alternative Nebentonart für Mollwerke heraus  : die Tonart der VI.  Stufe.26 Einschlägige Beispiele hierfür finden sich bei Beethoven (Symphonie d-Moll Nr. 9  ; Klaviersonate c-Moll op. 111  ; Streichquartett a-Moll op. 132  ; jeweils der Kopfsatz) ebenso wie bei Schubert (Symphonie Nr.  4 c-Moll, 1816  ; Unvollendete, 1822  ; Klaviersonate aMoll op. 164  ; jeweils der Kopfsatz). Doch auch Ferdinand Hiller (Symphonie e-Moll, Kopfsatz), Robert Volkmann (Symphonie d-Moll, Kopfsatz, erster Seitensatz) und einige andere nutzten diese Strategie.27 Eine weitere Option liegt in der Wahl der Tonart der V.  Stufe, aber anders als noch ca. hundert Jahre früher nicht in Moll, sondern nun in Dur.28 Die Reprise behält dann in aller Regel die ursprüngliche Modalität bei. Auch hier handelt es sich um einen Fall »tonaler/formaler Mischung«. Damit sind nun die Grundlagen erarbeitet, die es erlauben, sich mit dem eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags auseinanderzusetzen  : der Reprisen-Behandlung des Durseitensatzes in Mollwerken und den daraus erwachsenden semantischen Implikationen. Tatsächlich liegt in dieser Fragestellung ein besonderer Reiz, denn die Reprisen in Mollsätzen bieten gegenüber solchen in Dursätzen eine größere (standardisierte) Bandbreite an formalen Lösungen.

3. Das Reprisen-Problem (Mozart, Haydn, Beethoven, Koželuch)

Mollsätze, die von der Grundtonart in die Tonart der v. Stufe modulieren, legen – in Analogie zu Dursätzen – eine Quinttransposition des Seitensatzes nahe, wodurch die tonale Einheit der Reprise (und damit des Formganzen) hergestellt wird – die positive Kehrseite dessen, wovor Schenker warnte, nämlich dass die Reprise den Hörer »aus dem Moll ja überhaupt nicht mehr entließe.«29 Bei Seitensätzen in der Tonart der III.  Stufe bietet sich demgegenüber ein breiteres Spektrum an Optionen, wobei allerdings keine dieser Optionen völlig zu befriedigen scheint. Wählt ein Komponist auch hier die Quinttransposition, so erklingt der Seiten25 Schenker, Harmonielehre, S.  106–150. Zum Begriff der formalen Mischung, in Analogie zur tonalen Mischung im Sinne Schenkers siehe James S.  MacKay, »Formal Mixture in the Sonata-Form Movements of Middle- and Late-Period Beethoven«, in  : Intersections  : Canadian Journal of Music 31/1 (2010), S. 77–99. 26 Siehe bereits Salomon Jadassohn, Die Formen in den Werken der Tonkunst, Leipzig 1885, S. 106f.; daneben Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 317. 27 Für eine ausführliche Diskussion der tonalen Expositionsstrategien im symphonischen Kontext des 19. Jahrhunderts siehe Julian Horton, »Tonal Strategies in the Nineteenth-Century Symphony«, in  : The Cambridge Companion to the Symphony, hrsg. von Julian Horton, Cambridge 2013, S. 232–267, hier  : S. 236–242. 28 Z. B. Felix Mendelssohn-Bartholdy, Klaviertrio d-Moll op. 49 (Kopfsatz). 29 Schenker, Harmonielehre, S. 329.

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satz außerhalb der Grundtonart (noch dazu in Dur), wodurch die tonale Einheit der Reprise gefährdet ist. Erfolgt stattdessen eine Terztransposition, so wird zwar die geforderte Nivellierung der Tonartendifferenz bewirkt, unklar bleibt allerdings, wie mit dem modalen Kontrast zu verfahren ist  : Soll – erstens – der Durcharakter des Seitensatzes gewahrt bleiben, oder soll – zweitens – der Seitensatz eine modale Anpassung an den Hauptsatz erfahren  ? Oder sollte – drittens – gar der Hauptsatz modal an den ursprünglichen Seitensatz angepasst werden, so dass die gesamte Reprise in Dur erklingt  ? (Es ist wohl die letztgenannte Option, die die Anwendung der gängigen Metapher »Durch Nacht zum Licht« rechtfertigt.30) Die modale Adaption des Seitensatzes bringt nicht nur das Problem des von Schenker monierten durchgehenden Molls mit sich  ; sie steht einem Komponisten auch nur dann zur Verfügung, wenn der Seitensatz überhaupt musikalisch schlüssig im Mollgewand darstellbar ist, ohne dass damit eine »entstellende Transformation«31 riskiert würde. Bereits Heinrich Joseph Birnbach gab zu bedenken, dass sich nicht alle Themen »auch in eine weiche Tonart übertragen und ausüben lasse[n].«32 Bei Longyear heißt es diesbezüglich ganz lapidar  : »There are two fundamental types of contrasting song-themes in sonata forms in the minor mode  : those themes which can be restated in tonic minor in the recapitulation and those which cannot.«33 Verkennen Komponisten die modale Eignung ihrer Themen, so mag zwar ein formfunktional einwandfreies Gebilde entstehen, das ästhetische Resultat bleibt jedoch unbefriedigend. Für Longyear liegt eine zentrale Schwäche von Mozarts »kleiner« g-Moll-Symphonie KV  183 (Kopfsatz) gerade darin, dass der ursprünglich in Dur vorgetragene Seitensatz in der Reprise abgesehen von der Transposition unverändert in Moll rekapituliert wird. Erst im späteren Schaffen habe Mozart einen Weg gefunden, Transposition und Rekomposition des Seitensatzes in angemessener Weise miteinander zu verbinden.34 Allerdings nennen weder Longyear, noch 30 In Bezug auf die Frage, wann der lateinische Ausspruch »per aspera ad astra« erstmals im musikalischen Schrifttum auftaucht, wird in der Regel auf Hermann Kretzschmar verwiesen, der damit allerdings den Übergang vom 3. Satz ins Finale von Beethovens 5. Symphonie charakterisiert (siehe Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal, Bd. 1  : Symphonie und Suite, Leipzig 1887, S. 88, sowie den Beitrag von Stefan Keym im vorliegenden Band). Die wie selbstverständliche Verwendung suggeriert, dass der Ausspruch möglicherweise schon früher in Gebrauch war, so z. B. in Richard Pohls Rezension von Brahms’ 1. Symphonie in  : Musikalisches Wochenblatt 7 (1876), S. 658. Die »Durch Nacht zum Licht«-Metapher als solche findet sich bereits bei E.T.A. Hoffmann in seiner berühmten Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven in  : Allgemeine musikalische Zeitung 12 (1810), Sp. 638 und 655. 31 Norbert J. Schneider, »Mediantische Harmonik bei Ludwig van Beethoven«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 35/3 (1978), S. 210–230, hier S. 214. 32 Heinrich Joseph Birnbach, »Über die verschiedene Form größerer Instrumentaltonstücke aller Art und deren Bearbeitung«, in  : Berliner Allgemeine musikalische Zeitung 5 (1828), S. 114. 33 Longyear, »The Minor Mode«, S. 202. 34 Ders., »Parallel Universes  : Mozart’s Minor-Mode Reprises«, in  : Mozart-Jahrbuch 1991 (1992), S. 810–815, hier  : S. 811.

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andere Autoren streng-wissenschaftliche Kriterien für die Eignung eines Seitensatzes zur Übertragung in einen Moll-Kontext (und ich bezweifle, dass solche Kriterien überhaupt existieren). Bei Longyear heißt es denkbar vage, ja geradezu tautologisch, mit Blick auf die Seitenthemen der Rahmensätze in KV 183  : »they are n o t p l a s t i c e n o u g h to permit simple transposition.«35 Das Problem der modalen Adaption des Seitensatzes ist deutlich gemildert in solchen Sonatensätzen, deren Expositionen »monothematisch« gestaltet sind  ;36 allerdings steigt in diesen Fällen auch die Wahrscheinlichkeit, dass der hauptthemenbasierte Themenkopf, der den Seitensatz initiiert, in der Reprise ausgespart wird, auch wenn diese Maßnahme, sofern sie überhaupt zum Tragen kommt, nur selten eindeutig auf eine vom Komponisten intendierte Vermeidung motivischer Redundanz zurückgeführt werden kann.37 Für den seit 1871 am Leipziger Konservatorium tätigen Theoretiker und Komponisten Salomon Jadassohn ist in der modalen Adaption des Seitensatzes ein für »aeltere Componisten« charakteristisches Verfahren zu sehen, von dem nicht nur Mozart, sondern auch der frühe Beethoven Gebrauch machte.38 Jadassohns Auffassung, es habe sowohl einen komponisten- als auch einen zeitspezifischen Unterschied in der Reprisen-Behandlung des Dur-Seitensatzes gegeben, wurde in der Folge von Wilhelm Fischer vertreten und mit Blick auf Haydn präzisiert. In seiner vielzitierten Studie Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils (1915) legt Fischer nahe, Mozart und Haydn würden sich dahingehend unterscheiden, dass Mozart die Mollrekapitulation und somit eine »tonale Beantwortung«, Haydn dagegen die Durrekapitulation und folglich eine »reale Beantwortung« favorisiert hätte (siehe Tabelle 1 und 2).39 Tatsächlich haben Jadassohn und Fischer eine Auffassung artikuliert, die in der Folge von der Forschung nur noch in Details korrigiert wurde. Die Beobachtung, dass jeder der drei großen »Wiener Klassiker« seine je eigene Umgangsweise mit dem Problem der Seitensatz-Rekapitulation in Mollsätzen gefunden

35 Ebd. (Hervorhebung vom Verfasser) 36 Siehe z. B. Pleyel, Klaviertrio e-Moll, 1. Satz, Benton 435. 37 Moll-Beispiele für eine Tilgung des monothematischen Seitensatzes in der Reprise finden sich im Kopfsatz aus Haydns Klaviersonate cis-Moll, Hob. XVI  :36 sowie im 2. (langsamen) Satz in g-Moll von Pleyels Klaviertrio G-Dur Benton 432 (1788). Vgl. zu Phänomen, Begriff und Behandlungsweise von Monothematik bei Haydn, Pieter Bergé, »Transcending Mono(tono)thematicism. A Reinvestigation of Compositional Logic in Haydn’s Paris Symphonies Nos. 84–86«, in  : Dutch Journal of Music Theory 8/3 (2003), S.  199–205, sowie Markus Neuwirth, »Does a ›Monothematic‹ Expositional Design have Tautological Implications for the Recapitulation  ? An Alternative Approach to ›Altered Recapitulations‹ in Haydn«, in  : Studia Musicologica 51/3–4 (2010), S. 369–385. 38 Jadassohn, Die Formen in den Werken der Tonkunst, S. 107. 39 Vgl. Wilhelm Fischer, »Zur Entwicklungsgeschichte des Wiener klassischen Stils«, in  : Studien zur Musikwissenschaft 3 (1915), S. 24–84, hier S. 70. Die Terminologie »reale« und »tonale Beantwortung« ist offenkundig der Fugen-Theorie entlehnt.

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hat, ist bis in die neuere Literatur hinein verbreitet.40 (Auf die Besonderheiten der späteren Beethoven’schen Behandlungsweise wird weiter unten noch kurz einzugehen sein.) Hauptsatz

Seitensatz

Exposition

i

III

Reprise

i

i

Hauptsatz

Seitensatz

Exposition

i

III

Reprise

i

I

Tabelle 1: Das »Mozart’sche« Verfahren

Tabelle 2: Das »Haydn’sche« Verfahren (nach 1780)

Mit Blick auf Mozart ist Fischers Beobachtung wohl korrekt und wird auch durch die neuere Forschung bestätigt.41 (Lediglich im Finale des Klavierkonzerts d-Moll KV 466 endet der Satz in Dur, die »Maggiore«-Aufhellung geschieht aber bezeichnenderweise erst mit Eintritt der Coda.) Mit Blick auf Haydn jedoch bedarf Fischers Behauptung wenigstens teilweise der Korrektur, denn sie übersieht, dass auch Haydn vor 1780 fast ausnahmslos auf die von Mozart genutzte Strategie rekurriert, den rekapitulierten Seitensatz für das Mollgeschlecht einzurichten.42 Dass dies zwingend mit einer expressiven Absicht verknüpft war, erscheint vor diesem Hintergrund zweifelhaft, da das Verfahren vor 1780 bei Haydn und seinen Zeitgenossen im Grunde konkurrenzlos war. Deutet man also, wie Lauri Suurpää, die Reprise im Kopfsatz aus Haydns Sonate g-Moll Hob. XVI  : 44 im Sinne 40 Siehe auch Paul Wingfield, »Beyond ›Norms and Deformations‹  : Towards a Theory of Sonata Form as Reception History«, in  : Music Analysis 27/1 (2008), S. 137–177  ; hier S. 144  : »Mozart’s overwhelming preference is for a I–III exposition answered by a recapitulation in which the relative-major secondary and closing material is recast in the tonic minor.« 41 Longyear schreibt  : »Mozart […] retained tonic minor for his second themes, with a considerable change in personality and effect« (Longyear, »Parallel Universes«, S. 811). 42 Vgl. auch James Webster, Haydn’s ›Farewell‹ Symphony and the Idea of Classical Style, Cambridge 1991, S.  221f. Folgende Beispiele aus Haydns Schaffen mögen genügen, um diese Praxis zu belegen. Unter den Klaviersonaten  : g-Moll Hob. XVI  :44, 1. Satz  ; c-Moll Hob. XVI  :20, 1. und 3. Satz  ; h-Moll Hob. XVI  :32, 1. und 3. Satz  ; e-Moll Hob. XVI  :34, 1. Satz. Unter den Streichquartetten  : d-Moll op. 9/4  ; c-Moll op. 17/4  ; gMoll op. 20/3 (jeweils der Kopfsatz)  ; unter den Klaviertrios  : g-Moll Hob. XV  :1, Finale  ; fis-Moll Hob. XV  :26, 1. Satz. Unter den Symphonien  : Nr. 26, 34, 39, 44, 45, 52 und 78 (jeweils der Kopfsatz). In der Klaviersonate cis-Moll Hob. XVI  :36 (Kopfsatz) entfällt zwar in der Reprise der monothematische Seitensatz, die Reprise verbleibt aber durchgehend im Moll der Grundtonart. Die einzige Ausnahme von der Mollrückkehr betrifft vor 1780 den Kopfsatz der Symphonie Nr. 26  ; dort wird – möglicherweise mit außermusikalischer Intention – das ursprüngliche Tongeschlecht des Choralzitats im Seitensatz gewahrt.

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eines expressiven Plots als »tragic – joyful – tragic«, so wird eben die Konventionalität dieses Verfahrens ausgeklammert.43 Die Rückwendung ins Moll verliert angesichts mangelnder Alternativen ihre semantische Qualität. Erst in den 1780er Jahren kam es bei Haydn zur zunehmenden Verwendung dessen, was Matthew Riley treffend als »modal reversal«, Longyear als »semi-minor mode« bezeichnet.44 Seine spezifische Bedeutung erhält dieses Verfahren erst vor dem Hintergrund der bis zu diesem Zeitpunkt erwartbaren »Mozart’schen« Norm. Wie noch zu zeigen sein wird, unterscheidet sich die Umsetzung dieses »reversal« in einem entscheidenden Punkt von der späteren Beethoven’schen Praxis  : Anders als bei Beethoven ist bei Haydn die Hinwendung zum Dur nicht vorübergehend, sondern definitiv. Der formale Zeitpunkt der Hinwendung stand weitestgehend frei zur Disposition. Der chronologisch früheste Fall findet sich im Kopfsatz von Haydns Streichquartett in fis-Moll op. 50/4 (1785).45 Auch in den 1790er Jahren geht Haydn wiederholt auf diese Weise vor, so etwa im Kopfsatz seiner Symphonie c-Moll Nr. 95 sowie in den Ecksätzen seines Streichquartetts g-Moll op. 74/3. In der Symphonie erfolgt die Hinwendung in die gleichnamige Durtonart bereits nach neun Takten der Reprise (T. 129), im Finalsatz des Streichquartetts nach nur elf Takten (T. 100)  ; das Dur wird bis zum Satzende (und damit im Quartett bis zum Werkende) beibehalten. Noch bevor er mit dieser Form des »modal reversal« zu experimentieren begann, erprobte Haydn auch die Möglichkeit, die gesamte Reprise in der Durtonart wiederzugeben, und zwar zunächst im Kopfsatz der Symphonie d-Moll Nr. 80 (1783/84), später im Streichquartett op.  55/2 (1788). Hier favorisierte er zunächst eine ganz spezifische Variante, bei der die Exposition monothematisch gestaltet wurde und die Rückkehr in die Grundtonart (und damit die Reprise) mit Hilfe des hauptthemenbasierten Seitensatzmotivs bewerkstelligt wird.46 Der zweite Satz aus op. 55/2, der, wie schon der Kopfsatz, in f-Moll steht, bietet ein anschauliches Beispiel. Die Durchführung mündet in einen Halbschluss der Grundtonart (T. 133) und breitet die Dominante über weitere zwölf Takte aus. Die darauf folgende 43 Lauri Suurpää, »Interrelations between Expression and Structure in the First Movements of Joseph Haydn’s Piano Sonatas Hob. XVI/44 and Hob. XVI/20«, in  : Intégral 23 (2009), S. 163–216, hier S. 176ff. 44 Riley, The Viennese Minor-Key Symphony, S. 201–219  ; sowie Floyd Grave, »Recuperation, Transformation and the Transcendence of Major Over Minor in the Finale of Haydn’s String Quartet op. 76 No.  1«, in  : Eighteenth-Century Music 5/1 (2008), S. 27–50. Für eine detaillierte Studie zu Haydns Reprisen-Behandlung siehe Riley, »The Sonata Principle Reformulated for Haydn Post-1770 and a Typology of his Recapitulatory Strategies«, in  : Journal of the Royal Musical Association 140/1 (2015), S. 1–39 (zu den Mollsätzen im Besonderen siehe S. 30–33). 45 Vgl. Donald Francis Tovey, »Haydn’s Chamber Music«, in  : ders., The Main Stream of Music, New York 1949, S. 1–65, hier S. 60. 46 Bei Haydn findet sich diese besondere Behandlung des monothematischen Sonatensatzes in insgesamt fünf Fällen, drei davon in Moll. Im Streichquartett d-Moll op. 9/4 (Finalsatz  ; 1769/70) verzichtet Haydn noch auf eine Dur-Rekapitulation des Seitensatzes und gibt diesen terztransponiert wieder.

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Generalpause steigert die Hörerwartung hinsichtlich der Fortsetzung, und der Eintritt von Hauptthemen-Material in Takt 145 scheint die Erwartung einer regulären Reprise zunächst zu bestätigen. Bis zu diesem Zeitpunkt liegt der einzig überraschende Aspekt darin, dass der musikalische Verlauf einen Dur-Umschwung vollzieht (ganz nach dem »per aspera ad astra«-Prinzip). Doch im weiteren Verlauf wird die Erwartung einer expositionsanalogen Fortsetzung wirkungsvoll unterlaufen. Spätestens mit Takt 150 stellt sich heraus, dass das vermeintliche Hauptthema tatsächlich der retransponierte monothematische Seitensatz (vgl. T.  41ff.) war, der, genau wie in der Exposition, in Dur erklingt. Diese Deutung hat allerdings weitreichende Konsequenzen  : Sie impliziert nicht nur die Weglassung des eigentlichen Hauptthemas (einer 16-taktigen Periode), sondern auch der hauptthemenbasierten Überleitung (T. 17–40), die die ersten beiden Takte des Hauptthemas verwendete  – allesamt Eingriffe, die ein denkbar ausgeprägtes Ungleichgewicht zwischen Exposition und Reprise bedingen (76 vs. 36 Takte). Dieses Ungleichgewicht jedoch als Argument gegen eine Deutung von Takt 145 als Reprisen-Beginn ins Feld zu führen, ist vielleicht formarchitektonisch nachvollziehbar, nicht jedoch phänomenologisch, denn Hörer dürften sich erst gegen Satzende bewusst werden, dass es der Seitensatz war, der den großflächigen Parallelismus herbeigeführt hat. Aufgrund seiner strukturellen Mehrdeutigkeit rückt das vorliegende Beispiel ganz in die Nähe des einzigen Falls, in dem Haydn eine tatsächlich m i t d e m H a u p t t h e m a initiierte Reprise in der gleichnamigen Durtonart einsetzen lässt  : dem Finalsatz des Klaviertrios g-Moll Hob. XV  :19 (1794).47 Es scheint, als habe sich Haydn in seinem Spätwerk über mehrere Anläufe den Weg zu diesem Verfahren gebahnt. Unabhängig vom genauen Einsatzzeitpunkt des Dur, der vom Reprisen- bis zum Seitensatzbeginn reichen kann, übernimmt das Dur in den angeführten Fällen stets die formdramaturgische Funktion, das Moll vollständig zu überwinden bzw. vergessen zu machen. Beethoven hat sich im Frühwerk zunächst die von Mozart favorisierte Strategie zu eigen gemacht.48 Erst ab Opus 18 beschreitet Beethoven einen neuartigen Weg im Umgang mit dem Reprisen-Problem in Mollsätzen, indem er Option 1 (Mozart) und Option 2 (Haydn) gleichsam mischt (vgl. Tabelle 3).49 Jadassohn beschreibt diesen »neuen Weg« ausführlich  : »Beethoven verlässt aber dieses Princip in seinen späteren Werken  ; er bringt das in Dur stehende zweite Thema bei der Wiederholung im dritten Theil ebenfalls in Dur in [sic  !] gleichen Ton wie das erste, oder in einer anderen entsprechenden Durtonart wieder und kehrt danach erst durch eine Modulation in die Grundtonart des Satzes zurück, um in dieser zu schliessen.«50 Die Dur-Rekapitulation des in Dur expo47 In Haydns Vokalschaffen findet sich eine solche Dur-Reprise in der Arie »Rollend in schäumenden Wellen« (ab T. 75) aus der Schöpfung. 48 Beispiele aus dem Frühwerk sind etwa die f-Moll-Sonaten WoO 47/2 und op. 2/1 (jeweils der Kopfsatz). 49 Zum Begriff der formalen Mischung siehe oben, Anm. 25. 50 Jadassohn, Die Formen in den Werken der Tonkunst, S. 107. Vgl. Wingfield, »Beyond ›Norms and Deformations‹«, S. 144ff. Im Kopfsatz der Sonate f-Moll op. 57 variiert Beethoven dieses Verfahren, indem er dem

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nierten Seitensatzes ist bei Beethoven gattungsübergreifend anzutreffen, so etwa in der Fünften Symphonie (Kopfsatz), im Streichquartett op. 18/4 (Kopfsatz), im Streichquartett op. 18/1 (2. Satz), im Klaviertrio op. 1/3 (Kopfsatz) sowie im Klavierkonzert c-Moll Nr. 3 op. 37 (Kopfsatz).51 Hauptsatz

Seitensatz

Exposition

i

III

Reprise

i

I – i

Tabelle 3: Das »Beethoven’sche« Verfahren

Einen Grund für diesen Wandel sieht Norbert J. Schneider in der Vermeidung einer »entstellenden Transformation nach Moll«52, die aufgrund einer angeblich stärkeren Fixierung auf das Harmonische als bei Mozart notwendig werden würde. Doch damit erklärt Schneider nur die Haydn’sche Strategie, nicht jedoch die Eigenart des Beethoven’schen Verfahrens, das sich kaum auf eine s t r u k t u r e l l e Notwendigkeit festlegen lässt. Offenbar verbindet sich bei Beethoven die tonale Anlage mit einem spezifischen Ausdrucksbedürfnis, welches bedingt, dass die Wendung ins Dur bei ihm, anders als bei Haydn, nur temporär ausfällt und einem Umschlagen ins Moll Platz macht. Aus dieser tonalen Strategie scheinen semantisch »Resignation« und »Hoffnungslosigkeit« zu erwachsen (genauer siehe unter »Strategien der Semantisierung von Musik«). Joseph Kerman bringt den formdramaturgischen Unterschied zwischen Haydn (Symphonie Nr. 95) und Beethoven (Klaviertrio op. 1/3) auf den Punkt  : »Haydn introduces C major so as to erase miSeitensatz in As-Dur eine Wendung nach as-Moll folgen lässt, worin die Exposition schließt – eine Strategie, an die Brahms im Kopfsatz seiner 1. Symphonie anknüpfen sollte. 51 Ein Sonderfall einer Dur-Reprise ist die Rekapitulation des Seitensatzes in der Durtonart der IV. Stufe. Beethoven greift darauf nur einmal, nämlich in seiner Klaviersonate c-Moll op.  10/1 (Kopfsatz), zurück. Wie Hans-Joachim Hinrichsen feststellt, ist »dieses Werk die erste Moll-Sonate [im Klaviersonaten-Kontext], in der die Reprise mit dem bei Mozart üblichen Verfahren bricht, das Dur-Seitenthema der Exposition in der Reprise umstandslos nach Moll zu versetzen […]« (Hinrichsen, Beethoven. Die Klaviersonaten, S. 82). Für eine erhellende Studie, die Beethovens »per aspera ad astra«-Verfahren unter dem Gesichtspunkt einer Vernetzung der Kulturräume Wien und Paris beleuchtet, siehe Stefan Keym, »Wien – Paris – Wien. Beethovens Moll-Dur-Dramaturgie im Licht einer ›histoire croisée‹«, in  : Beethoven. Studien und Interpretationen, hrsg. von Mieczysław Tomaszewski, Bd. 4, Kraków 2009, S. 407–419. 52 Schneiders Begründung lautet wie folgt  : »Die Durform des 2. Themas der Exposition erfährt in der Reprise eine entstellende Transformation nach Moll, die umso störender ist, wenn – was für Beethoven im Gegensatz z. B. zu Mozart (Oberstimmenmelodik) typisch ist  – das Thema stark harmonisch geprägt wird und zudem sehr individuellen Charakter besitzt. Dieser Umstand führt zu dem Verfahren, die Durtonart durch Varianttonartbildung in der Reprise beizubehalten, wodurch ein mediantischer Strukturbezug zwischen den beiden Erscheinungsformen des 2. Themas in Exposition und Reprise entsteht« (Schneider, »Mediantische Harmonik«, S. 214).

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nor-mode tensions and end a moody, brusque movement jovially  ; Beethoven introduces C major] only to contradict it, to restore minor-mode tensions made all the more intense by the temporary contrast.«53 Mit Verweis auf diesen Unterschied lehnt Kerman, wohl zu Recht, eine Abhängigkeit Beethovens von Haydn, wenigstens mit Blick auf die Behandlung des Seitensatzes, ab. Denkbar ist allerdings, dass die Formbehandlung Haydns, die dieser mehr als zehn Jahre kultivierte, gleichsam als Folie dem Beethoven’schen Verfahren zu Grunde lag, vor deren Hintergrund die Eigenheiten dieses Verfahren umso deutlicher als Negation hervortreten konnte. Bislang wurde der Blick auf die drei sogenannten »Wiener Klassiker« verengt. Diese Einschränkung birgt allerdings das Risiko in sich, dass möglicherweise verzerrende Maßstabe an deren Formbehandlung herangetragen werden. Inwieweit Haydns DurAufhellung oder Beethovens Moll-Rückfall als Bestandteile ihres jeweiligen Personalstils einzustufen sind oder vielmehr einen weiter verbreiteten Allgemeinstil repräsentieren, kann erst vor dem Hintergrund einer umfassenderen Korpusstudie, die sich frei macht von vorgängigen qualitativen Werturteilen, einigermaßen seriös beantwortet werden. Mit Haydns und Mozarts Wiener Zeitgenossen wie Dittersdorf, Vanhal und Paul Wranitzky hat sich – wenigstens was die Symphonik angeht – bereits Matthew Riley in einer verdienstvollen Studie auseinandergesetzt.54 Relativ unbeachtet geblieben ist dagegen der seit 1778 in Wien ansässige böhmische Komponist Leopold Koželuch, und dies, obwohl er nicht weniger als 50 Sonaten für Soloklavier vorgelegt hat, darunter zehn Sonaten in Molltonarten. Insgesamt zeigt sich bei Koželuch eine vergleichsweise vielseitige Reprisen-Behandlung,55 die allerdings in Kontrast steht zur ausgesprochen uniformen Behandlung des Dur-Seitensatzes in Mollwerken, denn diese erschöpft sich bei ihm fast ausschließlich in der Verwendung des Mozartschen Verfahrens der modalen Adaption.56 Nur in einem einzigen Fall, der darum umso aufschlussreicher ist, weicht Koželuch davon ab, nämlich im Kopfsatz seiner Klaviersonate a-Moll op. 26/2 (1788). Hier scheint tatsächlich ein Fall vorzuliegen, der die Grenzen der modalen Adaption deutlich vor Augen führt. In der Exposition moduliert der in C-Dur anhebende Seitensatz (T. 25ff.) in die Oberquinte G-Dur, in welcher auch 53 Joseph Kerman, »Beethoven’s Minority«, in  : ders., Write all These Down, Berkeley und Los Angeles 1994, S. 217–237, hier S. 225. Siehe außerdem Michael C. Tusa, »Beethoven’s C-Minor Mood  : Some Thoughts on the Structural Implications of Key Choice«, in  : Beethoven Forum 2 (1993), S. 1–27. 54 Riley, The Viennese Minor-Key Symphony. Eine kritische Würdigung dieser Monographie bietet Markus Neuwirth in  : Eighteenth-Century Music 12/2 (2015), S. 241–244. 55 Vgl. Markus Neuwirth, Recomposed Recapitulations in the Sonata-Form Movements of Joseph Haydn and His Contemporaries, Diss. Univ. Leuven, 2013. 56 Klaviersonaten op. 2/3 c-Moll (1780)  ; op. 13/3 e-Moll (1784)  ; op. 15/1 g-Moll (1784)  ; op. 17/1 f-Moll (1785)  ; op. 20/3 d-Moll (1786)  ; op. 30/3 c-Moll (1789)  ; op. 35/3 g-Moll (1791)  ; op. 38/3 f-Moll (1793)  ; op. 51/3 dMoll (1807). Siehe außerdem die Symphonie g-Moll, Postolka I  :5 (Kopf- und Finalsatz) und das Klaviertrio g-Moll op. 12/3 (Kopfsatz).

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kadenziert wird (T. 36). Nach einer fast zweitaktigen Pause setzt harmonisch unvermittelt erneut das Ausgangsthema des Seitensatzes ein, allerdings in einer neuen tonalen Beleuchtung, in Es-Dur (T. 38ff.). Nachdem von Es-Dur zunächst nach c-Moll ausgewichen (T. 42) und darin halbschlüssig kadenziert wird (T. 45), erfolgt durch die Rückwendung zum Ausgangspunkt C-Dur die finale Aufhellung. Dieser Vorgang wird nun in der Reprise, ausgehend von A-Dur, auf dieser Transpositionsstufe wörtlich repliziert (T. 158ff.). Es liegt auf der Hand, dass sich der Klangeffekt der mediantischen Rückung sowie der nachfolgenden Eintrübung bzw. Aufhellung, den Koželuch in der Exposition eindrucksvoll inszeniert hat, nur mit Hilfe von Durakkorden herstellen lässt. Dies mag erklären, weshalb Koželuch in vorliegender Sonate von seiner sonstigen Praxis abweicht.57 Besondere Beachtung verdient neben Koželuch auch der den Großteil seines Lebens in London ansässige Kosmopolit Muzio Clementi. Lange Zeit wurde übersehen, dass Beethoven in seiner innovativen Behandlungsweise der Reprise in Mollsätzen keineswegs alleine war  ; vergleichbare Verfahren finden sich zeitgleich oder zeitlich vorausgehend schon im Klavierschaffen Clementis. Auffällig ist bei Clementi der vergleichsweise hohe Anteil von Reprisen abseits der Grundtonart, worunter sich auch einige Mollwerke wiederfinden. Paul Wingfields Auffassung, Clementi würde in seiner Klaviermusik eine von der I. zur III. Stufe modulierende Exposition in der Regel mit einer Reprise abseits der Grundtonart beantworten, dürfte jedoch übertrieben sein, denn sie übersieht den generell gestiegenen Anteil von Mollwerken im Klavierschaffen Clementis.58 Insgesamt finden sich bei Clementi sieben Sonaten in Molltonarten, d. h. 14 Mollsätze in Sonatenform. Lediglich vier davon haben eine Reprise abseits der Grundtonart. Die restlichen 15 Sonatensätze, die eine Reprise abseits der Grundtonart aufweisen, stehen in Durtonarten.59

57 Man mag hierin eine Vorwegnahme eines typisch Schubertschen Verfahrens erkennen. Schubert hat Ko­že­ luchs Musik vermutlich gekannt und geschätzt (vgl. Roger Hickman, »Leopold Kozeluch and the Vien­nese ›Quatuor Concertant‹«, in  : College Music Symposium 26 (1986), S. 42–52, hier S. 51). 58 Wingfield, »Beyond ›Norms and Deformations‹«, S. 145  : »[…] Beethoven actually shares his predilection for i–v expositions with Clementi, who wrote a larger proportion of minor movements relative to his total sonata output than Haydn, Mozart or Beethoven, and who frequently composed three-key expositions, as well as non-tonic and non-resolving recapitulations. In fact, in Clementi’s solo keyboard music, his most common response to a i–III exposition is a non-tonic recapitulation.« 59 In der Tonart der IV. Stufe  : Klaviersonaten op. 1/2/i (1771)  ; op. 10/2/ii (1783)  ; op. 10/3/i (1783)  ; op. 13/4/i (1784)  ; op. 13/5/iii (1807)  ; op. 14/1/i (1784)  ; op. 25/3/i (1790)  ; op. 34/2/i (1795) [Moll]  ; Klaviertrio op. 21/3/i (1785)  ; Symphonie op. 18/1/i (1787). In der Tonart der ♭VII. Stufe  : Klaviersonaten op. 10/2/i (1783)  ; op. 13/5/i (1784)  ; op. 16/i (1786)  ; Symphonie op. 18/2/i (1787)  ; in der Tonart der ♭III. Stufe  : Klaviersonate op. 10/1/i (1783)  ; in der Tonart der v. Stufe  : Klaviersonate op. 13/6/i (1785) [Moll]  ; in der Tonart der VI. bzw. vi. Stufe  : Klaviersonaten op. 24/3/i (1790)  ; op. 26/2/i (1788–90) [Moll]  ; in der Tonart der ♯i. Stufe  : Klaviersonate op. 7/3/iii [Moll].

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4. Variationen über die Quinttransposition (Clementi und andere)

Allgemein gesprochen sind im 19. Jahrhundert größere Freiheiten mit Blick auf die Wahl der Tonarten zu beobachten, in denen der Seitensatz exponiert und rekapituliert werden konnte. Bereits um 1800 war es selbst in Dursätzen nicht mehr zwingend, den Seitensatz in der Tonart der V. Stufe einzuführen. Stattdessen wurde zunehmend die aus dem MollKontext entlehnte Formstrategie gängig, den Seitensatz in der Tonart der III. Stufe wiederzugeben. In der Reprise bürgerte sich mehr und mehr der Rückgriff auf das Prinzip der Achsenspiegelung ein  : Der Seitensatz wird eine Quinte tiefer rekapituliert und erscheint somit nicht in der Grundtonart, sondern gleichsam an der Tonika als Achsenton gespiegelt. Ein bekanntes Beispiel für das beschriebene Phänomen findet sich im Kopfsatz von Beethovens Sonate G-Dur op. 31/1, wo der Seitensatz in H-Dur erklingt und in E-Dur rekapituliert wird. Mit Blick auf den Moll-Kontext wird gerne auf Beethovens Egmont-Ouverture op. 84 (1809) verwiesen60 und damit die Vorgeschichte, die bereits bei Clementi beginnt, übersehen.61 Im Kopfsatz von Clementis Sonate h-Moll op. 40/2 (1802) wird die tonale Anlage der Dreitonarten-Exposition h–D–fis (i–III–v) in der Reprise mit der Tonartenfolge h–G–h (i– VI–i) beantwortet.62 Durch die konsequente, gleichsam reflexartige Quinttransposition beider Nebentonarten, scheinbar ohne Rücksicht auf die in der Exposition vorgefundene tonale Konstellation, wird die Anzahl der Tonarten der Exposition in der Reprise lediglich auf zwei reduziert und damit die tonale Einheit der Reprise zwischenzeitlich in Frage gestellt. Hauptsatz

Seitensatz

Exposition

i

III (– v oder – iii)

Reprise

i

VI – i

Tabelle 4: Das »Clementi’sche« Verfahren

Zudem scheint diese Maßnahme in eklatantem Widerspruch zum »Sonata Principle« zu stehen, das bekanntlich einfordert, den Seitensatz in der Grundtonart zu rekapitulieren, um so die Auflösung einer großräumigen tonalen Spannung zu gewährleisten.63 An der 60 Vgl. James Hepokoski, »Back and Forth from Egmont  : Beethoven, Mozart, and the Nonresolving Recapitulation«, in  : 19th-Century Music 25 (2002), S. 127–153. Hepokoski zitiert Beethovens harmonische Disposition der Egmont-Ouvertüre (i–III || i–VI) als prominenten Fall einer »nonresolving recapitulation« und bezieht diese Beobachtung einleuchtend auf den programmatischen Gehalt des Werks. 61 Rohan H. Stewart-MacDonald, New Perspectives on the Keyboard Sonatas of Muzio Clementi, Bologna 2006. 62 Ganz ähnlich behandelt Clementi auch den Tonartenplan im Kopfsatz seiner wesentlich später entstandenen Sonate g-Moll op. 50/3 (1821)  : g–B–d (Exp.) || g–Es–g (Repr.). Vergleichbar auch der Finalsatz dieser Sonate. 63 Siehe dazu allerdings kritisch, James Hepokoski, »Beyond the Sonata Principle«, in  : Journal of the American Musicological Society 55 (2002), S. 91–154.

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Frage, ob die Quinttransposition bereits hinreicht, um die erforderliche Spannungsauflösung herbeizuführen, scheiden sich die Geister. James Webster etwa beruft sich auf das Konzept des »tonal grounding« und argumentiert  : »Transposition down a fifth indeed creates a powerful analogy to the V→I relation of the sonata principle, particularly since such a recapitulation usually ends in the tonic, such that the transposed passages become more closely related to that key phenomenologically as well.«64 James Hepokoski hält dem entgegen, dass trotz der zweifelsohne vorhandenen Analogie zwischen V→I und III→VI dennoch ein Verfehlen der Zieltonart bewusst einkalkuliert scheint und gerade dies zu hermeneutischen Deutungsversuchen einlädt  – eine Auffassung, die sich auch dieser Beitrag zu eigen macht.65 In der Anwendung dieses Verfahrens nahm Clementi eine im 19. Jahrhundert verbreitete Behandlungsweise vorweg. Doch hatte er diese Reprisen-Strategie bereits in einigen weiteren, chronologisch früheren Fällen praktiziert, so etwa im Kopfsatz seiner Klaviersonate g-Moll op. 34/2 (1795). Die in der Exposition verwirklichte Tonartenfolge g–B–b (i–III–iii) wird in der Reprise mit c–Es–g (iv–VI–i) beantwortet. Im Unterschied zur Sonate h-Moll lässt Clementi hier die Reprise in der Tonart der iv. Stufe beginnen66 – eine Entscheidung, die er an späterer Stelle durch ein erneutes Eintreten des Hauptthemas, dieses Mal in der Grundtonart, gleichsam korrigiert. Die Wahl der Tonart der iv. Stufe ist allerdings alles andere als zufällig, ist dies doch eine für Durchführungen von MollSonatensätzen zentrale Tonart, die die III. und V.  Stufe als Durchgang verbindet. Die Reprise in c-Moll wird in gewisser Weise vorweggenommen durch die hinsichtlich Charakter und Tempo (Largo lento) hervorgehobene Passage in C-Dur (T. 127ff.).67 In der Folge kommt es zu zwei sich ergänzenden thematischen Durchläufen (oder »Rotationen« im Sinne von Hepokoski und Darcy).68 Der erste thematische Durchlauf, der in Takt 143 einsetzt, fällt nach nur drei Takten in einen durchführungsartigen Duk64 James Webster, »Comments on James Hepokoski’s Essay ›Sonata Theory and Dialogic Form‹«, in  : Musical Form, Forms, and Formenlehre. Three Methodological Reflections, hrsg. von Pieter Bergé, Leuven 2009, S. 96–100, hier S. 97  ; siehe auch Hepokoskis oben (Anm. 60) erwähnten Kommentar zur Egmont-Ouvertüre. 65 Hepokoski, »Response to the Comments«, in  : Bergé (Hrsg.), Musical Form, Forms, and Formenlehre, S. 101– 110, hier S. 108f. 66 Vgl. Beethovens Coriolan-Ouvertüre op. 62 und die Analyse bei Suurpää, »The Undivided Ursatz and the Omission of the Tonic Stufe at the Beginning of the Recapitulation«, in  : Journal of Schenkerian Studies 1 (2005), S. 66–91, hier S. 67–70. 67 Spätestens mit T. 113 erfolgt die Bezugnahme auf die langsame Einleitung, die aufgrund des Tempo- und Taktartwechsels (ab T. 126) noch deutlicher wird. In der Folge nimmt die Durchführung Eigenschaften eines ihr wesensfremden langsamen Satzes an, der so tut, als würde er sich am Ende eines Formteils (Exposition oder Reprise) befinden  : Mittels einer virtuosen, ausgedehnten Bravourkadenz (mit sogenanntem unisonem Dominantsemitonium am Ende von T. 133) wird eine emphatische Bekräftigung von C-Dur anvisiert. Doch bleibt der Kadenzvorgang auf der Dominante hängen (ab T. 134), die (nach Moll eingetrübt) bis zum Einsatz des ersten thematischen Durchlaufs festgehalten wird. 68 Das hier verwendete Verfahren einer doppelten Reprise mit zwei komplementär zueinander stehenden Teil-

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tus zurück und greift sogar eine Passage aus der Durchführung (T. 97 ff.)69 wieder auf, die nach Es-Dur überleitet. Die zweite Hälfte der Expositionsüberleitung (T. 30ff. ≈ 154 ff.) erklingt nun quinttransponiert und bereitet dementsprechend den lyrisch-entspannten Seitensatz in Es-Dur vor (T. 37ff. ≈ 161ff.). Ein erster Versuch, einen kadenzierenden Abschluss herbeizuführen, wird durch einen melodischen Trugschluss in Takt  179 unterlaufen  ;70 ein erneuter Anlauf verliert sich – wie schon in der Exposition (vgl. T. 52ff.) – in sequenzierenden Rückungen einer Arpeggiofigur und landet schließlich (rückblickend bereits in T. 185) auf der V. Stufe der Grundtonart. Es folgt erneut das Hauptthema, diesmal in der Grundtonart (T. 195–206). Bislang ausgesparte Taktgruppen, wie die Takte 63ff. (b-Moll), werden nun nachgereicht und sogar in Gänze wiederholt, doch anders als das lyrische Seitenthema nicht mehr quinttransponiert (also in es-Moll), sondern eine Terz tiefer in g-Moll. Abgesehen von einem kurzen, dynamisch markierten Aufscheinen von Es (allerdings zwischendominantisch auf As bezogen) in den Takten 241–243 und einer sequenzierenden Wiederholung eine Tonstufe höher, wird g-Moll nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt  ; das Geschehen steht nun spürbar im Zeichen des Schließens (siehe die Kadenzen in T. 218, 236, 256, 274). Damit wird deutlich, dass die beiden Teilrotationen sich zwar in thematischer Hinsicht ergänzen, in tonaler Hinsicht aber nur die zweite Rotation die reprisentypische Grundierung zu leisten vermag. Bevor Clementi aber zu dieser Variante der Quinttransposition gelangte, experimentierte er mit alternativen Möglichkeiten, so im Kopfsatz seiner Sonate g-Moll op.  7/3 (1783). Darin lässt er in der zweiten Satzhälfte zunächst bereits das Hauptthema in der Tonart der VI.  Stufe (Es-Dur, T. 102) eintreten, die die nachfolgende quinttransponierte Wiedergabe des Seitensatzes in eben dieser Tonart vorwegnimmt. Allerdings ist das Hauptthema rhythmisch derart stark augmentiert, dass es als Reprisen-Beginn kaum erkennbar sein dürfte. Der großformale Akzent liegt denn auch auf dem kurze Zeit später ebenfalls in Es-Dur einsetzenden (mit dem Hauptthema motivisch verknüpften) Seitensatz (T. 142ff.), dem eine emphatische rückleitungsartige Dominantvorbereitung vorausgeht. Erst im Zuge der Wiederholung des Seitenthemas (im engeren Sinne) wird der tonale Verlauf nach g-Moll umgebogen (T. 157ff.), um einer abermaligen Darbietung des Hauptthemas den Weg zu ebnen. Dieses tritt, gleichsam eine tonale Korrektur rotationen erinnert stark an dasjenige, das auch Haydn bereits zu Beginn der 1770er Jahre im Finalsatz seiner Sonate c-Moll Hob. XVI  :20 benutzte. 69 Diese Passage wendet sich zur Grundtonart und bereitet sogar eine Kadenz in dieser Tonart vor. Der neapolitanische Sextakkord (T. 103/104) wird allerdings in einen verminderten Akkord umgebogen und so das Geschehen nach a-Moll gelenkt. 70 Zum Begriff des melodischen Trugschlusses siehe Markus Neuwirth, »›Fuggir la cadenza‹, or the Art of Avoi­ ding Cadential Closure  : Physiognomy and Functions of Deceptive Cadences in the Classical Repertoire«, in  : What is a Cadence  ? Theoretical and Analytical Perspectives on Cadences in the Classical Repertoire, hrsg. von Markus Neuwirth und Pieter Bergé, Leuven 2015, S. 117–156.

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vornehmend, im Sinne einer Spiegelreprise auch ein (T. 169 ff.), allerdings mit einem Nachsatz, der trotz identischer Wiedergabe der Oberstimme, dominantisch, nicht tonikal, grundiert ist (T. 177 ff.). Trotz mehrfachen Kadenzierens endet der Satz offen auf einem Tonikaklang in Quintlage. Dies macht den Kopfsatz als Teil eines übergeordneten Zyklus kenntlich, der erst mit dem Finalsatz im emphatischen Sinne abgeschlossen wird – ein Finalsatz mit einer Reprise in gis-Moll (statt g-Moll) und einer Rekapitulation des ursprünglich in Dur vorgetragenen Seitensatzes in der terztransponierten Molltonart (g-Moll). Damit stellt Clementi beide möglichen Verfahren im Kontext eines Werkzyklus demonstrativ gegenüber, allerdings in einer semantisch aufschlussreichen Reihenfolge  : Nachdem die Quinttransposition des Kopfsatzes das Dur hoffnungsvoll aufrechterhalten hat, sinkt das Finale resignativ in durchgehendes Moll zurück. Verlassen wir für einen Augenblick Clementis Schaffen und betrachten den Kopfsatz aus Anton Eberls Klaviersonate c-Moll op. 1 (1792  ; revidiert 1794  ?), der von einer ganz ähnlichen Technik Gebrauch macht wie Clementi in seinem op.  7/3. Nach einer langsamen Einleitung (T. 1–22) und einem halbschlüssig endenden (als »Satz« gebauten) Hauptthema (T. 23–38) setzt unvermittelt die Tonart der III. Stufe ein, die bis zum Ende der Exposition, also ganze 106 Takte, beibehalten wird (siehe die obige Bemerkung zum proportionalen Übergewicht der Medianttonart in der Exposition). Die Exposition folgt einem klaren Aufbau. Verwirrend ist dagegen auf den ersten Blick die formale Gliederung des zweiten Teils (T. 123–235). So erfolgt bereits in Takt 141 der Rückgriff auf die Expositionstonart Es-Dur, in Verbindung mit thematischem Material der Exposition (T. 141 ≈ 39  ; T. 142–143 ≈ 49–50)  ; von Es-Dur aus wird der Gang nach c-Moll eingeschlagen, das halbschlüssig bekräftigt wird (T. 149). Die halbschlüssige Dominante wird rückleitungsartig verlängert, so dass sich unweigerlich die Erwartung eines ReprisenEintritts einstellt. Doch anstelle von c-Moll erfolgt die Hinwendung nach C-Dur und anstelle des Hauptthemas lässt Eberl den lyrischen Seitensatz eintreten (T. 153ff. ≈ T. 56). Erst mit T.  168 wird der modale Wechsel vollzogen und das Geschehen verbleibt bis zum Satzende in c-Moll. Dass das Hauptthema auch im späteren Satzverlauf nicht mehr zum Zuge kommt und somit gänzlich ausgespart wird, fällt jedoch kaum ins Gewicht, da das Kopfmotiv (charakterisiert durch den ansteigenden Terzzug vom ersten zum dritten Skalenton mit Triller auf der 2. Stufe) in der zweiten Expositionshälfte in verschiedenen Ausprägungen ausgesprochen präsent war – ein Umstand, den sich auch die Reprise zu Nutze macht. Doch zurück zu Clementi. Auch in seiner ebenfalls in g-Moll komponierten Klaviersonate op. 8/1 bringt er den Seitensatz in der zweiten Satzhälfte in einer Durtonart – jedoch mit zwei wesentlichen Unterschieden  : Der Seitensatz erklingt nicht eine Quinte nach unten, sondern aufwärts transponiert. Ob sich auch hier mit Webster von »tonal grounding« sprechen lässt, erscheint durchaus zweifelhaft. Darüber hinaus geht dem Seitensatz hier nicht, wie in op. 7/3, eine Variante des Hauptthemas oder gar das Hauptthema in seiner ursprünglichen Gestalt voraus. Da aber auch nach der denkbar späten Wiederkehr 208

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des Hauptthemas auf eine weitere Darbietung des Seitensatzes verzichtet wird, ist die Auffassung, es sei bereits vor dem Hauptthema in gewisser Weise »rekapituliert« worden, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. (Ansonsten wäre man gezwungen, auch dem eine Quinte höher transponierten Seitenthema im Kopfsatz von Schuberts Unvollendeter die Reprisen-Funktion abzusprechen.) Kennzeichnend für die bislang besprochenen Fälle ist, dass der Seitensatz, ganz gleich, ob er nun in einer Moll- oder Durtonart erklungen ist, als Gesamtblock mehr oder weniger intakt wiedergegeben wurde. Diese weit verbreitete Konvention unterläuft Clementi auf wirkungsvolle Art und Weise bereits 1785 im Kopfsatz seiner Sonate f-Moll op. 13/6.71 Eine entscheidende Besonderheit dieses Satzes liegt in der Reprisen-Behandlung, die sich nicht nur dadurch auszeichnet, dass die Reprise abseits der Grundtonart, genauer  : in der Tonart der v. Stufe (T. 69), einsetzt, sondern darüber hinaus den Seitensatz substanziell revidiert.72 Nach nur vier Takten (T. 73) verlässt Clementi den Parallelismus zur Exposition, um die Rückmodulation in die Grundtonart einzuleiten. Diese bewerkstelligt Clementi schlicht dadurch, dass er die Tonika der Tonart der v. Stufe in einen Dominantseptakkord der Grundtonart verwandelt (T. 73f.). Doch erst mit dem halbschlüssigen Erreichen der V. Stufe der Grundtonart (T. 79) und der nachfolgenden Ausbreitung (bis T. 82) wird eine eindeutige Korrespondenz zum Ende der Expositionsüberleitung hergestellt (T. 79–82 ≈ 16–19). Dadurch wird die Erwartung kreiert, nun werde der hauptthemenbasierte Seitensatz eintreten, der in der Exposition in der Tonart der III. Stufe erklungen war (≈ T. 20ff.). Doch genau in Clementis Umgang mit dem Seitensatz liegt eine weitere Besonderheit, denn die Reprise tut zunächst so, als würde der Seitensatz nicht transponiert, sondern erneut in der Tonart der III. Stufe (As-Dur) erklingen, was denkbar überraschend kommt, denn die Reprisen-Überleitung bereitete dominantisch den Eintritt der Grundtonart vor (siehe Notenbeispiel 1). Doch schon im zweiten Takt (T. 85) wird der Seitensatz rekomponiert, so als habe der Komponist seinen Fauxpas bemerkt. Clementi spielt hier auf mehreren Ebenen mit Hörerwartungen. Zum einen bereitet er den retransponierten Seitensatz ordnungsgemäß vor (nur das Tongeschlecht steht frei zur Disposition). Dann weicht er durch As-Dur davon ab, nur um gleich im Folgetakt wiederum anders fortzufahren  : Der Seitensatz scheint nun die sequenzierende Aktivität der Durchfüh71 Siehe außerdem Janet Schmalfeldts Analyse dieses Satzes in Schmalfeldt, In the Process of Becoming  : Analytical and Philosophical Perspectives on Form in Early Nineteenth-Century Music, New York 2011, S. 73–80. 72 Jiří Antonín Bendas wohl in den 1750er Jahren komponierte Sonate c-Moll (L.629q  ; Kopfsatz, T. 51) stellt ein frühes Beispiel für eine Reprise in der Tonart der v. Stufe dar. Ob Clementi dieses Stück kannte, mag ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob Schubert mit seiner gleichartigen Reprisen-Strategie im Kopfsatz seiner 4. Symphonie D 417 an Clementi anknüpfte. Für eine Analyse des von Schubert gewählten Verfahrens siehe Hans-Joachim Hinrichsen, Untersuchungen zur Entwicklung der Sonatenform in der Instrumentalmusik Franz Schuberts, Tutzing 1994, S. 164–166.

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rung fortzusetzen, was normalerweise – wenn überhaupt – in der Überleitung geschieht. (Jedoch lag im vorliegenden Fall das Hauptaugenmerk der aus dem Hauptthema bruchlos entwickelten Überleitung auf der modulatorischen Korrektur der »falsch« gewählten Reprisen-Tonart.) In Folge dessen wird die endgültige Rückkehr in die Grundtonart in der zweiten Satzhälfte derart lange hinausgezögert, dass sie letztlich mit der strukturell schließenden Kadenz in T. 101 zusammenfällt und in der Folge mit Hilfe der retransponierten Schlussgruppe prolongiert wird.73

Notenbeispiel 1: Clementi, Klaviersonate f-Moll op. 13/6, Kopfsatz, T. 82–96

73 Vgl. Stewart-MacDonald, New Perspectives on the Keyboard Sonatas of Muzio Clementi, S. 125.

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Fassen wir zusammen  : Die Vielfalt kompositorischer Lösungen im Umgang mit dem Problem der Seitensatzbehandlung in Mollwerken ist bei Clementi so ausgeprägt wie bei kaum einem anderen Komponisten. Doch unabhängig von der konkret in Anspruch genommenen Formstrategie übernimmt das Dur bei Clementi, ebenso wie beim mittleren Beethoven, die Funktion eines retardierenden Moments, das den Abschluss in Moll nicht, wie beim späten Haydn, gänzlich suspendiert, sondern lediglich hinauszögert. Das Mittel des Hinauszögerns, im allgemeinen Sinne verstanden, hat dabei nicht nur eine strukturelle Funktion, sondern, wie bereits Schenker deutlich erkannte, auch eine dezidiert semantische Qualität  : »Auf dem Wege zum Ziel gibt es in der Kunst der Musik wie im Leben Hindernisse, Rückschläge, Enttäuschung, weite Wege, Umwege, Dehnungen, Einschaltungen, kurz Aufhaltungen aller Art. Darin liegt der Keim all der künstlichen Aufhaltungen, mit denen ein glücklicher Erfinder immer neuen Inhalt ins Rollen bringen kann. In diesem Sinne hören wir im Mittel- und Vordergrund fast einen dramatischen Verlauf.«74

5. Strategien der Semantisierung von Musik

Wer sich mit Sonatenformen in Moll auseinandersetzt, tut dies in der Regel nicht nur auf musikstruktureller Ebene. Vielmehr lädt die sparsame und darum umso bewusster wirkende Wahl der Molltonart sowie der jeweiligen Expositions- und Reprisen-Strategien den Analytiker dazu ein, Bedeutungszuschreibungen vorzunehmen. So naheliegend diese weit verbreitete Praxis auch sein mag, wirft sie doch grundlegende methodische Fragen auf  : Gibt es überhaupt eine der Struktur eingeschriebene Semantik  ? Durch welche Weisen der Bezugnahme auf Außermusikalisches kommt musikalische Semantik zustande  ? Inwieweit beruht diese Bezugnahme auf einer häufigkeitsstatistisch gestützten Norm  ? Und schließlich  : Auf welche historische Quellen können sich Semantisierungsversuche stützen, um plausibel zu machen, dass bestimmte Bedeutungen vom Komponisten tatsächlich intendiert gewesen sind und nicht lediglich von der Nachwelt potenziell missverstehend imaginiert werden  ? Dass es überhaupt so etwas wie musikalische Semantik gibt, wird in der allgemeinen Debatte nicht selten in Frage gestellt. In der Linguistik unterscheidet man bekanntlich zwischen Wort- und Satzsemantik. Mit Bezug auf die Wortsemantik dürfte unstrittig sein, dass es Musik an distinkten lexikalischen Einheiten mit vergleichsweise stabiler Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem mangelt.75 Mit Bezug auf Satzsemantik gehört es zu den auf Gottlob Frege zurückgehenden sprachphi74 Heinrich Schenker, Der freie Satz (= Neue musikalische Theorien und Phantasien 3), Wien 1935, S. 29. 75 Dies schließt nicht aus, dass Musik auf Außermusikalisches (konkrete Vorgänge der Außenwelt, aber auch auf abstrakte Konzepte) Bezug nehmen kann.

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losophischen Kerneinsichten, dass die Semantik eines Satzes verstehen heißt, die Bedingungen zu kennen, unter denen er wahr bzw. falsch ist. Es ist höchst umstritten, ob Musik die Kriterien einer derart definierten wahrheitskonditionalen propositionalen Semantik erfüllt.76 Erst ein kürzlich vorgelegter Theorieentwurf des Linguisten ­Philippe Schlenker hat die Möglichkeit eines auf Wahrheitswerten beruhenden semantischen Ansatzes aufgezeigt, der allerdings auf abstrakte (virtuelle) Kausalquellen musikalischer Ereignisse rekurriert und damit ein abweichendes Verständnis von Semantik zu Grunde legt.77 Schließlich mögen auch Phänomene der Regelverletzung bzw. Normabweichung zwar Bedeutung erzeugen, doch ist diese nicht als semantisch im strengen linguistischen Sinne zu werten als vielmehr p r a g m a t i s c h   : Regelverletzungen induzieren Schlussfolgerungsprozesse von Seiten der Hörer in Bezug auf Sprecherintentionen.78 Eine häufig anzutreffende Lösung des Semantikproblems liegt darin, die emotionale (oder genauer  : affektive) Komponente als den Inhalt von Musik auszumachen.79 Diesen Aspekt behandelt bereits Eduard Hanslick in seiner dezidiert kritischen Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen  : Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Hanslick erhob darin zwar nicht den Anspruch, eine vollständige Theorie musikalischer Semantik zu entfalten, hat aber dennoch wertvolle Bausteine geliefert, die sich zu einer solchen Theorie weiterentwickeln lassen. Bekanntlich hat Hanslick in Ablehnung dessen, was er die »verrottete Gefühlsästhetik« nannte, »tönend bewegte Formen« als einzigen ästhetisch legitimen »Inhalt und Gegenstand der Musik« ausgemacht.80 »Tönend bewegte Formen« – eine nur scheinbar paradoxe Formel81 – seien allerdings lediglich in der Lage, die Intensität von Emotionen zu regulieren, nicht aber den für Emotionen konstitutiven Objektbezug herzustellen. Dazu sei in sprachgebundener Musik einzig die Verbalsprache in der Lage, weswegen der Musik in Glucks Arie Che farò senza Euridice aus Orfeo ed Euridice, in einem anderen Kontext verwendet, unter Umständen auch eine diametral entgegengesetzte affektive Bedeutung zugeschrieben werden kann.82 Nur der Text garantiere die Zuschreibung von Emotionen wie Trauer und Verzweiflung. Dies veranlasst 76 Vgl. Fred Lerdahl und Ray Jackendoff, A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge, MA 1983, S. 5  : »[…] whatever music may ›mean,‹ it is in no sense comparable to linguistic meaning  ; there are no musical phenomena comparable to sense and reference in language, or to such semantic judgments as synonymy, analyticity, and entailment.« Eine anregende Diskussion der semantischen Unterschiede zwischen Musik und Sprache bietet Georg Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, Leipzig 21982, S. 131–142. 77 Philippe Schlenker, »Outline of Music Semantics«, in  : Music Perception 35/1 (2017), S. 3–37. 78 Siehe z. B. Justin London, »Musical and Linguistic Speech Acts«, in  : The Journal of Aesthetics and Art Criticism 54/1 (1996), S. 49–64. 79 Siehe z. B. Ray Jackendoff und Fred Lerdahl, »The Capacity for Music  : What is it, and What’s special about it  ?«, in  : Cognition 100/1 (2006), hier S. 33–72, S. 60–68. 80 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854, S. 32. 81 Vgl. Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967, S. 79–86. 82 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 8. Auflage, Leipzig 1891, S. 46f.

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Hanslick dazu, die traditionelle, exemplarisch von Schubart vertretene Auffassung, Gefühle seien der Inhalt von Musik, in Frage zu stellen. Mit »Formen« meinte Hanslick bekanntlich nicht das, was im Kontext der Formenlehre darunter verstanden wurde, sondern vielmehr allgemeiner »[d]ie sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenziehen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben – dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt.«83 Um den so definierten nichtbegrifflichen Inhalt von Musik erfassen zu können, ist es Hanslick zufolge unvermeidlich, auf Metaphern und Analogien zurückzugreifen, denn »[w]as bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der Tonkunst schon Metapher.«84 Damit unterstreicht Hanslick nicht nur, dass die Bedeutung von Musik im Bereich des künstlerischen Mediums selbst zu verorten ist, sondern macht auch deutlich, dass die Bedeutungsgenerierung in der Musik primär auf Analogiebildung beruht. Doch über welche Weisen der Bezugnahme musikalischer Gestalten erfolgt die Bedeutungsgenerierung  ? Zu dieser Frage vermag uns Hanslick keine tragfähigen Hinweise mehr zu geben. Wenden wir uns daher an einen analytischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Nelson Goodman. Goodman hat in seiner Abhandlung Languages of Art eine allgemeine Ästhetik formuliert, die sich, wie Christian Thorau jüngst aufgezeigt hat, auch gewinnbringend auf Musik übertragen lässt.85 Nach Goodman sind zwei Arten der Bezugnahme (»reference«) zu unterscheiden  : Denotation und Exemplifizierung. Denotierende Zeichen verweisen auf etwas anderes kraft kultureller Konvention  ; sie besitzen nicht die Eigenschaften (Aussehen, Klang, Haptik etc.) dessen, worauf sie Bezug nehmen.86 Anders verhält sich dies bei der Exemplifizierung – einem Modus der Symbolisierung, der lange Zeit übersehen wurde  : Zeichen, die Eigenschaften exemplifizieren, besitzen selbst diese Eigenschaften  ; sie sind ikonisch. Welche der zahlreichen Eigenschaften bei einer »Probe« (»sample«) aktiviert werden, hängt entscheidend vom Kontext ab, davon also, welches Symbolisierungssystem jeweils dominiert.87 Die Selektivität der Exemplifizierung von Eigenschaften mag folgendes Beispiel verdeutlichen  : Ein fotographisches Abbild einer Person wird als Repräsentation eben dieser Person verstanden, obwohl es kaum Ähnlichkeiten mit der realen Person aufweist (diese ähnelt in diesem Aspekt im Grunde jeder beliebigen anderen Person, so wie das Foto jedem anderen Foto ähnelt).

83 Ders., Vom Musikalisch-Schönen (1. Aufl.), S. 58. 84 Ebd., S. 62. 85 Nelson Goodman, Languages of Art  : An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 1968  ; Christian Thorau, »Interagierende Systeme – Überlegungen zu einem zeichentheoretischen Rahmen musikalischer Analyse«, in  : Systeme der Musiktheorie, hrsg. von Clemens Kühn und John Leigh, Dresden 2009, S. 70–84. 86 Goodman, Languages of Art, S. 3–6. 87 Ebd., S. 52–67.

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Anders als Sprache ist Musik vom ästhetischen Anspruch her primär eine nicht-denotative Kunstform88 und leistet Bedeutungsgenerierung vornehmlich über eine exemplifizierende Bezugnahme. In einem Variationssatz etwa nehmen die einzelnen Variationen auf das Ausgangsthema (sowie aufeinander) Bezug und aktualisieren je unterschiedliche Eigenschaften. Die Reprise in einem Sonatensatz lässt sich als Probe der Exposition verstehen.89 Dies zeigt, wie es der Musik gelingt, »auf rein musikalischem Weg«90 und kraft der menschlichen Fähigkeit zur Analogiebildung Bedeutung zu erzeugen. Durch die verschiedenen musikstrukturellen Eigenschaften wird ein semantischer Raum eröffnet, der erst in der Interaktion mit anderen Zeichensystemen (z. B. mit der Verbalsprache, etwa in Form von Titelbeigaben in Charakterstücken) weiter reduziert und damit spezifiziert werden kann.91 Das enorm breite Spektrum musikalischer Bedeutungen hat bereits Heinrich Schenker eindrucksvoll beschrieben  : »Die Musik kann als Abbild unserer Lebensbewegung bis zur Gegenständlichkeit vorschreiten, niemals allerdings so weit, daß sie sich als die Kunst aufzugeben brauchte, die sie im Besonderen ist. In diesem Sinne kann sie bildhaft, wie redend werden, mit Verbindungen, Anklängen, Brücken ihr Spiel treiben, bei der gleichen Tonfolge verschiedenen Sinn gegeneinander ausspielen, gleichnishaft Erwartung, Vorbereitung, Überraschung, Enttäuschung, Geduld, Ungeduld, Humor bieten. Weil diese Gleichnisse biologischer Art sind und durch wahrhaft organische Zeugung fortgehen, ist die Musik niemals mit Mathematik oder Architektur vergleichbar, am ehesten wieder nur mit der Sprache, einer Ton-Sprache im Besonderen.«92

Übertragen wir Schenkers Überlegungen nun auf unsere Fragestellung nach der Bedeutung des Dur-Moll-Kontrastes in der Sonatenform. Wie eingangs gezeigt, galt das Moll als unbefriedigend bzw. defizitär – Vogler assoziierte es mit Adjektiven wie »matt« und »kraftlos« –, und somit als etwas zu Überwindendes. Sieht man einmal von den bekannten Schwierigkeiten der akustischen Herleitung des Molldreiklangs ab, die nur mittelbar Moll als Tonsystem betreffen, so scheint diese Zuschreibung negativer Konnotationen 88 Vgl. Adorno, »Fragment über Musik und Sprache«, in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt/Main 1978, S. 251–256, hier S. 251. 89 Vgl. Thorau, »Interagierende Systeme«, S. 79–84. 90 Oswald Jonas, Das Wesen des musikalischen Kunstwerks  : Eine Einführung in die Lehre Heinrich Schenkers, Wien 1934, S. 124f.: »Wenn auch die Musik keine unmittelbare Assoziation zur Natur in sich birgt, so kann sie doch aus der inneren Logik, die sie in ihrer Entwicklung als Kunst erlangt hat, auch der Gestaltung eines Textes gerecht werden. Künstlerisch wirksam wird ein solches Gestalten nur dann sein […], wenn die gewünschte Wirkung nicht auf äußerlich malendem Weg, z. B. durch bloße Imitation der Bewegung oder gar geräuschähnliche Klangimpressionen zu erreichen versucht wird, sondern vielmehr auf rein musikalischem Weg.« 91 Joseph P.  Swain, »The Range of Musical Semantics«, in  : The Journal of Aesthetics and Art Criticism 54/2 (1996), S. 135–152. 92 Schenker, Der freie Satz, S. 30.

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nicht in der Sache selbst zu liegen  ; sie sind also im semiotischen Sinne »nicht-motiviert« (weder ikonisch noch indexikalisch). Vielmehr sind sie wohl ebenso konventionell reguliert und damit arbiträr93 wie die Auffassung, Dur symbolisiere demgegenüber einen anzustrebenden Normalzustand  ; es sei »kraftvoll«, »gesund« und »natürlich«.94 Eine zentrale Strategie der Semantisierung musikalischer Struktur liegt denn auch in der Konstruktion eines Konflikts zwischen den Tongeschlechtern begründet, die anthropomorphisierend als interaktionsfähige Akteure aufgefasst werden. Im Zuge der Rezep­tions­geschichte von Beethovens 5.  Symphonie etwa hatte eine derartige Gegenüberstellung der Tongeschlechter Konjunktur. E.T.A. Hoffmanns Rezension, ein zentrales Dokument musikalischer Hermeneutik, das in der Allgemeinen musikalischen Zeitung (Juli 1810) veröffentlicht wurde, assoziiert die Durwendung in der Reprise des Kopfsatzes mit »triumphaler Überwindung«  : »Der erste Theil wird nun mit geringen Abweichungen wiederholt  ; das Thema, welches dort in Es dur begann, tritt jetzt in C dur ein, und führt zum Schlusse in C dur jubelnd mit Pauken und Trompeten. Indessen, mit diesem Schlusse selbst wendet sich der Satz nach F moll. […] Der Satz bleibt jetzt in C moll und mit geringen Veränderungen wird das Thema, welches im ersten Theil Takt 71 anfing, von den Violinen erst allein, dann mit den Blas-Instrumenten wechselnd wiederholt.«95

Insofern sinkt der erste Satz nochmals »resignativ« ins Moll zurück. Umso wirksamer gerät dann der endgültige Durchbruch nach Dur, den der Finalsatz leistet.96 93 Für eine gegenteilige Auffassung, eine, die die emotionale Wirkung des Moll in der musikalischen Struktur zu verorten sucht, siehe Leonard B. Meyer, Emotion and Meaning in Music, Chicago 1956, S. 222–229. 94 Seinem Erstaunen darüber, dass ein winziges musikalisches Detail (der Unterschied zwischen großer und kleiner Terz) eine derart große Wirkung entfalten kann, hat bereits Schopenhauer Ausdruck verliehen  : »Wie erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz, statt der großen, uns sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von welchem uns das Dur wieder ebenso augenblicklich erlöst.« Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, S. 345. 95 Hoffmann, Rezension der 5. Symphonie (1810), Sp. 639f. Schon mit Blick auf den Es-Dur-Eintritt des Seitensatzes in der Exposition wurde synästhetisches Vokabular bemüht  : »Es sind Laute, womit sich die Brust, von Ahnungen des Ungeheuren gepresst und beängstet, gewaltsam Luft macht  ; und wie eine freundliche Gestalt, die glänzend, d i e t i e f e N a c h t e r l e u c h t e n d , d u r c h d i e Wo l k e n z i e h t , tritt nun ein Thema ein, das im 58. Takte des ersten Theils von dem Horn in Es dur nur berührt wurde. Erst in G dur, dann in C dur, tragen die Violinen alla 8va dieses Thema vor, während die Bässe eine abwärts steigende Figur ausführen, die gewissermassen an den im 44. Takte des ersten Theils vorgekommenen Tuttisatz erinnert« (ebd. [Hervorhebung vom Verfasser]). 96 Diesen Vorgang beschreibt Richard Wagner anschaulich unter Verwendung der Siegesmetapher  : »Wer fühlte sich von diesem Siege aber wohl unbefriedigter als Beethoven selbst  ? Gelüstete es ihn nach einem zweiten dieser Art  ? Wohl das gedankenlose Heer der Nachahmer, die aus gloriosem Dur-Jubel nach ausgestandenen Moll-Beschwerden sich unaufhörliche Siegesfeste bereiteten, – nicht aber den Meister selbst, der in seinen

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Ist nun zwar die kontrastive Zuschreibung von affektiv-semantischen Eigenschaften historisch kontingent und »nicht-motiviert«, so liegt die Art und Weise, wie Dur und Moll – verstanden als Tonartenbereiche, nicht als Akkorde – in kulturell tradierte narrative Muster wie Moll→Moll, Moll→Dur oder Moll→Dur→Moll eingebettet werden, in menschlicher Analogiebildung begründet. Die Möglichkeiten der spezifischen zeitlichen Disposition von Tongeschlechtern, deren semantische Zuschreibungen vorab arbiträr definiert wurden, exemplifizieren im Sinne Goodmans menschliche Gefühle wie »Hoffnung« und »Resignation«. Im Sinne der Semiotik von Charles Sanders Peirce läge hier eine ikonische Beziehung (oder »Analogcodierung« nach Knepler) auf tieferer Struktur­ ebene vor, die ein für die Semantik zentrales wahrheitskonditionales (auf die Außenwelt bezugnehmendes) Kriterium erfüllt.97 Das Dur nimmt dabei eine je verschiedene Funktion im tonal-dramaturgischen Gesamtkontext ein. Einmal ist es ein retardierendes Moment, das den Abschluss in Moll hinauszögert  ; ein andermal bildet das Dur den triumphalen Höhepunkt, der das Moll überwindet bzw. vergessen macht. Ohne die kontextuelle Einbettung in eines der genannten narrativen Modelle bleiben die Modi Dur und Moll mit Blick auf ihren Bedeutungsgehalt unspezifisch.98 Darüber hinaus gewinnen die musikgeschichtlich späteren narrativen Muster nur vor dem intertextuellen Hintergrund des oder der jeweils früheren als Negation an Bedeutung. James Hepokoskis Analyse des Kopfsatzes von Beethovens »Sturm«-Sonate verbindet – im Sinne der zu Grunde liegenden »Sonata Theory«, die Analyse mit Hermeneutik verknüpft – eine Formanalyse mit semantischer Zuschreibung. Anhand dieser Analyse lassen sich die Besonderheiten der Semantisierung im Falle von Sonatenformen in Moll besonders gut aufzeigen  : »This represents an exposition without hope, one so firmly caught in the grip of minor-mode negativity that it is incapable of attaining any kind of expositional major and hence incapable of predicting major-mode success in the recapitulation. All of the exposition’s minor-dominant modules (usually S and C) are fated in advance to be dragged down in the recapitulation into

Werken die Weltgeschichte der Musik zu schreiben berufen war« (Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1849, S. 89). 97 Siehe Stefan Koelsch, Brain and Music, Oxford 2012, S. 158f. Der Begriff der Analogcodierung findet sich in Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis, S. 76–81. Als Beispiele für Ikonizität an der musikalischen Oberfläche wären Kuckucksrufe, die Motorik von Gretchens Spinnrad in Schuberts gleichnamigem Lied oder die Figuren der »Musica Poetica« zu nennen. 98 Für kritische Anmerkungen zum Konzept der Narrativität in der Musik siehe Birgit Lodes, »Musik und Narrativität«, in  : Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. von Michele Calella und Nikolaus Urbanek, Stuttgart und Weimar 2013, S. 367–382. Lodes kritisiert, dass die Anwendung archetypischer Plots (wie »vom Dunkel zum Licht« oder »vom Leid zur Erlösung«) auf westliche Kunstmusik zu generalisierend ausfalle.

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the tonic minor, at that point a declaration of modal defeat. In the hands of such an overwhelming gravitational field one can only seek to struggle free, to resist, or to endure.«99

In dieser metaphorisch außerordentlich dichten Beschreibung wird nicht nur das gesamte Spektrum der im Dur-Moll-Kontrast beschlossenen semantischen Nuancierung deutlich, sondern artikuliert sich auch und gerade der Kern von Adornos eingangs zitierter (und zumindest für das hier besprochene Repertoire besonders zutreffender) Einsicht, das Wesen des Moll liege darin, »Abweichung zu sein.«

99 Hepokoski, »Approaching the First Movement of Beethoven’s Tempest Sonata through Sonata Theory«, in  : Beethoven’s Tempest Sonata  : Perspectives of Analysis and Performance, hrsg. von Pieter Bergé u. a., Leuven 2009, S. 181–212, hier S. 183. Siehe außerdem die erhellenden Ausführungen zu Beethovens op. 57 und der Bedeutung der Moll-Dur-Dramaturgie in Hinrichsen, Beethoven. Die Klaviersonaten, S. 258–265.

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Dur und Moll als Artikulationsmittel der Sonatenform um 1830 Carl Czerny fühlte sich in seiner 1849/50 erschienenen Schule der praktischen Tonsetzkunst verpflichtet, »vor dem M i s s b r a u c h und vor der falschen Richtung des Geschmacks« zu warnen,1 die er in der zu häufigen und leichtfertigen Verwendung von Molltonarten bei der Sonatenkomposition erblickte. Gerade weil die Molltonarten »einen weichen, melancholischen, düstern, schwermüthigen und tragischen Charakter« besäßen, glaubten die Komponisten »mehr sogenannte Tiefe, mehr Romantik und Interesse in solche Tonstücke legen zu können«. Schnell wird klar, dass Czerny diesem – auch harmonisch – effektvollen Mittel skeptisch gegenübersteht  : »[…] und überdies verleihen die dissonierenden Accorde und Harmonien, zu welchen man in den Molltonarten unwillkührlich geführt wird, den Tonstücken einen Anstrich von besonderer Gelehrsamkeit und tiefsinniger Arbeit. Aber der eigentliche und wahre Grund des Vorzugs, den die Anfänger diesen Molltönen geben, ist, (aufrichtig gestanden) der, – dass solche Compositionen w e i t l e i c h t e r zu erfinden sind.«2

Czernys ästhetische Kritik am fehlgeleiteten Geschmack enthüllt hier ihre ethische Seite  : Gelehrte kompositorische Durcharbeitung wird bloß oberflächlich vorgespiegelt (»Anstrich«), und in Molltonarten lässt es sich zu leicht komponieren. Diese verführerische Diskrepanz von Schein und Gehalt, von Aufwand und Wirkung ziehe gerade die »Anfänger« an  : »Daher werden die meisten ersten Versuche junger Tonsetzer in diesen [sc. Moll-]Tonarten und in dieser Stimmung componirt.« Zumindest der Befund, dass überdurchschnittlich viele Sonaten der Jahrhundertmitte in Molltonarten stehen, scheint uns heute im Rückblick plausibel. Unsere Sicht auf die Sonate nach Beethoven, die ja im weiteren Sinn durchaus mit dem von Czerny in Anschlag gebrachten Begriff als ›romantisch‹ bezeichnet werden kann, entpuppt sich jedoch 1 Carl Czerny, Schule der praktischen Tonsetzkunst oder vollständiges Lehrbuch der Composition aller Gattungen und Formen der bis jetzt üblichen Musikwerke […] 600.tes Werk in vier Theilen oder drei Bänden […] Bei N. Simrock in Bonn, [o. J.], Bd. 1, S. 44. Die Datierung folgt Peter Cahn, »Carl Czernys erste Beschreibung der Sonatenform (1832)«, in  : Musiktheorie 1 (1986), S. 277–279, hier  : S. 277. Das Vorwort der englischsprachigen Übersetzung ist mit »1848« datiert  : School of Practical Composition, or, Complete Treatise on the Composition of all kinds of Music […] op. 600, translated […] by John Bishop […], London, Messrs. Robert Cocks & Co. Das entsprechende Zitat dort Bd. 1, S. 52. 2 Ebd. (ebenso das folgende Zitat).

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als verzerrt. Einerseits wird die Prominenz von Molltonarten durch die Werke des historisch sanktionierten Kanons tendenziell überakzentuiert  : Dass die musikgeschichtlich folgenreichen Sonatenkomponisten der Jahrhundertmitte  – also Schumann, Chopin, Liszt und Brahms – vorwiegend oder gar ausschließlich Mollwerke geschrieben haben, lässt sich nicht a priori für das gesamte Sonatenkorpus der Zeit verallgemeinern. Und andererseits trifft Czernys Feststellung gerade für das erste Jahrzehnt nach Beethovens Tod nur eingeschränkt zu  : Die von Carl Friedrich Whistling und später Friedrich Hofmeister kompilierten Musikalienverzeichnisse3 zeigen von 1828 bis Mai 1836 unter 37 neuen Klaviersonaten nur sieben in Moll an,4 bevor dann ab Juni 1836 mit Robert Schumanns Sonate fis-Moll op. 11 eine Reihe von acht ausschließlichen Mollwerken beginnt, die sich bis zum November 1837 und Wilhelm Tauberts Sonate e-Moll op. 35 weiterzieht. Zwar liegt selbst der geringe Anteil der Mollwerke im Zeitraum vor Juni 1836 mit 19% noch über den statistischen Schätzungen  ;5 aber die Vorstellung einer Dominanz der Mollwerke wird vom quantitativen Befund gleichwohl korrigiert. Der gemittelte Wert verdeckt überdies, dass die Monatsberichte zwischen 1829 und der Anzeige von Ludwig Schunckes Sonate g-Moll op.  3 im Juli/August-Heft 1834 nur eine einzige Mollsonate verzeichnen. Anders zeigt sich das Bild dann in der Tat in den 1840er-Jahren, wo Mollsonaten als Erstlingswerke junger Komponisten häufig werden  : Herrmann Wichmann, J. N. Lange (1844), Julius Schulhoff (1845), Maurice Levi (1846), Louis Ehlert, E[mil  ?]. Naumann (1847) treten allesamt mit einer Mollsonate op. 1 hervor. Diese Beobachtung lässt nicht nur eine (stil)geschichtliche Binnendifferenzierung aufscheinen, sondern wirft möglicherweise auch etwas Licht auf die Frage, wann denn Czernys Kompositionslehre entstanden sei. Der erstmals von William S. Newman vertretenen Annahme, sie sei bereits Mitte der 1830er-Jahre, insbesondere noch vor dem Erscheinen von Adolf Bernhard Marxens Kompositionslehre verfasst worden,6 ließe sich jedenfalls entgegenhalten, dass sich Czernys Warnung weit plausibler auf die spätere Zeit beziehen lässt. 3 Die Neuerscheinungen ab 1828 lassen sich anhand des 1829 erschienenen Ergänzungsbandes zur 2. Ausgabe von Whistlings Handbuch der musikalischen Literatur, ab 1829 dann anhand der regelmäßig erscheinenden Monatsberichte chronologisch nachverfolgen  ; vgl. Rudolf Elvers und Cecil Hopkinson, »A Survey of the Music Catalogues of Whistling and Hofmeister«, in  : Fontes Artis Musicae 19 (1972), S. 1–7. 4 Gezählt wurden explizit so bezeichnete Sonaten, die unter der Rubrik »Musik für das Pianoforte allein« angezeigt sind, wobei Sonatinen bzw. »Sonates faciles«, zweihändige Arrangements und Stücke »en forme de Sonate« u. ä. von der Zählung ausgeschlossen sind. Werke, deren Ecksätze in unterschiedlichen Tonarten stehen, habe ich anhand ihrer Finalsätze den Dur- respektive Mollwerken zugerechnet. 5 Vgl. den Überblick bei Markus Neuwirth im vorliegenden Band (dort Anm. 1). 6 Vgl. William S. Newman, »The Recognition of Sonata Form by Theorists of the 18th and 19th Centuries«, in  : Papers of the American Musicological Society (1941), S. 21–29, wo Newman noch implizit blieb (»Whether or not Czerny knew of it [sc. Marx’ Kompositionslehre] in 1840 is a matter of conjecture«, S. 28) sowie The Sonata since Beethoven (= A History of the Sonata Idea 3), Chapel Hill 1969, S. 29, wo er die Entstehung von Czernys op. 600 mit »by or before 1837« datiert. Zur Datierungsdebatte sowie zu Czernys Rolle vgl. wiederum Cahn, »Czernys erste Beschreibung der Sonatenform«, sowie Stefan Rohringer, Artikel »Carl Czerny.

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Dur und Moll als Artikulationsmittel der Sonatenform um 1830

Der vorliegende Beitrag wählt mit Absicht ein Jahr aus der »Dürreperiode« der Mollsonate als Fallstudie aus, das Jahr 1830 nämlich. In dieses Jahr fällt einerseits die Anzeige der einzigen Mollsonate jener Zeit, andererseits erscheinen in diesem Jahr – nach Maßstäben der Zeit, die als »the sonata’s slump«7 ohnehin nicht eben reich an Sonaten ist  – vergleichsweise viele Klaviersonaten, sofern man nämlich auch wiederaufgelegte, mitunter ältere Werke mitzählt. Der Grund für die Häufung von Sonatenpublikationen liegt insbesondere im Auftreten zweier neuer Musikperiodika, deren schon in den jeweiligen Titeln (»Pianoforte-Bibliothek« respektive »Musikalischer Ehren-Tempel«) aufscheinender Bildungsanspruch die Aufnahme einiger Sonaten bewirkt hat.8 Das kleine Korpus der Fallstudie sei also so definiert, dass es alle Sonaten umfasst, die 1830 in den Whistling/Hofmeister’schen9 Monatsberichten angezeigt werden oder in den genannten Musikperiodika erscheinen  – unabhängig davon, ob es sich um neu komponierte oder wiederaufgelegte Werke handelt. Damit soll einerseits die eingangs angesprochene diachrone »Verzerrung« der Perspektive mithilfe einer einfachen synchro­ nen Auswahlregel vermieden werden, andererseits sollen so ältere – für die Rezeption und Komposition mutmaßlich weiterhin relevante  – Sonaten in die Untersuchung eingeschlos­sen werden, ohne das Korpus ausufern zu lassen (bzw. willkürlich begrenzen zu müssen). Die Untersuchung beschränkt sich auf die Kopfsätze – nicht, um unbedacht im ausgefahrenen Karrengeleise des musikwissenschaftlichen Diskurses weiterzufahren, sondern weil Kopfsätze den ästhetischen Ort darstellen, an dem eine spezifische Art musikalischer ›Form‹ und eine damit rechnende Rezeptionshaltung plausiblerweise am besten zu beobachten sind.

School of Practical Composition«, in  : Lexikon Schriften über Musik, Bd. 1  : Musiktheorie von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Ullrich Scheideler und Felix Wörner, Kassel 2017, S. 105–108. 7 So Newman, The Sonata since Beethoven, S. 52, 85 u. ö. 8 Der Musikalische Ehren-Tempel erschien in den Hamburger Verlagen von Johann August Böhme und August Cranz in zwei Jahrgängen ab 1830, die Bibliothek für Pianoforte-Spieler (auch kurz Pianoforte-Bibliothek, im 2. Jahrgang Neue Bibliothek, ab Ende 1833 durch die Original-Bibliothek abgelöst) im gemeinsamen Verlag von Julius Schuberth und Georg Wilhelm Niemeyer in Hamburg und Itzehoe. Zu den beiden Periodika vgl. auch vom Verfasser  : »›Classische Meisterwerke‹ von ›besonderem Werth‹  : Sonaten für Pianoforte in Musikperiodika um 1830«, in  : Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung in Kassel 2017. Das Populäre in der Musik und das Musikverlagswesen, hrsg. von Annette van Dyck-Hemming und Jan Hemming (= Systematische Musikwissenschaft), Wiesbaden 2019, S. 371–383. Zu diesen um 1830 durch das »starke Niveaugefälle […] als Gegengewicht« hervorgerufenen Mustersammlungen vgl. auch Imogen Fellinger, Periodica Musicalia (1789–1830) (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 55), Regensburg 1986, S. XXVI–XXIX. 9 Ab Juli des Jahres erschienen die Monatsberichte unter dem Namen von Friedrich Hofmeister  ; vgl. Elvers und Hopkinson, »Catalogues«, S. 2.

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1. 1830: Die f-Moll-Sonate von J. A. Plachy

Zur Beharrungstendenz des musikwissenschaftlichen Diskurses gehört auch, dass sich Untersuchungen zur Rolle des Tongeschlechts stets Mollwerken widmen und  – sofern es dabei um Sonaten geht – fast ausschließlich die Frage untersuchen, in welchem Tongeschlecht der Seitensatz (vor allem in der Reprise) auftrete.10 Obwohl der vorliegende Beitrag diese Beschränkung dezidiert überwinden will, sei zunächst genau die Disposition der Seitensatz-Tonarten in einer Mollsonate betrachtet. Hofmeisters Monatsbericht zeigt im Mai/Juni-Heft 1830 eine »Sonate p. Pfte. Oe.  1, in Fm. Wien, Leidesdorf 16 Gr.« eines gewissen J. A. Plachy an.11 Weder über den Komponisten noch über die Widmungsträgerin (»Madame Constance de Bayer«) ist bislang Sicheres in Erfahrung zu bringen gewesen.12 Das Werk ist in vielerlei Hinsicht überdeutlich an Beethovens in derselben Tonart stehende, heute als »Appassionata« bekannte Klaviersonate op. 57 angelehnt. Mit jener teilt es die äußeren Umrisse wie Metrum, Tempo­angabe, Vortragsbezeichnung und Tonartendisposition der einzelnen Sätze, aber auch Eigentümlichkeiten wie die Wiederholung des zweiten Teils im Finale oder die Verwendung einer charakteristischen alterierten Doppeldominant-Harmonie im AndanteThema. Im Kopfsatz verweisen etwa die synkopierten Akkorde im Hauptthema oder das Aufsuchen von E-Dur in der Durchführung (in der dann auch noch das Seitenthema in Des-Dur erklingt) auf das Vorbild. In anderen, für Beethovens Sonate vielleicht ästhetisch essenzielleren Aspekten unterscheidet sich das Werk von Plachy jedoch  : Der subthematischen Durcharbeitung des ganzen Satzes und der daraus resultierenden motivischen Ökonomie bei Beethoven stehen beispielsweise bei Plachy motivisch unverbundene, in ihrem Charakter deutlich kontrastierende Abschnitte gegenüber  ; eine längere Coda fehlt ebenso wie die bei Beethoven dort zu findenden klanglichen Extravaganzen. Was die modale13 Disposition der Seitensatzbereiche im Kopfsatz betrifft, so folgt Plachy dem von Markus Neuwirth als »Beethovensches Verfahren« typologisierten Modell  :14 Sowohl in der Exposition als auch in der Reprise tritt das Seitenthema in (As- respektive 10 Vgl. als aktuellere Literaturbeispiele Matthew Riley, The Viennese Minor-Key Symphony in the Age of Haydn and Mozart, Oxford 2014, Jeffrey Swinkin, »About a Key. Tonal Reference in Beethoven’s Sonata-Form Works«, in  : The Journal of Musicology 34 (2017), S. 515–558, sowie den Beitrag von Markus Neuwirth im vorliegenden Band. 11 Mir bekannte Exemplare des Drucks liegen in A-Wgm sowie in D-B. 12 Ob es sich beim Komponisten z. B. um Jakob (Jakub), einen jüngeren Bruder des berühmteren Namensvetters Wenzel Plachý, handelt oder um Julius Plachy, für den die Monatsberichte ab 1846 weitere Werke verzeichnen, bleibt Mutmaßung. 13 Im Folgenden verwende ich den Ausdruck ›modal‹ als Adjektivbildung zum deutschen Begriff des ›Tongeschlechts‹. Dieser Neologismus lehnt sich an die englischsprachige Terminologie an, hat aber auch ein historisches Vorbild in Gottfried Webers gelegentlicher Verwendung von ›Modus‹ im Sinne von »Tongeschlecht«. 14 Vgl. den Beitrag von Markus Neuwirth im vorliegenden Band. Dem Modell folgen auch die anderen beiden in den Jahren unmittelbar um 1830 erschienenen Mollsonaten  : Sowohl die Sonate c-Moll op. 32 von Leo-

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Dur und Moll als Artikulationsmittel der Sonatenform um 1830

F-)Dur auf, erfährt allerdings in der Reprise eine für dieses Modell konstitutive Wendung nach Moll. Interessanterweise folgt Plachy in der modalen Gestaltung der Reprise nicht bloß dem generellen Beethovenschen Verfahren, sondern der spezifischen Ausprägung, wie sie die »Appassionata« zeigt  : Einerseits wendet sich der Seitensatz auch in der Exposition nach Moll  ; andererseits erfolgt der »Dur-Durchbruch« bereits im Hauptsatzbereich. Während Beethoven diese letztgenannte Schnittstelle durch eine Fermate hervorhebt, rückt Plachy sie in besonderes Licht, indem er hier sein Hauptthema erstmals mit vollgriffigen, synkopisch versetzten Akkorden in beiden Händen präsentiert – zum ersten Mal wörtlich in der Beethoven’schen Gestalt notabene. Modale »Aufhellung« und sonatenlogische »Lösung« fallen also mit der unverhüllten Einrückung in den Traditionszusammenhang zusammen, oder anders gewendet  : Die modale Artikulation dieser strukturellen Peripetie der Sonatenformung wird um rezeptionshistorische Mittel verstärkt  ; Beethoven stellt sich seinen musikgeschichtlichen Nachfolgern einmal nicht (real) als kompositionsgeschichtliches »Problem« dar, sondern (ästhetisch) als intertextuelles »Lösungsangebot«. Das dramaturgische Gegenstück, die Wendung nach Moll im Seitensatzbereich, realisiert Plachy hingegen anders als Beethoven. In der »Appassionata« ist es die ostentative Vermeidung der den Seitensatz beschließenden Strukturkadenz, die den Umschwung markiert  : Die aktive Dominante bleibt ohne Zieltonika, der die Dominante zierende Triller wird festgehalten, von seiner Akkordstütze gelöst und zweimal registerversetzt  ; schließlich führt eine hinabstürzende Skalenbewegung in einen stark bewegten Mollteil im Forte und Fortissimo. Für die angloamerikanische »Sonata Theory«, die großes Gewicht auf die formalen Erfüllungskadenzen (»closures«) legt und ihr mögliches Unverwirklicht-Bleiben hermeneutisch als »Scheitern« (»failure«) interpretiert, liegt hier ein exemplarischer »Zusammenbruch« des Seitensatzes (»breakdown of S«) vor.15 Plachy lässt zwar ebenfalls auf ein kantables Dur-Seitenthema einen Fortissimo-Mollteil mit Agitato-Gestus folgen. Den Übergang gestaltet er aber nicht als »scheiternde Kadenz«, sondern als unauffälligen Ganzschluss, dem einzig das Einfallen des nächsten Abschnitts per ›Tacterstickung‹ ein wenig dramatische Belebung verleiht. Anschließend kadenziert der Formteil auch ganz förmlich im Sinne einer »essential closure«16 nach Maßstäben der »Sonata Theory«, wiederum takterstickend in eine Fortissimo-Schlussgruppe con fuoco führend. pold Eustache Czapek als auch die Sonata quasi fantasia e-Moll op. 40 von August Marschner beginnen den Seitensatz der Reprise in Dur, um sich dann wieder nach Moll zurückzuwenden. 15 James Hepokoski und Warren Darcy, Elements of Sonata Theory. Norms, Types, and Deformations in the LateEighteenth-Century Sonata, Oxford 2006, S. 191. Zur »failed exposition« bzw. »recapitulation« vgl. S. 177– 179 bzw. 245–247. Auf die Metaphorik des »Scheiterns« in der »Sonata Theory« wird unten in Abschnitt 4 noch einmal etwas ausführlicher eingegangen. 16 Zum Konzept des »essential expositional closure« vgl. Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 18 und ausführlicher S. 120–125. Für die »essential closures« verwende ich den hier neu vorgeschlagenen Ausdruck der »Erfüllungskadenzen«.

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Abbildung 1: J. A. Plachy, Sonate f-Moll op. 1, Formdiagramm von Exposition (1) und Reprise (2) des Kopfsatzes (MC bezeichnet in der Nomenklatur der »Sonata Theory« die Modulationszäsur, EEC = »essential expositional closure« und ESC = »essential structural closure« die strukturtragenden Erfül­lungskaden­ zen)

Eine hermeneutische Auslegung kann sich bei Plachy also nicht auf ein »Scheitern« der Erfüllungskadenzen o. ä. berufen, sondern einzig auf die modale Dramaturgie.17 Deren etwas ausführlichere Beschreibung in den Werken von Plachy und Beethoven mag immerhin darauf hingewiesen haben, dass es viele Möglichkeiten gibt, den Mollumschwung in Neuwirths »Beethoven’schem Verfahren« zu verwirklichen. Es genügt oft nicht, das Tongeschlecht (im Singular) der Seitensatzreprise zu bestimmen  ; ästhetisch signifikant und darum analytisch zu untersuchen ist beispielsweise die Frage, inwieweit Dur oder Moll kadenziell artikuliert (oder sogar erst während des Kadenzvorgangs etabliert) werden, wie wichtig die betreffende Kadenz für die Formung ist bzw. ob ein abseits kadenzieller Schnittstellen sich ereignender modaler Umschwung allmählich oder abrupt erfolgt. Ein eminent wichtiges und wirksames Mittel sowohl zur modalen Vermittlung als auch zur Kontrastgestaltung ist die tonale Einrichtung der Vorhaltsbildungen der Dominantharmonie im Kadenzprozess. Die Strukturkadenzen bei Plachy zeigen dies mustergültig  : Der so typische Doppelvorhalt der Zielkadenz in der Exposition setzt sich aus Quarte und g r o ß e r Sexte zusammen  ; damit in Einklang folgt die Schlussgruppe in Dur (wenn auch – bereits die Mollwendung der Reprise vorbereitend – con fuoco). Die analoge Stelle in der Reprise hingegen leitet mit Quarte und k l e i n e r Sexte in die MollSchlussgruppe  ;18 eine Strategie modalen »Vorankündigens«, die selbst bei den unvoll17 Auch diese ist ein wichtiges hermeneutisches Instrument der »Sonata Theory«  ; vgl. Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 310–314, zur »Appassionata« namentlich S. 312. 18 Im Druck S. 3, 4. Akkolade, bzw. S. 10, 1. Akkolade. Die modus-indizierenden kleinen respektive großen Vorhaltsintervalle bezeichne ich im Folgenden gelegentlich auch direkt mittels der Vorsilbe »Dur-/Moll-«, also z. B. »Mollsexte« für die kleine Sexte über der Dominantharmonie.

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ständigen Strukturkadenzen in Beethovens »Appassionata« begegnet, wo nämlich in der Exposition ein – dynamisch durch Piano-Vorschrift hervorgehobenes – ces den Mollumschwung vorbereitet. Nicht nur modale Kontinuität, sondern auch Kontrast lässt sich dergestalt erzielen. Da die besagten Dominant-Vorhaltsbildungen im harmonischen Verlauf stets zwei »Kontaktflächen« – nämlich diejenige ihrer Vorbereitung und diejenige ihrer Auflösung – besitzen, können dieselben strukturellen Zielkadenzen aus der Plachy-Sonate gleich noch einmal als Beispiel dienen  : Ihre Fortführung geschieht in beiden Formteilen modal kontinuierlich  ; da aber zuvor der Seitensatz sich wie beschrieben jeweils nach Moll wendet, erfolgt die Einführung der nach Dur leitenden Dominante mit großer Sexte in der Exposition innerhalb eines Moll-Kontextes und somit als modale Kontrastwirkung.19 Die »Aufhellung« vollzieht sich dadurch eigentlich nicht erst beim Abkadenzieren nach Dur, sondern bereits mit dem Eintritt dieses charakteristischen Doppelvorhalts. Auch der komplementäre Fall modaler Kontrastgestaltung lässt sich beobachten  : Der Ganzschluss am Ende der Dur-Seitenthemen verwendet folgerichtig die große Sexte über dem Dominantgrundton, die dann jedoch stets unvorbereitet in die Molltonika kadenziert. Umgekehrt steigert die Modulationszäsur20 der Exposition die Durwirkung des Seitensatzes, indem sie die kleine Sexte verwendet, also zunächst Moll als Kadenzziel andeutet.21

2. »Modale Perspektivierung« als formales Mittel

Genau dieses ›Andeuten‹, diese Artikulation des Tongeschlechts auf der Dominantposition kadenzieller Fortschreitungen aber ist gänzlich unabhängig vom Tongeschlecht des unmittelbaren (geschweige denn großformalen) Kontextes. Mehr noch  : Die Zieltonika der harmonischen Kadenz kann sogar gänzlich ausbleiben  ; bereits eine Halbschlussbildung kann modal markiert werden.22 Da im Anschluss  – die Betrachtung der Plachy19 In der Reprise, wo Hin- wie Weiterleitung in Moll stehen, ist dieser Effekt so nicht möglich  ; vielleicht steht genau die Absicht, allzu große Kontinuität dennoch zu vermeiden, hinter der Entscheidung, eine kurze reale Sequenzpassage vor der Strukturkadenz der Reprise einzuschieben. Vgl. S. 9, 5. Akkolade. 20 Während das für die »Sonata Theory« zentrale Konzept der »medial caesura« im Deutschen oft mit »Mittenzäsur« übersetzt wird, folge ich hier Hans-Joachim Hinrichsens Terminologie, die m. E. den Doppelsinn der englischen Bezeichnung – ungefähr »mittlerer« Ort im Formverlauf, aber auch »vermittelnde« Funktion darin  – besser bewahrt. Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Beethoven. Die Klaviersonaten, Kassel 2013, z. B. S. 93. 21 Die folgenden zwei Takte, welche die Auflösung des Doppelvorhalts durch Doppeldominantklänge aufschieben, weisen dann bereits wieder nach Dur hin – eine raffinierte, individuelle Lösung, die den Gestaltungsspielraum kadenzieller Moduslenkung demonstriert, aber im Folgenden zugunsten der Betrachtung von verbreiteteren, stereotyperen Verfahren ausgeklammert werden soll. 22 Vgl. auch die elegante Formulierung von Thomas Gerlich, nach der sich gerade der »kadenzierende Quart­

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Sonate hat es gezeigt – stets sowohl Dur als auch Moll folgen kann, möchte ich hier allgemeiner von einem »modalen Horizont« ausgehen, der in solchen Momenten aufgespannt wird und der vom Zusammenwirken von lokaler harmonischer Gestaltung, musikalischem Kontext und konventioneller Formerwartung konturiert werden kann. Überwiegt das Andeuten eines bestimmten Tongeschlechts die kalkulierte Offenheit, werde ich im Folgenden von »modaler Perspektivierung« sprechen. Als musikalische Mittel bleiben modale Horizontbildung bzw. Perspektivierung natürlich nicht auf Mollwerke beschränkt, und spätestens durch die Betrachtung dieser Verfahren lässt sich die Untersuchung der Rolle von Dur und Moll auch gewinnbringend auf Durwerke ausdehnen.23 Als erstes Beispiel diene die 1830 bei Cranz in Hamburg erschienene Sonate F-Dur op.  1724 von Carl Schwarz, einem seit 1826 in Göteborg wirkenden Schüler Friedrich Kuhlaus. Es handelt sich um eine in Anspruch und Umfang eher »kleine« Sonate  : Der Kopfsatz nimmt im Druck bloß drei Seiten ein, und die Exposition weist zwar eine Modulationszäsur auf, schließt daran aber einen im Charakter bereits an Schlussgruppengestik erinnernden Seitensatz an, sodass sich die Sonate dem knapperen, zäsurlosen Typus25 annähert. Selbst diese kleine, weder »heroischen« noch »dramatischen« Anspruch verfolgende Sonate macht sich eine modale Perspektivierung an entscheidender Stelle zunutze. Denn während in der Exposition die Modulationszäsur der Dominantharmonie noch einen Quartsextvorhalt mit diatonischer Dursexte angedeihen ließ (Notenbeispiel 1), verwendet die Reprise an der korrespondierenden Stelle die Mollsexte – obschon darauf ganz analog zur Exposition und ganz in Einklang mit der konventionellen Form­ erwartung zum Seitensatz in Dur kadenziert wird (Notenbeispiel 2).

Notenbeispiel 1: Carl Schwarz, Sonate F-Dur op. 17, Modulationszäsur in der Exposition des Kopfsatzes sext-Akkord« besonders dafür eigne, »eine aktuell nicht geltende Tonart anzusprechen, ohne sie im folgenden auszusprechen«  ; Thomas Gerlich, »Am Meer. Ein ›romantisches Detail‹ bei Schubert wiedererwogen«, in  : Schubert  : Perspektiven 1 (2001), S. 197–218, das Zitat  : S. 215. 23 Dies trifft auch auf andere Aspekte von Modusmischung (etwa auf die Verwendung von Mollsubdominanten im Durkontext) zu, die bisweilen den Eindruck von »denaturiertem Dur« hervorrufen mögen (so Hinrichsen, Beethoven, S. 165, zu Beethovens op. 27/1), jedoch kaum in der im Folgenden beschriebenen Weise zur modalen »Perspektivierung« an Schnittstellen Anwendung zu finden. 24 Angezeigt Juli/August 1830  ; mir bekannte Exemplare liegen in DK-Kk und DK-A. 25 In der Terminologie der »Sonata Theory« entspräche dieser Typus demjenigen der »continuous exposition«, vgl. Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 51–64.

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Notenbeispiel 2: Schwarz, Sonate op. 17, Modulationszäsur in der Reprise

Der Kontext im Vorfeld der Modulationszäsur zeigt, dass die modale Perspektivierung nicht bloß mittels des Mollsextvorhalts bewerkstelligt wird  : Bereits sechs Takte früher erklingt die Molltonika, darauf folgt eine kurze mediantische Digression nach As-Dur. Dies alles – sowie das insgesamt gesteigerte Chroma – sind Mittel, den modalen Verlauf nach Moll zu leiten. Für die Formdramaturgie der untersuchten Sonaten charakteristisch ist zudem, dass die Strukturkadenzen in der Reprise oft gegenüber der Exposition »gesteigert« erscheinen, also z. B. kadenziell stärker artikuliert, im Umfang ausgebaut oder eben um eine modale Ausweichung erweitert sind. Diese dramaturgische »Steigerung« erfolgt dabei meistens vor der Folie von Korrespondenzen in der Exposition, die sich im Nachhinein als »Vorbereitung« begreifen lassen. Bei der Schwarz-Sonate ist es die Verwendung von  – in der Exposition noch leitereigener  – VI.  Stufe und verminderter Doppeldominante,26 die in der Reprise steigernd wiederaufgegriffen wird  ; gleichzeitig erreicht der Kadenzvorgang in der Reprise eine größere Ausdehnung, in dem u. a. die Vorhaltsauflösung der Dominantharmonie nun nicht mehr halb-, sondern ganztaktig erfolgt. Ein weiteres Beispiel zeigt, dass modale Horizontbildung an formdramaturgischen Schnittstellen nicht bloß ein »Grenzphänomen« der harmonischen Kadenz sein muss, sondern auch eigene »Ausdehnung«, also eigene motivische Substanz aufweisen kann. Im von August Mühling herausgegebenen, im Verlag Brüggemann in Halberstadt erscheinenden Museum für Pianoforte und Gesang27 ist im 3.  Heft des 3.  Jahrgangs ein 26 Vgl. noch einmal Notenbeispiel 1, T. 1 27 Zum Periodikum und seinem Inhalt vgl. Fellinger, Periodica Musicalia S.  884–892  ; zum fraglichen Heft S. 890. Verwendet ist das – einzig mir bekannte – Exemplar aus D-Mbs.

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Sonate überschriebener Einzelsatz von Heinrich Friedrich Enckhausen enthalten. Unklar ist, ob dieses Allegro Maestoso bereits die ganze Sonate ausmachen soll  ; nicht unwahrscheinlich wäre, dass die in Heft 2 desselben Jahrgangs bzw. in Heft 11 des vorherigen erschienenen, als Andante respektive Rondo betitelten zwei Sätze zur Sonate dazugehörten, aber gesondert veröffentlicht wurden.28 Jedenfalls steht außer Zweifel, dass zumindest der Allegro-Satz mit den Formerwartungen des Sonatenhörens rezipiert werden sollte, womit nichts der Aufnahme in unser Untersuchungskorpus entgegensteht.

Notenbeispiel 3  : Heinrich Friedrich Enckhausen, Sonate B-Dur, Modulationszäsur und Seitensatzbeginn (3. Takt der 2. Akkolade, »dolce«) in der Exposition

Die Überleitung endet in der Exposition mit einer zwar etwas ungewöhnlich durch eine alterierte Doppeldominante eingeleiteten, aber gleichwohl unmissverständlichen Halbschlusszäsur auf C-Dur (Notenbeispiel 3, T. 4). Statt des Seitensatzes, der sich hier problemlos anschließen könnte, erklingt ein siebentaktiger, in Textur und Harmonik deutlich vom Kontext abgesetzter Einschub. An seinen Rändern ist er subtil in die Zäsur-Rhetorik eingebettet (eingangs durch die – im Folgenden beibehaltenen – auftaktigen Achtelrepetitionen, ausgangs durch die typische Füll-Figuration,29 dazwischen durch den mit Blick auf das Folgende dominantischen Orgelpunkt), sodass seine Funktion als »die Modula­ tionszäsur prolongierend« beschrieben werden könnte. Unter modalen Gesichtspunkten interessant ist nun, dass dieser Einschub in taktweisem Wechsel Mollnone und zwischendominantischen verminderten Septakkord erklingen lässt, also harmonische Mittel, die ihren Sitz in Moll haben. Die darin begründete – 28 Ebenso unklar muss bleiben, ob diese B-Dur-Sonate die als Op. 11 gezählte Klaviersonate sein könnte, die Fétis erwähnt (vgl. François-Joseph Fétis, Bibliographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique, 2. Auflage, Bd. 3, 1866, S. 137). Die 3. Ausgabe des Hofmeister-Handbuchs nennt unter op. 11 allerdings ein anderes Werk (C. F. Whistling’s Handbuch der musikalischen Literatur […], Leipzig 1845, Bd. 2, S. 158  ; zur Ausgabe und ihrer Autorschaft vgl. auch Elvers und Hopkinson, Survey, S. 3f.). 29 Die »Sonata Theory« hat für dieses – gerade für die Verwirklichung von Modulationszäsuren sehr oft verwandte – Mittel den handlichen Begriff des »caesura-fill« geprägt  ; vgl. Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. xxv bzw. ausführlicher S. 40–45.

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wie bei Schwarz allerdings auch hier folgenlos bleibende – Moll-Perspektivierung tritt gemeinsam mit akzentuierter Seufzermelodik in der Oberstimme auf, die gerade durch die modale Entlehnung der Mollnone stets zum Halbtonschritt geschärft ist. (Die Verbindung zum topischen Ausdrucksmittel des »Seufzers« wirft mutmaßlich auch Licht auf die Konnotation dieser hier sich öffnenden Mollperspektive.) Die vorübergehende modale »Problematisierung« erfährt bereits vor dem Eintritt des Seitenthemas ihre effektvolle »Lösung«, indem die Füllfiguration den Ton d3, also die Tonstufe der Durnone der Dominante, als Höhepunkt ansteuert sowie die Durterz a2 der Zieltonika verwendet (während der Septton der verminderten Zwischendominante zuvor stets die Tonstufe as erklingen ließ). Das folgende Seitenthema scheint in seinem diatonischen Zuschnitt, seiner schlichten Sanglichkeit und der konventionellen Gestaltung der Albertibass-Begleitung im Vergleich zum Vorhergehenden merkwürdig spannungslos und unspezifisch. Da das Seitenthema zudem motivisch eng – allerdings fern plumper »Monothematik« durchaus raffiniert30 – an das Hauptthema (Notenbeispiel 4) angelehnt ist, zeigt sich, dass in Enckhausens Sonatensatz vermutlich keineswegs charakteristische Themen (geschweige denn ein zwischen ihnen vorliegender »Kontrast«) die ästhetische Substanz allein ausmachen, sondern dass die dramaturgische Ausgestaltung formaler Schnittstellen ästhetisch mindestens ebenso relevant ist.31 Tendenziell »semantische« Mittel wie musikalische Topoi und modale Perspektivierung scheinen hier ihren bevorzugten Einsatzort zu finden.

Notenbeispiel 4  : Enckhausen, Sonate B-Dur, Hauptthemenkopf

Im Fall von Enckhausens B-Dur-Sonate wird diese Hypothese von der Beobachtung gestützt, dass die Reprise nicht durch die Wiederkehr des Hauptthemas eingeleitet wird, sondern direkt die tonikale Präsentation des Seitenthemas ansteuert  ; ein Verfahren, das in der älteren Literatur oft als Suitenform- oder Scarlatti-Typus bezeichnet, neuerdings 30 Vgl. etwa die je unterschiedliche Verwendung von submotivischen Elementen wie der Doppelschlagfigur oder dem mollsubdominantisch fallenden Durchgang der Begleitstimme bzw. die auf dem Grundton respektive auf der Akkordterz anhebende Melodiestimme. 31 Auf in ähnlicher Weise »konfliktlose«, durch starke Motivgemeinschaft der Themen gekennzeichnete Sonaten aus der Zeit um 1830 lässt sich diese Vermutung übertragen, so auf die Sonate B-Dur op. 15 von Carl Schwarz, die 1831 als Heft 15/16 des 2. Jahrgangs des Musikalischen Ehren-Tempels bei Böhme und Cranz in Hamburg erschien, oder auf die Sonate G-Dur op. 2 von Eduard Thiele, die ebenfalls 1831 bei Hofmeister in Leipzig gedruckt wurde.

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jedoch von der angelsächsischen »Sonata Theory« als gleichberechtigte Spielart der Sonatenform proklamiert worden ist.32 Genauer  : Im vorliegenden Fall mündet der Durchführungsabschnitt in einen Halbschluss  ; an diesen schließt sich jedoch nicht direkt der Seitensatz, sondern just der chromatisierende Modulationszäsur-Einschub aus der Exposition an, nun quinttransponiert und leicht modifiziert. Damit kommt diesem Einschnitt zusätzliches Gewicht für die Konstitution der Großform zu, und die Rolle der modalen Perspektivierung wird nun von der Ebene der Expositionsdramaturgie auf diejenige des ganzen Satzes projiziert  : Nicht bloß die Frage, in welchem Tongeschlecht denn der Seitensatz erklingen werde, wird nun musikalisch gestellt, sondern diejenige, ob der Satz insgesamt nach Dur oder Moll strebe. Wenig überraschend sind in Exposition und Reprise auch die Erfüllungskadenzen im Seitensatzbereich mit ähnlichen modalen Artikulationsmitteln gestaltet,33 und die auffallende Dur-Diatonik der kurzen Coda bildet eine weitere Komponente der modalen Satzdramaturgie. Dies alles wäre weiter zu beleuchten. Stattdessen soll hier jedoch ein Aspekt der Gestaltung der Modulationszäsur noch einmal genauer in den Blick genommen werden. Denn gerade die im beschriebenen Einschub eingesetzten harmonischen Mittel  – Durnone und verminderter Septakkord  – gelten der einschlägigen zeitgenössischen Theorie als modal wenig eindeutige oder gar ambivalente Modusindikatoren. Folgte man dieser Einschätzung, so läge weniger ein Fall modaler Perspektivierung, sondern vielmehr echter, offener Horizontbildung vor – was die These der ästhetischen Relevanz dieses Formmittels durchaus stützen würde.

3. Moduslenkung in Gottfried Webers Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst

In Gottfried Webers Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, dessen dritte Auflage 1830–1832 bei Schott in Mainz erschien,34 finden sich verstreut viele Hinweise zur Rolle von Dur und Moll  ; nicht zuletzt zur modalen Mehr- bzw. Eindeutigkeit gewisser Akkorde und damit zu den Möglichkeiten, das Tongeschlecht – Weber selbst gebraucht 32 In der Typologie von Darcy und Hepokoski teilen »Type 1« und »Type 2« diese Eigenschaft  ; im konkreten Fall der Enckhausen-Sonate liegt eine Variante des »Type  2« vor. Vgl. das entsprechende Kapitel bei Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 353–387  ; insbesondere auch den Abschnitt »The Crux«, S. 379f. 33 Vgl. zur modalen Artikulation der Erfüllungskadenzen und ihres Kontextes den Abschnitt 4 unten. 34 Die vier Bände der 3. Auflage sind nicht einzeln datiert. Gottfried Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, 3., neuerdings überarbeitete Auflage, 4 Bde., Mainz u. a. 1830–1832. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte vgl. auch Knut Holtsträter, »Gottfried Webers Einfluss auf die Funktions- und Stufenharmonik. Eine Bestandsaufnahme«, in  : Tagungsbericht Dresden 2006 sowie weitere Aufsätze und Quellenstudien, hrsg. von Manuel Gervink u. a., Mainz 2007, S. 381–432, hier S. 381, Anm. 1.

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den Begriff ›Modus‹ – auch abseits der Tonika zu artikulieren. Allgemein nennt er Varianttonarten »gleichsam Kinder Eines Vaters, ja Zwillingsschwestern, wiewohl von verschiedenem Temperament, wo nicht gar dieselbe Tonart, nur unter zweierlei Charakter (modus), — gleichsam Eine und dieselbe Person, nur in verschiedener Gemüthstimmung.«35

Die Modus-Indifferenz der üblichen Dominantklänge bemerkt Weber an verschiedenen Stellen, am deutlichsten in seiner »Zusammenstellung der […] Hauptgattungen von Mehrdeutigkeit der Zusammenklänge«, in der er feststellt, dass sich »ein harter Dreiklang auf der fünften Stufe sowohl der weichen, als der Durtonart« finde, »mit anderen Worten, dass ein und derselbe […] Zusammenklang, doch noch in Einer Hinsicht mehrdeutig sein kann, nämlich in Ansehung des m o d u s «.36 Die anhand der Schwarz-Sonate ausgeführte Möglichkeit, Dominantakkorde mittels des Quartsextvorhalts modal zu perspektivieren, erwähnt Weber auch. Die modus­ lenkende Qualität des Quartsextklanges hängt mit Webers tonischer Auffassung dieses Akkords zusammen. Webers pragmatische Theoriebildung, die mit Absicht »keineswegs ein System im philosophisch-wissenschaftlichen Sinne des Wortes sein soll«,37 bedient sich extensiv des Reduktionsverfahrens der Akkordumkehrung (»Verwechslung«), um Klänge auf Grundharmonien zurückzuführen.38 So wendet er sich in einer »Anmerkung« gegen die Auffassung des prädominantischen Quartsextklangs als Dominante mit Doppelvorhalt, die ihm zu den »mühsamen, unnatürlichen Deuteleien« zählt, während doch »der schlichte Menschenverstand« eindeutig »I–V« sage.39 Weber zufolge kommt jedenfalls »nämlich gar häufig die tonische Harmonie (I oder i) in zweiter Verwechslung (in Q u a r t s e x t e n l a g e ), z u m a l a u f s c h w e r e n Z e i t e n , vor«, und das Gehör sei entsprechend gewöhnt, dieser Harmonie »die gewohnte Bedeutung beizulegen«, das heiße » j e d e n also auftretenden, hart, oder weichen Quartsextakkord, für eine so auf35 Weber, Versuch, § 165, Bd. 2, S. 73. 36 Ebd., § 159, Bd. 2, S. 67f. (Hervorhebung im Original). 37 Ebd., »Aus der Vorrede zum ersten Bande der ersten Auflage«, Bd. 1, S. x. Zur Frage, ob Weber damit als »vor­idealistisch angesiedelt in seiner unhistorischen Denkungsart« einzustufen sei oder ihm ganz im Gegenteil frühromantisch-progressive Züge zuzusprechen seien, vgl. Holtsträter, »Gottfried Webers Einfluss«, S. 394, und die dort erwähnte, die beiden Positionen vertretende Forschungsliteratur von Peter Rummenhöller bzw. Jairo Moreno. 38 Vgl. Joachim Veit, »Gottfried Webers Tonsetzkunst und Voglers Harmonie-System«, in  : Studien zu Gottfried Webers Wirken und zu seiner Musikanschauung, hrsg. von Christine Heyter-Rauland (= Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte 30), Mainz 1993, S. 69–84, insbesondere S. 76–78. 39 Weber, Versuch, §  248, Bd.  2, S.  232. Im selben Abschnitt wendet er sich generell gegen »elliptische oder katachretische Auflösungen, Licenzen, und andere Phrasen solcher Art«  ; auch an anderer Stelle hält er das Postulieren einer Vorhaltsbildung für eine »Ausrede«, deren »sehr unnöthig kunstreiche und mühselige Art« er angreift (§ 248, Bd. 2, S. 232).

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tretendes I oder i tonische Harmonie zu nehmen.«40 So leicht diese Auffassung kritisierbar ist, so effektiv unterstützt sie das Argument, dass gerade dieser Klang moduslenkend wirkt, wenn er doch bereits zum Bereich der Tonika gehört. Beispielsweise greift Weber bei der Analyse von Fallbeispielen oft darauf zurück, dass »der entscheidende tonische Quartsextenakkord« vorübergehende Mehrdeutigkeiten kläre.41 Da die untersuchten Mehrdeutigkeiten meist im Kontext der Modulationslehre auftreten, sind es in erster Linie solche der Tonart. Dennoch wird klar, dass immer auch der Modus »durch die S e x t q u a r t e n l a g e des neuen tonischen Accordes«42 indiziert wird  : »Dem obenerwähnten Schwanken des Gehöres zwischen es-moll und E-Dur macht der, im 17ten Tacte, in entscheidender Quartsextenlage, auftretende weiche es-Dreiklang ein Ende.«43 Dass Weber übrigens mit dem »Schwanken des Gehöres« argumentiert, ist nicht selbstverständlich, aber ein Charakteristikum seines hörerorientierten Analysemodells, das beispielsweise auch bei der »Wiederkehr schon gehörter Stellen«44 mit analogisierender ›Erwartung‹, ja sogar einem ›Vorausempfinden‹ argumentiert.45 Billigte man Webers Sichtweise zu, tatsächlich einen Rezeptionsmodus seiner Zeit abzubilden, trüge dies zusätzlich zur Plausibilität der oben ausgeführten These bei, dass gerade der Horizontcharakter formaler Schnittstellen ein ästhetisches Spezifikum des Sonatendenkens um 1830 darstellte. Es ließe sich dann wohl auch auf die Moduslenkung übertragen, was Weber zur Modulation sagt, nämlich »dass die Mehrdeutigkeiten der Modulation nichts weniger als Mängel sind. Im Gegentheil werden wir sie oft als Quelle ganz eigenen Reizes und reicher harmonischer Vielseitigkeit kennen lernen […].«46

Die Möglichkeiten von Moduslenkung und -mehrdeutigkeit begegnen auch beim nächsten – im Falle der Enckhausen-Sonate bereits hervorgehobenen – harmonischen Mittel wieder, der Ergänzung der Dominante um einen Nonenvorhalt. Weber, der die None üb40 Ebd., Bd. 2, S. 129 (die eigentümliche Syntax des Zitats so im Original). 41 ›Entscheidend‹ ist hier also keine bloße emphatische Vokabel, sondern eine Eigenschaft des Akkords ganz im Wortsinne von »eine Entscheidung bewirkend«. 42 Weber, Versuch, § 241, Bd. 2, S. 210, das obenstehende Zitat gleich danach S. 211. 43 Ebd., § 225, Bd. 2, S. 185. Das Beispiel ist Webers eigenem Requiem entnommen, vgl. die Bildtafel »Fig. 235«, die in Bd. 2 nach S. 186 eingebunden ist. 44 Vgl. insbesondere den Absatz gleichen Titels sowie den darauffolgenden Paragraphen  : Weber, Versuch, §§ 214f., Bd. 2, S. 149–153. 45 Zu Webers »dialogischem Hörmodell« vgl. Christian Utz, »Das zweifelnde Gehör. Erwartungssituationen als Module im Rahmen einer performativen Analyse tonaler und posttonaler Musik«, in  : Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 10/2 (2013), S. 225–257, zu Weber S. 226. 46 Weber, Versuch, § 223, Bd. 2, S. 165.

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rigens in den meisten Fällen nicht als Vorhalt oder Durchgang, sondern als »selbständig« verstanden wissen will,47 geht zunächst auf die modus-entscheidende Rolle von großer respektive kleiner None ein  : »[…] dieser Hauptvierklang, der auf der fünften Stufe der M o l l tonleiter, ist es, welchem die Beifügung einer k l e i n e n None zunächst eigen ist, weil nämlich in der Mollscale sich die k l e i n e None der Dominante findet, nicht aber die g r o s s e […].«48

Die große None weise hingegen nach Dur  : »Wenn daher z. B. in einem Satze, der bisher aus c-moll ging, die G7-Harmonie mit grosser None auftritt, so kann das Gehör, obgleich die G7-Harmonie an sich selber allerdings in der bisherigen Tonart c-Moll zu finden wäre, doch d i e s a l s o c h a r a k t e r i s i r t e G7 nicht mehr als derselben angehörig betrachten, weil es in c-moll kein G7 mit grosser None giebt.«49

Dominiert bis zu diesem Punkt die differenzierende Funktion, so verwischen sich laut Weber die Grenzen im Fall der kleinen None  : » N i c h t e b e n s o b e s t i m m t , wie eine grosse None auf die harte Tonart hindeutet, k ü n d e t d i e k l e i n e N o n e d i e M o l l t o n a r t an  ; indem auch die Dominantharmonie h a r t e r Tonart nicht selten mit kleiner None vorkommt […].«50

So gewinnt das Bild an Vielschichtigkeit  : Während die kleine None – bei weiterwirkender Moll-Inflektion – fähig ist, Mehrdeutigkeit zu konstituieren, indiziert die große None stets eindeutig Dur. Die Dramaturgie der Modulationszäsuren bei Enckhausen lässt sich analytisch plausibel mit dieser theoretischen Funktionsbestimmung abstützen  : Steht offene Horizontbildung (mit grundierender Molltendenz) zu Beginn des Einschubs im Vordergrund, »klärt« sich die mehrdeutige Situation mit dem Wechsel von kleiner zu großer None zur Dur-Gewissheit. Ganz ähnliche Eigenschaften weisen in Webers Theorie auch die verminderten Septakkorde auf, die im Enckhausen-Beispiel nebst der Mollnone den Einschub prägen. Wiederum im Einklang mit Webers fundierendem Reduktionsprinzip gelten ihm verminderte Septakkorde nicht als »Grundaccorde«, sondern stets als verkürzte V. Stufen mit (wiederum »selbständiger«) None.51 Damit wird die Frage, ob ein Septakkord der 47 Ebd., §§ 77–88, Bd. 1, S. 237–254, am deutlichsten in der »Anmerkung« zu § 88, S. 252. 48 Ebd., §148, Bd. 2, S. 41. 49 Ebd., § 199, Bd. 2, S. 119. 50 Ebd., § 200, Bd. 2, S. 121. 51 Ebd., »Anmerkung« zu § 88, Bd. 1, S. 253f.

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VII. Stufe das kleine oder das verminderte Septintervall enthalte, gänzlich auf den Fall der großen und kleinen None zurückgeführt.52 Analog zur großen None wirkt daher auch der halbverminderte Septakkord als Dur-Indikator  : »Eben so ist der Zusammenklang [H d f a]« als »G7 […] auf der fünften Stufe von C (nicht von c […]) zu Hause«.53 Auch weitere Akkordgestalten vermögen dem Ohr das Tongeschlecht anzuzeigen  ; als Grund führt Weber üblicherweise den ›Sitz‹ der betreffenden Akkorde an, auf den die oben erwähnte Metapher des ›zu Hause‹ anspielt. So bemerkt Weber mit Blick auf Akkorde mit übermäßiger Sexte (die bei ihm stets mit dem Terzton des supponierten terzgeschichteten »Grundaccords« identisch ist), »dass solche Erhöhung der Terz eine Eigenheit d e s j e n i g e n Vierklanges ist, welcher auf der zweiten Mollstufe residiert.«54 Erachtet man aber Akkorde mit übermäßiger Sexte ihrer Grundtendenz nach zum Mollgeschlecht zugehörig, hat dies hermeneutische Konsequenzen  : Ihr Auftreten im DurKontext würde nicht nur das topische Konnotationsfeld dieser Akkordfamilie aufrufen, sondern im Sinne der modalen Dramaturgie auch jedes Mal die Möglichkeit einer Mollwendung am Horizont aufscheinen lassen. Gleichzeitig hilft Webers Diagnose, einen auf den ersten Blick etwas merkwürdigen Fall besser zu verstehen, in dem eine naheliegende Erhöhung der Sexte gerade n i c h t erfolgt  : Im Kopfsatz von Franz Adolph Succos 1830 bei Peters in Leipzig erschienener Sonate C-Dur op. 155 kehrt die Modulationszäsur in der Reprise zwar gesteigert wieder, indem im Kadenzvorgang zwischen Subdominante und Dominante die Submediante prominent eingeschaltet wird (Notenbeispiel 5). Obwohl sich hier die Chromatisierung der Oberstimme zum fis3 geradezu aufdrängt (und obwohl Succo im folgenden Adagio exzessiv Gebrauch von übermäßigen Quintsextakkorden macht), belässt es der Komponist aber bei der – zwar aus Moll entlehnten, aber nicht alterierten – Submediante.56

52 Gerade »Wechseldominantaccorde«, die ja oft als Septakkorde der VII. Stufe realisiert sind, kämen » a u c h i n h a r t e r To n a r t s e h r h ä u f i g m i t k l e i n e r N o n e « vor  ; Weber, Versuch, § 201, Bd. 2, S. 123. 53 Weber, Versuch, § 159, Bd. 2, S. 66. 54 Ebd., § 264, Bd. 2, S. 254  ; die zugehörigen Notenbeispiele befinden sich auf der Bildtafel »Fig. 324/nn« resp. »oo«, die nach S. 258 eingebunden ist. Das Beispiel steht zwar wiederum im Kontext einer Modulation, der Befund hat aber allgemeine Gültigkeit. 55 Angezeigt in Hofmeisters Monatsbericht von Januar/Februar 1830 sowie in Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr.  125 (9.5.1830), Sp.  1677. Mir bekannte Exemplare liegen in CZ-Bu und A-Wgm. 56 Der resultierende Klang ließe sich eventuell auch schlicht als Subdominant-Quintsextakkord der Varianttonart auffassen, was aber meiner weiteren Argumentation nicht widerspräche.

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Dur und Moll als Artikulationsmittel der Sonatenform um 1830

Notenbeispiel 5: Franz Adolph Succo, Sonate C-Dur op. 1, Modulationszäsur in der Reprise des Kopfsatzes

Sieht man von der nicht auszuschließenden Möglichkeit eines Stichfehlers ab, könnte die Entscheidung zugunsten der Diatonik davon geleitet gewesen sein, an dieser Stelle nicht einer Dramaturgie der Überraschung, sondern der modalen Kohärenz zu folgen. Nach der fortissimo eintretenden und gegenüber der Exposition neuen Moll-Evokation führte in dieser Lesart die nicht alterierte Form der Oberstimme bereits bruchlos zum Durquartsextvorhalt der Dominante hin. Der ausgleichende, auf Kohärenz abzielende Umgang mit Dur und Moll ist im Kontext des insgesamt die ästhetischen Extreme scheuenden Sonatenkorpus  – auch die Succo-Sonate weist wieder motivisch engverwandte, »konfliktlose« Themen auf  – ein nicht zu vernachlässigendes Phänomen. Selbst das Spiel mit dem möglichen »Scheitern« des Sonatenformprozesses, das im folgenden Abschnitt den Gegenstand der Betrachtung bildet und sich wieder besser mit der Vorstellung einer Sonaten-»Dramaturgie« verbinden lässt, wird eine Tendenz zur Vermittlung, zum »guten Ende« zeigen. Inwieweit sich hier ein ›Zeitgeist‹ – etwa gar eines musikalischen »Biedermeiers« – offenbart, bleibe dahingestellt. Dass sich die Kategorie des ›modalen Spiels‹ selbst in wenig »dramatischen« Werken ergiebig anwenden lässt, spricht jedenfalls für ihre analytische Relevanz.

4. Moll als Ausdrucksmittel »drohenden Scheiterns«

Zu den für die Werkanalyse attraktiven, aus der Perspektive des Historikers gleichwohl problematischen Ansätzen der »Sonata Theory« zählt die Beschreibung des Formverlaufs mithilfe der Metaphern des »Gelingens« und »Scheiterns«. Im Fokus stehen dabei (wie in Abschnitt 1 bereits angesprochen) die »closures« genannten formalen Erfüllungskadenzen, die von der »Sonata Theory« als Entwicklungsziel des Sonatenverlaufs bestimmt werden. So gelten Expositionen und Reprisen, die keine solche vollständige, stabile Erfüllungskadenz hervorbringen, als »gescheitert«.57 Allerdings scheint es metho­disch klüger zu sein, der zu57 Vgl. Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 245 (zur Auffassung der »Nonresolving Recapitulation« als »›failed‹ recapitulation«, die stets eine »strong expressive gesture« bedeute) sowie 177 (»Most failed expositions, then, are nonclosed expositions.«)  ; zu beidem vgl. bereits oben, Anm. 16. Eine Übersicht bietet

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grundeliegenden Überzeugung, dass Sonatenformen als »metaphor for human action«58 zu lesen seien, den Status einer heuristischen Annahme, eines »Vorurteils« im Sinne der Hermeneutik zuzuweisen, als apodiktisch zu behaupten, es liege schlicht »in the nature of the sonata to set up a quest narrative”.59 Auch wenn die Sonata Theory ihren – ebenso radikalen wie unspezifischen – Anspruch, mit Metaphern zu operieren, die »historically sensitive, analytically sophisticated, closely congruent with every moment of the music […], and grounded in research into the period in question«60 seien, kaum je im streng philologischhistorischen Sinn erfüllt, erreichen ihre hermeneutischen Analysen oft ein Maß an Plausibilität, das die Gefahr einer schlechten Zirkelschlüssigkeit überzeugend begrenzt. Insbesondere stützen sich die Lektüren auf plausible Beispiele aus programmatisch oder poetisch fundierter Musik, in denen kontextuell bestimmbarer Gehalt und hermeneutische Forminterpretation in guter Übereinstimmung zu stehen scheinen  : Das expressive »Scheitern« (oder Fehlen) der Erfüllungskadenzen in Beethovens Ouvertüren zu Egmont respektive zu Die Ruinen von Athen ist nachvollziehbar,61 und weitere Beispiele aus poetisch bestimmten Klaviersonaten ließen sich anführen  ; etwa Ferdinand Ries’ Grande Sonate Fantaisie intitulée L’Infortunée fis-Moll op. 26 oder auch der – zwischenzeitlich bezeichnenderweise »Ruinen« betitelte – Kopfsatz aus Schumanns Fantasie C-Dur op. 17. Für die Idee, Sonatenform als metaphorische menschliche Handlung zu beschreiben, gibt es zudem zeitgenössische Beispiele wie die »analyse poétique et pittoresque« eines Haydn’schen Symphoniesatzes in Jérôme-Joseph de Momignys 1806 erschienener Kompositionslehre.62 Mit Blick auf die Rolle von Dur und Moll ist das »Gelingen« nicht bloß eine Frage von vollständig ausgeprägten Strukturkadenzen. Die »Sonata Theory« spricht auch dort von »Scheitern«,63 wo das Kadenzziel zwar erreicht, damit aber das Mollgeschlecht befestigt wird. Grundlage sei die – nicht weiter begründete – generische Prävalenz von Dur, aus auch Seth Monahan, »Success and Failure in Mahler’s Sonata Recapitulations«, in  : Music Theory Spectrum 33 (2011), S. 37–58, hier S. 39f. 58 So der im Folgenden beleuchtete Abschnitt »Narrative Implications  : The Sonata as Metaphor for Human Action« in  : Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 251–254. 59 Ebd., S. 251f. Gerade in den »narrativen« hermeneutischen Analysen reizen die Autoren die von ihnen selbst geforderte »intellectually and analytically responsible boldness« (S. 253) aus. 60 Ebd., S. 254. 61 Vgl. James Hepokoski, »Sonata Theory and Dialogic form«, in  : Musical Form, Forms, and Formenlehre. Three Methodological Reflections, hrsg. von Pieter Bergé, Leuven 2009, S. 71–89. 62 Vgl. Jérôme-Joseph de Momigny, Cours complet de l’harmonie et de composition, d’après une théorie neuve et générale de la musique, basée sur des principes incontestables, puisées dans la nature, etc., Paris 1806, Bd. 2, S. 583–606. Bereits Christoph Hust hat in seiner Rezension der Elements of Sonata Theory auf diese – von Hepokoski und Darcy unberücksichtigte – Quelle hingewiesen  ; vgl. Die Musikforschung 62/2 (2009), S. 177f., der Hinweis S. 178. 63 Die Autoren explizieren das Erreichen von Dur metaphorisch als »one ›wins‹«, dasjenige von Moll als »one ›loses‹«  ; Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 312.

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der das »desire to be emancipated from minor into major« abgeleitet wird, welches wiederum »the basic narrative paradigm – the extra burden – of minor-mode sonata form« konstituiere.64 Obwohl auch diese Prämisse, so plausibel sie erscheint, im Allgemeinen historisch schwierig zu stützen ist,65 findet sich für die 1830er-Jahre eine Belegstelle, die nicht nur das Phänomen nach Moll führender Zielkadenzen beschreibt, sondern auch dessen Sinngehalt expliziert und somit ein historisches Beispiel für ebenjene Art hermeneutischer Interpretation liefert, wie sie die »Sonata Theory« betreibt  : »Schließt jedoch der ganze Satz in Moll, so reißt diese Grundtonart allen Trost, alle Beruhigung des Nebensatzes verschmähend, gewaltsam mit sich fort.«66 Dass mit dem ›Schließen‹ des »ganzen Satzes« nicht bloß die Schlusstakte gemeint sind, sondern wohl tatsächlich die strukturelle Erfüllungskadenz, auf die der Seitensatz hinzielt, macht das in der Folge ausgeführte Beispiel von Beethovens Coriolan-Ouvertüre klar, wo der Moll-Einbruch nach dem Seitensatz, aber vor dem Wiedereintritt des ersten Gedankens festgelegt wird. Die in Abschnitt  1 behandelte Plachy-Sonate, in der die Erfüllungskadenz der Reprise (und damit der Sonate insgesamt) kadenziell zwar gelingt, aber modal »scheitert« (vgl. auch Abbildung 1), stellt einen weiteren Fall dar, auf den sich die hermeneutische Explikation des Gathy-Lexikons anwenden ließe  : Der großformale Verlauf des Kopfsatzes trüge dann die Konnotation »gewaltsam allen Trost verschmähend«, was sich natürlich mit dem Charakter des Hauptthemas ebenso plausibel in Beziehung setzen lässt wie mit der topischen Bedeutung der gewählten Tonart f-Moll. Zur Erinnerung  : In der Plachy-Sonate erfolgt die Wendung nach Moll – in Überein­ stimmung mit dem von Neuwirth beschriebenen Modell  – bereits im Verlauf des Seitensatzes. Diese allmähliche, bereits vor der Strukturkadenz erfolgende Mollbewegung lässt sich gut in die hermeneutische Betrachtung einbinden, denn Seitensatz und Erfüllungskadenz stehen in der »Sonata Theory« in enger funktionaler Abhängigkeit  : Die Erfüllungskadenz ist Fluchtpunkt des Seitensatzes, und umgekehrt ist es die formale Aufgabe (»task«), die »raison d’être« des Seitensatzes, jene hervorzubringen.67 Folgerichtig wird für Moll-Abschnitte (»minor-mode modules«) innerhalb des Seitensatzes ähnliche – und wiederum ahistorische, einzig anhand eines Plausibilitätskriteriums zu beur64 Ebd., S. 311. 65 Die bisweilen herangezogene »Empfindungsfolge« Johann Nikolaus Forkels, die stets mit einer »angenehmen« Empfindung schließen solle, ist z. B. auf einzelne Sonatensätze nicht zwingend übertragbar, da sie bei Forkel »genuin auf den Satzzyklus bezogen« ist, so Stefan Keym, »Zur Frage der ›Einheit der Empfindung‹ in den Klaviersonaten von Johann Gottfried Müthel und Friedrich Wilhelm Rust«, in  : Händel-Jahrbuch 47 (2001), S. 281–302, hier  : S. 302, Anm. 66. 66 Artikel »Form der Musikstücke«, in  : Musikalisches Conversations-Lexikon. Encyclopädie der gesammten Musik-Wissenschaft für Künstler, Kunstfreunde und Gebildete, hrsg. von August Gathy, Hamburg 11835, 21840, in beiden Ausgaben S. 133–138, das Zitat S. 135. 67 Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 118 resp. S. 246.

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teilende – Metaphorik aufgeboten wie für die Interpretation der Erfüllungskadenzen  : Sie beinhalteten »the implication of tragedy, malevolence, a sudden expressive reversal, or an unexpected complication within the musical plot.«68 Damit öffnet sich neben der modalen Horizontbildung und Perspektivierung von strukturell wichtigen Kadenzen ein zweites Feld, auf dem Dur und Moll in die formale und poetische Artikulation der Sonatenform integriert werden können. Wiederum kann die Untersuchung im Prinzip ohne Rücksicht auf das Tongeschlecht des ganzen Satzes oder Zyklus erfolgen  ; ja es sind sogar besonders oft Dursätze, in denen Moll dann eine markierte Rolle zu spielen vermag. Die Trennlinie zwischen funktionaler Einbindung in den Formverlauf und bloßer modaler »Farbwirkung« ist dabei nicht immer scharf zu ziehen. Oft bedarf es der beziehungsstiftenden Betrachtung mehrerer Aspekte, um hermeneutische Plausibilität zu erreichen. Das folgende Fallbeispiel soll die grundsätzlich diskussionsbedürftige Sonaten-Hermeneutik der »Sonata Theory« gleichzeitig in Anspruch nehmen und auf den Prüfstand stellen. Wilhelm Tauberts Sonate A-Dur op. 4 – auf die im Oeuvre des Komponisten noch fünf weitere folgen sollten – erscheint 1830 im kleinen Verlag Brüggemann in Halberstadt.69 Der Kopfsatz von verhältnismäßig übersichtlichen Dimensionen verwendet bereits auf dem Weg zur Modulationszäsur in auffälliger Weise den Mollmodus, indem die satzartig gebaute, forte erklingende zweite Hälfte des zweiteiligen Hauptthemas sogleich piano in Moll wiederholt wird (vgl. Notenbeispiel 6 oben und Mitte). Dieser crescendierende Abschnitt bildet dabei bereits die knappe Überleitung, die zur halbschlüssigen – und mittels Mollsexte wiederum den modalen Horizont kurz öffnenden – Modulationszäsur führt. Auffällig ist an dieser Überleitung – abgesehen vom Modus – die Verwendung der kleinen Sexte f im fünften Takt, durch die der Sextakkord der Submediante F-Dur erklingt. (Die analoge Stelle in der Reprise verwendet dann sogar die vermollte Submediante f-Moll, vgl. Notenbeispiel 6 unten.) Dieser von Hugo Riemann als »Leitton68 Ebd., S. 141. Die Autoren beschreiben hier zwar spezifisch Seitensätze, die in der Molltonart der Oberquinte beginnen, diskutieren diesen Fall aber als allgemeines Beispiel für das Auftreten von Mollabschnitten im Seitensatz. 69 Angezeigt in Hofmeisters Monatsbericht von November/Dezember 1830. Das einzige mir bekannte Exemplar mit originalem Impressum liegt in D-B (ein zweites Exemplar daselbst ist verloren)  ; in D-Sl, D-KNh und NL-DHnmi liegen Exemplare mit der Verlagsnummer des Erstdrucks, aber der Verlagsangabe »Leipzig  : Hofmeister«. Es handelt sich wohl um bereits gedruckte Exemplare, die Hofmeister im Zuge der Verlagsübernahme 1832 in sein Sortiment eingegliedert hat. Vgl. zur Verlagsgeschichte Axel Beer, Artikel »Hofmeister, Friedrich«, in MGG2, Personenteil, Bd. 9 (2003), Sp. 157–159. Die 1864 von Hofmeister zusätzlich gedruckten Exemplare tragen die neue Verlagsnummer 1857, so das in D-LEsta liegende erhaltene Druckbuch. Zu letzterem vgl. u. a. Thomas Synofzik, »Die Druckbücher des Verlags Hofmeister. Eine Fallstudie zu Repertoire, Parallelausgaben, Auflagenzahlen und Honoraren am Beispiel von Schumann, Liszt und Mendelssohn«, in  : Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. und 20. Jahrhundert  : Verlage – Konservatorien – Salons – Vereine – Konzerte (= Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen 3), hrsg. von Stefan Keym und Katrin Stöck, Leipzig 2011, S. 12–27.

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Notenbeispiel 6  : Wilhelm Taubert, Sonate A-Dur op. 4, Kopfsatz  : Forte-Hälfte des Hauptthemas (oben), dessen Moll-Wiederholung als Überleitung in der Exposition (Mitte) sowie in der Reprise (unten)

wechselklang« bezeichnete F-Dur-Sextakkord70 ist dem in Abschnitt 2 behandelten modusperspektivierenden Mollsextvorhalt über der Dominante insofern verwandt, als auch hier die Stimmführung der Oberstimme zwischen Quinte und kleiner Sexte bestimmend ist. Wenngleich zunächst modaler Kontrast das primäre Motivans zu sein scheint, enthüllt sich im Satzganzen auch ein »struktureller Sinn« dieser Mollsexte f – dazu später. Den sich anschließenden Seitensatz prägt eine noch deutlichere Moll-Drift  : Dominantisch über dem H-Dur-Quintsextakkord anhebend, weicht die Oberstimme auf dem letzten Viertel des Takts sogleich von h1 in den oberen Halbton c2 aus (vgl. Notenbeispiel  7). Harmonisch fungiert dieses c als Quintton eines halbverminderten Subdominantvierklangs in Sekundakkordstellung  ; zugleich entspricht die Tonstufe c der Mollnone zur Dominante H-Dur – beides modale Entlehnungen aus der Varianttonart, die das ohnehin instabile E-Dur des Seitensatzes mit deutlichen Moll-Inflektionen versehen.

70 Hugo Riemann, Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre (Praktische Anleitung zum mehrstimmigen Tonsatz), Berlin 81920, S. 80f. – Den Klang bloß als »Submediante« oder als »Gegenklang« zu bezeichnen, ließe die hier relevante spezifische Stimmführung außer Acht. Der weiter ausgreifende, für Fragen nach Dur und Moll durchaus ergiebige Problemkreis von Ausweichungen in die Tonart der Submediante und ihren Funktionen – etwa als »Versunkenheitsepisode« oder »purple patch« – soll hier ausgeklammert bleiben.

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Notenbeispiel 7  : Taubert, Sonate op. 4, Moll-Inflektionen des Seitenthemas der Exposition

Im formfunktional schließenden71 Abschnitt des Seitenthemas kehrt die Mollnone wieder. Dem mit Sforzato vorgetragenen Dominantseptakkord entgegnet piano eine Seufzerfigur, die in oktaviertem Unisono die Mollnone geradezu herausstellt (Notenbeispiel 7 rechts)  ; die sofort folgende Wiederholung des Zweitakters hebt die Wirkung rhetorisch hervor. Syntaktisch kommt dies einer »Verweigerung« der Kadenz gleich, und wieder zeigt sich der Konnex zwischen Moll-Inflektion und Kadenzvermeidung, wie ihn die »Sonata Theory” unter der zusammenfassenden Metaphorik des »Scheiterns« postuliert. Dass »Komplikationen« im Seitensatz oft solche der Erfüllungskadenz nach sich ziehen, zeigt sich hier ebenfalls wieder  : Wiederum leiten verminderte Septakkorde und eine Dominante mit MollQuartsextvorhalt zur Kadenz hin (Notenbeispiel 8, T.  1–3). Die dadurch artikulierte Mollperspektive wird jedoch effektvoll mit einer Dur-Aufhellung verworfen  ; takterstickend tritt mit der Durtonika die Schlussgruppe ein,72 die in ihrer nach oben ausgreifenden Kontur, ihrer Fortissimo-Dynamik und ihrer Textur einen deutlichen Kontrast zum Vorhergehenden bildet. Ostentativ erklingt nun auch der – Gottfried Weber zufolge nach Dur weisende – doppeldominantische halbverminderte Septakkord (T. 7), allerdings nur, um kurz darauf noch einmal zur verminderten Mollform zurückzukehren (T. 7 der 2. Akkolade). Der ganztaktig tremolierende Akkord steht nun aber in Quintsextlage, der modus­ differenzierende Septton liegt wenig prominent in einer Mittelstimme – und der folgende Dominantakkord lenkt mit seiner großen Sexte sofort sicher nach Dur zurück. Damit nicht genug  : Die mehrteilig gebaute Schlussgruppe ruft die Mollnonen des Seitensatzes in Erinnerung, durch Wiederholungen wiederum sozusagen »inszeniert«, und in dem die Exposition beschließenden Fauxbourdonsatz mit 7–6-Syncopatio schwingt latente Klage-Topik mit. Die Mollnone könnte hier demnach eine Art »musikalischer 71 Hier beziehe ich mich auf Caplins »cadential function«  ; vgl. William E. Caplin, Classical Form. A Theory of Formal Functions for the Instrumental Music of Haydn, Mozart, and Beethoven, New York 1998, S. 42f. Zur »variety of loosening devices«, denen jene Funktion gerade im »Subordinate Thema« typischerweise unterworfen ist, vgl. S. 101–111  ; spezifisch zur hier vorliegenden »Expansion of the dominant«, S. 109. 72 Die Ansetzung der Schlussgruppe folgt hier der »First-PAC Rule« der »Sonata Theory«, gemäß der die Erfüllungskadenz – und damit der Beginn der »closing zone« – strikt mit dem ersten befriedigend erreichten Ganzschluss des Seitensatzes zusammenfällt. Sowohl gegen die Regel an sich, als auch gegen ihre Anwendung im vorliegenden Fall lassen sich Einwände anführen  ; die axiomatisch-»mechanische« Formulierung bringt aber auch Vorteile mit sich. Vgl. zur Regel und ihrer Kritik Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 120–124.

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Notenbeispiel 8  : Taubert, Sonate op. 4  : Erfüllungskadenz der Exposition (»EEC«)

Problemstellung« repräsentieren, in der die Aspekte Mollperspektivierung in Hauptsatz, Seitensatz und Schlussgruppe, »drohendes Scheitern« des Expositionsziels sowie topischer Gehalt allgemein (neapolitanisch konnotierte Sexten, Seufzergestus und Syncopatio-Modell) chiffrenhaft zusammentreten. Der Reprisenbeginn schließlich bekräftigt die These, dass der Mollnone im Satzganzen eine konstruktiv-konstitutive Rolle zukommt  : Ein Piano-Einschub mit zögerndem Unisono (Notenbeispiel 9, T. 4ff.) schiebt die affirmative Forte-Dominante auf, die darauf in die Reprise führt.

Notenbeispiel 9  : Taubert, Sonate op. 4, Repriseneintritt im Kopfsatz

Wohl nicht zufällig geht der Stelle die Submediante F-Dur voraus, hier sogleich als übermäßiger Quintsextakkord doppeldominantisch in den Kadenzvorgang eingebunden. Sie lässt sich mit dem F-Dur-Klang der Expositions-Überleitung verknüpfen, und die Überleitung der Reprise setzt diesen seinerseits bereits die Formabschnitte verbindenden Komplex sogar mit der wiederkehrenden Mollnone in Verbindung  : Denn im – der Sonatenlogik folgend quinttransponiert wiederkehrenden  – Seitensatz entspricht jene Mollnone über der Dominante jetzt der Tonstufe f. Das ›Problem‹ Mollnone erfährt seine ›Lösung‹ schließlich in der zu einer Codetta fortgesponnenen Reprisen-Schlussgruppe (Notenbeispiel 10). Über den Dominantseptakkord, der bereits am Expositionsende zur Satztonika zurückgeleitet hatte,73 tritt auch 73 Der ganze Fauxbourdon-Abschnitt der Schlussgruppe erklingt in der Reprise gegenüber der Exposition

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in der Reprise wieder die None, nun als echter Vorhalt behandelt. Es handelt sich jedoch  um die Durnone (*)  ; ein Sachverhalt, der gegenüber der Exposition durch   die große, Dehnung der Dominantharmonie um einen ganzen Takt und überdeutliche, abspaltende  Wiederholung des Auflösungsschritts (a) in den Folgetakten hervorgehoben wird.   

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 Notenbeispiel  10  : Taubert, Sonate op. 4  : modale ›Lösung‹ in der Coda 

  es dieser  Dass ›Lösung‹ noch bedarf, obschon zuvor mit der tonikalen Wiederkehr des Seitensatzes sowie der geglückten Erfüllungskadenz allen Postulaten von »Sonata Principle«74 und »Sonata Theory« Genüge getan worden ist, liefert ein Indiz dafür, dass auch die in der Figur der Mollnone implizierte modale Imperfektion einer Kompensation bedarf. Noch stärker als in den oben erörterten Beispielen wird die modale Dramaturgie zu einer eigenständigen Gestaltungsebene des Formverlaufs, die einerseits bei der Artikulation formaler Schnittstellen mitwirkt, andererseits ein die Formteile transzendierendes Beziehungsnetz knüpfen kann.75 Taubert schöpft dieses Potenzial sogar satzübergreifend aus  : Das periodische gebaute Hauptthema des langsamen Satzes lässt den zweitaktigen Grundgedanken, der Vorderund Nachsatz gemeinsam ist, jeweils in einer Zäsur enden, deren – metrisch gesprochen »schwache« – Artikulation just von der Durnone ausgeht (Notenbeispiel 11). Nicht nur nicht quintversetzt, sondern wörtlich  ; eine Eigentümlichkeit des Satzes, die hier nicht weiter diskutiert werden soll. 74 Im Vordergrund steht hier Edward T. Cones Auffassung des – ursprünglich auf Philipp T. Barford zurückgehenden – Begriffs, nämlich das Postulat »that important statements made in a key other than the tonic must either be re-stated in the tonic, or brought into closer relation with the tonic, before the movement ends.« Zum »Sonata Principle« und seiner Begriffsgeschichte vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Artikel »Sonatenform, Sonatenhauptsatzform«, in  : Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 25. Auslieferung (1997), S. 19. 75 Dieses doppelte Agieren auf Mikro- und Makro-Ebene zugleich könnte ein zeittypisches Verfahren sein  ; vgl. den Fall in Schuberts Heine-Lied Am Meer, wo dem »Variantenwechsel« einerseits »formbildende Funktion« an einer Schnittstelle zukommt, andererseits auch die eröffnende harmonische »Formel« als dessen Derivat angesehen werden kann  : Gerlich, »Am Meer«, insbesondere S. 212–217, die Zitate S. 214.

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knüpft der Satz so an das »Gewonnene« des Kopfsatzes an  ; die None ist nun gar von der charakteristisch dominantischen Spannungsnote zur als melodischer Schmuck der Tonika aufgebotenen Nebennote geworden.

Notenbeispiel 11  : Taubert, Sonate op. 4, Beginn des Andante

5. Zur Frage historischer Spezifizität und Semantik

Vor dem Hintergrund, dass mit der Festlegung des Untersuchungskorpus gezielt ein synchroner Schnitt gezogen wurde, drängt sich die Frage auf, inwieweit die beschriebenen modalen Strategien spezifisch für die Zeit um 1830 sind. Ein Blick in das Korpus zeigt rasch, dass jene Phänomene k e i n Alleinstellungsmerkmal bilden. Unter den älteren, vor 1830 entstandenen, aber im Stichjahr wieder aufgelegten Sonaten verwenden viele Dur und Moll jedenfalls in ganz analoger Weise. So scheint die Strukturidee der Mollsexte auch in Friedrich Kalkbrenners spätestens 1803 entstandener Sonate f-Moll op.  1/176 leitend zu sein, wenn auch mehr im Sinne des »äolischen« sechsten Skalentons der Molltonleiter denn als Vorhaltston  : Bereits das schrittweise aufsteigende Hauptthema findet seinen Kulminationspunkt in der äolischen Sexte (Notenbeispiel 12, oberes System). Nachdem die Erfüllungskadenz – und mit ihr die Schlussgruppe  – vermeintlich bereits erreicht ist,77 wird die äolische Sexte (in der Exposition fes, in der Reprise des) als Akkordfundament angesteuert, um sogleich als alterierte Doppeldominante mit übermäßiger Sexte effektvoll eine Mollperspektive zu öffnen, die rückwirkend den »Erfolg« des Formteils (bzw. des Satzes insgesamt) infrage stellt. Zwar führt die im Kadenzvorgang folgende Dominante mit Durquartsextvorhalt sogleich wieder von Moll weg, um mit rhetorischem Aplomb (chromatische Skalen, Doppeltriller) einen weiteren Ganzschluss zu artikulieren. Aber der darauf im Pianissimo wiederaufgenommene Seitensatz-Abschnitt stützt die Interpretation, dass eine ex postRelativierung der Strukturkadenzen die ästhetische Idee der Formgestaltung bildet.78 76 Der Hofmeister-Monatsbericht Mai/Juni 1830 zeigt eine Ausgabe im Berliner Verlag Lischke an. Notenbeispiel 12 verwendet als Vorlage die »Nouvelle Edition revue et corrigée par l’Auteur«, die um 1831 in Leipzig bei Kistner erschienen sein muss  ; vgl. Otto Erich Deutsch, Musikverlagsnummern. Eine Auswahl von 40 datierten Listen 1710–1900, Berlin 1961, S. 18. 77 Die Bestimmung folgt zunächst wiederum starr der »First-PAC Rule« der »Sonata Theory« (vgl. Anm. 72). 78 Zur Idee des »closure deferral«, insbesondere durch »retrospective reopenings of the first PAC with following material« vgl. den so überschriebenen Absatz bei Hepokoski und Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 151–

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Notenbeispiel 12  : Kalkbrenner, Sonate f-Moll op. 1,1, Beginn (oben) und Coda (unten) des Kopfsatzes

Die ganz knappe Coda ruft den Moment modaler Ungewissheit noch einmal in Erinnerung  : Nun ist es gar die äolische Sexte des Hauptthemas, die einen übermäßigen Quintsextakkord fundiert, der kurz prolongiert, aber letztlich doch in den Durquartsextvorhalt der Dominante aufgelöst wird (Notenbeispiel 12, unteres System). In John Fields 1801 erstmals verlegter Sonate A-Dur op. 1/2 (Hopkinson 8/2)79 ist es eine Ausweichung in die Mollsubmediante der angepeilten Seitensatztonart, die sowohl vor der Modulationszäsur als auch vor der Erfüllungskadenz den modalen Horizont öffnet.80 In Jan Ladislav Dusíks (Dusseks) ebenfalls 1801 erschienener Sonate D-Dur op. 47/1 (Craw 184)81 beginnt die Überleitung in der anfangs stabil aus Dur gehenden Reprise unvermittelt in d-Moll. Wiederum ist es die Submediante B-Dur, die – als übermäßige Doppeldominante gewendet – schließlich dennoch zum durtonikalen Seitensatz leitet. In Beethovens Sonate c-Moll op. 10/182 (fertiggestellt 1798) sind es wieder kleine Nonen, die vor dem Seitensatz der Reprise – nicht aber der Exposition – eine Mollperspektive eröffnen und so bereits den später erfolgenden Moll-Umschwung des Seitensatzes 163. Die »Wiederbelebung« von thematischem Material aus dem Seitensatz mitten in einer mehrteiligen Schlussgruppe diskutieren die Autoren als eine Realisierungsmöglichkeit des »reopening«  ; vgl. S. 152–159. 79 Vgl. Cecil Hopkinson, A Bibliographical Thematic Catalogue of the Works of John Field, 1782–1837, London 1961, S. 13–16. Das Dreieropus ist in Hofmeisters Monatsbericht von Juli/August 1830 als Verlagsartikel von Peters in Leipzig mit »herabges. Pr.« angezeigt  ; auch Hopkinson – der irrig »Hofmeister« als Verlag angibt – sind keine Exemplare dieser Abzüge bekannt. 80 Vgl. T. 22ff. und 45ff. in der Exposition bzw. 101ff. und 121ff. in der Reprise, Taktzahlen nach  : John Field  : Sonata II in La Maggiore (= Opere Complete per Pianoforte IV), hrsg. von Pietro Spada, Pavone 2001. 81 Vgl. Howard Allen Craw, A Biography and Thematic Catalogue of the Works of J. L. Dussek (1760–1812), Diss. University of Southern California 1964, S. 330. Die Sonate bildet das Eröffnungsheft des Musikalischen Ehren-Tempels, der bei den beiden Hamburger Verlagen Böhme und Cranz ab Februar 1830 erschien. Vgl. Fellinger, Periodica Musicalia, S. 972. 82 Die Sonate bildet (zusammen mit dem Rondo aus op. 10,2) Heft 11 des 1. Jahrgangs des Musikalischen EhrenTempels (Hamburg, Böhme und Cranz) sowie das Doppelheft 10/11 der Bibliothek für Pianoforte-Spieler (Hamburg und Itzehoe, Schuberth & Niemeyer).

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unterschwellig vorbereiten. Und selbst noch früher komponierte Werke weisen einen vergleichbaren Umgang mit Dur und Moll auf  : Muzio Clementis Sonate Es-Dur op. 23/3 (1790)83 führt vor der Modulationszäsur die Oberstimmen über einem Dominantorgelpunkt in den Mollquartsextvorhalt  ; vor den Erfüllungskadenzen wird zudem die Mollterz der jeweiligen Zieltonart als Spitzenton einer Skalenbewegung kurz erreicht. In allen Fällen erfolgen die Strukturkadenzen danach in Dur. Mozarts Sonate c-Moll KV 457 (1784)84 bietet beinahe ein Kompendium aller beschriebenen Verfahren. Nur zwei Aspekte seien herausgegriffen  : Der Mollhorizont vor der Modulationszäsur bildet eine Erwartungsstruktur aus, die zunächst  – durch den Durseitensatz der Exposition  – im Sinne einer »Aufhellung« enttäuscht, mit der MollWiederkehr des Seitensatzes in der Reprise dann jedoch eingelöst wird. Und die Erfüllungskadenzen, die in modaler Kongruenz mit den Seitensätzen in Dur respektive in Moll stehen, weisen im Vorfeld – hier wieder im Dienste modaler Kontinuität – in der Exposition einen (diatonischen) verminderten Septakkord, in der Reprise hingegen einen übermäßigen Quintsextakkord auf.

Notenbeispiel 13  : W. A. Mozart, Sonate F-Dur KV 332, Modulationszäsur der Exposition im Kopfsatz

Selbst die Sonate F-Dur KV 33285 bietet die mittlerweile bekannten Mittel der Moll-Perspektivierung vor der Modulationszäsur auf  : alterierte Doppeldominante, Bewegung der Mittelstimmen in den Mollquartsextvorhalt und der Melodiestimme in die Mollnone der Dominante (Notenbeispiel 13). Sogar das älteste Werk im Untersuchungskorpus, Haydns vor 1780 entstandene Sonate D-Dur Hob  XVI  :37,86 kontrastiert vor ihren Erfüllungskadenzen den Durquartsextvorhalt über der Dominante jeweils mit verminderten und neapolitanischen Akkorden.87 83 Vgl. Alan Tyson, Thematic Catalogue of the Works of Muzio Clementi, Tutzing 1967, S. 61. Die Sonate bildet Heft 15 des 1. Jahrgangs des Musikalischen Ehren-Tempels. RISM verzeichnet die Ausgabe (A/I CC 2943a) zwar, gibt aber nur einen Fundort dieses vergleichsweise breit überlieferten Drucks an. Vgl. auch Fellinger, Periodica Musicalia, S. 972. 84 Die Sonate erschien 1830 – zusammen mit der Fantasie KV 475 – verteilt auf Heft 2 und 3 in der Bibliothek für Pianoforte-Spieler bei Schuberth & Niemeyer in Hamburg und Itzehoe. 85 1830 als Eröffnungsheft der ebengenannten Bibliothek erschienen. 86 Zusammen mit der C-Dur-Sonate Hob XVI  :35 als Heft 21 des 1. Jahrgangs des Musikalischen Ehren-Tempels erschienen. 87 Erweiterte man die Betrachtung über die Grenzen des Untersuchungskorpus hinaus, fänden sich bei Haydn

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Ob diese älteren Werke als direkte Modelle kompositorisch rezipiert wurden,88 oder ob sie nicht vielmehr um 1830 den ›Horizont‹ für Produktion und insbesondere Rezeption bildeten, lässt sich im Allgemeinen wohl nicht trennscharf entscheiden. Die rezeptionsästhetische Betrachtungsweise hat vielleicht mit Blick auf Aspekte der Sonatenform (und deren semantische Implikationen) den Vorteil, dass sie die Konstitutionsleistung der Rezipierenden um 1830 in den Vordergrund rückt. Denn während bereits »Struktureigenschaften« – als vermeintlich sachlich festzustellendes Substrat von ›Form‹ – »weniger objektive Qualitäten einer Komposition als vielmehr Interpretamente«89 darstellen, gilt dies erst recht für die hermeneutisch zu interpretierende ›Bedeutung‹ dieser Form – und damit auch für die ›Semantik‹ von Dur und Moll, wo diese zum Darstellungsmittel des Formprozesses werden.90 Noch einmal soll die Plachy-Sonate als Beispiel herangezogen werden  : Zu den mannigfaltigen deutlich am Vorbild von Beethovens »Appassionata« ausgerichteten Momenten der Sonate zählt auch der Durdurchbruch im Hauptsatz der Reprise. Der formale Ort stimmt überein, und in ihrer Machart folgt die Stelle dem Modell so genau, dass die in Abschnitt  1 ausgeführten intertextuellen Bezüge sich aufdrängen. Ob jedoch damit einhergeht, dass der plausibel diagnostizierte »sarkastische Trotz«91 des Durchbruchs bei Beethoven auch bei Plachy festzustellen wäre oder ob sich der intertextuelle Transfer nicht vielmehr in affirmativer Weise auf die Durchbruchswendung an sich beschränkt, ist eine schwierig zu beantwortende rezeptionsästhetische Frage. Immerhin zeigt sie, wie der Kontext – sowohl der ästhetische des übergeordneten Werks als auch der historische des rezipierenden Publikums – die Voraussetzungen schafft, einer in ihrer Substanz sich kaum unterscheidenden Wendung je ganz anderen Sinn zuzuweisen.

auch eindeutig »semantisch aufgeladene« Fälle, etwa im cantabile e mesto überschriebenen Largo-Satz aus dem D-Dur-Streichquartett op. 76/5. 88 Eine weitere Frage wäre dann, ob dabei die Strategien kontinuierlich tradiert wurden oder gleichsam Konjunkturphasen unterworfen waren, so wie z. B. Charles Rosen gewisse Sonatenstrategien – darunter die Verwendung der Molltonart der V. Stufe für den Seitensatz – als »stereotypes of the 1750s and 1760« bestimmt hat  ; vgl. ders., Sonata Forms, revised edition, New York 1988, S. 153. – Zu den mutmaßlich wichtigen Modellen, die dadurch auch den kompositionsgeschichtlichen Nexus zwischen den Werken der Jahrhundertwende und denjenigen um 1830 bildeten, zählten bestimmt die vier Klaviersonaten von Carl Maria von Weber, die im hier verwendeten eng definierten Untersuchungskorpus nicht auftauchen. 89 Hans-Joachim Hinrichsen  : »Musikwissenschaft  : Musik – Interpretation – Wissenschaft«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 57 (2000), S. 78–90, hier  : S. 87. 90 Ganz ausgeklammert bleiben hier alle – ebenfalls diskussionswürdigen – Fälle, in denen z. B. Dur in Mollsätzen weniger mit »semantischen« Implikationen, sondern mehr aus formfunktionaler Notwendigkeit auftritt  : Im Trauermarsch von Beethovens 1830 bei Joseph Czerný in Wien wiederaufgelegter Sonate As-Dur op. 26 erklingt in der Codetta die Durvariante der Satztonart zunächst schlicht deshalb, weil sie hier als Trägerin der »Abschiedsseptime« zwischendominantisch fungiert und darum zwingend die Durterz aufweisen muss. 91 Hinrichsen, Beethoven, S. 264.

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Es ist nicht zuletzt die intuitive Selbstverständlichkeit, mit der sich uns die Semantik von Dur und Moll in historischen Musikwerken zu erschließen scheint, welche die doppelte Gefahr einer Über- und Untersemantisierung birgt. So ist es gar nicht einfach, rezeptionshistorische Belege zu finden für die zunächst unauffällige, subkutan biographistisch überformte Feststellung, in Mozarts Sonate a-Moll KV 310 kehre am Sonaten­ ende »die Stimmung der Verzweiflung und Resignation vom Anfang zurück. Trotzig und energisch schließt der Satz in a-Moll.«92 Gleichzeitig verkennt eine Einschätzung, die bei Schumanns Sonate fis-Moll op. 11 von einer Reprise spricht, »deren Verlauf keine Überraschung birgt«,93 vor dem Hintergrund zeitgenössischer Belege wie des erwähnten Artikels aus Gathys Konversationslexikon einerseits und mit Blick auf die gängige Praxis andererseits vielleicht doch ein ästhetisch zentrales Moment der Formgestaltung, das hier in der durchwegs nach Moll versetzten Seitensatzwiederkehr läge. Die beiden skizzierten Problemkreise – die Fragen also, inwieweit die beschriebenen modalen Strategien historisch spezifisch für die Zeit um 1830 sind bzw. welcher Sinn ihnen zuzuweisen wäre – sind ineinander verschränkt, und eventuell liegt gerade in dieser Verschränkung ein Lösungsansatz  : Sollten sich die Implikationen von Dur und Moll als Artikulationsmittel der Sonatenform zwischen 1780 und 1830 auf eine Weise verändert haben, dass die bei Gathy begegnende prägnante poetisch-semantische Lesart eine historisch neue Position darstellte, läge das Charakteristische jener Formmittel in der von diesen Lesarten geleiteten neuen Sinnzuweisung. Dass dieses spezifisch Neue dann um 1830  – abhängig vom Grad historischen Bewusstseins der Rezipienten, potenziell aber vollumfänglich – auch auf die älteren, in der musikalischen Lektüre »aktualisierten« Werke übertragen werden konnte, ist eine kaum zu verhindernde Folge der rezeptionsästhetischen Perspektive.94 Wie bei jeder hermeneutischen Interpretation gilt es auch hier, Interdependenzen sorgfältig von Zirkelschlüssigkeit abzugrenzen. Neben den genannten historischen Belegen gibt es auch werkimmanente Indizien, mit denen sich die These von der historischen Spezifizität der Verwendung von Dur und Moll stützen lässt. Erstens lässt sich die Verwendung bisweilen plausibel mit weiteren ›poetischen‹ Zügen der Werke verbinden  ; Gattungen wie sonatenform-regulierte Fantasie oder (Konzert-)Ouvertüre böten hier Anknüpfungspunkte. Zweitens fügen sich die Verfahren oft stärker als bei älteren Werken planvoll in übergeordnete, unter Umständen sogar satzübergreifende Bezüge ein, 92 So Paul Badura-Skoda in einem nur online veröffentlichten Erläuterungstext zur »Urtext«-Ausgabe der Mozart-Sonaten im Henle-Verlag  : https://www.henle.de/de/feuilleton/mozart-klaviersonaten/, 15.12.2019. 93 Michael Heinemann, »›Was liegt am Namen  !‹ Zu Schumanns Klavier-Sonaten«, in  : Robert Schumann (1810– 1856), hrsg. von Jessica Distler und Michael Heinemann, Berlin 2006, S. 23–34, hier  : S. 28. 94 Was hier als historiographisches Problem auftaucht, findet sich positiv gewendet in der verwandten Überlegung, dass die »Aktualisierung einer jüngeren Form […] erst den Zugang zum Verständnis der verkannten älteren Form finden lässt«  ; vgl. Hans Robert Jauß, »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«, in  : Rezeptionsästhetik, hrsg. von Rainer Warning, München 1975, S. 126–162, hier S. 143ff.

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wie das Beispiel von Tauberts Sonate A-Dur gezeigt hat. Und drittens kommt den mit Dur und Moll operierenden Gestaltungselementen eine relativ größere Salienz zu, da andere Formelemente wie Themenkontrast, »motivisch-thematische Arbeit«, aber auch harmonische oder formale Avantgardismen in den um 1830 entstehenden Sonaten ihnen gegenüber an Prominenz deutlich zurücktreten.95 Alle drei Indizien finden sich in Carl Loewes Grande Sonate E-Dur op. 1696 beispielhaft vereint  : Die poetisch-romantische Grundausrichtung macht am schlagendsten der langsame Satz deutlich, der zwei Singstimmen enthält  ; insgesamt prägt eine »invocation of vocal style«97 in Form vokaler Modelle, Gesten oder eben sogar Gattungen den Sonatenzyklus. Durch direkte Verknüpfung mit eindeutig ›semantisch‹ konnotierten vokalen Modellen lassen sich auch modale Mittel kaum anders als ›sprechend‹ deuten. So wird im Kopfsatz die glücklich erreichte Zieltonika der Exposition nach dreimaliger, bereits »diluendo« überschriebener Akkordwiederholung und einer rhetorischen Pause als Mollakkord wiederholt. An diese ›Zurücknahme‹ schließt sich ein Instrumentalrezitativ in Moll an, das – ohne weitere starke Kadenz – zurück in die Expositionswiederholung bzw. Durchführung leitet. Der topische »Nicht diese Töne«-Gehalt des Rezitativs kann sich an diesem formalen Ort auf nichts anderes beziehen als auf die »modal gescheiterte« Erfüllungskadenz. Die Idee, bereits erreichte Durtonarten rhetorisch nach Moll rücken zu lassen, findet sich auch in der Reprise des Kopfsatzes – mithilfe eines übermäßigen Quintsextakkords raffiniert ›gelöst‹ – wieder sowie in anderen Sätzen des Zyklus  : Die Codetta des Finalsatzes greift nicht nur den Parlando-Gestus des Satzbeginns auf, sondern wendet sich über die Submediante C-Dur noch einmal nach e-Moll. Und schließlich treten solche durmoll-dramaturgischen Formmittel gegenüber anderen in den Vordergrund  ; die stark zyklus-integrierende subthematische Themengemeinschaft98 etwa folgt auch hier nicht dem Paradigma von ›Kontrast‹ und ›Konflikt‹.

95 Vgl. die ähnliche Überlegung, dass die F-Zentrierung a l l e r Sätze in William Sterndale Bennetts Sonate op. 13 (1837) keine Schwäche des Werks, sondern ein Mittel sei, um die Bedeutung der modalen Strategie hervorzuheben  ; R. Larry Todd, »Mendelssohnian Allusions in the Early Piano Works of William Sterndale Bennett«, in  : The Piano in Nineteenth-Century British Culture. Instruments, Performers and Repertoire, hrsg. von Therese Ellsworth und Susan Wollenberg, Aldershot 2007, S. 101–117, hier  : S. 108. 96 Die vermutlich 1829 komponierte Sonate erschien im Berliner Verlag von Heinrich Wagenführ und wurde in Hofmeisters Monatsbericht von September/Oktober 1830 angezeigt. Zur Entstehung und Datierung vgl. John Salmon, The Piano Sonatas of Carl Loewe, New York 1996, S. 93. Von der Originalauflage scheinen sich keine Exemplare erhalten zu haben (das bei Salmon erwähnte Exemplar in D-B ist Kriegsverlust)  ; eine »2te Auflage« ist in D-B, D-KIl und D-Sl vorhanden. 97 Salmon, Piano Sonatas, S. 103. 98 Salmon, ebd., S. 122, sieht hier bereits Liszts Verfahren der Thementransformation vorgeprägt.

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6. »Fortschritt« oder »Verfall«?

Ein letztes Beispiel soll noch einmal zeigen, wie Dur und Moll zur Verwirklichung von gemeinhin als typisch »romantisch« und sonatengeschichtlich »fortschrittlich« geltenden Eigenschaften aufgeboten werden können. Friedrich Kuhlaus99 Sonate d-Moll op. 46/2 stellt einen vergleichsweise frühen Fall von Zyklusintegration, ja gar eine Art ›Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit‹ dar. Die drei Sätze der Sonate prägen – wenn auch in etwas ungewöhnlicher, mit dem langsamen Satz beginnender Reihenfolge, für die es aber durchaus Vorbilder gibt – die gewohnten Satzcharaktere aus, fungieren jedoch gleichzeitig als langsame Einleitung, Sonatensatz und Coda. Die Sätze folgen einander nicht nur attacca, sondern werden auch durch eine thematische Klammer zusammengehalten, die entscheidend auf einer modalen Transformation beruht  : Das Hauptthema des in d-Moll stehenden Allegro agitato erscheint in einer Durgestalt (und ins 6/8-Metrum übersetzt) als Thema des schließenden Larghetto (Notenbeispiel 14). Dass dabei die im Allegro dominantische Harmonisierung der zweiten Takthälfte durch eine mollsubdominantische ausgetauscht wird, bindet die Durgestalt vermittelnd in die Mollsphäre der vorangehenden Sätze zurück100 und verleiht dem Thema zugleich reizvolles Chroma.

Notenbeispiel 14  : Friedrich Kuhlau, Sonate d-Moll op. 46/2, Beginn des Allegro agitato und des Larghetto

Diese Durwendung auf Zyklusebene folgt einerseits dem dramatischen Paradigma des »per aspera ad astra«, in dessen Dienst auch das von (zwischenzeitlich tonikalisierten) neapolitanischen Sextakkorden geprägte eröffnende Adagio patetico steht. Andererseits gelingt der Durwendung eine Verschränkung von thematischer Identität und ästhetischer Differenz, die zu leisten kaum ein anderes Artikulationsmittel durmolltonaler Musik im Stande wäre. Denn motivisch-thematische Mittel stehen in diesem bezeichnenderweise auf eine Durchführung verzichtenden Werk nicht im Vordergrund, während sich die tonalen Mittel im zentralen Sonatensatz bereits erschöpft haben  : Haupt- und Seitensatz  99 Die ersten beiden Sonaten aus Kuhlaus Dreieropus op. 46 sind im Doppelheft 7/8 des 1.  Jahrgangs des Musikalischen Ehren-Tempels der Hamburger Verleger Böhme und Cranz enthalten. Notenbeispiel 14 folgt der 1823 bei Cranz in Hamburg erschienenen Originalausgabe  ; vgl. Jørgen Erichsen, Friedrich Kuhlau. Ein deutscher Musiker in Kopenhagen. Eine Biographie nach zeitgenössischen Dokumenten, aus dem Dänischen übers. von Marie Louise Reitberger, unter Mitarbeit von Sonja Schmitt, Hildesheim 2011, S. 385. 100 Auch die in ihrer fallenden Gestalt in Moll stehenden rauschenden Skalen zu Beginn der Prestissimo-Stretta rufen – als sich kurz öffnender modaler Horizont – noch einmal den Mollkontext in Erinnerung.

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sind in deren Reprise bereits umfänglich tonikal erklungen, sodass die Forderungen des »Sonata Principle101 eigentlich erfüllt wären. Der Durtransformation des Hauptthemas gelingt es dennoch, die tonale Sonatenlogik gleichsam mit anderen Mitteln überzeugend weiterzuführen. Im Umkehrschluss lässt sich daraus eine Art modale Erweiterung des »Sonata Principle« ableiten  : »important statements«, die nicht in Dur gemacht worden sind, müssen demnach offenbar in Dur wiederholt werden, bevor der Satz (oder der Zyklus) endet.102 Sowohl die resultierende Zyklusintegration als auch die mit ihr einhergehende »poetische« Implikation der modalen Dramaturgie scheinen uns Heutigen ein Qualitätsmerkmal im Sinne von ›Fortschrittlichkeit‹ und ›Romantik‹ darzustellen. Ein Blick in das zeitgenössische Schrifttum zeigt jedoch, dass dieses Urteil nicht immer geteilt worden ist. Schumanns Rezension von Norbert Burgmüllers 1839 bei Hofmeister in Leipzig postum erschienener Sonate f-Moll op. 8103 lobt zwar am Finale – einem Satz notabene, der von modalen Überraschungen effektvoll, aber beinahe exzessiv Gebrauch macht – den »Doppelcharakter von Resignation und Lebemut«, hätte aber »nach solchem ersten Satz im letzten etwas Tieferes an Kombination erwartet«.104 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Schumann Dur und Moll als untauglich erachtete, jenes geforderte »Tiefere an Kombination« zu realisieren. Bezeichnenderweise greifen denn auch seine eigenen Sonatensätze wieder stärker auf tonale, rhetorische, topische und anderweitig poetische Mittel zurück denn auf modale. Gerade eine Sonatenform wie diejenige des Kopfsatzes der Fantasie CDur op. 17 lässt sich gewinnbringend im hermeneutischen Paradigma des »Scheiterns« interpretieren  ; die formalen Artikulationsmittel sind aber andere als diejenigen von Dur und Moll.105 Schumanns Vorbehalte stünden dann in Einklang mit der jüngst von Jeffrey Swinkin geäußerten Vermutung, dass es innerhalb von Beethovens Oeuvre als Fortschritt im Sinne einer kontinuierlichen »Dramatisierung« zu deuten sei, dass Beethoven sich wei101 Zum »Sonata Principle« vgl. oben Anm. 74. 102 In ähnlicher Weise ließe sich auch ein weiteres wirkmächtiges Konzept der Sonatenform-Forschung, nämlich Rosens »structural dissonance«, auf »modale Dissonanzen« erweitern. 103 Da das Autograph verschollen ist, muss die Datierung der Entstehung weiterhin als »incerta e affidata a considerazioni di ordine stilistico« gelten  ; Claudio Bolzan, Norbert Burgmüller  : La vita e l’opera di un grande sinfonista nella Germania del primo ’800, Treviso 1995, S. 52. Klaus Martin Kopitz datiert die Sonate aufgrund von Notationseigenheiten im Erstdruck auf 1826, vgl. Norbert Burgmüller, Sämtliche Klavierwerke (= Denkmäler rheinischer Musik 30), Köln 2008, S. 67f. Eine Übersicht der Diskussion bietet –Kopitz’ Hypothese favorisierend – wiederum Bolzan, »›Ein treffliches Werk‹. Zur Klaviersonate op. 8 von Norbert Burgmüller«, in  : Nota bene Norbert Burgmüller. Studien zu einem Zeitgenossen von Mendelssohn und Schumann, hrsg. von Tobias Koch und Klaus Martin Kopitz, Köln 2009, S. 95–108, hier  : S. 97–100. 104 Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hrsg. von Martin Kreisig, Leipzig 51914, Bd. 1, S. 432. 105 Dass Schumann in anderen Gattungen – z. B. im Finale der Symphonie d-Moll – durchaus mit modalen Erwartungen »spielt«, weist wohl auch auf eine Differenzierung zwischen öffentlichen und intimen Gattungen hin.

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terentwickelt habe »from using the ›wrong‹ mode to the more radical technique of using the ›wrong‹ key«.106 In der Tat finden sich um 1830 Zeugnisse dafür, dass Dur und Moll – verglichen mit Tonartenbeziehungen oder gar -charakteristiken – als basalere, wirkungsästhetisch effek­ tivere, aber eben auch gröbere Darstellungsmittel galten. So geht denn auch die Diskussion von Dur und Moll im 1829 erschienenen Musikalischen Wörterbuch von Johann Daniel Andersch gerade vom subtileren, allerdings tendenziell esoterischen Mittel des »Charakters der Tonarten« aus. Der Artikel kommt zum Schluss, dass vermutlich »den einzelnen Tonarten für sich alleine keine besondere Wirkung einzuräumen sei«.107 Ein Kontrastbeispiel verdeutlicht dies  : »Keineswegs kann man in Abrede stellen, dass vorzüglich die beiden Tongeschlechte [sic], D u r und M o l l auf unser Gemüth verschiedenartig einwirken. Die weichen Tonarten, wohl die natürlichsten, […] erregen sanfte, melancholische, keinesweges heitere Gefühle  ; sie erwecken Mitleid und entlocken Thränen  ; nur den physischen Menschen [sic] ergreifen sie. Die harten Tonarten hingegen […] erfassen kühn den geistigen Menschen zugleich  ; sie erregen heitere, grossartige, edle Gefühle  ; sie erheben den Geist zur Andacht, begleiten seine Gebete zu Gott und verkünden jubelnd dessen Ruhm.«108

Zunächst ist dies eine willkommene, bisher kaum beachtete Belegstelle für die Wirkung und die semantische Konnotation von Dur und Moll. Schon in der Gegenüberstellung von »physischem« und »geistigem« Menschen kommt jedoch die Kehrseite dieser »vorzüglichen« Wirkung zum Vorschein, die in den oben ausgelassenen Satzparenthesen noch deutlicher wird  : »Natürlich« sei das Mollgeschlecht deswegen, weil »die mehresten Gesänge der noch nicht im hohen Grade zivilisirten Völker, und die ältesten bis jezt erhaltenen Nazionalmelodien, […] grosstenteils in derselben geführt« seien  ; die Durtonarten hingegen seien »mehr Kinder der Kultur«. Diese ethnologische Konnotation taucht auch bei anderen Autoren auf, die mitunter noch unmissverständlichere Worte finden  :

106 Swinkin, »About a Key«, S. 558. Zu Swinkins These gehört auch die Einschätzung, Beethoven habe mit der Verwendung modaler Mittel eine zwischenzeitlich aus der Mode gekommene Technik aufgegriffen und ihr in den frühen Sonaten »considerable dramatic impact« verliehen. 107 Artikel »Charakter der Tonarten«, in  : Musikalisches Wörterbuch für Freunde und Schüler der Tonkunde, zusammengetragen von Dr. Johann Daniel Andersch, Berlin 1829, S. 90–93, hier S. 92f. Unter »Charakter« versteht der Autor die »natürliche Eigenschaft der Tonarten, zufolge welche jede einzelne derselben, besondere Gefühle in dem Menschen erregen soll«  ; S. 90. 108 Ebd., S. 91.

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»Die Gesänge barbarischer und ungebildeter Nationen und roher Jahrhunderte sind fast alle traurig und in Molltönen. Das Heitre, Edle, Anmuthige ist dagegen meistens die Frucht höherer Bildung, geläuterten Geschmacks, und eines gesunden Sinns.«109

Ob allerdings mit den »Barbaren« wirklich nur fremde Völker gemeint waren und nicht etwa auch die »größere Zahl von Dilettanten, die am Clavier sich spielend die Zeit vertreiben wollen«  ?110 Denn mutmaßlich ist es die zunehmende »musical literacy«,111 die den Rezipientenkreis um neue Publikumssegmente wachsen lässt, deren musikalische Bildung fast zwangsläufig noch hinter derjenigen der »Liebhaber« des 18. Jahrhunderts zurückstehen muss. Aus dem Blickwinkel des musikhistorischen Kulturpessimismus scheint dann das – effektive, aber letztlich doch stereotype – modale Gestalten vielleicht gar der umrisshafteren Figurenzeichnung und den auf Effekt bedachten Handlungen der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur verwandt. Um ein Werk vor dem Hintergrund der obenstehenden Kritik zweifelsfrei als »Kind der Kultur« auszuweisen, müsste es – da es stets beider Tongeschlechter bedarf, um modale Kontraste zu bilden, und modale Strategien also stets dem »Physischen« und Unzivilisierten verhaftet blieben – absichtsvoll auf jene Strategien verzichten. Dies könnte einen Grund dafür darstellen, dass um 1830 Sonaten – ohnehin ja eine Gattung mit dem Anspruch des »Noblen«, »Serenen« und Kultivierten – oft in Dur stehen. Als primäres Artikulationsmittel der Sonatenform dienten dann tonale Verhältnisse, mithin eine Wirkung der »Tonarten«, die auch der Artikel in Anderschs Wörterbuch für plausibel hielt  : Jede Tonart könne immerhin »in Betreff ihres Verhältnisses zu der willkürlich angenommenen Haupttonart […] zu der Charakterbildung des ganzen Tongebildes beitragen.«112 Das tonale Gerüst der Sonatenform wurde denn auch in keinem der beleuchteten Fallbeispiele in Frage gestellt, und auch weitere – harmonische, topische – Formmittel sind als konventionalisierte allesamt ›Kinder der Kultur‹. Die modalen Mittel dienten jedoch  – gerade in Dursonaten  – offenbar dazu, signifikante Momente des Formprozesses hervorzuheben (zu ›inszenieren‹) und ästhetisch anzureichern. Darüber hinaus 109 Czerny, Schule der praktischen Tonsetzkunst, Bd. 1, S. 44. Die Londoner Ausgabe übersetzt »höhere Bildung« mit »higher refinement«, »gesunden Sinn« mit »a more sound understanding«  ; Czerny, School of Practical Composition, Bd. 1, S. 52. 110 So stellvertretend für eine zeittypische Klage Amadeus Wendt, Über den gegenwärtigen Zustand der Musik besonders in Deutschland und wie er geworden  : Eine beurtheilende Schilderung, Göttingen 1836, S. 15. Ironischerweise ist es in der Regel gerade Czerny, der – oft neben Rossini – als Chiffre für den musikalischen Verfall ins Feld geführt wird. 111 Der Begriff taucht bereits auf bei Arthur Loesser, Men, Women, and Pianos  : A Social History, New York 1954, S. 425  ; ein geläufiges deutschsprachiges Pendant scheint nicht etabliert. (Musikalische ›Alphabetisierung‹ wirkt bildlich schief, während der Begriff ›Literalität‹ – als Gegenbegriff zu ›Oralität‹ – im literaturwissenschaftlichen Diskurs oft ein anderes Konzept bezeichnet als ›literacy‹.) 112 Andersch, Artikel »Charakter der Tonarten«, S. 93.

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vermag vielleicht die in der ›Horizontbildung‹ implizit ausgeprägte Erwartungsstruktur die Zeitlichkeit des Formverlaufs herauszustellen. In wenigen Werken – die durch diese Besonderheit ein Qualitätsmerkmal hinzugewinnen – schließlich kommt dem planvollen Einsatz von Dur und Moll eine formale ›Leistung‹ zu, die kein anderes Artikulationsmittel so hätte erbringen können.

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Matteo Giuggioli

Lichtblitze und fatale Räume Zur Dramaturgie von Dur und Moll in der italienischen Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts*

Die Verwendung der harmonischen Gestaltungsmittel in der italienischen Opera seria der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts sieht Konventionen vor, die nicht zu restriktiv sind. Im von Gioachino Rossini am Anfang des Jahrhunderts neu definierten Operncode gibt es in dieser Hinsicht nur einige Präferenzen und keine verbindlichen Regeln.1 Ein Schlüsselprinzip, das aber auf jeden Fall bereits vor der Mitte des Jahrhunderts seine Gültigkeit verliert, wie die von Giuseppe Verdi vor 1850 komponierten Opern zeigen, ist die tonale Einheit jeder Musiknummer. Gemäß diesem Prinzip beginnt und schließt eine Nummer in der Regel in derselben Tonart, in der sie begann, unabhängig von ihrem Umfang und ihrer strukturellen Organisation, von der Vielzahl der Situationen und Affekte, die innerhalb ihrer Grenzen aufeinander folgen, auch unabhängig von ihrer tonalen Stabilität. Ebenso üblich ist, dass die Nummern insgesamt sowie diejenigen ihrer Teile, die in Moll beginnen, stets in Dur enden.2 Als Beispiel für die tonale Einheit betrachten wir das erste Finale von Rossinis Tancredi (Nr.  7 in der Partitur), der Oper also, die 1813 der erste große Erfolg des Komponisten im Bereich der Opera seria war. Tancredi wird allgemein als eine für das von Rossini definierte Opernmodell paradigmatische Oper betrachtet. Im »Finale primo« dieser Oper wurde von der Forschung eine »Kristallisation« der Struktur des zentralen Finale identifiziert (nach verschiedenen von dem jungen Komponisten in seinen vorangehenden Opern erprobten Lösungen),3 die Rossini von diesem Zeitpunkt an benutzt * Ich möchte mich bei Daniele Carnini, Emanuele Senici und Anselm Gerhard herzlich bedanken. Ihre Anmerkungen und Vorschläge haben eine wichtige Rolle bei der Genese dieses Aufsatzes gespielt. Ebenso herzlich danke ich Felix Michel für die sprachliche Korrektur meines schriftlichen Deutsch als Fremdsprache. 1 Die Rolle Rossinis im Prozess der Neudefinition des italienischen Operncodes am Anfang des 19. Jahrhunderts war sicher entscheidend. Ihre Erforschung bleibt jedoch durch den Vergleich zwischen den Opern des Komponisten und denen seiner unmittelbaren Vorgänger und seiner Zeitgenossen, die insgesamt noch wenig bekannt sind, noch zu vertiefen. Eine jüngere Studie, in der diese Perspektive verfolgt wird, ist  : Daniele Carnini, L’opera seria italiana prima di Rossini (1800–1813)  : il finale centrale, Tesi di dottorato, Università di Pavia 2007. 2 Vgl. Daniela Tortora, Drammaturgia del Rossini serio. Le opere della maturità da ›Tancredi‹ a ›Semiramide‹ (= Biblioteca musicologica 3), Rom 1996, S. 56–59. 3 Philip Gossett, »The ›Candeur Virginale‹ of Tancredi«, in  : The Musical Times 112/1538 (April 1971), S. 326– 329. Die Idee der Kristallisation des Rossini’schen Codes in Tancredi nicht nur hinsichtlich des zentralen

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und weiterentwickelt und die das Bezugsmodell für die anderen italienischen Opernkomponisten bilden wird. Dieses Strukturmodell sieht eine Gliederung in vier Teile vor. Zwei dynamische Abschnitte (der erste und der dritte), die oft um das gleiche orchestrale Motiv gebaut sind, wechseln sich mit zwei statischen Abschnitten (der zweite und der vierte) respektive einem langsamen Concertato, das die Hauptfiguren des Dramas einbezieht, und einer mehrteiligen Stretta ab. In der Stretta gibt es immer einen homorhythmischen und kollektiven Mittelteil, wo wie im Concertato die lineare Zeit der dramatischen Handlung stehen bleibt.4 Während das Pezzo concertato eine momentane Unterbrechung der Handlungslinie darstellt, bekräftigt die Stretta das Erreichen des Höhepunkts der dramatischen Spannung am Ende des Aktes. Die richtige strukturelle Interpretation der Schlussnummer des ersten Aktes von Tancredi ist eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis des geschlossenen und symmetrischen Charakters ihres harmonischen Schemas. Das erste Finale des Tancredi (vgl. Tabelle 1) wird mit einem ersten Concertato (»a sei«  : Argirio, Orbazzano, Tancredi, Amenaide, Isaura und Roggiero) eröffnet  : »Ciel che intesi  ! oh tradimento  !« (Andante sostenuto, 4/4). Dabei gehen – je nach Rolle – Überraschung und Schmerz oder Wut über die Entdeckung des angeblichen Verrats der weiblichen Hauptfigur Amenaide ineinander über. All diesen Gefühlen zugrunde liegt ein Missverständnis. Im Rezitativ vor dem Finale präsentiert Orbazzano, Feind der Fraktion von Amenaides Vaters Argirio und von Tancredi, dem unbekannterweise aus dem Exil in Byzanz nach Syrakus zurückgekehrten Helden und heimlichen Geliebten der Tochter Argirios, einen Brief Amenaides, der einen unbestimmten Empfänger nach Syrakus zurückzukehren einlädt, um den Kampf um die Herrschaft über die Stadt zu gewinnen und seine Liebe zu ihr zu krönen. Jeder denkt, dass der Brief an den gemeinsamen Feind, den Sarazenen Solamir, gerichtet ist, aber er ist eigentlich für Tancredi bestimmt. Um Tancredi nicht zu gefährden, enthüllt Amenaide die Wahrheit nicht. Deswegen wird sie von allen verstoßen und ins Gefängnis geführt. Dem Concertato folgt der erste kinetische Abschnitt des Finale, der Primo tempo oder Tempo d’attacco »Padre amato… Ed osi ancora« (Allegro, 4/4), in dem Amenaide um Mitgefühl bittet, aber von allen gnadenlos zurückgewiesen wird. Die Handlung bleibt stehen im zweiten Concertato, das »a quattro« (Amenaide, Argirio, Orbazzano und Tancredi), kürzer als das vorherige und nur von den Blasinstrumenten begleitet ist. In diesem eindringlichen Andante (2/4) erfolgt die bestürzte Kontemplation von Argirio, Orbazzano und Tancredi (»Gli infelici affetti miei«) über das durch den Verrat Amenaides Finale wird in Bezug auf das Prinzip der »solita forma« erneut hervorgehoben und diskutiert von Marcus Chr. Lippe, Rossinis ›opere serie‹. Zur musikalisch-dramatischen Konzeption (= Beiträge zum Archiv für Musikwissenschaft 55), Stuttgart 2005, S. 75–79. Für eine Übersicht der Merkmale der »solita forma« und der musikwissenschaftlichen Debatte darüber siehe ebd., S. 62–75. Zum zentralen Finale in den Opern Rossinis vgl. ebd., S. 178–272, Tortora, Drammaturgia del Rossini serio, S. 101–134, und Carnini, L’opera seria italiana prima di Rossini. 4 Gossett, »The ›Candeur Virginale‹ of Tancredi«, S. 327–329.

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verursachte Unglück parallel zur Anrufung des göttlichen Schutzes durch die weibliche Figur  : »Ah, se giusto, o ciel, tu sei«. Im bedrängenden Tempo di mezzo »Vendetta, rigore« (Allegro, 4/4) sucht Amenaide, vom Hauptmotiv des Primo tempo unterstützt, noch einmal Verständnis und Mitleid – aber sie wird unerbittlich verurteilt. Sie äußert sich nicht mehr »auf« die Melodie des ersten Abschnitts des vorherigen Allegro, sondern »durch« sie.5 Das Handlungstempo wird zunehmend hektischer bis zum neuerlichen Anhalten in der energischen Stretta des Finale »Quale infausto orrendo giorno« (Più mosso, 4/4). Die auf dem zuvor beschriebenen Muster basierende Analyse des ersten Finale von Tancredi interpretiert das anfängliche Concertato als einen zusätzlichen Teil, der der üblichen vierteiligen Finalstruktur vorangestellt ist.6 Dieser Teil ist jedoch von so großer dramatischer und musikalischer Bedeutung, dass es unangebracht wäre, ihn bloß als eine Ergänzung zu betrachten. Eine andere Interpretation auf der Grundlage einer genauen formalen Untersuchung des frühen Rossini im für den jungen Autor des Tancredi maßgeblichen zeitgenössischen italienischen Kontext lädt dazu ein, das erste Concertato innerhalb der Struktur des Finale einzuschließen.7 In dieser Perspektive bleibt Tancredi zwar weiterhin eine grundlegende Oper sowohl für die Definition des Rossini’schen Codes als auch für den Erneuerungsprozess der italienischen Oper im frühen 19. Jahrhundert, aber die Diagnose einer klaren opernhistorischen Zäsur und der bereits vollständigen Kristallisation dieses Operncodes wird schwächer. Im doppelten Concertato bewahrt das zentrale Finale des Tancredi eine Spur der formalen Freiheit der Opernfinali des späten 18. bis frühen 19. Jahrhunderts, während es im definitiv entwickelten Rossini’schen Operncode nur noch Raum für ein Concertato geben wird.8 Nur diese zweite Interpretationsweise ermöglicht hinsichtlich des harmonischen Schemas des ersten Finale von Tancredi ein angemessenes Verständnis seines geschlossenen und symmetrischen Charakters. In tonaler Hinsicht ist das Finale um die Tonart D-Dur zentriert. Das Concertato, das die Nummer eröffnet, und die abschließende Stretta stehen in D-Dur, während das zweite Concertato in B-Dur gehalten ist. In den dynamischen Abschnitten des Finales, die meist modulierend angelegt sind, hält sich die tonale Schwankung in einem begrenzten Rahmen.

5 Carnini, L’opera seria italiana prima di Rossini, S. 159. 6 Gossett, »The ›Candeur Virginale‹ of Tancredi«, S. 327f. Zu einer Untersuchung, die in dieser Perspektive durchgeführt wurde, vgl. Tortora, Drammaturgia del Rossini serio, S. 112–114. 7 Carnini, L’opera seria italiana prima di Rossini, S. 158f. 8 Dieses nimmt in der Regel die zweite Position des Finales, die des ersten statischen Abschnittes, ein. Der Primo tempo enthält üblicherweise den »colpo di scena«, auf den die Figuren im Concertato reagieren. Es ist oft ein Überraschungs-Concertato, das durch völligen Stillstand der dramatischen Zeit geprägt ist. In Tancredi geschieht der »colpo di scena« im Rezitativ vor dem Finale, und die Überraschung wird im ersten Concertato ausgedrückt (vgl. dazu ebd.). Dennoch gibt es Ausnahmen auch in Rossinis Opern nach Tancredi  ; in einigen Fällen befindet sich das Überraschungs-Concertato beispielsweise zu Beginn des Finales.

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T. 1–30

Andante sostenuto C (Amenaide, Isaura, Tancredi, Roggiero, Argirio, Orbazzano)

»Ciel! che intesi! Oh tradimento« (ottonari)

D-Dur

Concertato di stupore

T. 31–134

Allegro C (Ame, Tan, Arg, Orb, Chor)

»Padre amato…Ed osi ancora« (ottonari)

A-Dur →

Primo tempo

»Tutti rea voi mi credete« (ottonari)

(g-Moll)

ab T. 104 T. 135–167

Andante 2/4 (Ame, Tan, Arg, Orb)

»Ah, se giusto, o ciel, tu sei« (ottonari)

B-Dur

Concertato

T. 168–240

Allegro C (Chor, Ame, Isa, Tan, Arg, Orb)

»Vendetta! Rigore!« (senari)

D-Dur →

Tempo di mezzo (primo tempo)

»Chi duol più orribile« (quinari)

b-Moll (Trugschluss auf D)

»Quale infausto orrendo giorno« (ottonari)

D-Dur, b-Moll, G-Dur, e-Moll, D-Dur

ab T. 211 T. 241–428

Più mosso C (Ame, Isa, Tan, Rog, Arg, Orb, Chor)

Stretta

Tabelle 1: Gioachino Rossini, Tancredi, Struktur des ersten Finale

Außerdem bietet Tancredi auch ein Beispiel für das zweite Prinzip, das des Dur-Abschlusses von in Moll beginnenden Stücken. Die c-Moll-Scena e Cavatina Amenaides im ersten Teil des zweiten Aktes (Nr. 10 in der Partitur) ist die einzige Nummer der Oper, deren Tonika eine Molltonart bildet. Diese geht jedoch nicht über die instrumentale Einleitung und das dramatische Rezitativ hinaus. Amenaide ist im Gefängnis und beklagt im Rezitativ (»Di mia vita infelice«) ihren traurigen Zustand. Im Cantabile (der Kavatine »No, che il morir non è«) heitert sie sich auf, als sie an den Trost des Liebestodes denkt, und stellt sich vor, dass diese extreme Handlung Tancredi von ihrer Treue überzeugen wird. Der Affektwechsel wird durch den Übergang nach Es-Dur hervorgehoben.

1. Tonales Chiaroscuro und harmonische Aufhellungseffekte: Rossinis Tancredi und Mosè in Egitto

In der überwiegenden Auffassung des Musikdramas bei Rossini, die sich wesentlich noch nach dem vormodernen Prinzip der musikalischen Darstellung einer abstrakten Abfolge 258

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von Affekten richtet,9 spielt Moll keine besonders wichtige Rolle als strukturelles Ton­ geschlecht  – auch wenn es seit den von Rossini für Neapel geschriebenen Opern fortlaufend wichtiger wird –, und es wäre wenig sinnvoll, eine eventuelle architektonische Funktion der Tonarten im Aufbau der ganzen Oper zu untersuchen. Allein die Praxis des Transponierens gemäß den Stimmeigenschaften der Sängerinnen und Sänger, die zumindest bis zu den frühen Jahren Verdis in der italienischen Oper üblich war, widerspricht schon dieser Möglichkeit. Zwischen Rossinis Blütezeit und dem Beginn von Verdis Karriere verändern sich diese dramaturgischen Konventionen kaum. Was sich aber sicher verändert, sind der Geschmack und die Ästhetik des Dramas mit der Ankunft der Romantik in Italien. Im Hinblick auf die erwähnten Konventionen wird nach Rossini zum einen die tonale Einheit der Nummer mit der Erweiterung ihrer Dimen­ sionen zunehmend aufgelöst. Zum anderen spielt Moll eine immer größere Rolle in der Oper – allgemein mit dem zunehmenden Überwiegen des tragischen romantischen Dramas und spezifisch im Rahmen einer dramatischen Konzeption, die sich nun vor allem für die psychologische Charakterisierung der Figuren interessiert, und die insbesondere mit Verdi durch die »tinta« (Einfärbung) ein vereinheitlichendes, prägendes Prinzip für jede Oper sucht.10 Wie Anselm Gerhard hervorgehoben hat, wagte erst Bellini 1831 mit Norma, »eine ganze Oper mit einem Moll-Akkord zu schließen«.11 Im Fall Verdis sei dies bereits anders  : »Mit Macbeth (1847) wird das Ende in Moll als Beglaubigung des tragischen Ausgangs zur Norm  : Außer Jérusalem, Stiffelio (beide C-Dur), La battaglia di Legnano (G-Dur) und Aroldo (F-Dur), vier Opern also, die in ihren Finalszenen sämtlich mehr oder weniger deutlich von den Konventionen des tragischen Ausgangs abweichen, endet von den vierzehn zwischen 1847 und 1859 abgeschlossenen Partituren nur I masnadieri mit einem (Des-)Dur-Akkord.«12

  9 Dennoch ist mit Emanuele Senici festzuhalten (der sich dabei auf den Eindruck stützt, den die Opern Rossinis auf zwei englische Zeitgenossen, Leigh Hunt und Thomas Love Peacock, machten)  : »Rossini’s operas, then, do not simply present a succession of sudden, passionate utterances in music  ; they are not just old fashioned products of a Southern imagination for a Southern public. Their modernity lies in their privileging of vehement emotions, in staging the excitement of the contemporary world. But the operas are also modern because they are ›essentially theatrical‹, because they exploit to the full the possibilities of the theatrical medium«. Emanuele Senici, »Introduction  : Rossini’s Operatic Operas«, in  : The Cambridge Companion to Rossini, hrsg. von dems., Cambridge 2004, S. 3. Die Diskussion über das Verhältnis der Opern Rossinis zur Moderne wird auch in Bezug auf ihre politischen Implikationen zusammengefasst in  : Emilio Sala, »Dal Mosè napoletano al Moïse parigino  : contesti e modelli interpretativi«, in  : Mosè in Egitto / Moïse et Pharaon (= I libretti di Rossini 15), hrsg. von dems., Pesaro 2008, S. IX–XVIII. 10 Vgl. dazu Anselm Gerhard, »Techniken der Vereinheitlichung  : die ›tinta musicale‹«, in  : Verdi Handbuch, hrsg. von dems. und Uwe Schweikert, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Stuttgart u. a. 2013, S. 234–239. 11 Anselm Gerhard, »Charakteristische Tonarten und Instrumentalfarben«, in  : Verdi Handbuch, S. 240. 12 Ebd., S. 240f.

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Dass es noch bei Verdi wie bei Rossini meist schwierig ist, eine architektonische Funktion der Tonart zu erkennen – selbst dort, wo sie als Element der »tinta« des Dramas verwendet wird – hat die Forschung nicht davon abgehalten, eine Semantik der Tonarten bei Verdi zu beschreiben,13 von der man sich vielleicht anregen lassen könnte, um auch die Dramaturgien früherer Opern einschließlich derjenigen Rossinis zu untersuchen.14 Ein Kontinuitätselement zwischen den Opern Rossinis und denen seiner Nachfolger bis Verdi ist die Verwendung des Kontrasts Dur/Moll, um Effekte von Licht und Schatten, eine Art von musikalischem »chiaroscuro« (Hell-Dunkel), zu erzielen. Und wenn, wie schon Gerhard bemerkt hat, »spätestens seit Attila […] eine bewusste Licht-Dramaturgie zu den unverwechselbaren Merkmalen von Verdis Theater«15 gehörte, findet man eine Verwendung von Dur und Moll im Sinne von Licht und Schatten, die allerdings weniger ausgeprägt und mit weniger symbolischen Implikationen verbunden bleibt, schon in den Opern Rossinis. Kommen wir zurück zum ersten Finale des Tancredi. Obwohl kein Stück des Finales in Moll steht, erscheint das zweite Tongeschlecht vorübergehend, es ›schattiert‹ gleichsam Schlüsselmomente der dramatischen Entwicklung  : Es begleitet die Anklage des Antagonisten Orbazzano gegen Amenaide in dem Rezitativ, das dem Finale vorausgeht  ; es erklingt in einer Sequenz im ersten Concertato  ; es unterstützt Amenaides Unschuldsbeteuerungen am Ende des Tempo d’attacco »Tutti rea voi mi credete, / E innocente è questo cor«, dem es den Charakter nicht nur einer bitteren Reflexion, sondern auch eines Flehens verleiht  ; es erscheint schließlich in einem berührenden lyrischen Abschnitt vor der Stretta, in dem Tancredi, obgleich wütend, Mitleid mit Amenaide empfindet. Hier nutzt Rossini den Trugschluss in D-Dur aus  : In h-Moll singen Amenaide und Tancredi in Terzparallelen diejenige musikalische Periode (»Chi duol più orribile«), die dann Argirio und Orbazzano (»Padre più misero«) wiederholen. Danach singen die vier Figuren gleichzeitig und die Episode wird mit einer Kadenz auf der Dominante von h-Moll geschlossen. Moll erscheint schließlich in der Stretta, die die Tonarten D-Dur, b-Moll, G-Dur, e-Moll und D-Dur durchschreitet. Das tonale »chiaroscuro« ist in diesem Beispiel ganz von dem Prinzip der musikalischen Einfärbung getrennt. Dieser Effekt, 13 Ebd., S. 241–244  ; Peter Gisi, Verdis Welten  : Neuinterpretation der Werke im Spiegel der Tonarten (= Berner Veröffentlichungen zur Musikforschung 4), Bern 2013. 14 Die Frage einer Semantik der Tonarten in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts bleibt immerhin heikel, wie die musikwissenschaftliche Diskussion, die sich in den 1990er Jahren um Opern Puccinis und Verdis entwickelt hat, zeigt. Vgl. dazu Allan W. Atlas, »Crossed Stars and Crossed Tonal Areas in Puccini’s Madama Butterfly«, in  : 19th-Century Music 14/2 (1990), S. 186–196  ; ders. und Roger Parker, »A Key for chi  ? Tonal Areas in Puccini«, in  : 19th-Century Music 15/3 (1992), S. 229–234  ; Harold S. Powers, »One Halfstep at a Time. Tonal Transposition and ›Split Association‹ in Italian Opera«, in  : Cambridge Opera Journal 7/2 (1995), S. 135–164. 15 Gerhard, »Charakteristische Tonarten und Instrumentalfarben«, S.  240  ; ders., »Politische Aussagen in neuem Licht  : Attila und die Bedeutung des ›chiaroscuro‹ für Verdis musikalische Dramaturgie«, in  : Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft 28/29 (2008), S. 151–170.

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der auch auf viele andere Finali Rossinis zutrifft, trägt zur ausdrucksvollen Wirksamkeit einer musikalischen Struktur bei, die auf den kinetischen und emotionalen Ebenen fortlaufend intensiver wird bis zum Ausbruchshöhepunkt der Stretta. Die Konzeption der emotionalen Prozesse, die im Hintergrund auch dieses harmonischen Effekts steht, interessiert sich mehr für die mechanischen Aspekte der Zu- und Abnahme der emotio­ nalen Spannung als für die Möglichkeit ihrer psychologischen Vertiefung oder ihrer symbolischen Verklärung. Wie Julian Budden in der Einleitung seines Standardwerks über die Opern Verdis bemerkte  : »for an Italian of the period emotion was like a charge of electricity to be earthed, not a warm bath in which to soak«.16 In diesem Zusammenhang ist die Verwendung des Übergangs von Moll nach Dur, um plötzliche Aufhellungseffekte zu bewirken, besonders bedeutend. Solche Effekte, die sich perfekt dem Prinzip der Dur-Auflösung von Moll-Stücken anpassen, haben großen Einfluss auf das Publikum und werden vor allem bei Verdi zur Erstellung der oben genannten »Licht-Dramaturgie« Anlass geben. Bei Rossini finden wir ein frühes und beispielhaftes Stück für den Aufhellungseffekt durch den plötzlichen Übergang Moll/Dur. Es handelt sich um die Preghiera (Gebet) »Dal tuo stellato soglio« (»Von deinem Sternenthrone«) aus dem dritten Akt von Mosè in Egitto, der vierten von neun Opern, die Rossini für die neapolitanischen Theater zwischen 1815 und 1822 schrieb. Für die Fastenzeitsaison komponiert, während der man Libretti mit religiösen Themen bevorzugte, wurde die Oper zum ersten Mal am Teatro San Carlo am 5. März 1818 aufgeführt.17 Zeugnisse wie das Libretto der Wiederaufführung von 1819 legen die Vermutung nahe, dass bei der Premiere die Inszenierung der letzten Szene, die Durchquerung des Schilfmeeres durch die Israeliten, problematisch war. Gemäß der Vie de Rossini von Stendhal war sie eine Katastrophe, weil das Publikum die Bühnenassistenten (»i piccoli lazzaroni«, wie der Schriftsteller sie nennt), die die Wellen auf Befehl von Mose bewegten, sehen konnte, und das provozierte Heiterkeit und Lachen an dieser Stelle, an der man entgegengesetzte Reaktionen auf die großartige Darstellung des Wunders mit seinem geradezu schrecklichen Ende erwartete (die ägyptischen Armee wird von den Wellen fortgerissen). In der Musik wird die ganze Episode durch ein beeindruckendes illustratives Stück dargestellt. Wir wissen mit Sicherheit, dass Stendhal 16 Julian Budden, The Operas of Verdi I. From ›Oberto‹ to ›Rigoletto‹, London 1973, S. 72. In der Stretta des ersten Finale von Tancredi ist neben der Schwankung zwischen Dur und Moll ein relevantes Element auf der Ebene des Tonartenplans die Wiederkehr des Beginns (die Form der Stretta ist AA’) in der »falschen« Tonart C-Dur, worin sich die Verwirrung der Figuren widerspiegelt, und das trägt dazu bei, den Ausbruch der emotionalen Spannung im abschließenden Teil des Finale aufregender zu machen. 17 Zur Entstehungsgeschichte des Mosè in Egitto vgl. Charles Brauner, »Prefazione«, in  : Gioachino Rossini, Mosè in Egitto, hrsg. von Charles Brauner (= Edizione critica I/24), Pesaro 2004, S. XX–XLII. Zu dieser Oper im Kontext der neapolitanischen Fastenzeitdramen vgl. Franco Piperno, »Il Mosè in Egitto e la tradizione napoletana di opere bibliche«, in  : Gioachino Rossini, 1792–1992  : il testo e la scena, Convegno internazionale di studi, Pesaro 25–28 giugno 1992, hrsg. von Paolo Fabbri, Pesaro 1994, S. 255–271.

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nur wenige Jahre später den Mosè in Paris sah. Da er die neapolitanische Inszenierung nicht direkt kannte, können wir an der vollen Wahrheitstreue seiner Darstellung zweifeln. Doch schrieb Rossini für die Wiederaufnahme der Oper im März 1819 den ganzen dritten Akt neu. Das Hauptstück der endgültigen Fassung ist die Preghiera, die das jüdische Volk, aufgerufen durch Mosè, Aaron und Elcia, die junge Protagonistin der Oper, an seinen Gott richtet, damit er es vor der Verfolgung durch die Ägypter rette.18 Diese Preghiera ist in der Fassung von 1818 noch nicht vorhanden. Wir erfahren dies einzig aus dem Libretto, weil die Partitur der ersten Fassung des dritten Aktes verschollen ist. Über die Aufführung der Preghiera schreibt Stendhal  : »Mêmes transports au premier acte [wie 1818]   ; au troisième, quand arriva le fameux passage de la mer Rouge, mêmes plaisanteries et même envie de rire. Les rires commençaient déjà à s’établir au parterre, lorsque l’on vit Moïse commencer un air nouveau Dal tuo stellato soglio. C’était une prière que tout le peuple répète en chœur après Moïse. Surpris de cette nouveauté, le parterre écouta et les rires cessèrent tout à fait. Ce chœur, fort beau, était en mineur  ; Aaron continue, le peuple chante après lui. Enfin, Elcia adresse au ciel les mêmes vœux, le peuple répond  ; à cet instant tous se jettent à genoux et répètent la même prière avec enthousiasme  : le prodige est opéré, la mer s’ouvre pour laisser un chemin au peuple protégé du Seigneur. Cette dernière partie est en majeur. On ne peut se figurer le coup de tonnerre qui retentit dans toute la salle  ; on eût dit qu’elle croulait. Les spectateurs des loges, debout et le corps penché en dehors pour applaudir, criaient à tue-tête  : ›bello  ! Bello  ! O che bello  !‹«19

18 Hier wird kein Bezug auf die französische Überarbeitung der Oper Moïse et Pharaon ou le passage de la Mer Rouge genommen, die für die Pariser Opéra komponiert und dort erstmals im März 1827 inszeniert wurde. Zu Mosè / Moïse vgl. Brauner, »Prefazione«  ; Doris Sonnefelder, ›Moitié italien, moitié français‹. Untersuchungen zu Gioachino Rossinis Opern ›Mosè in Egitto‹, ›Maometto‹ II, ›Moïse et Pharaon ou Le passage de la Mer Rouge‹ und ›Le siège de Corinthe‹, München 2006, S. 1–104  ; Sala, »Dal Mosè napoletano al Moïse parigino«. 19 Stendhal, Vie de Rossini, Paris 1854 (11823), S. 243f. Deutsche Übersetzung  : »Dieselbe Begeisterung im ersten Akte, wie früher. Im dritten Akt, als der berüchtigte Durchgang durch dar rothe Meer kam, derselbe Spaß und dieselbe Lust zum Lachen. Das Lachen ging schon im Parterre an, als man Moses ein neues Gesangstück anstimmen hörte  : ›Dal tuo stellato soglio‹ (Von deinem Sternenthrone), das Gebet, welches nachher vom Volk im Chor wiederholt wird. Überrascht von diesem neuen Stück, horchte das Parterre auf, und das Lachen war mit einem Male verschwunden. Das schöne Stück bewegt sich in Moll. Aaron fährt fort, und nach ihm singt das Volk. Endlich richtet Elcia dasselbe Gebet zum Himmel, und das Volk antwortet. In diesem Augenblicke wirft sich alles auf die Knie, und wiederholt mit Begeisterung das Gebet. Das Wunder ist nun bewirkt  ; das Meer öffnet sich, und macht dem Volke des Herrn Bahn. Dieser letzte Theil aber, während dessen das Wunder vor sich geht, ist in Dur geschrieben. Man kann sich den Donner nicht vorstellen, der durch das ganze Haus erschallte. Man hätte glauben sollen, es bräche dasselbe zusammen  ; alles schrie  : bello, bello, o che bello  !« Stendhal/Amadeus Wendt, Rossini’s Leben und Treiben. Vornemlich nach den Nachrichten des Herrn Stendhal geschildert und mit Urtheilen der Zeitgenossen über seinen musikalischen Charakter begleitet von Amadeus Wendt, Leipzig 1824, Reprint Hildesheim u. a. 2003, S. 200f.

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Zwischen den Besonderheiten des Gebets hebt Stendhal den Übergang von Moll nach Dur hervor, der das Wunder so plötzlich und wirkungsvoll zum Ausdruck bringt, dass er die begeisterte Reaktion des Publikums auslöst. Betrachten wir eine analytische Beschreibung von Rossinis Musik zu dieser Stelle  : »Die ›Preghiera‹ umfaßt mit ihren zweiundsechzig Takten eine sechstaktige freie Kadenz-Einleitung sowie vier je vierzehntaktige Abschnitte, die wiederum in eine acht- und eine sechstaktige Phrase gegliedert sind. Vier Strophen aus je vier ›settenari‹, von denen die ersten drei solistisch von Mosè, Aronne und Elcìa angestimmt werden, und die im Tutti gesungene vierte, die in textlicher Hinsicht eine Wiederholung der ersten darstellt (wodurch librettistisch eine Bogenform bereits vorgezeichnet ist), werden dabei in einer achttaktigen, die je zweiversige Chorreplik in einer jeweils sechstaktigen Phrase vertont [Notenbeispiel 1a]. Die achttaktige Strophen-Melodie öffnet sich dabei bei ihrem ersten Vers, mit dem sie in einer aufwärtsstrebenden Phrase den Oktavraum d-d1 durchmißt, während die melodisch schließende Abwärtsbewegung nur bis zum fis zurückgleitet. […] Harmonisch wird allerdings beide Male eine Öffnung von g-Moll nach D-Dur bestritten. Nur die zunächst tongetreue Wiederholung dieses Vordersatzes als Nachsatz birgt zum vierten Vers hin statt einer Rückführung aus der Dominante D-Dur nach g-Moll die überraschende Wendung ins parallele B-Dur, der Tonart, in der auch der Chor seinen Bittgesang anschließt, ehe dessen letzter Takt nach g-Moll zurückführt. Mit der vierten und letzten, im Tutti und plötzlichen forte angestimmten Strophe erfolgt jedoch die unerwartete Duraufhellung in die Varianttonart G-Dur, die der Hoffnung der Betenden ihren Ausdruck verleiht.«20 [siehe Notenbeispiel 1b]

Der Übergang Moll/Dur und damit der Aufhellungseffekt ist daher zweifach. Innerhalb jeder Strophe gibt es einen Wechsel zwischen g-Moll und der Paralleltonart B-Dur, schließlich aber erfolgt eine unerwartete Wendung zur Varianttonart G-Dur, die die Begeisterung des Publikums, von der Stendhal berichtet, verursacht haben soll. Die Schwankung zwischen einer Molltonart und ihrer Durparallele in einem strophischen Stück war für Rossini keine Neuheit. Er hatte sie zum Beispiel schon in der Canzone del salice (Weidenlied) im dritten Akt von Otello verwendet (1816, auch in diesem Fall g-Moll/B-Dur). Im Weidenlied verbindet sich die tonale Schwankung mit der fortschreitenden Intensivierung der melodischen Verzierungen. Sie prägen den Identifizierungsprozess von Desdemona mit der von ihr vorgetragenen Geschichte, die die Vorahnung ihres traurigen Todes enthält. Im Weidenlied wird nicht nur eine Reihe von abstrakten Affekten, sondern auch die Psychologie der Person dargestellt. Im dritten Akt von Otello ist die Darstellungsweise moderner als in den anderen Nummern der Oper. Höhepunkte dieser progressiveren Richtung der musikalischen Dramaturgie sind zwei Lieder, Canzone del gondoliere und Canzone del salice, in denen der höchste Grad an Ein20 Lippe, Rossinis ›opere serie‹, S. 91f.

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a

b

Notenbeispiele 1 und b: Gioachino Rossini, Mosè in Egitto, 3. Akt, »Dal tuo stellato soglio« (a): T. 8–20 (Mosè); (b): T. 49–53

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fühlung des Zuschauers erreicht wird.21 Durch die Bühnenmusik wird er angehalten, die Perspektive Desdemonas zu übernehmen.22 Wie im Weidenlied ist auch in der letzten harmonischen Wendung des Gebets in Mosè die Verwendungsweise der harmonischen Mittel wichtiger als ihre eventuelle Neuheit. Auch in diesem Fall spielt das Einfühlungsprinzip eine entscheidende Rolle. Das harmonische Mittel passt perfekt zur Bedeutung des Stückes  : Mit dem hellen G-Dur nimmt die göttliche Rettung des jüdischen Volkes in der Musik bereits vor ihrer Verwirklichung Gestalt an, denn die Juden haben das Schilfmeer noch nicht durchquert. Die schlüssige harmonische Wendung dient jedoch nicht nur dazu, etwas darzustellen  ; der Komponist manipuliert auch die emotionale Reaktion des Zuschauers. Wenn das Publikum in Otello dazu aufgerufen wurde, die intimen Leidenschaften einer leidenden Figur (Desdemona) während ihrer quälenden Erwartung des gewaltsamen Todes mitzuerleben, wird es in Mosè dazu eingeladen, sich mit den übernatürlichen Kräften auseinanderzusetzen, die das Drama schütteln und durch die Musik in bebende Materie übertragen werden. Die Wirkung dieser Kräfte ist, auch wenn sie nicht immer derart musikalisch eindrucksvoll ausfällt, ein Merkmal vieler Opern der Fastenzeitsaison mit geistlichen Themen, die in den neapolitanischen Theatern in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts aufgeführt zu werden begannen.23 Die Inszenierung dieser Opern hatte in Neapel eine politische Konnotation. Mit ihrer spektakulären Darstellung biblischer Ereignisse, die weit entfernt von der von der katholischen Kirche in Rom durchgesetzten andächtigen Deutung der religiösen Texte war, spiegelte sie den Willen der bourbonischen Herrscher wider, sich der Macht des Papstes zu widersetzen und in ihrem eigenen Reich die Herrschaft auch im religiösen Bereich zu beanspruchen.24 Die Aufführungen von geistlichen Dramen gingen in der napoleonischen Zeit zurück, ohne jedoch völlig abzubrechen. Rossinis Mosè wurde als die erste geistliche Oper nach der Rückkehr Ferdinands IV. von Bourbon an die Macht in Neapel aufgeführt. In Mosè findet man den Moll/Dur-Wechsel nicht nur im Gebet. Sie verbindet sich auch in anderen Abschnitten der Oper mit der Darstellung von übernatürlichen Ereignissen, die Manifestationen der göttlichen Macht sind. Sie erscheint schon in der Introduzione (Nr. 1), wo sie dazu beiträgt, das Leiden des ägyptischen Volkes unter der Plage der Dunkelheit zu schildern. Als der Pharao die Befreiung des Volkes Israel gewährt, 21 Ebd., S. 107. 22 Zum Verhältnis von Bühnenmusik und Fokalisierung in der italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts vgl. Luca Zoppelli, »›Stage Music‹ in Early Nineteenth-Century Italian Opera«, in  : Cambridge Opera Journal 2/1 (1990), S. 29–39, hier S. 32–35. 23 Vgl. Franco Piperno, »›Stellati sogli‹ e ›immagini portentose‹  : opere bibliche e stagioni quaresimali a Napoli prima del Mosè«, in  : Napoli e il teatro musicale in Europa tra Sette e Ottocento. Studi in onore di Friedrich Lipp­mann, hrsg. von Bianca Maria Antolini und Wolfgang Witzenmann (= Quaderni della Rivista italiana di musicologia/Società italiana di musicologia 28), Florenz 1993, S. 267–298. 24 Ebd.

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lässt der Gott Israels durch die Fürbitte von Mose das Licht wieder erscheinen – und es erklingt gefestigtes Dur. Die jubelnde einstimmige Reaktion auf die Rückkehr des Lichtes lehnt sich an die Passage aus Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung an  : »Und Gott sprach  : Es werde Licht, und es ward Licht«.25 Ein letzter durch eine Moll/Dur-Wendung erreichter harmonischer Aufhellungseffekt findet sich innerhalb des deskriptiv-pantomimischen, d. h. rein instrumentalen Schlussteils der Oper. Die Ägypter stürzen sich auf die Juden zwischen den geteilten Wassern des Roten Meeres. So berichtet die Regieanweisung am Ende des Librettos (Fassung 1819), die dem Schlussteil entspricht  : »Tutti s’inoltrano in mezzo al mare, ma vi restano sommersi dalle onde, che tempestose, e rapidamente si riuniscono. La scena s’ingombra di dense nubi, che poi diradandosi lasciano vedere il mare reso già tranquillo, ed in distanza sull’opposto lido il popolo Ebreo, che genuflesso rende grazie al Dio degli Eserciti.«26

Die deskriptive Musik beginnt in c-Moll. Einige typische Darstellungsfiguren des Sturmes gelten bei dieser Gelegenheit auch der Darstellung der turbulenten Bewegung der Wellen  : schnelle aufsteigende Tonleitern, die dann langsamer absteigen  ; Ostinati, die aus Sechzehntelwirbeln bestehen  ; ein Modulationsplan mit Prävalenz von Molltonarten. Der erste Teil des Stückes endet in einem tosenden Unisono auf c. Als Orgelpunkt weitergeführt, unterstützt diese Note dann den C-Dur Akkord, und C-Dur ist die Tonart des letzten Abschnittes des Orchesterstückes und der Oper. Mit der ruhigen Stimmung, die auf den Sturm folgt, nimmt die Rettung des jüdischen Volkes Gestalt an.27 Ebenfalls mit der göttlichen Kraft verbunden ist die Wendung nach Moll in der Stretta des ersten Finale. Sie bricht sowohl mit der Konvention der tonalen Einheit der Nummer, weil das in C-Dur angefangene Finale in c-Moll endet, als auch mit der des Durschlusses der Nummer. Die Darstellung einer Naturkatastrophe als übernatürliches Zeichen im zentralen Opernfinale ist zur Zeit des Mosè weder eine Neuerfindung Rossinis noch eine 25 Piperno, »Il Mosè in Egitto e la tradizione napoletana«, S. 266  ; Lippe, Rossinis ›opere serie‹, S. 154. 26 Andrea Leone Tottola, Mosè in Egitto. Azione tragico-sacra, Napoli 1819, S. 34 (zitiert nach dem Reprint in  : Sala (Hrsg.), Mosè in Egitto / Moïse et Pharaon (wie Anm. 9), S. 304). Deutsche Übersetzung  : »Sie treten zwischen den gehobenen Wassern hin, werden aber von den Fluten, die schnell zusammenschlagen, bedeckt. [Die Szene wird von dicken Wolken bedeckt. Als sie sich zerteilen, lässt sich das jetzt ruhige Meer sehen. Fern auf dem gegenüberliegenden Ufer sieht man die knienden Juden, die dem Gott der Heerscharen ihren Dank abstatten.]« Mosè in Egitto. Dramma serio in tre atti / Moses in Egypten. Ernstes Drama in drey Akten, München 1822, S. 79 (der eingeklammerte Satz fehlt in der deutschen Übersetzung von 1822). 27 Das dramatisch-musikalische Schema des Schlussteils von Rossinis Oper hat ein Vorbild im Mélodrame von Augustin Hapdé Le passage de la Mer Rouge ou La délivrance des hébreux, das 1817 in Paris erstmals aufgeführt wurde. Zu den Vorbildern von Rossinis Mosè und den französischen Einflüssen des mélodrame schon auf die italienische Fassung des Werkes vgl. Sala, »Dal Mosè napoletano al Moïse parigino«, S. XXVI–LX.

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ausschließliche Eigentümlichkeit geistlicher Dramen.28 Eine Moll-Stretta ist zwar unkonventionell, aber keine völlige Neuheit. Das erste Finale von Mosè ist jedoch das einzige zentrale Finale der neapolitanischen Opern Rossinis, das in Moll endet. Die unerwartete harmonische Wendung hebt gegen Ende des Aktes die Umkehrung dessen hervor, was an seinem Anfang geschehen war. Der ursprüngliche Plan des Pharao, das jüdische Volk zu befreien, hatte den Willen Gottes erfüllt – musikalisch ausgedrückt durch die Stabilität des Dur nach der tonalen Unbeständigkeit. Nun entfesselt seine Entscheidung, die Freiheit der Juden aufzuheben, den Zorn Gottes, und die harmonische Fortschreitung geht in die gegensätzliche Richtung, von Dur nach Moll  : in der Stretta nämlich, wo die Plage des Hagels und des Feuerregens geschildert wird. Im Folgenden sollen der Tempo di mezzo und die Stretta des ersten Finale von Mosè in Egitto vor allem aus harmonischer Sicht betrachtet werden. Der Tempo di mezzo (»Padre  …  /Signor  …  /Costui«, Allegro, 4/4) beginnt in As-Dur, der Tonart des vorhergehenden Concertato. Rossini verwendet die Technik des »parlante«, die Motive erklingen zuerst im Orchester, zunächst gibt es eine periodische Struktur. Sobald diese sich auflöst, wird ihr zweiter rhythmisch-melodischer Abschnitt zu dem Ostinato, das den übrigen Teil des Tempo di mezzo unterstützt und prägt. Die Auflösung des periodischen Baus entspricht dem Moment der Drohung des Pharao gegenüber Moses, ihn einzusperren. Danach gibt es Modulationen nach c-Moll, B-Dur und schließlich nach g-Moll. Im Bereich von g-Moll tritt nach dem Akkord der VI. Stufe (Es-Dur) ein unerwartetes ges ein, das, als Ges-Dur harmonisiert, einen Aufhellungseffekt bewirkt. Diese Aufhellung hebt die versöhnlichen Worte Moses hervor, als er dem Pharao eine letzte Chance gibt, seinen Fehler zu korrigieren. Dann wird G-Dur erreicht  ; die erwartete Tonart für die Stretta wäre C-Dur. Dagegen entfesselt nun Mose – schon in c-Moll – in einer Passage, die an das Erscheinen der Statue des Komturs in Mozarts Don Giovanni erinnert, den Zorn Gottes  : »Scuote la verga, scoppia un tuono e cade impetuosa la grandine, e la pioggia di fuoco.«29 C-Moll bleibt in der Folge die Tonart der Stretta (»Cielo  ! Qual turbine  !«, Allegro assai, 3/4), in der die Plage geschildert wird (Notenbeispiel 2). Wenn Rossini die Liebesgeschichte zwischen Osiris, dem Sohn des Pharao, und der jüdischen Elcia konventionell behandelt, erscheint es eigentümlich und (im Hinblick auf das Prinzip der »tinta«) zukunftsorientiert, wie er die kollektive Geschichte der Auseinandersetzung zwischen den Völkern und ihr Verhältnis zum Gott Israels darstellt. Wesentlich ist dabei die Verwendung der harmonischen Mittel, die in Mosè fast eine architektonische Funktion haben. Innerhalb der Oper gewinnt die Spannung zwischen einer 28 Carnini, L’opera seria italiana prima di Rossini, S. 50. 29 Tottola, Mosè in Egitto 1819, S. 18 (zitiert nach dem Reprint in  : Mosè in Egitto / Moïse et Pharaon, S. 288). Die deutsche Regieanweisung weicht hier (was selten vorkommt) etwas vom Original ab  : »Er bewegt den Stab, sogleich bricht ein heftiges Ungewitter mit Donner und Blitz aus« = »Scuote la verga, e scoppia impetuosa tempesta con tuono e lampi«, in  : Sala (Hrsg.), Mosè in Egitto / Moses in Egypten, S. 34f.

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Notenbeispiel 2: Gioachino Rossini, Mosè in Egitto, 1. Akt, 1. Finale, Ende des Tempo di mezzo und Anfang der Stretta

Molltonart und ihrer Durvariante eine programmatische Qualität, die die Äußerungen der göttlichen Macht prägt und den ganzen dramatischen Verlauf vom c-Moll der Introduzione bis zum C-Dur-Ende des abschließenden Orchesterstücks (und der Oper) stützt.30 Präsentiert sich das Drama als Ganzes als eine großartige Darstellung einer Entwicklung von der Dunkelheit zum Licht, so lässt sich in der harmonischen Entwicklung von Moll nach Dur bereits im ersten Finale eine (vorläufige) Umkehrung des Paradigmas »per aspera ad astra« erkennen.31 Auf der Ebene der Harmonik lässt sich diese Umkehrung gewiss festmachen. Im Opernmodell von Rossini ist jedoch das zentrale (erste) Finale derjenige Moment, in dem die musikalische und dramatische Spannung den Höhepunkt erreicht und die Handlung ihre schwierigste Phase durchläuft. Deshalb erscheint es – auch wenn die Durtonarten vorherrschen – problematisch, das genannte Paradigma mit diesem Finale zu verbinden. Im ersten Finale des Mosè scheint Rossini durch den Bruch mit den harmonischen Konventionen die Präsenz einer überirdischen Kraft hervorzuheben. Sie beherrscht die Dramaturgie der erregten menschlichen Beziehungen und Handlungen, die üblicherweise zum Ausbruch der Stretta in Dur führt. Im zentralen Finale wie in der Anrufung des ersten Aktes und im Gebet des dritten Aktes werden die harmonischen Mittel als Element einer musikdramatischen Strategie zur Darstellung außerordentlicher und überirdischer Kräfte durch überraschende Effekte verwendet. Diese Effekte erlauben eine angemessene Darstellung und bewirken die aktive Einfühlung der Zuschauer. Dieser Aspekt wird sehr deutlich von Honoré de Balzac in Massimilla Doni hervorgehoben, als er die Protagonistin des kurzen Romans die tiefen Eindrücke beschreiben lässt, die »Dal tuo stellato soglio« im Zuschauer zu erregen fähig ist  :

30 Lippe, Rossinis ›opere serie‹, S. 92. 31 Ebd., S. 248f.

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»Il semble qu’en montant vers les cieux, le chant de ce peuple sorti d’esclavage rencontre des chants tombés des sphères célestes. Les étoiles répondent joyeusement à l’ivresse de la terre délivrée. La rondeur périodique de ces motifs, la noblesse des lentes gradations qui préparent l’explosion du chant et son retour sur lui-même, développent des images célestes dans l’âme. […] Le secret de cette harmonie, qui rafraîchit la pensée, est, je crois, celui de quelques œuvres humaines bien rares, elle nous jette pour un moment dans l’infini, nous en avons le sentiment, nous l’entrevoyons dans ces mélodies sans bornes comme celles qui se chantent autour du trône de Dieu.«32

2. »Stanze fatali«: Harmonische Präferenzen in Szenen des Eingeschlossenseins33 bei Rossini und Verdi

In Tancredi wird die gesamte Gran Scena der weiblichen Hauptfigur der Oper, die aus der Abfolge von Kavatine und Arie Amenaides besteht (Nr. 10 und 12), in den Kerker verlegt.34 Eine solche »scena di prigione« (Gefängnisszene) ist fast eine Konstante der ernsten Opern Rossinis, die sie aus der Tradition der Opera seria des 18. Jahrhunderts geerbt haben.35 In diese dramatische Situation, die auch zur Zeit des Tancredi in der italienischen Opera seria noch Standard ist, gerät im schwierigsten Moment der Handlung eine Figur, die Opfer einer Intrige wird und ihre Bestürzung durch eine Konfiguration von kontrastierenden Affekten, vom Schmerz bis zur Hoffnung, ausdrückt. Die Nummer (oder eine Reihe von Nummern wie in Tancredi) der Gefängnisszene ist in der zweiten Hälfte des Dramas positioniert, mehr oder weniger direkt vor seinem Ende. Ein festes Element, das man auch in Tancredi findet, ist das düstere Recitativo accompagnato. Wie in Tancredi steht es oft in c-Moll und verwendet ein konzertierendes Instrument.36

32 Honoré de Balzac, Massimilla Doni, in  : ders. La comèdie humaine, Deuxième partie  : Études philosophiques (= Œuvres complètes 15), Paris 1846, Reprint Paris 1967, S. 61f. 33 Mit »Szene des Eingeschlossenseins« übersetze ich den italienischen Ausdruck »scena di reclusione«, womit ich mich auf eine dramatische Situation beziehe, in der eine Figur an einem dunklen und unheimlichen Ort eingesperrt, isoliert oder verloren ist, und die strukturelle Ähnlichkeiten mit der Gefängnisszene zeigt. 34 Tortora, Drammaturgia del Rossini serio, S. 197f. In Tancredi kommt die eigentliche Gran Scena später mit der Nr. 16 und betrifft Tancredi. Vgl. dazu Marco Beghelli, »Che cos’è una Gran Scena  ?«, in  : Belliniana et Alia Musicologica. Festschrift für Friedrich Lippmann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Daniel Brandenburg und Thomas Lindner (= Primo Ottocento. Studien zum italienischen Musiktheater des [frühen] 19. Jahrhunderts 3), Wien 2004, S. 1–12. 35 Zur Gefängnisszene in der italienischen Oper vom 17. bis 19. Jahrhundert vgl. Angela Romagnoli, Fra catene, fra stili, e fra veleni… ossia Della scena di prigione nell’opera italiana (1690–1724), Lucca 1995, und Paolo Mechelli, La scena di prigione nell’opera italiana fra Settecento e Ottocento, München 2011. 36 Carnini, L’opera seria italiana prima di Rossini, S. 51.

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In den Opern Rossinis ist die Gefängnisszene ein entscheidendes dramaturgisches Mittel für die Auflösung des Dramas.37 Mehr oder weniger idealisierte Varianten der Gefängnisszene, die Rossini musikalisch stets ähnlich behandelt, sind Szenen in unterirdischen Umgebungen oder allgemeiner in engen Räumen oder an dunklen und unheimlichen Orten.38 In Nummern dieser Art hat Moll, wenn auch nur kurz als Grundtonart verwendet, immer noch ein erhebliches Gewicht, da es die Funktion erfüllt, die Stimmung zu evozieren  : sowohl die äußere der szenischen Umgebung als auch die innere der Gefühle der Personen. Als idealisiertes Gefängnis könnten wir auch das Schlafzimmer Desdemonas interpretieren, wo ihre Ermordung im dritten Akt des Otello (in der ersten, tragisch endenden Fassung der Oper) geschieht. So ungewöhnlich wie die Unterteilung der Oper in drei – statt der zu dieser Zeit üblichen zwei – Akte ist die Struktur des letzten Aktes von Otello.39 Er besteht aus einer einzigen in drei Szenen unterteilten und ganz im Schlafzimmer Desdemonas spielenden Nummer (Nr. 10 in der Partitur  ; siehe Tabelle 2).40 In der ersten Szene drückt Desdemona ihren Schmerz aus über die Verurteilung und Verbannung Otellos, den sie noch immer liebt. Emilia erklärt den traurigen Zustand ihrer Freundin und versucht sie zu trösten. Die Canzone del gondoliere, die von draußen in den Raum hineintönt, verstärkt die Trübsal Desdemonas. Die Worte des Liedes sind ein Zitat aus Dantes Commedia (Inferno, V, Verse 121–123) »Nessun maggior dolore / che ricordarsi del tempo felice / nella miseria« (»Kein größerer Schmerz / als sich erinnern glücklich heiterer Zeit / im Unglück«), das angeblich auf Verlangen Rossinis eingefügt wurde. Sie erweitern die Trostlosigkeit der Gegenwart Desdemonas und führen das Thema der Erinnerung an vergangenes Glück ein. Vom Lied angeregt, stimmt Desdemona die vorher schon kurz behandelte Canzone del salice an. Die Szene öffnet und schließt in Es-Dur, und der Eindruck einer Rahmenstruktur wird von der Rückkehr eines der beiden Motive aus der instrumentalen Einleitung des Aktes am Ende des Weidenliedes verstärkt. Es handelt sich um ein flüssiges und aus melodischer Sicht nicht stark profiliertes Motiv, das von Halbtonschritten und Punktierungen geprägt ist. Bei der Gestaltung der musikalischen Dramaturgie dieser Szene bedient sich Rossini sowohl der zeitlichen als auch der räumlichen Dimension. Das Thema der Irreversibilität des Zeitstrahls, auch wenn er unheilvoll von Glück zu Schmerz verläuft, wird von den Worten der Canzone del gondoliere bekräftigt und von Desdemona sowohl im Rezitativ mit Emilia als auch in ihrem eigenen Lied reflektiert. Hinsichtlich des Raumes trägt der Gesang des Gondoliere, eine Art finstere Barkarole, zusammen mit dem er37 Vgl. Tortora, Drammaturgia del Rossini serio, S. 194–206. 38 Vgl. ebd. 39 Zur Struktur des letzten Aktes in Rossinis Opern vgl. Tortora, Drammaturgia del Rossini serio, S. 181–193. 40 Für eine ausführliche Untersuchung des dritten Aktes von Otello vgl. Marco Grondona, ›Otello‹, una tragedia napoletana, Lucca 1997, S. 73–140. Vgl. auch Lippe, Rossinis ›opere serie‹, S. 93–108.

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wähnten Motiv, das in der instrumentalen Einleitung, dann im Rezitativ von Desdemona und Emilia und schließlich nach dem Weidenlied zirkuliert und in welchem vielleicht eine Schilderung der ruhigen Wellen der Lagune wahrgenommen werden kann,41 zur Darstellung einer venezianischen Meeresatmosphäre bei. Dieser ›tönende Bühnenhintergrund‹ ist das verbindende Element der Dramaturgie, das Kontinuität gewährleistet. Zunächst erscheint es entkoppelt von den Gefühlen, die auf der Bühne aufeinander folgen. Diese Entfernung erhöht jedoch durch den Kontrast das Gefühl von Bedrückung, das Desdemona in ihrem Zimmer umfängt. In dem geschlossenen Raum, in dem sie sich bewegt, spiegelt sich das existenzielle ›Gefängnis‹, das aus ihrer tiefen Trauer über den Verlust Otellos entspringt. Der venezianische Hintergrund dringt auf der anderen Seite mit der Canzone del gondoliere, die ihr eine Möglichkeit bietet, die Trauer der erinnernden Canzone del salice zu sublimieren, in ihr Inneres ein. Zeitliche und räumliche Bezüge wirken in der Gestaltung von Desdemonas innerem und äußerem ›Gefängnis‹ zusammen. Der Schatten des Todes, der ebenso sehr über dem wehmütigen Lied des Gondoliere42 wie über dem Weidenlied schwebt, nimmt die Umwandlung des Zimmers von Desdemonas Schmerzen in die »stanza fatale« (den tödlichen Raum) vorweg  : In diesem Raum wird Otello Desdemona bald ermorden. Dur und Moll tragen in entscheidender Weise zur Definition einer fließenden Dramaturgie bei, die angetrieben wird von abwechselnd aufeinanderfolgenden und sich verflechtenden Kontrasten und mehr oder weniger offenkundigen Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Außen und Innen. In dem von der Tonart EsDur befestigten tonalen Rahmen dominiert lange das g-Moll der beiden Lieder. Das harmonische Chiaroscuro ist dabei nicht auf diesen Wechsel beschränkt. Beide Lieder enthalten eine Wendung zu einer Durtonart  : Die Canzone del gondoliere erreicht G-Dur, während es im Weidenlied eine Schwankung zwischen g-Moll und B-Dur gibt. Diese zwischenzeitlichen Aufhellungen lassen uns verstehen, dass Desdemona, auch wenn sie von Schmerz zerrissen ist und trotz des traurigen Themas der tragischen Liebesgeschichte Isauras, in ihren Erinnerungen durch das Lied einen letzten ergreifenden idyllischen Moment erlebt. Idylle und Gefängnis sind in den Opern Rossinis  – vor allem im letzten Akt  – übliche und prägende Ausdrucksbereiche, die oft auch durch kurze, aber entscheidende Instrumentalvorspiele eingeführt werden.43 Im letzten Akt des Otello evoziert der Komponist diese Bereiche innerhalb einer Dramaturgie, in der die verschiedenen Musikstücke mehr als üblich interagieren und einander ergänzen. In der Szene Desdemonas im fatalen Raum begnügt sich Rossini nicht wie in der Gefängnisszene des Tancredi mit der eindringlichen instrumentalen Einleitung einer konventionellen Nummer (Szene und Arie oder Lied), die sich bald nach Dur wendet. Das ›Gefängnis‹ Des41 Grondona, ›Otello‹, una tragedia napoletana, S. 75. 42 In der Gesangslinie des Liedes wurde die Andeutung eines Trauermarschs erkannt. Vgl. dazu ebd., S. 91f. 43 Ebd., S. 73–87.

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demonas ist eher existenziell als materiell, und von grundlegender Bedeutung ist die Vorahnung des Todes, die den ersten Teil des dritten Aktes von Otello zu einem quälend langen Moment angstvoller Erwartung macht. Anders und markanter als üblich ist auch die Fokussierung auf die Figur. Die Persönlichkeit Desdemonas schillert nicht hinter der Darstellung ihrer Affekte durch. Im Gegenteil verfolgen wir die Entwicklung des Dramas aus der Perspektive ihrer Gefühle. Damit eine so anspruchsvolle Darstellung ihre volle Wirksamkeit erreichen kann, müssen alle Ausdrucksmittel – instrumentale und vokale, rezitativische und kantable Abschnitte, Bühnenmusik und Anlässe zu deskriptiver Musik, Dur und Moll – mehr als üblich mitwirken und interagieren. Die zweite Szene des Aktes enthält das Gebet Desdemonas und ist um die Tonart AsDur zentriert. In der dritten und letzten Szene dringt Otello, mit einem Dolch bewaffnet, in das Schlafzimmer der Geliebten ein (»Eccomi giunto inosservato e solo / nella stanza fatal …«). Er ist zuerst verwirrt, während er die schlafende Desdemona bewundert. Seine Eifersucht regt sich erst wieder, als er sie in ihrem Schlaf den Geliebten erwähnen hört. Otello glaubt, dass Desdemona von Rodrigo träumt. Es folgt das Duett zwischen den beiden Hauptfiguren der Oper, an dessen Ende Otello Desdemona tötet.44 Noch einmal wirkt ein Ereignis außerhalb der Szene als Hintergrund der Handlung, mit dem sie in der dritten Szene des Aktes verflochten wird  : Es handelt sich um ein Gewitter, das bereits mit einem Windstoß begann, als Desdemona ihren Vortrag des Weidenlieds vorübergehend unterbrochen hatte. Das Gewitter gibt den Anlass zu einer letzten Wendung von Dur nach Moll. Nach dem langen Rezitativ Otellos, das von einer instrumentalen Einleitung in C-Dur eröffnet wurde, folgt das Duett in D-Dur. Im zentralen Teil des Duetts bricht das Gewitter aus (»Notte per me funesta  !«), und plötzlich schlägt die Tonart nach d-Moll um, bevor die Oper zuletzt in Es-Dur schließen wird. Die Dreiaktigkeit ist ein gemeinsames Merkmal von Otello und Mosè in Egitto. Während in Otello der letzte Akt aus einer einzigen Musiknummer besteht, ist er in Mosè um eine einzige Musiknummer, das Gebet »Dal tuo stellato soglio« (Nr. 12), zentriert. Der von Anfang und Ende des Aktes in derselben Tonart gewährleistete harmonische Rahmen, die dramatische Kontinuität und die Bedeutung der Instrumentalmusik sind weitere strukturelle Ähnlichkeiten zwischen diesen zwei Schlussakten Rossinis. Darüber hinaus nehmen in Otello wie in Mosè die Umwelt sowie außergewöhnliche Kräfte an der Handlung teil, für deren Darstellung der tonale Kontrast zwischen Dur und Moll eines der wesentlichen musikalischen Ausdrucksmittel bildet. Im letzten Akt von Otello herrscht die Fokussierung auf Desdemona vor. Die Umweltfaktoren interagieren vor al44 Im Anfangsteil des Duetts erklang ursprünglich das Motiv der Verleumdungsarie aus dem Barbiere di Sivi­ glia. Rossini änderte die Partitur des Otello, als der Ruhm des Barbiere so groß geworden war, dass die Selbstentlehnung offenkundig für das Publikum störend, weil auf der Ausdrucksebene irreführend wurde. Vgl. dazu Michael Collins, »Prefazione«, in  : Gioachino Rossini, Otello ossia il moro di Venezia, hrsg. von Michael Collins ( = Edizione critica I/19), Pesaro 1994, S. XXXIIIf.

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lem mit den Gefühlen dieser Figur. Sie tragen dazu bei, solche Gefühle darzustellen und greifbar zu machen. In Mosè wird die Wechselwirkung zwischen den von der göttlichen Macht in Bewegung gesetzten Naturkräften und dem Drama durch musikalische Mittel dargestellt, die denjenigen in Otello oft ähnlich sind. Unter diesen gibt es den Topos des musikalischen Sturms und das Schwanken zwischen einer Molltonart und ihrer Durparallele oder Variante. Im dritten Akt von Mosè wird der Zuschauer nicht aufgefordert, sich mit der Gefühlswelt einer Figur zu identifizieren, sondern soll – zumindest im Gebet und im deskriptiven Schlussstück – die kollektive Erzählperspektive des verfolgten Volkes Israel einnehmen. In der italienischen Oper der mittleren Jahrzehnte des 19.  Jahrhunderts ist das Schwanken zwischen einer Molltonart und ihrer Parallele oder Variante durchaus üblich. Es kann eine Romanza oder den Cantabile-Teil einer mehrteiligen Arie prägen.45 Die Moll/Dur-Romanza und das Moll/Dur-Cantabile bleiben jedenfalls »Spezialeffekte« der italienischen Oper der Romantik. Daneben bewährt sich auch das harmonische Muster des Gebets aus Rossinis Mosè, also die Fortschreitung Molltonart–Parallele–Variante. Als Beispiele können zwei berühmte Stücke von Gaëtano Donizetti erwähnt werden  : die Romanza Nemorinos »Una furtiva lagrima« aus L’elisir d’amore (erste Strophe b-Moll/Des-Dur, zweite Strophe b-Moll/B-Dur) und das Cantabile der Cavatina Lucias »Regnava nel silenzio« aus Lucia di Lammermoor (drei Strophen respektive es-Moll, Ges-Dur, Es-Dur). Ein starker harmonischer Aufhellungseffekt, der auf der Wendung einer Molltonart zu ihrer Durvariante über die Durparallele basiert, erscheint am Anfang von Verdis Nabucco, der dritten Oper des Komponisten, die sein erster großer Erfolg auf dem Gebiet des Melodramma war. Am 9. März 1842 zum ersten Mal im Teatro alla Scala in Mailand aufgeführt, zeigt Nabucco Affinitäten zu Rossinis Mosè. Auch Nabucco eine Oper nach einem biblischen Thema, das die Verfolgung des jüdischen Volkes betrifft. Darüber hin­ aus gibt es Ähnlichkeiten in der Wahl der Stimmrollen und ihrer Verteilung unter den Figuren, in der Struktur des gesamten Dramas und der einzelner Nummern. Aus solchen Bezügen wird deutlich, wie sehr sich Verdi beim Komponieren seiner Oper des Modells von Mosè bewusst war. Er kannte die Oper Rossinis zwar nicht in der neapolitanischen Fassung (Mosè in Egitto), aber in der italienischen Bearbeitung der französischen Fassung Moïse et Pharaon (einfach Mosè betitelt).46 Im einleitenden Chor des Nabucco bringt die Moll/Dur-Wendung – wie bei Rossini im Gebet »Dal tuo stellato soglio« – die Rückkehr der Hoffnung in die Seelen des vom Feind gequälten jüdischen Volkes zum Ausdruck. 45 Budden, The Operas of Verdi, Bd. 1, S. 16. 46 Vgl. Pierluigi Petrobelli, »Dal Mosè di Rossini al Nabucco di Verdi«, in  : ders., La musica nel teatro. Saggi su Verdi e altri compositori, Turin 1994, S. 7–33. Einen Vergleich zwischen den beiden Opern unternimmt Markus Engelhardt, Die Chöre in den frühen Opern Giuseppe Verdis (= Würzburger Musikhistorische Beiträge 11), Tutzing 1988, S. 138–144.

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1. Szene

T. 1–20

Instrumentale Einleitung

T. 21–56

Rezitativ (Desdemona, Emilia)

»Ah! Dagli affanni oppressa«

T. 57–83

Canzone del gondoliero (Gondoliero)

»Nessun maggior dolore«

T. 84–127

Rezitativ (Desd., Emi.)

»Oh come infino al core«

Andante ­maestoso C

Es-Dur

Maestoso 2/4

g-Moll

g-Moll

T. 128–193 Canzone del salice (Desd., Emi.)

»Assisa a piè d’un salice« (settenari)

Affettuoso 2/4

T. 193–217 Rezitativ / deskriptive Musik: Windstoß (Desd., Emi.)

»Che dissi…Ah m’ingannai!«

Allegro C

T. 218–235 Primo tempo (Canzone del salice; Desd.)

»Ma stanca al fin di spargere«

[Affettuoso 2/4]

T. 236–249

»Ahimè! Che il pianto«

Rezitativ (Desd., Emi.)

2. Szene

T. 250–276 Preghiera (Desd.)

6/8

As-Dur

3. Szene

T. 277–292

Instrumentale Einleitung

Maestoso C

C-Dur

T. 292–389

Rezitativ (Scena Otellos) / deskriptive Musik: Blitz, Donner (Otello, Desd.)

»Eccomi giunto inosservato, e solo«

T. 390–479

Duett (Otel., Desd.)

»Non arrestare il colpo«

Allegro C

D-Dur

T. 480–621 Duett, Fortsetzung / deskriptive Musik: Gewitter (Otel., Desd., Lucio)

»Notte per me funesta«

Agitato C

d-Moll /D-Dur

4. Szene

T. 622–672

»Rodrigo? Egli è salvo«

F-Dur, Es-Dur

5. Szene

T. 672–717 nach dem Duett, Fortsetzung (Doge, Elmiro, Rodrigo, Luc., Chor)

»Per me la tua colpa«

Es-Dur

nach dem Duett (Otel., Luc.)

»Deh calma, o Ciel, nel sonno«

Tabelle 2: Gioachino Rossini, Otello, Struktur des 3. Aktes

Am Anfang von Nabucco beklagen sich Juden, Leviten und Jungfrauen über die Niederlage, die der assyrische König Nabucco ihrem Volk zugefügt hat. Die Juden haben jedoch den Glauben an ihren Gott nicht verloren und vertrauen auf ihre göttliche Rettung. Nach der tosenden instrumentalen Einleitung in e-Moll beginnt der Chor mit einem heftigen Tutti »Gli arredi festivi giù cadano infranti«, das in der gleichen Tonart wie die Einleitung 275

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steht. Dann folgt der Ruf zum Gebet »I candidi veli, fanciulle, squarciate«, den die Leviten an die Jungfrauen mit einer neuen, in G-Dur stehenden, aber von Moll schattierten Melodie richten, und darauf die göttliche Anrufung der Jungfrauen »Gran Nume, che voli sull’ale dei venti« zu einem dritten Motiv, nun in E-Dur. Die Veränderung der instrumentalen Farbe, die jetzt von den Holzbläsern und der Harfe geprägt wird, hebt den Umschlag von Verzweiflung in Hoffnung hervor. Das strahlende Tutti in E-Dur, mit dem der Chor endet, bestätigt das Erreichen des neuen positiven und ermutigten Gefühls. Nabucco wagt es, nachdem er die Juden unterworfen und den Jerusalemer Tempel ausgeplündert hat, im Finale des zweiten Aktes (Parte seconda), sich selbst zum Gott zu erklären. Der Gott Israels straft ihn mit einem Blitz, der ihn den Verstand verlieren lässt. Von Abigaille beherrscht, die inzwischen den Thron von Babylon unrechtmäßig erworben hat, wird er im dritten Akt in seinem Palast eingesperrt, nachdem er gezwungen wurde, mit seinem königlichen Siegel das Todesurteil für die Juden zu bestimmen. Dieses Urteil bleibt nicht einmal seiner Tochter Fenena, die sich zur jüdischen Religion bekehrt hat, erspart. Zu Beginn des vierten Aktes (Parte quarta) ist der dem Wahnsinn verfallene König in seinem Zimmer eingeschlossen, wo er auf einem Sessel schläft. Als er erwacht (»Son pur queste mie membra«), berichtet er über einen Albtraum und fantasiert, seine Soldaten zur Eroberung von Jerusalem anzuführen (siehe Notenbeispiel 3). Die Situation ähnelt einer Gefängnisszene, die noch nach den Konventionen der Opera seria der Zeit Rossinis in der Nähe des »dénouement« des Dramas gesetzt wird. Die Episode beginnt mit einem instrumentalen Vorspiel, das wie in Rossinis Otello zugleich das Vorspiel des letzten Aktes der Oper ist. Ein solches Orchestervorspiel zu Beginn des letzten Akts wird in Verdis Opern später fast zu einer Konstante. Das Preludio zur Szene und Arie Nabuccos steht, wie es sich für das Vorspiel einer Gefängnisszene gehört, in einer Molltonart. Darin erklingen keine neuen Motive  ; vielmehr basiert das Stück auf in den vorangehenden Akten eingeführten Motiven, die sich alle mit der Geschichte des gefallenen Königs verbinden  : Das erste Motiv stammt aus dem Abschnitt des zweiten Finale, als der Blitz in Nabucco einschlug  ; das zweite aus dem Gesang, den die durch Nabucco besiegten Juden im ersten Finale angestimmt hatten  ; das dritte aus dem Marsch der Assyrer, der den triumphalen Einzug des Königs in den Jerusalemer Tempel im ersten Akt begleitete. Die Montage dieser Fragmente liefert eine Darstellung der infolge seines Wahnsinns unzusammenhängenden Erinnerung des Königs und trägt gleichzeitig zum formalen Zusammenhalt des Dramas bei, indem sie einige seiner Hauptmomente vor der Auflösung noch einmal zusammenfasst. Der tonale Wechsel erhöht den Eindruck der Bruchstückhaftigkeit des Preludio – und damit den des Wahnsinns der Figur Nabucco. Die drei Abschnitte stehen in f-Moll, As- und Es-Dur. Im Rezitativ, das dem Vorspiel nachfolgt, rüttelt sich Nabucco aus seinem Delirium auf, als er von draußen den Namen seiner Tochter Fenena vernimmt, die ein Militärzug zur Hinrichtung begleitet. Das Vorbeiziehen des Zuges wird musikalisch durch einen Trauermarsch in g-Moll dargestellt, den eine banda auf der Bühne spielt und der sich mit dem Rezitativ Nabuccos verflicht (siehe Notenbeispiel 3). Beim Anblick seiner gefesselten und weinen276

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Notenbeispiel 3: Verdi, Nabucco, Parte quarta, Preludio, »Scena ed Aria di Nabucco«

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den Tochter und in der Erkenntnis, dass er seinerseits gefangen und machtlos ist, fleht der assyrische König den Gott der Juden um Vergebung an und bittet seinen neuen Gott, befreit und gerettet zu werden. Das Flehen Nabuccos vervollständigt sich mit dem Cantabile, das auf das Rezitativ folgt  : »Dio di Giuda  !… l’ara, il tempio«. Die plötzliche Bekehrung Nabuccos und seine Bitte um Vergebung haben Erfolg. Abdallo und die königstreuen Krieger kommen, ihn zu befreien. In der Zwischenzeit ist Nabucco wieder zur Besinnung gekommen. Mit der Befreiung Nabuccos beginnt das »dénouement« des Dramas. Wenn man die erste Episode der Parte quarta vor dem Hintergrund des Schemas der Gefängnisszene interpretiert, bemerkt man, dass ihre musikalische Struktur vom Muster der vergangenen Jahrzehnte, wie wir es bereits in Rossinis Tancredi gesehen haben, gar nicht weit entfernt ist  : eine instrumentale Einleitung in Moll (hier f-Moll), dann ein hochdramatisches Accompagnato-Rezitativ, das für die Gran scena typisch ist und oft in der gleichen Tonart wie die instrumentale Einleitung steht, schließlich ein Cantabile in Dur (hier F-Dur). Vor dem Hintergrund dieser Struktur verwirklicht Verdi jedoch eine ganz individuelle und einzigartige Konfiguration der Gefängnisszene. Eine Besonderheit ist der Zusammenhang zwischen dem Preludio und dem psychischen Zustand der Figur auf der Bühne, durch den auch die zusammenfassende Funktion des Stückes einen Anschein von halluzinierendem Gedächtnis erhält, was die Stimmung am Anfang des Aktes besonders unheimlich erscheinen lässt.47 Ebenso einzigartig ist die Verwendung des Raumes. Wie in anderen Opern erweist sich der Komponist im letzten Akt des Nabucco als äußerst sensibel und kreativ beim dramaturgischen Einsatz der Bühnenmusik.48 Durch den Trauermarsch Fenenas wird die Gefängnisszene verdoppelt. Die doppelte Räumlichkeit mit einer unsichtbaren Ebene, die der Zuschauer nur durch die Musik wahrnimmt und dazu durch die halluzinierende und erschütterte Perspektive Nabuccos betrachtet, erhöht das emotionale Potenzial der Darstellung. Außerdem bewirkt das Erkennen seiner Tochter in Lebensgefahr die Genesung des gefallenen Herrschers und seine schnelle Bekehrung.49 Dur und Moll sind wesentliche Mittel innerhalb dieser Dramaturgie. Die Tonart g-Moll des Trauermarsches hinter der Bühne evoziert die zweite räumliche Ebene und erleichtert dem Zuschauer ihre Wahrnehmung, während die Bühnenmusik insgesamt die Dunkelheit der NabuccoSzene und damit den Kontrast zwischen Rezitativ und Cantabile verstärkt. Der Übergang der Arie nach F-Dur unterstreicht Nabuccos Genesung und Bekehrung. Das Leiden des Königs löst sich in ein Gefühl von Vertrauen auf die Macht seines neuen Gottes auf. Noch mehr als in Nabucco findet man in Verdis folgenden Opern eine bedeutungstragende Verwendung von Dur und Moll, die besonders reich an dramaturgischen und se47 Budden, The Operas of Verdi  ; Bd. 1, S. 108. 48 Vgl. dazu Michele Girardi, »Per un inventario della musica di scena nel teatro verdiano«, in  : Studi verdiani 6 (1990), S. 99–145. 49 Ebd., S. 115.

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mantischen Implikationen ist und zu der wiederum ein starker Zusammenhang zwischen dem Wechsel des Tongeschlechts und der Räumlichkeit der Darstellung zählt –, insbesondere in Luisa Miller. Das Schwanken zwischen Dur und Moll ist eines der Hauptmerkmale der »tinta« dieser Oper, die im Dezember 1849 am Teatro S. Carlo in Neapel uraufgeführt wurde und deren Libretto von Salvatore Cammarano auf dem Drama Kabale und Liebe von Friedrich Schiller basiert. Dies zeigt sich schon klar in der Sinfonia, die stark mit dem folgenden Drama verbunden ist und im Vergleich zu anderen Ouvertüren Verdis ausgefeilter erscheint. Sie folgt dem Typus der monothematischen Sonatenform mit verkürzter Reprise (ohne Hauptsatz). Kern des Hauptsatzes und des Seitensatzes ist dasselbe Motiv, das anfangs in Moll, dann in Durtonarten erklingt. Die tonale Anlage ist die folgende (siehe Notenbeispiel 4a-c)  : Molltonart (Hauptsatz in c-Moll), Durparallele (Seitensatz in Es-Dur), Durvariante (Seitensatzreprise in C-Dur). Dur und Moll verbinden sich in der Oper mit einer Lichtdramaturgie, in der Luisa, Inkarnation der jungfräulichen Reinheit (Licht),50 und die Intrige, die zu ihrem Tode führt (Dunkelheit), einander gegenüberstehen. Schuld an der Intrige sind alle Personen, die zum Kreis des Adels gehören  : der anmaßende Conte di Walter, der böse Kastellan Wurm, der Sohn des Grafen Rodolfo, der Luisa ehrlich liebt, aber zu impulsiv und gewalttätig ist und sie schließlich mit Gift töten wird. Der dunkle Charakter des ersten Themas der Sinfonia lässt uns erahnen, dass für das Licht von Luisa und ihrer idyllischen Welt wenig Raum bleiben wird. Stolz, Arroganz und Gewalt des Adels überwiegen gegenüber den unschuldigen Gefühlen der Protagonistin. Mit ihrem tonalen Chiaroscuro bietet die Sinfonia ein Bild des Dramas.51 Die Rhythmik des Motivs, das die Sinfonia eröffnet und innerhalb des Stückes als vereinheitlichendes thematisches Element zirkuliert, ist Teil der »tinta«, also der Einfärbung der Oper, während der ruhelose Charakter und die dunkle Farbe des Hauptsatzes mit der Aristokratie verbunden sind.52 Das erste Motiv steht immer in Moll, in mehr oder weniger modifizierter Form auch außerhalb der Sinfonia. Es kehrt in der Oper regelmä50 Zur Verbindung der moralischen und emotionalen Reinheit Luisas mit der Gebirgslandschaft und dem Lichttopos in Bezug auf die Figur der »alpine virgin« (Alpenjungfrau), die einige Opern im Bereich der Gattung der italienischen Opera semiseria des 19. Jahrhunderts prägt, vgl. Emanuele Senici, Landscape and Gender in Italian Opera  : The Alpine Virgin from Bellini to Puccini, Cambridge 2005, S. 143–153. 51 Dazu bemerkt Michele Girardi  : »È prioritario, dunque, comprendere la funzione di questa sinfonia, perché non riepiloga momenti chiave della vicenda, ma proietta la propria potenzialità drammatica sull’intera opera e, oltre a esercitare un ruolo primario di coesione narrativa, si rivela soprattutto come la vera chiave per penetrare nella tragica vicenda di Luisa Miller e coglierne il senso più profondo.« (»Es ist deshalb vorrangig, die Funktion dieser Sinfonia zu verstehen, weil sie keine Schlüsselmomente der Handlung zusammenfasst, sondern sich ihre Aussagekraft auf die ganze Oper erstreckt und sich – abgesehen davon, dass sie ein wesentliches Mittel des Erzählzusammenhangs darstellt – als der wahre Schlüssel erweist, um in die tragische Geschichte von Luisa Miller einzudringen und ihre tiefste Bedeutung zu erfassen.«) Michele Girardi, »Luisa e Violetta, eroine borghesi«, in  : Giuseppe Verdi  : Luisa Miller, hrsg. von dems., = La Fenice prima dell’Opera 2005/06, Nr. 5, S. 16. 52 Gerhard, »Charakteristische Tonarten und Instrumentalfarben«, S. 242.

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ßig wieder, wenn Rodolfo dabei ist, sein schlechtes Wesen zu enthüllen, oder wenn er als ehrlicher und leidenschaftlicher Geliebter von Luisa handelt.53 a

b

53 Girardi, »Luisa e Violetta, eroine borghesi«, S. 24–26.

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Notenbeispiele 4a–c: Verdi, Luisa Miller, Sinfonia, (a): T. 1–9; (b): T. 73–90; (c): T. 242–262

Die auffallendste Wiederkehr des Motivs befindet sich am Anfang des dritten Aktes. Rhythmisch verarbeitet erscheint es in c-Moll wie am Anfang der Sinfonia und erklingt im Wechsel mit einer motivischen Reminiszenz, die auf einen glücklichen Moment der Oper verweist, denjenigen des Treffens der Geliebten in der Introduzione (Nr. 1 der Partitur). Betrachten wir die Szene, der diese Reprise des Hauptmotivs der Sinfonia als instrumentale Einleitung dient  : Luisa befindet sich in einem Raum des Hauses ihres Vaters. Sie schreibt einen Brief an Rodolfo, um ihm zu erklären, dass sie ihn immer geliebt hat. Sie denkt bereits an ihren Tod  : Ihr Geliebter wird den Brief erst lesen, wenn sie gestorben sein wird. Gleichzeitig beklagen draußen Laura und die Bäuerinnen das traurige Schicksal ihrer Freundin. Ist der Kontrast zwischen offenen und geschlossenen Räumen immer noch ein Topos in der Oper – der hier zudem die Opposition Luisa/Adel bzw. jungfräuliche Reinheit/durch negative soziale Interessen motivierte Unterdrückung entspricht –,54 so kann man das Zimmer, in dem Luisa schreibt und wo sie in Kürze sterben wird, als eine Verdi’sche Variante des Themas der »stanza fatale« auffassen. Wenn die Situation gewissermaßen die der ›eingeschlossenen‹ und, ohne es zu wissen, ihr Ende erwartenden 54 Gerhard, »Techniken der Vereinheitlichung«, S. 237f.

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Figur ist, trägt die musikalische Struktur noch Spuren des Schemas der Gefängnisszene der italienischen Oper der vergangenen Jahrzehnte  : Eine kurze instrumentale Einleitung in einer Molltonart – wie in Nabucco um bereits in der Oper erklungene Motive gebaut – skizziert die bleierne Atmosphäre und führt, während sie den Beginn des Gesanges unterstützt, in die Handlung des kommenden Aktes ein. Man kann noch ein weiteres dramaturgisches Muster erkennen, das ähnlich dem der Gefängnisszene Rossinis ist – wenn auch in einer idealisierteren und impliziten Form. Die Tatsache, dass der tonale Plan der Sinfonia dem des Gebets aus Mosè ähnelt, lässt uns nämlich die Kontinuität der Tradition der italienischen Oper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (wenn auch in einem Prozess kontinuierlicher Erneuerung) wahrnehmen – eine Kontinuität, die hier vor allem mit der Verwendung der harmonischen Mittel verbunden ist. Betrachten wir zum Schluss noch einmal die Sinfonia aus Luisa Miller  : Die Durchführung beginnt in es-Moll, das eine wichtige Tonart in dieser Oper sein wird  : In es-Moll steht die Episode im zweiten Akt, in der Luisa von Wurm gezwungen wird, den Brief, der den mörderischen Zorn Rodolfos auslöst, zu schreiben. In es-Moll steht auch das Ende der Oper, mit dem Tod von Luisa, Rodolfo und Wurm. Die Dur-Aufhellungen der Exposition und der Reprise der Sinfonia sind daher vorübergehende Lichtblitze, Vorwegnahmen eines nur ideellen Ausgangs der Oper.55 In dem in lautem C-Dur stehenden Schluss der Sinfonia kann vielleicht noch das Echo einer Konvention wahrgenommen werden. Die tonale Beziehung zwischen dem Anfang der Durchführung der Sinfonia und dem Ende der Oper ist jedoch so auffällig, dass man davon ausgehen muss, dass dieser frühe Durschluss auch inhaltlich-dramaturgisch begründet ist  : Aus der Retrospektive betrachtet weist er darauf hin, dass das »lieto fine« in der Geschichte von Luisa nur eine Illusion ist, die niemals Wirklichkeit werden kann. Im Unterschied zu Mosè wird Luisa von keinem Gott vor ihrem Schicksal gerettet. In einer Oper wie Luisa Miller, die vom Geist der Romantik und vom Pessimismus Verdis durchdrungen ist, finden wir nun vollends die Umkehrung des Prinzips »per aspera ad astra«. Das Thema der Umkehrung dieses Prinzips innerhalb der Oper wird gerade durch den Kontrast mit der tonalen Dramaturgie der Sinfonia, in der es sich durchzusetzen scheint, hervorgehoben. Die Erinnerung an diesen frühen, zeitweiligen und illusorischen Erfolg des Prinzips »per aspera ad astra« trägt dazu bei, die Dunkelheit des tragischen Endes der Oper noch zu verstärken.

55 Zur Dramaturgie von Luisa Miller und der wesentlichen Rolle, die die Spannung zwischen den Geschlechtern darin spielt, vgl. Senici, Landscape and Gender in Italian Opera, S. 143–180.

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Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler Für den Kongress über Dur und Moll als den musikalischem Elementarkontrast wurde ich gebeten, die Wiener Liedtradition unter Berücksichtigung verschiedener Fragen zu untersuchen  : ob die Dur-Moll-Semantik allein auf dem Einsatz der beiden Tongeschlechter beruhe oder erst in Kombination mit anderen Stilmitteln wie Chromatik, sinkender Melodik oder langsamem Tempo auftrete, ob sich ein Zusammenhang mit Tonartencharakteristik oder Modalität ergebe und ob es sich bei semantisch konnotiertem Einsatz von Dur und Moll um Einzelfälle oder um personalstilistische oder gattungstypische Regelfälle handle und ob sich Entwicklungen oder Traditionslinien feststellen ließen. Diesen Aspekten nachzugehen, ist ebenso reizvoll wie schwierig. Schon der Untersuchungsgegenstand lässt sich schwer fassen  : Geht es um Lieder, die in Wien entstanden sind, um solche von Komponist.innen, die vorwiegend in Wien tätig waren, oder um Lieder, die in Wien aufgeführt, verlegt oder nur aufbewahrt wurden, und wie verhält sich die Wiener Liedtradition zum »Wienerlied«  ? Gibt es überhaupt eine Wiener Liedtradition, und wie ließe sie sich erzählen  ? In Überblicksdarstellungen liest man, dass mit der Anreicherung der Harmonik um 1850 subtilere Ausdrucksmittel das Lied (ebenso wie andere Gattungen) aus den Niederungen der Dur-Moll-Tonalität auf ein expressiveres Niveau gehoben hätten. Diese Evolution sei eine Erfolgsgeschichte. Sie mag stimmen, ist aber in der Praxis kaum nachzuvollziehen. Schon die Frage, wie der Materialbestand überhaupt erfasst werden könnte, wäre einer eigenen und methodisch interessanten Studie wert, denn schon geringe Abweichungen in der Kombination von Suchbefehlen führen in den Bibliothekskatalogen zu verschiedensten Ergebnissen. Das liegt auch daran, dass sehr viele Lieder undatiert sind. Anhand einiger Widmungsträger.innen lassen sich zwar gelegentlich Publikationszeiten eingrenzen, aber das sagt wenig über die Entstehungszeit, zumal Nachdrucke deutscher Erstausgaben so häufig sind, dass sich wiederum die Frage nach dem Wienerischen stellt. Auch die Erfassung des Forschungsstands hätte die mir zur Verfügung stehende Zeit überschritten. In der Literatur habe ich bisher Einzelfallstudien oder überblicksartige Anmerkungen, etwa zum Liedschaffen eines Komponisten oder zur Harmonik im 19. Jahrhundert, gefunden. Ob mein bisher gewonnener Eindruck zutrifft, das Verhältnis von Dur und Moll werde eher als bekannt vorausgesetzt als genauer untersucht, kann ich zur Zeit nicht mit Sicherheit beurteilen. Immerhin gibt es indizienreiche Überblicksstudien. Zur Frage, ob die Dur-Moll-Semantik allein auf dem Einsatz der beiden Tongeschlechter beruhe oder erst in Kombi283

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nation mit anderen Stilmitteln auftrete, gibt eine Untersuchung von Katelyn Horn und David Huron vom März 2015 zu einem verwandten Thema wertvolle Hinweise.1 Horn und Huron untersuchten 750 Kompositionen, vorwiegend Klaviermusik. Dabei zeigte sich, dass Dur und Moll im Zusammenhang mit anderen Parametern wie Tempo und Lautstärke Cluster ergeben, die sich mit Stimmungen assoziieren lassen. Fröhliche, spritzige Durstücke herrschen im 18. Jahrhundert vor und werden im Verlauf des 19. Jahrhunderts seltener, gleichzeitig nimmt der Anteil zärtlicher und ruhiger Stimmungen stark zu. Während anfangs nur 17% der untersuchten Stücke in Moll standen, hat sich der Moll-Anteil Ende des 19. Jahrhunderts mehr als verdoppelt. (Übrigens scheint der Trend zu Moll bis heute ungebrochen  : Für den Eurovision Song Contest wurde eine entsprechende Erfolgsformel errechnet, die zudem empfiehlt, im Text Nacht, schlechtes Wetter oder religiös konnotierte Bilder zu erwähnen).2 Mein bisheriger Eindruck ist, dass die Semantik von Dur und Moll durch die genannten anderen Parameter und im Zusammenhang mit Tonartencharakteristik oder Modalität noch deutlicher wird  ; und da schon Ernst Kurth über die romantische oder Bruckners Harmonik sehr Ähnliches schreibt, vermute ich, dass dies auch schon eine Teilantwort auf die Frage nach einer (gattungsübergreifenden) Traditionslinie ist. Aber es handelt sich um Tendenzen, und gerade weil sich Konventionen herausgebildet hatten, sind Ausnahmen nicht nur möglich, sondern häufig. Sie beeinflussen die Wirkung der Tongeschlechter, so dass man nicht einfach von d e m Dur oder Moll sprechen kann  ; es geht auch um ihre Schattierungen. Bei Franz Schubert ist Dur nicht gleich Dur, und entsprechendes gilt für das Moll, aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass Schubert das Dur noch stärker abschattiert als das Moll. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen.3 Grundsätzlich wirken bei Schubert Durklänge, die als Terzrückungen im Quintenzirkel aufwärts springen, als Aufhellung. Des Fischers Liebeslied (D 933) hat Anklänge an modale Harmonik, weil die Dominante selten ist und auch andere Durklänge sparsam dosiert sind. Oft ergibt sich der Eindruck des Dorischen. Nach dem subdominantisch dominierten a-Moll und F-Dur leuchtet der A-Dur-Klang (in T. 19) förmlich auf. Der Text heißt hier »und grüße den hellen, gespiegelten Strahl«. Umgekehrt wirken Durklänge dunkler, wenn sie im Quintenzirkel tiefer liegen, und sehr oft sind sie auch Mollvertretungen  : In Mut  ! aus der Winterreise (D 911, Nr. 2) prallt 1 Katelyn Horn und David Huron, »On the Changing Use of Major and Minor Modes 1750–1900«, in  : MTO. A Journal of the Society for Music Theory 21/1 (2015), www.mtosmt.org/issues/mto.15.21.1/mto.15.21.1.horn_ huron.html, 21.2.2016). 2 https://edition.cnn.com/2018/05/11/opinions/eurovision-what-europe-needs-james-ball-intl/index.html, 11.5.2018). 3 Zu Analysen der hier erwähnten Beispiele vgl. Marie-Agnes Dittrich, Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern (= Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 38), Hamburg 1991, und dies., »›Für Menschenohren sind es Harmonien‹. Die Lieder«, in  : Schubert-Handbuch, hrsg. von Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel u. a. 1997, S. 141–267.

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Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler

auf das D-Dur nach »lustig in die Welt hinein« bei »gegen Wind und Wetter« B-Dur. Dieses B-Dur vertritt ein gleichsam verdrängtes g-Moll. Im ersten Satz des Streichquartetts G-Dur D 887, ist der G-Dur/g-Moll-Kontrast des Anfangs formbildend für die Disposition des Seitensatzes, der in D-Dur beginnt (T. 65) und in B-Dur wiederholt wird (T. 110)  : Die beiden Seitensatztonarten repräsentieren jeweils die zu ihr passende Variante der Hauptidee. – Im Goethe-Lied Nun lasst mich scheinen (D 877/3) ist Mignon in ein weißes Engelskleid und die Tonart H-Dur gekleidet. Etwas schattiert wird das Dur durch das relativ langsame Tempo und das Piano bzw. Pianissimo. Im zunächst ganz einfachen H-Dur hört man in der ersten Strophe in Vorder- und Nachsatz bei den Skalen aufwärts wie erwartet dis, in der zweiten Strophe aber nach dem Fis-Dur bei »dort öffnet sich der frische Blick« (T. 18f.) plötzlich den Melodieton d, der aber nicht mit hMoll, sondern mit D-Dur harmonisiert ist. An der Parallelstelle (»doch fühlt’ ich tiefen Schmerz genung«) klingt bei T. 38 »Schmerz« zum selben Melodieton d-Moll. Auf mich wirkt dieses Moll sehr dunkel. Dafür ist wohl die große harmonische Entfernung von FisDur entscheidend  ; wichtig sind aber auch die Ähnlichkeit mit der zweiten Strophe und die Abweichung von der dadurch erweckten Hörerwartung. Derartige offene oder verschwiegene Dur-Moll-Wechsel bei Rückungen von Akkorden im Terzabstand habe ich nicht nur bei Schubert, sondern auch später immer wieder gefunden. Ich nenne nur noch ein sehr bekanntes Beispiel, Hugo Wolfs Mörike-Lied Denk’ es, o Seele  ! Die schwarzen Rösslein kehren in D-Dur »heim zur Stadt in muntern Sprüngen«. Als Terzrückung, mit B-Dur, beginnt danach der Vers »Sie werden schrittweis gehn mit deiner Leiche«. Die mit B-Dur verwandten Harmonien d-Moll und g-Moll vermitteln die Rückung nach B-Dur nicht, sondern kommen erst danach. Dass das BDur hier dunkler klingt, liegt wohl auch an dem langsamen Pavanenrhythmus. Musikpsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Moll oft in tieferen Lagen komponiert wird oder in derselben Lage zu weniger hohen Intervallen tendiert4 und sogar in derselben Lage auf viele Menschen tiefer wirkt als Dur.5 Derartige Wirkungen spielen vermutlich auch in der Wahrnehmung des neapolitanischen Sextakkords und besonders seiner Variante, des »verselbstständigten Neapolitaners«, eine Rolle  : Nach dessen scheinbarem Dur wirkt das Moll wohl auch daher so besonders intensiv, weil bei der Auflösung die Stimmen oft abwärts in eine tiefere Lage führen. In einem besonders berühmten und oft diskutierten Beispiel, Schuberts Irrlicht (Winterreise, Nr. 9), höre ich 4 David Huron, »A Comparison of Average Pitch Height and Interval Size in Major- and Minor-Key Themes  : Evidence Consistent with Affect-Related Pitch Prosody«, in  : Empirical Musicological Review 3/2 (2008), S. 59–63, https://kb.osu.edu/dspace/bitstream/handle/1811/31940/EMR000044a_Huron.pdf;jsessionid=551 B47B594ED257A4D326835674B6EBD?sequence=1, 6.11.2015. 5 William G. Collier und Timothy L. Hubbard, «Musical Scales and Brightness Evaluations  : Effects of Pitch, Direction, and Scale Mode«, in  : The American Journal of Psychology 114/3 (2001), S. 355–375, http://citeseer x.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.471.6013&rep=rep1&type=pdf, http://www.ncbi.nlm.nih.gov/ pubmed/11641885, 6.11.2015.

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bei »jeder Strom wird’s Meer gewinnen« C-Dur und bei »jedes Leiden auch sein Grab« bei dem Wort »Leiden« einen plötzlichen Absturz nach h-Moll – und dies sogar bei der Wiederholung, wenn die harmonische Einbettung des vermeintlichen Durs bereits zu hören war, und trotz einer Funktionsanalyse, die mir einreden will, dass es sich bei dem C-Dur nur um eine Ausweichung im Umkreis der modifizierten Mollsubdominante handle, also um den »verselbstständigten Neapolitaner«. Merkwürdigerweise – und ich weiß nicht, ob es dafür eine Erklärung gibt – höre ich eine Trübung manchmal auch dann, wenn Klänge umgekehrt von einem Mollklang in einen Durklang absinken. Eine Stelle bei Schubert legt nahe, dass es sich dabei nicht nur um meine individuelle Wahrnehmung handelt. Der Text in Schuberts Rellstab-Lied In der Ferne (D 957, Nr. 6) aus dem sogenannten »Schwanengesang« charakterisiert ein BDur, das durch eine Abwärtsrückung von h-Moll entsteht, als äußerst negativ  ; es fällt auf das Wort  : »Mutterhaus hassenden«. Natürlich trägt dazu auch die Satztechnik bei  : im wuchtigen Akkordsatz treten die Oktav- und Quintparallelen deutlich hervor. Ein späteres Beispiel ist Wolfs Mörike-Lied Das verlassene Mägdlein  : Obwohl nach dem a-Moll mit seinem Zitat uralter Bassmodelle in der Singstimme der Pavanen- oder TrauermarschRhythmus erhalten bleibt, wirken die Kreuztonarten mit A-Dur und dem Sekundakkord auf Cis bei »Flammen« und »Funken« (T. 16 bzw. 18) als deutliche Aufhellung. Wenn die Melodie bei »ich schaue so darein« nach cis wieder zum c absinkt, höre ich eine Eintrübung, obwohl der Ton c zu einem Durklang, As-Dur, ergänzt wird. Auch die Form kann Nivellierungen des Dur-Moll-Kontrasts bewirken. Der Text von Schuberts Nebensonnen (Winterreise, Nr.  23) hat fünf Zeilenpaare. Die ersten beiden (»Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn, hab lang und fest sie angesehn«) haben dieselbe Melodie  ; sie wird aber verschieden harmonisiert, erst in A-Dur und dann in fis-Moll (mit einem Schluss in A-Dur). Die Melodie wirkt in beiden Versionen gleichermaßen überzeugend, wohl, weil der Grundton a der Haupttonart erst an ihrem Ende erscheint. Die Reprise besteht aus Bruchstücken des Anfangs, wie vorher schon im Lied Täuschung (Nr.  19). Hier kombiniert das letzte Zeilenpaar (»Ging nur die dritt‹ erst hinterdrein, im Dunkeln wird mir wohler sein«) den Strophenbeginn in A-Dur mit dem Strophen­ ende in fis-Moll und dem A-Dur-Schluss. Aus dem fis-Moll-Teil der ersten Strophe (T. 12) stammt der Cis-Dur-Klang (T. 28), der auf das Wort »im Dunkeln« fällt. So stößt Cis-Dur unmittelbar auf A-Dur. Normalerweise assoziiert Schubert Terzrückungen im Quintenzirkel aufwärts mit Helligkeit. Verklärt der harmonische Kontext dieses »Dunkel«, oder geht es hier um Negierung oder Resignation  ? Die formale Brüchigkeit und die Ambivalenz verleihen dem Dur eine neue Dimension. Bei Schubert sehe ich einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Sprachvertonung und der Behandlung der Tongeschlechter, aber in einem weiten Spektrum von Nuancierungen zwischen scharfem Kontrast und Nivellierung. Nach Schubert sind mühelos Parallelen und Bestätigungen zu finden, aber auch Gegenbeispiele. Wie schwer es ist, die Wirkung von Harmonik grundsätzlich zu erfassen, lässt sich an einem Lied von Brahms, 286

Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler

Schwermut (op. 58 Nr. 5), demonstrieren, und zwar gerade, weil über seine Grundstimmung überhaupt kein Zweifel bestehen kann, obwohl etliche Wörter oder Satzteile (z. B. »Herz«, »weinen« und am Schluss »die Nacht der Nächte«) auf Durklänge fallen. Die Tonart es-Moll wird als Ausdruck äußerster Hoffnungslosigkeit interpretiert  ; Kalbeck spricht vom »starre[n] Schmerz des mit Sterbeglocken läutenden es-moll-Largos, das gemessenen schweren Schrittes wie ein Kondukt vorüberzieht«.6 Dass etliche Harmonien daraus sich dem Beginn des Sanctus aus Schuberts Messe Es-Dur (D  950) verdanken dürften, ist bekannt.7 Aber obwohl die Terzrückungen Es-Dur – g-Moll – h/ces-Moll – es-Moll bei Schubert noch stärker ins Ohr fallen, weil sie dort unvermittelt aufeinander prallen, kann in seiner Messe von Melancholie keine Rede sein  : hier geht es um Gotteslob in einer Sphäre des Erhabenen (mit tremolierenden Streichern, Posaunen und dem dreimaligen Crescendo vom Piano zum Fortissimo). Der Kontext ist also für die Empfindung harmonischer Wirkungen maßgeblich. Harmonik ist eben mehr als das Material der Klänge und Klangverbindungen.8 So banal diese Erkenntnis wirkt, so problematisch ist die Frage, welche methodischen Konsequenzen daraus für eine Theorie von Dur und Moll im 19. Jahrhundert zu ziehen wären. Da sie Parameter wie Form, Syntax, Satztechnik, Melodik, Metrik oder Rhythmik einschließen müsste, wüsste ich nicht einmal ihre methodischen Ausgangsfragen zu formulieren. Entsprechend schwierig wäre es, eine Geschichte der Semantik von Dur und Moll im 19. Jahrhundert zu erzählen und damit den dritten Fragenkomplex zu beantworten  : ob der semantisch konnotierte Einsatz von Dur und Moll bei den betreffenden Werken bzw. Komponisten als Einzelfall oder als personalstilistischer bzw. zeit- oder gattungstypischer Regelfall zu betrachten sei und ob sich Entwicklungen oder Traditionslinien erkennen ließen. Im Fall von Schubert glaube ich an eine Entwicklung. Allerdings liegt sie weniger im harmonischen Material, denn Klänge und Klangverbindungen, die die Kritiker seines Spätwerks entsetzten, finden sich schon in seinen frühesten Kompositionen. Bereits die Schiller-Vertonung Leichenfantasie (D 7) enthält Rückungen wie das erwähnte RellstabLied In der Ferne. Die Oktav- und Quintparallelen (letztere sind durch die Akkordbrechungen ein wenig gemildert) standen auch damals für bewusste Konventionsbrüche  : Der Text heißt »königlich wider den Zügel [sich bäumen]« (T. 214ff.). Was sich bei Schubert ändert, ist der Kontext. Ins Ohr fallende und regelwidrige Harmonik, die zunächst nur in großen, formal freien Stücken und meist auch in syntaktisch lockerer gefügtem Kontext vorkam, integriert Schubert später in die Strophenform, deren einfacher Syntax 6 Max Kalbeck, Johannes Brahms (1915–1921), Tutzing 1976, Bd. 4.2, Kap.  8, www.zeno.org/Musik/M/ Kalbeck,+Max/Johannes+Brahms/2.+Band/2.+Halbband/8.+Kapitel, 6.11.2015. 7 Vgl. dazu Andreas Ickstadt, Aspekte der Melancholie bei Johannes Brahms, Würzburg 2015, S. 161. 8 Da die hoch gelobte Studie von Dmitri Tymoczko, A Geometry of Music  : Harmony and Counterpoint in the Extended Common Practice, Oxford 2011, darauf keine Rücksicht nimmt, kann sie die Wirkungen der geometrisch dargestellten Harmonieverbindungen nicht hinreichend erklären.

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Marie-Agnes Dittrich

sie widersprechen. Im ganz regelmäßig in Zweitakter gegliederten Rellstab-Lied steht die Rückung innerhalb einer Phrase. Diese Diskrepanz zwischen einfacher Form und komplexer Harmonik verstärkt die Ausdruckswerte einzelner Akkorde i n Dur und Moll und der Akkordverbindungen n a c h Dur oder Moll. Damit kann sich in Schuberts Liedern die Konnotation des einfachen Durs ändern. Schlichte Liedstrophen in Dur, in denen der einfachen Form des Textes eine gleichermaßen einfache musikalische Syntax und Harmonik entspricht, also genau das, was man zu Schuberts Zeit als typisch für das Lied empfand, solche Strophen können bei Schubert zur Ausnahme werden. Sie können dann für das Schöne, Idyllische, für Träume, Utopien, aber auch für Täuschung oder Selbstbetrug stehen. Das Dur kann damit auch einen negativen Aspekt annehmen oder wenigstens ambivalent wirken. So kann es seine Unbeschwertheit verlieren. Dies bestätigt in gewisser Weise die Befunde von Huron/Horn. Um ein Beispiel zu nennen  : Auf die Durstrophe im Wegweiser aus der Winterreise (Nr. 20) mit dem Text »Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheun«, reagieren in meinem Analyse-Unterricht etliche meiner Student.innen etwas verlegen. Hinter unbeholfenen Erklärungsversuchen (wie  : das klinge blöd) steckt eine Erkenntnis. Das Dur mit seinen Sextparallelen und der banalen Halbschlusswendung (T. 25) nach der zweiten Phrase ist im Kontext der Winterreise nicht mehr echt, sondern das Zitat eines Klischees. Aber interessanterweise bemerken meine Student.innen dieses Unechte oft erst n a c h der Analyse der satztechnisch und harmonisch viel komplizierteren ersten Strophe in Moll. Erst dieses Wissen bewirkt die nötige Sensibilisierung ihres Gehörs und Stilempfindens. So erfreulich dies für mich als Lehrerin ist, so problematisch ist es methodisch. Denn wer bestimmt, wann ein Dur unglaubwürdig oder negativ wirkt  ? Wilhelm Kienzls »im 15. Lebensjahre«,9 also vermutlich 1871, komponiertes Jugend­ werk Der Leiermann wirkt wie aus Schuberts Winterreise durchgepaust  ; es finden sich darin mit den ostinaten Figuren über leeren Quinten Anklänge nicht nur an die Drehleier aus Schuberts gleichnamigem Lied, sondern auch an die Hunde bzw. ihre rasselnden Ketten aus Im Dorfe. Originell und schwer zu verstehen ist aber, dass das Lied in Dur steht. Verrät dies eine »Anxiety of Influence«  ?10 Oder komponiert hier ein abgebrühter Teenager, dessen Empathie erst durch »barfuß auf dem Eise«, der ersten Passage in Moll, aktiviert wird  ? Oder hat Kienzl das »Todes-E-Dur« komponiert  ? Ähnlich ist es im Haidenröslein (erschienen 1887) von Hans von Zois. Zwar lässt der Tonartenwechsel von Es-Dur nach es-Moll bei »Und der wilde Knabe brach« auf Empathie mit dem Röslein hoffen (bzw., in anderer Deutung des Goethe-Gedichts, dem vergewaltigten Mädchen). Dann könnten D-Dur und Ges-Dur bei »Weh und Ach« nur als sehr negativ verstanden werden. Aber das Lied schließt wieder in Es-Dur, noch dazu mit der   9 Diese Angabe ist im Druck vermerkt  : [Wilhelm] Kienzl-Album. Eine Auswahl von Liedern & Gesängen für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, Wien ca. 1900, S. 32. 10 Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973.

288

Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler

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Notenbeispiel 1: Hans von Zois, Haidenröslein, Schluss

289

Marie-Agnes Dittrich

typischen Schlussfloskel österreichischer Volksmusik, der großen None über der Dominante. Wird die implizierte Gewalt so doch zu einer volkstümlichen Idylle verharmlost, so wie es ja auch Goethes Gedicht bisweilen unterstellt wird  ? Derartige Fragen stellen sich erst recht in Gustav Mahlers Wunderhorn-Liedern mit der beiläufigen Grausamkeit vieler Texte. Steht das B-Dur in Das irdische Leben, mit dem die Mutter ihr verhungerndes Kind vertröstet, für eine Hoffnung  ? Eine sinnlose, da man die Auflösung in die Grundtonart es-Moll erwarten muss  ? (Damit wäre das Dur ähnlich den viel zu vergänglichen Dominanten, auf denen, ebenso vergebens, in Schuberts Winterreise die Letzte Hoffnung ruht). Das himmlische Leben klingt mir auch nicht wesentlich anders  ; zwar herrscht dort in der Grundtonart G-Dur kein Mangel an Nahrung, das aber nur, weil Herodes, in e-Moll doch sehr in der Nähe, immer noch ein Schlächter ist, diesmal der später servierten Lämmchen. Ambivalent ist auch das Dur in den Kindertotenliedern. Im dritten Lied, Wenn dein Mütterlein, bleibt nach dem Ganzschluss in c-Moll das Klaviernachspiel auf G-Dur stehen. Ist das nun ein Trost  ? Oder steht die Dominante für das Unvollendete dieses kleinen Lebens  ? Dass ich in diesem Halbschluss eher einen Anklang an viel ältere Sterbeszenen höre, wo die Sterbenden vor dem Erreichen ihres Kadenz-Ziels ihr Leben aushauchen, liegt natürlich auch an den vielen Seufzermotiven in diesem Lied. Ist das D-Dur am Schluss der Kindertotenlieder, nach dem langen Moll des Anfangs und den dissonanten Schreckensakkorden bei »Man hat sie hinausgetragen, ich durfte nichts dazu sagen« – versöhnlich  ? Vielleicht für jene, die glauben können, dass die Toten »von Gottes Hand bedecket« sind. Es gibt also die Möglichkeit einer Markierung des Dur als Besonderheit und häufig auch ein Dur mit negativem Anklang oder ein vieldeutiges Dur. Aber dies ist e i n e , nicht d i e Entwicklung. Dur und Moll können nach wie vor auch als Elementarkontraste wirken. Zum Beispiel, soweit ich es bisher übersehe, im Wienerlied – im Prater ist fast immer Dur (gelegentliches Moll bezieht sich auf die üblichen Themen wie Liebesleid) – und in Liedern, die sich volkstümlich geben. Mit den Worten »Du Wiege deutscher Weisen« beginnt ein Lied von Joseph Deiller im Wiener Almanach von 1895 mit dem Titel Vieltreues, deutsches Wien.11 Es ist, wie zu Wagners Meistersinger-Vorspiel, ein Marsch in C-Dur und verlangt, die Vortragsanweisung des Dichters, »Im Volkston«, mit der des Komponisten, »Weihevoll«, in Einklang zu bringen. In Hermann Meyersbergs HeineVertonung Das Glück ist eine leichte Dirne steht das Glück in E-Dur und verflüchtigt sich nach H-Dur  ; die Strophe des Unglücks beginnt und bleibt in h-Moll. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind viele Lieder reich an Mehrklängen. Ein Teil der Harmonik spielt sich dann nicht i n , sondern in Terzentürmen ü b e r Dur oder Moll ab. Reine Dur- oder Mollakkorde können dann wie Inseln der Deutlichkeit wirken. In Alma Schindlers12 Licht in der Nacht (Text von Otto Julius Birnbaum) leuchtet in der Dunkel11 Der Text ist von Joseph Winter, in  : Wiener Almanach für das Jahr 1895, S. 339–341. 12 In der Ausgabe (Wien, UE, [1910] 1984) lautet ihr Name Alma Maria Schindler-Mahler.

290

Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler

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Notenbeispiel 2: Alma Schindler, Ich wandle unter Blumen

291

Marie-Agnes Dittrich

heit ein einziger Stern auf und verlischt wieder. Die wenigen reinen Dur- und Mollklänge stehen für Helligkeit bzw. Dunkelheit. Ihre Heine-Vertonung Ich wandle unter Blumen beginnt mit Durklängen, die allerdings durch die Nebennoten unklar wirken, und fällt bei dem Heine’schen Absturz von Liebestrunkenheit zu »und der Garten ist voller Leut« von exaltierten und funktionsharmonisch unlogischen, nur durch Chromatik verknüpften Klängen in eine banale Schlusskadenz in C-Dur, allerdings mit einem winzigen Rückblick auf das Ende zweier Heine-Lieder von Schubert  : Das Arpeggio eines verminderten Septakkordes, wie in Die Stadt, steht wie in Am Meer zwischen zwei C-Dur-Akkorden. Alle diese Lieder setzen die konventionelle Semantik der Tongeschlechter voraus, auch wenn sie von ihr abweichen. Dur und Moll können aber auch reine Farbwerte sein. Viele der Lieder im Heiligen Geist von Mathilde Kralik (Texte von Richard Kralik, 1897 publiziert von der Leo-Gesellschaft, einem nach dem damaligen Papst benannten katholischen und antisemitischen Verein), pflegen einen erhabenen und begeisterten Tonfall, egal ob es um die Verehrung des heiligen Geistes oder um die Glorifizierung des Märtyrertums geht. Wie im Text fast jedes Substantiv emotional aufgeladen ist, sind zahlreiche Harmonien durch Dissonanzen angereichert oder werden funktionslos als Klangreize verwendet. In Im Herzen der Gottheit finden sich zäsurlos ineinander übergehende Bruchstücke konventioneller Kadenzen  : Der Vers »Du bist das süße Heimweh nach unserm Vaterland« beginnt in C-Dur  ; statt der erwarteten Auflösung in die Tonika folgt ein Halbschluss in a-Moll (T. 31–37). Eine spezifische Dur-Moll-Semantik kann ich hier ebensowenig ausmachen wie in der folgenden Zeile »Du bist der strahlende Leuchtturm, ob flutumbrandetem Strand«), in der umgekehrt ein nach der Subdominante mit sixte ajoutée und vermindertem Septakkord erwartetes [a-]Moll durch ein [Es-]Dur ersetzt wird (T. 48), das dann mit dem Ton cis nach D-Dur, T. 51, moduliert. Auch wenn am Schluss (»In Dir schließt sich die Gottheit und alle Schöpfung ab«) der kadenzierende Quartsextakkord (T. 66f.) statt in die Dominante D-Dur in die Mollsubdominante c-Moll führt, entsteht der Eindruck jener ekstatischen Erhabenheit über die harmonische Logik, die Alma Schindlers Heine-Lied zu verspotten scheint. Auffallend sind aber im ganzen Kralik-Zyklus die vielen Plagalschlüsse  : Die Mollsubdominante vermittelt offenbar immer noch, wie in diesem Beispiel, eine gewisse Feierlichkeit. Ich komme zum Schluss  : All dies sind Einzelbeobachtungen. Zwar ergeben sie Cluster, aber Gegenbeispiele sind nicht selten. Methodisch problematisch ist die Subjektivität meiner Klangempfindung, die auch sehr von der Textinterpretation abhängt. Die Frage, wie daraus seriöse analytische Befunde und gar eine Theorie werden können, kann ich nicht beantworten. Und da ohne seriöse Analyse keine Historiographie denkbar ist, kann ich nicht sagen, ob sich eine generelle Entwicklungsgeschichte von Dur und Moll im Wiener Lied schreiben ließe und ob sie ein linear erzählbarer Prozess oder gar eine Erfolgsgeschichte der Emanzipation der Klänge von ihren konventionellen Konnotationen wäre. Ich nehme 292

Dur und Moll in der Wiener Liedtradition von Schubert bis Mahler

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Marie-Agnes Dittrich

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Notenbeispiel 4: Mathilde Kralik, Im Herzen der Gottheit, Schluss (T. 57–70)

an, dass Entwicklungsgeschichten und Traditionsbrüche neben einer unveränderten »longue durée« oder »common practice« existieren, die sie durchaus kompositorisch und als Hörkonvention auch voraussetzen. Wenn man hier unberücksichtigte Aspekte wie das Fortleben des Modalen oder das exotische Moll mit einbezieht, ergibt sich die Vermutung, dass es viele Entwicklungen und Dauerzustände gleichzeitig gegeben haben könnte, vergleichbar den Evolutionsbüschen, die nun in der Biologie den »Stammbaum des Lebens« ersetzt haben.

294

Christoph Hust

Dur und Moll nach Moritz Hauptmann Positionen und Epistemologien im Leipziger Theoriediskurs des 19. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich in der Literatur zu Satzlehre und Musiktheorie allenthalben Hinweise auf das Bewusstsein einer schwierigen Lage.1 Die tradierten Satzregeln und -modelle wurden als arbiträr, verwirrend, oberflächlich und inkohärent empfunden. Mehrere Autoren forderten neue, stabile und konsistente Fundamente ein, die sie in den gängigen Generalbass- und Partimentoschulen nicht fanden. Hierzu seien exemplarisch vier Stimmen aus vier Jahrzehnten genannt  : 1. Gustav Andreas Lautier wollte 1827 zur »Tonwissenschaft« zeigen, »wie die bisher als Chaos oder begrifflose Aeußerlichkeit erscheinende Masse ihrer Regeln nichts sey als eine allgemeine Regel«  : also ein Gesetz, von dem »alle Regeln der Tonwissenschaft […] nur verschiedene Relationen« darstellten. Dafür sei es nötig, ein bisher bloß als Lippenbekenntnis artikuliertes Postulat mit Leben zu füllen und die »Identität der Kunst mit dem Begriff oder der Philosophie« herzustellen.2 2. Andreas Kretzschmer fragte 1833 mit viel poetischem Furor  : »Heilige Musik  ! Himmelstochter  ! […] was bist Du, was ist dein Wesen  ?« Musik wirke bei allen Völkern und zu allen Zeiten gleich, erscheine jedoch äußerlich immer anders. In dieser Doppelgestalt von invariabler Idee und variabler Erscheinung sei sie ein Abbild der Transzendenz, ein »Echo aus einem schöneren Leben herüber klingend«. Für Kretzschmer ist ein verborgenes Gesetz die Ursache, insofern »alles Wirken der Natur […] regelmäßig« wäre. So gilt auch für die Musik  : »Eine Regel, eine einfache Regel leitet ihr Wirken.« In Geschichte und Gegenwart der Disziplin sei das bisher aber nicht ersichtlich geworden, im Gegenteil  : »Die Theorie der Musik im Allgemeinen erscheint als ein gährendes Chaos.«3

1 Vgl. Manfred Wagner, Die Harmonielehren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 38), Regensburg 1974, S. 157–161  ; Ulf Thomson,Voraussetzungen und Artungen der österreichischen Generalbaßlehre zwischen Albrechtsberger und Sechter (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 8), Tutzing 1978, S. 105–108. Eine Spezialstudie zur Auseinandersetzung zwischen Fink und Marx ist Kurt-Erich Eicke, Der Streit zwischen Adolph Bernhard Marx und Gottfried Wilhelm Fink um die Kompositionslehre (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 42), Regensburg 1966. 2 Gustav Andreas Lautier, Praktisch-theoretisches System des Grundbasses der Musik und Philosophie, als erste Abtheilung eines Grundrisses des Systems der Tonwissenschaft, Berlin 1827, S. V. 3 Andreas Kretzschmer, Ideen zu einer Theorie der Musik, Stralsund 1833, S. 3–5.

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Christoph Hust

3. Gottfried Wilhelm Fink griff 1842 Johann Gottfried Schicht als Prototypen eines Autors an,4 der seine »Annahmen […] so widersprechend hingestellt [habe], dass ein kaum angegebenes Gesetz einige Zeilen später durch ein anderes aufgehoben erschien«. Neuere Theoretiker hätten vor den Schwierigkeiten kapituliert und sich, »wie es vorzüglich in Kunst und Religion zu geschehen pflegt, […] dem Gefühl in die Arme [geworfen], der Welt der Ahnungen, in welcher man hier u n m i t t e l b a r e E r k e n n t n i s s zu finden glaubt. Man fing an von Inspirazion und Offenbarung zu sprechen, das Heil aller Kunst allein in ihnen suchend.« Den Rest hätte der Markt erledigt, indem »blose Buchhändlerspekulazion« und die allgemeine Nachfrage nach Theoretica dazu führten, »dass die Welt nicht wenige solcher Lehren erhielt, die besser ungedruckt geblieben wären.«5 4. Und 1853 stellte Ernst Friedrich Richter fest, dass »ein wirklich haltbares wissenschaftlich-musikalisches System, nach welchem durch e i n Grundprincip alle Erscheinungen im musikalischen Gebiete als stets n o t h w e n d i g e Folgerungen sich dargestellt finden«, noch nicht geschrieben wurde. Immerhin gebe es einen Hoffnungsschimmer, nämlich »ein Werk […], welches im Stande sein dürfte, eine fühlbare Lücke auszufüllen, es ist dies  : die Natur der Harmonik und Metrik von M. Hauptmann.«6 Diese und viele andere Autoren entdeckten also Leerstellen und standen ratlos vor Phänomenen, für die sie ein Gemeinsames suchten. Einerseits beklagten sie Chaos und Widersprüche, andererseits die hektische Betriebsamkeit bei der Produktion immer weiterer Bücher. Das wirkt wie ein Musterbeispiel dessen, was Thomas Kuhn für die Beschreibung eines Legitimationsproblems und der von ihm als ›vorparadigmatische Zeit‹ beschriebenen Suche nach Lösungsstrategien benannt hat  : Eine »umfassende Paradigmazerstörung und größere Verschiebungen in den Problemen und Verfahren« stehe am Beginn jeder neuen Denkweise,7 deren Entwicklung das Bewusstwerden einer Krise voraussetze.8 Kuhn sieht die Wendung zur »philosophischen Analyse«9 und die Produktion immer neuer Forschungsansätze ohne inhaltlichen Fortschritt10 als Kennzeichen solcher Situationen. Ich möchte sein Modell jedoch nicht überstrapazieren. Erstens hat Kuhn selbst darauf hingewiesen, dass die Ausbildungssituation der Musik (und dies scheint mir auf die Satzlehre übertragbar) ohne ausgeprägte Lehrbuchtradition auskommt.11 Zwei  4 Fink bezog sich auf Schichts Grundregeln der Harmonie nach dem Verwechslungs-System entworfen und mit Beispielen erläutert, Leipzig [1812].   5 Gottfried Wilhelm Fink, System der musikalischen Harmonielehre, Leipzig 1842, S. V–IX.   6 Ernst Friedrich Richter, Lehrbuch der Harmonie. Praktische Anleitung zu den Studien derselben, zunächst für das Conservatorium der Musik zu Leipzig bearbeitet, Leipzig 1853, S. VI.   7 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1973), Frankfurt/Main 242014, S. 80.   8 Ebd., S. 98f.   9 Ebd., S. 101. Kuhn fährt fort  : »Tatsächlich hält sich die normale Wissenschaft gewöhnlich die Philosophie vom Leibe, und wahrscheinlich aus gutem Grund.« 10 Ebd., S. 174. 11 Ebd., S. 176.

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Dur und Moll nach Moritz Hauptmann

tens wäre zu fragen, ob und wie weit die Voraussetzung eines ›emphatischen‹ Theoriebegriffs und eines wissenschaftlichen, forschungs- und problemorientierten Bewusstseins12 mit der Musik-›Theorie‹ des mittleren 19. Jahrhunderts – aber auch dem, was seither mit diesem Etikett bedacht wurde und wird – überhaupt korreliert. Moritz Hauptmanns13 Beitrag zu dieser Debatte besteht in erster Linie in seinem Buch von 1853, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik (NHM). 1868 gab sein ehemaliger Schüler Oscar Paul aus dem Nachlass eine umformulierte Auskoppelung »mit beigefügten Notenbeispielen« heraus, Die Lehre von der Harmonik. Schließlich erschien 1874 eine sehr bunte, teils hoch interessante Sammlung unter dem Titel Opuscula. Vermischte Aufsätze (OVA). 1871 und 1876 kamen noch zwei Bände mit Briefen dazu.14 Für die anfangs zögerliche Rezeption der NHM wurde 1855 ein apologetischer Aufsatz von Louis Köhler bestimmend. Köhler sah Hauptmanns Begriff von Dur und Moll als den wesentlichen Vorzug des Buchs und scheute vor keinem Wortspiel zurück, um den »HauptMann«15 seines neuen Verständnisses einer Theorie der Musik ins rechte Licht zu rücken  : »Die tiefere Sinnbedeutung der Moll- und Dur-Tonart müßte in Hauptmann’s Buche von Jedem studirt werden  ; die ächt wissenschaftliche classische Sprache und engste Gedrängtheit der Darlegung des Gedankenganges sind daselbst überall von seltener Art  ! statt der circa 400 Seiten des Buches würde ein anderer Harmoniephilosoph wohl mindestens das Doppelte gebraucht haben. Hauptmann muß ein ganzes musikalisches Denkerleben vor seinem Buche durchgemacht haben, er ist ein Mann, wie es unter uns Musikanten wohl immer nur Einen geben mag  : Hauptmann ist, als Musikant, der richtige Musik-Kant und sämmtliche HarmonieTheoretiker im würdigen Chore der ehrenfesten biderben ›Generalbaßlehrer‹ sind seine Studiosen  ; wer von selbigen Jenen nicht hören will, der – laße es bleiben – und möge ihm ewiges Quintgefühl als schaudervolles Erbtheil werden  !«16 12 Ebd., S. 171  : »In sehr hohem Grad wird der Ausdruck ›Wissenschaft‹ den Gebieten vorbehalten, die in offensichtlicher Weise Fortschritte machen.« Kuhn meint mit »Wissenschaft« in erster Linie die »sciences« im angloamerikanischen Verständnis. 13 Hauptmann (1792–1868) war seit 1842 Thomaskantor und Musikdirektor in Leipzig. Im Jahr darauf wurde er Mitglied im Gründungskollegium des auf Initiative von Felix Mendelssohn Bartholdy eingerichteten »Conservatoriums der Musik zu Leipzig«. – Grundlegend zu Hauptmann sind nach wie vor die Arbeiten von Peter Rummenhöller  : Moritz Hauptmann als Theoretiker. Eine Studie zum erkenntniskritischen Theoriebegriff in der Musik, Wiesbaden 1963, und Musiktheoretisches Denken im 19. Jahrhundert. Versuch einer Interpretation erkenntnistheoretischer Zeugnisse in der Musiktheorie (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 12), Regensburg 1967, vor allem S. 45–51. 14 Briefe von Moritz Hauptmann […] an Franz Hauser, hrsg. von Alfred Schöne, 2 Bde., Leipzig 1871  ; Briefe von Moritz Hauptmann […] an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. von Ferdinand Hiller, ebd. 1876. 15 Louis Köhler, »Studien und Betrachtungen über Hauptmann’s Buch  : Die Natur der Harmonik und der Metrik«, Teil III, in  : NZfM 43/18 (26.10.1855), S. 189f., hier S. 189. 16 Ebd., Teil VI, in  : NZfM 43/21 (16.11.1855), S. 221–223, hier S. 221f. Das kryptische »Quintgefühl« bezieht sich auf den von Hauptmann mit der Quint assoziierten Modus der Entzweiung und Selbstentfremdung.

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In etwas weniger blumigen Worten ausgedrückt, habe Hauptmann eine ›tiefere‹, ›sinnhaftere‹ Erklärung von Dur und Moll gefunden. Köhler setzt sie von der Generalbasslehre ab und meint, der ›Generalbasslehrer‹ alten Schlages verblasse vor dem modernen ›Harmoniephilosophen‹. Zwei weitere Reaktionen auf Hauptmann ergänzen als neuen Aspekt die Frage nach den Grenzen von Historie und Systematik in der Musiktheorie. 1854 hielt Joseph Joachim Raff fest, man dürfe »das musikalische Ausdrucksvermögen« nicht »in den Bereich der mathematisch ergründeten Klangphänomene« einzwängen. Derartige Bemühungen müsse er »desavouiren«, »selbst wenn sie mit so großer formaler Berechtigung auftreten, wie [bei] H a u p t m a n n «. Empfehlenswert sei »die harmonistische Speculation« einzig »vom historischen Gesichtspunkte« wie bei Carl Friedrich Weitzmann.17 Peter Cornelius stieß ins gleiche Horn, als er 1870 zum übermäßigen Dreiklang meinte, dieser Akkord sei »in seiner Selbstständigkeit zuerst durch das Sÿstem von Moritz Hauptmann und durch die historische Darstellung des Akkords von \dem Musikgelehrten/ Wei[t]zmann festgestellt worden.«18 Diese Quellen sollen vier Perspektiven eröffnen  : Wenn Köhler die Dur/Moll-Konzeption als den Höhepunkt der Theorie Hauptmanns sah – wie ›funktioniert‹ diese Systematik  ? Gibt es jenseits dieses ›Funktionierens‹ eine Semantik von Dur und Moll  ? Wenn Raff und Cornelius die Historie gleichsam als den blinden Fleck von Hauptmanns Theorie identifizierten  – wie passte dieser ältere Musik seinem Dur/Moll-Paradigma an  ? Und zuletzt  : Was für eine (womöglich sogar ›neue‹  ?) Art des musiktheoretischen Wissens stellte Hauptmann seinem Publikum vor  ?

1. Systematik

Obwohl Hauptmann akustische und mathematische Erklärungen eigentlich als unzureichend empfand,19 argumentierte auch er zum Teil über Zahlen. Aus der Partialtonreihe werden die Elemente des Dreiklangs generiert. Hauptmann spricht von drei »direkt verständlichen«, »unveränderlichen« Intervallen  : Oktave, Quinte und große Terz. Deren Proportionen 1  : 2, 2  : 3 und 4  : 5 bringt er auf einen Nenner und benennt sie künftig als ½  : 1, ⅔  : 1 und ⅘  : 1.20 Von einem abstrakten Ausgangspunkt oder -ton aus bildet Hauptmann die Proportion ½   : 1 und bestimmt ihren Charakter als den der Identität, der Einheit und Gleichheit mit 17 Joseph Joachim Raff, Die Wagnerfrage. Kritisch beleuchtet, Bd. 1  : Wagner’s letzte künstlerische Kundgebung im ›Lohengrin‹, Braunschweig 1854, S. 58. 18 Peter Cornelius, [Handschriftliches Unterrichtsbuch], D-MZs, PCA Mus. ms. 34 (1870), S. 82f. 19 NHM, S. 1–4. 20 Die ›Mechanik‹ von Hauptmanns Argumentation ist oft dargestellt worden und in NHM  – dem Ruf des Buches als schwer verständlich entgegen – klar beschrieben. Ich beschränke mich darauf, die wesentlichen Stationen zu referieren.

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sich selbst  : Die Differenz von 1 und ½ ist ½, also » b e s t i m m t d i e H ä l f t e d a s m i t s i c h G l e i c h e , als andere Hälfte«.21 Er chiffriert diese Relation mit einer »I«  : sowohl der Chiffre für den Oktavton als auch dem Zeichen der Identitätsrelation. Im Verhältnis ⅔  : 1 liegt der Quintton, den Hauptmann mit »II« bezeichnet. ⅔ und die Hälfte von ⅔ ergänzen sich zu 1, und »so bestimmt das Quantum vom zwei Drittheilen, mit dem Ganzen gehört, das dritte Drittheil  ; ein Quantum, an welchem das real Gegebene als ein D o p p e l t e s , s i c h s e l b s t E n t g e g e n g e s e t z t e s e r s c h e i n t «. So bezeichnet die II und ›bedeutet‹ die Quinte die Relation einer Getrenntheit in sich selbst, einer Selbstentzweiung, eines inneren Gegensatzes. Im Verhältnis ⅘  : 1 liegt die große Terz. Die gegebenen vier Fünftel bestimmt Hauptmann in der Relation zum fünften Fünftel als dessen Zwei-mal-Zweifaches, wobei er die Zwei im Multiplikanden als Zeichen der Einheit, die Zwei im Multiplikator als Zeichen der Entzweiung versteht. Das Produkt 2 × 2 verbindet diese Bedeutungen. So wird die Terz, »III«, zum Ausdruck der Zweiheit als Einheit. Die Spaltung aus Einheit oder In-sich-selbst-Sein und Zweiheit, Trennung oder Mit-sich-selbst-entzweit-Sein wird in der Einheit der Zweiheit oder Verbindung aufgehoben. In der III ist folglich »der Begriff enthalten der Gleichsetzung des Entgegengesetzten  : d e r Z w e i h e i t a l s E i n h e i t «. So weit, so dialektisch. Verschiebt man nun die I logisch konsistent in den Ausgangspunkt, entsteht eine Struktur, die – in Tönen ausgedrückt – beispielsweise C–e–G umfassen könnte als eine Konkretisierung von I–III–II. C und G, I und II, sind grundton- oder quintgeneriert und werden, um dies anzuzeigen, groß geschrieben, e ist terzgeneriert und wird klein geschrieben. Aus drei Tönen ist eine neue Einheit entstanden, der Dreiklang. In Analogie zu Hauptmanns späteren Begriffen könnte man ihn präziser als den ›Dreiklang von Tönen‹ bezeichnen (siehe Abbildung 1). Dieser Dreiklang wird in eine neue Selbstentzweiung geführt  : Der Funktion von C als I wird eine Funktion als II entgegengesetzt, dem G als II ein G als I. Nach gleichem Muster generiert das neue Klänge  : F–a–C und G–h–D, Unter- (UD) und Oberdominante (OD). Wieder entsteht eine neue Einheit. Der mittlere Dreiklang fungiert gewissermaßen als dialektisches Mittelstück  : Zum einen i s t , zum anderen h a t er eine Dominante.22 Dadurch verbindet er die Komponenten und ist funktional III – logisch eine notwendige Folgerung, intuitiv freilich misslich, insofern die Tonika nicht als I ausgezeichnet wird.23 Der Dreiklang von Tönen ist auf der nächsten Ebene zum »Dreiklang von Dreiklängen« geworden, der Tonart (siehe Abbildung 2).24 Das Muster lässt sich nochmals wiederholen. So entsteht aus der Tonart ein »Dreiklang von Tonarten«  ; sowohl die Unter- als auch die Oberdominante haben nun ihrerseits Un21 NHM, S. 22. 22 Es handelt sich hier um das dialektische Verhältnis, das noch Hugo Riemann zur Erklärung der Funktions­ trias und der Tonika als Zentrum heranzog. 23 Hauptmanns römische Zahlen sind nicht mit Stufenbezeichnungen zu verwechseln. 24 NHM, S. 25–29.

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Abbildung 1

Abbildung 2

ter- und Oberdominanten. Diesen Dreiklang von Tonarten nennt Hauptmann das Tonartensystem. Weitere Erweiterungen sind nur noch quantitative Ergänzungen, aber keine qualitativen mehr  : Weil ab jetzt in der Mitte eine Lücke klafft, entstehen keine neuen Einheiten mehr. Im Tonartensystem sieht Hauptmann also den logischen Schlusspunkt.25

25 Ebd., S. 29–32.

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Abbildung 3

Was ist mit Moll  ? Dem Alltagsverständnis stehen Hindernisse im Weg. C–es kann nicht I–III sein, denn die III ist ⅘  : 1, die g r o ß e Terz – Hauptmann hatte seine axiomatischen Intervalle explizit als »unveränderlich« bezeichnet.26 Der Dreiklang von Tönen wird in Moll vielmehr vom generativen Grundton aus abwärts gebildet  : C–es–G als II–III–I (siehe Abbildung 3).27 So ist der abstrakte Dreiklang Grundton–große Terz–Quint, der konkrete gewissermaßen dessen Verbindung mit einem Vektor. Dass das nicht dem alltäglichen Hören entspricht, wusste Hauptmann natürlich. Er unterschied deshalb streng zwischen dem logischen und dem gleichsam pragmatischen oder empirischen Grundton. Die logische Bildung von Dreiklang, Tonart und Tonartensystem geschieht auf der transzendenten Ebene der puren Gesetzmäßigkeit. (Das gilt auch für die Chronologie. Im Abstrakten bildet I–III–II einen Prozess  : »Der Verbindung muss die Trennung, der Trennung die Einheit vorausgegangen sein«.28 Der manifeste Dreiklang kann als dessen Ergebnis simultan erklingen.29) Ein rein ›negativ‹ konstruiertes Gebilde könne sich aber nicht zu größeren Einheiten verbinden. Der Dreiklang von Dreiklängen setzt also auch in Moll ein Positives voraus. Hauptmann schlägt zwei Möglichkeiten vor, die zwei unterschiedliche Tonarten generieren  : die Molltonart (°UD, °T, D+) und die Moll-Dur-Tonart (°UD, T+ und D+). Letztere

26 Ebd., S. 21. 27 Ebd., S. 32–35. 28 Ebd., S. 22. 29 Das gilt nur für den Dreiklang von Tönen, nicht für den Dreiklang von Dreiklängen, vgl. ebd., S. 29.

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Abbildung 4

sei »im sentimentalen Genre der modernen Musik« besonders gebräuchlich  : vollständig ausgedrückt im Akkordschritt h–D–F–as zu C–e–G.30 Ein Sonderfall ergibt sich in der Durtonart. Verbindet man die Grenzen der Tonart, so lassen sich zwei weitere Dreiklänge generieren  : h–D|F und D|F–a (siehe Abbildung 4). Am Klavier erscheint der eine als verminderter, der zweite als Molldreiklang. Logisch sind b e i d e vermindert  ; ein Molldreiklang ›unter a‹ ist erst im Tonartensystem möglich, in dem zusätzlich zum quintgenerierten D das terzgenerierte d existiert.31 Die These vom dissonanten Dreiklang der II. Stufe ist an sich natürlich nicht neu.32 Hauptmann fügt sie lediglich in seinen Gedankengang ein  : Notenschrift und Klaviatur täuschen hier und in anderen Fällen über das hinweg, was er erklären möchte,33 nämlich »die Natur der Harmonik«. Diese Natur der Harmonik besteht darin, dass das Bildungsprinzip des Dreiklangs in der I–II–III-Mechanik eine Materialebene beschreibt, eine transzendente Welt der musikalischen Gesetze. Innerhalb ihrer ist das Prinzip elementar, es wird in einem prozessualen, rekursiven Verfahren mehrfach durchgeführt. In dieser Deutung von Dur und Moll sieht Hauptmann das logische Gesetz der Harmonik enthüllt, eben ihre »Natur«. 30 Ebd., S. 35–41, hier S. 40. 31 Ebd., S. 41–52. 32 Vgl. Michael Polth, »Moritz Hauptmann und die Logik des musikalischen Zusammenhangs«, in  : Musikalische Logik und musikalischer Zusammenhang, hrsg. von Patrick Boenke und Birger Petersen (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 82), Hildesheim u. a. 2014, S. 105–118, hier S. 115. 33 Dazu vor allem »Temperatur«, in  : OVA, S. 16–21.

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2. Semantik

Obwohl Hauptmann die Genese der Dreiklänge einem vorkompositorischen, gleichsam transzendenten Raum zuweist, behalten Dur und Moll hörbare Spuren ihrer Entstehung  : Der wahrgenommene Ausdruckswert des Akkords folgt aus seiner Struktur. Hauptmann unterscheidet wie gesehen zwischen dem ›logischen‹ und dem ›pragmatischen‹ Grundton des Molldreiklangs. Er verknüpft das mit einer überaus irdischen Metapher  : »In dieser passiven Natur und indem der Molldreiklang, zwar nicht seinen realen, aber seinen zur Einheit bestimmten Ausgangspunkt in der Höhe hat und sich an diesem nach der Tiefe bildet, ist in ihm nicht aufwärts treibende K r a f t , sondern herabziehende S c h w e r e , A b h ä n g i g k e i t , im wörtlichen wie im figürlichen Sinne des Ausdruckes ausgesprochen. Wie in den sinkenden Zweigen der Trauerweide, gegen den strebenden Lebensbaum, finden wir darum auch im Mollaccorde den Ausdruck der Tr a u e r wieder.«34

Inhaltlich unterscheidet sich das nicht wesentlich von anderen Autoren  ; Fink hatte elf Jahre vorher mit einem seltsam utilitaristischen Unterton gesagt, dass »die D u r t o n a r t e n , auf welcher Stufe sie auch beginnen, sämmtlich den Zustand einer innern Befriedigung, Festigkeit und Freude ausdrücken«, so dass die Musiker »für den Zustand der Sehnsucht nach einer höheren Vollkommenheit und für den Ausdruck des Schmerzes noch eine zweite, diesem Zustand entsprechende Tonleiter« brauchten, »welche man die w e i c h e nannte, lateinisch m o l l i s .«35 In OVA verknüpfte Hauptmann seine Idee mit weiter gespannten Sachverhalten. Dur erschien ihm nun als allgemeiner Ausdruck einer Kraft-, Moll einer Lastbestimmung.36 Sie sind Manifestationen von Kraft und Schwere, die Hauptmann in einem 1857 verfassten Text als die fundamentalen Prinzipien der Mechanik erkannte  : »S t o s s u n d D r u c k   : der Hammer und die Presse«.37 Somit sind die abstrakten Prinzipien von I, II und III mit vielfachen Momenten der Welt verbunden. Hauptmann sah sie schon 1853 etwa auch als Ausdruck von Gefühl, Verstand und Vernunft,38 wozu er 1857 in einem Männlich und Weiblich überschriebenen Text zusätzlich Gender-Zuordnungen traf  : »Das Männliche ist überall das Primäre, das Positive, das Weibliche das Secundäre, das Relative  ; so auch in der Schöpfungsfolge  : Adam und Eva. – Ohne Adam keine Eva. Adam aber konnte zuerst allein da sein  ; erst dass die Einheit zu Verstand kommen, sich selbst begreifen 34 NHM, S. 35. 35 Fink, System der musikalischen Harmonielehre, S. 45. 36 Der Dreiklang und seine Intervalle, in  : OVA, S. 52–56, hier S. 53f.: »Es ist die Kraft, was den Ton nach der Höhe zieht und bestimmt  ; es ist die Schwere, was ihn nach der Tiefe zieht, ihn senkt.« Vgl. NHM, S. 57. 37 Mechanik, in  : OVA, S. 133f., hier S. 133. 38 NHM, S. 11.

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konnte, musste die Zweiheit kommen. In der Generation, durch die Verbindung der Einheit mit der Zweiheit, ist diese das Weibliche, dann das Gestaltende, das Verkörpernde, das Auseinandersetzende – nicht das Befruchtende, aber Fruchttragende und -bringende und in diesem Sinne wieder eben das Künstlerische zu dem Poetischen der Befruchtung.«39

Bei so viel Assoziationsfreude könnte es zunächst verwundern, dass für eine Charakteristik der Tonarten in Hauptmanns Denken kein Platz war. Schattierende Wirkungen der Tonarten entstehen bloß aus ihrer relativen Ordnung, sodass »jede Tonart, welche gegen eine andere chromatisch erhöhete Töne enthält, sich zu dieser als eine gesteigerte, gespanntere« verhält, wogegen chromatisch vertiefte Töne die Tonart »auch selbst als eine vertiefte, ruhigere, weniger gespannte« wirken lassen.40 Folglich sei »der vielbeschworene Character der Tonarten« ein relativer, kein absoluter. Absolut betrachtet, kann Hauptmann aus seiner Konstruktion von I, II und III keine grundsätzlichen Unterschiede ableiten  ; die Genese funktioniert in C-Dur ebenso wie in Fis-Dur, und indem er Vokalmusik oder das transzendente Wesen einer in reiner Stimmung gedachten Musik als Ideal formuliert, sind die Tonarten in den Proportionen der Akkorde gleich. Auch die absolute Tonhöhe sieht er nicht als Argument, indem ein hoch intoniertes C- und ein tief intoniertes Des-Dur ununterscheidbar sein könnten. Erst in der Relation entsteht das Charakteristische, indem beispielsweise in Des-Dur der Grundton der C-Dur-Tonart die III der OD als Leitton ist. Der UD-Ton von C-Dur, F, sei in Des-Dur die III der T. Damit sind die Töne aus der I- in die III-Bedeutung gerückt  ; C ist nicht c und F nicht f. In der Folge müssen andere Töne chromatisch erniedrigt werden, so dass C-Dur aus der Perspektive von Des-Dur nun als chromatisch höhere, damit angespanntere Tonart erscheint. Ganz genauso wirke aber D-Dur gegen Cis-Dur oder Es-Dur gegen D-Dur  : Immer besteht der gleiche relative, nie aber ein eigentlicher, absoluter Charakterunterschied. Bezeichnend für Hauptmanns Sicht der Musik als transzendenter Struktur ist dann das scheinbare Zugeständnis bei Instrumentalmusik  : Dass nämlich auf Saiten- und Blasinstrumenten die Tonarten unterschiedlich klingen, stellt er nicht in Frage  – als Geiger wusste er selbst, dass ein Saiteninstrument etwa in G- und Ges-Dur unterschiedlich resoniert. So würden auch in der Summe, »in der Orchesterwirkung«, differente Klang(farben)eindrücke entstehen. Aber Musik ist und bleibt für ihn das Spiel mit I, II und III, und in dieser Logik gibt es keine praktischen Sachzwänge. So wischt Hauptmann den Fall unverzüglich wieder vom Tisch  : Was »nur auf mechanischer Beschaffenheit und besonderen akustischen Bedingungen der verschiedenen Instrumente beruhet, und nicht in der Natur der Tonarten selbst begründet ist«, das könne »nicht als wesentlich betrachtet werden«. Erfüllt sei dieses Ideal hingegen in der »reinen Vocalmusik«  : »Hier kann das Charakteristische allein in ihrer Zusammenstellung mit anderen Tonarten, in 39 Männlich und Weiblich, in  : OVM, S. 127–131, hier S. 131. 40 NHM, S. 187f.

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Abbildung 5

Abbildung 6

den verwandtschaftlichen Beziehungen, und sofern solche durch die Modulation hervortreten, zu finden sein.«41 41 NHM, S. 188f.

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In der Metrik herrschen die Prinzipien von Dur und Moll analog. Hauptmann geht davon aus, dass in Dur die I vor der II steht (I–III–II), in Moll die II vor der I (II–III–I). Ähnlich könne sowohl das Unbetonte dem Betonten als auch das Betonte dem Unbetonten folgen (siehe Abbildung 5). Metrisches Dur und metrisches Moll äußern sich also in Ab- und Auftaktigkeit.42 In verschiedenen Schichten gesetzt, entsteht ein System der Betonungsschemata im Akzentstufentakt (siehe Abbildung 6). Das System von Dur und Moll ist also ein innerhalb und außerhalb der Musik wirkendes Prinzip, innerhalb sowohl die Zusammenklänge als auch die Zeit- und Betonungsordnung betreffend. Seine Logik überschreibt die sinnliche Wahrnehmung  : Reale Klangwirkungen möchte Hauptmann generell »nicht als wesentlich erachten«. Allein der Hintergrund der Gesetze steuert die »Natur der Harmonik und der Metrik«.

3. Historizität

Wie sich Hauptmanns systematischer Ansatz zu historischen Positionen der Musiktheorie stellt, zeigen in NHM und OVA jeweils die Passagen zu den Hexachorden.43 Hexachorde erklärt Hauptmann von der Durtonleiter ausgehend. Zu deren Intervallschritten fragt er nach der jeweiligen Kommensurabilität (siehe Abbildung 7). Sie sei dann direkt gegeben, wenn ein vereinheitlichendes Element vorliegt. Für C und D ist dies das G  : G ist von C aus gesehen die II, von D gesehen die I. Für D und e ist G von D gesehen die I, von e gesehen die II (mit I = C). So lässt sich von den Skalenstufen 1 bis 6 immer eine verbindende Größe bestimmen. Der Schritt von 6 nach 7 ist aber nicht direkt verbunden. Hauptmann leitet daraus einen logischen Bruch ab  : Die Skalenstufen 1 bis 6 zeigen eine engere innere Verwandtschaft, und dies sei die Grundlage für ihr Zusammenziehen zum »Guidonischen Hexachord« gewesen. Die historische Entwicklung wäre demnach der Systematik des Materials gefolgt. Das Hexachord kann zwei Mal transponiert werden, was jedoch die Grenze der Tonart bereits durchbricht. Zum einen kommen in den Hexachorden F – G – a – B – C – d und G – A – h – C – D – e die Töne B und h hinzu, zum anderen d statt D und A statt a. Die Hexachorde spielen sich also nicht in der Tonart ab, sondern ›virtuell‹ bereits im Tonartensystem (siehe Abbildung 8). Ein viertes Hexachord auf D kann selbst dort nicht bestehen, weil dessen 2 E wäre, das Tonartensystem aber nur e enthält. Die Korrelation von Hexachord und Skala erklärt Hauptmann nun konsequent aus der Prämisse eines generativen Hintergrundes des Durdreiklangs und der Durtonleiter  : »a als la und mi ist die Stufe des Unterdominantterztones, im F-Dur- und A-Mollaccorde 42 Ebd., S. 248f. 43 Ebd., S. 55–57  ; Das Hexachord, in  : OVA, S. 80–89. Ich folge der weiter ausgearbeiteten späteren Fassung.

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Abbildung 7

Abbildung 8

der C-Durtonart bestehend  ; A als re aber ist das der G-Durtonart gehörige, die Quint des D-Duraccordes.«44 Und abermals sieht er Differenzen zwischen den Klaviertasten, der Notenschrift und der Logik des Systems  : »Der Unterschied von B-mi und B-fa, d. i. der Unterschied unseres B und h, ist auffällig genug  ; es wird das Eine mit dem Andern nicht verwechselt werden. Weniger in die Sinne fallend ist der Unterschied von A-la-mi und A-re, so wie jener von D-sol-re und D-la. A-la-mi ist Terzton des Unterdominantdreiklanges, A-re übergreifende Quint der Oberdominantquint  ; D-sol-re Oberdominantquint, und d-la Terz des unter dem Unterdominantdreiklang liegenden B-Du44 Das Hexachord, S. 83.

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raccordes. Die Notenschrift so wenig als die Claviatur haben Unterschiede für diese Verschiedenheiten, dem Ohr aber werden sie durch die Generation der Töne bestimmt.«45

Wenn die Geschichte einen Fortschritt im System bedeute, so sei ein Verfall mit der Anwendung einhergegangen. Deswegen sei es einerseits nicht »wünschenswerth […], die Hexachordsolmisation mit ihren Mutationen erhalten oder wieder eingeführt zu sehen«  : Sie habe sich »mit der reicheren Entwicklung der Modulation von selbst abschaffen müssen«,46 also in einem anscheinend geschichtsphilosophisch zwangsläufigen Mechanismus – frei nach Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte in einem Fortschritt, dessen Notwendigkeit Hauptmann erklärt zu haben glaubte. Problematisch sei jedoch, dass andererseits das Wissen um die Logik verschüttet worden wäre  : »In mancher modernen Musik […] würde wohl eine nicht zu verlangende Divination dazu gehören, wenn in jedem Falle jede Gesangnote nach ihrer Bedeutung im Hexachord benannt werden sollte, da die Composition selbst in dieser Beziehung nicht selten den Ton zweideutig lässt, indem der Componist nur eben eine gewisse Claviertaste dabei im Sinn hatte, nicht aber die speciell harmonische Bedeutung des Tons als melodischen an sich und seinen Zusammenklang mit andern Melodien.«47

Bei so viel Systematik verwundert dann die Argumentation, weshalb die Bildung der Hexachorde nur von Dur abhänge, nicht von Moll. Hier schlussfolgert Hauptmann nämlich überraschend historisch  : »Eine directe Beziehung der Töne des Mollsystemes zu den Hexachordstufen kann sich nicht herausstellen, weil der Begriff und Gegensatz des Dur- und Mollgeschlechts überhaupt der Zeit nach fremd ist, in welcher das Hexachordsystem seine Tonartsbedeutung hat. So musste auch die Mutationstheorie hier in Conflicte gerathen, die ihre Anwendung bald nicht weiter gestattete.«48

Auch authentische und plagale Klangräume integrierte Hauptmann in diese überhistorische Darstellung, so dass er deren Unterschiede u. a. an Beispielen aus populären Liedern sowie von Wolfgang Amadeus Mozart, Louis Spohr, Carl Maria von Weber und Peter von Winter demonstrierte. Wieder führte er dabei als Hintergrund die symbolischen Bedeutungen von I, II und III an, nicht hingegen die mathematischen Berechnungen  :

45 Ebd., S. 84. 46 Ebd. 47 NHM, S. 87. 48 Ebd., S. 89.

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»[Einige] Dinge hat man sonst vorgebracht, um den Unterschied des Authentischen und Plagalen zu erklären, man hat von einer h a r m o n i s c h e n und von einer a r i t h m e t i s c h e n Theilung der Octave gesprochen, jene welche die Quint, diese welche die Quart zum unteren Intervall macht. Wenn auch etwas zahlenhaft Zutreffendes in diesen Bestimmungen enthalten ist, so berühren sie doch den Kern der Sache nicht im Mindesten und sind ganz äusserlich  : es ist kein Verlust, nichts davon zu wissen.«49

Das natürliche Gesetz von Dur und Moll beruht für Hauptmann also nicht auf dem Rechnen, sondern auf basalen Kräften und logischen Operationen. Raff hat das eine – dass nämlich Hauptmann ein überzeitliches System konstruieren wollte  – richtig erkannt, dagegen mit seiner Vermutung, er wolle stattdessen ein mathematisches Fundament errichten,50 ihn grundlegend missverstanden. Konsequenter ›dualistisch‹ ist eine Skalentheorie, die Carl Friedrich Weitzmann in seiner im Wettbewerb der NZfM preisgekrönten Harmonielehre vertrat.51 Als einfachstes »System der Molltonart« benennt er D – f – A – c – E – g – H, anders als Hauptmann also die Trias von Molldreiklängen.52 Diese Molltonalität sei »trüben und schwermüthigen Charakters, und in melodischer und harmonischer Hinsicht stets der entschiedene Gegensatz von der klaren und kühn aufstrebenden Durtonart«. Das äußert sich bei Weitzmann in einem so logisch stringenten wie musikalisch zweifelhaften Dualismus  : Sei bei Dur die Relation von Tonika und Oberdominante für »ihren bestimmtesten Schlußfall« entscheidend, »so bildet ihn die Molltonart mit ihrem Unterdominantdreiklange« – mit anderen Worten  : Moll kadenziert via Subdominante.53 Und auch die Skalen werden gegenläufig gebildet, beide von dem aus, was Hauptmann als den »zur Einheit bestimmten Grundton« bezeichnet hatte  : »Wenn die melodische Durtonleiter mit dem Grundtone des Hauptdreiklanges beginnt und stufenweise hinaufsteigend mit einem Halbtone in die Octave desselben leitet  : c d e f g a h c, so beginnt die melodische Molltonleiter mit der Quinte des Hauptdreiklanges und steigt stufenweise in denselben Intervallen herab, ebenfalls mit einem Halbtone in die Octave ihres Ausgangspunctes leitend  : e d c h a g f e.« 49 Authentisch und Plagalisch, in  : OVA, S. 90–93, hier S. 91f. 50 Siehe oben, S. 298 des vorliegenden Textes. 51 Die folgenden Quellen habe ich bereits unkommentiert veröffentlicht in  : »Franz Liszts Der traurige Mönch nach Nikolaus Lenau. Komponierte Schauerliteratur und ›das Hässliche‹ in der Musiktheorie«, in  : MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 29 (2014), S. 65–71. 52 Carl Friedrich Weitzmann, Gekrönte Preisschrift. Harmoniesystem, Leipzig [1860], S. 9f. 53 Auch dies ist eine These, die in der dualistischen und polaristischen Theorie bei Riemann und Sigfrid KargElert in postulierten mollaren Kadenzwendungen via IV. Stufe fortgeführt wurde.

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Die Intervallverhältnisse sind in diesen Skalen nun spiegelsymmetrisch, und die Bewegungsrichtung ist entgegengesetzt  : Die idealtypische Mollskala verläuft abwärts. Weitzmann ergänzt weitere Skalen  : Gelegentlich werde Dur »durch den weichen Unterdominantdreiklang milder gestimmt«, also °UD – T+ – D+ (skalar  : c – d – e – f – g – as – h – c), Hauptmanns ›sentimentales‹ »Moll-Dur«  ; häufiger werde »die Molltonart kräftiger durch einen harten Oberdominantdreiklang gestaltet«, also °UD – °T – D+ (skalar  : e – d – c – h – a – gis – f – e), in der akkordlichen Darstellung Hauptmanns Regelfall von Moll. Auch diese zwei Skalen sind spiegelsymmetrisch  : »Ihre [gemeint ist die zuletzt genannte ›härtere Molltonart‹] harmonische Begleitung ist wegen des unmelodischen übermäßigen Schrittes gis–f, welcher durch den chromatischen Ton gis herbeigeführt wurde, denselben Bedingungen unterworfen, wie die der Tonleiter der ›weicheren [Dur-]Tonart‹. Auch hier erscheinen nun übermäßige und verminderte Intervalle, ferner der verminderte Dreiklang gis h d und der übermäßige Dreiklang c e gis, und selbstverständlich kann auch die Molltonart außer ihren Stammtönen und dem hier auftretenden chromatischen Tone gis noch die sämmtlichen anderen Töne unseres Tonsystemes als chromatische Nebentöne benutzen.«

Tonalität und eine systematisch, nicht historisch verstandene Modalität fallen hier zusammen. Ein abwärtsführendes Phrygisch ist das ›eigentliche‹ Moll, ein aufwärtsführendes Ionisch ist Dur. Zudem werden zwei abgeleitete Tonarten und Skalen definiert. Diese Ideen wurden in Theorie und Lehre rezipiert  ; Peter Cornelius merkte in seinen nicht publizierten Münchener Harmonielehre-Vorlesungen an  : »Der Theoretiker Weitzmann bildet die Molltonleiter von e–e abwärtssteigend aus den Tönen von C dur. Dies trifft eigenthümlich mit Hauptmann zusammen, wenn wir auf jedem dieser Töne einen Dreiklang nach unten bilden[,] so ergibt jede Stufe genau dasselbe Verhältniß wie in C dur bei der Akkordbildung nach oben, so daß wir die Dreiklänge mit großer Terz auf der ersten, 4t und 5t Stufe, die mit kleiner Terz auf der 2. 3t u. 6t Stufe haben. Ganz wie in Dur, nur daß sie eben im Erklingen das umgekehrt[e] Verhältniß ergeben. Ja, wenn man es auf die Molldurtonleiter anwendet, und sich also F mol[l] auf der vierten Stufe denkt, so ergibt ganz derselbe Accord auf jener umgekehrten Scala den E dur Dominantaccord.«54

Die Systematisierung schritt von hier immer weiter fort und verband sich auf teils wenig überzeugende Weise mit historischem Denken, wie als kurioser Endpunkt ein Brief des Musiktheoretikers Friedrich Höhne an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 25. Februar 1946 zeigt.55 Hier preist er, sichtlich im Fahrwasser von Sigfrid Karg-Elerts 1931 erschie54 Peter Cornelius, Vorlesungsskript zum Harmonielehreunterricht vom 8.6.1868, A-Wn, SM 4760, S. 5. 55 Friedrich Höhne an Breitkopf & Härtel, Dresden, 25.2.1946, D-LEsta (Sächsisches Staatsarchiv Leipzig), Be-

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nener Polaristischer Klang- und Tonalitätslehre (Harmonologik), seine gerade abgeschlossene Schrift über Die Polarität des Tonsystems und einen daraus separierten Auszug über Die Neuen Tonleitern des Polaren Systems an. »Daß zwischen Dur und Moll ein polares Gegenspiel besteht, ist längst Überzeugung der Musiker«, beginnt er wie selbstverständlich  : eine Polarität, die freilich »durch die bisherige Theorie vom ›Parallelismus‹ von Dur und Moll verbaut« worden sei. Und dann verknüpft er Weitzmanns Idee mit der historischen Erkenntnis, dass die Intervallmodelle der griechischen Skalen und der mittelalterlichen Modi vertauscht worden seien,56 zum Postulat von Moll als einem »Ur-Dorisch« und der »rectepolaren« Orientierung der Skalen von Dur aufwärts, von Moll abwärts  ; entwickelt mit zweifelhafter Mathematik57 eine Exponentialfunktion »T = 3x«, für deren Ausgangspunkt 30 er den Ton d einsetzt (als Mitte »zwischen dem Durpol C und dem Mollpol E«), bestimmt die erste enharmonische Spiegelsymmetrie in 36 (gis) und 3–6 (as), setzt diese Töne in die Skalen ein und folgert aus all dem, »daß die bisherige a-Molltonleiter, die auf der Molldominante A invertierte rectepolare E-moll-Tonleiter mit dem moll-Zentralton Gis ist« (e – d – c – h – a – gis – f – e, Weitzmanns »härtere Molltonart«, gleichsam umgangssprachlich verwendet als »harmonisches a-Moll« a – h – c – d – e – f – gis – a). Ihr entspreche nicht C-Dur, sondern »die auf der Durdominante G invertierte G-Durleiter mit dem Dur-Zentralton As« (c – d – e – f – g – as – h – c, Weitzmanns »weichere Durtonart«, verwendet als »harmonisches G-Dur« g – f – e – d – c – h – as – g). Das alles sei, wie Höhne zudem ergänzte, »  !  ! so einfach   !  !«. Dur und Moll waren, wie man sieht, 100 Jahre nach Hauptmann und Weitzmann in einer polaristischen Lesart so umdefiniert, dass sich spiegelsymmetrische Skalenmodelle herleiten ließen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa in den Exotismus-Debatten oder in einigen von Busonis chromatischen Auswahlskalen vorgeprägt waren.58 – Der Verlag lehnte den Druck des Traktates mit Verweis auf dringlichere Vorhaben ab.59 stand 21106 (VEB Deutscher Verlag für Musik), Nr. 4447. 56 Siehe z. B. Oscar Paul, Die absolute Harmonik der Griechen, Leipzig 1866, S. 15. 57 »In dem Quintenzirkelfaktor = 3⁄2 bedeutet 1⁄2 nur eine Oktavverschiebung. Die Ton-Bestimmungsgröße ist daher allein die Basis 3  ! Sieht man also von jeglicher Oktavhöhenbestimmung der Töne ab, so ist unsere Tonleiter (auch die Polare C-e-Leiter  !) eine Exponentialkurve  : T = 3x.« 58 Dabei wurden Dualismus und Polarismus (mit einem Nachspiel bis in die DDR-Zeit  ; vgl. Jonathan Gammert, »Polarismus als Politikum. Die Musiktheorie Fritz Reuters und Sigfrid Karg-Elerts als Gegenstand einer ideologischen Kritik«, in  : MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 29 (2014), S. 51–64) mehr und mehr zu einem Leipziger Phänomen, über dessen Konservatorium bzw. Hochschule jedoch mit internationaler Ausstrahlung. Am Konservatorium scheinen dualistische Thesen allerdings erst ab 1902 durch Stephan Krehl wieder diskutiert worden zu sein, vorher fanden auch Riemanns Schriften dort wenig Anklang. In einem 1897 bei Carl Reinecke und Hermann Kretzschmar als Abschlussarbeit angefertigten Repertorium der Harmonielehre des 1872 geborenen Georg Meißner – im Abgangszeugnis (D-LEhmt, Matrikelnummer 6733) attestierte diesem Reinecke »ganz vortreffliche Kenntnisse und Fertigkeiten in der Harmonie-Lehre« – wird ausschließlich monistisch argumentiert und mit Stufen chiffriert. 59 Breitkopf & Härtel an Friedrich Höhne, Leipzig, 7.3.1946, D-LEsta, 21106, Nr. 4447.

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4. Epistemologien

Damit abschließend zur Frage nach den epistemologischen Grundlagen von Hauptmanns im wahrsten Sinne durmolltonaler Theorie der Musik. Inhaltlich ist der Unterschied zu anderen Lehrbüchern offenkundig. Der von Fink kritisierte Schicht war noch von der Skala ausgegangen und hatte Dur und Moll ohne eigentliche Erklärung bloß vorgestellt.60 Richter definierte ähnlich pragmatisch Dur als Schichtung von großer Terz und Quinte, Moll von kleiner Terz und Quinte. Den Zusammenhang von I., IV. und V. Stufe zeigte er (in Noten) ähnlich wie Hauptmann, indem er auf die Funktionsänderung von Grund- und Quintton des Dreiklangs der I. Stufe aufmerksam machte (siehe Abbildung 9).61 Salomon Jadassohn übernahm in seinem Lehrbuch der Harmonie, einer aktualisierenden Überschreibung von Richters Traktat, zwar die Definition von Dur und Moll in offenbarer verbaler Abgrenzung von Hauptmann, die Herleitung von Unterdominante und Dominante geschah bei ihm aber über Quintrelationen vom Grundton der Tonika aus.62 Hauptmann dagegen hatte sein Projekt mit anderen Kontexten begründet. Insbesondere zwei Mängel erkannte er im älteren Schrifttum  : Die Satzlehre habe den Blick auf die fehlenden tieferen Begründungen der Theorie verstellt, und Mathematik und Akustik würden fälschlich als solche tieferen Begründungen ausgegeben, seien dafür aber untauglich. Sie würden nur Annäherungswerte und ohnehin »nur die Harmonie des Durdreiklanges« liefern.63 Wenn das die Leerstellen sind, womit trat Hauptmann zu deren Füllung an  ? Auffällig ist, dass sein Text von Anfang an auf anthropologische Begründungen zielt. Der »musikalisch richtige Ausdruck« sei »ein menschlich natürlicher, ein vernünftiger und darum ein allgemein verständlicher«.64 Die Theorie der Musik dürfe keinesfalls »mit dem collidiren, was dem gesunden Menschensinne musikalisch gesund und natürlich

60 Schicht, Grundregeln der Harmonie, S. 1–8. 61 Richter, Lehrbuch der Harmonie, S. 9f.: »Ein Dreiklang mit grosser Terz und reiner Quinte wird Durdreiklang, ein Dreiklang mit kleiner Terz und reiner Quinte Molldreiklang genannt.« Richters Pragmatismus zeigt sich, wenn er kleine Abweichungen kurzerhand für irrelevant erklärt  : »Unter Tonart wird der Inbegriff aller harmonischen und melodischen Verbindungen, die sich auf eine und dieselbe Dur- oder Molltonleiter gründen, verstanden, wobei jedoch kleine chromatische Abweichungen in der Melodie nicht zu rechnen sind« (Die Elementarkenntnisse zur Harmonielehre und zur Musik überhaupt, Leipzig 1852, S. 15  ; Hervorhebungen original). 62 Salomon Jadassohn, Die Lehre vom reinen Satze in drei Lehrbüchern, Bd. 1  : Lehrbuch der Harmonie, hier nach der 16. Auflage, Leipzig 1917, S. 12f.: »Jeder Dreiklang wird gebildet durch die Hinzufügung der obern Terz und Quinte zu dem angenommenen Grundton. Je nach dem Verhältnisse, in welchem die Terz als große oder kleine Terz zum Grundtone steht, erhalten wir, falls die Quinte des Grundtones eine reine ist, den harten oder Dur-Dreiklang, gebildet mit großer Terz und reiner Quinte vom Grundton aus (nach oben) und den weichen, oder Moll-Dreiklang mit kleiner Terz und reiner Quinte.« 63 NHM, S. 2f. 64 Ebd., S. V.

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Abbildung 9

erscheint«.65 Musik sei »in ihrem Ausdruck allgemein verständlich […] nicht für den Musiker allein, sie ist es für den menschlichen Gemeinsinn«.66 Sie sei wie die Sprache, die ja auch nicht von den Linguisten erfunden wurde – »sie sprechen mit der Sprache, die der allgemeine Menschensinn macht«.67 Zusammengefasst  : »Das musikalisch Richtige, Correcte, spricht uns menschlich verständlich an.«68 Alles das steht auf den ersten zehn Seiten  – und später rekurriert Hauptmann, wenn auch nicht mehr in gleicher Dichte, immer wieder darauf. Mit dieser Stoßrichtung, Musiktheorie und Anthropologie zu verbünden, konnte er sich auf diverse ältere Autoren berufen  ; nicht zuletzt Immanuel Kant hatte in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) die Musik, das Empfinden 65 Ebd., S. 5. 66 Ebd., S. 6. 67 Ebd., S. 7. 68 Ebd., S. 8.

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über die »Schicklichkeit« der Harmonie, als Beispiel instinktiver » d u n k e l e r Vorstellungen im Menschen« angeführt.69 Dass Hauptmann sich für solche Grundlagen interessierte, zeigt ein Text in den OVA, der mit Rekurs auf Platons Phaidros eine Klassifikation der Sinneswahrnehmung unternimmt.70 Indem er sich hierfür der Philosophie – sei es Hegel, sei es Kant, sei es ­Goethe – zuwandte, hatte er durchaus Vorläufer  ; Lautier hatte 1827 eine Schrift vorgelegt, die  – wenngleich sie teils wie eine Karikatur wirkt – eine diffus hegelianische Konzeption auf die Musik übertragen wollte,71 und Hauptmann hatte sich im Jahr darauf mit dem Buch genau befasst  : »Ich sitze und schwitze jetzt über einem Buche, das mich (zu) sehr beschäftigt  ; vielleicht kennen Sie es schon  : Lautiers System des Grundbasses der Musik und Philosophie (Berlin Dunker und Humblot 1827). In wie fern das System als philosophisches neu, oder dem Verfasser eigen oder nicht eigen ist, weiß ich nicht  ; an mehrern Stellen spricht derselbe eine große Verehrung für Hegel aus. […] Es ist aber schwer zu lesen, besonders ehe man sich hineingelesen hat  – wären es zu verfolgende Tonverkettungen, oder algebraische, so würden sie mir wohl weniger Mühe machen, da ich zu solchen mehr Fertigkeit mitbringe, aber diese mir völlig ungewohnten philosophischen Wortrechnungen werden mir oft sehr schwer. […] Das Buch gleicht an gebundenem Style und unendlicher Verwickelung einer Bachschen Fuge.«72

Hauptmann selbst grenzte sich von Hegelianismus und philosophischer Ästhetik jedoch mehrmals ab. Das zeigen nicht nur seine Replik auf Hermann von Helmholtz,73 sondern 69 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Erstes Buch, §  5, in  : Akademie-Textausgabe, Bd. 7, Berlin 1968, S. 136  : »Eben das gilt von den Empfindungen des Gehörs, wenn der Musiker mit zehn Fingern und beiden Füßen eine Phantasie auf der Orgel spielt und wohl auch noch mit einem neben ihm Stehenden spricht, wo so eine Menge Vorstellungen in wenig Augenblicken in der Seele erweckt werden, deren jede zu ihrer Wahl überdem noch ein besonderes Urtheil über die Schicklichkeit bedurfte, weil ein einziger der Harmonie nicht gemäßer Fingerschlag sofort als Mißlaut vernommen werden würde, und doch das Ganze so ausfällt, daß der frei phantasirende Musiker oft wünschen möchte, manches von ihm glücklich ausgeführte Stück, dergleichen er vielleicht sonst mit allem Fleiß nicht so gut zu Stande zu bringen hofft, in Noten aufbehalten zu können.« 70 Die Sinne, in  : OVA, S. 135–137. 71 Siehe oben, Anm. 2. 72 Hauptmann an Franz Hauser, Kassel, 3.2.1828, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Franz Hauser, Bd. 1, S. 25f. Es ist aufschlussreich, dass Hauptmann die Metapher vom gebundenen Stil später aufnahm, als er Hegels und seine eigene Schreibweise charakterisierte  : »Vielleicht hat aber von der gebundenen Schreibart, wie der Musiker es nennt, und wie ich den Schriftstyl Hegel’s auch nennen möchte, sich mir etwas assimilirt«, schrieb er am 5.3.1863 an Otto Jahn. Der Brief wurde veröffentlicht als »Ein Brief M. Hauptmann’s über Helmholtz’s ›Tonempfindungen‹«, in  : Allgemeine musikalische Zeitung, NF 1/40 (30.9.1863), Sp. 669–673, hier Sp. 671. 73 Ebd.: »Wenn ich ein Buch von Hegel zur Hand genommen habe, hat mir’s auf den ersten Anlauf immer so anziehend, als in längerer Folge für mich unzugänglich geschienen  ; gelesen habe ich also nicht viel darin.« – Die Deutung ist trotz der entschiedenen Formulierung schwierig  : Will man die öffentlich gemachte Rechtfertigung auf den Vorwurf, es seien zu große Anklänge an Hegel in der NHM, für bare Münze nehmen  ?

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auch Dokumente aus dem Archiv des Leipziger Konservatoriums. Zu dessen Programm sollten von Anfang an »Vorlesungen über musikalische Gegenstände, z. B. Geschichte der Musik älterer und neuerer Zeit, Aesthetik der Musik, Akustik, verbunden mit Experimenten u. s. w.« gehören,74 die aber unter keinem guten Stern standen. Fünf Monate nach Beginn des Lehrbetriebs hatte Carl Ferdinand Becker »seine Vorlesungen über Aesthetik und Geschichte der Musik für dieses Winterhalbjahr wieder in Anregung gebracht«, die das Direktorium jedoch nicht zu honorieren gewillt war.75 Wiederum drei Monate später berichtete Hauptmann mehr erleichtert als enthusiastisch, »mit den ästhetischen und historischen Vorlesungen« sei es »so schlimm nicht«  : »Von ersteren ist noch gar nicht die Rede gewesen, und letztere dauern wöchentlich eine Stunde, von ½7 bis ½8 Uhr Abends.«76 Das Blatt wendete sich, als – ausgerechnet – Franz Brendel77 im Januar 1845 öffentliche »Vorlesungen über Aesthetik der Tonkunst« im Kleinen Saal des Gewandhauses hielt, zu denen die Direktion des Konservatoriums zu allem Überfluss die Lehrenden zwangsverpflichten wollte.78 Diese Vorträge kommentierte Hauptmann zwei Jahre später offen kritisch, wobei er gerade Brendels hegelianische Begründungen missbilligte. Hintergrund könnten Bemerkungen sein wie die etwas opake in der Publikationsfassung der Vorlesungen, »daß unsere Kunst Theorie und Kritik in sich als Voraussetzung hat«.79 Hauptmann kommentierte  : »Wir haben jetzt, wie Sie vielleicht gelesen haben, auch eine Tonkünstler-Versammlung hier gehabt, die Herr Brendel, musikalisch-philosophischer Aesthetiker beim hiesigen Conservatorium (der fehlt Ihnen vielleicht noch) ins Leben – getreten hat. […] Etwas fatal ist mir die ästhetisch-philosophische Anmaßung, wie ich sie bei Brendel schon aus früheren Vorlesungen kenne, und wie sie […] bei seinem Einleitungsvortrage auch wieder sich geäußert hat, daß jetzt erst wieder die Musik zu Verstande gekommen sei, nämlich durch die Erklärungen solcher 74 »Das Conservatorium der Musik zu Leipzig«, in  : Neue Zeitschrift für Musik 19/51 (25.12.1843), S. 201–204, hier S. 202. 75 Protokoll der Direktionssitzung vom 12.9.1843, D-LEhmt A, IV.3/1 (Protocolle das Conservatorium betr. 1843), S. 23. 76 Hauptmann an Franz Hauser, Leipzig, 18.12.1843, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Franz Hauser, Bd. 2, S. 14f. 77 Von Anfang an war Brendels Verhältnis zum restlichen Kollegium gespannt. Die Situation eskalierte nach der Veröffentlichung von Richard Wagners Aufsatz Ueber das Judenthum in der Musik in der von Brendel betreuten NZfM, woraufhin Becker »für sich und im Auftrag [der übrigen Kollegen]« (auch Hauptmann und Richter unterschrieben) am 27. September 1850 das Direktorium um »die sofortige Entlassung des Herrn B r e n d e l von dem Conservatorium« ersuchte  : vgl. Claudius Böhm, »Post aus dem Konservatorium ans Konservatorium«, in  : Gewandhausmagazin 72 (2011), S. 46–48, hier S. 47. 78 Zirkularschreiben des Direktoriums des Conservatoriums der Musik zu Leipzig vom 15.1.1845, D-LEhmt, A, IV.1/1 (Bekanntmachungen, Circulaire u. s. w. 1843–September 1848), S. 12. 79 Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 1852, ebd. 41867, S. 624.

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Herren, die einmal durch die Hegelsche Schule gelaufen sind und sich das Aeußere einigen Fachwerks angeeignet haben – Seb. Bach und Mozart haben nicht gewußt, was sie gemacht, mit Beethoven fängt es erst an zu dämmern und nach ihm kommt Klarheit  ! […] In einer früheren Vorlesung, die Brendel hier im Gewandhaussaale über neuere Musik hielt, hat er Mendelssohns mit keinem Worte gedacht, Schumann sehr viel80 – M. scheint ihm zu wenig zum Bewußtsein gekommen, zu wenig musikalisch, was bei diesen Ansichten soviel als gestaltlos heißt.«81

In Hauptmanns Fall ist die Situation also kompliziert. Seine Position war darin fundiert, dass er bei aller Neigung zur Spekulation Musiker ›vom Fach‹ war, dass seine Kenntnis des Handwerks außer Frage stand und er somit die Notwendigkeit sah, seine Systematik mit der Empirie der Musik in Übereinstimmung zu bringen. Sieht man ihn durch die Brille von Karl Mannheims Anatomie des konservativen Denkstils, so scheint diese Spannung durchaus erklärbar. Denn eigentlich, meint Mannheim, sei »einer der wesentlichen Charakterzüge dieses konservativen Erlebens und Denkens […] das Sichklammern an das unmittelbar Vorhandene, praktisch K o n k r e t e «, mithin »eine radikale Abneigung gegen jedes ›Mögliche‹ und ›Spekulative‹«.82 Weshalb Hauptmann  – eingefleischter Antiwagnerianer, skeptisch gegenüber Schumann und sogar schon gegen den späten Beethoven – einerseits ein spekulatives System errichtete, ihm andererseits jedoch mit der Erdung in der historischen Empirie den progressiven Stachel zog, lässt sich mit Mannheim gut erklären  : »Der Konservative denkt systematisch nur dann, wenn er reaktiv wird, sei es, daß er gezwungen wird, gegen das progressive System ein Gegensystem aufzustellen, sei es, daß er durch das Fortschreiten des Prozesses vom Gegenwartszustand abgeglitten ist und aktiv eingreifen muß, um den Geschichtsprozeß rückgängig zu machen.«83

Genau dies war Hauptmanns Ziel, und hieraus rührt wohl die Anlage der NHM. Mit ihren verschiedenen Positionen im Spannungsfeld von Handwerkslehre und Theorie standen er 80 Dies ist vor dem Hintergrund der sehr spärlichen Auseinandersetzung mit Schumann am Conservatorium zu verstehen. In den Programmen der Klavierabteilung schafften seine Kompositionen es bis 1876 nicht über den 12. Platz in der Statistik des gespielten Repertoires hinaus, in den ersten vier Jahren waren sie nicht einmal unter den ersten 15 (vgl. Felicitas Freieck, Die Klavierausbildung am Leipziger Konservatorium im 19. Jahrhundert. Annäherungen an Kontext, Repertoire und klavierpädagogisches Profil an den Beispielen von Louis Plaidy und Ignaz Moscheles, Masterarbeit, HMT Leipzig 2015). Hauptmann war schon gegenüber Beethoven skeptisch, jedenfalls zu den späten Quartetten, nach deren Aufführung er an Franz Hauser schrieb  : »So viel ist mir klar, daß die Kunst durch Beethovens Tod nichts verloren hat« (Hauptmann an Franz Hauser, Kassel, 25.8.1832, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Franz Hauser, Bd. 1, S. 98). 81 Hauptmann an Franz Hauser, Leipzig, 20.8.1847, in  : ebd., S. 61–65, hier S. 63. 82 Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (1925), Frankfurt/Main 1984, S. 111. 83 Ebd., S. 112.

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und weitere Autoren des mittleren 19. Jahrhunderts in einem großen Zusammenhang von Texten, die seit der Jahrhundertwende immer mehr Lehrgebiete neu zu fassen suchten, was sich zur Instrumentaldidaktik ebenso wie zur Satzlehre zeigen lässt.84 Doch wusste Hauptmann auch um das, was durch diese Neukonzeption des Wissens verloren ging. »Es ist mit den neuen Sanglehrern wie mit den Compositionslehrern  : sie sprechen von einer Menge Dinge, die den alten Lehrern nicht in den Sinn gekommen. Aber früher ist besser gesungen und componirt worden«, schrieb er an Franz Hauser.85 Dass sich seine Ideen noch nicht gegen die von Adolf Bernhard Marx durchgesetzt hätten, setzte er in Parallele zu einem historischen Vorbild  : »[W]ie der Newton’sche in Farben gespaltene Lichtstrahl noch immer fortlebte nach Goethe’s Farbenlehre und diese wie ein todter Hund liegen blieb, dem man aus dem Wege geht, so wollen die Harmoniker von der Harmonik und die Metriker von der Metrik in ihrem Naturzustande nichts wissen.« Das Beispiel wurde im 19. Jahrhundert häufig genannt  – wie Paul Feyerabend gezeigt hat, zu Unrecht  –, wenn es um »eine Auseinandersetzung […] zwischen einer ›mathematischen‹ und einer ›qualitativen‹ Naturauffassung« ging.86 An Spohr hatte Hauptmann es etwas anschaulicher ausgedrückt  : »Mein Buch befaßt sich aber auch nur mit natürlichen Bildungsgesetzen, nicht mit Anweisung zur practischen Composition  ; und möchte sich zu einer Compositionslehre verhalten, wie etwa die Chemie zur Kochkunst. Damit will ich in keiner Weise das Kochbuch herabsetzen. Wenn wir uns zu Tisch setzen, wollen wir ein schmackhaftes Gericht, und dazu kann ein gutes Recept viel bessere Dienste leisten als alles Wissen der chemischen Bestandtheile in den zusammen zu rührenden Ingredienzien. Das Beste wird immer des Koches eigner guter Geschmack sein.«87

An Otto Kade schrieb er von der »nicht-theoretischen Theorie«, mit deren Hilfe doch »die schönsten Sachen componirt worden« seien, »und zwar die allerschönsten eben wo die Regeln ganz empirisch waren«.88 Später lobte er gegenüber Hauser wieder die »alte italienische Conservatorienweise, wo viel bezifferter Baß gespielt wurde«  : Dadurch sei »ein guter harmonischer Sinn ins Gefühl« gekommen, sie wäre »so übel auch nicht« und hätte »wenigstens ihr Gutes«.89 84 In diesem Zusammenhang ist August Wilhelm Ambros’ Studie Zur Lehre vom Quinten-Verbote (Leipzig 1859) aufschlussreich, die Hauptmann gewidmet ist. Dort wird festgestellt, nach dem Grund des Verbotes sei nicht genug gefragt worden, und wenn Ambros Gioseffo Zarlino als löbliche Ausnahme zitiert, fragt er zu dessen Argumentation in der Fußnote (S. 26)  : »Ist das nicht eine Art Vorbild des dialektischen Prozesses im Sinne Hegels  ?  !« 85 Hauptmann an Franz Hauser, Leipzig, 2.6.1853, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Franz Hauser, Bd. 2, S. 113. 86 Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/Main 82013, S. 132. 87 Hauptmann an Louis Spohr, Leipzig, 3.3.1853, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Ludwig Spohr und Andere, S. 39f. 88 Hauptmann an Otto Kade, [Leipzig 1853  ?], in  : ebd., S. 114. 89 Moritz Hauptmann an Franz Hauser, Leipzig, 27.5.1860, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Franz

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Hauptmanns Versuch einer ›Wiedergeburt der Musiktheorie aus dem Geiste von Dur und Moll‹ erscheint insofern als ein zwiespältiges Konzept. Er wollte die praktische Musiklehre im Sinne der Kompositionslehre nicht ersetzen, sondern fundieren. Hierfür verband er ein neues Konzept von dem, was Musiktheorie sei, mit einem von der Anthropologie und Philosophie inspirierten neuen Konzept von Dur und Moll. Ziel war es, eine übergeschichtlich gültige Systematik zu begründen, die aber doch mit dem Status quo der Musik (und sei es mit einem Status quo ante, d. h. vor Beethoven) nicht kollidierte. In der Zeit einer von vielen Seiten diagnostizierten ›Krise der Musiklehre‹ publiziert, konnten Hauptmanns Thesen trotz aller Bemühungen Köhlers aber nicht nachhaltig durchdringen.90 Wurde daran überhaupt angeknüpft, so wurden sie erheblich modifiziert,91 gelegentlich kam auch Applaus von Seiten, von denen Hauptmann gewiss keinen wollte  :92 Ästhetisches Ideal, philosophische Fundierung und faktische Ausführung dieses Universalkonzeptes von Dur und Moll erwiesen sich als bei weitem nicht so unlösbar aufeinander bezogen, wie Hauptmann selbst es gehofft hatte.

Hauser, Bd. 2, S. 204  ; vgl. auch den Brief an Ferdinand Hiller in Reaktion auf dessen Uebungen zum Studium der Harmonie und des Contrapunktes (sie waren auf Richters Lehrwerke bezogen, deren Autor Hiller 1843/44 bei seinem kurzzeitigen Engagement am Leipziger Conservatorium kennen gelernt hatte), 26.2.1860, in  : Briefe von Moritz Hauptmann […] an Ludwig Spohr und Andere, S. 78–80. 90 Um nur ein Beispiel dafür zu nennen, dass die eingangs dieses Beitrags geschilderte Suche nach neuen Ansätzen mit der Publikation der NHM keineswegs abbrach  : »Seit längerer Zeit ist man bemüht, unsere Musik theoretisch zu begründen. Noch immer aber müssen wir gestehen, dass wir eigentlich kein wahres System haben. Hauptmann in seiner ›Harmonik‹, Richter in seinem Lehrbuche geben dies zu«, befand Heinrich Josef Vincent im Vorwort seiner Schrift Neues musikalisches System  ! Die Einheit in der Tonwelt, Leipzig 1862. Einen paradigmenbildenden Anspruch verband hingegen Oscar Paul mit der NHM (Moritz Hauptmann. Eine Denkschrift zur Feier seines siebzigjährigen Geburtstages, Leipzig 1862, S. 22)  : »Mit diesem Werke ist Hauptmann zu dem Punkte in der Kunstgeschichte gelangt, von welchem aus alle späteren Theoretiker ihre Linien ziehen müssen.« 91 Als wiederum systematisches, in vielem auf Hauptmann basiertes, seine Thesen aber modifizierendes Gedankengebäude sind vor allem die Schriften von Hugo Riemann zu nennen. 92 Zu den Hauptmann-Lesern der ersten Stunde gehörten drei Vertreter des Liszt-Kreises  : Peter Cornelius (der in München streng nach dessen Systematik lehrte, einschließlich der durtonalen Deutung der Hexachorde), Joseph Joachim Raff und Felix Draeseke, der den Bau des Molldreiklangs in seiner »in lustige Reimlein gebracht[en]« Lehre von der Harmonia (Leipzig, St. Petersburg und Moskau 21887, S. 7) schön zusammenfasste  : »Du denkst, dass dich beim Abwärtsschreiten Zu Gleichart’gem dein Trieb werd’ leiten, Allein, mein Lieber, weit gefehlt! Die Quint zu finden uns nicht quält. Von C abwärts ist F zu schauen. Die grosse Terz doch, dir wird grauen, Von C abwärts ist As, nicht A, Haha, mein Sohn, wie wird dir da?

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Bemerke dass in der Musik Ganz so, wie in der Mathematik, Wo manche Rechnung nicht will passen, Wenn du mit Null dich eingelassen, Aufwärts und abwärts, gleich nicht ganz. Zwar F-As-C ist Consonanz. Doch Moll-Accord, und wirkt passiv. So sprach schon Hauptmann einst sehr tief.«

Arne Stollberg

Essenz des Tragischen Dur-Moll-Konstellationen in der Symphonik des späten 19. Jahrhunderts

1.

Wenn im Titel des vorliegenden Beitrags von »Dur-Moll-Konstellationen« als »Essenz des Tragischen« die Rede ist, so dürfte nicht schwer zu erraten sein, welches Werk diese Formulierung konkret angeregt hat. In Gustav Mahlers Sechster Symphonie, die auf dem Programmzettel der vom Komponisten selbst geleiteten Wiener Erstaufführung 1907 das somit als autorisiert anzusehende Epitheton des »Tragischen« erhielt, bildet eine denkbar einfache, geradezu emblematische Formel das Zentrum der musikalischen Gesamtarchitektur  : das Umkippen des Dur- in den Molldreiklang, meistens von A-Dur nach a-Moll, also von der Durvariante der Grundtonart zurück in deren ursprüngliches Moll.1 Hinsichtlich Dynamik und Instrumentation erzeugt dieses basale Motto, das an den entscheidenden Wegmarken des Formverlaufs in allen Sätzen mit Ausnahme des Andante wiederkehrt, den Eindruck einer energisch zupackenden Geste, die kraftlos in sich zusammensinkt und erschlafft, beim ersten Auftreten gesteigert durch das gegenläufige Ineinander von Decrescendo und Crescendo sowie einen Klangfarbenwechsel, der die ›heldischen‹ Trompeten ins Piano zwingt und sie unter dem dünneren, aber bis zum Fortissimo anschwellenden Ton der Oboen verschwinden lässt (Notenbeispiel 1).2

Notenbeispiel 1: Mahler, Symphonie Nr. 6, 1. Satz, T. 57–60

1 Vgl. ausführlich Arne Stollberg, Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2014, S. 621–683. 2 Taktzählung nach  : Gustav Mahler, Symphonie Nr. 6 in vier Sätzen für großes Orchester, vorgelegt von Reinhold Kubik (= Sämtliche Werke. Neue Kritische Gesamtausgabe 6), Frankfurt/Main u. a. 2010.

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Weniger die Frage, ob die Terz des Durakkordes in Wahrheit nur einen Vorhalt zur Mollterz bildet oder ob das Moll hier wirklich – nach Theodor W. Adorno – als »Maske der kommenden Dissonanzen der neuen Musik« fungiert,3 ist entscheidend, sondern vielmehr, dass Mahler offenbar auf die Topik eines kompositorischen Modells rechnete  : Seine Musik vollzieht, wie Warren Darcy formuliert, einen »›negative dialogue‹ with the victory-through-struggle paradigm«,4 also mit jener Dramaturgie des »per aspera ad astra«, die den Weg von Moll nach Dur zur unabänderlichen Bedingung hat und an der seit Beethovens Fünfter Symphonie wirkungsmächtig die Idee des Tragischen haftet, gemäß folgender Aussage Ferdinand Hands aus dem zweiten, 1841 erschienenen Band seiner Aesthetik der Tonkunst  : »Der Inhalt der C-Moll-Symphonie kann eine Tragödie genannt werden. Wir sehen ein Ringen und Kämpfen gegen ein mächtiges Schicksal zur Verklärung gebracht.«5 Schon 1828, unmittelbar nach Beethovens Tod, hatte Johann Aloys Schlosser in diesem Sinne über die Fünfte geschrieben, man höre dort »den hereinbrechenden Sturm des Schicksals, bis mit dem Eintritte des Finale jeder irdische Druck abfällt und der siegende Geist sich aufschwingt in den sonnenklaren Aether ewiger Freyheit«6 – eine deutliche Anspielung auf Schillers Trauerspiel Maria Stuart, in dem die zum Tod verurteilte schottische Königin visionär vorwegnimmt, wie ihr »Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich / Auf Engelsflügeln schwingt zur ewgen Freiheit« (V. Akt, 6. Szene).7 So wie Adrian Leverkühn in Thomas Manns Doktor Faustus mit dem Oratorium Dr. Fausti Weheklag die Neunte Symphonie Beethovens »zurücknehmen« möchte, um zu manifestieren, dass das »Gute und Edle«, das »Menschliche«, das dort »jubelnd verkündigt« werde, »nicht sein« solle,8 so nimmt Mahlers Sechste – wenn man es aus einer forcierten geschichtsphilosophischen Perspektive betrachtet – gleichsam Beethovens Fünfte zurück  : Das »per aspera ad astra« verwandelt sich, mit den Worten Richard Spechts aus seiner 1913 veröffentlichten Mahler-Monographie, in ein »per aspera ad inferno«.9 Nachdem die letzte, bei Adorno als »Ekstase am Rande des Abgrunds«10 beschriebene  3 Theodor W. Adorno, »Dritter Mahler-Vortrag« [1960], in  : ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 18  : Musikalische Schriften V, Frankfurt/Main 1984, S. 604–622, hier S. 611.  4 Warren Darcy, »Rotational Form, Teleological Genesis, and Fantasy-Projection in the Slow Movement of Mahler’s Sixth Symphony«, in  : 19th-Century Music 25 (2001), S. 49–74, hier S. 49.  5 Ferdinand Hand, Aesthetik der Tonkunst, Bd. 2, Jena 1841, S. 426.  6 Joh[ann] Aloys Schlosser, Ludwig van Beethoven. Eine Biographie desselben, verbunden mit Urtheilen über seine Werke, Prag 1828, S. 84.  7 Friedrich Schiller, »Maria Stuart. Ein Trauerspiel« [1800], in  : ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 2  : Dramen II, München 71985, S. 549–686, hier S. 666.  8 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde [1947], hrsg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 10/1), Frankfurt/Main 2007, S. 692.  9 Richard Specht, Gustav Mahler, Berlin und Leipzig 1913, S. 284. 10 Adorno, »Dritter Mahler-Vortrag«, S. 621.

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A-Dur-Partie des Finales mit ihrer vermeintlichen Schlusskadenz die ›erlösende‹ Tonika verfehlt hat (T.  772f.), gewinnt der zum Ende erklingende, lakonische a-Moll-Akkord die Wucht einer definitiven Auslöschung alles dessen, wofür in der Geschichte der Symphonik des 19. Jahrhunderts der Triumph von Dur über Moll semantisch hatte einstehen können – nicht zuletzt unter der Prämisse eines idealistischen Tragödienkonzeptes, bei dem das ›Gute‹, ›Edle‹ und ›Menschliche‹, die intelligible Freiheit nach Schiller, sich stets gegen den Zwang der Naturkräfte und das wie auch immer zu definierende Schicksal durchzusetzen vermochte, gegen jenes »große gigantische Schicksal / Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt«.11 Im Folgenden soll es aber nicht um Mahlers Sechste oder andere Werke gehen, die mit der Verweigerung des Durschlusses eine pessimistische,12 wenn man so will  : nicht-idealistische Auffassung des Tragischen realisieren, etwa Johannes Brahms’ Tragische Ouvertüre.13 Die Überlegungen gelten vielmehr zwei exakt zeitgleich in den 1880er Jahren entstandenen Symphonien, die unter impliziter oder expliziter Berufung auf den ›Tragiker‹ Beethoven das paradigmatische Modell des Konfliktes zwischen c-Moll und C-Dur noch einmal durchspielen und dabei das Problem, wie die dem Modell als dessen Kernmoment eingeschriebene Tendenz nach C-Dur formdramaturgisch sinnvoll gestaltet werden kann, dezidiert zum Hauptgegenstand ihrer kompositorischen Strategien machen. Nach aller Wahrscheinlichkeit vollkommen unabhängig voneinander entworfen, ohne Bezug auf das jeweilige Pendant, treffen sich beide Symphonien auffälligerweise in der Idee, das Finale mit einer spektakulären Zusammenballung der Themen sämtlicher Sätze zu krönen – eine Parallele, vor deren Hintergrund freilich die konzeptionellen Differenzen umso deutlicher zutage treten, nicht zuletzt hinsichtlich der Entfaltung des DurMoll-Antagonismus. Verkompliziert wird die Lage zusätzlich durch den Sachverhalt, dass eine der betreffenden Symphonien ihrerseits in zwei Fassungen vorliegt und diese Fassungen wiederum ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage geben, wie von cMoll aus im Werkverlauf das Telos C-Dur erreicht werden kann. Die Rede ist einerseits von Anton Bruckners Achter Symphonie, komponiert zwischen 1884 und 1887, überarbeitet 1889/90 und uraufgeführt 1892, sowie andererseits von Felix Draesekes 1886 abgeschlossener und 1888 erstmals zum Erklingen gebrachter Dritter Symphonie, der Symphonia tragica.

11 Friedrich Schiller, »Shakespeares Schatten« [1800], in  : ders., Sämtliche Werke, Bd.  1  : Gedichte. Dramen I, München 51973, S. 300–302, hier S. 302. 12 Zu »optimistischen« und »pessimistischen« Lesarten des Tragischen vgl. Johannes Volkelt, Ästhetik des Tragischen [1897], München 41923, S. 94–103, sowie Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 360–367. 13 Vgl. Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 326–359.

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2.

Zunächst zu Bruckners Achter.14 Gewiss kann man Bruckner als einen »unliterarischen« Komponisten ansehen,15 dem die Bezugnahme auf philosophisch-ästhetische Konzepte wie dasjenige des Tragischen ebenso fremd gewesen sein mag wie der geistreiche intertextuelle Dialog mit früheren Beispielen der Gattungsgeschichte (die Wagner-Zitate oder – besser gesagt – Wagner-Allusionen, von denen sich eine, nämlich als Anspielung auf das Siegfried-Motiv aus dem Ring des Nibelungen, auch im Adagio der Achten findet [erste Fassung  : T. 220f., zweite Fassung  : T. 204f.],16 stellen dabei einen Fall für sich dar).17 Gleichzeitig aber gilt es festzuhalten, dass Bruckner die Zuschreibung, auf dem Gebiet der Symphonik der legitime »Nachfolger Beethovens« zu sein, durchaus als angemessen empfunden hat.18 Dass seine in Molltonarten stehenden Symphonien mit c- und d-Moll ostentativ nur jene beiden Optionen nutzen, die auch bei Beethoven für Symphonien zur Anwendung gekommen waren, ist bereits aussagekräftig genug. Mehr noch  : Gleich dreimal bildete Bruckner Werkpaare, in denen auf eine c-Moll-Symphonie jeweils eine d-Moll-Symphonie folgt, der Chronologie von Beethovens Fünfter und Neunter entsprechend (Erste Symphonie und sogenannte »Nullte«, nach der Ersten geschrieben, dann aber für ungültig erklärt  ; Zweite und Dritte Symphonie  ; Achte und Neunte Symphonie). So ist es angesichts des Resonanzraumes, den die Tonart c-Moll eröffnet und der die Achte Bruckners intentional mit Beethovens Fünfter verknüpft, wenig überraschend, dass schon Hugo Wolf nach der sensationell erfolgreichen Uraufführung 1892 von einem »vollständige[n] Sieg des Lichtes über die Finsterniss« sprach,19 was den Triumph über die ›feindliche‹ Partei um Brahms und Hanslick mit der Verlaufskurve des Werkes selbst und ihrem »per aspera ad astra« assoziierte. Die Vergleiche zwischen Beethovens Fünfter 14 Die folgende Analyse ist in besonderem Maße den Arbeiten von Hans-Joachim Hinrichsen verpflichtet  : »Reductio ad abstractum oder die Konzeption sinfonischer Monumentalität  : Anton Bruckner, VIII. Sinfonie c-Moll«, in  : Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der Musik. 14 Werkporträts, hrsg. von Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken, Kassel u. a. 2004, S.  220–237  ; Bruckners Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer, München 2015, S. 104–112. 15 Mathias Hansen, »Die Achte und Neunte Symphonie«, in  : Bruckner-Handbuch, hrsg. von Hans-Joachim Hinrichsen, Stuttgart und Weimar 2010, S. 197–223, hier S. 208. 16 Taktzählung nach  : Anton Bruckner, VIII. Symphonie c-Moll. Fassung von 1887, vorgelegt von Leopold Nowak (= Sämtliche Werke 8/1), Wien 1972  ; VIII. Symphonie c-Moll. Fassung von 1890, 2., revidierte Ausgabe, vorgelegt von Leopold Nowak (= Sämtliche Werke 8/2), Wien 1955. 17 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, »Bruckners Wagner-Zitate«, in  : Bruckner-Probleme. Internationales Kolloquium 7.–9. Oktober 1996 in Berlin, hrsg. von Albrecht Riethmüller (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 45), Stuttgart 1999, S. 115–133. 18 Anton Bruckner an Judith Pfeiffenberger, 8.12.1884, in  : ders., Briefe, Bd. 1 (1852–1886), vorgelegt von An­ drea Harrandt und Otto Schneider (= Sämtliche Werke 24/1), Wien 1998, S. 242. 19 Hugo Wolf an Emil Kauffmann, 23.12.1892, in  : ders., Briefe 1873–1901, mit Kommentaren vorgelegt von Leopold Spitzer, Bd. 2 (1892–1895), Wien 2010, S. 134.

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und Bruckners Achter wurden in der Folgezeit Legion, und wenn exemplarisch hier nur Frank Wohlfahrts Buch Anton Bruckners sinfonisches Werk von 1943 zur Sprache kommen soll, dann deshalb, weil sich hinter dem zeitgebundenen Vokabular eine Erkenntnis verbirgt, die es anschließend etwas nüchterner zu entfalten gilt  : »So zeigen Bruckners Achte und Beethovens Fünfte […] bei verschiedener Geistes- und Seelenlage eine ähnliche Ausdrucksspannung auf. In Beethovens Fünfter vollzieht sich ein faustischer Kampf ›durch Nacht zum Licht‹. […] Der Sieg des Lichtes über die dunklen Schicksalsgewalten wird durch die gespannte Kraft eines Marsches verherrlicht. Bruckners Achte hingegen macht kein ›Schicksal‹ hörbar, das vom Licht überwunden und verschlungen werden müßte. In ihr geht es nicht um ein Streben und Bemühen nach Erlösung, denn ihre Dunkelheiten sind wie ihre Helligkeiten gleicherweise in der unaufspaltbaren Einheit Gottes inbegriffen.«20

Der zuletzt genannte Punkt ist wesentlich, denn er verweist auf einen für die österreichische Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert maßgebenden Sachverhalt  : die tendenzielle Ablehnung der idealistischen Philosophie und des aus ihr hervorgegangenen Tragödien­ konzeptes Schiller’scher Provenienz, das die empirische Realität – die Natur – nicht als »Reich Gottes« anerkannte, als eine sinnvolle, eben gottgewollte Ordnung, sondern dagegen die Freiheit des Subjekts behauptete.21 Von einem »große[n] gigantische[n] Schicksal / Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt«,22 das also gerade dort, wo es blindlings zuschlage, das allein im Menschen wirkende »Sittengesetz« erkennbar werden lasse23 – von einem solchen Schicksal, dem antiken Fatum, mochte man in Österreich als Hort des »katholischen Antikantianismus«24 nichts wissen, da mit dem Christentum die Vorsehung (»providentia«) an seine Stelle getreten sei. »Die Vo r s e h u n g , dieses ewige von dem Christenthume erschlossene Welt- und Vaterauge, hat jene Sphinx [das Schicksal] also vernichtet, daß an ihr nicht einmahl mehr die Fäden, an welchen die Schatten über die breterne [sic  !] Welt bewegt werden sollen, zu befestigen sind […].

20 Frank Wohlfahrt, Anton Bruckners sinfonisches Werk. Stil- und Formerläuterung, Leipzig 1943, S. 147. 21 Vgl. grundlegend Roger Bauer, La réalité, royaume de Dieu. Études sur l’originalité du théâtre viennois dans la première moitié du XIXe siècle, München 1965. Deutsche Teilübersetzung von Helmut Gier unter dem Titel Die Welt als Reich Gottes. Grundlagen und Wandlungen einer österreichischen Lebensform, Wien 1974. 22 Siehe Anm. 11. 23 Friedrich Schiller, »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen« [1792], in  : ders., Sämtliche Werke, Bd. 5  : Erzählungen. Theoretische Schriften, München 1959, S. 358–372, hier S. 364. 24 Roger Bauer, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich (= Euphorion. Beihefte 3), Heidelberg 1966, S. 16.

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[…] jeder Versuch, das Vernichtete als solches zu beleben, ist nicht nur ein Mißgriff, der mißlingen muß, sondern sogar, vom Stande der Kunst und des Glaubens aus beurtheilt, eine frevelhafte Anmaßung.«25

1855 formulierte der in Olmütz, Prag und Wien tätige Philosophieprofessor Robert Zimmermann entsprechend, dass die Tragödie unsere »F u r c h t vor dem drohenden Uebel in E h r f u r c h t vor dem Walten des ewigen Gesetzes« verwandle  : »Was uns bisher als u n m e n s c h l i c h erschien, das erscheint uns nun als ü b e r m e n s c h l i c h e , göttliche Gerechtigkeit, vor der wir uns beugen und der wir uns willig unterwerfen.«26 Mit anderen Worten  : Eine Tragödie, auch eine musikalische Tragödie, musste sich unter den Vorzeichen jenes vom Katholizismus geprägten Weltverständnisses, das zweifellos auch für Anton Bruckner Geltung besaß, auf andere Weise entfalten denn als ›Sieg‹ über das ›Schicksal‹  – anders mithin als in Beethovens Fünfter, dem Prototyp aller ›Schicksalssymphonien‹ des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser ambivalente Bezug auf die Fünfte Beethovens, changierend zwischen Anlehnung und konzeptioneller Revision vor dem Hintergrund gänzlich anders gelagerter geistesgeschichtlicher Voraussetzungen, sorgte in der ersten Fassung von Bruckners Achter für eine kompositorische Strategie, die anscheinend bei den Schülern und Anhängern des ›Meisters‹ besondere Irritation sowie jene Kritik auslöste, der Bruckner mit seiner Überarbeitung dann teilweise zu begegnen suchte  : die kompositorische Strategie nämlich, nicht nur das Finale, sondern jeden Satz zum Gipfelpunkt einer C-Dur-Apotheose zu führen, was aus der Perspektive des dramatisch-teleologischen Beethoven-Modells geradezu widersinnig wirken musste.27 »Der erste Satz schließt nunmehr nach unser aller Wunsch pianissimo«, so schrieb Josef Schalk an seinen Bruder Franz, nachdem Bruckner – wie es in dem Brief vorher heißt – »mit der neuen Bearbeitung der VIII. fertig geworden« war.28 Offenbar hatten die Schalks kein Verständnis für dasjenige aufbringen können, was in der ersten Fassung geschieht  : Der eindringlich komponierte Prozess des 25 A[loys] Weissenbach, »Über das christliche Fatum«, in  : Wiener Moden-Zeitung und Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur und Theater 2 (1817), S. 216–219, 224–227 und 232–235, hier S. 217 und 232  ; Hervorhebung original. 26 Robert Zimmermann, Über das Tragische und die Tragödie. Vorlesungen gehalten zu Prag im Frühjahre 1855, Wien 1856, S. 15  ; Hervorhebungen original. 27 Ausführliche Informationen über die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen der Achten Symphonie bieten etwa folgende Arbeiten  : Manfred Wagner, Der Wandel des Konzepts. Zu den verschiedenen Fassungen von Bruckners Dritter, Vierter und Achter Sinfonie, Wien 1980, S. 39–52  ; Constantin Floros, »Die Fassungen der Achten Symphonie von Anton Bruckner«, in  : Bruckner-Symposion ›Die Fassungen‹. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz, 14.–16. September 1980. Bericht, hrsg. von Franz Grasberger, Linz 1981, S. 53–63  ; Bryan Gilliam, »The Two Versions of Bruckner’s Eighth Symphony«, in  : 19th-Century Music 16 (1992), S.  59–69  ; Benjamin M. Korstvedt, Anton Bruckner  : Symphony No.  8 (=  Cambridge Music Handbooks), Cambridge 2000, S. 68–85. 28 Josef Schalk an Franz Schalk, 31.1.1890, zitiert nach  : Thomas Leibnitz, Die Brüder Schalk und Anton Bruck-

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Verlöschens, bei dem die fallende Schlussgeste des Hauptthemenkopfes wie mit letzten Zuckungen im dreifachen Piano der Streicher erstirbt (T. 415–423), wird dort unvermittelt von einem dreifachen Forte abgelöst, das die Musik zunächst nach Ges-Dur (T. 425) und dann weiter nach Des-Dur reißt (T. 429), um in einer gewaltigen Projektion jenes absteigenden Sekundschrittes des-c, der am Ende des Hauptthemenkopfes den TonikaGrundton fixiert und nun als neapolitanische Wendung ausharmonisiert erscheint, nach C-Dur einzuschwenken (T. 437). Mit Fanfarenklängen, die den Rhythmus des Hauptthemas zu einer Formel des Triumphs umprägen, endet der Satz in blankem C-Dur – einem C-Dur allerdings, das schon das leise Verklingen zuvor getragen hatte, und zwar ab Takt 405, in dem die leere Quinte c-g von den Bratschen signifikant mit der Durterz aufgefüllt worden war. Seinen wohlmeinenden Beratern folgend, lässt Bruckner den Kopfsatz in der zweiten Fassung in dreifachem Piano mit der resignativ hinabsinkenden Schlussgeste des Hauptthemas verebben, angeblich als Evokation der schlagenden »Totenglocke«.29 Die C-DurApotheose entfällt – zweifellos eine Maßnahme, um die Symphonie generell auf ihr Ende hin auszurichten. Dies zeigt sich auch daran, dass genau jene dreitönige Floskel aus dem Hauptthema, die den Kopfsatz beschließt, bei der Überarbeitung des Finales in den beiden allerletzten Takten der Partitur klanglich ganz nach vorne geholt wurde, nämlich als markante Unisono-Geste, während sie dort in der Urfassung, eher versteckt, nur den tiefen Blechbläsern vorbehalten gewesen war. Die Diatonisierung der chromatischen Linie d-des-c vom Ende des ersten Satzes, die nun mit breitem Ritenuto in der Folge e-d-c auftritt, hämmert das »per aspera ad astra« im Sinne einer Themenmetamorphose überdeutlich heraus  : Nicht ohne plakative Züge wird klargestellt, dass der verlöschende Ausklang des Kopfsatzes in der triumphalen Coda des Finales sein positives Gegenstück besitzt, das Hauptthema der Symphonie mithin buchstäblich ›aus der Nacht zum Licht‹ gefunden hat. Entsprechend dieser teleologischen Dramaturgie musste es Bruckner bei der Erarbeitung der zweiten Fassung generell darum gehen, die klangmächtigen C-Dur-Entladungen, die sich an verschiedenen Stellen des Werkverlaufs finden, drastisch zurückzudämmen. Der C-Dur-Schluss des Scherzos blieb, allerdings in geraffter Form, erhalten, ebenso der ner. Dargestellt an den Nachlaßbeständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (= Publikationen des Instituts für österreichische Musikdokumentation 14), Tutzing 1988, S. 148. 29 Vgl. Constantin Floros, Brahms und Bruckner. Studien zur musikalischen Exegetik, Wiesbaden 1980, S. 185f. Zu Bruckners programmatischen Hinweisen und der Option einer aus ihnen zu gewinnenden Deutung siehe neben dem entsprechenden Kapitel aus Floros’ Buch (S. 182–229) ebenso Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler. Die Musik des deutschen Idealismus, Stuttgart und Weimar 1993, S.  391–408  ; dagegen aber auch Carl Dahlhaus, »Bruckner und die Programmusik. Zum Finale der Achten Symphonie«, in  : Anton Bruckner. Studien zu Werk und Wirkung. Walter Wiora zum 30. Dezember 1986, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 20), Tutzing 1988, S. 7–32 (Wiederabdruck in  : ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Hermann Danuser, Bd. 6, Laaber 2003, S. 717–737).

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Durchführungshöhepunkt oder, wenn man so will, die Scheinreprise innerhalb des ersten Satzes, die dessen C-Dur-Ende antizipiert (erste Fassung  : T. 233ff., zweite Fassung  : T. 225ff.). Eine einschneidende Änderung im Dienste größerer Finalstrebigkeit nach dem Modell des »per aspera ad astra« erfuhr indessen das Adagio  : Wird die ultimative Klimax in der ersten Fassung auf einem C-Dur-Quartsextakkord erreicht (T. 269), so landet die – größtenteils neu geformte – Steigerungswelle in der zweiten Fassung bei einem EsDur-Quartsextakkord (T. 239). Der Dur-Quartsextakkord war für Bruckner als Markierung des Satzhöhepunktes gleichsam unverhandelbar  ; dass er ihn von C-Dur nach EsDur verlegte, geschah zweifellos vor dem Hintergrund des Bemühens, den im dreifachen Forte erstrahlenden C-Dur-Glanz – wie geschildert – für die Schlussstrecke des Finales aufzusparen, also den symphonischen Verlauf über die vier Sätze hinweg zu dynamisieren. Die Brüder Schalk dürften zufrieden gewesen sein. Doch Bruckner gab sein ursprüngliches Konzept keineswegs auf. Die finalorientierte Anlage überblendet vielmehr eine in sie eingelassene Struktur, die der alten Idee Rechnung trägt  : der Idee nämlich, dass sich das ›Licht‹ des C-Dur nicht erst am Ende hervorkämpft, sondern in jedem Satz aufs Neue zur Geltung kommt, so wie  – mit Robert Zimmermanns Philosophie des Tragischen gesprochen – das »Walten des ewigen Gesetzes« in jedem Moment die »göttliche Gerechtigkeit« bezeugt.30 Die zweite Fassung bringt das von der Gestaltung des formalen Gipfelpunktes entlastete C-Dur nämlich an zwei anderen Stellen im Adagio prominent zum Tragen  : Einmal kadenziert der ätherische Ausklang der Kulminationspassage nicht, wie in der ersten Fassung, mit einer IV-V-I-Wendung nach As-Dur (T. 290f.), sondern eben, dynamisch gesteigert, nach C-Dur (T.  253f.). Auffallend ist, dass dies nunmehr plagal über die Mollsubdominante geschieht, mit einer harmonischen Progression also, die bei Wagner mehrfach zur Grundierung transzendenter ›Erlösungsschlüsse‹ dient (Der fliegende Holländer, Tristan und Isolde, Götterdämmerung)31 – ein Zusammenhang, der Bruckner natürlich bewusst war, endet doch gerade seine Dritte Symphonie, die Wagner gewidmet und vor allem in der Urfassung durch entsprechende Zitate aus dessen Werken markiert wurde, am Ende des Finales auf dieselbe Weise, nämlich so, dass die Durapotheose dort von der Mollsubdominante ihren Ausgang nimmt (wie auch in der ersten Version der Vierten Symphonie). Offensichtlich zielte die Umgestaltung der besagten Kadenz im Adagio der Achten Symphonie darauf, einen solchen ›Erlösungsschluss‹ anzudeuten, wird das prononciert hervorgehobene, gleichsam in verklärtes Licht getauchte C-Dur doch durch eine  – in der ersten Fassung nicht vorhandene  – Generalpause inklusive Fermate suggestiv vom Des-Dur-Neubeginn der Coda getrennt. Zudem nutzt Bruckner eine früher im Satzverlauf angebrachte Kürzung, nämlich den Wegfall der Takte 175–180 der ersten Fassung, um das Seitenthema beim Buchstaben M in C-Dur 30 Siehe Anm. 26. 31 Vgl. Gerhard J. Winkler, »Wagners ›Erlösungsmotiv‹. Versuch über eine musikalische Schlußformel«, in  : Musiktheorie 5 (1990), S. 3–25.

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statt, wie zuvor, in B-Dur erklingen zu lassen – nach einer mediantischen Rückung von Fes-Dur aus im Fortissimo glanzvoll erstrahlend (T. 165). Es dürfte naheliegen, darin eine kompensatorische Strategie zu sehen, die das C-Dur als substanziellen Faktor im Spiel hält, mag auch der äußerliche Höhepunkt nunmehr mit dem Es-Dur-Quartsextakkord zusammenfallen. Letzterer kann darüber hinaus auf den Schluss der Exposition des ersten Satzes bezogen werden, einen vom übermäßigen Quintsextakkord angesteuerten Es-Dur-Quartsextakkord im dreifachen Forte, der in der zweiten Fassung rückblickend als genaue Vorwegnahme der Adagio-Klimax erscheint (T. 125). Bei der Umarbeitung hob Bruckner diese Wendung vom übermäßigen Quintsextakkord zum Es-Dur-Quartsextakkord, gekrönt mit Fanfarenklängen der Trompeten, außerdem dadurch hervor, dass er die ursprünglich sich anschließende Steigerung hin zu einer weiteren, ebenfalls nach Es-Dur kadenzierenden Fortissimo-Passage eliminierte (die Takte 131–143 der ersten Fassung entfielen und wurden in der zweiten Fassung durch den korrespondierenden, nun aber pianissimo gehaltenen Abschnitt der Takte 131–139 ersetzt). Die betreffende Formel – innerhalb von Bruckners musikalischem Kosmos der Inbegriff eines Kulminationspunktes – gelangt durch die Änderung zu erhöhter Bedeutsamkeit und stärkerem formdramaturgischen Gewicht, was sie mit der Adagio-Klimax verbindet, deren Versetzung nach Es-Dur doppelt folgerichtig anmutet. Auch hier war es Bruckner offenbar darum zu tun, die einzelnen Sätze durch Parallelen und Konstanten zu verzahnen, anstatt sie ausschließlich unter den Bogen einer linearen Entwicklung zu spannen, die in der C-Dur-Apotheose des Finales gipfelt. Noch in der zweiten Fassung der Achten, die oberflächlich als Realisierung des »per aspera ad astra« erscheint, bleibt Beethovens Fünfte ein Modell auf Distanz.

3.

Während sich die Auseinandersetzung mit Beethoven in Bruckners Achter auf einer gewissermaßen subkutanen Ebene abspielt, tritt sie bei Felix Draesekes Symphonia tragica nachdrücklich in den Vordergrund, bildet sogar das eigentliche Movens der gesamten Konzeption  : »Es war mir immer aufgefallen, und ich habe auch in meinen musikgeschichtlichen Vorträgen darauf hingewiesen, daß die Tragik, die durch Beethoven in die Instrumentalmusik eingeführt worden, rein instrumental weder in der Eroica, noch in der c-moll-Symphonie ihre ganz befriedigende Lösung gefunden habe […] und Beethoven deshalb in der Neunten nochmals nach einer Lösung ausschauen mußte, die diesmal nicht auf rein instrumentalem, vielmehr auf vokalem Gebiet erfolgen sollte. Bei der Tragica kam mir der Wunsch, zu versuchen, ob es auf instrumentalem Weg nicht doch möglich sei, und diesem Wunsch verdankt das Finale die Entstehung.«32 32 Äußerung Felix Draesekes gegenüber dem Kritiker Eugen Segnitz anlässlich einer Aufführung der Sym-

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Ein Aspekt der von Draeseke hier erwähnten Finallösung besteht darin, gegen Ende alle Hauptthemen der vorangegangenen Sätze herbeizuzitieren  – allerdings nicht, wie bei Bruckner, zum Zweck einer apotheotischen Bündelung, die den Gipfelpunkt des Formprozesses und zugleich dessen letztmögliche Klärung markiert, sondern als katastrophischer, ja chaotischer Zusammenprall, wie wenn sich einem »Sterbenden« im Fieberwahn »Bilder aus vergangenen Tagen« zeigten.33 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist freilich etwas anderes  : Die bei Draeseke verfochtene Diagnose, dass Beethoven zwar die »Tr a g i k , und zwar die wirkliche, in ihrer Tiefe erfasste, Herz-erschütternde Tragik […] zum ersten Male in die Orchestermusik eingeführt« habe, es ihm aber niemals gelungen sei, ohne Hinzuziehung von Worten eine »allgemein-befriedigende Lösung« zu finden, um die tragische »Erschütterung« am Ende in »Beruhigung und […] Erlösung« münden zu lassen34 – diese Diagnose wird auch auf das »per aspera ad astra« der Fünften Symphonie appliziert. Der »gewaltige[n] Tragik des ersten Satzes« stehe dort kein gleichwertiges Finale gegenüber, so Draeseke  ; die C-Dur-Apotheose verweigere das »erlösende Ausklingen« und zelebriere letztlich einen »Scheinsieg«.35 Was auch immer mit dem merkwürdigen Begriff ›Scheinsieg‹ gemeint ist  : Im Gegensatz zu Bruckner erachtete Draeseke ein auftrumpfendes C-Dur offenbar generell nicht als probates Mittel, um gegenüber dem kontrastierenden c-Moll eine ›Lösung‹ oder ›Erlösung‹ – eine Katharsis im Sinne der aristotelischen Tragödientheorie – herbeizuführen. Für die Symphonia tragica ergab sich daraus eine Konsequenz, die der Komponist selbst gegenüber Moritz Fürstenau am 12. September 1887 folgendermaßen beschrieb  : »Die Symphonie steht in C[,] und zwar bin ich sehr ungewiss ob in Dur oder Moll, denn die Einteilung [recte  : Einleitung] beginnt in Moll, der erste Satz ist in Dur, der letzte in Moll, schliesst mit Repetition der Einleitung in Dur. Wollen Sie nun gütigst bestimmen, wofür unter solchen Umständen wir uns zu entscheiden haben.«36

phonia tragica am 16.12.1907 im Leipziger Gewandhaus unter Arthur Nikisch, zitiert nach  : Erich Roeder, Felix Draeseke. Der Lebens- und Leidensweg eines deutschen Meisters, Bd. 2, Berlin 1937, S. 173f.; vgl. auch Martella Gutiérrez-Denhoff, Felix Draeseke. Chronik seines Lebens (= Veröffentlichungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft. Schriften 3), Bonn 1989, S. 87. 33 Carl Beyer, Felix Draeseke. Symphonia tragica (Op. 40) (= Der Musikführer 32), Leipzig [1895], S. 21. Für eine ausführliche Analyse des Werkes – mitsamt Verweisen auf ältere Literatur – siehe Stollberg, Tönend bewegte Dramen, S. 158–197. 34 Felix Draeseke, Musikgeschichtliche Vorlesungen, hrsg. von Michael Heinemann und Maria Kietz (= Veröffentlichungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft. Schriften 7), Leipzig 2007, S. 36. 35 Ebd., S. 41. 36 Felix Draeseke an Moritz Fürstenau, 12.9.1887, zitiert nach  : Gutiérrez-Denhoff, Felix Draeseke. Chronik seines Lebens, S. 86.

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Auf dem Titelblatt des Erstdrucks wurde letztlich gar keine Angabe zur Tonart gemacht und damit das Problem umgangen, wie es sinnvoll zu bezeichnen sein könnte, dass die Symphonie weder einen Bogen von c-Moll nach C-Dur spannt noch ein beherrschendes C-Dur ausprägt, dem das c-Moll lediglich als kurzzeitige Eintrübung beigemischt wäre. Bedenkt man, dass neben dem ersten Satz auch das Scherzo in C-Dur steht, der zweite, langsame Satz hingegen in der Paralleltonart a-Moll, scheint der Fall an sich klar  ; doch das in jeder Hinsicht dominierende Finale mit seinem Rekurs auf die langsame Einleitung des Kopfsatzes gibt dem c-Moll insgesamt solches Gewicht, dass die Angabe C-Dur gewissermaßen eine falsche Fährte gelegt hätte. Draesekes Unschlüssigkeit ist der Spiegel einer dem Werk eingeschriebenen Dramaturgie. Diese Dramaturgie besitzt ihre Pointe darin, dass Draeseke das Prinzip »per aspera ad astra« gewissermaßen umdreht, indem er die Momente strahlender C-Dur-Herrlichkeit und triumphierenden Schwunges für den ersten Satz reserviert, der in einer nach dem Motto ›Durch Kampf zum Sieg‹ gestalteten Symphonie ohne Weiteres als Finale denkbar gewesen wäre. Und zwar geradezu buchstäblich, läuft das Hauptthema des Kopfsatzes (T.  39ff., Notenbeispiel  2) doch in eine Achtelkette aus, deren rhythmische Figuration nichts anderes paraphrasiert als die Schlusspassage des Hauptthemas aus dem Finale von Beethovens Fünfter (Notenbeispiel 3).37

Notenbeispiel 2: Draeseke, Symphonia tragica, 1. Satz, T. 39–42, 1. Violinen

Notenbeispiel 3: Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll, 4. Satz, T. 1–8, Piccoloflöte

Dass es sich hierbei um die Darstellung eines ›Scheinsieges‹ handelt, wird durch den weiteren Fortgang der Symphonie kenntlich gemacht, dessen Keimzelle wiederum die langsame Einleitung des ersten Satzes bildet  : Diese vermeidet zwar die Tonika, umschreibt aber mit ihrer Harmoniefolge, die vom Ausgangspunkt eines unisono vorgetragenen G zunächst nach b- und f-Moll, dann nach Es-, G- und As-Dur führt, eindeutig die Ton37 Taktzählung nach  : Felix Draeseke, Dritte Symphonie ›Symphonia tragica‹ für großes Orchester op. 40, nach dem Autograph aus dem Jahr 1886 und dem Erstdruck des Verlags Kistner und Siegel neu hrsg. von UdoRainer Follert (= Internationale Draeseke-Gesellschaft. Musikwerke 15), Stuttgart 2006.

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Arne Stollberg

art c-Moll. In den Takten 19–21 scheint die Musik über eine markant herausgestellte Kadenzwendung auf eben jenem c-Moll landen zu wollen  ; doch statt c-Moll erklingt unerwartet C-Dur, und mit ihm, zunächst in Klarinetten und Hörnern, eine von webenden Streicherfiguren getragene, friedvoll-idyllische Melodie, die nicht den ›heroischen‹, sondern den gleichsam ›naiven‹, ›kindlichen‹ Aspekt der Tonart abruft (T. 23ff., Notenbeispiel  4), gemäß der bekannten Definition durch Christian Friedrich Daniel Schubart  : »C d u r, ist ganz rein. Sein Charakter heisst  : U n s c h u l d , E i n f a l t , N a i v e t ä t , K i n d e r s p r a c h e .«38

Notenbeispiel 4: Draeseke, Symphonia tragica, 1. Satz, T. 23f., Klarinetten

Im achten Takt (T. 30) wird die finale C-Dur-Kadenz, mit der die Melodie ihr Ende und ihre Abrundung finden würde, trugschlüssig nach f-Moll umgebogen – ein Vorgang, der sich zwei weitere Male wiederholt (T. 31f. und 33f.), wobei nun das spätere Hauptthema hinzutritt (siehe Notenbeispiel 2) und allmählich zum Beginn der Exposition überleitet (T. 32ff., zunächst Celli und Bässe, dann 1. Violinen, Bratschen und Celli). Der Moment, in dem diese verhinderte C-Dur-Kadenz endlich Realität wird, bildet das Telos der Symphonie  : Nach den Turbulenzen des c-Moll-Finales und der Reprise aller Hauptthemen in einer zerklüfteten Katastrophenpassage kehrt die langsame Einleitung des Kopfsatzes und mit ihr schließlich ganz am Ende auch das ›naive‹ Thema zurück (T. 805ff.), nun jedoch nicht mehr in einen Trugschluss mündend, sondern in ein plagal gefärbtes C-Dur-Feld, das die Symphonia tragica mit dem Gestus verklärender Transzendenz ausklingen lässt (T. 816ff.) – genau dort, wo im ersten Satz das an die Rhythmik des Finales von Beethovens Fünfter Symphonie angelehnte Hauptthema die Idylle gestört hatte. Statt des ›Scheinsieges‹ einer schwungvollen C-Dur-Musik, deren selbstgewisse Finalattitüde Draeseke gleichsam subversiv in den Kopfsatz vorzieht und durch den weiteren, nach c-Moll führenden Verlauf der Symphonie entkräftet, regiert ein zyklisches, kreisförmiges Prinzip, bei dem C-Dur zugleich Anfang und Ende bildet  : ein Telos zwar, aber keineswegs im Sinne des »per aspera ad astra«, sondern als Wiederherstellung dessen, womit ursprünglich alles begonnen hatte. *** 38 Christ[ian] Fried[rich] Dan[iel] Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hrsg. von Ludwig Schubart, Wien 1806. Reprint, hrsg. von Fritz und Margrit Kaiser, Hildesheim u. a. 21990, S.  377  ; Hervorhebungen original.

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Essenz des Tragischen

So unterschiedlich Bruckners Achte und Draesekes Symphonia tragica also auch sein mögen  : Sie treffen sich darin, den Moll-Dur-Konflikt, genauer gesagt den Konflikt zwischen c-Moll und C-Dur, wie ihn Beethovens Fünfte paradigmatisch ausgeprägt hatte, als Grundproblem symphonischen Komponierens neu zu entfalten, mit unterschiedlichen Lösungen, die das Bezugsmodell auf je andere Weise revidieren, wenn nicht gar explizit kritisieren, aber gerade dadurch auch dessen unverminderte Strahlkraft im späten 19. Jahrhundert bestätigen.

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Hans-Joachim Hinrichsen · Ivana Rentsch

Dur/Moll und der tschechische Folklorismus Smetana, Dvořák, Janáček und Martinů

Am Ende des 19.  Jahrhunderts dürfte über alle Gattungen hinweg die Entwicklung eines musikalischen Werks, das in einer Molltonika beginnt, hin zu einem emphatischen Schluss in strahlendem Dur der Normalfall sein, wie immer auch dieser Verlauf im Einzelnen dramaturgisch begründet und semantisch fundiert sein mag. Gegenbeispiele, etwa die sinnfällige Verweigerung einer Aufhellung ins finale Dur oder gar, diese Verweigerung noch zuspitzend, Dur-Werke mit Mollschlüssen, wirken eher wie rare Ausnahmen, mit denen lediglich die Regel bestätigt wird. So etwa scheint es denn auch das am Ende des Jahrhunderts in New York begonnene und in Prag vollendete Cellokonzert op. 104 des tschechischen Komponisten Antonín Dvořák zu bestätigen. Sein Kopfsatz beginnt, in der weichen und dunklen Klangfarbe der Klarinetten, mit dem Hauptthema in h-Moll, und er endet im Fortissimo-Glanz des vollen Orchesters in H-Dur. Ein düster gefärbter Beginn in Moll, ein strahlendes Ende in Dur (und für das Finale gilt cum grano salis dasselbe) – das zugrundeliegende Schema ist bekannt. Es gilt also in seiner Allgemeinheit offenbar nicht nur für die im deutschen Sprachraum oder in Westeuropa ausgebildete, auf allgemeine Verbindlichkeit zielende Musiksprache, sondern, wie man hier paradigmatisch sieht, auch für jene Komponisten Nord-, Mittel- und Osteuropas, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend von der kulturellen Identitätsbildung ihrer jeweiligen Nation in Beschlag genommen wurden und insofern den zeitgenössischen Universalismus durch Experimente mit einem bewusst exotischen, zugespitzt folkloristischen, kurzum  : erkennbar nationalsprachlichen Idiom zu transzendieren begannen. Die eingeschliffene Moll-Dur-Universalie hingegen scheinen sie nicht in Frage zu stellen. Wer das so sieht, macht gewiss nichts falsch. Bei näherem Zusehen jedoch kann man sich fragen, ob der Befund wirklich so glatt aufgeht. Ausgerechnet Dvořák war um diese Zeit d e r Spezialist für die Herstellung eines national konnotierbaren musikalischen Tons  : Seit der Publikation der ersten Sammlung der Slawischen Tänze (1878 bei Simrock in Berlin) war dies sein Markenzeichen, und nicht zuletzt diese unbestrittene Expertise war es, die als Motivation auch hinter seiner Berufung nach Amerika gestanden hatte, wo als letztes der dort konzipierten Werke ein Großteil des Cellokonzerts entstand. Dvořák selbst hatte seinen Arbeitsauftrag ganz klar so verstanden  : »Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir, vor allem soll ich ihnen den Weg ins gelobte Land und in das Reich der neuen, selbständigen Kunst weisen, kurz, eine nationale Musik schaf333

Hans-Joachim Hinrichsen · Ivana Rentsch

fen  !«1 Dieser Hintergrund, vor dem er komponierte, war dem alles andere als naiven Dvořák klar bewusst. Und nicht anders als sein um eine Generation älterer Landsmann Bedřich Smetana hat er die ihm aufgezwungene Konstellation von universeller musiksprachlicher Tradition und musikalischem Beitrag zu kultureller Identitätsbildung als produktive Spannung empfunden. Denn gerade der unentrinnbare, teils oktroyierte, teils willentlich akzeptierte Zwang zur Auseinandersetzung mit der Idee des Folklorismus als dem Ferment eines erst noch zu schaffenden musikalischen Nationaltons hat die Komponisten in Bezug auf den im Untertitel des vorliegenden Bandes erscheinenden »musikalischen Elementarkontrast« von Dur und Moll zu erstaunlichen Entdeckungen und Resultaten geführt, die den eben recht oberflächlich vorgeführten Erstbefund doch erheblich relativieren und differenzieren. *** Hinsichtlich eines musikalischen Folklorismus auf böhmisch-mährischem Boden führt kein Weg an Leoš Janáček vorbei. Schließlich hatte der eigenwillige Komponist in den Jahren, bevor er mit Jenůfa und Kaťa Kabanová den Durchbruch auf der Opernbühne schaffte, in erheblichem Maße als Volksliedsammler gewirkt. Sein Anspruch war bemerkenswerterweise ein primär wissenschaftlicher, was sich wiederum dem Umstand verdankte, dass der Kaiser die systematische Sammlung des Volksliedguts in der Doppelmonarchie in Auftrag gegeben hatte – ein Anlass, den der zunehmend deutschfeindliche Komponist später mit keinem Wort erwähnen sollte. Unter der Leitung des Prager Ästhetikprofessors Otakar Hostinský, der die Kronländer Böhmen und Mähren in der österreichischen »VolksliedKommission« vertrat,2 war Janáček für die musikalische Seite der mährischen Volkslieder zuständig.3 In den entlegensten Winkeln Mährens suchte der Komponist jedoch nicht nur nach möglichst ›ursprünglichen‹ Melodien, sondern legte darüber hinaus auch erheblichen Wert auf eine Dokumentation der Aufführungspraxis, die er in einem über 100seitigen Vorwort der 1901 erschienenen Volksliedsammlung darlegte. Dass er auf dieser Grundlage wenig später seine individuelle und zunehmend übersteigerte Theorie der Sprechmotivik ableitete, sei hier nur am Rande erwähnt.4 Hinsichtlich der Frage nach der 1 Brief vom 27.11.1892 an Josef Hlávka, in  : Antonín Dvořák, Korrespondence a dokumenty [Korrespondenz und Dokumente], 10 Bde., hrsg. von Milan Kuna u. a., Prag 1987–2004, Bd. 3, S. 162. Original tschechisch (»eine nationale Musik« = »muziku národni«). Sämtliche Übersetzungen aus dem Tschechischen in diesem Beitrag stammen von Ivana Rentsch. 2 Siehe John Tyrrell, Czech Opera, Cambridge 1988, S. 245  ; Miloš Jůzl, Otakar Hostinský, Prag 1980, S. 221– 226. 3 Josef Bartoš und Leoš Janáček, Národní písně moravské v nově nasbírané [Neu gesammelte mährische Volkslieder], Prag 1901. Zur Zusammenarbeit von Bartoš und Janáček siehe u. a. Hans Hollander, Leoš Janáček. Leben und Werk, Zürich 1964, S. 52–54. 4 Siehe dazu Ivana Rentsch, »Broučeks Prag. Die Opernästhetik Leoš Janáčeks und ihre Wurzeln in der tschechischen Musikgeschichte«, in  : Archiv für Musikwissenschaft 71 (2014), S. 167–190.

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Dur/Moll und der tschechische Folklorismus

a

b

Notenbeispiele 1a und b: Bartoš und Janáček, Národní písně moravské, S. LXXXI/205f.: Melodien Z Velke

volksmusikalischen Verwendung von Dur und Moll entscheidender sind hingegen Janáčeks Erläuterungen zur improvisierten instrumentalen Begleitung der einstimmigen Gesänge, in deren Kontext auch die Tonalität Berücksichtigung fand. Für unseren Zusammenhang ebenso ernüchternd wie relevant ist der darin greifbare Befund  : Die Charakteristika der mährischen Volkslieder liegen n i c h t in der Harmonik. Wie Janáček nicht müde wurde zu wiederholen, gründe der Kern der Folklore in der Prosodie, in den dialektalen Färbungen, der Stimmung der Sänger, nicht aber in der Tonalität, geschweige denn im Tongeschlecht. Die Melodie selbst sei schließlich an keine Tonart gebunden – eine Behauptung, die er etwa an folgendem Beispiel darlegt (Notenbeispiel 1a)  : »Was wäre das für eine Tonart aus den Tönen g-a-hes-h-c-d-c-fis-g  ? An eine solche Erwägung der Tonart denkt das Volk nicht, es kennt sie überhaupt nicht. Sein musikalisches Denken wählt aus allen Tönen, die z u m b e s t e n N u t z e n d e r M e l o d i e p a s s e n .«5 Und weiter, bezogen auf die Melodie Ej létala (Notenbeispiel 1b)  : » A l l e s e c h s Ta k t e a u f e i n e e i n z i g e t h e o r e t i s c h e To n l e i t e r u n d To n a r t z u b e z i e h e n , w o h l g - d o r i s c h , ist nicht richtig. Es sind hier nebeneinander die Tonart g w e i c h mit einer unbestimmten, schwankenden Sexte und einem h a r t e n F.«6 Nicht 5 Leoš Janáček, »Předmluva« [Vorwort] (1901), in  : ders., Folkloristické dílo [Folkloristisches Werk] (1886–1927) (= Editio Janáček I/ 3–1), hrsg. von Jarmila Procházková u. a., Brünn 2009, S. 205 (Hervorhebungen original)  : »Co by to bylo za stupnici z tónů g-a-hes-h-c-d-c-fis-g  ? Na takové smyšlené stupnice lid náš nemyslí, jich nadobro nezná. Jeho myšlení hudební vybírá si ze všech tónů, jaké se mu k nejlepšímu účinu nápěvku hodi.« 6 Ebenda, S. 206 (Hervorhebungen original)  : »Všech šest taktů jednou teoretickou stupnicí a tóninou zabrat, snad dórickou na g, není po pravdě. Jest tu vedle sebe tónina g měkká s neurčitou, kolísavou sextou a F tvrdá.«

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Hans-Joachim Hinrichsen · Ivana Rentsch

nur der Zuschreibung einer Tonika, sondern auch der Vorstellung, dass die tradierten Gesänge modal geprägt sein könnten, erteilte Janáček eine schroffe Absage. » D i e B a n d b r e i t e d e r e i n z e l n e n To n a r t e n kann unbemerkt bleiben und deswegen ist es möglich, alle Töne des Liedes in irgendeiner Tonleiter mit unrichtiger erster Stufe zusammenzustellen, und infolgedessen können unseren alten Liedern alle möglichen ›alten‹ Tonleitern zugeschrieben werden, als besonderes Zeichen des Altertümlichen. Ein solcher Fehler in der Bestimmung der Tonarten des Liedes kann geschehen, s o l a n g e w i r d a s L i e d n i c h t i n s e i n e r G a n z h e i t u n d h a r m o n i s c h e n A u s d r ü c k l i c h k e i t h ö r e n , d .  h . s o l a n g e w i r d a s L i e d n i c h t v o n M u s i k e r n d e s Vo l k e s g e s p i e l t h ö r e n .«7

Die Tonart ergebe sich erst durch den Zusammenklang der Instrumente – in der Regel Dudelsack, Hackbrett und Geige –, wodurch »aus unserem Lied ein modernes Lied« werde.8 Harmonische Eigenheiten benannte Janáček etwa mit Ausnahme der von ihm so bezeichneten mährischen Modulation bzw. Kadenz kaum, so dass selbst in den hintersten Winkeln der mährischen Provinz von einer weitgehenden Anwendung gängiger Schulharmonik auszugehen ist, deren Besonderheit eher in kleinteiligen Modulationen als in unerhörten Klangfolgen zu suchen sein dürfte. Da Janáček die Klänge selbst als »modern« taxierte, scheint er leider keine Notwendigkeit gesehen zu haben, die Praxis näher auszuführen. Es zählt zu den Paradoxien der Kompositionsgeschichte, dass die von Janáček klar herausgearbeitete Bedeutung der Melodik und Prosodie mährischer Volkslieder für die kunstmusikalischen Folklorismen weder vor- noch nachher eine Rolle spielte. So hatte sich etwa Bedřich Smetana in den 1860er Jahren nicht einmal ansatzweise um die Spezifik mährischer Idiomatik bemüht, als er Jeník  – den Helden der Verkauften Braut  – mit einer vorübergehenden Moll-Eintrübung als Mähren charakterisierte. Unabhängig davon, dass es sich hierbei insofern um einen doppelten Folklorismus handelt, als der Böhme Jeník nur vorgibt, aus Mähren zu stammen, erscheint es durchaus typisch, dass das lichte Dur des böhmischen Dorfes bei Jeníks Replik kurz durch Moll eingetrübt wird  : »Von weit her, Herr, bin ich  ! von weit her  ! Bis von der mährischen Grenze, bis von der mährischen Grenze.« Im G-Dur-Kontext der ganzen Stelle vermag also das c-Moll, die pseudo-folkloristische Chiffre, samt ihrem Umschlagen nach As-Dur (also in den Neapolitaner) die Erfordernisse einer operntypischen »Couleur locale« weitaus sinnfälliger zu erfüllen als jede 7 Ebenda, S. 205 (Hervorhebungen original)  : »Meze jednotlivých tónin mohou zůstati nepovšimnuty, a proto možno všechny tóny písně v jakousi stupnici s nepravdivým prvým stupněm seřaditi a následkem toho mohou se písním našim všelijaké ›staré‹ tóniny připisovati jako zvláštní přiznak starobylosti. Taková chyba v určování tónin písně může se přihoditi, dokud neslyšíme píseň v její úplnosti a zřetelnosti harmonické, tj. dokud neslyšíme píseň i lidovými hudci hráti.« 8 Ebd., S. 200  : »Souzvuk sdružených nástrojů udělal z naší písně píseň moderní.«

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Dur/Moll und der tschechische Folklorismus

Notenbeispiel 2: Smetana, Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut), Klavierauszug, 3. Akt, 4. Szene, T. 63–87

Eigenheit mährischer Prosodie, die im fernen Böhmen ohnehin nicht erkannt worden wäre. Gerade an dieser Passage offenbart sich das Wissen um die suggestiv folkloristische Wirkung, die durch einen bloßen Dur-Moll-Gegensatz provoziert werden kann. Dieser Effekt sollte sich für die Rezeption slawischer Komponisten als durchaus zweischneidig erweisen  : Ließ sich die gewünschte volkstümliche Couleur durch eine entsprechend kontextualisierte Verwendung von Dur und Moll erzeugen, liefen umgekehrt auch Werke Gefahr, als folklorisierend gedeutet zu werden, deren harmonische Disposition 337

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sich einer planvollen Architektur, nicht aber einem nationalen oder volkstümlichen Bekenntnis verdankte. Dieses Phänomen offenbart sich bei genauerer Prüfung vor allem an den instrumentalen Spätwerken Smetanas – insbesondere in seinem 2. Streichquartett –, in seiner Drastik jedoch besonders anschaulich bei Dvořák und dessen viel beschworenem Folklorismus. *** Für den mitteleuropäischen Musikmarkt entdeckt wurde Dvořák, als er sich 1877 um das staatliche Künstlerstipendium bewarb, bekanntlich durch Johannes Brahms, der den Prager Komponisten an seinen Verleger Fritz Simrock empfahl. Das erste Resultat der neuen Zusammenarbeit waren die Slawischen Tänze. Dvořáks »nationaler« Ton (der etwa von Eduard Hanslick als seine »ausgesprochene Eigenthümlichkeit« hervorgehoben wurde9) bildete von nun an in den unterschiedlichsten historischen Phasen, ästhetischen Diskursen und politischen Kontexten ein konstantes Wahrnehmungsstereotyp. Es dürfte indessen unbestreitbar sein, dass ein »Searching for Czechness in Music«, so ein programmatischer Aufsatztitel von Michael Beckerman,10 in die Irre führt, weil sich ein objektiv analysierbares Substrat für einen tschechischen Nationalton im Werktext selbst nicht finden lässt. Daher gilt auch in diesem Fall, was Carl Dahlhaus schon vor 40 Jahren über das musikalische Nationalitätskonzept generell festgestellt hat  : dass es kein »Substanz«-, sondern ein »Funktionsbegriff« sei.11 Der Nationalton ist zwar eine musikgeschichtliche Realität, zugleich aber, mit der kategorialen Apparatur der Phänomenologie gesprochen, kein in der Substanz des Werktexts auffindbarer, sondern ein »intentionaler« Gegenstand. In der Musik Smetanas und Dvořáks verdankt er sich nicht etwa dem Rückgriff auf eine präexistente Folklore, sondern ist ein mit subtilen Kunstmitteln hergestelltes artifizielles Produkt, dem auf der Seite der Rezeption ein phänomenologisches Konstrukt entspricht. Das alles ist sehr gut kompatibel mit den Diagnosen der neueren NationalismusForschung, die im Blick auf die europäischen Nationsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts von »imagined communities« (Benedict Anderson)12 und »invented tradition« spricht (Eric Hobsbawm).13 Es gibt demnach eine Metaphysik der Nation ebenso wie   9 Eduard Hanslick in  : Neue Freie Presse, 20.2.1883, S. 3, über Dvoráks Sechste Symphonie  : »Freuen wir uns, in unserer productionsarmen, reflectirten Zeit noch einem naiv empfindenden, fröhlich schaffenden Talent wie Dvorak zu begegnen, das in die höchsten Formen der Instrumental-Musik sich hineingewachsen und bei ausgesprochener Eigenthümlichkeit dem Ideale unserer classischen Periode die Treue bewahrt hat.« 10 Michael Beckerman, »In Search of Czechness in Music«, in  : 19th-Century Music 10 (1986), S. 61–73. 11 Carl Dahlhaus, »Die Idee des Nationalismus in der Musik«, in  : ders., Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des späteren 19. Jahrhunderts, München 1974, S. 86  ; wieder abgedruckt in  : ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Hermann Danuser u. a., Laaber 2000–2008, Bd. 6, S. 474–489. 12 Benedict R. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. 13 Eric J. Hobsbawm und Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

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Dur/Moll und der tschechische Folklorismus

eine Metaphysik der Instrumentalmusik  : ein durch die produktive Einbildungskraft des Kollektivs erzeugtes, durch mentale Arbeit vorgestelltes und dabei real gefühltes und insofern effektiv gemeinschaftsbildendes Kulturprodukt. Erstaunlich ist demgegenüber der sogar noch in der neuesten Forschungsliteratur verfolgte Essentialismus im Umgang mit diesem Phänomen. Das Kapitel über Smetana und Dvořák im Symphonie-Band des Neuen Handbuchs der musikalischen Gattungen etwa heißt, mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit, »Volkston des Ostens«,14 und die Gewissheit, Dvořáks reife Symphonik sei »durch und durch vom Gedanken eines nationalen Tons«15 bestimmt, ist der Grundtenor fast aller einschlägigen Darstellungen. Dvořáks »›nationale‹ Schreibart«16 wird als Tatsache allenthalben undiskutiert vorausgesetzt. Eine wichtige Quelle für diese Perspektive ist zweifellos das Kapitel »Nation« in Theodor W. Adornos Einleitung in die Musiksoziologie. Adornos plausible These, dass Musik »wie kein anderes künstlerisches Medium die Antinomien des nationalen Prinzips in sich« ausdrücke, weil sie »eine universale Sprache und doch kein Esperanto« sei,17 hat bei ihm für die Betrachtung jener Komponisten, die nicht aus dem deutsch-österreichischen Kulturraum stammen, höchst unterschiedliche Konsequenzen. Während Adorno etwa der »nationellen« Idiomatik bei Bartók und Janáček die Funktion einer ästhetischen Produktivkraft zugesteht, gilt dies für andere Komponisten gerade nicht  : »Innermusikalischer Rückschritt und Nationalismus gehen […] schon in typischen Erzeugnissen der Spätromantik wie Tschaikowsky und auch Dvořák zusammen. Bei ihnen repräsentieren das nationale Moment wirklich oder scheinbar der Volksmusik entlehnte Themen«.18 Das sagt vor allem etwas über Adornos Dvořák-Wahrnehmung aus. Für ihn nämlich sind Dvořáks Instrumentalwerke in ihrer t h e m a t i s c h e n Substanz folkloristisch gefärbt, und dies zudem ohne produktive Folgen für ihre Struktur  : »Die Gebilde nähern sich dem Potpourri.«19 Während Adorno an Brahms »Themen größter Schönheit« wahrzunehmen bereit ist, die »klingen, wie das reflektierte Bewußtsein Volkslieder sich vorstellt, die so nie existierten«,20 gesteht er Dvořák genau dies nicht zu, obwohl es gerade in dessen auf Brahms’ Zweite reagierender Sechster Symphonie ohne Abstriche zutrifft. Dabei hat Adorno selbst ein methodisches 14 Wolfram Steinbeck und Christoph von Blumröder (Hrsg.), Die Symphonie im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1  : Romantische und nationale Symphonik (= Handbuch der musikalisches Gattungen 3,1), Laaber 2002, S. 278ff. (zu Dvořák S. 285ff.). 15 Wolfram Steinbeck, »Dvořáks symphonischer Neubeginn  : Die Sechste und Siebte Symphonie«, in  : The Work of Antonín Dvořák. Aspects of Composition, Problems of Editing, Reception, hrsg. von Jarmila Gabrielová und Jan Kachlík, Prag 2007, S. 67. 16 Daniela Philippi, Antonín Dvořák. Die Geisterbraut, Svatební košile op. 69 – Die heilige Ludmilla, Svatá Ludmila op. 71. Studien zur ›großen Vokalform‹ im 19. Jahrhundert, Tutzing 1993, S. 54–60. 17 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1970–1986, Bd. 14  : Einleitung in die Musiksoziologie, S. 350. 18 Ebd., S. 363. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 364.

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Hans-Joachim Hinrichsen · Ivana Rentsch

Programm formuliert, das man unschwer (was er nicht tut) auch auf Dvořák anwenden könnte  : »Musikalische Erkenntnis, die ihrem Gegenstand gewachsen sich zeigte, müßte fähig sein, die Inflexionen der musikalischen Sprache, die Nuancen ihrer Form, also technologische Tatbestände, so zu lesen, daß in ihnen Momente bestimmbar werden wie das nationelle Debussys«.21 Nimmt man also die angeblichen Folklorismen – idiosynkratische Elemente von Dvořáks Personalstil – in aller Konsequenz als unmittelbaren Ausgangspunkt für die Suche nach »technologischen Tatbeständen«, so gelangt man direkt ins Zentrum der hier zu verhandelnden Thematik. Zu diesen immer wieder beschworenen Elementen gehören, selbst bei nur kursorischer Auswertung der wissenschaftlichen Literatur, neben der offensichtlichen Verwendung stilisierter nationaler Tanzmodelle mindestens  : a) synkopische Rhythmen, b) pentatonische Thematik, c)  häufiger Dur-Moll-Wechsel, d)  Binnenkadenzen auf fremden Stufen und e)  modale Wendungen (zum Beispiel die Leittonlosigkeit). Bemerkenswerterweise changieren diese Befunde, je nach dem erforderlichen Kontext, zwischen relativ vage bleibenden Komplexen, die fallweise als »slawisch«, als »böhmisch«, als »mährisch« oder als »amerikanisch« empfunden werden können. Entscheidend ist, dass sie gerade in ihrer Vagheit eine rezeptive Realität beschreiben, der auf der Seite des Komponisten zwar eine Intention zu nationaler Codierung seiner Musiksprache entsprechen mag, der aber die strikte Restriktion auf die thematische Oberfläche der Werke, die Adorno ihnen zuweist, nicht gerecht wird. Bei näherem Zusehen werden sie vielmehr ganz in Adornos Sinne zu »technologischen Tatbeständen«. Hier interessiert nun natürlich in erster Linie Dvořáks Umgang mit Dur und Moll. Schon früh ist bei ihm die Neigung festzustellen, zwischen diesen beiden Polen des Elementarkontrasts Zonen einer Vermittlung, Bereiche des Übergangs aufzusuchen und diese dann nicht etwa nur für die Thematik (bei der Adornos Wahrnehmung es belässt), sondern für den Strukturplan eines Werks zu nutzen. Dabei kommen Anklänge ans Modale und ans Pentatonische ins Spiel, ohne je konsequent und in Reinform als solche vorhanden zu sein. Demselben Stipendienantrag, der zu Dvořáks Entdeckung durch Brahms führte, lag auch sein erstes Klaviertrio B-Dur op. 21 bei. Schon dessen Beginn exponiert das Kunstmittel der Leittonvermeidung, die eine flüchtige Assoziation an die Pentatonik wachruft, obwohl es in Wirklichkeit um nur vier Töne geht.22 Der Hauptsatzbereich mit seinen beiden Themen steht in B-Dur, der motivisch und thematisch reichhaltige Seitensatzbereich dann  – scheinbar ordnungsgemäß  – in der ­Dominanttonart F-Dur (ab T.  73). Bezeichnenderweise herrscht jedoch unter dieser 21 Ebd., S. 353. 22 Vgl. dazu Hans-Joachim Hinrichsen, »Werkgeschichtliche Zäsur und formästhetischer Wendepunkt  : Antonín Dvořáks Klaviertrios B-Dur op. 21 und g-Moll op. 26«, in  : Gabrielová/Kachlik (Hrsg.), The Work of Antonín Dvořák, S. 124.

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Dur/Moll und der tschechische Folklorismus

Notenbeispiel 3: Dvořák, Klaviertrio op. 21, Exzerpt des Hauptthemas

scheinbar konventionellen Oberfläche eine ganz anders geartete harmonische Tiefenstruktur. Und diese ist vollkommen konsequent durch Mediantbeziehungen, also durch große und kleine Terzen, organisiert. Diese mediantische harmonische Organisationsform ist aber in der diastematischen Struktur des Hauptsatzes vorgebildet. Erstens nämlich ist das Hauptthema in seiner Gestalt gänzlich durch ab- und aufsteigende Terzen strukturiert, und zweitens ist sein gesamter Verlauf durch Sequenzen im Abstand sinkender und steigender Terzen bestimmt (erster Teil des Themas  : T. 1  : B-Dur, T. 7  : g-Moll, T. 13  : Es-Dur  ; zweiter Teil des Themas  : T. 31  : B-Dur, T. 47  : d-Moll, T. 49  : F-Dur). Dabei bilden die Ausgangstöne der drei Sequenzteile, wie im Notenbeispiel 3 markiert, den Umriss des Tonikadreiklangs B-Dur (f 2-d2-b2). Der regelmäßige Wechsel von Dur und Moll liegt gewissermaßen in der Konsequenz dieser harmonischen Syntax. Überblickt man von hier aus die harmonische Gestaltung der Exposition und der Reprise, dann erkennt man diese Terzen-Organisation als konsequent durchgehaltenes Prinzip des ganzen Satzes  : EXPOSITION Hauptsatz

Hauptsatz

a) B – g – Es b) B – d – F

a) B – g – Es b) B – Des – E / as / H etc.

Seitensatz a) F b) F – a – C c) F – d – B etc.

Seitensatz a) B b) B – d – F c) Ges etc.

REPRISE

CODA  :

B – Ges –B

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Nicht also nur das Hauptthema ist durch Abschnitte in Terzabständen strukturiert, sondern auch das regulär in der Dominante F-Dur erscheinende Seitenthema. Aus den vielen Auffälligkeiten sei hier nur eine einzige herausgegriffen  : Genau an jener Stelle, an der in der Exposition der zweite Teil des Hauptthemas den diatonischen Terzabstand d-Moll erreicht (T. 47), steht in der Reprise, vermittelt durch die Wendung des Themas von B-Dur nach b-Moll, die chromatische Kleinterzdistanz Des-Dur (T. 344). Während die Exposition in die hohen Tonarten des Quintenzirkels ausgreift, beantwortet dies die Reprise mit Schritten in die unteren Regionen (das E-Dur in T. 350 ist lediglich die leichter lesbare Version des hier eigentlich gemeinten Fes-Dur). Dieses 1876 entstandene Werk markiert den Beginn einer Epoche, die in der Sekundärliteratur häufig als Dvořáks erste »slawische Phase« firmiert. Schon an diesem Beispiel aber wird sichtbar, dass der pseudo-pentatonische Folklorismus und das rasche Changieren zwischen Dur und Moll nur Seiteneffekte einer wesentlich tiefer liegenden Strukturidee sind. Bezeichnend ist es daher, dass ein viel späteres Kammermusikwerk, das auf dem Höhepunkt der sogenannten »amerikanischen Phase« komponiert worden ist, aus einer ganz ähnlichen intervallischen Konstellation vergleichbare konstruktive Konsequenzen zieht  : das Streichquintett op.  97 (Notenbeispiel 4). Wieder hat man es mit der auffälligen Halbtonlosigkeit zu tun, die oft voreilig als pentatonisch bezeichnet wird, obwohl sie sich in diesem (ebenso wie auch schon im vorigen) Falle in Wirklichkeit wiederum auf nur vier Töne beschränkt.23 Das in Es-Dur stehende Werk beginnt mit einer Melodieformel, die durch Kombination zweier kleiner Terzen im Ganztonabstand die Entscheidung über die Tonart (cMoll  ?, g-Moll  ?) offenlässt. Die schon im sechsten Takt erfolgende Klärung (Es-Dur  !) bringt aber sogleich ein weiteres Irritationsmoment ins Spiel, indem das halbtönige Changieren zwischen der großen und der kleinen Terz (Violine 2) die Assoziation an die Mollvariante aufruft. Bei der Wiederholung der Initialformel (ab T. 15) zeigt sich, dass es Dvořák gar nicht um die Halbtonlosigkeit als solche zu tun war  : Nun verrutscht, vom Ton b aus, das Modell aus zwei Terzen chromatisch so, dass zwei große Terzen ins Spiel gebracht werden  : ces-es und b-ges. Die Implikationen dieser Ankündigung, auf die dann die Exposition des aus dieser Melodieformel gewonnenen Hauptthemas folgt, können hier nicht sämtlich dargestellt werden. Vorerst nur so viel  : Sehr rasch gelangt der Satz zu seinem Seitenthema, dessen g-Moll ebenso auffällig wie raffiniert durch das schon aus dem achten Takt des Stücks bekannte Changieren zwischen g und ges bzw. g und fis herbeigeführt wird. Dieses Seitenthema nun hat dieselbe, auf die Initialformel zurückweisende Struktur wie das Hauptthema, allerdings nun als Kombination einer kleinen

23 Vgl. dazu auch Hans-Joachim Hinrichsen, »Neue Welt – neue Wege  ? Dvořáks ›amerikanische’ Produktionsstrategie, am Beispiel des Streichquintetts op. 97«, in  : Antonín Dvořák (= Musik-Konzepte NF 174), hrsg. von Ulrich Tadday, München 2016, S. 107–128.

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Notenbeispiel 4: Dvořák, Streichquintett op. 97, 1. Satz, T. 1–30

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und einer großen Terz im Ganztonabstand. Auch hier muss infolgedessen die Tonart (g-Moll  ?, B-Dur  ?) erst geklärt werden (Notenbeispiel 5). Ist all dies schon, als Ableitung einer Gesamtform aus einer Anfangsformel, subtil und raffiniert, so sind die weiteren Konsequenzen spektakulär (Notenbeispiel 6)  : Bei der Reprise erscheint das Seitenthema regelkonform um eine große Terz tiefer transponiert, so dass das ursprüngliche g-Moll nun eigentlich in das tonikale es-Moll zurückgeführt sein könnte. Es wird aber, ermöglicht durch seine erwähnte Intervallstruktur, nun so harmonisiert, dass es in Ges-Dur steht und mit dessen Subdominate Ces-Dur genau jene Stufe ins Spiel bringt, die bei der zweiten Wendung der Initialformel schon einmal angeklungen war. Die weiteren Konsequenzen für den Werkverlauf können hier nur angedeutet werden, so etwa die Tonarten des Scherzos (H-Dur, eigentlich also Ces-Dur) und des langsamen Satzes (as-Moll) oder die raffinierte Beziehung der Finalrondo-Couplets (g-Moll, GesDur, es-Moll). Ohne Übertreibung lässt sich behaupten, dass alle harmonisch-strukturellen Eigenschaften des Werkzyklus sich der Ableitung aus der eingangs exponierten viertönigen Melodieformel verdanken, nicht ganz unähnlich dem Verfahren, das sich schon am Kopfsatz des B-Dur-Klaviertrios zeigen ließ. Zwischen diesen beiden Werken liegen fast 20 Jahre einer stetigen kompositorischen Entwicklung, deren Tendenz sich nicht in griffige Formeln fassen lässt. Nur kurz erwähnt sei das kurz vor der Übersiedlung nach New York gedruckte Klavierquartett Es-Dur op. 87. Auch hier exponiert der Beginn eine folgenreiche Viertonformel, die aber diesmal nicht Pentatonik, sondern Chromatik bemüht (Notenbeispiel 7). Auffällig an dem Themenkopf ist die geradezu schockierende chromatische Verfehlung des Dominanttons b  ; dieser wichtige Ton wird durch das in Es-Dur exterritoriale ces ersetzt. Nach den vorangegangenen Beispielen wird man sich nun nicht mehr wundern, sämtliche weiteren harmonisch-strukturellen Ereignisse des Satzes (ja sogar des gesamten Werkzyklus) als Explikationen dieser Anfangsidee entfaltet zu finden. Allein schon die erste Partiturseite zeigt, wie rasch sich der Satz – durch Aufnahme des enharmonisch umgedeuteten ces – in von der Tonika weit abliegende Bereiche bewegt. Der gesamte Werkzyklus bietet eine Fülle von ineinandergreifenden Beziehungen der um die Tonika Es-Dur zentrierten Tonarten Ces-Dur, h-Moll, B-Dur, g-Moll und c-Moll, und dass dieses Quartett schließlich eines der musikgeschichtlich raren Beispiele bietet, in denen ein Dur-Werk mit einem Moll-Finale beschlossen wird, ergibt sich zwanglos aus eben dieser Tatsache (und weit weniger aus einer semantischen Absicht). Die Initialformel dieses Finales integriert den schon vom Kopfsatz her vertrauten Ton ces und entfaltet sich daher in es-Moll (Notenbeispiel 8). Das schließlich erreichte Ende in Es-Dur wird dadurch relativiert, dass seine höchst merkwürdige Schlusskadenz statt der Dominant-Tonika-Abfolge die beiden vom Werkbeginn her bekannten Töne ces und c spektakulär als Kadenzstufen einsetzt (Notenbeispiel 9). 345

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Notenbeispiel 5: Dvořák, Streichquintett op. 97, 1. Satz, T. 55–64 (Seitenthema)

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Notenbeispiel 6: Dvořák, Streichquintett op. 97, 1. Satz, S. T. 208–215 (Seitenthema-Reprise)

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Notenbeispiel 7: Dvořák, Klavierquartett op. 87, 1. Satz, Beginn

Vor diesem Hintergrund sei nun ein etwas genauerer Blick auf das eingangs erwähnte Cellokonzert op. 104 geworfen, das – wenn man die bequeme Etikettierung der Sekundärliteratur zu übernehmen bereit ist  – den Übergang von der »amerikanischen« zur »zweiten slawischen Phase« markiert. Seinem Hauptthema wird regelmäßig seine pentatonische Struktur bescheinigt  – mit größerem Recht als den bisher gezeigten (stets nur viertönigen) Themen. Aber gerade an ihm lässt sich wiederum zeigen, dass die Absicht einer pentatonischen Folklorisierung keineswegs Dvořáks Hauptintention gewesen sein kann. Die auffallende leittonlose Fünftönigkeit des Themas bildet nämlich nur den Ausgangspunkt für einen Prozess, der gerade in der Annäherung von Pentatonik, Chromatik, Enharmonik und Diatonik sein eigentliches Ziel findet. Das Hauptthema (Notenbeispiel 10), um hier nur die wichtigsten Stationen zu nennen, erscheint in der Orchester-Exposition als pentatonisches Moll (1), sodann in der Solo-Exposition als 348

Dur/Moll und der tschechische Folklorismus

Notenbeispiel 8: Dvořák, Klavierquartett op. 87, Finale, Beginn

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Notenbeispiel 9: Dvořák, Klavierquartett op. 87, Finale, Schluss

pentatonisches Dur (2), in der weiteren Entwicklung eingebunden in ein mediantisches Pendeln zwischen h- und g-Moll, bei dem der bisher vorenthaltene Leitton ais enharmonisch zur Terz von g-Moll umgedeutet wird (3), und ganz am Ende erscheint das Thema (»Grandioso«) in einer apotheotischen Wendung ins diatonische Dur (4).24 Hinzu kommt, dass dieser harmonischen Dramaturgie gleichzeitig der Prozess einer Inversion der Themencharaktere unterliegt. Während das h-Moll-Hauptthema bei seiner 24 Vgl. dazu auch Iacopo Cividini, »Eine Lösung der Konzertproblematik nach Beethoven  : Dvořáks Cellokonzert in h-Moll op. 104«, in  : Gabrielová/Kachlik (Hrsg.), The Work of Antonín Dvořák, S. 160–167.

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Dur/Moll und der tschechische Folklorismus

Notenbeispiel 10: Dvořák, Cellokonzert op. 104, 1. Satz, 4 Erscheinungsformen des Hauptthemas

Exposition durch das Orchester ins Grandiose gesteigert wird (so auch die ausdrückliche Beischrift in T. 23  : Grandioso), erklingt das D-Dur-Seitenthema als innige Kantilene. In der zweiten Hälfte des Satzes aber, die keine Durchführung enthält und stattdessen die Abfolge von Haupt- und Seitenthema als extrem transformierte Reprise gestaltet, erklingt das Hauptthema in gis-Moll (T. 224ff., anfangs notiert als as-Moll), und zwar in einem schwärmerisch versunkenen Dialog mit den Holzbläsern, die seinen eingangs exponierten Charakter fast ins Gegenteil wenden und die einzige Phase des Satzes herstellen, in der das Thema wirklich in eine einwandfrei diatonische Moll-Kantilene eingebettet erscheint. Genau diese Inversion der Charaktere wird dann komplettiert durch die Steigerung des vormals innig-kantablen Seitenthemas ins Grandiose des Orchester-Tuttis, in der Durvariante der Haupttonart, H-Dur (T. 267ff.). Wie in der Exposition, so stehen auch in der transformierten Reprise die beiden Themen im Abstand einer kleinen Terz (Exposition  : h-Moll, D-Dur, Reprise  : gis-Moll, H-Dur). Die ausgeklügelte harmonische Dramaturgie wird also kombiniert mit einer überwältigenden Thementransformation  : Dvořák war nun in technischer Hinsicht gleichsam reif für die Gattung der Symphonischen Dichtung, die denn auch nach seiner Rückkehr in die Heimat konsequent und exklusiv als einziges Genre den Werkkatalog seiner späten Orchesterkompositionen bestimmt. Ein Blick auf den Schluss des Werks kann diesen Befund abrunden (Notenbeispiel 11). Am Ende des in h-Moll stehenden Finalsatzes (dessen interessante Harmonik und Thematik hier aus Gründen der Raumbeschränkung außer Acht gelassen sei) erscheint 351

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Notenbeispiel 11: Dvořák, Cellokonzert op. 104, 3. Satz, Schluss (Partiturausschnitt)

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das Hauptthema des Kopfsatzes wieder, als Zitat, als nostalgische Reminiszenz (T. 461ff., T. 477ff.). Seine beiden Auftritte rahmen das ebenfalls zitathafte Liedthema ein, das der Komponist hier im Gedenken an seine kurz zuvor verstorbene Schwägerin eingefügt hat (T. 469ff.). Wenn man an diesem Schluss entlang hört, wird man Aufregendes feststellen  : Das erinnerte Kopfsatzthema erklingt in den Holzbläsern zuerst in H-Dur, aber anders als im Original von der Terz dis ausgehend  ; nach dem kurzen Liedzitat dann in Moll, nun vom Tonikagrundton h aus ansetzend, wobei dieser aber überraschend neu mit der Mollsubdominante (statt in der Tonika) harmonisiert ist. Das Cello lenkt danach unbeirrt nach H-Dur um, verliert aber am Schluss die Dur-Terz und sinkt nach d (das aber wieder, wie zuvor, überraschend subdominantisch harmonisiert wird  : T. 492). Der Schluss bietet dann eine planvoll artifizielle Verstörung des Kontrasts  : Das vom Cello erreichte H-Dur ändert sich in der Pizzicato-Begleitung des Orchesters zu D-Dur, dann zu G-Dur (wodurch die ehemalige H-Dur-Terz dis nun zu d wird), und wenn dann mit weit ausholender Geste die Schlusskadenz zu einem grandiosen H-Dur ansetzt, wird dessen DurTerz zunächst durch das Kunstmittel eines zwischen cisis und dis flimmernden Trillers (Violine 1, T. 497) verwischt. Wenn dieser Schlussanlauf sich schließlich zum Fortissimo gesteigert hat, erhält er zum Kadenzieren, wie in Erinnerung an den Beginn des Werks, die merkwürdig harmonisierte VII. Stufe (also A-Dur, wenngleich über H-Orgelpunkt), und das solchermaßen verfremdete H-Dur kadenziert danach auf der letzten Partiturseite tatsächlich auf höchst eigenartige Weise über die Stufen VII, IV und I (A-Dur, eMoll, H-Dur). Von einem apotheotischen Durschluss möchte man hier kaum sprechen, obwohl das Schema – es könnte in der Gattung des virtuosen Solokonzerts auch kaum anders sein – unbestreitbar erfüllt ist. Es ist aber ebenso erfüllt wie kunstvoll verfremdet. *** Zum Schluss können wir uns einen flüchtigen Seitenblick auf jenen Komponisten nicht versagen, den die tschechische Musikgeschichtsschreibung neben Smetana, Dvořák und Janáček als den vierten ihrer großen Komponisten betrachtet und der allgemein unter einer ähnlich selektiven, nämlich durch die Erwartung eines artifiziellen Folklorismus geprägten Rezeptionsperspektive zu leiden hat  : Bohuslav Martinů. Um die Komplexität der Thematik anzudeuten, mag ein einziges, freilich hochgradig signifikantes Beispiel dienen. Als Martinů 1941 auf der Flucht vor den deutschen Truppen aus Paris in die USA emigrierte, begann er im Alter von über 50 Jahren eine späte, aber geradezu wundersam produktive Karriere als Symphoniker. Die erste seiner in rascher Folge entstandenen sechs Symphonien, 1942 durch das Boston Symphonie Orchestra unter Serge Koussevitzky uraufgeführt, wird eröffnet durch ein Klangemblem, das man nicht nur einfach vor dem Hintergrund der bekannten Dur-Moll-Polarität verstehen sollte, sondern als programmatischen Einstand in die amerikanische Musikkultur. Folgenreich für das gesamte Werk, exponiert der Satz in seinen ersten Takten das sinnfällige Umschlagen von h-Moll nach H-Dur, bevor er mit dem synkopierten Hauptthema allen Erwartungen an 353

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Notenbeispiel 12: Martinů, Symphonie Nr. 1, Beginn (Partiturausschnitt)

einen stilisierten Folklorismus entgegenzukommen scheint (Notenbeispiel 12). Und in H-Dur wird der Satz auch enden. Soll man es als Zufall empfinden, dass der notorische Dvořák-Verehrer Martinů sein amerikanisches Debütwerk so hintergründig-reflektiert auf Dvořáks amerikanisches Abschiedswerk, das Cellokonzert in h-Moll, antworten lässt  ? Ludwig Finscher hat Martinůs sechs Gattungsbeiträge, obwohl sie für die Musikkultur der USA entstanden sind, kurzerhand als »dennoch ganz tschechische Symphonien aus der Tradition der Nationalromantik« bezeichnet.25 Ob man das nach dem bis hierher Ausgeführten wirklich glauben soll  ?26 Zur Musikkultur seiner Heimat hatte der seit 1923 in Paris, seit 1941 in den USA lebende und nie mehr nach Tschechien zurückgekehrte Komponist sogar ein noch we25 Ludwig Finscher, Artikel »Symphonie«, in  : MGG2, Sachteil, Bd. 9 (1998), Sp. 140. 26 Siehe dazu Wolfgang Rathert, »Die Sinfonien von Bohuslav Martinů. Ein Beitrag zur amerikanischen Musikgeschichte  ?«, in  : Bohuslav Martinů (Musikkonzepte, Sonderband), hrsg. von Ulrich Tadday, München 2009, S. 113–126.

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sentlich komplizierteres Verhältnis als die drei Vorgenannten. Ist es also nicht viel eher denkbar, dass Martinů, statt einen regressiven Folklorismus zu bedienen, die konstruktive Idee seines großen Vorbildes, das er offenbar besser verstanden hat als viele seiner selbsternannten Liebhaber, genau in dieser Hinsicht weiterdenkt  ? *** Als vorläufige Bilanz ergibt sich Folgendes  : Nicht anders als beim späten Smetana funktioniert auch bei Dvořák, und selbst noch Jahrzehnte später bei Martinů, die Vorstellung vom Ablauf eines zyklischen Werks zwar weiterhin auf der Folie des in der mitteleuropäischen Musikgeschichte gewachsenen semantischen Schemas  : Wo »Moll« war, soll »Dur« werden. Jedoch treten die Materialaspekte der Tongeschlechter (ergänzt um weitere Dimensionen wie Modalität, Pentatonik oder Chromatik) zunehmend als rein konstruktive Momente in den Vordergrund. Man kann daher wahrscheinlich auch viele melodische und harmonische Einzelheiten bei Janáček (trotz der von ihm geliebten ideologischen Verbrämung) konsequent in der Verlängerung dieser Problemstellungen und Lösungsstrategien sehen. Für viele Hörer repräsentieren sie wohl in der Tat das als solches empfundene Nationalkolorit, einen Exotismus also, der je nach Rezeptionsmodus und -kontext diverse nicht-mitteleuropäische Konnotationen aufzurufen vermag. Sie sind allerdings eben nicht koloristischer Natur, denn ausnahmslos dienen sie den Komponisten als Ausgangspunkte für grundlegende strukturelle Konsequenzen, die ihnen eine an der Oberfläche vermeintlich folkloristischer Thematik entlanghörende Wahrnehmung nicht zugestehen mag. Es verhält sich daher wohl kaum so, dass sie einem wie auch immer empfundenen Folklorismus abgewonnen sind, sondern vielmehr so, dass sie überhaupt erst einen stilisierten Exotismus zur Erscheinung bringen. Dass die Werke sich dabei – wenn auch kaum ohne eine eigentümliche Gebrochenheit – in die Geschichte des universellen »Elementarkontrasts« einzufügen scheinen, wird man als eine besondere Vermittlungsleistung ansehen müssen – vor allem aber als hochgradige Differenzierung und enorme Bereicherung.

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Neither Major, nor Minor The Affective Fluctuating Third in Central-European Art Music ca. 1840–1940

1. Introduction: between Major and Minor

This paper examines how the phenomenon of the fluctuating third in folk musics of Hungary and the Czech lands might be perceived and interpreted, in formal and affective terms, in a few select works by Central European composers ca. 1840–1940. It stems from particular portions of two previous studies of folk-music influence in Béla Bartók’s music by Imre Olsvai (1969) and Kata Riskó (2015) respectively, which have speculated about how Bartók responded compositionally to the phenomenon sometimes (too restrictively) known as “Transdanubian third”, presumably because it was first observed in a particular singing style of peasants in the region of Western Hungary.1 Olsvai was concerned with a direct regional influence and the formal means by which Bartók had adapted “the oscillation between minor and major thirds and minor and major sevenths, whether in a strophe or in several successive strophes” of Transdanubian folk songs. Riskó’s much more recent article takes a more critical look at primary sources and gives a clearer chronological correlation between Bartók’s fieldwork and composition. It shows that this kind of intervallic oscillation exists, in some instances, in compositions that predate his field research, it relates to his field studies beyond West Hungary (e. g. in Bihar, now in northwest Romania), and might also indicate the influence of similar aspects in the harmony of Franz Liszt and Claude Debussy. Notwithstanding these differences, and despite a necessary degree of speculation that an investigation in this area entails, both articles show that Bartók remains one of the safest composers for studying musical transculturation of this sort. After all, as a pioneering ethnomusicologist as well as a composer (along with Zoltán Kodály and László Lajtha), he left musicologists a treasure trove of extremely detailed transcriptions that can be painstakingly studied against his folk-music-inspired compositions. Two examples from each of the abovementioned articles will make this point in a different way.2 1 Imre Olsvai, “West-Hungarian (Transdanubian) Features in Bartók’s Work”, in  : Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 11 (1969), pp. 333–336  ; Kata Riskó, “Népzenei inspirációk Bartók stílusában” [“Folk Music Inspirations for Bartók’s Style”], in  : Magyar Zene 53 (February 2015), pp. 79–84. 2 This paper will not deal with instances where composers briefly represent microtonal tuning in a folkloristic context (as in the case of the third movement from George Enescu’s Sonata No. 3 Op. 25). Nor will it speculate about the more systematic way in which microtonality in oral cultures relates (or does not relate) to works of Central European avant-gardists who developed microtonality systematically – most prominent

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In Example No.  1, based on Olsvai’s first example (pp. 334–335), we see in the upper staff a cleaner and (for comparison purposes) rhythmically simplified version of Bartók’s meticulously handwritten transcription of a song he recorded in Tolna County in central Hungary in 1907 (As ürögi ucca sirikes, “The Street of Urogi is straight”, catalogue no. MF 972b).3 Arrows point to the occasional flattening or sharpening of scale-degree 3ˆ within the Myxolidian mode, and, in the first bar, the sharpening of 7ˆ . The lower two staves reproduce Bartók’s piano work No. 20 from the album For Children, Sz. 42 (orig. version 1909), based on the same song, and published only two years after the original recording was taken.

Example No. 1: Top system: a simplified version of Bartók’s transcription of As ürögi ucca sirikes, MF 972b (1907); bottom system: Bartók, For Children (1909), No. 20, bars 1–12

of whom was Alois Hába. It is intriguing and pertinent to my topic that Hába was reportedly inspired by his native Moravian folk music to sharpen some major-mode intervals and flatten minor-mode intervals to “heighten [their] expressive effect” (Jiří Vysloužil, “Hába, Alois”, in  : Grove Music Online, accessed 6th June 2016). However, the issue of transcultural microtonality in art music takes us too far from an investigation that concentrates on fluctuating thirds as adapted to the hemitonic system. 3 I have also consulted the facsimile of Bartók’s original transcription, which is accessible online through the Hungarian Institute of Musicology’s Béla Bartók, Complete Collection of Hungarian Folk Songs, http://db.zti. hu/nza/tamlap/BR_02653_01.jpg  ; the transcription is based on a sound recording that is available from the same repository  : http://db.zti.hu/nza/mp3/MH_0972b.mp3, both accessed 18th April 2018.

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Neither Major, nor Minor

Olsvai observes the following  : The pitches of the original folk-song (neutral thirds and seventh marked by arrows) whose proper intonation cannot be rendered in a hemitonic system, are liable to be fixed by the authors at one height or another arbitrarily. Bartók does not resolve these neutral pitches in the common minor-like pentatonic scale (g-b flat-c-d-f), but he uses b1 [B-natural] in the middle of the melody and in this way he emphasizes the Trans-Danubian colour.4

We can see, in fact, that Bartók has simplified the intervallic oscillations by interpreting all recurrences of 7ˆ as F-natural (this is true for the rest of the piece). He has also made B-flat the more stable note of the mode, rather than B-natural. The result is a mostly Dorian mode with occasional sharpening of the third. The first question to ask is whether the B-natural at the end of the first phrase is indeed “arbitrary”. The recording and transcription suggests otherwise, at least not as far as faithfulness to the source is concerned  : Bartók interprets a slightly lower B-natural as B-natural, and a slightly higher B-flat (bar 9) as B-flat. This would be the logical solution for giving a flavour of this practice in a hemitonic system that does not allow microtonal tuning. But it is not merely a matter for logical conjecture  : we are very fortunate to have a recording, transcription and a fairly straightforward artistic arrangement, all from the same person, which allows us to track both artistic and transcription-related decisions in such fine detail. The positive proof we have of a conscious attempt to translate the phenomenon of neutral third, is uncommonly high in this case. We will not find in 19th-century compositions (and even in many other works by Bartók) such an easy access to the composer’s mind in this matter. The manner in which Bartók adapts this phenomenon, however, may help hypothesise earlier perceptions and transference of this phenomenon in art music. Positivism and its limits aside, Example No.  1 raises a different question about the meaning and expressivity of major and minor, and here straightforward comparison to the source recording will not explain everything. In the recording, the singer’s voice is louder in the first phrase because the pitches are higher  : this is reflected in the coupling of a phrase in forte answered by one in mezzoforte (later the second phrase is to be played piano). But in terms of pitch, the final B-flat in bar 11 of the piano piece could well have been B-natural to judge by the recording (the B-G motif is analogous to F-sharp-D from the first phrase). Bartók avoids this, instead opting for B-flat and thus correlating the bright or “harsh” major with the louder dynamics, and the “soft” minor with the soft dynamics of the second phrase. The same modal process is repeated in the second half of the piece with slightly different harmonisation. In that way, Bartók overturns the art-music tradition and ethos of the Picardy third, where minor is stabilised by a parallel major-mode ending. Here, on the contrary, the major third is heard as a harsh deviation 4 Olsvai, “West-Hungarian (Transdanubian) Features in Bartók’s Work”, pp. 334–335.

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from a Dorian mode, and creates anticipation of a stable completion, almost in the manner of an antecedent phrase. My second introductory example is taken from Riskó (p. 85)  : bars 156–60 from the first movement of Bartók’s String Quartet No. 2 Op. 17 (1915–1917). It depicts the superimposition of a minor-mode melody against major-mode chords, a different kind of modal practice, found in instrumental music in Transylvania, that is akin to “blue note” intervals in jazz. In such music, sometimes the melodic “blue” note can be a neutral third. In any case, its modal independence from the accompanying chords creates gritty cross-relations. When adapted to art music, such cross-relations create dissonances that heighten the modal independence of the melody, in contrast to its common-practice subservience to harmonic control. Bartók knew this phenomenon well, and discussed the adaptation of superimposed major and minor modes to art music in one of his Harvard lectures in 1943.5

Example No. 2: Bartók, String Quartet No. 2 (1915–1917), first movement, bars 156–60

Any discussion of this passage’s “affect” is complicated by several factors. First, if we hear this in relation to common-practice tonality, then it is not clear how the perception of a slow, soft minor-mode melody in legato, usually connoting some quality of sadness, might be changed by major-chord triads. Second, if we switch our perspective to traditional village music, we do not actually have any equivalent theory of the affective quality of this kind of harmony. Even if we did, the perception of this affective quality will also depend on sound and expression that are profoundly altered in Bartók’s music, where the tranquillo, dolce character with pizzicato accompaniment does not attempt to imitate folk 5 Béla Bartók, Essays, edited and translated by Benjamin Suchoff, Lincoln 1976, pp. 367–370.

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music as much as evoke a distant memory of it. Third, it makes little sense to analyse the emotive content of this passage in isolation, as its style and tonal stability stand in such sharp relief to the high modernism of the rest of this string-quartet movement. The question of modal ethos in such examples is therefore not merely a question of being certain about the cultural origins of a certain modal practice. It is all about both formal and historical-stylistic context. In other words, one also needs to consider non-pitch parameters that define character or mood. Second, the general musical language within which we find a certain passage is crucial  : it determines how we judge deviance from the expressive uses of major and minor inherited from the late 18th-century common practice. The latter half of this paper considers 19th-century folkloristic compositions precisely because these evince some manner of fluctuating third and yet are close enough to common-practice tonality. Although we are dealing with composers whose knowledge of folk music was superficial by 20th-century standards, there is enough evidence of transcultural influence to warrant speculation about how translated representations of folk-music-inspired neutral or fluctuating thirds may have impacted the perception of the (still stable) ethos of major and minor. In my discussion of affect I shall refer to a circumplex model of emotion developed by Russell (1980), and subsequent theoretical adaptations to music by Juslin (2001) and Spitzer (2010).6 The circumplex model throws an interesting light on the way a knowledgeable listener (one who is steeped in the tonal music of the late 18th century and early 19th century) may hear major and minor in tandem with other musical parameters, and how and under what circumstances works with one overarching affect, like the ones we shall examine here, slightly veer towards ‘neighbouring’ affects. There are obvious limitations to this study. Any suggestions of direct cultural transference of modal ethos is strictly avoided, since I do not know whether these fluctuations carry any semantic meaning or emotive charge in the source culture, nor have I found yet studies that attempt such a theory, or have the means to provide one myself. My method here is rather to show in the first instance where and how a fluctuating (or neutral) third is being adapted, and then interpret the (indirect) semantic consequences of this transcultural musical practice. As mentioned above, the analysis is limited to a few pieces, and a perspective borrowed from a specific theory of affect, through which I hope to provoke thinking about the question of modal transculturation, rather than making sweeping historical claims.

6 James A. Russell, “A Circumplex Model of Affect”, in  : Journal of Personality and Social Psychology 39 (1980), pp. 1161–1178  ; Patrik N. Juslin and John A. Sloboda, Music and Emotion  : Theory and Research, Oxford 2001  ; Michael Spitzer, “Mapping the Human Heart”, in  : Music Analysis 29/1–3 (2010), pp. 149–213.

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2. Major and Minor through the Circumplex Model

The circumplex model of emotion is best known through the work of James Russell (1980). It proposes a continuum of affective states along a circle, ordered by their relative level of energy (arousal) and positivity or negativity. Patrik Juslin (2001) translated this model into acoustic cues heard in performance. Michael Spitzer (2010) took a step further by using the circumplex model to chart the ongoing musical-dramatic development in particular compositions, in this case by Franz Schubert.7 I have also used this model in a recent article to explore the strange affective journey of Liszt’s Hungarian Rhapsody No. 17.8 Theories do not go unchallenged and this one is no exception. Are anger and fear really that close, or is it a conceptual convenience of this particular model  ? Are gestures really easily received as theorists of gesture imagine  ? Does this model stand the test of empirical musical research  ?9 A separate pertinent problem is the abstractedness of modes and of harmony in particular. Salient harmonic binaries such as major/minor and consonance/dissonance do not offer concrete gestures in themselves, and their affective meaning depends on historical-cultural context and their combination with other musical parameters (articulation, dynamics, and so on). And yet, as I will demonstrate, generic materials, specific cultural contexts, and parametric limitations are entirely the point of this study. The application of a circumplex model to music – if limited to specific genres with no pretence to universal human perception – provides at least a more systematic understanding of the gradation of affect, which can provide a useful framework for discussing the relationship between gesture and affect. This will help demarcate, and thus interpret, more clearly, the affective meaning of the fluctuating third in a cultural context. It is not my purpose to defend the theory but rather to extract basic principles from this model that will be analytically helpful. My point of departure is to offer a simplified version of Juslin’s model of acoustic cues, and add to it a schematic representation of major and minor as arrows denoting a ten7 See citations in previous note. 8 Shay Loya, “The Mystery of the Seventeenth Hungarian Rhapsody”, in  : I Quaderni dell’Istituto Liszt 15 (2015), pp. 107–146. 9 Russell’s model (and a structural approach to emotion) was critiqued, and indeed criticised, in the field of psychology. For a comprehensive review and further evaluation of the circumplex model see Nancy A. Remington, Leandre R Fabrigar, Penny S. Visser, “Reexamining the Circumplex Model of Affect”, in  : Journal of Personality and Social Psychology 79/2 (2000), pp. 286–300. Researchers in the area of music and emotion have also expressed some skepticism about a ‘dimensional’ model of emotions, particularly due to the problem of distinguishing between generic affects (and their attendant musical gestures) and what listeners actually felt. (One could counter, however, that a fully empirical approach is impossible in cases where the historical audience for which certain music has been originally created no longer exists). See Marcel Zentner and Tuomas Eerola, “Self-Report Measures and Models”, in  : Handbook of Music and Emotion  : Theory, Research, Applications, ed. by Patrik N. Juslin and John A. Sloboda, Oxford 2010, pp. 188–221.

362

Neither Major, nor Minor

Figure No. 1: A simplified version of Juslin’s adaptation of Russell’s circumplex model, with my added harmonic parameters, represented as generic tendencies

dency towards either positive (major) and negative (minor) valence (Figure No. 1). It is important to remember that the happy/sad dichotomy was established more firmly with the rise of the style galant and then mature classical style, which made major the default mode, and minor a more special one. That said, even within these styles, modes cannot be said to be wholly “positive” or “negative” in themselves, but rather reinforce the direction of valence alongside other cues. For example, the “Sturm und Drang” style in the music of the late 18th century is “stormy” primarily due to the loud dynamics, fast tempo, sharp accents and melodic leaps, and so on – arguably more dependent on these acoustic cues than on the minor mode.10 Nevertheless, the occasional major mode in stormy passages does not invalidate the generic role of the minor mode within this topos, just as (in the more energetic sphere of the circumplex) major was essential for celebratory, or

10 For example, the first movement of Mozart’s famous Symphony No. 40 in G minor begins furtively, and is punctuated by two outbursts, the second of which takes us to the transition to the relative B-flat major. The translation of generic gestures in these first 22 bars into human emotions veering from, say, worry or anxiety to outbursts of fearfulness (or perhaps anger  ?) are in any case arguable. But any such interpretation derived primarily from the sharp shifts in dynamics, articulation (strong accents in the forte passages), and orchestration (timbre). The modal vector plays a secondary role here, and one could argue that Mozart sets up this initial major moment for the, equivalent, more developed transition event in the recapitulation, which inevitably draws the harmonic progression back to G minor, thus reaffirms more strongly the ‘stormy’ topos through the mode.

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otherwise exuberant, expression.11 The mode arrows in Figure No. 1 should therefore be understood to mean tendencies or expectations.12 I have also added to Figure No. 1 a representation of a flow from dissonance to consonance, experienced as tension and resolution/relaxation, or movement from higher activation and more negative valence (+A/-V) into lower activation and more positive valence (-A/+V). Of course, consonance and dissonance occur in every kind of musical expression in tonal music, so the diagonal line needs to be imagined as one that can be shortened and moved to any quadrant of the circumplex. The opposite direction is also possible (consonance to dissonance), but for the next analyses we are more interested in tension-resolution, especially where this is aligned with the minor mode “resolving” into a (presumably more stable) major mode, in the manner of a Picardy Third, or more structurally, within an entire composition. Indeed, the late 18th century saw the rise of multi-movement works that narratively led from minor to major. As Floyd Grave argued, this was aligned with a contemporaneous aesthetic understanding of minor as being somehow, affectively, incomplete.13 Short pieces that emulated folk songs or music for folk dances did not have, however, complex narrative trajectories. Most often they communicated a single affect, sometimes in varying degrees of intensities, and this corresponded more closely to an earlier Baroque practice in art music. This was true of small-scale 20th-century pieces more closely imitative of folk music, such as Example No. 1, as it was of earlier folkloristic works from the “long” 19th century, even if much has changed in the harmonic style employed in the portrayal of folk-music modality. As already mentioned in relation to Example No. 1, Bartók’s translation of the netural third into hemitonic modality overturns the 18th-century tradition of the Picardy Third by creating a minor mode that is perceptively more stable – a perception reinforced by the repetition of the second half of the phrase (not quoted). It is quite clear that the major and minor modes are not equal, and it is even possible to argue that Bartók attempted here a single mode that is not exactly major or minor, or perhaps just an imaginative 11 At some point in the middle of the 18th-century minor also became increasingly associated with an older more learned style. Matthew Riley has recently conceptualised two symphonic subgenres that became established in Viennese symphonies in the late 1760s (i.e. concomitantly with the more general rise of the “Sturm und Drang” topos), the minor-key contrapuntal minuet and stormy finale. See Matthew Riley, The Viennese Minor-Key Symphony in the Age of Haydn and Mozart, Oxford 2014, chapter 4. 12 This is not the place to elaborate about the complexity of these generic tendencies, or indeed how the meaning of major and minor is blended and complicated in vocal and dramatic music. See for example the discussion of the major/minor characterisation of the Queen of the Night in Mozart’s Magic Flute in Robert S. Hatten, Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes  : Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington 2004, pp. 13–15. 13 Floyd Grave, “Recuperation, Transformation and the Transcendence of Major Over Minor in the Finale of Haydn’s String Quartet Op. 76 No. 1”, in  : 18th-Century Music 5/1 (2008), pp. 27–50.

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Neither Major, nor Minor

extension of the usual variance of the sixth and seventh degrees to the third. In other words, it is possible to hear the opening statement with its stark open fifth and (until the very last moment) avoidance of a third as a kind of unstable extension of the minor or Dorian mode, one that is then quickly “resolved”. We can therefore imagine a south-easterly journey along the eastern hemisphere of the circumplex, as both in terms of texture and dynamics a phrase that begins with stark, bright sonorities, mellows into sweeter and more tender ones.14 I do not experience the mellowing of tone as a “darkening” affect, because the flattening of the third and sixth are first heard in the context of B-flat major, and it is that B-flat major which extends, in the first instance, an overarching (as I hear it) G-Dorian mode. Whether one hears a single variable mode or two, the movement towards a more positive valence defies the traditional major/minor dichotomy. I do not mean to argue that every instance where Bartók varied a major and minor third – in music that endeavours to represent folk music in a strict way – we can be sure that he is conveying a practice akin to a neutral third, or that even if we think he does, then the resulting modality is necessarily very far, both formally and affectively, from familiar common-practice progressions. For example, in No. 6 of the same collection for children (based on another Hungarian folk melody that is repeated four times in different harmonisations), there is a very slight suggestion of the “Transdanubian Third” in the way that B-flat changes to B-natural in the second phrase, and then in the opposite direction to B-flat in the third phrase. There is also a gradual dropping of dynamics, from forte (first phrase), through mezzoforte and piano (second and third phrase respectively), to pianissimo in the final iteration of the phrase. That final closing phrase also shows a more traditional 7ˆ -6ˆ-natural-6ˆ-flat-ˆ5 cadential line (Example No.  3). To my ears the repeat of the same subphrase over this familiar descending chromatic line in such hush dynamics invites a more familiar mode of listening and an 18th-century ethos of affect, a mood of wistful resignation that is further confirmed by the final tonic utterances in ppp and further diminuendo (bars 54–57, not quoted).

Example No. 3: Bartók, For Children (1909), No. 6, «Country Dance”, bars 45–53

14 The circumplex model also reminds us that the affective change is quite small and restricted. In terms of tempo and articulation the music continues to express a positive, energetic character from beginning to end, and Juslin’s classification of acoustic cues suggests that most of the affective trajectory takes place somewhere within the northeastern quadrant of the circumplex.

365

Shay Loya

The two examples from Bartók’s For Children mix the world of piano pedagogy with ethnomusicological transcriptions, simplified peasant melodies with a modernist, post-classical aesthetic. The harmonic language – including the “meaning” of major and minor – also wavers between classical Western traditions, neo-modality, and a particular reference to folk-music traditions. The last example was already more abstract in the sense that Bartók did not try to represent the fluctuation of the sixth as something that happens in the folk melody itself, but in the accompaniment he devised. The question of transcultural influence becomes more challenging in pieces that avoid quoting or inventing folk melodies in favour of deriving generic elements from the oral culture and then reordering them in an abstract way, thus also avoiding a direct representation of that culture. No. 59 from the second volume of the Mikrokosmos, entitled “Major and Minor”, presents a wonderful case in point. The title is symptomatic of Vol. 2 of the Mikrokosmos, which presents several modes, technical challenges – including binary opposites in particular musical parameters such as “Staccato and Legato” or “Crescendo-Diminuendo” – alongside pieces said to be in a regional or national style (these are also quite abstract). In “Major and Minor” Bartók charges the student with the task of playing an F major pentachord in the left hand against an F minor one in the right, and vice versa. Note that Bartók does not call this piece “major versus minor”  : his neutral title suggests that one can hear in this piece independent melodic entities that, indeed, clash modally  ; but one can also hear bimodal-harmonic mixtures that are neither major, nor minor. In any case, the title suggests a pedagogical purpose rather than a certain culture or locale. But the formalist, didactic purpose of the work masks the way Bartók once again adapts the principle of the fluctuating third, this time at a higher, more abstract level. There is no attempt at a direct imitation of mixed intonation of scale degrees in Gypsy bands or the wavering third in monophonic peasant singing. Yet some abstract representation of this phenomenon is clearly audible in the constant close succession of A-flat/A-natural, that creates an impression of a single mode “in-between” F major and minor, as can be heard in the first two bars (Example No. 4a). The finalis, however, is on C, with G playing a quasi-dominant function in relation to it, as we shall see. The piece comprises three phrases in loosely ABA form, where the harmony of the framing phrases can be likened, in some respect, to the more normative accompaniment in major chords of melody in the parallel minor. Bartók encountered such harmony in his fieldwork as an ethnomusicologist, and we have already seen a reference to it in his work as a composer in Example No. 2. We can hear another linear two-voice realisation of this harmony in No. 62 from Mikrokosmos, “Minor Sixths in Parallel Motion”, which has a simpler, parallel-motion counterpoint. Phrase B (bars 7–13) inverts the texture so that the minor pentachord appears in the lower part against a major-mode pentachord in the upper part. By contrast, the brighter and harsher quality of sound in the middle section is the sonic (and one might add, acoustic) consequence of inverting the two modal parts (Example No. 4b). 366

Neither Major, nor Minor

a

b

c

Examples No. 4a, b, c: Bartók, Mikrokosmos II (1926–1939), excerpts from ‘Major and Minor’: bars 1–4, 7, and 15–18

What really opens up a window for a generic interpretation of affect, however, are the fleeting yet audible references to traditional, common-practice harmony. Minor superimposed on major allows Bartók to repeatedly use B-natural in the lower part as an implied leading tone to C. Over that emphatic B-natural, we repeatedly hear on the beat of each bar (three times, in bars 3, 4 and 5 respectively), the melodic fragment B-flat-A-flatG against the B-natural in the lower part (Example No. 4a). The reference here, in other words, is to a (common-practice) natural-minor melodic descent to G in the upper part, against a melodic minor ascent to C in the lower one, which is further confirmed by the closing four bars of the piece (Example No. 4c).15 The treatment of dissonance in the middle section (phrase 2) is arguably more alien than the dissonance heard in the framing two phrases (Example No.    4b). There is a higher activation thanks to the bright, the harmonic major third A-flat-C, which acts 15 Of course, there are modernist elements that de-familiarise this scheme  : the accent on B-natural instead of B-flat, for example, or the melodic leap from F to C in the upper part  : but this is not a pastiche of 18th-century harmony after all.

367

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as a centric sonority, and the concentration of the highest note in the upper pentachord, A-B-C. But this greater activation assumes a more negative character precisely because of the grating dissonances between A-flat and A. The finalis of this phrase is G (bar 13, not quoted), the note that finally resolves the stubborn A-flat. The way the two modes combine suggests a chromatic Oriental pentachord or tetrachord, [F]-G-A-flat-B-natural-C.16 When the third phrase returns, we are back to a mixture of diatonic modes. The intervals are also softer, as the minor melody returns to the top voice, and the voices move in canon, in parallel tenths. Then, as Example No. 4c has shown, the minor mode in the soprano finally becomes more prominent, and the combination of the two voices suggest an almost dominant-tonic cadence at the end of the work. This reference to common practice suggests a quasi-tonic-dominant-tonic structure (AT-BD-AT), where the less stable and more dissonant middle section has its finalis on G. It also suggests, therefore, a higher activation and more negative valence in the middle (an +A/-V trajectory), and certainly a more positive valence in the end, with high activation maintained, perhaps, due to rising dynamics (A+/V+ countering the melodic descent and harmonic resolution). The somewhat neutral major-minor mode at the beginning (which then, from bar 3 onwards in phrase 1 becomes predominantly minor), loud dynamics, legato articulation, and slow tempo, meant that we start somewhere in the southern hemisphere of the circumplex, but not too far from the equator (horizontal axis). Individual listeners may hear the main affect as closer to tenderness, clouded by bittersweet cross-relations, or as being on the lighter spectrum of sadness or fear/worry (my own perception), or as starting in a fairly neutral emotional zone, close to zero on both horizontal and vertical axes. In other words, where we fix the beginning and end of this journey in the circumplex is open to subjective perception and can only be tested empirically by asking a good amount of listeners. Nevertheless, it is a logical hypothesis that most listeners will hear a relative increase in activation and negativity (whether they express this as anger, anxiety, etc.) in the predominantly major, but more dissonant middle phrase, and a more positive and energetic ending, all of which can be expressed graphically as a clockwise C-shaped movement on the circumplex. It is interesting to observe that the affective trajectory is determined in the first instance by Bartók’s play with modal juxtaposition and through a veiled reference to both folk-music (from an unspecified region) and common-practice harmony. Despite its considerable novelty, this piece manages to preserve some of the more traditional affects associated with major and minor, as well as consonance and dissonance.

16 It is of interest that this piece comes immediately after “In Oriental Style”, which features the same pentachord transposed to G. The finalis of that piece is also on 5ˆ (in this case D), just as in No. 59.

368

Neither Major, nor Minor

3. 19th -Century Celebratory Folklorism (I): the Case of Dvořák’s “Furiant”

With 19th-century composers the task of relating harmony in their folkloristic composition to an 18th-century ethos of major and minor is much easier, because of the prevalence of a more traditional tonal syntax. It is also easy enough to pick folkloristic compositions where major and minor frequently alternate, and assume that these are meant to imitate the phenomenon of the fluctuating or neutral third. Although we cannot be positively certain of how well these composers knew of fluctuating modality in the oral musical cultures that surrounded them, there are indirect ways of testing the strength of that assumption. In the following pieces we will focus once more on the affective consequences of a dense juxtaposition of major and minor modes. For the purpose of creating a useful comparison, all the pieces I have chosen are in a fast tempo with melodic gestures that suggest vigorous dance movements. All of them, regardless of whether their “main” key is major or minor, show a high variability of mode and are firmly in the A+/V+ quadrant. The framing motto and opening phrase of Antonín Dvořák’s well-known “Furiant”, No. 8 of his Slavonic Dances Op. 4 (1878), presents such a quick succession of parallel major and minor (Example No.  5). Both phrases begin and end on the tonic, but not quite the same way in terms of mode and hypermetric placement of the tonic. One can see how gesturally this phrase relates to a classical antecedent-consequent structure, with emphatic V7 on the downbeat of both bars 3 and 4, to be complimented by a V7-I cadence in bars 7–8. The switch to the major mode adds vitality to this ‘consequent’ that can be experienced as a slight rise in activation and valence.

Example No. 5: Dvořák, “Furiant” (1878), bars 1–8. Arr. Robert Keller (Berlin: Simrock 1879)

Many performances, whether in the piano duet or orchestral version, intuitively reinforce this positive affect of added vigour by playing the beginning of the “consequent” phrase, and especially the G major chord, louder than the (already loud) opening. Table No. 1 gives a representative selection as an indication to the above, without presuming to use this sample as conclusive evidence (to substantiate this small point more thoroughly would require research beyond the scope of this study). For easy access, I have included four performances that are currently available on YouTube. The numbers in the table 369

Shay Loya

represent loudness units derived from Geoffrey Peeters (2004).17 As can be seen from this particular selection, most performers played major chords more loudly to varying degrees, with the exception of Wolfgang Sawallisch and the Israeli Philharmonic Orchestra, who do the opposite, though not consistently (see final repeat). bar 1

b. 5

b. 1 repeat

b. 17

b. 21

b. 17 repeat

b. 21 repeat

G: 21.926

g: 19.606

G: 23.104

g: 23.189

G: 26.290

G: 18.414

g: 21.888

G: 18.700

g: 17.179

G: 20.078

g: 33.001

G: 34.771

g: 36.280

G: 35.003

G: 19.639

g: 21.136

G: 18.127

b. 5 repeat

Simon Rattle, Berlin Philharmonic (2009)18 g: 18.959

G: 20.042

g: 21.442

Wolfgang Sawallisch, IPO (2001)19 g: 20.369

G: 19.786

g: 19.818

Bernard Haitink, Concertgebouw Orchestra (1960)20 g: 35.306

G: 35.401

g: 35.413

G: 33.829

Zdeňka Kolářová & Martin Hršel, Prague Piano Duo (2000).21 g: 19.123

G: 20.083

g: 18.683

G: 20.285

G: 19.231

Table No. 1: Loudness levels of the first G minor chord vs. the first G major chord in two iterations of the refrain in Dvořák’s “Furiant”. Loudness units are based on Peeters (2004)

The first phrase, which bookends all other episodes, exceeds the tradition of the Picardy Third by extending the major mode to the entire consequent subphrase. It was also still unconventional in 1878 for such a modal switch to occur right at the beginning of a piece, and then for the whole thing to be repeated at the beginning, and subsequently in the manner of a refrain. Dvořák, it seems, declares his intention to create a minor-major 17 The analysis was done on AudioSculpt software using loudness measurement based on Geoffrey Peeters, “A Large Set of Audio Features for Sound Description (Similarity and Classification) in the CUIDO Project”, IRCAM, section 8.1.1 (April 2004), http://recherche.ircam.fr/equipes/analyse-synthese/peeters/ARTICLES/ Peeters_2003_cuidadoaudiofeatures.pdf, accessed 14th July 2016. My thanks to Aaron Einbond for his technical assistance in this sound analysis. 18 https://www.digitalconcerthall.com/en/concert/50 (live recording), accessed 18th April 2018. 19 www.youtube.com/watch  ?v=zYYRBVIEDr0 (live recording), accessed 18th April 2018. 20 Dvořák/Bernard Haitink/Concertgebouw Orchestra Amsterdam  : Symphony No. 7/Slavonic Dances, Philips 839 583 VGY (1960), B5. Also available on www.youtube.com/watch  ?v=0TyMyUNFVqg, accessed 18th April 2018. 21 Dvořák/Prague Piano Duo  : Slavonic Dances, PRD Harmonia Mundi 350032 (2000), Track 8. Also available on https://www.youtube.com/watch  ?v=GBRnhw8HLTc, accessed 18th April 2018.The Prague Duo accentuates the second chord (syncopated note), so the second chord in each bar is often louder. But major chords are still relatively louder than minor ones. The full results of the analysis, including the second chord indicated in brackets, are as follows  : bar 1, g  : 19.123 (20.297), bar 5, G  : 20.083 (22.560)  ; repeated  : g  : 18.683 (20.7752), G  : 20.285 (21.029)  ; bar 17, g  : 19.231 (19.399), bar 21, G  : 19.639 (18.341)  ; repeated  : g  : 21.136 (21.338), G  : 18.127 (21.019).

370

Neither Major, nor Minor

modal complex from the very beginning, and this is as true on the level of individual phrases as it is of the unusual tonal structure of the piece. The “Furiant” has a doubled-up quasi-rondo form (Example No.  6). The phrase in Example No. 5 functions as a kind of refrain or mini-rondo theme in between different episodes. The initial R-A-R-B-A’-C-R form (where “R” stands for refrain) is followed by another coda-like episode in G major (marked D in Example No. 6). The same rotation of themes then repeats at bar 128 almost verbatim, but for an insertion of what is officially titled as “coda” at bar 200, which is really 41 new bars of modulatory music (section E in Example No. 6) followed by the same coda-like section D, now concludes with the G major part of the refrain (marked Rconsequent).

Example No. 6: Structure of Dvořák’s “Furiant”

Convention would have us read this work “in” G minor, with two rotations of the main four sections and the interspersed refrains. We may recognise a structural modulation to the relative B-flat major in bars 33–64, a return to that key in R’, a parallel-major coda in section D, and then, with just a few progressions added, we can perceive the same tonal structure repeating. But a closer reading of the work points to a few interesting and complicating features. First, the initial shorter sections R-A-R-B are as modally mixed as the refrain itself. It is curious that “G minor” gains a little more stability only through its relative major B-flat in the subsequent episodes A’ and C. Moreover, it is significant that no complete phrase begins and ends in G minor in the first rotation of themes  ; by contrast B-flat major (episodes C) and G major (episodes B and D) enjoy more extended and stable prolongations. In fact, on the surface G minor is largely absent (except for the first half of the refrain and the weak closure of section A) until the section entitled “coda” at bar 200 reverses the modal flow, so that finally, in bar 206 we hear extended music in G minor for the first time (bars 206–213, not quoted). The whole of section E (bars 240–241), in fact, consists of new music in mostly minor keys. Its second half (bars 220ff.) is dominated by A minor which finally functions as ii6 of G major (bar 241), leading to the resumption of the rondo-form rotation at the point of a stable close in G major (codetta + section D). Until then, section E is harmonically unstable, with striking chromatic progressions in block major-mode chords succeeded 371

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Figure 2: Affective trajectory of the “Furiant”

by extended melodic periods in minor modes. Overall, the relative, and especially parallel major modes predominate throughout the piece, preventing G minor from “settling”, thus reinforcing the affirmative major-mode character of the piece. If we try to chart the course of this music on the circumplex, it seems reasonable to locate most of it in the “happy” northeastern quadrant (Figure No. 2). All episodic sections except the developmental part E are characterised by a single affect, with characteristic melodic gestures and articulation that remain stable throughout. Dynamics in these sections and within them are mostly stable too, terraced rather than gradual, with the exception of the long crescendo in C that leads to the climactic return of R at bar 65 (there is also rising activation due to rhythmic diminution in this section). Sections B and D, both in G major, are the quietest, smoothest and most stable in every sense. Section B adds a pedal point and dispenses with the wild dance leaps in favour of stepwise, even crotchets, albeit maintaining the staccato articulation. Section D introduces the most lyrical theme, in long note values (dotted minims) and legato stepwise motion, the faster staccato accompaniment only murmuring in the background (my perception of it locates it somewhere between “tender” and “happy” with a lower activation than previous episodes). By contrast, section E presents an unmistakable topos of stormy music in minor keys. It is also the most diverse in terms of gesture, and continuous, rather than terraced, dynamics. The two halves of this section gradually die down, with the longest diminuendo in the second half followed by motivic fragmentation and gestures of uncertainty. This dipping 372

Neither Major, nor Minor

in activation and valence is then corrected first in a positive direction of valence (section D), and then a sudden leap in activation, with the G major Rconsequent conclusion. Overall, the “Furiant” presents a way of using a largely traditional i-III-i-(I) minor-mode structure, but allowing major modes to dominate its surface to such an extent that any affect associated with the minor mode becomes scarce. The way Dvořák holds back that mode is the reason for the effectiveness of the genuinely minor-mode section E  : it is here that the strict folkloristic style is loosened in favour of a truly teleological yearning for a major-mode completion. The difference between section E and the other sections in the way major and minor are deployed exemplifies, within the same work, looser and stricter “folkloristic” translations of an oral tradition of neutral or fluctuating third. It is the “stricter translation” that ultimately subverts the traditional affective contrast between major and minor.

4. 19th -Century Celebratory Folklorism (II): Micro-Fluctuations in “Hungarian” Pieces by Liszt and Brahms

I have started purposefully with Dvořák in order to show a case where a transculturation of harmony and form, as well as affect, can be easily missed – especially if we use music theory to rationalise away an alternative tonal practice. A monocultural, formalistic approach to harmony in such music, though an important corrective to supposition about cross-cultural influence, should not result in an artificial reading of history that presupposes composers before the advent of “post-tonality” and recording equipment were incapable of listening to their environment, or adapting strangely fluctuating thirds in some imaginative way to their own practice. I find it much more fascinating to discover traces of such listening and relate it, where possible, to real folk music. I have not attempted to trace Dvořák’s piece to a folk-music practice he may have known, however, nor do I expect (based on my previous research on Liszt) to find anything as concrete as the documentation left by Bartók, leading from the source straight to the composition. It is for another study to pursue what the piece itself plainly suggests. But sometimes, even without field recordings and transcriptions, the circumstantial evidence for cross-cultural harmony is pretty strong. This is particularly true, I think, when we look at cases where fluctuating thirds on a small or even micro-scale create the most unconventional harmonic effects. The next examples should give even a monocultural sceptic pause for thought. In No. 9 of Johannes Brahms’ Hungarian Dances, the 1869 collection that had inspired Dvořák, we hear in bars 9–12 a rather curious progression (Example No. 7). It is structurally based on a normative progression from E minor to its dominant B through the relative major, G. However, Brahms throws this convention into modal flux as plagal cadences decorate each of these chords, creating at one point a chromatic progression (E minor → C minor) as well as continuous and pungent cross-relations against a melody 373

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in a stable E minor mode. Note especially how G-sharp clashes with G-natural in bar 9 (this adds more bite already created by a dissonant appoggiatura on the strong beat), and subsequently how cross-relations are formed through the imitative exchange between the middle and upper parts. Of course, these cross-relations can be explained within theoretical conventions, but it is their accumulation that is rather interesting. Brahms, I would argue, is reaching for something that resembles a Gypsy-band practice of unstable thirds.22 The Transcultural significance of what is happening here is not in the (quite inaccurate) representation of Gypsy-band harmonisation, but in how this harmonic translation expands the expressive possibilities of major and minor. The E minor key already creates a more impassioned shade of joviality. Both conventional appoggiaturas and the unusual cross-relations create little spasms of negativity (-V), which adds a little bitterness to this overall energetic, positive, music. The unexpected chromatic thirds, mode shifts and cross-relations are jolting without being too dramatic, however (note the soft dynamics). They can be expressed as miniscule affective tendencies, as indicated in Example No.  8, whose accumulation tilts the overall trajectory in an +A/-V direction. Without these major-minor clashes, in other words, this music would not only be less interesting, it would be more naively happy and slightly less energetic.

Example No. 7: Brahms, Hungarian Dance No. 9 (1869), bars 9–12

Of course, there is room for scepticism about the relationship of this passage to an oral tradition of neutral or fluctuating thirds. Brahms could draw on such harmony from el22 He is also subtly alluding to a parallel bass-melody movement, forbidden in normal voice-leading, and avoided here through the plagal cadences.

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sewhere. But it is not only the genre that invites transcultural listening, but also a curious fact that is particular to this piece. Liszt made his own arrangement of the same melody in 1853, following the success of his recently published Hungarian Rhapsodies, as part of No. 11 of a collection entitled Ungarischer Romanzero. Liszt’s harmonisation is also full of modal micro-fluctuations of a variety even more extreme than Brahms’. Interestingly both composers approached this particular piece in a similar way, and importantly, we know Liszt’s version was never published in his lifetime.23 It is meaningful that neither composer could have known about the other’s work, or could have picked up such bold harmonisation from any “Hausmusik” edition (assuming that one existed, which I have not yet ascertained), which suggests that these two versions are independent responses to a common oral tradition of performing this tune – including a performance practice of fluctuating the third, and possibly other degrees. Rather than making a phrase-by-phrase comparison of the two pieces (as I have done elsewhere),24 I will just refer to the striking modality in the opening of Liszt’s version (Example No. 8). Though this opening phrase begins and ends in F major, the dominant and subdominant are in the minor mode. Already at the beginning of this tune we hear B-natural/flat cross-relations between G major (V/C minor) and B-flat minor. But one particular, cheeky, dissonance, deserves special attention. It is the two Ds in the upper part in bar 54  : what should have been a chromatic passing note between E-flat and Dflat (in the context of a ii-V7 progression towards the A-flat chord in bar 55) becomes a bimodal dissonance over both, and this is because the E-flat is already an appoggiatura over the B-flat minor chord – it never resolves. Again, such moments add activation and negativity to the sprightly “F major” music. Liszt could have easily avoided the “mistake” in bar 54 had he resorted to a more conventional B-flat major, rather than minor, harmonisation. He pointedly did not, because part of what he tried to achieve here, in response to the Gypsy-band music he knew well, was a melody that is modally free from the underlying chords – a tall order for a composer working within art-music harmony of the early 1850s. And yet this was not Liszt’s earliest, nor most complete attempt to do so. As I have shown in an earlier study, examples of modal inflection in the context of parallel motion between bass, accompanying chords and melody (all of which clearly allude to Gypsy-band musical practice documented in modern studies) is already evident in the final section of Magyar Dalok No. 7 from 1840

23 It was discovered by Géza Papp in 1986, and Papp reported of his findings in “Unbekannte ‘Verbunkos’-Transcriptionen von Ferenc Liszt – ‘Ungarischer Romanzero’”, in  : Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 29 (1987), pp. 181–218. Fifteen years later, some of the more complete Romanzero, including No. 11 discussed here, were published in Neue Liszt-Ausgabe II/10 (EMB, 2002). Leslie Howard edited and published the full collection in the Music Section of the Liszt Society Journal 35 (2010). 24 Shay Loya, The Verbunkos Idiom in Liszt’s Music of the Future, PhD thesis, King’s College London, 2006, pp. 157–159 and 308–310.

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Example No. 8: Liszt, Ungarischer Romanzero (1853) No. 11: Allegro, bars 49–56

(revised as Hungarian Rhapsody No. 4, 1851).25 The most impressive and thoroughgoing attempt to free the modality of the melody from the accompanying chord can be heard in the final section of Rhapsody No. 14, whose first version dates to Liszt’s tour of Transylvania in 1846. The clash of the melody in A minor against the major-mode chords moving in parallel motion in bars 253–258 (not quoted) creates an especially fresh bimodal effect that can be directly attributed to an accompaniment practice of Gypsy bands in Transylvania. In fact, it can also be directly related to the minor-against-major moment from Bartók’s Quartet No. 2, quoted in Example No. 2. But whereas the affect in Bartók is complicated by several factors (first of which is that its harmonic stasis and relative consonance contrasts with the rest of the movement), Liszt’s Vivace assai is unambiguously celebratory. The bimodal clash only adds vigour and energy to the music, and once again, it is perhaps possible to interpret this clash also as a slight veering towards a negative valence, making the music more impassioned, ecstatic, but less straightforwardly “happy”. I would like to conclude however, with the second, “D minor-major” phrase from the same Rhapsodic section (Example No. 9). It not only imaginatively reflects the fast-pace change of mode that is sometimes heard in the playing of a skilful “primás”, but we actually have interesting evidence about its origins. We can trace the Vivace assai from Liszt’s Rhapsody No. 14 to a manuscript from 1846 in which he first jotted down what he then entitled “Koltói csárdás” (“Csárdás from Koltó”, Transylvania). There is an eye-witness 25 Shay Loya, Liszt’s Transcultural Modernism and the Hungarian-Gypsy Tradition, Rochester (NY) 2011, p. 102 and Ex. 4.10. See also “Modal Fluctuations and Inflections  : Simultaneous and Successive Polymodality” in  : ibid., pp. 48–50.

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account that he notated it immediately (or, we can safely assume shortly after) listening to, and even joining in with, a Gypsy band he encountered in Klausenburg (now Cluj Napoca in Romania) during his Transylvanian tour in 1846.26 This is not as positive proof as checking Bartók’s composition against a recording and his transcription of it, but by the standards of studying transculturation in the 19th century, it is quite good. In the D minor-major (middle) phrase of the Koltói csárdás the succession of major and minor is quite minimalistic and a lot more intense, as befits the overall style of the Vivace assai. And this early example, so close historically to the inherited major-minor harmony from the 18th century, which concentrates our attention precisely on how this kind of progression deviates from conventional rules for switching modes. The diatonic third of D minor constantly veers towards F-sharp. The melody descends in decorated steps from F to the tonic D every four bars (e. g. in bars 225–228)  ; when it reaches the tonic, D minor suddenly cadences in the major mode (bar 228). Here the change from minor to major is at the midpoint of the phrase, not really its end, which is hardly how Picardy Thirds function. Moreover, the F-sharp appears off-beat and involves a leap and sharp accent. This, as well as the speed at which this happens and the subsequent, just as brusque switch back to D minor, create strong cross-relation effects. The appearance of F-sharp in the high register at bar  236 doubles the third, creating an even harsher effect of cross-relations. Affectively it is not a moment of rest but of high activation and passion  : angry, ecstatic, defiant, cheekily playful – pick your own descriptive category. I would simply suggest, that it is consistent with the +A/–V affective tendencies discussed in relation to previous fast-tempo examples from the 19th century. Such isolated cases cannot lead to any firm conclusions, but they do open up a route to further investigation within similarly limited music parameters, and give rise to two central points. First, it seems that composers were searching for new ways of creating tension and release, that are analogous to dissonance and consonance, not only in simultaneous, but also in successive bimodality. It would be important to theorise this further because of the important differences between this practice and traditional dissonance control. Second, a lot of the rapid mode switches to major are in dialogue with the Picardy Third tradition, overreaching its generic rules. Third, what is common to all of these examples is not the choice of mode to achieve a particular affect, but the use of a modal complex for this purpose. For example, the –A/+V direction in Dvořák’s “Furiant” is mainly led by stable major modes, undermining the sense of an overarching G minor  ; in Bartók (Example No. 1), on the contrary, the same affective tendency is produced by reverting to a stable G Dorian, away from an initial G major. In both works, however, these modal switches merely inflect the overarching affect  : their function is not to create a radical contrast, but to temper or slightly vary the emotive character we already perceive at the beginning. 26 Alan Walker, Franz Liszt  : The Virtuoso Years, 1811–1847, Ithaca 1987, p. 435.

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Example No. 9: Liszt, Hungarian Rhapsody No. 14 (1846–53), Vivace assai, bars 224–236

It might be good, at any rate, to start with the working assumption that practice of fluctuating thirds in folk music was familiar not only to the composers featured in this article, but to many other composers from Central Europe, perhaps a great many if we include forgotten names. Let us also assume that they learned how to adapt such things not only through a study of folk music, but by learning from other composers. Theorising this cultural complex will take a much bigger and more rigorous study. Here I have tried to query through a few choice analyses what I think is an overlooked strand of transculturation. If I am right, then it might be worthwhile finding out how big a phenomenon it is.

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Dur, Moll und Neomodalität in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900 Um 1900 richten viele Komponisten – nicht nur, aber auch in Skandinavien1 – ausgehend von der Wahrnehmung begrenzter Möglichkeiten der Dur-Moll-Tonalität ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf modale Konstellationen. Dieses verstärkte Interesse am Modalen besitzt seinerseits Konsequenzen für symphonisches Komponieren und die gattungshistorisch implizierten Mechanismen des Dur-Moll-Kontrasts. Mit Modalität ist hier im weitesten Sinne der Zugriff auf diatonische, skalar organisierte kompositorische Elemente gemeint, die sich einer einschlägigen Zuordnung zu Dur und Moll und der damit verbundenen, chromatisch erweiterten funktionalen Harmonik entziehen. »Modal« ist dabei nicht automatisch als synonym mit »kirchentonal« zu verstehen, obwohl eine analytische Kategorisierung entsprechender Phänomene mit Begrifflichkeiten des Systems der Modi verbreitet ist.2 Doch wäre bei der Untersuchung konkreter Strategien der Komponisten zunächst zu belegen, ob und in welchem Sinne die Komponisten hier an »Kirchentonarten« als Material oder Vorbild denken. Um den individuellen Entscheidungen der Komponisten gerecht zu werden, sollten die jeweiligen Vorstellungen von Modalität historisch und biographisch kontextualisiert und dadurch zugleich differenziert werden.3 Gattungsbezogen wäre zu fragen, wie es sich auf die werk- und satzinternen Funktionsbeziehungen auswirkt, wenn Themen, Motive oder einzelne Satzphasen einer Symphonie oder eines Symphoniesatzes durch modale Elemente geprägt sind. Werden tatsächlich ganze Zyklen oder Sätze »modalisiert«  ? Werden die beiden Instanzen Dur und Moll um ein Drittes bereichert  ? Wird die dichotomische Qualität des Dur-Moll-Systems infrage gestellt  ? Welche Konsequenzen hat die Einbeziehung modaler Elemente für symphonische Themenformulierungen, für Finalisierungsprozesse und für die Charakteristik verschiedener symphonischer »Töne«  ? 1 Ich folge hier und im Folgenden dem umgangssprachlich üblichen, kulturhistorisch und geographisch jedoch problematischen Sprachgebrauch, nach dem »skandinavisch« sich auf alle nordischen Länder bezieht. Streng genommen gehören zu Skandinavien nur Dänemark, Schweden und Norwegen, dagegen nicht Finnland oder Island. Vgl. Jóhann Páll Árnason und Björn Wittrock, »Note on Terminology«, in  : Nordic Paths to Modernity, hrsg. von dens., New York und Oxford 2012, S. 21–23. 2 Etwa bei Sibelius-Analysen  ; z. B. Lionel Pike, »Tonality and Modality in Sibelius’s Sixth Symphony«, in  : Tempo 216 (2001), S.  6–16, sowie diverse Beiträge im Sibelius-Sonderheft der französischsprachigen Zeitschrift Musurgia 15 (2008). 3 Tomi Mäkelä, »Wie finnisch sind Tonleitern  ?«, in  : ders., Jean Sibelius und seine Zeit, Laaber 2013, S. 171–183. Für eine Diskussion siehe den Abschnitt zu Jean Sibelius’ Dritter Symphonie in diesem Beitrag.

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An eine systematische Erarbeitung des hier angerissenen Themenfeldes für skandinavische Symphonik um 1900 ist angesichts der umfangreichen symphonischen Produktion in dieser Region in einem einzelnen Beitrag selbstverständlich nicht zu denken.4 Im Folgenden sollen anhand von drei Symphonien aus der Feder dreier relativ prominenter skandinavischer Komponisten einige Aspekte der oben angerissenen Konstellation exemplarisch diskutiert werden. Eingegangen wird auf Wilhelm Stenhammars Symphonie g-Moll op. 34 (1915), Carl Nielsens Dritte Symphonie mit dem Beinamen Espansiva op. 27 (1911) und Jean Sibelius’ Dritte Symphonie C-Dur op. 52 (1907). Alle drei Werke setzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte im Zusammenwirken von Dur, Moll und Neomodalität. Was sie verbindet, ist, so meine These, dass in diesen Symphonien im Rahmen der Möglichkeiten der Gattung eine kompositorische Reflexion von Grundlagen des Tonsystems stattfindet.5 Dabei erscheinen Dur und Moll als frei verfügbare, zugleich aber nicht mehr unhinterfragt geltende Voraussetzungen. Der Begriff Neomodalität soll nicht besagen, dass sich um 1900 eine neue modale Stilistik quasi von einer »Archaomodalität« absetzte, oder gar, dass der Gebrauch von »Modalität« in der Symphonik um 1900 ein Novum sei. Gerade innerhalb der Symphonik von Komponisten aus skandinavischen Ländern besitzt die Frage nach modalen Elementen im Gegenteil eine lange und wissenschaftlich gut aufgearbeitete Geschichte, die sich mit der Idee des »nordischen Tons« verbindet.6 Der vom Leipziger Uraufführungspublikum in der Ersten Symphonie von Niels W. Gade wahrgenommene »nordische Ton« wurde im Kern als Normabweichung vom Dur-Moll-System verstanden, und bei der Erörterung seiner charakteristischen Merkmale war es naheliegend, die von deutscher Rezipientenseite wahrgenommene nordische Färbung mit Eigentümlichkeiten nordischer Volkslieder und -tänze in Verbindung zu bringen,7 was auch mit der Suche nach einer »nordischen Skala« einherging.8 4 Für einen Überblick über das Repertoire siehe Ludwig Finscher, Art. »Symphonie«, in  : MGG2, Sachteil 9, Kassel 1998, Sp. 16–153, hier Sp. 98–105  ; A. Peter Brown, The European Symphony, Bd. IIIA  : From ca. 1800 to ca. 1930. Germany and the Nordic Countries, Bloomington (Ind.) u. a. 2007. 5 Damit gehört diese Thematik insgesamt zum Themenbereich »musikalische Selbstreflexion und Moderne«. Hierzu grundlegend  : Tobias Janz, Zur Genealogie der musikalischen Moderne, Paderborn 2014. 6 Siehe zu diesem Thema insgesamt den Problemaufriss von Siegfried Oechsle, »Der ›nordische Ton‹ als zen­ trales musikgeschichtliches Phänomen«, in  : Die Tonkunst 4 (2010), S. 240–248, sowie ders., »Niels W. Gade: ›Gegenwartsmusiker‹. On Progressive Epigonality in 19th-Century Music«, in  : Danish Yearbook of Musicology 43/1 (2019), S. 37-68. 7 Siegfried Oechsle, Symphonik nach Beethoven. Studien zu Schubert, Schumann, Mendelssohn und Gade (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 40), Kassel u. a. 1992, S. 53–130  ; Michael Matter, Niels W. Gade und der ›nordische Ton‹. Ein musikgeschichtlicher Präzedenzfall (= Schweizer Beiträge zur Musikforschung 21), Kassel u. a. 2015  ; Heinrich W. Schwab, »Der ›nordische Ton‹ in der Musik des 19. Jahrhunderts«, in  : Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800 bis 1914, Ausstellungskatalog, Deutsches Historisches Museum Berlin, hrsg. von Bernd Henningsen u. a., Berlin 1997, S. 228–232. 8 Bereits im frühen 19. Jahrhundert gab es Versuche, eine nordische Skala zu konstruieren, u. a. vom Choral-

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Für die hier infragestehende Phase der Symphoniegeschichte um 1900 stellt dieser Hintergrund sowohl einen Anknüpfungspunkt als auch einen Teil des Problems dar.9 Denn entgegen einer auch heute noch weit verbreiteten Vorstellung stellt der »nordische Ton« als transnationales Phänomen etwas grundsätzlich anderes als einen »nationalen Stil« oder eine »nationale Schule« dar. Viel eher ist er, worauf Siegfried Oechsle hingewiesen hat, in eine Reihe mit anderen symphonischen »Tönen« wie dem tragischen10 oder dem sakralen Ton zu stellen.11 Dass dennoch im Musikschrifttum beide Ebenen miteinander vermischt werden und nach wie vor pauschal von »national(istisch)en« Symphonien aus Ländern aus der nördlichen oder östlichen europäischen »Peripherie« gesprochen wird,12 hat viele Ursachen, zu denen vermutlich auch die entstehungsgeschichtlich gleichzeitige, stark nationalstaatlich fixierte Gründungsphase der Musikwissenschaft als akademischer Disziplin gehört.13 Bei den drei im Folgenden zur Sprache kommenden Symphonien zeigt sich jedenfalls, dass es den Komponisten bezeichnenderweise gerade nicht darum geht, mittels eines Einbruchs urwüchsiger »modal-archaischer« Volksmusikidiome ihrer Herkunftsländer die bürgerlich-deutsche Dur-Moll-Welt von den nördlich-nationalen Wurzeln her zu bereichern oder infragezustellen. Generell galt es um 1900 in Skandinavien – anders als beispielsweise in Polen14 – nicht als primäres Ziel, Nationalsymphonien forscher Johann Christian Friedrich Haeffner, »Anmärkningar öfver gamla nordiska sången«, in  : Svea. Tidskrift för vetenskap och konst, Uppsala 1818, S. 78–93 [wiederabgedruckt als Vorwort zur Sammlung Svenska folkvisor, hrsg. von Erik Gustaf Geijer und Arvid August Afzelius, 3. Auflage, Stockholm 1880]. Zu Haeffner vgl. Anders Dillmar, Hæffner och folkvisan – teori och hantwerk. Om musikbilagorna till Geijer-Afzelius’ ›Svenska Folk-Visor från forntiden 1814–18‹, akad. Abhandlung, Uppsala 1993, sowie dessen Dissertation ›Dödshugget mot vår nationella tonkonst‹. Hæffnertidens koralreform i historisk, etnohymnologisk och musik­ teologisk belysning, Lund 2001. Die Aktualität der Fragestellung im späteren 19.  Jahrhundert spiegelt die Leipziger Dissertation von Karl Valentin, Studien über die schwedischen Volksmelodien, Leipzig 1885.  9 Siehe insbesondere das Einleitungskapitel »Symphonie, Nationalität und ›nordischer Ton‹« in  : Kathrin Kirsch, ›Eine Erscheinung aus den Wäldern‹  ? Jean Sibelius’ zweite und vierte Symphonie – Horizonte der Gattungstradition (= Imaginatio borealis 19), Frankfurt/Main 2010, S. 23–48, sowie Katharine Leiska, Skandinavische Musik in Deutschland um 1900. Symphonien von Christian Sinding, Victor Bendix und Carl Nielsen zwischen Gattungstradition und Nord-Imagines (= Imaginatio borealis 22), Frankfurt/Main 2012. 10 Vgl. zur Idee des Tragischen in der Symphonik siehe Arne Stollberg, Tönend bewegte Dramen. Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, München 2014. 11 Oechsle, »Der ›nordische Ton‹«, S. 245. Vgl. ders., »Nationalidee und Große Symphonie. Mit einem Exkurs zum ›Ton‹«, in  : Deutsche Meister – böse Geister  ? Nationale Selbstfindung in der Musik, hrsg. von Hermann Danuser und Herfried Münkler, Schliengen 2001, S. 166–184. 12 Beispielsweise bei James Hepokoski, »Beethoven Reception  : The Symphonic Tradition«, in  : The Cambridge History of Nineteenth-Century Music, hrsg. von Jim Samson, Cambridge 2002, S. 424–459, besonders S. 439–443. 13 Vgl. hierzu grundsätzlich Stefan Keym, »Germanozentrik versus Internationalisierung  ? Zum Werk- und Deutungskanon des ›zweiten Zeitalters der Symphonie‹«, in  : Der Kanon in der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. von Klaus Pietschmann und Melanie Wald-Fuhrmann, München 2013, S. 482–517. 14 Stefan Keym, Symphonie-Kulturtransfer  : Untersuchungen zum Studienaufenthalt polnischer Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition 1867–1918 (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 56), Hildesheim u. a. 2010.

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zu schaffen, im Gegensatz zur nach wie vor gepflegten Ambition, neue Nationalopern zu komponieren.15 Trotz aller lebhaften Debatten um nationale Identität und Zugehörigkeit von Musikern wurde die Symphonie – anders als die symphonische Dichtung – primär als internationale Gattung betrachtet. Zugleich wurden Erfolge der Komponisten aus dem eigenen Land im europäischen Wettbewerb der künstlerischen Produktivität, abzulesen z. B. an Aufführungen symphonischer Werke in Berlin oder Wien, im musikbezogenen Blätterwald sehr aufmerksam verfolgt.16 Die drei hier behandelten Komponisten verfolgten die Entwicklung der Symphonik in Zentraleuropa jeweils intensiv und leiteten als Dirigenten an ihren jeweiligen Einsatzorten Erstaufführungen aktueller Werke, häufig zügig nach deren Uraufführung.17 Ich möchte im Folgenden anhand von wenigen Ausschnitten aus den Kopfsätzen der drei genannten Werke untersuchen, wie Dur, Moll und Neomodalität zusammenwirken. Die Ausschnitte zeigen, dass der Zugriff auf modale Elemente im Kontext der Gattung um 1900 sehr unterschiedliche Konsequenzen für den Dur-Moll-Kontrast haben kann. Vorab soll für jeden der drei Komponisten versucht werden, dessen Vorstellungen von Modalität im Verhältnis zur Dur-Moll-Tonalität zur Entstehungszeit der Werke zu rekonstruieren, um damit den analytischen Zugriff kontextualisieren zu können.

1. Wilhelm Stenhammar, Symphonie g-Moll op. 34 (1915)

Ich beginne mit demjenigen Komponisten, bei dem die Quellenlage zur Frage besonders einschlägig ist, nämlich Wilhelm Stenhammar (1871–1927).18 Stenhammar, in Stockholm und Berlin als Pianist ausgebildet und in Schweden seit den 1890er Jahren 15 Vgl. Heinrich W. Schwab, »Bo Holtens Oper ›Livlægens Besøg‹ (Der Besuch des Leibarztes). Bericht über eine spektakuläre Uraufführung und Anmerkungen zu dem Begriff Nationaloper«, in  : Die Tonkunst 4 (2010), S. 227–239. 16 Dass es hier zum Teil mehr um die Erfolgsmeldung an sich als um chronistische Präzision geht, weist Leiska nach, die die Konzertangaben aus dänischen Tageszeitungen zu Aufführungen Nielsen’scher Werke in Deutschland anhand von Programmzetteln und regionalen Konzertkritiken zu verifizieren versucht hat. Leiska, Skandinavische Musik in Deutschland, S. 251–254. 17 Für Wilhelm Stenhammars Verhältnis zu Mahler siehe Bo Wallner, Wilhelm Stenhammar och hans tid, Bd. 3, Stockholm 1991, S.  272–277. Die Begegnung von Jean Sibelius mit Mahler 1907 in Helsinki stand unter keinem günstigen Stern, da Mahler keine der bis dahin komponierten Sibelius-Symphonien kannte und sich sein Urteil anhand von Vårsång und Valse triste gebildet hatte. Erik Tawaststjerna, Jean Sibelius [schwed.], Bd. 3, rev. Ausgabe, Helsinki 1991, S. 90–95. 18 Literatur zu Stenhammar  : Bo Wallner, Wilhelm Stenhammar och hans tid, 3 Bde., Stockholm 1991  ; Signe Rotter, Studien zu den Streichquartetten von Wilhelm Stenhammar (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 47), Kassel u. a. 2001  ; dies., »Sinfonik aus dem Geiste des Vokalkontrapunkts  ? Wilhelm Stenhammars Kontrapunktstudien und seine Sinfonie g-Moll op. 34 (1915)«, in  : Aspekte historischer und systematischer Musikforschung, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling und Kristina Pfarr, Mainz 2009, S. 173–185. Siehe auch den

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Dur, Moll und Neomodalität in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900

als Komponist, vor allem aber als Kammermusikpianist und Liedbegleiter gefeiert, erwarb nebenbei, u. a. während einer Saison an der Hofoper in Stockholm (1900/01), seine dirigentische Kompetenz, die ihn schließlich in den Jahren 1907–1922 als Chefdirigent der 1905 begründeten Göteborger Orchestervereinigung (Göteborgs orkesterförening) in den Rang einer zentralen Musikerpersönlichkeit Schwedens hineinwachsen ließ. In seiner Tätigkeit als Komponist aufgrund der intensiven Arbeit mit dem Orchester auf die Sommermonate beschränkt, gelangte er in den Jahren um 1910 in eine Krise, die ihn zu einem probaten Remedium greifen ließ  : Studien im strengen Kontrapunkt. Wie er seinem Komponistenkollegen Bror Beckman brieflich anvertraute, sei dies für ihn »ganz einfach ein Zurückgehen zum Ausgangspunkt und ein Versuch, eine neue und bessere Richtschnur zu finden für einen erneuten Versuch, voran zu kommen«.19 Im Einklang mit seiner Sozialisation an der Berliner Hochschule für Musik – obgleich er dort selbst keinen Kompositionsunterricht erhielt  – griff Stenhammar zu Heinrich Bellermanns Lehrwerk Der Contrapunkt in der dritten Auflage von 1887 und begab sich auf die Schulbank des strengen Satzes in Fux’scher Tradition. Als Resultat liegen zwei imposante, teils reinschriftliche, teils in Bleistift skizzierte Bände mit insgesamt fast fünfhundert Seiten und mehr als 3000 zwei- bis vierstimmigen Sätzen strikt nach Bellermann vor, die Stenhammar zeitweise eventuell sogar für eine Publikation vorgesehen hatte.20 Wie andernorts näher ausgeführt,21 stellten die Kontrapunktstudien für Stenhammar einen Weg der Befreiung von Mechanismen der chromatisch erweiterten Kadenzharmonik dar. Dabei strebte er größtmögliche Unabhängigkeit der Stimmführung in strikt diatonischen Zusammenhängen an, also ohne übermäßige oder verminderte Intervalle, allerdings mit den hergebrachten »subsemitonia« in den Klauseln, sowie einen nichthierarchisch organisierten vierstimmigen Tonsatz. Mit Hilfe von Bellermann eignete er sich zugleich die Sicht der deutschen akademischen Lehre des 19. Jahrhunderts auf die Kirchentonarten an, wobei ihn gerade auch durale Modi wie ›lydisch‹ und ›mixolydisch‹ interessierten. Spuren der Studien finden sich in vielen seiner Werke der 1910er Jahre, insbesondere in seinem Sechsten Streichquartett op.  3522 und der Symphonie g-Moll op. 34. Bezogen auf das Finale der g-Moll-Symphonie lässt sich beispielsweise zeigen, wie

Eintrag zu Stenhammar und die dort verfügbaren Materialien in der Datenbank Svenskt musikarv/Swedish musical heritage, www.swedishmusicalheritage.com, 11.4.2016. 19 Wilhelm Stenhammar an Bror Beckman, 18.9.1911, zitiert nach Rotter, Studien, S. 282f. 20 Musik- und teaterbibliotheket, Stockholm (S-Skma  ; vormals Statens musikbibliotek), Stenhammars samling. Dort befindet sich auch Stenhammars Handexemplar von Bellermanns Buch, in dem allerdings kaum Eintragungen vorgenommen wurden. 21 Eine ausführliche Beschreibung der Studien findet sich in Rotter, Studien, S. 280–300. Zu Bellermann siehe u. a. Peter Lüttig, Der Palestrinastil als Satzideal in der Musiktheorie zwischen 1750 und 1900 (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 23), Tutzing 1994, S. 128–211. 22 Rotter, Studien, S. 341–399.

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Stenhammar die Erfahrungen aus den Kontrapunktstudien für nicht leittongebundene Klangverbindungen und quasi-impressionistische Bläserpassagen nutzt.23 Im Folgenden sei näher untersucht, welche Funktion unter diesen Vorzeichen die Modalität für Stenhammars Formstrategie im Kopfsatz im Verhältnis zu Dur/Moll besitzt. Bereits die erste Partiturseite lässt sein Modalitätsbewusstsein sichtbar werden  : Obwohl er die Symphonie auf der ersten Notenseite explizit als g-Moll-Werk markiert,24 setzt Stenhammar nur ein b als Generalvorzeichnung  ; g-Moll wird damit von vornherein offiziell ›dorisiert‹. Doch Stenhammars Hauptthema stellt nicht das Dorische an sich,25 sondern die Ambivalenz zwischen Dorisch und Moll ins Zentrum  :

Notenbeispiel 1: Stenhammar, Symphonie g-Moll op. 34, 1. Satz, Hauptthema (T. 1–16)26

Das Thema besteht aus einer unisono vorgetragenen, aus schlichtesten Motivzellen sukzessiv aufgebauten tänzerisch-energischen Linie der tiefen Streicher mit einem kontrastierenden Annex in den Bläsern, der die metrische Zielstrebigkeit des Streicherthemas durchbricht und den Grundton g durch eine Art Umspielungsklausel bekräftigt. So verschieden sie von ihrem Charakter her sind, ist beiden Elemente doch die gezielte Verweigerung der sechste Stufe und die Vermeidung von Dreiklangsmelodik gemeinsam. In beiden erklingt weder ein e noch ein es, so dass die durch die Tonartenvorschrift und 23 Rotter, »Symphonik aus dem Geiste des Vokalkontrapunkts  ?«, S. 177–185. Siehe auch Wallner, Stenhammar och hans tid, Bd. 3, 194–199. 24 Wilhelm Stenhammar, Symfoni G-moll op. 34 för orkester, Partitur, Stockholm  : Carl Gehrmans musikförlag 1952 (C.G.4765p). 25 Dies entgegen Wallner, Stenhammar och hans tid, Bd. 3, S. 160, der von »der dorischen Symphonie« spricht (Kapitelüberschrift »Den doriska symfonin«). 26 Sebastian Herden und Tim Marquard sei herzlich für die sorgfältige Erstellung der Notenbeispiele für diesen Beitrag gedankt.

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Vorzeichnung gestellte Frage »Dorisch oder Moll  ?« unbeantwortet bleibt. Allerdings ergibt sich durch das Weglassen der kritischen Stufe sowie durch die gezielte Vermeidung von Leittönigkeit (z. B. f, kein fis, und c, kein cis im Annex), der – als modal wahrnehmbare  – Effekt, dass vom symphonisch exponierten thematischen Material eine sichere Moll-Syntax nicht geboten wird. Damit wird ein Prozess angebahnt, in dessen Verlauf dieser Symphoniesatz seine harmonische Basis zu klären haben wird. Dass man als Hörer zur Erklärung für diese Strategie zur Assoziation greifen kann, dies sei »nordisch«, war von Stenhammar, auch im Blick auf die Zielgruppe, namentlich des Göteborger Publikums beim zehnjährigen Jubiläum des Symphonischen Orchesters, sicherlich billigend mit einkalkuliert.27 Immerhin ist g-Moll mit einem Vorzeichen (»g dorisch«) eine der üblichen Tonarten für die Darstellung von Volksliedern in vierstimmig harmonisierten Sammlungen.28 Von der kompositionsgeschichtlichen Seite her zeigen jedoch die Kontrapunktstudien sowie Briefzitate deutlich, dass für Stenhammars Symphoniekonzept grundsätzliche Erwägungen zu Tonsystem und Stimmführung ausschlaggebend waren. Diese Tendenz wird auch in der Weiterführung nach dem Hauptthema spürbar, in der Stenhammar die motivischen Zellen des Hauptthemas auf skalare Modelle reduziert. Auf dieser Basis werden dann in kurzen Abständen neue tonale Zentren im B-Bereich29 erreichbar und verfügbar (siehe Notenbeispiel 2  : 3  Takte nach Ziffer  5 [3n5]  : B-Dur  ; 1n6  : Des-Dur).30 Betrachtet man das Seitenthema im Vergleich mit dem Hauptthema, so wird deutlich, dass Stenhammar in der Exposition des Kopfsatzes zwei sehr verschiedene Moll-Welten exponiert. Während die Hauptthemenregion trotz klarer Moll-Färbung harmonisch ambivalent und labil erscheint, erfüllt das Seitenthema (in der Exposition im weit entfernten cis-Moll, in der Reprise – auch nicht viel näher – in h-Moll stehend) wesentlich stärker die 27 Laut Wallner reagierte Stenhammar positiv auf die Rückmeldung seines Freundes Carl Göran Nyblom, er habe im ersten Satz »Kiefern rauschen« gehört und die Luft »klar und frisch« gefunden. Wallner, Stenhammar och hans tid, Bd. 3, S. 164. 28 Wallner geht so weit, das Thema auf der Basis seines Tonvorrats ganz konkret mit dem schwedischen Volkslied »Ro, ro till fiskeskär« in Verbindung zu bringen. Allerdings gibt er in einer Fußnote auch eine abweichende Meinung des Berwald-Forschers Nils Castegren wieder, der nicht näher spezifizierte Modelle von Kirchenliedern erkannt haben will. Wallner, Stenhammar och hans tid, Bd. 3, S. 162f., und Anm. 3 auf S. 539. 29 Die »subdominantisch-diatonische Extensionsrichtung« der Tonalität im 19. Jahrhundert, also die Ausweitung der Tonika in Richtung auf den Subdominantbereich als Konsequenz der Modalisierung (oder, in systemtheoretischer Terminologie, als »Wiedereinführung der Subdominante in die Subdominante«) wird von Oechsle als bislang zu wenig beachtetes gleichgewichtiges Gegenstück zur »dominantisch-chromatischen« Entwicklung im 19. Jahrhundert betrachtet. Zu ihrer Charakteristik gehört, dass sie den Oktavrahmen der Tonika und damit ihren Bezugston weitaus länger zu wahren imstande ist als die dominantisch-leittönige Extension. Oechsle, »Der ›nordische Ton‹«, S. 246f. 30 Da die gedruckte Partitur keine Taktzahlen enthält, werden die Takte im Verhältnis zur Studienziffer angegeben. Die Studienziffer wird dabei auf dem Taktstrich stehend vorgestellt. 1n6 (»ein Takt nach Ziffer 6«) ist dabei als der unmittelbar auf Ziffer 6 folgende Takt zu verstehen.

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Notenbeispiel 2: Stenhammar, Symphonie g-Moll, 1. Satz, Seitenthema (2n7–6n8)

Erwartungen an symphonisch-lyrische Mollthemen durch seine einschlägige Instrumentierung, seine (wenigstens zu Beginn) »quadratische« Harmonik und seine Kantilenengestik. Stenhammar ersetzt also die etablierte Dur/Moll-Antithetik des Sonatensatzes (Hauptthemenbereich in der Mollgrundtonart vs. Seitenthema in der Exposition in der Durparallele mit der konfliktträchtigen Zielvorgabe, es in der Reprise an die Molltonika anzupassen) durch eine Konfrontation von zwei unterschiedlichen Mollqualitäten  : symphonisch-geschlossenes Moll im Seitenthema versus diatonisch-querstrebiges »dorifiziertes« Moll im Hauptthema. Stenhammars Satzkonzept besteht darin, dass sich diese Verhältnisse im Lauf des Satzes umkehren. Dies erreicht er vor allem durch eine polyphone Neukonstitution des Hauptthemas als Ergebnis der Durchführungsarbeit. In der Reprise werden das vormalige tänzerische Unisono-Hauptthema und der aus der Durchführung herüberleitende Annex, seine vorige Funktion mit der einer Ankündigung vertauschend, zu einer großen Geste verschmolzen, die über diatonischen Bassschritten sicher zur Tonika g-Moll hin­ überführt und auch durch die Instrumentation als sicherer Zielbereich gefestigt wird (Notenbeispiel 3). Dagegen wirkt die Seitenthemen-Reprise, auch bedingt durch den Stimmtausch (die tiefliegende Kantilene erscheint in den Streichern und die kontrapunktierende Figur in den Bläsern) mit den mit Trillerfloskeln hervortretenden Hörnern eher vorläufig und überlässt der energischen, aus Hauptthemenelementen gebildeten Schlussphase rasch die Bühne. Bemerkenswert ist schließlich die Rolle der skalaren Bewegung für die Schlussbildung. Was sich unmittelbar nach dem Seitenthema bereits angedeutet hatte (Skalen in 2n42), wird in der Coda zum Schlussbildungsmodell aufgewertet  : Stenhammar reduziert zentrale motivische Elemente aus dem Hauptthema auf elementare skalare Floskeln. Damit 386

Dur, Moll und Neomodalität in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900

Notenbeispiel 3: Stenhammar, Symphonie g-Moll, 1. Satz, Reprise des Hauptthemas (1n34–10n35)

Notenbeispiel 4: Stenhammar, Symphonie g-Moll, 1. Satz, Satzschluss (2n54–6n55)

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erreicht er kurz vor Schluss einen retardierenden Durchbruch des Bläserannexes, den er mit allen Insignien des »Altertümlichen« ausrüstet (Notenbeispiel 4). Hier wird motivisch  – und zugleich kompositionsgeschichtlich  – »zum Ausgangspunkt« zurückgegangen. Der Satzschluss lässt diese Botschaft als Dur-Schluss im Mollsatz mit einer »picardischen Terz« überdeutlich und nicht ohne Pathos ins Ohr dringen. Die aus den diatonischen Hauptthemen-Elementen reduzierte skalare Melodik in der Oberstimme erlaubt eine Schlusskadenz, die von g-Moll aus über C, B, C und D zur Aufhellung nach G-Dur führt. Nur die allerletzten zwei Akkkorde erscheinen funktionsharmonisch einschlägig. Die allgegenwärtige Klauselgestik und die sakral gefärbte symphonische Aura festigen mehr als alle harmonischen Strebigkeiten diesen Satzschluss.

2. Carl Nielsen, Symphonie Nr. 3 Espansiva (1911)

Anders als die Musik von Wilhelm Stenhammar ist diejenige von Carl Nielsen (1865– 1931) bis hin zum Jubiläumsjahr 201531 Gegenstand zahlreicher musikwissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Im Zuge der Entstehung der Carl Nielsen-Gesamtausgabe32 an der Königlichen Bibliothek Kopenhagen (1993–2009) entstanden in jüngerer Zeit zahlreiche grundlegende Forschungsarbeiten.33 Nachdem Nielsen bis weit in die 1980er Jahre hinein  – gerade auch von dänischer Seite  – zur nationalen Galionsfigur stilisiert wurde,34 hat die Forschung dabei zunehmend internationale Fragestellungen aufgenommen. So plädiert etwa Daniel Grimley für eine Neubewertung Nielsens vor dem Hintergrund eines europäisch ausgerichteten kulturgeschichtlichen Modernebegriffs.35 Katharine Leiska leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufschlüsselung des immer noch folgenreichen deutschsprachigen Diskurses über das Nordische in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900  ; dabei nimmt Nielsens dritte Symphonie einen wichtigen Platz ein.36

31 Anlässlich seines 150. Geburtstages wurde u. a. eine neue Internetseite Carl Nielsen 150 år eingerichtet www. carlnielsen.org, 11. 4. 2016. 32 Carl Nielsen Udgaven (CNU), hrsg. von Niels Krabbe u. a. Der größte Teil davon – inklusive der zweisprachig dänisch/englischen kritischen Berichte – ist erfreulicherweise online verfügbar unter www.kb.dk/en/nb/ dcm/cnu/index.html, 6.4.2016. Dies gilt außerhalb Dänemarks aus urheberrechtlichen Gründen allerdings nicht für den Notenteil der Dritten Symphonie. 33 Vgl. zur Dritten Symphonie den entsprechenden Band II/3 der CNU, hrsg. von Niels Bo Foltmann. 34 Hierzu ein guter Überblick  : Niels Krabbe, »A Survey of The Written Reception of Carl Nielsen, 1931–2006«, in  : Notes 64/1 (2007), S 43–56. Eine ständig aktualisierte Nielsen-Bibliographie mit einem 1985 beginnenden Berichtszeitraum auf der Basis der Carl Nielsen Studies bietet die Königliche Bibliothek Kopenhagen, www. kb.dk/en/nb/dcm/cnu/cn_bibliography.html, 11.4.2016. 35 Daniel Grimley, Carl Nielsen and the Idea of Modernism, Woodbridge 2010. 36 Leiska, Skandinavische Musik in Deutschland.

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Zwar betrieb Nielsen eine gewisse Selbststilisierung als einfacher Sohn aus dem ländlichen Arbeitermilieu der dänischen Provinz,37 doch pflegte er nicht nur zahlreiche innerskandinavischen Kontakte – wie etwa mit Jean Sibelius oder Wilhelm Stenhammar, den er in der Saison 1914/15 teilweise als Dirigent der Göteborger Orchestervereinigung vertrat  ; wie aus der zehnbändigen Briefedition (Carl Nielsen Brevudgaven)38 eindrucksvoll hervorgeht, stand er zeit seines Lebens gleichermaßen in langjährigem brieflichen Kontakt zu Musikerpersönlichkeiten in verschiedensten europäischen Ländern, auch in Deutschland (z. B. mit Max von Schillings, Max Brod und Siegmund von Hausegger). Unter anderem war er – genau wie Sibelius – gut mit Ferruccio Busoni bekannt.39 Im Folgenden seien einige Äußerungen Nielsens zur Frage der Modalität in Relation zum symphonischen Dur/Moll aus der Entstehungszeit der Dritten Symphonie zitiert. Eine der bedeutendsten Quellen für diese Jahre ist der Briefwechsel mit dem befreundeten dänischen Pianisten Henrik Knudsen (1875–1947). Knudsen war mit dem Verfassen eines Werkfüherers zur Dritten Symphonie beauftragt worden, der die Publikation der Partitur bei dem Verlag C. F. Kahnt begleiten sollte.40 Aus den Briefen geht hervor, dass Nielsen selbst Knudsen als Autor vorgeschlagen hatte.41 Als dieser ihm einen guten Monat später einen ersten Entwurf vorlegte, reagierte Nielsen besonders auf eine Passage, die in der endgültigen Fassung folgendermaßen lautete  : »Wer Neuland erwerben will, muß neue Erweiterungen und neue Gesichtspunkte auf tonalem Gebiete zu gewinnen suchen. Bestrebungen dieser Art finden sich bei Carl Nielsen, und er steht damit in unserer Zeit nicht vereinzelt da.

37 Grimley, Nielsen and the Idea of Modernism, S. 1. 38 Carl Nielsen brevudgaven (CNB), hrsg. von John Fellow, 12 Bde., Kopenhagen 2005–2015. 39 Michael Fjeldsøe, »Ferruccio Busoni og Carl Nielsen. Brevvexling gennem tre årtier«, in  : Musik og forskning 25 (1999/2000), S. 18–40. Zu Sibelius’ Verhältnis zu Busoni siehe Tomi Mäkelä, Jean Sibelius, Woodbridge 2011, S. 34–43 und passim. Von Stenhammar sind mir keine Briefe an Busoni bekannt, doch stellt in seinem Fall eine systematische Briefsammlung und -edition noch ein dringendes Forschungsdesiderat dar. 40 Henrik Knudsen, Sinfonia espansiva für Orchester von Carl Nielsen (= Kahnts Musikführer), erläutert von dems., deutsch von K. Wechselmann, Leipzig  : C. F. Kahnt Nachfolger 1913, S. 4. Ich danke Michael Fjeldsøe und Axel Teich Geertinger (Kopenhagen) für ihre Hilfe bei der Beschaffung dieses Textes. Weitere Texte von Nielsen zur Dritten Symphonie sind abgedruckt in  : Carl Nielsen til sin samtid. Artikler, foredrag, interview, presseindlæg, værknoter og manuskripter [Carl Nielsen an seine Gegenwart. Artikel, Vorträge, Interviews, Pressemeldungen, Werkanzeigen und Manuskripte], hrsg. von John Fellow, 3 Bde. Kopenhagen 1999 (Bd. 1, Dokument Nr. 36, und Bd. 2, Dokumente Nr. 123 und 189). Siehe zudem das Vorwort zu CNU II/3 von Niels Bo Foltmann sowie Torben Schousboes Aufsatz »Tre program-noter af Carl Nielsen om ›Sinfonia espansiva‹«, in  : Musik og forskning 6 (1980), S. 5–14, der die in Zusammenarbeit mit Julius Röntgen entstandenen niederländischen Texte enthält, die anlässlich der Aufführung der Symphonie im Concertgebouw am 28.4.1912 im Programmheft standen. Siehe auch die in Anm. 7 genannte Literatur. 41 CNB, Bd. 4 (1911–1913), Carl Nielsen an Henrik Knudsen, 9.7.1913, S. 459.

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Da sind z. B. die Tonartenverhältnisse. Carl Nielsen hat die Schranken ihrer Begrenzung stark empfunden  ; man merkt daher überall in seinen Werken den Drang, sie zu durchbrechen. Es ist manchmal in seiner Musik, als ob die zwölf Dur- und die zwölf Molltonarten oder Kirchentonarten überhaupt nicht existierten, sondern als ob sie in einen Mörser gekommen und zu einer einzigen Tonart verarbeitet worden wären. Daher wird man oft Perioden finden, die sich auf keine bestimmte Tonart zurückführen lassen.«42

Der letzte Satz muss so oder ähnlich schon im Entwurf gestanden haben, denn Nielsen schreibt einen bezeichnenden Kommentar dazu  : »Auf S. 5 sprichst Du von diatonischen Verhältnissen. Gibt es da nicht einen Widerspruch zwischen diesem Ausdruck und allen Tonarten in einem Mörser (gut  !), denkst Du  ? Bedeutet diatonisch nicht gerade eine feststehende Tonart, oder doch skaleneigene Verhältnisse  ? Ist da nicht etwas faul [?] Denn eine Skala pflegt ja betrachtet zu werden als die Reihenfolge von entweder aufwärts oder abwärts verlaufenden Tönen einer bestimmten Tonart. Oder  ?  ? Aber was weiß ich  ? Wir sollten einerseits weg kommen von den Tonarten und andererseits trotzdem diatonisch überzeugend wirken. Das ist die Sache  ; und hier fühle ich in mir ein Streben nach Freiheit.«43

Interessant ist dieser Passus vor allem dadurch, dass er die Rolle der Skala so stark hervorhebt. Diatonik impliziert für Nielsen Skalarität. Doch liefert eine Skala stets auch ein Netz von internen Abhängigkeitsverhältnissen. Wie, so fragt Nielsen, kann man als Komponist die ›Herrschaft‹ ihrer internen Hierarchie durchbrechen  ? Chromatik ist aus seiner Sicht offensichtlich die falsche Lösung. In Knudsens Werkführer liest man – angesichts der Vorgeschichte und der nahen Freundschaft sehr wahrscheinlich mit Zustimmung Nielsens  : »Charakteristisch für seine [Nielsens] tonale Sprache ist die große Vorliebe für kräftige Diatonik, während sie soweit wie möglich die Chromatik vermeidet. Das gibt natürlich auch dem Modulatorischen sein Gepräge. Man wird hier oft eine größere Freiheit, oft wiederum eine größere Strenge bemerken. Die glättende, charakterlose Modulation findet sich überhaupt nicht in seinen Werken  ; seine Modulation ist kurz, kräftig, überzeugend und geschieht häufig nur mittelst reiner Dreiklänge.«44 42 Knudsen, Sinfonia espansiva, S. 4. 43 »Pag 5 taler Du om diatonisk Forhold. Er der ikke en Modsigelse mellem dette Udtryk og alle Tonearterne i en Morter (godt  !) synes Du  ? Betyder diatonisk ikke netop en fastslaaet Toneart, eller dog skalaegne Forhold  ? Er der ikke noget galt her. Thi en Skala plejer jo at betragtes som en Tonearts Rækkefølge af op eller nedadgaaende Toner. Hvad  ?  ? Men hvad vèd jeg  ? Vi skulde paa engang se at komme bort fra Tonearterne og alligevel virke diatonisk overbevisende. Dette er Sagen  ; og her føler jeg i mig en Stræben efter Frihed«. Carl Nielsen an Henrik Knudsen, 19.8.1913, in  : CNB, Bd. 4, S. 472 (Übersetzung der Verfasserin). 44 Knudsen, Sinfonia espansiva, S. 4.

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Dass Nielsen der Geschichte von Tonsystemen große Aufmerksamkeit entgegenbrachte, dokumentiert auch ein von ihm überlieferter Vortrag über antike griechische Musik. Bereits 1903, angeregt durch den Athen-Aufenthalt seiner Frau, der Bildhauerin AnneMarie Carl-Nielsen, hatte er sich in die Grundlagen der antiken Musiktheorie vertieft.45 1907 hielt er in der illustren, von Johan Ludvig Heiberg, Anders Bjørn Drachmann, Harald Høffding und Georg Brandes gegründeten »Græsk Selskab« (»Griechische Gesellschaft«) Kopenhagen einen Vortrag, in dem die antiken Tonarten (»de forskjellige græske tonarter«) eine wesentliche Rolle spielten.46 Die Liste herangezogener Sekundärliteratur enthält »Klassiker« der damaligen Forschung.47 Eine weitere Facette des Modalen wird angesprochen in einem an Nielsen gerichteten Brief des Kirchenmusikreformators und Organisten Thomas Laub (1852–1927), mit dem Nielsen kurz darauf auch für die in Dänemark allseits bekannte Liedersammlung En snes danske visor zusammenarbeiten wird. Nielsen und Laub kannten sich seit 1902 und pflegten offenbar einen lebhaften Austausch über Musik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. So führt Laub in seinem Brief kurze Notenbeispiele u. a. von Heinrich Isaac, Hans Leo Hassler und Melchior Franck an und stellt eine gemeinsame Diskussion bei einem baldigen Treffen in Aussicht.48 Dass Nielsen intensiv über Möglichkeiten einer (Wieder-)Gewinnung von Grundlagen des Komponierens über ältere Tonsysteme nachdachte, zeigen schließlich auch seine Briefe an den jungen dänischen Komponisten Knud Harder (1885–1967). An ihn schreibt Nielsen am 13. Februar 1907 in pädagogischer Zuspitzung  : »Die Kunst [der Musik] muss auf ihre Grundprinzipien zurückgeführt werden, ja, ganz zurück zu ihrer einstimmigen Entstehung mit ihren Naturgesetzen für jede Bewegung und jeden Tonschritt.«49 Und bereits 1905 hatte er in einer autobiographischen Skizze, die Harder für einen Artikel in Die Musik als Vorlage dienen sollte, folgende programmatische Formulierung parat  : 45 Siehe hierzu generell Grimley, Nielsen and the Idea of Modernism, Kapitel »Hellenics«, S. 61–95  ; Thomas Michelsen, »Carl Nielsen og den græske musik – nogle kilder til belysning af den musikæstetiske konflikt mellem komponisten og hans samtid i begyndelsen af århundredet«, in  : Fund og forskning 37 (1998), S. 219–231. 46 Carl Nielsen, »Græsk Musik«, in  : Carl Nielsen til sin samtid, Bd. 1, Nr. 19, S. 99–110. 47 Eine dem Skizzenmaterial beiliegende Literaturliste (nicht von Nielsens Hand) enthält u. a. Rudolf Westphals und August Rossbachs Theorie der musischen Künste der Hellenen, Leipzig 1888–1889, und David B. Monro, The Modes of Ancient Greek Music, Oxford 1894, sowie Hugo Riemanns Handbuch der Musikgeschichte, Leipzig 1904. Vgl. Carl Nielsen til sin samtid, Bd. 3, S. 762. 48 Thomas Laub an Carl Nielsen, 17.1.1910, CNB, Bd. 3, S. 483–489 (mit Faksimile der Notenbeispiele). Die Diskussion wurde ausgelöst durch Thomas Laubs Sammlung von Orgelstücken Forspil og Melodier, Forsøg i Kirkestil (1909). Carl Nielsen til sin samtid, Bd. 3, S. 483. 49 »Denne Kunst maa føres tilbage til sine Grundprincipper, ja, helt tilbage til sin ènstemmige Oprindelse med sina Naturlove for enhver Bevægelse og ethvert toneskridt.« Carl Nielsen an Knud Harder, 13.2.1907, CNB, Bd. 3, S. 135. Nielsen empfiehlt in diesem Brief Harder, der sich in München aufhält, Kompositionsunterricht bei Max Reger zu nehmen, um wegzukommen von der »charakterlosen Quasi-Kontrapunktik« (ebd.), die er dem Einfluss der Wagner-Nachfolge ankreidet.

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»So viel scheint mir doch klar, dass noch ungeheuer viele Möglichkeiten im Harmonischen und Modulatorischen verborgen liegen, und ich würde mich sehr irren, wenn nicht die Zukunft unsere modernen Tonarten, Moll und Dur, als unzureichend verwerfen wird, um das Gedankenund Gefühlsleben eines modernen Menschen auszudrücken. Die Idee von Vierteltönen, die jetzt in Deutschland aufgekommen sein soll, spricht mich sehr an, und ich habe viele Male, u. a. an einer Stelle in meiner ersten Symphonie, ebenso ein feiner nuanciertes Tonsystem vermisst.«50

Während Nielsen intensiv über antike Tonsysteme, Renaissance-Kadenzen und Vierteltonsysteme nachdenkt, erscheint in seinen Schriften nirgends eine direkte Kopplung von Modi und nordischer Volksmusik, obwohl ihm deren Idiome selbstverständlich vertraut sind. Auch bei Nielsens Sicht auf modale Elemente fließen also, ähnlich wie bei Stenhammar, eine umfassende musikhistorische und europäisch-kulturelle Bildung mit einem sich selbst als modern verstehenden Reformbestreben zusammen. Für die Frage, welche Konsequenzen eine solche, von tonalen Zentrierungskräften soweit wie möglich befreite skalar-diatonische Modalität für symphonisches Komponieren hat, ist die Dritte Symphonie mit dem Beinamen Espansiva besonders bezeichnend. Nielsen hat bei dieser Symphonie erstmals auf die Angabe einer Gesamttonart verzichtet. Zu ihren Merkmalen zählt denn auch, dass drei von vier Sätzen (Ausnahme  : der dritte Satz) keineswegs in derselben Tonart schließen, in der sie beginnen. So eröffnet Nielsen den Kopfsatz, dessen Vortragsbezeichnung Allegro espansivo laut eigener Angabe die Benennung der ganzen Symphonie veranlasst hat, mit einem rhythmischen Verwirrspiel auf unisonem a, das sich als dominantischer Doppelpunkt für den Hauptthemenkopf in »so etwas wie d-moll« (in Nielsens eigenen Worten)51 entpuppt (Notenbeispiel 5). Am Satzschluss steht hingegen reines A-Dur.52 Michael Fjeldsøe beschreibt zutreffend, dass der Themenkopf in Takt 15 direkt aus dem letzten Ton des »Rhythmusmotives« mit seinem letzten Viertelauftakt a entspringt. Diese Konstellation stellt aus seiner Sicht eine Referenz an die  – weitaus knappere  – Einlei50 »Saa meget staar mig dog klart, at der ligger uhyre mange Muliheder skujulte i det harmoniske og modulatoriske, og jeg skulde tage meget fejl, om ikke Fremtiden vil forkaste vore moderne Tonearter, Moll og Dur, som utilstrækkelige til at udtrykke et moderne menneskes Tonke- og Følelses-Liv. Tanken om Kvart-Toner, som skal være oppe i Tyskland, tiltaler mig i høj Grad, og jag har flere Gange, bl.a. et Sted i min første Symphonie, liegefrem følt Savnet af et finere nuanceret Tonesystem.« Carl Nielsen, [»Selvbiografi«], in  : Carl Nielsen til sin samtid, Bd. 1, S. 48–52, hier S. 51. (Übersetzung der Verfasserin). Harder hat diese Formulierung in seinem deutschsprachigen Artikel »Carl Nielsen«, in  : Die Musik 5 (1905–06), S. 162, Nielsen selbst in den Mund gelegt. Der Passus wird zitiert bei Leiska, Skandinavische Musik in Deutschland, S. 257. Vgl. Grimley, Nielsen and the Idea of Modernism, S. 78f. 51 Carl Nielsen an Max von Schillings [original deutsch], 22.9.1911, CNB, Bd. 4, S. 117. 52 In ähnlicher Weise beginnt der Finalsatz in D-Dur und schließt in A-Dur. Dass diese Tonartendisposition auch für aufgeschlossenen Zeitgenossen schwer verdaulich war, zeigt die Reaktion von Julius Röntgen, der mehrere Anläufe brauchte, bis er den Finalschluss überzeugend fand. Dies berichtet Carl Nielsen an Henrik Knudsen, 19.8.1913 (wie Anm. 43).

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Dur, Moll und Neomodalität in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900

Notenbeispiel 5: Nielsen, Symphonie Nr. 3 Espansiva, 1. Satz, T. 1–23

tungskonstellation von Beethovens Eroica dar  : zwei Unisonoschläge plus Themeneinsatz mit gebrochenem Es-Dur-Akkord.53 Die Übersteigerung des Konzepts expandierender symphonischer Kräfte und die Anknüpfung Nielsens an vitalistische Ideen wird sowohl von Fjeldsøe wie von Grimley mit unterschiedlichen Quellen überzeugend ausgeführt.54 Für die hier im Zentrum stehende Frage ist vor allem interessant, dass Nielsen – im direkten Gegensatz zu Stenhammars Vermeidung der kritischen Sexte in der Symphonie g-Moll – beide Stufen dezidiert nebeneinandersetzt  : In der Aufwärtsbewegung erklingt die ›dorische‹ Sexte h, abwärts dann die melodische bzw. Mollsexte b. Die h/b-Doppelstufe, insbesondere der Halbtonvorhalt b-a, stellt ein metrisch betontes Kernelement des Themas dar, das schon in der Fortspinnung des Hauptthemas zu destabilisierten tonalen Zentren bei primär diatonischer Linienführung führt. Takt 31–37 leiten unter konfliktmetrischer Betonung der Töne b, h und c nach fis-Moll (in T. 38), Takt 43–45 ähnlich mit 53 Michael Fjeldsøe, »Vitalisme i Carl Nielsens musik«, in  : Danish Musicology Online 1 (2010), S. 33–55, hier S. 40, www.danishmusicologyonline.dk, 26.6.2017. 54 Fjeldsøe, Vitalisme  ; Grimley, Nielsen and the Idea of Modernism, Kap. »Energetics«, S. 96–131.

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Hilfe von as, g und fis hin zum Themenkopf nach g-Moll (in T. 46). Anders als Stenhammar schwelgt Nielsen geradezu in Dreiklangsbrechungen, z. B. in der Fortspinnung der zweiten Hauptthemengestalt ab T. 66, die sich schließlich mit dem ersten Hauptthema zu einer breiten Es-Dur-Ausschwingphase mit einer durch das Halbtonmotiv fes-es emphatisch hervorgehobenen neapolitanischen Wendung vereinigt (T. 109). Angesichts der Beethoven-Allusion könnte man sich fragen, ob Nielsen hiermit den Versuch unternimmt, der von Beethoven exponierten »reinen« symphonisch-thematischen dreiklangsbetonten Diatonik unter den Bedingungen von 1911 wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Auf jeden Fall knüpft auch die Seitenthemengruppe an die bisherige Strategie nahtlos an (Notenbeispiel 6). Sie steht im von der Ausgangstonart weitestmöglich entfernten As-Dur und wird als symphonisch-pastorale Gegenwelt zum energischen Hauptthema gekennzeichnet.

Notenbeispiel 6: Nielsen, Symphonie Nr. 3 Espansiva, 1. Satz, T. 138–143

Die Melodie in den Holzbläsern zielt nach lang gehaltenem Anfangston mit einem diatonisch-skalaren Achtelanlauf auf einen Ganztonvorhalt, der sich vollkommen in die gesetzte Dur-Sphäre einfügt. Zugleich schleichen sich im Untergrund in der als Gegenstimme dem Thema verbundenen Hornquintenmelodik chromatische Verfremdungseffekte ein (Oberstimme  : c-ces-b-ces-c statt c-b-as-b-c), mit denen der regelhafte Verlauf der Unterstimme (as-es-c-es-as) konterkariert wird. Nielsen greift mit der Melodik, Instrumentierung und Syntax deutlich auf symphonische Traditionen zurück und reflektiert zugleich die Geschichte der Gattung mit Bezug auf die Diatonik  : Wie kann ich im Typus »pastorales Seitenthema« diatonische Motivik mit einer dezentrierten Tonalität verbinden  ? Nielsen Lösung besteht darin, zwischen immanent schlüssigen symphonischen Zeitmarkierungen (wie einen einwandfrei als solchen markierten Seitenthemeneinsatz) und ihren materialen, historisch vermittelten Grundlagen zu trennen.55 55 Etwas anders nuanciert dies Grimley, der in Anlehnung an Theorien von Patrick McCreless Nielsens Strategien der energetischen Expansion des chromatischen ›tonal space‹ am Ende des 19. Jahrhunderts untersucht. Grimley, Nielsen and the Idea of Modernism, S.  102, mit Bezug auf Patrick McCreless, »An Evolutionary Perspective on Nineteenth-Century Semitonal Relations«, in  : The Second Practice of Nineteenth-Century Tonality, hrsg. von William Kinderman und Harald Krebs, Lincoln, Nebraska 1996, S. 87–113.

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Dur, Moll und Neomodalität in Symphonien skandinavischer Komponisten um 1900

Auch bei Nielsen – wie schon bei Stenhammar – wird die diatonische Grundlage besonders dadurch zum Gegenstand der Reflexion gemacht, dass thematische Modelle auf skalare Elemente reduziert werden (wie etwa in T. 154 und dem auf dem Achtellauf basierenden Fugato-Abschnitt T. 202–225). Dass die Schlussgruppe der Exposition letztlich in eine reine C-Dur-Welt mündet, erscheint vor dem genannten Hintergrund bemerkenswert  : Nielsen lässt die Musik – jenseits aller »charakterlosen« chromatischen Modulatio­ nen  – über gezielte enharmonische Verwechslungen unter Wahrung der motivischen Kontinuität der Dreiklangsbrechungen ein sicheres, symphonisch ausgekostetes und sanft ausschwingendes »reines« C-Dur-Plateau als Ende der Exposition erreichen (T. 259–278). Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, auf die weiteren wechselvollen Stationen dieses beziehungsreichen Satzes einzugehen.56 Eine letzte im Hinblick auf Dur, Moll und Neomodalität wesentliche Passage soll abschließend betrachtet werden. Dabei geht es darum, wie Nielsen unter den genannten Voraussetzungen die finale Wendung des Satzes nach A-Dur inszeniert (Notenbeispiel 7). In Takt 710 erreicht er (ähnlich wie bei der Ansteuerung des C-Dur-Plateaus am Expositionsende) mit einer klaren Kadenz a-Moll. Majestätisch erklingt der Hauptthemenkopf in den Blechbläsern in Engführung, und genau wie bei der Satzeröffnung ist er unüberhörbar mit seiner Moll-Akkordik verschwistert. Wie gelangt Nielsen von hier aus zur abschließenden Dur-Apotheose  ? Die Lösung ist einigermaßen überraschend  : Er markiert im Bassregister mit Akzenten die Auftaktquarte des Hauptthemas, die in T. 718 mit den trugschlüssig wirkenden Tönen cis und fis die Führung übernimmt. Darüber wird in den Holzbläsern der Halbtonvorhalt des Hauptthemas als Steuerungselement für die Harmonik eingesetzt. Wird er abwärts geführt (T. 718f.: a-gis), so ergibt dies zusammen mit dem Quartbass die Akkordfolge fis-cis, wird er aufwärts geführt (T.  720f.: ais-h), ergeben sich die Akkorde Fis-H. Stabilisiert wird diese Fortschreitung von skalaren Achteln in den Streichern, die aus dem diatonischen Vorrat von A-Dur gebildet sind. Zuerst erscheinen sie eher als rhythmischdynamisierendes Element. Doch sind es gerade diese Skalen, die zuletzt in verbreiterten Notenwerten als Oberstimme der apotheotischen Schlusskadenz fungieren. Die Harmonik wendet sich ohne charakteristische Dissonanzen oder Subdominantbefestigung zweimal von E-Dur nach A-Dur (T. 726–734  : H, Fis, h [!], E, A, E, A). Vor allem durch die skalare Strebewirkung mit der Macht des großen Orchesterverbands wird die Durterz cis im Schlusstakt als Abschluss förmlich herbeigezwungen. 56 Siehe hierzu die Analysen von Grimley (ebd.), Fjeldsøe, Vitalisme, sowie Leiska, Skandinavische Musik, S. 291–303. Als »Klassiker« der Nielsen-Analyse ist Robert Simpson, Carl Nielsen – Symphonist, 2. Aufl., London 1979, zu nennen, vgl. hierzu Grimley, S. 108f. und 245–248  ; zur thematischen Analyse siehe auch David Fanning, »Progressive Thematicism in Nielsen’s Symphonies«, in  : The Nielsen Companion, hrsg. von Mina F. Miller, London 1994, S. 167–203, besonders S. 182–187. Für die Frage einer dänischen Identitätskonstruktion im zweiten Satz siehe Grimley, »Horn Calls and Flattened Seventh  : Nielsen and Danish Musical Style«, in  : Musical Constructions of Nationalism  : Essays on the History and Ideology of European Musical Culture 1800–1945, hrsg. von Harry White und Michael Murphy, Cork 2001, S. 123–141, und Leiska, S. 270–291.

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Notenbeispiel 7: Nielsen, Symphonie Nr. 3 Espansiva, 1. Satz, T. 710–734

Motivisch-thematische Arbeit reduziert die beiden Themen letztlich auf die Wahl  : »modaler« Ganz- oder »mollarer« Halbtonschritt  ? Der Satz kommt zum Schluss als Durchbruch »modaler«, vom kompositorischen Subjekt quasi frei gewählter diatonisch-skalarer Ausschnitte mit sekundär daraus resultierenden, durch skalare Melodik legitimierten Harmoniefolgen.

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3. Jean Sibelius, Symphonie Nr. 3 C-Dur op. 52 (1907)

Der Dritten Symphonie von Jean Sibelius haftet innerhalb von dessen symphonischem Werk der zweifelhafte Ruf des »Übergangswerks« an.57 Während seine Erste und insbesondere die Zweite Symphonie, vorbereitet durch symphonische Dichtungen wie die Lemminkäinen-Suite op. 22 und Finlandia op. 26 und stimuliert durch gesamteuropäische Sympathien gegenüber den finnischen Unabhängigkeitsbestrebungen, zu einer europaweiten Resonanz führten, blieb die Dritte spätestens nach Entstehung der als modernistisch verstandenen Vierten und der monumentalen Fünften ein Stiefkind des Konzertsaals.58 Dies hat vermutlich mit ihrer »entromantisierten« Haltung zu tun, die in Ermangelung von passenden Begriffen häufig zum Etikett des »Klassizistischen« oder »Neoklassizistischen«59 geführt hat, was jedoch meist eher als Ausdruck des Unverständnisses denn als sachlich fundierte Kategorie zu verstehen ist. Tatsächlich steht Sibelius’ Dritte auch musikwissenschaftlich im Schatten ihres ähnlich rätselhaften, aber aufgrund der Tritonusstruktur des Anfangsmottos und der tonalen Offenheit leichter als »modern« verstehbaren Nachbarwerks der Vierten.60 Schon die Wahl von C-Dur als Grundtonart hatte damals wie heute offenbar etwas Irritierendes an sich.61 Umso beachtlicher ist es, wenn Sibelius mitten im Entstehungsprozess diese Entscheidung seinem Freund Axel Carpelan euphorisch proklamiert  : »Trotz allem gibt es eine Menge Dur im Leben. Die Dritte steht in C-Dur  !«62

57 »Auch deshalb ist es vertretbar, die 3. Symphonie als Übergangswerk zu bezeichnen, in dem zwar neue symphonische Perspektiven ausgelotet wurden, das aber nicht die Originalität und Eigenständigkeit der Symphonien 2, 4 und 5 erreicht.« Joachim Brügge, Jean Sibelius. Symphonien und symphonische Dichtungen. Ein musikalischer Werkführer, München 2009, S. 57f. 58 Zur Bewertung und zur Forschungsgeschichte siehe Timo Virtanen, Jean Sibelius. Symphony No.  3. Manuscript Study and Analysis (= Studia musica 26), Helsinki 2005, S. 1–5. 59 Z. B. Veijo Murtomäki, »The Third Symphony as a Turning Point«, in  : ders., Symphonic Unity. The Development of Formal Thinking in the Symphonies of Sibelius, Helsinki 1993, S. 59–84, Timothy Howell, Jean Sibelius. Progressive Techniques in the Symphonies and Tone Poems, London 1989  ; Tawaststjerna, Jean Sibelius [schwedisch], Bd. 3, S. 73–100. Siehe den Literaturbericht bei Virtanen, Symphony No. 3, S. 2f. 60 Carl Dahlhaus bezieht Sibelius’ Vierte Symphonie aufgrund der von ihm diagnostizierten »subthematischen« Abstraktionsstrategien als einzige Symphonie eines skandinavischen Komponisten überhaupt in seine Darstellung der Jahrzehnte um 1900 (der »musikalischen Moderne«) ein. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), Wiesbaden 1980, S. 309f. 61 Sibelius soll gegenüber Gustav Mahler 1907 laut seinem Schwiegersohn Jussi Jalas geäußert haben  : »The 3rd Symphony was a disappointment for the audience, because everybody expected it to be like the 2nd [Symphony]. I mentioned this to Gustav Mahler, when he was here [in Finland], and he also said that ›with every new symphony you lose those [listeners] you have gained with the previous ones.‹« Virtanen, Symphony No. 3, S. 1 mit Anm. 1 (Übersetzung aus dem Finnischen  : Timo Virtanen). 62 Jean Sibelius an Axel Carpelan, 21. 9. 1904, zitiert nach Virtanen, Symphony No. 3, S. 17.

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»Trotz allem« liest sich hier in doppelter Bedeutung  : als Distanzierung von Erwartungen der Musikwelt, also äquivalent mit »entgegen allen Trends und Moden« – und zugleich entgegen allen biographischen Kalamitäten, die Sibelius’ Briefe in den Jahren 1905–1907 prägen.63

Auf der Basis dieses kurzen Zitats lässt sich Sibelius’ Tonartenwahl mit anderen, für ihn typischen Protesthaltungen in Verbindung bringen, beispielsweise mit seinem Abstand von den »Treibhauserzeugnissen«64 der in den deutsch-österreichischen akademisierten Milieus ausgebildeten Komponisten oder mit seinem Rückzug von den sich selbst als Gipfel der Modernität gebenden »Neuheiten« der europäischen Musikhauptstädte.65 Doch bedeutet dies keineswegs eine Flucht in heimatgegebene Volksmusikidiome. Gegenüber der europäischen Rezeption musste sich Sibelius immer wieder dieser scheinbar unausrottbaren Vorstellung gerade auch bei wohlwollenden Kritikern entgegenstellen. So schreibt er 1906 an Rosa Newmarch  : »Ich würde mir wünschen, Madame, dass Sie ein allgemeines Mißverständnis zurechtrücken. Oft finde ich, dass meine Themen in ausländischen Zeitungen als Nationalmelodien bezeichnet werden. Bis heute habe ich nur solche Themen verwendet, die absolut meine eigenen sind.«66

63 Tawaststjerna, Jean Sibelius, Bd. 3, S. 73–78. 64 »Beim Anhören von Novitäten von Kollegen erhebt sich in mir mehr und mehr die feste Überzeugung, dass meine Musik doch unendlich mehr Natur und Leben ist als in diesen Treibhaus-›Erzeugnissen‹.« (»Vid åhörande av noviteter af kolleger, reser sig inom mig allt mer och mer den bergfasta öfvertygelsen att min musik dock är oändligt mycket mera natur och lif än dessa drifhus ›Erzeugnisse‹.«) Jean Sibelius an Axel Carpelan, 26.1.1914, zitiert nach Tawaststjerna, Jean Sibelius, Bd. 3, S. 332 (Übersetzung der Verfasserin). Am nächsten Tag äußert er sich in seinem Tagebuch enthusiastisch über Debussys Klavierwerke La fille aux cheveux de lin und L’Isle joyeuse und betont, etwas ganz Neues sei im Schwange (»Att något stort banar sig fram är säkert.«  ; ebd.). 65 »Lass dich von all diesen ›Neuheiten‹, terzlosen Dreiklängen usw. nicht verführen. Nicht jeder kann ein ›bahnbrechendes Genie‹ sein. Als Persönlichkeit und als ›eine Erscheinung aus den Wäldern‹ [original deutsch] wirst Du deinen kleinen, bescheidenen Platz haben.« Tagebucheintrag 13.5.1910. Die Übersetzung stammt von Tomi Mäkelä  : »Das symphonische Projekt. Zu den Symphonien Nr. 1 und 4 von Jean Sibelius«, in  : Jean Sibelius und Wien, hrsg. von Hartmut Krones (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, Sonderband 4), Wien [u. a.] 2003, S. 107. Zu dieser Problematik grundlegend Kirsch, ›Eine Erscheinung aus den Wäldern‹  ? 66 »Je voudrais bien, Madame, que vous veuillez corriger une erreur générale. Souvent dans la presse étrangère je trouve qu’on tient mes temata pour des melodies nationales. Jusqu’à présent je n’ai jamais employés que des temata absolument de moi même.« Jean Sibelius an Rosa Newmarch, 8.2.1906, zitiert nach The Correspondance of Jean Sibelius and Rosa Newmarch 1906–1939, hrsg. von Philipp R. Bullock, Woodbridge 2011, Supplement  : [The Correspondance in the Original Languages], verfügbar über die Homepage des Verlags Boydell and Brewer (https://boydellandbrewer.com/the-correspondence-of-jean-sibelius-and-rosa-newmarch1906–1939-hb.html, 4.5.2018  ; Übersetzung der Verfasserin). Sibelius schrieb Rosa Newmarch auf Deutsch oder Französisch, sie antwortete auf Englisch oder – bevorzugt – auf Französisch. Vgl. Tomi Mäkelä, Jean Sibelius, S. 402.

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Dass schwer verdauliche musikalische Elemente dadurch erklärt werden, dass man sie auf Volksmusik zurückführt und damit als »naturwüchsige« nationale Elemente mehr entschuldigt denn erklärt, ist bei Sibelius vielleicht in noch höherem Maß als bei den zuvor diskutierten Komponisten ein Problem der Rezeptionsgeschichte.67 Und es führt gerade bei der hier in Rede stehenden Problematik des Dur/Moll-Kontrasts und der Erweiterung symphonischer Kategorien durch wie auch immer konstituierte neomodale Elemente zu einer Problematik, die – wie eingangs erwähnt – Tomi Mäkelä in der pointierten Frage »Wie finnisch sind Tonleitern  ?«68 zusammengefasst hat. In diesem Kapitel seiner jüngsten Sibelius-Monographie problematisiert er mit wünschenswerter Klarheit einige Mythen zu Sibelius’ Tonartengebrauch, die sich mit erstaunlicher Zähigkeit seit den Lebzeiten des Komponisten im Musikschrifttum halten. Mäkelä macht unter Verweis auf die »hinsichtlich der modalen Praktiken […] nicht einmal besonders vielfältige« finnische Volksmusik klar, dass die Feststellung, Sibelius »klinge modal«, keineswegs kausal mit der nationalen Herkunft des Komponisten verbunden werden kann  : »Raum für die These, wonach das Modale bei Sibelius a priori nationales Potential besitzt, gibt es nicht. Nur durch künstlerische Intention und Rezeption (a posteriori) kann ein solcher Eindruck entstehen.«69 Modalität könne bei Sibelius viel eher auf seine Sozialisation in religiöser (Protestantismus in der Familie, Interesse für katholische Liturgie, Einfluss russisch-orthodoxer Praktiken) und musikalisch-akademischer Hinsicht (Studien in Berlin und Wien, Bewerbung um eine Musikprofessur an der Universität Helsinki 1896) zurückgeführt werden. In der Tat dienten Sibelius’ zahlreiche Auslandsaufenthalte, u. a. in Berlin, ihm nicht nur zur Orientierung innerhalb der aktuellen kompositorischen Entwicklungen, sondern auch zur Auseinandersetzung mit theoretischen Debatten in Musiker- und Künstlerkreisen. Dass sich im Hinblick auf die Tonalität grundlegende Änderungen anbahnten, nahm er wie viele andere um die Jahrhundertwende deutlich wahr, verhielt sich aber zugleich distanziert. Eine für die vorliegende Frage bezeichnende Äußerung Sibelius’ aus dem Jahr 1914 lautet  : »Hinsichtlich der Novitäten  : es ist verwunderlich, wie wenige heutige Tonsetzer etwas Lebendiges auf der Basis von Kirchentönen schaffen können. Ich, der diesen auf Grund von ›Geburt und ungehinderte[r] Gewöhnung‹ näher stehe, bin wie geschaffen für sie.«70 Das Zitat im Zitat ist, wie Mäkelä nachgewiesen hat, literarischen Ur67 Vgl. Kirsch, ›Erscheinung aus den Wäldern‹  ?, S. 13–48. 68 Mäkelä, Wie finnisch sind Tonleitern  ? 69 Ebd. S. 172. 70 »I anledning af noviteter  : det är förunderligt huru få nutida tonsättare kunna skapa nå’nting lefvande baseradt på kyrkotonarterna. Jag som står dessa närmare på grund af ›födsel och ohindrad vana‹ är som skapt för dem.« Sibelius, Tagebucheintrag vom 26.1.1914, zitiert nach Mäkelä, Wie finnisch sind Tonleitern  ?, S. 179. Auf dieses Zitat beziehen sich mehrere Autoren im Sonderheft zu Jean Sibelius und Modalität der französischen Zeitschrift Musurgia (2008). Allerdings wird hier, wie Mäkelä zu Recht bemerkt, das Zitat aus seinem Zusammenhang gerissen und ein historisch nicht belegbarer Modalitätsbegriff angelegt (Mäkelä, S.  182).

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sprungs71 und nuanciert die aufgrund der Wortwahl naheliegende regionale Interpretation in der Hinsicht, dass Sibelius seine Nähe zu den Kirchentonarten als »natürlich« im Unterschied zu »gekünstelt« oder oberflächlich angeeignet betrachtet. Dazu passt, wie Mäkelä betont, die Behauptung zu Sibelius’ oben skizzierter Distanz gegenüber den »›Treibhausgewächsen‹, die er in Musikakademien des Kontinents vermutete«.72 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich Sibelius dezidiert gegen eine »nationale« Bedeutungszuschreibung von Modalität aussprach, während ihm die »Kirchentonarten« als wesentlicher gesamteuropäischer Bestand der musikalischen Tradition galten. Auf der Basis dieser Überlegungen sei nun abschließend ein Blick auf den Kopfsatz der Dritten Symphonie geworfen.73 Auch hier wird ein Thema präsentiert, das zunächst kahl und harmonisch unbestimmt daherkommt (siehe Notenbeispiel 8). Die Schlichtheit des Themas wird von Sibelius ganz bewusst gesetzt. Dies soll eine CDur-Symphonie sein, soviel steht nach den ersten paar Takten fest. Dabei scheint es hier jedoch weniger um den Bezug auf Gattungsmodelle derselben Tonart (wie der Ersten Symphonie von Beethoven oder Schuberts großer C-Dur-Symphonie) zu gehen, sondern um symphonisches Nachdenken über die Frage, wie man angesichts von Auflösungstendenzen der Tonalität um 1907 überhaupt noch – eben »trotz allem« – ein Werk »in C-Dur« schreiben kann. Dabei zeigt sich bei Sibelius – wie schon bei den beiden anderen Komponisten – ein starkes Skalenbewusstsein, das sich hier aber nicht auf modale Sollbruchstellen des Dur-Moll-Systems richtet, sondern auf die skalare Tonartendefinition im Verhältnis zur Harmonik. Zugespitzt formuliert, »hat« das Hauptthema keine Tonart, die gegeben ist (es »steht« also nicht in C-Dur), sondern es muss sich sein C-Dur erst von Grund auf herstellen. Wie aus einem am gleichen Tag abgesandten Brief von Sibelius an Axel Carpelan hervorgeht, bezieht sich das Zitat u. a. auf ein von Sibelius im Konzert erlebtes Werk von Engelbert Humperdinck. In fast gleichlautender Formulierung betont Sibelius dort ebenso seine Distanz zur »Treibhauswelt«  : »Es ist als ob diese heutigen Kulturmenschen, Komponisten, nichts lebendiges schreiben könnten, das auf den alten Kirchentonarten fußt. Das ist wohl mir und anderen vorbehalten, die mehr im Frieden gelassen wurden.« (» Det är som om dessa nutida kulturmenniskor, komponister, icke skulle kunna skrifva någonting lefvande baseradt på de gamla kyrkotonarterna. Det är nog förbehållet mig och andra, som fått vara mera ifred.«) Sibelius an Axel Carpelan, 26.1.1914, zitiert nach Tawaststjerna, Jean Sibelius, Bd. 3, S. 332. 71 Es stammt aus Anna Maria Lenngrens satirischem Portrait Fröken Juliana (1796). Näheres bei Mäkelä, Wie finnisch sind Tonleitern  ?, S. 180f. 72 Ebd., S. 180f. 73 Die analytische Literatur zu Sibelius’ Symphonien ist umfangreich und international breit gestreut. Für die vorliegende Frage kann nur eine kleine Auswahl berücksichtigt werden. Zentral ist die grundlegende Quellenstudie von Virtanen, der auch den entsprechenden Gesamtausgabenband edierte, sowie Murtomäki, Symphonic Unity, und Mäkelä, Sibelius und seine Zeit, S. 164–171. Wichtige Anregungen, wenngleich die Dritte Symphonie nicht behandelt wird, enthält die Dissertation von Lorenz Luyken, ›…aus dem Nichtigen eine Welt schaffen …‹ Studien zur Dramaturgie im symphonischen Spätwerk von Jean Sibelius (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 190) [zu den Symphonien Nr. 5–7 und Tapiola], Kassel 1995.

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Notenbeispiel 8: Sibelius, Symphonie Nr. 3 C-Dur op. 52, 1. Satz, T. 1–17

Der Beginn des metrisch schlichten, nur durch die Sechzehntel-Repetition des Anfangstons konturierten Themas führt in Takt  1 von c’ schrittweise nach unten zum g. Ausgehend von diesen vier Tönen (deren Bezeichnung als Tetrachord Sibelius’ historischer Ausrichtung angemessen sein dürfte) wird die Skala anschließend auch über den Grundton hinausgeführt, zunächst (T. 4) nur bis zum d, mit einer Umspielung durch das e, wo das Thema vier Takte lang »festzuhängen« droht. Erst dann erweitert sich der Radius weiter mit dem Einsatz der Viola auch skalar aufwärts mit der Bewegung bis hin zum Zielton c’’ in Takt 9. Das Erreichen der Zieltons wird begleitet durch die ersten Akkorde der Symphonie. Über einem C-Orgelpunkt in Takt 8 erklingt erst F-Dur, dann in Takt 9 C-Dur,74 eine Folge, die so schlicht wie funktional unbestimmt daherkommt. Das Thema »hat« offenbar auch keine vorstrukturierte harmonische Grundlage, sondern diese er74 In einer frühen Skizze zu diesem Satz plante Sibelius, der Basslinie einen C-Dur-Akkord voranzustellen, hat diesen jedoch in einem frühen Stadium gestrichen. Virtanen, Symphony No.  3, S.  24, und Faksimile, S. 155. Eine hilfreiche Zusammenfassung des quellenkritischen Teils seiner Dissertation legte Virtanen 2007 auch in deutscher Sprache vor  : »Die Manuskripte zu Sibelius’ Symphonie Nr. 3«, in  : Die Tonkunst 1 (2007), S. 369–382.

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wächst erst sukzessiv aus dem exponierten Material und wird durch dieses legitimiert. Gattungshistorisch folgt dieser Prozess in höchstem Grad der Symphonieästhetik des frühen 20. Jahrhunderts, doch richtet sich die Vorgehensweise, sein eigenes Material aus sich selbst heraus zu entwickeln, nicht auf Motivik im engeren Sinne, sondern auf eine fiktive Neugründung von C-Dur. Dass die melodische Ebene und insbesondere die Skalen die harmonische Führungsrolle innehaben, pointiert Sibelius in der Überleitung vom Haupt- zum Seitenthema (Notenbeispiel 9), indem der Tonartenwechsel von C-Dur nach h-Moll allein durch den melodischen Ganztonanschluss von der Durterz e in den Blechbläsern (T. 36) zur neuen Tonartenquint fis in den Holzbläsern (T. 38) bewerkstelligt wird  :

Notenbeispiel 9: Sibelius, Symphonie Nr. 3 C-Dur, 1. Satz, T. 34–44

Notenbeispiel 10: Jean Sibelius, Symphonie Nr. 3 C-Dur, 1. Satz, T. 81–85

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Notenbeispiel 11: Sibelius, Symphonie Nr. 3 C-Dur, 1. Satz, T. 242–276

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Auch das Ende der Exposition wartet mit einer besonderen skalaren Anordnung auf, diesmal in Gegenbewegung (Notenbeispiel 10). Hier nun ruft sie im dreifachen Piano frei schwebende Klangfolgen bei striktester Linienführung hervor. Skalarität kann also sowohl tonal stabile als auch vollkommen instabile Phänomene hervorbringen – was in keiner Weise durch die klaren C-Dur-Skalen des Beginns präformiert ist. Hier kann hinsichtlich des weiteren Satzverlaufs nur angedeutet werden, dass Sibelius in der Durchführung die für beide Themen zentralen Tetrachord-Figuren als Scharniere zwischen Haupt- und Seitenthemenmotivik verwendet (T. 153–157 macht das besonders deutlich). Auch bei der Rückleitung zur Reprise des Hauptthemas (T. 164) spielen sie eine wesentliche Rolle. Das Seitenthema erscheint in der Reprise in e-Moll und wird diesmal nicht mit einer Ganztonrückung, sondern über einen dominantischen Anschluss erreicht, wiederum mit Hilfe des Tetrachord-Motivs (Streicher in T. 201). Auch in diesem Satz ist für unseren Blickwinkel wiederum die Frage der Schlussbildung interessant. Sibelius lässt den Satz nicht in eine voranstürmende C-Dur-Apotheose münden (dies hätte vermutlich für die weiteren Sätze auch eine schwer zu überwindende Ausgangslage geschaffen). Stattdessen nimmt er eine radikale Distanzierung von der vorantreibenden figurativen Sechzehntel-Dynamik des Satzes vor und öffnet klanglich noch einmal eine neue Ebene (Notenbeispiel 11). Eine retardierende Pizzicato-Phase, die an die oben angeführte harmonisch schwebende Gegenbewegungspassage anknüpft (T.  242), wirkt wie ein Doppelpunkt und ist zugleich ein Perspektivenwechsel hin zur kompositorischen Meta-Ebene. Diese Coda führt die bislang aktiven motivischen Elemente auf wenige Grundelemente zurück, dies alles in einem choralartigen Tonfall, der sich auf die vielen Blechbläsereinsätze (insbesondere die Überleitungen zu den Seitenthemenbereichen T. 34 und 208) rückbeziehen lässt. Besonders auffällig ist die unerwartete, zweimal mit großer Geste markierte Wendung der strikt diatonischen Melodik nach b (T. 252 und T. 266), harmonisiert mit B-, F- und C-Dur. Diese massive Subdominantisierung sticht aus der zuvor exponierten Harmonik stark heraus. Auch wenn sich motivisch die Hauptthemengestik herauslesen lässt, hat man den Eindruck, hier werde die Musik auf ihre ältesten Grundschichten hin zerlegt. Soll das b hier als »una nota super la« herausgestellt werden, die, wie jeder mittelalterliche Sänger wusste, als b zu solmisieren ist (»semper est canenda fa«)  ? Über die leittonlos verbundenen Holzbläserakkorde a- und e-Moll erreicht Sibelius schließlich einen emphatischen Plagalschluss, der sich auf den ersten Akkord des Satzes (F- zu C-Dur) rückbezieht. Damit schließt sich ein Kreis. Zugleich findet eine historische Rückvergewisserung statt. C-Dur verwandelt sich zurück zu vor-durmolltonaler Diastematik – Modalität im allgemeinsten Sinne. *** Alle drei Symphonien sind in thematischer, harmonischer und satztechnischer Hinsicht und in ihrer Ästhetik durchaus verschieden. Es entbehrte folglich – umso mehr, würde 404

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man auch die weiteren Sätze einbeziehen – jeglicher Grundlage, wollte man ihnen aufgrund ihrer Herkunftsregion einen gemeinsamen, gar einen »nordischen« Stil unterstellen. Was sie dagegen verbindet, sind strukturelle Eigenheiten, die sich aus der Konfrontation symphonischen Dur/Molls mit modalen Elementen ergeben. Hierzu abschließend ein kurzes Fazit  : 1. In allen drei hier vorgestellten Symphonien wird über die Tonarten und ihre elementaren Eigenschaften mittels Skalarität nachgedacht. Gleichzeitig müssen symphonische Themenbereiche zueinander in Funktionszusammenhänge gesetzt werden. Hierfür wählen die drei Komponisten sehr verschiedene Strategien, wie z. B. anhand der Seitensatztonarten und ihrer Funktion gezeigt wurde. Auch die Ansteuerung von Durchbrüchen und die Funktion des Choralidioms variieren je nach kompositorischer Strategie erheblich. 2. Dur und Moll sind nicht mehr »vorhanden«, sondern müssen über die Themen und die symphonische Arbeit erst aufgestellt und legitimiert werden. Dafür bietet die modale Perspektive neue Möglichkeiten. Das Dur-Moll-System wird jedoch bei Modalität immer mitgedacht. Es wird kein alternativer »neomodaler« Stil angestrebt. 3. Modalität wird immer auch als temporal zurückliegender historischer Bezugspunkt verstanden. Von ihm kann man im Satzverlauf ausgehen (Stenhammar) oder zu ihm zurückkehren (Sibelius). Satzprozesse können daher auch als historische Reflexionen verstanden werden. 4. Der Gebrauch von Dur, Moll und Neomodalität in den vorgestellten Symphonien bezieht sich höchstens in nachgeordneter Form auf die gattungsgeschichtliche Instanz des nordischen Tons und dezidiert nicht auf nationale Identität, sondern dokumentiert für Wilhelm Stenhammar, Carl Nielsen und Jean Sibelius eine intensive Suche nach symphonischen Ausdrucksmöglichkeiten zu einem Zeitpunkt, an dem die Dur-Moll-Tonalität als Teil der als europäisch begriffenen Gattungstradition keinen abgesicherten Boden mehr unter den Füßen gewährt.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900 Es ist bekannt, dass in der Musik Claude Debussys ein neuartiger Umgang mit den Konventionen der Tonalität vorliegt.1 Neben harmonischen Neuerungen wie etwa der Nutzung der Ganztonleiter oder der parallelen Rückung von Akkorden gibt es zugleich ein gewisses Maß an Traditionsverbundenheit in der harmonischen Sprache und ihrer Semantik, im Extremfall gar eine bewusste Nutzung tonaler »Klischees«2 im Kontrast zu einer ansonsten eher avancierten Klangsprache.3 In diesem Kontext ist auch die  – bislang nur in Ansätzen erforschte – Semantik von Dur und Moll bei Debussy zu sehen, zu der ich im Folgenden einige Überlegungen vorstellen möchte, vornehmlich in Form von Fragen und analytischen Präliminarien. Zunächst möchte ich nach Spuren der »per aspera ad astra«-Dramaturgie bei Debussy fahnden, hier verstanden als eine in der Regel mit einer gewissen Emphase verbundene harmonische Hinwendung eines Werks in Moll zu seiner Dur-Varianttonart gegen Ende (1). Dann werde ich kurz im Sinne einer Kontextualisierung umreißen, aus welchen Quellen sich die – zunehmend wichtige – Modalität in Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts speiste  ;4 als eine besonders wichtige Anregung hierfür soll besonders auf die Gregorianik-Rezeption eingegangen werden (2).5 Es stellt sich dann die Frage, wie das Hinzutreten der Modalität, gleichsam als zusätzlicher kompositorischer Option, das Gefüge der Semantik von Dur und Moll verändert (3). Schließlich komme ich vor diesem Hintergrund noch einmal auf Debussy zurück und werfe einige Fragen zur Semantik von Dur und Moll speziell bei diesem Komponisten auf (4). 1 Die Literatur hierzu ist kaum überschaubar. Einen Überblick über einige Ansätze der Forschung gibt Boyd Pomeroy, »Debussy’s Tonality. A Formal Perspective«, in  : The Cambridge Companion to Debussy, hrsg. von Simon Tresize, Cambridge u. a. 2003, S. 155–178. 2 Gregor Fuhrmann, Tonale ›Klischees‹ als Ausdrucksmittel. Reminiszenzen an traditionelle Harmonik in Claude Debussys Préludes I & II (= Europäische Hochschulschriften, Musikwissenschaft 242), Frankfurt/Main u. a. 2005. 3 Vgl. bereits Ilse Storb, Untersuchungen zur Auflösung der funktionalen Harmonik in den Klavierwerken von Claude Debussy, Köln 1967. 4 Henri Gonnard, La Musique modale en France de Berlioz à Debussy (= Musique-Musicologie 33), Paris 2000. Zu Debussy vgl. außerdem Françoise Gervais, Étude comparée des langages harmoniques de Fauré et de Debussy (= Revue musicale. Numéro spécial 272/273), Paris 1971. 5 Julia d’Almendra, Les Modes grégoriens dans l’œuvre de Claude Debussy, Paris 1950.

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Benedikt Leßmann

1. »Per aspera ad astra«? Dur vs. Moll bei Debussy

Die sogenannte »per aspera ad astra«-Dramaturgie gilt als ein vor allem bei Beethoven ausgeprägter, im 19.  Jahrhundert nicht eben selten eingesetzter formdramaturgischer Ablauf, der insbesondere für die Symphonie von erheblicher Bedeutung ist.6 Debussy stand bekanntlich der Gattung Symphonie und den mit ihr verbundenen Kompositionsprinzipien skeptisch gegenüber, auch wenn er (überraschenderweise  ?) gerade Beethovens Neunte, die ja ein Paradebeispiel für »per aspera ad astra« ist, durchaus würdigt  : »Il me semblait que, depuis Beethoven, la preuve de l’inutilité de la symphonie était faite. […] Pourtant la ›neuvième‹ était une géniale indication, un désir magnifique d’agrandir, de libérer les formes habituelles en leur donnant les dimensions harmonieuses d’une fresque. La vraie leçon de Beethoven n’était donc pas de conserver l’ancienne forme.«7

Man könnte vor diesem Hintergrund annehmen, dass Debussy die assoziativ mit Beethoven (und möglicherweise mit der deutschen Musik insgesamt) verbundene »per aspera ad astra«-Dramaturgie kaum je einsetzt. Und in der Tat lassen sich nur recht wenige deutliche Beispiele einer solchen in seinem Werk ausmachen, wenn man damit im engeren Sinne Aspekte wie die dramatische Inszenierung eines Durchbruchs und die starke Aufladung mit außermusikalischen Inhalten verbindet. Beschränkt man sich jedoch auf das rein technische Kriterium der Wendung eines Werks oder eines Satzes von Moll zur Durvariante, so taucht diese gar nicht selten bei Debussy auf. Natürlich ist die Schlusswendung zur Durvariante nur eine von vielen Spielarten der Dur-Moll-Semantik, es scheint mir aber doch eine besonders instruktive zu sein, die einen ersten Zugriff auf ein (selbst bei nur einem Komponisten) unüberschaubares und schwer dingfest zu machendes Phänomen erlaubt. Daher sei nun beispielhaft auf einige einschlägige Stücke mit einer MollDur-Dramaturgie (wie ich sie im Folgenden vorsichtiger nennen möchte) eingegangen. Ein vergleichsweise konventionelles Beispiel liegt in Debussys Streichquartett von 1892/93 vor. Dieses Werk greift nach Art der zyklischen Form (»forme cyclique«) der Franck-Schule in allen Sätzen auf eine motivische Keimzelle zurück.8 Seine Tonartenanlage ist wie folgt  : Auf einen Kopfsatz in g-Moll folgt ein zweiter, der bereits in G-Dur 6 Siehe dazu auch den Beitrag von Stefan Keym im vorliegenden Band. 7 Claude Debussy, Monsieur Croche et autres écrits, édition revue et augmentée, hrsg. von François Lesure, [Paris] 1998, S. 25f. Der zitierte Text erschien erstmals in der Revue blanche vom 1.4.1901. Deutsche Übersetzung von Josef Häusler (Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, Stuttgart 1991, S. 27f.)  : »Mir scheint, daß seit Beethoven der Beweis für die Sinnlosigkeit der Symphonie erbracht wurde. […] Gleichwohl war die ›Neunte‹ ein genialer Fingerzeig, ein großartiges Verlangen, die gewohnten Formen zu weiten, zu befreien und ihnen die harmonischen Dimensionen eines Freskos zu geben. Die wahre Lehre Beethovens lautet also nicht, an den alten Formen festzuhalten.« 8 Marianne Wheeldon, »Debussy and La Sonate cyclique«, in  : The Journal of Musicology 22 (2005), S. 644–679.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900

steht. Der langsame dritte Satz führt nach Des-Dur, woran sich der letzte Satz zunächst in einer harmonisch instabilen Überleitung anschließt, bevor er in die Grundtonart g-Moll zurückkehrt. Am Schluss wendet sich das Finale nach G-Dur. Eine Art »Rücknahme« einer solchen emphatischen Wendung nach Dur findet im zweiten Satz, dem Menuet a-Moll, der Suite bergamasque von 1891 statt. Hier wird das zweite Thema des Stücks (zuvor in B-Dur vorgestellt) kurz vor Ende in A-Dur präsentiert und zu einer Steigerung geführt (T.  82ff.). Diese bricht jedoch überraschend ab  ; Debussy kehrt nach a-Moll zurück (T. 97), führt in den letzten Takten noch einmal ein neues Motiv (oder mindestens eine neue Variante vorheriger Motivik) ein, das im Wesentlichen aus modalen Kadenzen besteht. Ein Glissando über die weißen Tasten und die Note a ohne akkordische Bestimmung schließen in der Art eines Pizzicato das Stück ab. An diesem Eindruck einer Rücknahme sind auch andere Parameter, insbesondere die Dynamik beteiligt. Nicht alle weiteren denkbaren Beispiele für eine Moll-Dur-Dramaturgie sind derart klar. Häufig ist bereits die Bestimmung der Ausgangstonart eines Stücks nicht unproblematisch vorzunehmen, da die Harmonik mehrdeutig bzw. nicht im engeren Sinne tonal ist. Tabelle 2 zeigt ohne Anspruch auf Vollständigkeit Werke Debussys mit einer mehr oder weniger eindeutigen Tonartenfolge von Moll zur Durvariante. Angegeben ist die Ausgangstonart des jeweiligen Werks bzw. Satzes sowie der Schlussakkord. Sofern die Ausgangstonart uneindeutig ist (was relativ häufig vorkommt), ist diese mit einem Sternchen markiert. Hier wurden in der Regel die Vorzeichen als Kriterium verwendet. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine Einebnung musikalischer Komplexität handelt, die lediglich für diesen besonderen Analysekontext sinnvoll erscheinen kann. Eine solche zusammenfassende Darstellung, bei der auf genaue Analysen der konkreten harmonischen Werkstruktur bewusst verzichtet wird, erlaubt sicherlich nur wenige, vorsichtige Rückschlüsse. Gleichwohl fällt auf, dass Moll-Dur-Dramaturgien vor allem in früheren Werken Debussys vorkommen  ; ein recht großer Teil sind Klavierwerke der 1890er Jahre. Danach wird die Moll-Dur-Dramaturgie (jedenfalls die geläufige mit Einsatz der Varianttonart) offenbar seltener, ohne dauerhaft zu verschwinden. In späten Werken greift Debussy wieder merklich häufiger auf sie zurück, dabei scheint sie mir teilweise durch besondere Umstände motiviert zu sein  : so im Falle der ersten VillonBallade möglicherweise durch die Archaik des mittelalterlichen Textes. Im Falle des späten, auf den ersten Weltkrieg reagierenden Lieds Noël des enfants qui n’ont plus de maison entspricht die überraschende Schlusswendung nach Dur einerseits der inszenierten Naivität des (von Debussy selbst stammenden) Textes, andererseits dem patriotischen Überschwang des letzten Verses  : »Mais donnez la victoire aux enfants de France  !«, heißt es dort. Auch in zwei der drei späten, häufig als »klassizistisch« bezeichneten Kammermusik-Sonaten9 finden sich Schlüsse in der Durvarianttonart. 9 Dazu u. a. Marianne Wheeldon, Debussy’s Late Style, Bloomington u. a. 2009.

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Benedikt Leßmann

Werktitel, ggf. Satz

WV10

Jahr11

Ausgangstonart

Schlussakkord

Le Triomphe de Bacchus

L 33/(38)

1882

d-Moll*

D-Dur

Valse romantique

L 79/(71)

1890

f-Moll*

F-Dur

Marche écossaise sur un thème populaire

L 83/(77)

1890

a-Moll (nach kurzer Einleitung)

A-Dur

Trois Mélodies (Verlaine), I. La mer est plus belle que les cathédrales

L 85/(81)

1891

e-Moll*

E-Dur

[Dass.], II. Le son du cor s’afflige vers les bois

1891

f-Moll*

F-Dur

[Dass.], III. L’échelonnement des haies moutonne à l’infini

1891

cis-Moll

Cis-Dur

Streichquartett

L 91/(85)

1892/93

g-Moll

G-Dur

Images [oubliées], I. Lent

L 94/(87)

1894

fis-Moll

Fis-Dur

Pour le piano, III. Toccata

L 95/(95)

1894–1901 cis-Moll

Cis-Dur

Estampes, III. Jardins sous la pluie

L 108/(100)

1903

e-Moll

E-Dur

Masques

L 110/(105)

1903/04

a-Moll*

A-Dur

La Mer, III. Dialogue du vent et de la mer

L 111/(109)

1903–1905 cis-Moll*12

Des-Dur

Trois Ballades de François Villon, I. Ballade de Villon à s’amye

L 126/(119)

1910

fis-Moll*

Fis-Dur

Le Martyre de Saint Sébastien, II. La Chambre magique13

L 130/(124)

1911

cis-Moll*

Cis-Dur

Sonate für Violoncello und Klavier, I. Prologue

L 144/(135)

1915

d-Moll

D-Dur

Sonate für Flöte, Viola und Harfe, III. Final

L 145/(137)

1915

f-Moll

F-Dur

Noël des enfants qui n’ont plus de maison

L 147/(139)

1915

a-Moll

A-Dur

Tabelle 1  : Einige Werke Debussys mit Moll-Dur-Dramaturgie

Größeres Erkenntnispotenzial verspricht diese summarische Analyse weniger in Bezug auf ein mögliches statistisches Gesamtergebnis als auf die Schwierigkeiten, die sich dem Analytiker entgegenstellen. Dafür nur zwei Beispiele  : 10 Werkverzeichnisnummer nach François Lesure, Claude Debussy. Biographie critique suivie du catalogue de l’œuvre, [Paris] 2003. Die doppelte Nummerierung resultiert aus den Korrekturen in der Folge der ersten Auflage des Verzeichnisses (ders., Catalogue de l’œuvre de Claude Debussy, Genf 1977). 11 Nach Lesure. 12 Hier kann lediglich mit den Vorzeichen argumentiert werden, der harmonisch instabile, tritonusfundierte Beginn gibt diese Interpretation nicht her. 13 Freundlicher Hinweis von Stefan Keym.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900

1. Steht etwa das Lied Le son du cor … aus den Trois Mélodies auf Texte von Verlaine zu Beginn wirklich in f-Moll, wie es die Vorzeichnung und der (dann fast pikardische) Schluss in F-Dur nahelegen  ?14 Oder ließe sich der Anfang nicht sinnvoller als b-Dorisch beschreiben, was das Ende zu einem Schluss auf der Dominante werden ließe  ? (Der weitere Verlauf des Lieds, in dem über weite Strecken auf eine ganztönige Harmonik zurückgegriffen wird, hilft hier nur wenig weiter.) 2. Lässt sich der Beginn des Klavierstücks Masques wirklich ädaquat als in a-Moll stehend beschreiben, wie die Abwesenheit von Vorzeichen suggeriert, obwohl zu Beginn innerhalb der ›leeren‹ Quinte in chromatischer Folge große und kleine Terz erklingen, wobei keine privilegiert wird  ? Solcherlei Probleme der Analyse und Interpretation stellen sich unter anderem auch deshalb, weil Debussys Harmonik um Momente wie das der Modalität erweitert ist. Im folgenden Abschnitt sei gezeigt, aus welchen Quellen sich die Modalität im historischen Kontext speist, wobei hier insbesondere auf die Gregorianik-Rezeption eingegangen wird.

2. (Neo-)Modalität als Gregorianik-Rezeption

Es ist bekannt, dass die Hinwendung zur Modalität ein wesentliches Charakteristikum der französischen Musik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts darstellt. Diese Modalität oder »Neo-Modalität« ist als ein Rückgriff auf historische Musik oder auf Traditionen außerhalb der klassisch-romantischen Kunstmusik zu sehen, den Komponisten zumindest zum großen Teil bewusst vollziehen.15 Eine prominente Stimme im französischen Modalitätsdiskurs war Louis-Albert Bourgault-Ducoudray. Der Komponist und Musiktheoretiker wurde 1840 in Nantes geboren und erhielt 1862 den Rompreis. 1868 gründete er einen Chor, der sich unter anderem um Musik der Renaissance und der Barockzeit bemühte. Besonderen Einfluss übte er durch seine Vorlesungen in Musikgeschichte am Conservatoire ab 1878 aus.16 Zu seinen Schülern zählten unter anderem Maurice Emmanuel und Charles Koechlin. Das Interesse der musikhistorischen Studien Bourgaults galt – wie unter anderen Inga Mai Groote gezeigt hat17  – insbesondere der griechischen Musik und ihren antiken Wurzeln, der bretonischen Volksmusik und der russischen Musik. 14 So deutet es an (ohne die »tonale Ambiguität« zu leugnen)  : Erwin Hardeck, Untersuchungen zu den Klavierliedern Claude Debussys (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 44), Regensburg 1967, S. 145. 15 Gonnard, La musique modale. 16 Elaine Brody und Richard Langham Smith, Artikel »Bourgault-Ducoudray, Louis (Albert)«, in  : Grove Music Online, www.oxfordmusiconline.com, 24.2.2016. 17 Inga Mai Groote, »Griechische Bretonen  ? Hintergründe und Funktionen der Modalität bei Louis-Albert Bourgault-Ducoudray«, in  : MusikTheorie 29 (2014), S. 5–16.

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Benedikt Leßmann

Gemein ist diesen Musiktraditionen, so lässt sich eine wichtige These Bourgault-Ducoudrays zuspitzen, dass sie sich anders als die gegenwärtige Kunstmusik nicht auf Dur und Moll beschränkten, sondern einen Reichtum modaler Skalen aufwiesen. Dieser aber solle auch von gegenwärtigen Komponisten genutzt werden. So fordert Bourgault-Ducoudray es (laut Protokoll unter begeistertem Applaus) auf der Pariser Weltausstellung 1878 in einem Vortrag im Palais du Trocadéro  : »Donc, aucun élément expressif existant dans une mélodie quelconque, quelle que soit l’époque à laquelle elle remonte, quel que soit le pays d’où elle provienne, ne doit être banni de la langue musicale. (Bravos et applaudissements.) Tous les modes, anciens ou modernes, européens ou étrangers, par cela seul qu’ils sont aptes à engendrer une impression, doivent conquérir droit de cité parmi nous et peuvent être employés par les compositeurs.«18

Der Einbezug modaler Wendungen, wie ihn Bourgault-Ducoudray fordert und viele Komponisten ja tatsächlich vollziehen, verändert das harmonische Gefüge in seiner Gesamtheit. Herausgegriffen sei nur einmal der Aspekt des Leittonverzichts, der in vielen Kompositionen der Zeit, etwa auch von Ravel oder Fauré, zu beobachten ist.19 Häufig werden Kadenzen ohne Leitton bzw. die ostentative Betonung der sogenannten »natürlichen« siebten Stufe als ein besonders archaisch klingendes Mittel eingesetzt. So etwa zu Beginn der Oper Le Rêve von Alfred Bruneau, die quasi in ihrer Gesamtheit im Umfeld einer Kathedrale spielt und zahlreiche altertümliche und/oder sakral konnotierte Klangmittel einsetzt  :20 Gleich zu Beginn erklingt ein Leitmotiv,21 dessen Sprung auf die Molldominante und dann auf die siebte Stufe sehr auffällig ist, zumal wegen der

18 Louis-Albert Bourgault-Ducoudray, Conférence sur la modalité dans la musique grecque, Paris 1879. (»Folglich darf kein Ausdrucksmittel, das in irgendeiner Melodie existiert, auf welche Epoche auch immer diese zurückgeht, aus welchem Land auch immer sie stammt, aus der musikalischen Sprache ausgeschlossen werden. (Bravorufe und Applaus.) Alle Modi, ob alt oder neu, europäisch oder fremder Herkunft, müssen allein deswegen, weil sie in der Lage sind, einen Eindruck hervorzurufen, bei uns das Bürgerrecht erhalten und können von den Komponisten eingesetzt werden.« Übersetzungen hier und im Folgenden vom Verfasser.) 19 Bei Ravel z. B. im 2. Satz, Menuet, der Sonatine. Bei Fauré z. B. zu Beginn des Requiems, vgl. Stefan Morent, »Das Mittelalter im 19. Jahrhundert in Frankreich. Gabriel Fauré und sein Requiem op. 48«, in  : MusikTheorie 23 (2008) S. 141–159. Weitere Beispiele, insbesondere bei Berlioz, nennt Gonnard, La Musique modale, S. 91–93. 20 Richard Langham Smith, »Quelques aspects du langage musical d’Alfred Bruneau«, in  : Le naturalisme sur la scène lyrique, hrsg. von Jean-Christophe Branger und Alban Ramaut, Saint-Étienne 2004, S. 81–93. Siehe dazu auch Benedikt Leßmann, Die Rezeption des gregorianischen Chorals in Frankreich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Studien zur ideen- und kompositionsgeschichtlichen Resonanz des ›plain-chant‹ (= Musikwissenschaftliche Publikationen 46), Hildesheim u. a. 2016, S. 386–398 (dort auch weitere Literatur). 21 Eine Art Motivleitfaden zu Le Rêve gibt bereits frühzeitig Étienne Destranges, Le Rêve d’Alfred Bruneau. Étude thématique et analytique de la partition, Paris 1896.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900

Notenbeispiel 1: Bruneau, Le Rêve. Drame lyrique en quatre actes et 8 tableaux, Beginn (nach dem Klavierauszug des Komponisten, Paris: Choudens [1892], S. 2)

Parallelführung der Stimmen (Notenbeispiel 1), wie sie in ähnlicher Weise nach Bruneau auch Satie und Debussy einsetzen werden.22 Dass es sich hierbei auch aus Sicht von Zeitgenossen um ein besonderes Stilmittel handelte und dass Bruneau es sehr häufig in diesem Werk eingesetzt hat, belegt möglicherweise eine kritische Äußerung von Paul Dukas. Er äußert sich durchaus positiv zu Le Rêve, beklagt aber die Monotonie »de certaines cadences mineures«,23 und egal, ob man diesen Begriff der »gewissen Mollkadenzen« nun als Umschreibung solcher Kadenzen ohne Leitton versteht oder nicht  : Dukas erkennt hier die Neuartigkeit einer harmonischen Sprache, die auf modalen Elementen und auf einer teils imaginierten Archaik beruht. Die Modalität speist sich – wie bei Bourgault-Ducoudray deutlich wurde – aus einer Vielzahl von Quellen. Zu diesen zählt auch der vermehrte Umgang mit dem gregorianischen Choral, der in Frankreich im 19. Jahrhundert eine erhebliche Renaissance unter historistischen Vorzeichen erlebt.24 22 Vgl. Jean-Jacques Eigeldinger, »›La Cathédrale engloutie‹. À propos de la syntaxe ›gothique‹«, in  : Muzyka w kontekście kultury. Studia dedykowane Profesorowi Mieczysławowi Tomaszewskiemu w osiemdzisięciolecie urodzin, hrsg. von Małgorzata Janicka-Słysz u. a., Krakau 2001, S. 395–405. 23 Paul Dukas, »Chronique musicale«, in  : La Revue hebdomadaire  9/12 (November 1900), S.  130–140, hier S. 138, zitiert nach Georges Favre, Musique et naturalisme. Alfred Bruneau et Emile Zola, Paris 1982, S. 48f. 24 Pierre Combe, Histoire de la restauration du chant grégorien d’après des documents inédits. Solesmes et l’Edition Vaticane, Solesmes 1969 (engl. als The Restoration of Gregorian Chant. Solesmes and the Vatican Edition, übers. von Theodore N. Marier und William Skinner, Washington 2003)  ; Katherine Bergeron, Decadent Enchant-

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Benedikt Leßmann

Als besonders instruktiv hat sich die Betrachtung der lebhaften Debatte um die Choralbegleitung erwiesen, die in Frankreich ab etwa Mitte des 19.  Jahrhunderts geführt wird. So verlangen etwa – wie in der Forschung seit langem bekannt – Niedermeyer und d’Ortigue in ihrer Choralbegleitungslehre von 1857 die Harmonisierung von Choralmelodien unter ausschließlicher Verwendung der skaleneigenen Töne.25 Es wird folglich also in allen acht gregorianischen Modi außer dem fünften und dem sechsten auf den Leitton verzichtet. Die Bedeutung dieses Traktats liegt auch darin, dass man ihn als Zeugnis der Unterrichtsinhalte der Pariser École Niedermeyer lesen kann. Die Schrift ist allerdings keineswegs singulär, sondern steht im Kontext einer breit und teils kontrovers geführten Debatte um die Modalität des Chorals und die Frage, wie diese in der Mehrstimmigkeit umgesetzt werden kann. Choralbegleitsätze, wie sie vielfach publiziert werden, etwa als Beigabe zu entsprechenden Lehrbüchern, lassen sich als Quellen für Konzeptionen mehrstimmiger Modalität lesen, die in Frankreich in dieser Zeit entworfen wurden. Diese Konzepte prägen dann auch choralunabhängige, potentiell komplexere Musik. Als eine Art Zwischenschritt – von der strengen Choralharmonisierung bis zur gänzlich freien, nicht notwendigerweise religiösen Musik mit modaler Harmonik  – lassen sich die nicht choralgebundenen, explizit modalen Einzelstücke und Sammlungen liturgischer Musik für Orgel bzw. Harmonium verstehen, die vermehrt ab den späten 1880er Jahren entstehen, und zwar vor allem im Umfeld der École Niedermeyer und der Schola Cantorum (Tabelle 2). Deren Aufkommen kann man als eine Folge der Rezeption des gregorianischen Chorals begreifen. Mehr und mehr wird nämlich die Forderung aufgestellt, eine Kongruenz zwischen den – nun als modal begriffenen – liturgischen Gesängen und der liturgischen Orgelmusik herzustellen. So formuliert bereits 1850 JacquesNicolas Lemmens in Bezug auf eigene Kompositionen seines Journal d’Orgue (die später in der viel rezipierten École d’orgue aufgegriffen wurden)  : »Les préludes du Kyrie, du Sanctus, du Tantum ergo, de l’Alma redemptoris, de l’Ave Regina, du Regina cœli et du Salve Regina, sont établis sur les premières phrases de ces chants et composés dans l’ancienne tonalité. Nous engageons les organistes à suivre cet exemple. Rien n’est plus

ments. The Revival of Gregorian Chant at Solesmes, Berkeley u. a. 1998  ; Katharine Ellis, The Politics of Plainchant in Fin-de-siècle France (= RMA Monographs 20), Farnham und Burlington 2013  ; Stefan Morent, Das Mittelalter im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Kompositionsgeschichte in Frankreich (= Beiträge zum Archiv für Musikwissenschaft 72), Stuttgart 2013  ; Leßmann, Die Rezeption. 25 Louis Niedermeyer und Joseph d’Ortigue, Traité théorique et pratique de l’accompagnement du plain-chant, Paris 21876, S. 35. Zum Kontext siehe Leo Söhner, Die Orgelbegleitung zum gregorianischen Gesang (= Kirchenmusikalische Reihe 2), Regensburg 1936  ; Heinz Wagener, Die Begleitung des gregorianischen Chorals im neunzehnten Jahrhundert (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 32), Regensburg 1964  ; Leßmann, Die Rezeption, S. 183–238.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900

choquant que de faire le prélude dans une tonalité étrangère à celle du chant, auquel il sert d’introduction.«26 Jacques-Nicolas Lemmens, »Prélude pour le Kyrie de la Vierge. 2e mode transposé un ton plus haut«, in: Nouveau journal d’orgue à l’usage des organistes du culte catholique, Bd. 1, Livraison 7, Brüssel 1850, S. 90; Nachdruck in: ders., École d’orgue basée sur le plain-chant romain, Mainz 1862, Bd. 1, S. 51 Jacques-Nicolas Lemmens, »Magnificat anima mea dominum. 8e mode«, in: Nouveau journal d’orgue […], Bd. 2, Livraison 3, Brüssel 1851, S. 25. Nachdruck in: ders., École d’orgue […], Mainz 1862, Bd. 2, S. 90 Charles-Valentin Alkan, [8] Petits Préludes sur les 8 gammes du plain-chant, Paris [1859] Alexandre Guilmant, »Grand chœur en forme de marche dans la tonalité grégorienne«, in: L’Organiste pratique. Collection de pièces pour orgue (pédale ad libitum) ou harmonium, 7e livraison, op. 52, Paris [u. a.] 1878 Eugène Gigout, Cent pièces brèves dans la tonalité du plain-chant (modes naturels et transposés), Paris [ca. 1888] Alexandre Guilmant, 60 Interludes dans la tonalité grégorienne, Paris [1888] Alexandre Guilmant, »Pièce caractéristique dans le mode phrygien pour l’orgue«, in: Pièces dans différents styles, 18e livraison, op. 75, Paris 1892 Eugène Gigout, Album grégorien pour orgue ou harmonium, 2 Bde., Paris [1895] Fernand de La Tombelle, Interludes dans la tonalité grégorienne et harmonisations des versets pour la messe ›Dominicis infra annum‹, Paris: Schola Cantorum 1897 Guy Ropartz, Premières et secondes Vêpres des Saintes Femmes, [Paris:] Meyault [ca. 1898] René Vierne, Vêpres d’un Confesseur non Pontife, [Paris:] Schola Cantorum [1908?] Eugène Gigout, Soixante-dix pièces dans les tons les plus usités et dans les modes grégoriens, Paris 1911 Eugène Gigout, Quatre pièces brèves dans la tonalité grégorienne, Paris o. J. Tabelle 2  : Auswahl explizit modaler Orgelwerke (laut Titel der Sammlung oder der Einzelsätze)

Doch auch die Modalität der weltlichen Musik zeigt sich von der Gregorianikrezeption beeinflusst. In zugespitzter Weise stellt dies als Zeitgenosse der Musikkritiker und -forscher Louis Laloy dar, der 1907 den gregorianischen Choral27 mit der französischen Musik in engem Zusammenhang und Komponisten wie Debussy, Ravel oder Fauré als stark von der Gregorianik beeinflusst sieht. Dank der langen Choralrezeption verfüge die fran26 Jacques-Nicolas Lemmens, Nouveau journal d’orgue à l’usage des organistes du culte catholique, Bd. 1, Brüssel 1850, septième livraison (nicht paginierter Abschnitt). (»Die Präludien zum Kyrie, zum Sanctus, zum Tantum ergo, zum Alma redemptoris, zum Ave Regina, zum Regina cœli und zum Salve Regina sind aus den ersten Phrasen dieser Gesänge erstellt und in der alten Tonalität komponiert. Wir ermuntern die Organisten, diesem Beispiel zu folgen. Nichts ist schockierender als ein Vorspiel in einer Tonart, die der des Gesangs fremd ist, dem es als Einleitung dient.«) 27 Laloys Choralbild ist von Solesmes, namentlich von André Mocquereau, geprägt. Zur Verbindung und Korrespondenz der beiden Autoren siehe Patrick Hala, »Solesmes et les musiciens au tournant du 20ème siècle«, in  : Études grégoriennes 38 (2011), S. 245–261.

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zösische Musik über eine Modusvielfalt, in der ihr allenfalls die russische nahekomme, schreibt Laloy. Dies unterscheide sie wesentlich von der Schwere und Gleichförmigkeit der deutschen Musik  : »La musique française, lorsqu’elle n’imite ni Beethoven, ni Wagner, ni les Italiens, dispose d’une variété de modes inconnues aux autres pays de l’Europe, la Russie seule exceptée.«28 Und bereits in seiner Rezension von Debussys Oper Pelléas et Mélisande von 1902 hatte Laloy die Spezifika dieses Werks – namentlich seine Modalität – auf den gregorianischen Choral bezogen  : »[I]l [Debussy] n’a pas examiné la valeur des accords, le sens des accidents, compulsé les vieux Graduels ou réfléchi au sens mystique des différents modes. Non  ! mais il a retrouvé en lui, par un de ces efforts d’intuition qui font les chefs-d’œuvre, un peu de la vieille âme de notre race, et, par là même, quelque chose des mélodies où cette âme s’est chantée. Et c’est peut-être pour cela que cette musique, si émouvante pour nous, qui n’avons pas renié notre ancienne liturgie, a quelque peine à se frayer un chemin dans une conscience musicale étrangère, que domine le choral luthérien.«29

Hiermit nimmt Laloy sicherlich auch unter den Zeitgenossen Debussys  – der persönlich im Grunde wenig Berührung mit der Gregorianik hatte30  – eine Extremposition

28 Louis Laloy, »Le Chant grégorien et la musique française«, in  : Mercure musical et Bulletin de la S.I.M.  3 (1907), S. 75–80. (»Wenn die französische Musik weder Beethoven noch Wagner noch die Italiener imitiert, verfügt sie über eine Vielfalt von Modi, die den anderen Ländern Europas, mit Ausnahme Russlands, unbekannt ist.«) Siehe dazu auch Stefan Keym, »Franz Liszt und die Ästhetik der französischen GregorianikRenaissance«, in  : Liszt und Europa (= Weimarer Liszt-Studien 5), hrsg. von Detlef Altenburg und Harriet Oelers, Laaber 2008, S. 99–112. 29 Louis Laloy, »Exercices d’analyse [sur deux accords]« (1902), zitiert nach Pelléas et Mélisande cent ans aprés  : études et documents, hrsg. von Jean-Christophe Branger, Sylvie Douche und Denis Herlin, Lyon 2012, S. 556. (»[E]r [Debussy] hat nicht den Wert der Akkorde oder den Sinn von Akzidentien untersucht, alte Gradualien durchgesehen oder über den mystischen Sinn der verschiedenen Modi nachgedacht. Nein, er hat in sich, durch eine jener Intuitionsbemühungen, aus denen Meisterwerke entstehen, ein wenig von der alten Seele unserer Rasse wiedergefunden und dadurch auch etwas von den Melodien, die diese Seele sang. Und das ist vielleicht der Grund dafür, dass diese Musik, die uns so bewegt, die wir nie unsere alte Liturgie verleugnet haben, einige Mühe hat, sich einen Weg in ein ausländisches musikalisches Bewusstsein zu bahnen, das vom Lutherchoral dominiert wird.«) 30 Ob Debussy Solesmes besucht hat, wie bei d’Almendra, Les modes grégoriens, S. 183, berichtet, wird heute stark angezweifelt. Siehe dazu aus Solesmes selbst den Beitrag von Hala, »Solesmes et les musiciens«, außerdem Morent, Das Mittelalter, S. 120  ; Leßmann, Die Rezeption, S. 420. Unabhängig davon ist ein vertieftes Interesse am gregorianischen Choral für Debussy kaum nachzuweisen. Maurice Emmanuel hat dazu in Erinnerung an den gemeinsamen Unterricht bei Ernest Guiraud festgehalten  : »Il [Debussy] ne croit pas au plain-chant, ni aux chansons. Il a horreur du plain-chant. Il dit que c’est de la drogue de curé.« Sylvie Douche (Hrsg.), »Transcription littérale du carnet de notes de Maurice Emmanuel au sujet des échanges DebussyGuiraud (1889–1890)«, in  : Pelléas et Mélisande cent ans aprés, S. 279–287, hier S. 284.

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ein. Immerhin aber wird Debussy ihm einige Jahre später bescheinigen, er sei mehr oder weniger der einzige gewesen, der Pelléas verstanden habe.31 Laloy nimmt hier eine Ineinssetzung von Nationen, Rassen, Konfessionen und kirchenmusikalischen Gesangspraktiken vor. Der gregorianische Choral erscheint in dieser nationalistischen Konstruktion als urwüchsiger Ausdruck der französischen ›Rasse‹ (ähnlich wie Bourgault-Ducoudray es in Bezug auf die Modalität gesagt hat)32 und als Gegenbild zum deutschen Lutherchoral. Debussy habe demnach in den unterstellten Gregorianikbezügen von Pelléas auf ureigen französische Quellen zurückgegriffen. Die Idee der Modalität, das mögen diese wenigen Beispiele zeigen, erscheint somit im französischen Musikdiskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert stark – wenn auch keineswegs ausschließlich33 – von der Gregorianikrezeption geprägt. Angesichts des Aufkommens der Modalität stellt sich nun aber die Frage, wie sich die Modalität in Bezug zu Dur und Moll positioniert.

3. »Le tyran UT«. Dur und Moll im Gefüge mit der Modalität

Auf die Frage, wie sich die Dur-Moll-Dualität durch das Hinzutreten modaler Skalen verändert, gab bereits 1852 indirekt ein gewisser Nicolas Cloet, ein Autor aus dem Umfeld der Gregorianik-Restauration, eine mögliche Antwort  : »Nous avons l’avantage de posséder quatorze modes, tandis que la plupart des musiques actuellement usitées n’en contiennent que deux  ; pourquoi ne conserverions-nous pas ce système intact  ?«34 Eine ähnliche Sichtweise zeigt um 1930 in seinen Polemiken für modale Musik der Komponist Maurice Emmanuel. Dur – Emmanuel spricht von UT, also c, und meint da31 »Il y a déjà longtemps vous avez été à peu près le seul à comprendre Pelléas«. Claude Debussy, Brief an Louis Laloy vom 10.9.1909, in  : ders., Correspondance (1872–1918), hrsg. von François Lesure und Denis Herlin, Paris 2005, S. 1213. 32 Der Rassenbegriff ist freilich in dieser Zeit noch relativ diffus. Zum Rassenbegriff des französischen Musikschrifttums im 19. Jahrhundert siehe u. a. Annegret Fauser, Musical Encounters at the 1889 Paris World’s Fair (= Eastman Studies in Music 32), Rochester und Woodbridge 2005, S. 146–158  ; Jann Pasler, »Race and Nation. Musical Acclimatisation and the Chansons Populaires in Third-Republic France«, in  : Western Music and Race, hrsg. von Julie Brown, Cambridge 2007, S. 147–167. 33 Zu den weiteren Bezugspunkten zählen, wie hier nicht näher ausgeführt werden kann, die antike Musik (-theorie), die »chanson populaire« oder die russische Musik. 34 Nicolas Cloet, De la Restauration du chant liturgique ou Ce qui est à faire pour arriver à posséder le meilleur chant romain possible, Plancy 1852, S. 200. (»Wir haben den Vorteil, vierzehn Modi zu besitzen, während der Großteil der heute gebräuchlichen Musiken nur zwei enthält  ; warum sollten wir nicht dieses intakte System bewahren  ?«) Cloet geht von 14 Modi aus, weil er auch zwei Modi auf h einbezieht. Zugegeben sei an dieser Stelle, dass es sich um eine relativ obskure Quelle handelt, was man auch daran ablesen mag, dass in dem Exemplar des Buchs in Berlin (D-B, Mus. E 11506) noch immer nicht alle Seiten aufgetrennt waren, als ich es 2011 einsah. Ein kurzer Eintrag zum Abbé Cloet findet sich in FétisB, 2. Auflage, Bd. 2 (1861), S. 325.

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mit die Skala auf C – sei ein Tyrann, der die Vielfalt der anderen Skalen unterdrückt und damit die Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt habe.35 Selbst Moll sieht Emmanuel in dessen Schatten und nennt es einen »Bastard« (»bâtard«).36 Er votiert für eine »Polymodie«, den Einsatz aller Modi.37 Drei Möglichkeiten scheint es mir zu geben, wie sich Dur-Moll-Tonalität und Modalität zueinander verhalten können  : Die Sicht auf Dur und Moll als (1) Te i l d e r M o d i wie bei Cloet oder Emmanuel ist vor allem dann plausibel, wenn von Skalen die Rede ist. Die Dur- und Molltonleiter erscheinen dann als Analoga zu den sogenannten Kirchentonarten oder sind als ionische bzw. äolische Leitern Teil eines Systems von mehr als 8 Modi. Denkt man indes an Dreiklänge, so gruppieren sich die Modi unterhalb der zwei ›Tongeschlechter‹, je nachdem, welche Terz sie haben. Es verhielte sich dann also pointiert gesagt genau umgekehrt  : Die Modi wären (2) Te i l v o n D u r b z w. M o l l . Ein beliebiges Musikstück könnte beispielsweise sowohl strukturelle Elemente von Moll als auch des Dorischen oder Phrygischen in sich vereinen. Keineswegs ist ja in jedem Fall eine kompositorische ›Entscheidung‹ zwischen Modalität und Tonalität notwendig, da diese keine distinkten Sphären, sondern (auch historisch) verwandt sind. Konkret können bestimmte harmonische Wendungen sowohl einer dur-moll-tonalen als auch einer modalen Klangsprache zugeordnet werden. So ist zum Beispiel die Kadenz im Lydischen nach Niedermeyer und d’Ortigue identisch mit einer Durkadenz.38 Dessen ungeachtet wird man Modalität in der Moderne in der Regel natürlich nur dann als solche verstehen dürfen, wenn sie sich in irgendeiner Hinsicht von der üblichen musikalischen Grammatik absetzt.39 Und auch dieser Gegensatz kann in Kompositionen inszeniert werden. Somit wäre (3) auch eine D i c h o t o m i e v o n To n a l i t ä t u n d M o d a l i t ä t denkbar  ; die Modalität insgesamt könnte also ein Konterpart zur Dur-Moll-Tonalität sein.

35 Maurice Emmanuel, »Le Tyran Ut«, in  : Musique 2/6 (1930), S. 242–250. 36 »Le Mineur moderne n’est qu’un bâtard, un Majeur teinté de Mineur, un plat valet du Tyran UT.« Ebd., S. 249. Der Begriff »bâtard« hat allerdings offenbar eine gewisse Tradition in der französischen Musiktheorie und wurde für ›unvollkommene‹ Modi verwandt, die wegen einer verminderten Quinte nicht vollwertig eingesetzt werden können. Vgl. etwa den Artikel »Mode«, in  : Joseph d’Ortigue, Dictionnaire liturgique, historique et théorique de plain-chant et de musique d’église au moyen âge et dans les temps modernes, Paris 1854, Reprint New York 1971, Sp. 834. 37 Maurice Emmanuel, »La Polymodie«, in  : Revue musicale (Januar 1928), erneut in  : Revue musicale 410/411 (1988), S. 16–32. 38 Vgl. Niedermeyer/d’Ortigue, Traité théorique et pratique, S. 69. 39 Vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), Wiesbaden 1980, S. 25. John Vincent spricht aus diesem Grund bei bestimmten Phänomenen von Pseudo-Modalität (»pseudo-modality«). John Vincent, The Diatonic Modes in Modern Music, Berkeley/Los Angeles 1951, S. 135.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900

Der Einbezug von Modalität und das Weiterbestehen der traditionellen Dur-MollSemantik schließen einander jedenfalls nicht aus. Die kompositorischen Optionen im Bereich der Harmonik (und damit möglicherweise auch der Semantisierung von Harmonik) scheinen ab dem späten 19. Jahrhundert aber gewachsen zu sein, was die Bedeutung des tradierten Dur-Moll-Kontrasts potenziell in den Hintergrund treten lässt. Zu fragen bleibt also für die hier betrachtete Musik zweierlei  : erstens ob und wie diese trotz möglicher modaler Elemente und Suspension der Funktionsharmonik weiter an der traditionellen Semantik von Dur und Moll teilhat  ; zweitens wie sich Modalität und die mit ihr teils überlappende Dur-Moll-Tonalität wiederum im Verhältnis zu weiteren kompositorischen Mitteln positionieren, etwa der Ganztonleiter und der aus ihr resultierenden Harmonik. Die Frage nach der Semantik der Tongeschlechter, der sich der letzte Abschnitt dieses Beitrags widmet, ist in diesem durchaus komplexen Problemfeld situiert.

4. Semantik von Dur und Moll bei Debussy

Es existieren mehrere Studien und Essays, in denen nachgewiesen oder zumindest postuliert wird, dass bei Debussy eine symbolische Verwendung von Harmonien vorliege. Diese fokussieren allerdings weniger das Tongeschlecht als vielmehr die Tonart. So befindet bereits Vladimir Jankélévitch, Debussy habe oft von den »délices de la tonalité«40 gekostet. Besonders wichtig sei bei ihm die Symbolik von Kreuztonarten, die häufig für Licht stünden.41 Albert Jakobik behauptet, dass Debussy in vielen Stücken zwei Tonarten als Farben gegenüberstelle, die sich zum chromatischen Total ergänzten, wobei Ganztönigkeit als dritte der Vermittlung diene.42 Richard Langham Smith hat den symbolischen Einsatz der Tonarten in der Oper Pelléas et Mélisande aufgezeigt, zunächst vor allem in Bezug auf C-Dur und Fis-Dur  ;43 in einem neueren Aufsatz ergänzt er dies zu einem größeren Netz, in dem auch Molltonarten eine Rolle spielen.44 Wenig ist aber bisher zur Semantik der sogenannten Tongeschlechter bei Debussy gesagt worden. Zu einer Untersuchung derselben würde sich das umfangreiche, in Deutschland vergleichsweise wenig zur Kenntnis genommene Korpus der Lieder des Komponisten besonders eignen. Man könnte beispielsweise einmal zu heuristischen Zwecken versuchen, die Liedtexte schematisch einem negativen oder positiven Affekt 40 Vladimir Jankélévitch, Debussy et le mystère de l’instant, Paris 1976, S. 177. 41 Ebd., S. 179f. 42 Albert Jakobik, Claude Debussy oder Die lautlose Revolution in der Musik, Würzburg 1977, S. 11. Ob dies tatsächlich so weitgehend verallgemeinerbar ist, wie Jakobik behauptet, sei hier einmal dahingestellt. 43 Roger Nichols und Richard Langham Smith, Claude Debussy. Pelléas et Mélisande, Cambridge u. a. 1989, S. 107–139 (Kap. »Tonalities of darkness and light«, verfasst von Letzterem). 44 Richard Langham Smith, »›Aimer ainsi‹. Rekindling the Lamp in Pelléas«, in  : Rethinking Debussy, hrsg. von Elliott Antokoletz und Marianne Wheeldon, Oxford u. a. 2011, S. 76–95.

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und einem vorherrschenden Tongeschlecht zuzuordnen. Dabei würden sich zweifellos einige Fälle zeigen, bei denen eine Übereinstimmung mit der ›klassischen‹ Zuordnung (Dur positiv, Moll negativ) vorliegt. Um nur zwei entgegengesetzte Beispiele herauszugreifen  : Das Lied »Le temps a laissié son manteau« (Rondel) aus den Trois Chansons de France L 115/(102) feiert in seinem Text (Autor ist der mittelalterliche Dichter Charles d’Orléans) das Erwachen der Natur am Ende des Winters. Das Lied endet emphatisch mit Cis-Dur-Akkorden im Fortissimo, in traditionellen Kategorien ein ›positiver‹ Schluss. Das dritte Lied derselben Sammlung, »Pour ce que Plaisance est morte« (ebenfalls Rondel überschrieben), vertont ein Trauer­ gedicht desselben Autors. Versucht man dessen Harmonik, besonders mit Blick auf Anfang und Schluss, auf eine Grundtonart zu beziehen, so liegt hier d-Moll vor.45 Man würde es sich zu leicht machen, erklärte man diese vordergründig klaren Befunde zu reinen Zufällen. Übereinstimmungen mit der traditionellen semantischen Zuordnung lassen sich gar nicht selten in der Vokalmusik Debussys finden. Allerdings finden sich freilich auch Fälle von Nicht-Übereinstimmung, vor allem aber solche, wo Uneindeutigkeit herrscht, und zwar sowohl auf der semantischen als auch auf der harmonischen Ebene. Das ist wenig erstaunlich  : Debussy vertonte mit Vorliebe symbolistische Dichter. Im Symbolismus aber liegt häufig keine semantische Eindeutigkeit vor, mehr noch  : Symbolistische Gedichte sind nicht selten sogar dezidiert mehrdeutig.46 Das folgt im Prinzip bereits aus dem Symbolbegriff, der der Benennung der Bewegung zugrunde liegt.47 Einige wesentliche Charakteristika dieser dichterischen Strömung stehen der Eindeutigkeit entgegen  : die Affinität zu kühnen, gesuchten Metaphern, die Vorliebe für die Nuance anstelle der Zuspitzung, der mehr lautlich-musikalische Umgang mit Sprache (besonders bei Verlaine) sowie die weitgehende Hermetik einer teils nicht mehr denotativ entschlüsselbaren Poesie (besonders bei Mallarmé). Ferner kann in der Zeit der sogenannten »Décadence« auch von einer ›Umwertung der Werte‹ ausgegangen werden  ; es ist also längst

45 Auch hier vereinfache ich bewusst, um eine grundsätzliche Tendenz herauszuarbeiten. Differenzierter wird die Harmonik dieser Lieder analysiert bei Hardeck, Untersuchungen zu den Klavierliedern, S.  190f., auch wenn das Ergebnis durchaus strittig ist. (So bezieht sich die Einordnung des Anfangs des ersten Lieds als gisHypodorisch offenbar besonders auf die Gesangsstimme, weniger auf das Klaviervorspiel. Siehe dazu auch d’Almendra, Les modes grégoriens, S. 133, die Hardeck zitiert.) 46 Zum Symbolismus siehe u. a. Jean-Nicolas Illous, Le Symbolisme, Paris 2004. Zur Relevanz für Debussy siehe Stefan Jarociński, Debussy. Impressionisme et symbolisme, aus dem Polnischen übersetzt von Thérèse Douchy, Paris 1970 (original Krakau 1966  ; engl. Übers. aus dem Frz. von Rollo Myers London 1976)  ; Theo Hirsbrunner, Claude Debussy und seine Zeit, Laaber 1981, Neuauflage 2002, v. a. S. 157–172. 47 »Im Alltag und in den Kulturwissenschaften dominiert heute beim Wort Symbol ein Gebrauch, der sich auf ikonische (bildhafte) Zeichen mit einer besonderen Konnotation (Zusatz-, Überschußbedeutung) bezieht.« Heinz Hamm, Artikel »Symbol«, in  : Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Studienausgabe, Bd. 5, Stuttgart und Weimar 2010, S. 805–840, hier S. 805.

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nicht immer klar, was überhaupt positiv ist und was negativ.48 Das generelle Problem der poetischen Uneindeutigkeit stellt sich in diesem Repertoire also möglicherweise in besonderer Schärfe. Für eine genauere semantische Analyse entstünde freilich die Notwendigkeit, auch auf einzelne Stellen zum Beispiel der Vokalmusik einzugehen und nicht nur auf größere Einheiten (wie ganze Lieder oder Liederzyklen). Dabei stellten sich freilich ähnliche Probleme. Immerhin aber würden die stark zur deklamierenden Durchkomposition tendierenden Formverläufe der späteren Lieder oder auch der Oper Pelléas et Mélisande eine solche Detailbetrachtung ihrem Wesen nach durchaus erlauben. Denn häufig entsteht der Eindruck, dass Debussy in der Vokalmusik eher auf Details des Textes eingeht, anstatt größere Zusammenhänge zu »vertonen«. Dazu zwei kleine Beispiele aus Liedern  : Besondere Wichtigkeit kommt bei Debussy bekanntlich der Ganztonleiter zu. Diese wird häufig in Kontrast zu einem stärker diatonisch bestimmten Material gestellt  ; berühmt ist hierfür der Beginn von Pelléas et Mélisande.49 In gewisser Weise mag dies mancherorts ein Ersatz für tradierte harmonische Konstellationen wie die Dur-Moll-Dichotomie sein. In der zweiten Liedvertonung von Verlaines Gedicht Clair de lune50 etwa tritt eine von der Ganztonleiter bestimmte Harmonik an der Stelle auf, wo das Wort »triste[s]«, traurig, gesungen wird (Notenbeispiel  2). Es wird also Ganztonharmonik tonaler Harmonik an einer gezielt gewählten Stelle entgegengesetzt. (Darauf folgt die Zeile »Tout en chantant sur le mode mineur«, es ist also im Text von Moll die Rede. Die Musik changiert hier tatsächlich zwischen Moll und der weiter angedeuteten Ganztonleiter.) Beispielhaft für die Schwierigkeiten, vor denen man bei einer Analyse der Semantik der Tongeschlechter bei Debussy steht, sei abschließend auf eine Stelle aus dem Lied Il pleure dans mon cœur hingewiesen. Das Lied, ebenfalls eine Verlaine-Vertonung, stammt aus den Ariettes oubliées.51 »Quoi  ! nulle trahison  ?«, heißt es an einer Stelle des Textes, also etwa  : »Was  ! Kein Verrat  ?« Die Semantik ist komplex  : »Trahison« ist ja in sich bereits 48 Zur Décadence immer noch lesenswert  : Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle (= Komparatistische Studien 2), Berlin und New York 1973. 49 Vgl. Nichols/Smith, Claude Debussy. Pelléas et Mélisande, S. 86–89. 50 Aus den Fêtes galantes (1er Recueil) L 86/(80) von 1891/92. Dies ist Debussys zweite Liedvertonung dieses Gedichts, vgl. Roger Nichols, »Debussy’s Two Settings of ›Clair de Lune‹«, in  : Music & Letters 47 (1967), S. 229–235. Außerdem existiert bekanntlich ein Klavierstück Debussys mit demselben Titel (3. Satz der Suite bergamasque, deren Titel wiederum auf eine Zeile des Gedichts, »Que vont charmantes masques et bergamasques«, anspielt). Eine Analyse der zweiten Vertonung gab jüngst Wendelin Bitzan, »Sur le mode mineur – ein Mondbild in Moll. Eine analytische Annäherung an Claude Debussys Verlaine-Lied ›Clair de lune‹«, in  : Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/2 (2012), S. 289–301. 51 Zu dieser Sammlung existieren zwei Versionen von 1888 und von 1903. Vgl. Kurt von Fischer, »Bemerkungen zu den zwei Ausgaben von Debussys ›Ariettes oubliées‹«, in  : Symbolae historiae musicae. Hellmut Federhofer zum 60. Geburtstag, Mainz 1971, S. 283–289  ; Marie Rolf, »Des Ariettes (1888) aux Ariettes oubliées (1903)«, in  : Cahiers Debussy 12/13 (1988/89), S. 29–47.

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Notenbeispiel 2: Debussy, »Clair de lune«, T. 9–12

ambivalent – simpel gesagt  : etwas Gutes entpuppt sich als etwas Schlechtes. Zusätzlich ist das Wort hier aber mit »nulle« verneint und von dem einleitenden »quoi« und dem abschließenden Fragezeichen wiederum in das irreale Licht einer erstaunten Frage gerückt. Dies gibt Debussy Anlass für die zweimalige unmittelbare Folge von B-Dur und b-Moll im Klavier, was ja in dieser Form ein recht seltener Kunstgriff ist (Notenbeispiel 3).52 Diese Beispiele zeigen sowohl die nach wie vor vorhandene Gültigkeit der Dur-MollSemantik bei Debussy als auch die Fallstricke bei ihrer Erklärung. Als vorläufiges Fazit mag festgehalten werden, dass in der Musik Debussys – und möglicherweise eines breiteren Umfelds – die Semantik des Dur-Moll-Kontrasts partiell fortbesteht. Sie erscheint freilich durch zweierlei modifiziert  : erstens die Strategie der Vermeidung tradierter Stilmittel (die allerdings keineswegs total ist) und zweitens den Zuwachs an kompositorischen Optionen (wie Modalität und Ganztonleiter). Dadurch tritt, so meine These, die

52 Auf der Tagung, die diesem Sammelband zugrunde liegt, wurde das berühmte Beispiel der Sechsten Symphonie von Gustav Mahler wohl nicht zufällig von vier Referenten erwähnt.

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Dur/Moll, Modalität und Gregorianik-Rezeption bei Debussy und anderen französischen Komponisten um 1900

Notenbeispiel 3: Debussy, »Il pleure dans mon cœur«, T. 46–49

Bedeutung der Dur-Moll-Semantik möglicherweise ein wenig in den Hintergrund. Von einem Verschwinden kann jedoch keineswegs die Rede sein.

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»Aus der Zweigeschlechtigkeit ist ein Übergeschlecht entstanden!«1 Zum musiktheoretischen Diskurs über Dur und Moll im Kontext der Erweiterung und Auflösung der Tonalität

In den Jahren 1932 und 1933 hielt Anton Webern zwei Vortragsreihen, denen er die Titel »Der Weg zur Komposition in 12 Tönen« und »Der Weg zur Neuen Musik« gegeben hatte.2 Webern, der in diesen Vorträgen die Entwicklung der europäischen Musikgeschichte seit der Renaissance bis in die Gegenwart skizzierte, konzentrierte sich dabei in den jeweiligen Schlusssitzungen auf die Wandlungen des Tonsystems. Resümierend stellte er fest  : »Seit Bach wird das Dur- vom Moll-Geschlecht unterschieden. Diesem Stadium sind die Kirchentonarten vorangegangen, also gewissermaßen siebenerlei Tonarten, von denen schließlich nur die zwei Tongeschlechter übriggeblieben sind. Aus denen ist etwas Übergeschlechtliches hervorgegangen  : unser neues Tonsystem von zwölf Tönen.«3 Webern zeichnete hier das Bild einer sukzessiven Reduktion der Anzahl der Tonsysteme  : Die ursprünglich sieben Tonarten – wie er auf die Zahl sieben kommt, wird nicht ausdrücklich begründet – wurden erst auf zwei und dann auf eine Tonart verringert. Der damit einhergehende Prozess der Nivellierung von Unterschieden der Tonarten wurde nach Webern durch die zunehmende Verwendung chromatischer, nicht dem jeweiligen Tonsystem zugehöriger Töne, in Gang gesetzt. Einen Mittelpunkt von Weberns Argumentation im Hinblick auf die Ursache für den zunehmenden Einsatz alterierter Töne bildet die Kadenz bzw. Klausel. Die Verwendung alterierter Töne in der Kadenz (sowohl im Penultima-Klang als auch im Schlussklang) habe die Charakteristika der Kirchentonarten zunehmend untergraben oder, wie Webern sagt  : »Die Akzidentien haben also der Welt der Kirchentonarten den Gnadenstoß gegeben, und es ist damit die Welt unserer Dur- und Mollgeschlechter herausgekommen«.4 1 Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik. Der Weg zur Komposition in 12 Tönen, hrsg. von Willi Reich, Wien 1960, S. 39 (Vortrag vom 3. April 1933). 2 »Der Weg zur Komposition in 12 Tönen« wurde von Januar bis März 1932, »Der Weg zur Neuen Musik« von Februar bis April 1933 gehalten. Beide Vortragsreihen bestanden aus je acht Sitzungen. Webern hat ab November 1934 bis zum Januar 1945 weitere Vortragsreihen, nun zum Thema »Ueber musikalische Formen«, abgehalten, deren Mitschriften aus den Jahren 1934–38 veröffentlich sind in  : Anton Webern, Über musikalische Formen, hrsg. von Neil Boynton, Mainz 2002. 3 Webern, Weg, S. 46 (Vortrag vom 15.1.1932). 4 Webern, Weg, S. 29 (Vortrag vom 27.3.1933).

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Der entscheidende Schritt geschah nach Webern in dem Moment, als sich der Einsatz alterierter Töne von seinem ursprünglichen Ort der Kadenz bzw. Klausel löste. Zunächst war die Erweiterung des Tonbereichs insofern unproblematisch gewesen, als sie die Tonart nicht gefährden konnte, da die Einbettung in einen Schlussabschnitt trotz tonartfremder Töne die Wahrung der Tonart garantierte. Der von Webern als Zersetzung charakterisierte Prozess5 musste erst da einsetzen, wo die Erweiterung auf andere Bereiche eines Stückes übergriff, sodass die ursprüngliche Funktion – Verdeutlichung und Ausschmückung des Schlusses – entfiel. Für das Dur-Moll-System wurde dieser Prozess nach Webern durch Bach eingeleitet und durch Schönberg gleichsam vollendet. Treibende Kraft war nach Webern dabei das Bestreben, durch Vereinheitlichung des Tonraums und des Tonsystems immer größeren Zusammenhang zu erzielen.6 Weberns Geschichtslogik und Argumentation ist einerseits symptomatisch, andererseits doch bemerkenswert. Symptomatisch ist sie, weil im Klima der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre ein historischer Prozess unterstellt wird, dem primär formale Ursachen zugrunde liegen  : Die Erweiterung des Tonvorrats sei zunächst aus dem Bedürfnis der Variation und Ausschmückung erwachsen, bis sich dieser Prozess gewissermaßen zur Tendenz des Materials unter dem Bestreben, das Maß der Fasslichkeit und des Zusammenhangs zu erhöhen, verselbständigt habe. Es bedurfte dann nur noch eines Vollstreckers der Geschichte. Nicht argumentiert wird hingegen mit Denkfiguren, die für die Zeit um 1910 zentral waren. Zum einen wird hier Kontinuität und Geschichtslogik unterstellt, wo zumindest Schönberg, wie etwa die Briefe an Ferruccio Busoni zeigen, eine radikale Abkehr von der Vergangenheit und einen Traditionsbruch im Sinn hatte.7 Zum andern bleibt die Verbindung mit der Ausweitung der Ausdrucksmöglichkeiten sowie mit einer Ästhetik, die nicht Schönheit und Form, sondern Wahrheit und 5 Vgl. Webern, Weg, S. 29 (Vortrag vom 27.3.1933). Der Begriff der Zersetzung ist zentral für Ernst Kurths Buch Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan (Bern 1920), in dem er u. a. im Zusammenhang mit dem ›intensiven Alterationsstil‹ gebraucht wird. Er findet sich auch bereits in Kurths Schrift Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, Bern 1913, vgl. den »Tonalitätszersetzung durch Zunahme latenter Akkordenergie« überschriebenen Anhang, S. 130ff. 6 Vgl. Webern, Weg, S. 33ff. (Vorträge vom 27.3., 3. und 10.4. 1933). 7 Vgl. hierzu Markus Böggemann, Gesichte und Geschichte. Arnold Schönbergs musikalischer Expresssionismus zwischen avantgardistischer Kunstprogrammatik und Historismusproblem, Wien 2007, insbesondere S.  92– 162. Wesentliches Dokument für die Forderung nach Abkehr von der Tradition sind die Briefe Schönbergs an Ferruccio Busoni vom August 1909, publiziert in  : Jutta Theurich, »Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Ferruccio Busoni 1903–1919 (1927)«, in  : Beiträge zur Musikwissenschaft 19 (1977), S. 163–211. So schreibt Schönberg an Busoni im oft zitierten Brief vom 24.8.1909 (zitiert nach ebd., S. 177)  : »Meine einzige Absicht ist  : keine Absicht zu haben  ! Keine formelle, keine architektonische, keine sonstige artistische (als etwa die Stimmung eines Gedichtes zu treffen), keine ästhetische – überhaupt keine  ; oder höchstens die  : dem Strom meiner unbewußten Empfindungen nichts Hemmendes in den Weg zu legen. Nichts da hinein geraten zu lassen, was durch die Intelligenz oder durch das Bewußtsein hervorgerufen ist.« Im Brief vom 2.8.1909 ist vor allem von »Befreiung« die Rede.

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Unmittelbarkeit ins Zentrum rückte, unerwähnt. Der musikalische Expressionismus und die Expressionslogik sind kaum Gegenstand von Weberns Deutung. Was Webern hier in der Rückschau als einen stringenten, über mehrere hundert Jahre ablaufenden Prozess beschrieb,8 stellt sich bei der Betrachtung zeitgenössischer Quellen zur Musiktheorie in einem etwas anderen Licht dar. Die Jahre zwischen etwa 1900 und 1914 lassen sich demnach vielleicht besser als eine Phase beschreiben, in der im Diskurs über Dur und Moll ehemals unhinterfragte Überzeugungen überdacht, neue Begründungen für bekannte Sachverhalte gesucht sowie neue Möglichkeiten der Organisation von Harmonik diskutiert und realisiert wurden – und zwar mit offenem Ausgang. Zweifellos waren hierfür eine wesentliche Ursache die kompositorischen (harmonischen) Entwicklungen der vorangehenden Jahrzehnte, auf die die Musiktheorie in irgendeiner Weise reagieren musste. Wenn man sich nicht als bloß propädeutische Disziplin verstehen wollte, musste man versuchen, die neuen Entwicklungen in die Darstellung zu integrieren. Daneben hatten auch die sich etablierenden Disziplinen der musikalischen Akustik (und Psychoakustik) sowie der Musikethnologie (neben den zunehmenden musikhistorischen Forschungen) einen Anteil an dem Aufkommen der Debatte um die DurMoll-Tonalität. Dabei konzentrierte sich der Diskurs im Wesentlichen auf drei Punkte  : – Erstens wurden angesichts der mehrfach diagnostizierten Tendenz zur Erstarrung des Systems Möglichkeiten erörtert, ihm durch seine Erweiterung neue Wirkungen oder Ausdrucksbereiche abzutrotzen. – Zweitens wurden Wege skizziert, wie durch andere Tonsysteme das dur-moll-tonale System gleichsam aufgebrochen, ergänzt oder ersetzt werden konnte. – Drittens blieb weiterhin die Frage nach der Natürlichkeit des dur-moll-tonalen Systems oder seiner Teilbereiche virulent  – eine Frage, die natürlich auch die anderen beiden Punkte berühren musste. Die Erörterung all dieser Fragen hatte einen vielschichtigen und offenen Diskurs zur Folge, der sich nicht allein auf musiktheoretischer Ebene bewegte, sondern auch grundsätzliche Fragen des Musikverstehens berührte – und es ist gerade die Vielfalt der Denkwege, die diese Phase auszeichnet. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf den Diskurs um Dur und Moll in der deutschen Musiktheorie zwischen ca. 1900 und 1914 geworfen werden. In den Blick genommen werden vor allem Harmonielehren und verwandte Schriften, da in ihnen am ehesten etwas über das Tonsystem, dessen Struktur, Herleitung sowie über die Ausdruckskonnotationen zu erwarten ist, zumal die Harmonielehre auch in dieser Zeit 8 Vgl. Webern, Weg, S. 29 (Vortrag vom 27.3.1933)  : »Das letzte Mal haben wir uns etwas von der niederländischen Schule angesehen – da ist ein weiter Weg bis heute  ! Sie werden aber sehen, daß sich das alles überraschend glatt aufrollt.«

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gleichsam als Königsdisziplin der Musiktheorie galt. Zudem gibt es gerade für den genannten Zeitraum eine reiche Produktion, wie die folgende Übersicht wichtiger publizierter Schriften zeigt  : – August Halm, Harmonielehre, Berlin 1900 (zahlreiche Folgeauflagen)  ; – Johannes Schreyer, Harmonielehre, Dresden 1905, umgearbeitet als Lehrbuch der Harmonie und der Elementarkomposition, Leipzig 1911  ; – Heinrich Schenker, Harmonielehre, Stuttgart 1906  ; – Rudolf Louis und Ludwig Thuille, Harmonielehre, München 1907 (zahlreiche Folgeauflagen)  ; – Georg Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, Leipzig 1908  ; – Eugen Schmitz, Harmonielehre als Theorie und Geschichte der musikalischen Harmonik, Kempten und München 1911  ; – Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 1911 (mehrere Folgeauflagen)  ; – Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, Bern 1913. Obwohl fast alle Bücher im Titel das Wort »Harmonielehre« führen, handelt es sich doch um eine recht heterogene Mischung unterschiedlicher Konzepte im Hinblick auf Lernziele, Didaktik, Reichweite und Bezug zur (zeitgenössischen) musikalischen Literatur. Auch der Umfang ist verschieden. Die Bücher von Halm und Schmitz sind schmale Bändchen, die knapp eine erste Einführung geben wollen, sodass vor allem elementares Wissen ausgebreitet wird und auf Exkurse eher spekulativer Art verzichtet wird. Dagegen sind insbesondere die Bücher von Schenker, Louis/Thuille und Schönberg mit 400 und mehr Seiten von einem Umfang, der auch ausführliche Erörterungen von Detailfragen zulässt. Entscheidender erweisen sich indes die Unterschiede im Hinblick auf die Didaktik wie den inhaltlichen Zugriff auf den Gegenstand  : Zum einen liegen solche Schriften vor, die man »pragmatische« Harmonielehren nennen könnte. In ihnen gibt es das klare Lernziel, den Schüler dazu zu befähigen, sowohl die Harmonik klassischer Werke zu analysieren als auch eigene Sätze (oder Liedharmonisierungen) zu schreiben. Alles andere, vor allem eine nicht diesem Ziel verpflichtende Reflektion über das Tonsystem, dessen Herleitung und mögliche Zukunft, wird diesem Lernziel untergeordnet. Zu dieser Gruppe gehören vor allem die Harmonielehren von Schreyer9 und Louis/Thuille, in Grenzen auch die von Halm und Schmitz. Das Buch von Schönberg nimmt eine Mittelstellung ein, weil in ihm Reflexion und Anleitung stark miteinander verflochten sind. Dagegen sind die Bücher von Schenker, Capellen und Kurth, die auf eine einheitliche 9 Zu den Hintergründen der Harmonielehre von Schreyer vgl. Felix Diergarten, »Riemann-Rezeption und Reformpädagogik. Der Musiktheoretiker Johannes Schreyer«, in  : Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 2/1 (2005), S. 163–170.

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»Aus der Zweigeschlechtigkeit ist ein Übergeschlecht entstanden!«

Theorie zielen, stärker beschreibend und erklärend angelegt, ohne jedoch den Stoff mit praktischen Übungen oder Anleitungen zu verbinden (Kurths Buch macht dies schon im Titel deutlich). Auch die Frage, ob eher das Verständnis älterer Musik oder aber eine Hinführung zur Komposition bzw. die Anleitung zur Harmonisierung von Liedmelodien das Lernziel darstellt, beantworten die Schriften unterschiedlich, ebenso die Integration von Literaturbeispielen.

1. Dur und Moll als Grundlage eines semantischen Potenzials

Die beiden am unmittelbaren Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Harmonielehren lassen von einer Krise der Dur-Moll-Tonalität noch kaum etwas ahnen. Das Schlusskapitel von Johannes Schreyers Harmonielehre beginnt mit der optimistischen Feststellung, dass die vermittelten Kenntnisse den Schüler dazu befähigen, »die Harmonik selbst sehr schwieriger moderner Kompositionen zu erklären«.10 Auch auf der Ebene der Ausdruckscharaktere bewegt sich Schreyers Buch auf traditionellem Terrain. Zwar geht es in seinem Buch in erster Linie um die technische Beherrschung etwa einer adäquaten Liedharmonisierung oder der harmonischen Analyse,11 doch werden den Abschnitten zur »Harmonisierung von Volksliedern« (als Teil von Kapitel V  : Der vierstimmige Satz) sowie zur »Harmonisierung von Volksweisen in Moll« (als Teil von Kapitel VI  : Die Molltonalität) auch Momente des Ausdrucks erwähnt. Die Qualifizierung von einstimmigen Dur-Melodien als »Lustig«, »Fröhlich«, »Schwungvoll« oder »Schelmisch« bedient dabei ebenso Klischees wie die von einstimmigen Moll-Melodien als »Betrübt« oder »Klagend«.12 Die Funktion dieser ohne weitere Erklärung hinzugefügten Attribute besteht darin, dem Schüler eine Vorstellung davon zu geben, wie er die ohne Dynamik und Phrasierung notierten Melodien im Hinblick auf ihren Charakter aufzufassen und dann entsprechend (harmonisch) zu ergänzen bzw. den vierstimmigen Satz (in seiner Lage, Rhythmik etc.) zu fassen hat. Dass auch andere Ausdruckscharaktere möglich sind, zeigen Beispiele in Dur, denen die Beischrift »Klagend« hinzugefügt ist, sowie Beispiele in Moll, die mit »Heiter« oder »Scherzend« überschrieben sind.13 So ist die folgende Dur-Melodie mit der Überschrift »Klagend« versehen, was u. a. auf die Seufzermelodik in den Takten 9–12, auf die emphatischen Oktavsprünge in Takt 6 und 14 sowie die Kontur der Melodie insgesamt zurückzuführen sein dürfte, die stets nach einem nach oben führenden melodischen Verlauf in den Grundton zurücksinkt. 10 Johannes Schreyer, Harmonielehre, Dresden 1905, S. 189. 11 Im knappen Vorwort wird mit Bezug auf Hugo Riemann die Analyse als entscheidender Schritt hin zur Elementarkomposition herausgestellt, da sie »Ausbildung des Stilgefühls« mit »Satztechnik« verbinde (Johannes Schreyer, Lehrbuch der Harmonie und der Elementarkomposition, Leipzig 1911, S. IV). 12 Schreyer, Lehrbuch der Harmonie, S. 80f. und 88. 13 Ebd., S. 87, 89 und 99.

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Notenbeispiel 1: Schreyer, Lehrbuch der Harmonie, S. 87

Bei dem mit »Scherzend« überschriebenen Beispiel in Moll dürften in erster Linie der Rhythmus und die repetierten Achtel für die Zuschreibung des Charakters verantwortlich sein.

Notenbeispiel 2: Schreyer, Lehrbuch der Harmonie, S. 99

Im Diskurs um Dur und Moll repräsentiert Schreyers Harmonielehre vielleicht so etwas wie eine musikalische Alltagssprache. Trotz mancher Gegenbeispiele sind die Ausdrucksbereiche klar geschieden, und es muss ein besonderer Rhythmus, eine im Hinblick auf ihre Länge oder interne Formung besonders gestaltete Taktgruppe etc. hinzukommen, um den üblichen Ausdrucksbereich zu verändern oder gar in sein Gegenteil zu verkehren. Von einer Vorstellung, dass Dur und Moll nicht hinreichend seien, um ein semantisches Potential zu entfalten, ist nirgends die Rede. Interessanterweise gehört Schreyers Harmonielehre zu den wenigen Schriften, in denen überhaupt von Ausdrucksqualitäten im Zusammenhang mit Dur und Moll die Rede ist. Mit einer entscheidenden Erweiterung ist dies an prominenter Stelle sonst nur noch in der Harmonielehre August Halms der Fall. Zwar sind bei ihm Dur und Moll noch in grundsätzlicher Hinsicht sowohl im Hinblick auf ihre Herleitung wie ihren Charakter voneinander geschieden, doch erweisen sich andere Merkmale oder Parameter für die Frage nach besonderen Ausdrucksqualitäten als wesentlicher. Für Halm ist Dur und Moll zwar ein Gegensatz, aber kein Elementargegensatz mehr. Halm hält am Dualismus Riemannscher Prägung fest, leugnet jedoch praktische Auswirkungen auf das Komponieren. Demnach lässt sich nur die Durtonleiter (bzw. genauer  : der Durdreiklang) aus der Obertonreihe herleiten, während der Mollakkord als der »verkehrte Dreiklang« bezeichnet wird, der »eine gleichartige (nur verkehrte) Bildung [darstelle], welche dem dur-Dreiklang entspricht und dessen Gegenbild« sei.14 Die Konsequenzen, dass der Grundton in Moll der Quintton bei Terzschichtung sei und auch 14 August Halm, Harmonielehre, Leipzig 21905, S. 74f.

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die Kadenzfolge zu I-V-IV-I umgedreht werden müsse,15 werden zwar erwähnt, aber für nicht relevant erachtet. Vielmehr komme es sowohl bei der Bestimmung des Grundtons als auch bei der Kadenz zu einer Imitation des Dur in Moll.16 Die Systematik, so könnte man sagen, ordnet sich der musikalischen Wirklichkeit unter. Eines habe diese Herleitung aus einer imaginären Untertonreihe aber doch zur Folge – und dies ist die einzige Stelle, an der Halm den Ausdruckscharakter (hier von Moll) mit der besonderen Struktur verknüpft, wobei er auf ähnliche Überlegungen Moritz Hauptmanns zurückgreift  :17 Der Widerspruch zur Obertonreihe mit »oberem Grundton […] begründet wohl den weicheren, weniger energischen Charakter des moll gegenüber dem dur. Es ist aber diese Wirkung auch das einzige, was uns von dieser verkehrten Struktur zum Bewußtsein kommt.«18 Bei Halm wird nicht der Gegensatz von Dur und Moll, sondern der von Konsonanz und Dissonanz sowie von Diatonik und Chromatik als entscheidende Größe alles harmonischen Gestaltens angesehen  : »Die Musik ist ihrem Wesen nach Dissonanz, nämlich Leben und Bewegung, freilich Bewegung, die zur Ruhe führt, nicht aber das Verharren in der Ruhe  !«19 Auf dieser Ebene betrachtet er nun auch die historische Entwicklung der Kunst als immer stärkere Einbeziehung der Dissonanzen, was er weniger mit einer Tendenz des Materials als hörpsychologisch und somit mit der Vorstellung der Abnutzung von kompositorischen Mitteln erklärt  : Die »ursprünglichen feineren Dissonanzen« wollten nicht mehr genügen, so dass sie »immer weniger zur Empfindung kommend, durch robustere ersetzt werden mußten, wie man andererseits auch mit wachsendem Verständnis für dieses Wesen der Musik mehr und mehr ertragen, ja genießen lernte, was 15 Ebd., S. 76ff., S. XIV. 16 Vgl. ebd., S. 76. 17 Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik und der Metrik zur Theorie der Musik, Leipzig 1853, S. 35  : »In dieser passiven Natur und indem der Molldreiklang, zwar nicht seinen realen, aber seinen zur Einheit bestimmten Ausgangspunkt in der Höhe hat und sich an diesem nach der Tiefe bildet, ist in ihm nicht aufwärts treibende Kraft, sondern herabziehende S c h w e r e , A b h ä n g i g k e i t , im wörtlichen wie im figürlichen Sinne des Ausdruckes ausgesprochen. Wie in den sinkenden Zweigen der Trauerweide, gegen den strebenden Lebensbaum, finden wir darum auch im Mollaccorde den Ausdruck der Tr a u e r wieder.« 18 Halm, Harmonielehre, S. 75. 19 Ebd., S. 14. Später schreibt Halm, Musik verhalte sich hier analog zum Leben  : »Ein Leben ohne Streit, ohne Dissonanz gibt es nicht« (S. 53). Ernst Kurth hat diese Idee aufgegriffen und in modifizierter und deutlich erweiterter Form zum Ausgangspunkt seines Konzepts der Energetik gemacht. Bereits in seiner ersten Schrift (Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, Bern 1913) wird Dissonanz in neuer Weise als »musikpsychologischer Dissonanzbegriff« (S. 70) gefasst, als dessen wesentliche Form der Leitton gilt, da er »in sich dissonant« sei (S. 71). Später wird »als Resultat unseres entwickelteren musikalischen Gefühls« der »grosse[n] Terz Dissonanzenergie« zugesprochen (S. 121). Zur Beziehung von August Halm und Ernst Kurth vgl. Luitgard Schader, »›Alle Welt erkennt bereits unsere Zusammengehörigkeit‹. Die Briefe von Ernst Kurth an August Halm«, in  : Musiktheorie 13 (1998), S. 3–30. Beide weisen zudem in ihren Schriften immer wieder auf die Bücher des jeweils anderen hin.

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früher abstoßend erschien – das ist im großen der Gesichtspunkt, unter dem die ganze Entwicklung unserer Kunst nach der harmonisch-theoretischen Seite betrachtet sein will«.20 Und so kann Halm etwa über den »alten Konsonanzenstil«, in dem nur Dreiklänge vorkommen, schreiben  : »Wir haben das Gefühl des Fremdartigen, das sich je nach der Darstellungsweise verschieden modifizieren kann  : sei es in den Eindruck des Energischen, Elementaren, des Ungegliederten und Willkürlichen  : des Lapidarstils  ; sei es in die Schauer vor dem Erhabenen, Feierlichen  : welche unbeschreibliche Weihe breitet sich über den heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit  ! […] – ja, mit großer Wucht vorgetragen, können uns Folgen von Dreiklängen als furchtbar und gräßlich erscheinen und geradezu Schrecken einflößen. So ändert sich eben das Gehör  !«21

Für Halm sind die Wirkungen ein und desselben Tonsatzes also in mehrfacher Hinsicht kontextabhängig. Zum einen können sie je nach Darstellungsweise, also Tempo, Instrumentation, Dynamik, Phrasierung etc. ganz unterschiedlich ausfallen. Zum anderen sind sie insofern (historisch) relativ, als sie erst im Verhältnis zur harmonischen Umgebung und zur zeitgenössischen Musiksprache ihre spezifische Qualität erlangen. Die Idee, dass nach und nach immer »robustere« Dissonanzen verwendet wurden, ähnelt Schönbergs Geschichtsauffassung, dass immer entlegenere Töne der Obertonreihe (und damit immer mehr Dissonanzen) Eingang in das Komponieren fanden.22 Allerdings zieht Halm daraus keine geschichtsphilosophischen Konsequenzen  : Er lässt ausdrücklich archaisierende Momente zu, hält also auch den Einsatz von Schreibweisen der Vergangenheit für legitim, da sie ja angesichts veränderter Kontexte zu neuen Wirkungen führen. Zudem zögert er, einfach einen linearen Zuwachs an immer neuen Dissonanzen für die Zukunft als gleichsam unausweichlich anzuerkennen  : »Die erklingende Dissonanz ist nur die Konsequenz ihrer innerlichen Unruhe  ! Wie weit man in dieser Konsequenz gehen darf, wo die Grenze der erlaubten Dissonanz ist, das zu entscheiden wird nie dem Theoretiker gelingen, sondern ist dem Geschmack und ästhetischen Gewissen des Komponisten anheimzustellen  : diese aber wechseln mit der Zeit.«23 20 Halm, Harmonielehre, S. 14. 21 Ebd., S. 57f. 22 Vgl. Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien 71966, S. 16ff. Die Obertonreihe wird auch bei Henry Cowell in seiner Schrift New Musical Ressources, die 1930 erschien, aber zum größten Teil wohl bereits Ende der 1910er-Jahre im Manuskript vorlag, zur Begründung (und Legitimierung) neuer harmonischer Phänomene herangezogen. Hier wird der Cluster als Akkord bezeichnet, »built from major and minor seconds, which in turn may be derived from the upper reaches of the overtone series« (Henry Cowell, New Musical Resources, Cambridge 1996, S. 117). Daher haben nach Cowell Cluster auch Grundtöne. 23 Halm, Harmonielehre, S. 53.

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Noch an zwei weiteren Stellen thematisiert Halm das Verhältnis von musikalischem Ausdruck und harmonischer Struktur. Zum einen äußert er sich hierüber in einem Exkurs über »Beispiele schönster Sequenzwirkungen«24 bei Robert Schumann und Carl Loewe. Zum anderen bespricht er übermäßige Dreiklänge (bei Hugo Wolf), deren Struktur er mit den Wirkungen zu verknüpfen sucht  : Der große »Zwang zur Fortführung« bei gleichzeitigem hohen Maß an Unbestimmtheit, diese »eigentlich sich widersprechenden Eigenschaften geben ihm den Charakter schmerzlicher Spannung ohne Energie  : des Gedrückten«.25 Und die »Häufung der übermäßigen Dreiklänge« in Hugo Wolfs MörikeVertonung Früh wann die Hähne krähn »ruft hier die Stimmung dumpfen Brütens, eines quälenden Träumens hervor«.26 Alle diese Beispiele zeigen, dass zwar Ausdrucksqualitäten durchaus angesprochen werden, dass von ihnen aber vor allem dann die Rede ist, wenn sie sich auf einen ungewöhnlichen Gebrauch von Momenten des Tonsatzes erstrecken, also bestimmte Akkordtypen und ältere bzw. andere Akkordverbindungsprinzipien hervorkehren. Dur und Moll sind zwar wesentliche Grundlagen eines semantischen Potenzials, sie scheinen aber nicht mehr zu genügen, wenn besondere Wirkungen hervorgebracht werden sollen. Diese Prämisse ist von vielen Theoretikern geteilt worden (wenn auch nicht von allen). Unterschiedlich blieb die Antwort auf die Frage, welche harmonischen Mittel denn für diese außergewöhnlichen Wirkungen heranzuziehen seien. Ein Autor, der dem Konzept Halms, dass besondere Ausdruckscharaktere primär durch Dissonanzen oder besondere Akkorde hervorgebracht werden, widersprochen hat, ist Heinrich Schenker, der in seiner Harmonielehre ein in seinen Grundzügen deutlich abweichendes Konzept vertritt. Auch bei ihm ist von Wirkungen die Rede, doch verknüpft er diese mit der Position von Akkorden innerhalb der Tonart bzw. den Stufen. Schenker geht davon aus, dass ein Ton gleichsam biologisch ein Eigenleben oder einen Trieb entfaltet, nämlich sich als Grundton durchsetzen zu wollen.27 Übertragen auf Akkorde resp. Dreiklänge wird dieser Trieb als Tonikalisierung oder gar Tonikasucht bezeichnet. Die Wirkung einer Stelle entsteht nach Schenker nun durch die Art und Weise, wie sich ein Akkord letztlich als Tonika durchsetzt bzw. sich als eine bestimmte Stufe im System herausstellt. Dabei wird u. a. mit zwei Kategorien operiert  : Zum einen arbeitet Schenker mit der Kategorie des Stufengangs, dem eine natürliche Progression unterstellt wird (Quintschritte), so dass die Grade der Abweichung bzw. des Mischungsverhältnisses von natürlichen und künstlichen Schritten jeweils unterschiedliche musikalische Wirkungen hervorbringen. Zum anderen wird mehrfach der Terminus »Befrie-

24 Ebd., S. 68. 25 Ebd., S. 81. 26 Ebd. 27 Vgl. Heinrich Schenker, Harmonielehre [1906], Wien 1978, S. VI und 333.

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digung« verwendet,28 der u. a. in »relative Befriedigung«, »vorläufige Befriedigung« oder »endgültige Befriedigung« differenziert wird. Der Begriff bezieht sich im Wesentlichen auf den motivisch-harmonischen Inhalt einer Passage oder auf die formale Position (Schluss, Kadenz). Damit wird klar, dass Dur und Moll zumindest keine wesentlichen Kategorien mehr für dasjenige sind, was Schenker als entscheidend für die Wirkung eines Abschnitts begreift. Schenker arbeitet nicht mit konkreten inhaltlichen, sondern mit formalen Kategorien wie Ruhe/Bewegung, Erwartung (aufgrund von natürlichen Progressionen) und Enttäuschung dieser Erwartung oder mit der Regelmäßigkeit, Unregelmäßigkeit sowie Vollständigkeit versus Unvollständigkeit der syntaktischen Gliederung und harmonischen Bewegung. Das schließt nicht aus, dass auch inhaltlich spezifisch gefasste Ausdrucksqualitäten für Schenker bei der Betrachtung tonaler Systeme oder harmonischer Prozesse von Belang sind. Aber sie fallen für ihn entweder nicht in das Gebiet der Musiktheorie (sondern das der Ästhetik) oder aber sind den von ihm genannten Punkten untergeordnet. Gemeinsam ist den Harmonielehren Halms und Schenkers, dass das Dur-Moll-System als intakt betrachtet wird, wenngleich Dur und Moll (oder deren Gegensatz) selbst nicht mehr als Ausdrucksmittel thematisiert werden.

2. Erweiterung von Dur und Moll als Mittel der Ausdrucksdifferenzierung

Dass die Diskussionen über Ausdrucksqualitäten weniger mit dem grundsätzlichen Gegensatz von Dur und Moll verbunden als im Hinblick auf den spezifischen Gebrauch innerhalb des Tonsystems geführt wurden, belegen auch die Schriften von Louis/Thuille und Capellen. Die Harmonielehre von Robert Louis und Ludwig Thuille, wohl im Wesentlichen von Letzterem verfasst, hat rasch nach ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1907 eine Vielzahl von Folgeauflagen erlebt und gehört sicher zu denjenigen Lehrbüchern ihrer Zeit, die den Stoff am differenziertesten ausbreiten und auch die neuesten Entwicklungen der Musik bis hin zu Richard Strauss und Hans Pfitzner berücksichtigten.29 Das durmoll-tonale System erscheint in diesem Buch in mehreren Varianten und Brechungen  : als reines Dur, als Molldur (mit der Mollsubdominante im Kontext einer Durtonart30), 28 Vgl. ebd., S. 283ff. 29 Im programmatischen Vorwort zur 1. Auflage werden zwei Aspekte besonders betont  : die »praktisch-theoretische« Ausrichtung des Lehrbuchs als Verbindung von wissenschaftlicher Betrachtung und handwerklicher Technik sowie der »streng empirische Standpunct« (Rudolf Louis und Ludwig Thuille, Harmonielehre, Stuttgart, 21908, S. Vf.). Daraus folgt für die beiden Autoren  : »Die unmittelbaren Aussagen des wirklichen musikalischen Empfindens und Auffassens liefern das Tatsachenmaterial, dessen vollständigste und einfachste zusammenfasende Beschreibung […] die eigentliche Hauptaufgabe der theoretischen Harmonielehre ist.« Die Deutung und Erklärung der technischen Sachverhalte genießen daher Vorrang vor der Erörterung der Ausdrucksbereiche, die nur am Rande berührt werden. 30 Die weitere systematische Untergliederung von Dur und Moll findet sich auch bei anderen Autoren dieser

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als reines Moll, als Durmoll (mit der Durdominante im Kontext einer Molltonart) sowie als dorisches Moll (mit Dursubdominante und Durdominante).31 Die aus der Integration von Doppelstufen (insbesondere des sechsten Tons der Tonleiter) erwachsene Differenzierung wird unmittelbar mit der Stimmführung dieser Töne verbunden. Je nachdem, ob der sechste Ton der Tonart melodisch aufwärts oder abwärts geführt wird (bzw. werden will), muss er – in der Regel – die große oder die kleine Sexte sein, dasselbe gilt in Moll für den siebten Ton. Die Alteration der Töne könne nach Louis/Thuille dazu dienen, sowohl die Wirkung einer Stelle im Hinblick auf die Form deutlicher zu machen, als auch besondere Ausdrucksqualitäten hervorbringen  : So könne durch die Verwendung von Molldur etwa der Plagalschluss (IV-I) und der Halbschluss (IV-V) »ungleich entschiedener cadenzierend wirken als in Dur«.32 Und werde von der eigentlich innerhalb der Tonart erwartbaren Stimmführung abgewichen, so könnten sich eigentümliche Wirkungen entfalten. Dies machen die Autoren in dem Kapitel zur Erweiterung des Tonartbegriffs klar, wenn sie  – freilich nur im Kleingedruckten  – über Fortschreitungen schreiben, die entgegen den mit der Alteration eigentlich zu erwartenden Schritten vorgenommen werden  : »Wenn dagegen […] eine Fortschreitung von A c c o r d n o t e zu A c c o r d n o t e im Widerspruch mit jenen Regeln erfolgt, so wird damit immer, streng genommen, das Tongeschlecht, das wir Neueren als Moll anzusehen uns gewöhnt haben, verlassen. Jeder derartige Schritt ›choquiert‹ unser modernes Mollgefühl, wir empfinden ihn als etwas Unnatürliches, Gezwungenes […]. Gerade dieser im modernen Sinne mollwidrige Eindruck kann nun aber sehr wohl einen ganz besonderen Reiz ausüben, sei es dass wir solchen Schritten bei älteren Meistern begegnen […], sei es dass neuere Componisten archaisierende oder exotische Wirkungen mit ihnen anstreben. Immer aber wird das Eigentümliche solcher Wirkungen darin liegen, dass sie uns bis zu einem gewissen Grade ›wider den Strich‹ gehen, dass sie dem, was wir erwarten und als natürlich empfinden, widersprechen.«33

Die Auffassung, dass die Abweichung von dem üblichen Gebrauch von Dur und Moll eine besondere Wirkung hervorbringt und diese bei Beschränkung allein auf diatoniZeit. So bezeichnet etwa Nikolai Rimsky-Korsakov die Durtonart mit kleiner Sexte als »Künstliche harmonische Durtonart«, vgl. ders., Praktisches Lehrbuch der Harmonie, deutsch von Hans Schmidt, Leipzig 21913, S. 6. 31 Vgl. die Übersicht in Louis/Thuille, Harmonielehre, S. 203. Die Bezeichnung dorisches Moll für diejenige Leiter, die heute meist melodisches Moll genannt wird, erscheint etwas irreführend. Offensichtlich war für Louis/Thuille Bestandteil von Dur und Moll stets der Leitton, so dass der Zusatz »dorisch« sich nur auf den sechsten Ton der Skala bezieht. Die Existenz des Leittons (zumindest bei aufwärts geführter Bewegung) erscheint somit als ein wesentlicher Unterschied gegenüber den Kirchentonarten, die bei Louis/Thuille in einem Anhang abgehandelt werden (vgl. unten in Abschnitt 3.1). 32 Louis/Thuille, Harmonielehre, S. 146. 33 Ebd., S. 138.

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sche Akkorde u. a. eine archaisierende Wirkung hervorruft, entspricht exakt derjenigen von Halm. Abweichend ist allerdings die Begründung  : Während bei Halm der Verzicht auf die Dissonanzen hierfür verantwortlich ist, also eine Folge von Dreiklängen vorausgesetzt wird, ist bei Louis/Thuille die Stimmführung das entscheidende Moment. Aus diesem Grund lassen sich bei letzteren die beschriebenen Wirkungen auch mit Septakkorden erzielen. Während Louis/Thuille das Verhältnis von Tonart und Stimmführung ins Zentrum rücken, konzentriert sich Capellen bei der Bestimmung von Ausdrucksgehalten auf den zweiten bei Halm genannten Aspekt, nämlich den von Diatonik und Chromatik. In seiner Fortschrittlichen Harmonie- und Melodielehre handelt Capellen die Frage nach den Wirkungen u. a. unter der Überschrift »Effekt der Tonbeziehungen« in einem Kapitel ab, das »Tonalität und Verwandtschaft« überschrieben ist.34 Dabei wird zwischen »Effekt der Diatonik« und »Effekt der Chromatik und Enharmonik« unterschieden.35 Vorausgesetzt wird ein System der Verwandtschaft von Akkorden, das nach Arten (diatonisch, chromatisch, enharmonisch) sowie nach Graden differenziert wird. Bei Verwandtschaftsgraden wird zwischen Nahverwandtschaft (zwei »Ruhetöne« oder ein »Ruheton« und ein »Leitton«), Leitverwandtschaft (kein Ton bleibt liegen, zwei »Leittöne«) und Fernverwandtschaft (ein »Ruheton« oder ein »Leitton«) unterschieden.36 Im Folgenden werden Ausdrucksgehalte jeweils den Arten und Verwandtschaftsgraden zugeordnet. So wird etwa der diatonischen »Fernverwandtschaft [der] Ausdruck der Energie oder des Trotzes, der Askese oder des religiös-Weihevollen (Palestrinastil)« zugeschrieben.37 Dagegen ist die Chromatik als »überraschender, blendender […] Stimmungswechsel« gefasst,38 der durch Querständigkeit noch gesteigert werden könne, dann aber vor allem mit Blick auf Wagner bei chromatisch aufsteigenden Folgen als »Aufschwung, Spannung und Steigerung«, bei absteigenden Folgen als »Erschlaffung, unbefriedigte Sehnsucht, Resignation oder Trauer« interpretiert wird.39 Illustriert werden diese Aussagen mit Beispielen aus Tristan und Isolde sowie eigenen Tonsätzen Capellens. 34 Vgl. Georg Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, Leipzig 1908, S.  88–95. Zu Capellens Verwandtschaftsbegriff vgl. ausführlicher Ludwig Holtmeier, »Die Erfindung der romantischen Harmonik. Ernst Kurth und Georg Capellen«, in  : Zwischen Komposition und Hermeneutik. Festschrift für Harmut Fladt, hrsg. von Ariane Jeßulat u. a., Würzburg 2005, S. 114–128. 35 Ebd., S. 90. 36 Mit dieser Systematik wendet sich Capellen gegen eine bloße Betrachtung der Fundamentschritte zwischen den Akkorden, die er als unzureichend erachtet  ; vgl. Georg Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, Leipzig 1908, S. 92f.: »Man hätte daran [an Wagners Musikdramen] längst erkennen sollen, daß die Feststellung der Grundtonabstände zur Erklärung der Wirkung der Klangfolgen nicht ausreicht, sondern daß der Effekt wesentlich in der Art der Tonbeziehungen (Diatonisch, Chromatisch und Enharmonik) begründet ist.« 37 Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, S. 90. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 92.

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Notenbeispiel 3: Beispiele für Passagen mit steigenden und fallenden chromatischen Tönen (die Capellen zur Illustration seiner These vom »Effekt der Chromatik und Enharmonik« heranzieht in: Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, Leipzig 1908, S. 91f.)

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Nach Capellen kann neben den Verwandtschaftsgraden und der Differenzierung nach Diatonik, Chromatik und Enharmonik auch die Akkordgestalt selbst für die Wirkung verantwortlich sein. Hier unterscheidet Capellen nun auch zwischen Dur und Moll. Aus der Obertonreihe leitet er die sogenannten Naturharmonien ab, die für ihn nicht nur der Durakkord, sondern auch der Durakkord mit kleiner Septime sowie der Durakkord mit kleiner Septime und großer None sind. Diese Akkorde übertreffen »an Einfachheit und Wohllaut alle anderen Akkorde«.40 Herleitung, Struktur und Wirkung sind somit unmittelbar aufeinander bezogen. Das lässt sich auch an der Bestimmung des Durakkords mit kleiner Septime und großer None ablesen, der nach Capellen eine Doppelnatur besitzt. Bildet man den Akkord etwa über C, so erhält man c-e-g-b-d, nach Capellen eine Überlagerung zweier Akkorde  : C-Dur und g-Moll. Dies zeige sich nun auch unmittelbar in der Wirkung  : »Die eigentümlich träumerische-sehnsüchtige Wirkung der in den Mittelstimmen erklingenden None scheint ihren Grund in der Doppelnatur des Akkordes und in der Häufung weicher Sekundintervalle zu haben«.41 Der Molldreiklang wird bei Capellen nicht durch eine Untertonreihe oder allgemeiner ein Analogieprinzip, sondern aus der Überlagerung zweier Durakkorde, im Fall von aMoll der Akkorde A-Dur (a-cis-e) und C-Dur (c-e-g) hergeleitet. Aus dieser Herleitung zieht Capellen den Schluss, dass aus dem Herunterstimmen des cis zu c (durch den CDur-Akkord) die Wirkung »herabziehende[r] Schwere« entstehe.42 Ein Mollakkord besitzt nach Capellen somit immer eine sogenannte »Doppelnatur«, welche noch dadurch gleichsam potenziert wird, dass mehrere Herleitungsstrategien möglich sind  : Neben der hauptsächlichen Deutung von a-Moll, entstanden aus der Überlagerung von A-Dur und C-Dur, lässt Capellen auch noch weitere Möglichkeiten zu  : als Kombination von F-Dur und A-Dur sowie von D-Dur-Septnonakkord und A-Dur.43 Aus der Mehrdeutigkeit des Molldreiklangs wird der Schluss gezogen, dass »eine einheitliche Molltonität unmöglich sein« müsse.44 Die Verbindung mehrerer Herleitungsstränge führt bei Capellen zu einer fast chromatischen Skala als Grundlage des Moll, aus der fallweise verschiedene Skalen ausgewählt werden können. Damit lässt Moll eine Fülle von Ausprägungen zu, die auch auf der Ebene des Ausdrucks ein hohes Maß an Differenzierung erlauben, ohne dass Capellen allerdings konkrete Hinweise auf mögliche Wirkungen in Abhängigkeit von einer konkreten Herleitung gibt.

40 Ebd., S. 6. 41 Ebd., S. 37. 42 Ebd., S. 62. 43 Vgl. ebd., S. 58f. 44 Ebd., S. 75.

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3. Alternativen zur Dur-Moll-Tonalität 3.1. Kirchentonarten und »Exotik«

Im Rahmen der Überlegungen, dass erst ein ungewöhnlicher Gebrauch des Dur-MollSystems besondere Wirkungen hervorzubringen vermag und dass ferner die weitere Differenzierung des Systems auch zur Differenzierung der Ausdrucksmöglichkeiten führt, sind auch immer wieder Alternativen zum Dur-Moll-System ins Spiel gebracht worden. Die Grenzen zwischen Erweiterung (innerhalb des Systems) und neuem System verliefen dabei bisweilen fließend. Das betrifft insbesondere die Teilbereiche Kirchentonarten und »exotische« Leitern, die teils als Varianten von Dur und Moll, teils als eigenständige Systeme eingeführt wurden. Die Frage, ob die Kirchentonarten überhaupt noch (oder wieder) als Mittel des harmonischen Gestaltens ihren Platz im zeitgenössischen Komponieren beanspruchen könnten, hing dabei von zwei Prämissen ab  : erstens, ob man sie als historisch überwunden betrachtete, und zweitens, ob man sie als unnatürlich qualifizierte. Dezidiert negative Antworten auf die Möglichkeit der weiteren Verwendung finden sich bei Schönberg und Schenker. Schönberg, der die Kirchentonarten kurz am Beginn des Kapitels zur Molltonart streift, bemühte zunächst eine Naturmetapher, indem er den »Verfall der Kirchentonarten« als »notwendige[n] Fäulnisprozeß [interpretierte], aus dem das neue Leben der Dur- und Molltonarten sprießt.«45 Diese Metapher ist mit einer doppelten und im Zusammenhang mit Schönberg oft hervorgehobenen Idee verbunden  : dass es kein natürliches System gebe, sondern nur eine Entwicklung, die zur Einbeziehung immer fernerer Obertöne tendiere, und dass »bei jedem Fortschrift auf einer Seite etwas verloren gehen muß, wenn auf der andern gewonnen werden soll.«46 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass den Kirchentonarten keine Bedeutung mehr für das aktuelle Komponieren zukomme. Bei Schenker, dessen 1906 zunächst anonym erschienene Harmonielehre sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, eine »Brücke […] von der Komposition zur Theorie« zu schlagen,47 was sich u. a. in der Untergliederung in einen theoretischen und einen praktischen Teil niederschlägt, wird wie auch bei Schönberg Dur als das natürliche System, Moll hingegen als das künstliche angenommen. Natur und Geschichte sind dabei 45 Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien 71966, S. 112. 46 Ebd., S. 111. Ähnlich hat Schönberg bereits im Brief an Ferruccio Busoni argumentiert, als ihm von letzterem im Hinblick auf das zweite der Klavierstücke op. 11 vorgeworfen wurde, das »›Asketische‹ des Claviersatzes […  sei] ein unnützer Verzicht auf schon Errungenes« und er setze »einen Werth anstelle eines früheren anstatt den neuen mit diesem zu addieren« (Brief vom 20.8.1909, Theurich, Briefwechsel, S. 172). Dem hielt Schönberg entgegen  : »Die kontrapunktische Kunst Bachs ist verloren, wenn Beethovens melodische Homophonie beginnt. Die Formenkunst Beethovens wird verlassen, wenn Wagners Ausdrucks-Kunst beginnt« (Brief vom 24.8.1909, ebd., S. 174). 47 Heinrich Schenker, Harmonielehre [1906], Wien 1978, S. V.

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auch bei Schenker eng aufeinander bezogen, wenngleich in einer von Schönberg abweichenden Weise. Das Verschwinden der Kirchentonarten zugunsten von Dur und Moll wird zunächst systematisch begründet, da nur Dur und das natürliche Moll insofern eine stringente Ordnung aufweisen, als hier die Stufen I, IV, V entweder sämtlich Dur- oder Mollakkorde sind (in der dorischen Tonart hingegen sind I und V ein Molldreiklang, IV hingegen ein Durdreiklang). Für den musikhistorischen Prozess wird dann behauptet, dass »Systeme und Theorien, die man bloß willkürlich oder aus irgend einem Mißverständnis historischer Natur auf dem Papier konstruiert, sich bald selbst ad absurdum führen, und zwar durch die praktischen Experimente der Künstler«.48 Schenker führt das Verschwinden der Kirchentonarten daher auf die »geheimen Weisungen der Natur« zurück, zumal »mit Dur und Moll allein (diese freilich richtig verstanden) sich sogenannte dorische und mixolydische Reize erreichen lassen, wozu dann die Last noch mehrerer und selbständiger Systeme  ?«49 Der letzte Satz deutet an, dass die Verwendung von gleichsam kirchentonalen Elementen noch möglich sei, dieser wird aber Systemcharakter abgesprochen.50 Im Unterschied zu Schönberg und Schenker haben Louis/Thuille gleichsam aus der Not eine Tugend gemacht. Denn die Tatsache, dass den Kirchentonarten eine von der Dur-Moll-Tonalität abweichende Struktur eigen ist, haben sie zum Anlass genommen, genau dieses Moment der Abweichung produktiv umzumünzen. In einem Anhang »Über Kirchentonarten und Exotik«51 wird die These vertreten, dass die Kirchentonarten gerade durch die Abweichung vom herkömmlichen Dur und Moll besondere Wirkungen erzielen können  : »So trägt die Harmonik der Kirchentonarten einen eigentümlich schwankenden und für unser Gefühl unbestimmten Charakter. Das Vermeiden aller cadenzierenden Schritte ausser am Schluss hat für uns, denen eigentlich jeder selbständige Accordwechsel in gewissem Sinne einen Cadenzschritt bedeutet, etwas seltsam Unbefriedigendes, das aber freilich, wenn es einem nur erst einigermassen vertraut geworden ist, auch einen ganz ausserordentlichen Reiz und Zauber auszuüben vermag.«52 48 Ebd., S. 75. 49 Ebd., S. 97. 50 Schenker analysiert in diesem Abschnitt ausführlich den langsamen Satz von Beethovens Quartett a-Moll op. 132 (S. 77–84) sowie Brahms’ Motette »Vergangen ist mir Glück und Heil« op. 62/7 (S. 85–88). Für beide Werke kommt er zu dem Schluss, dass zwar kirchentonales Denken eine Grundlage des jeweiligen Stils bildet (lydisch bei Beethoven, dorisch bei Brahms), dass aber die Kirchentonarten sich gegen den Eindruck von Dur und Moll nicht durchzusetzen vermögen. 51 Vgl. Louis/Thuille, Harmonielehre, S. 384–398. Das Kapitel ist der dritte von insgesamt drei Anhängen. Die anderen beiden sind »Literaturbeispiele zur Chromatik und Enharmonik« sowie »Zum Parallelenverbot« überschrieben. 52 Ebd., S. 393.

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Entscheidend ist für die Autoren also nicht so sehr die unterschiedliche Struktur jeder einzelnen Kirchentonart als vielmehr die modale Harmonik, die sich in erster Linie über melodische Bewegungen (der Außenstimmen) konstituiert. Damit wird auf einen systematischen, nicht jedoch primär historischen Unterschied verwiesen. Die Verwendung der Kirchentonarten stellt nach dieser Lesart daher nicht unbedingt einen Schritt zurück dar, sondern ist als eine abweichende harmonische Schreibart legitimiert, die zum Zweck der Erzeugung besonderer Wirkungen eingesetzt werden könne. Bei der sogenannten »exotischen Musik«, »zu der in gewissem Sinne auch jene Behandlung der Kirchentonarten zu rechnen ist« und deren charakteristisches Merkmal insbesondere die kleine Septime ist,53 kommt es dann zu einer genaueren inhaltlichen Bestimmung, die zwar auf Altes verweist, nicht aber die Restauration rein musikalischer Verhältnisse im Sinn hat  : »Ein ähnliches, streng stilisiertes Archaisieren trifft man gelegentlich wohl auch dort an, wo der Componist vor die Aufgabe gestellt war, mit musikalischen Mitteln dem Zuhörer die herbe Grösse und Gewalt altgriechischen Tragödiengeistes zu suggerieren.«54 Es folgen Notenbeispiele (ohne weitere Kommentierung) aus Werken Franz Liszts, Hector Berlioz’, Bernhard Sekles’, Richard Strauss’, Max Schillings und anderer. Im Zentrum stehen hier Akkordfolgen in Moll etwa mit Molldominante und Septime (z. B. c-Moll7-fmoll) oder die Stufenfolge VII-i (z. B. Es-Dur-f-Moll). Bei Georg Capellen ist dieser Gedanke in deutlich erweiterter Form zu finden, zum einen in seiner 1906 erschienenen Schrift Ein neuer Exotischer Musikstil, zum anderen zwei Jahre später in seiner Fortschrittlichen Harmonie- und Melodielehre. Flankiert wurden beide Schriften u. a. von einer bei Breitkopf und Härtel publizierten Sammlung von Kompositionen, betitelt Exotische Mollmusik.55 Den Überlegungen von Capellen liegt allerdings eine entscheidende abweichende Prämisse zugrunde, nämlich dass das DurMoll-System (in seiner herkömmlichen Form) an sein Ende gekommen sei. Die Konsequenz besteht für ihn aber nicht in der Auflösung des Systems zugunsten eines Verzichts auf Grundtönigkeit und Terzenschichtung, sondern im Rückgriff auf ältere wie fremde Tonsysteme. Im Unterschied zu Schenker, Schönberg und Webern wird die Aufgabe der Kirchentonarten nicht als eine logische, gleichsam unausweichliche Entwicklung, sondern als »ungeheurer Rückschritt« bezeichnet, weil es so zu einer Einbuße an »Mannigfaltigkeit, Feinfühligkeit und Charakteristik der Melodie und Harmonie« gekommen sei.56 In beiden Schriften wie – als Vorwort – in seiner Exotischen Mollmusik beruft sich Capellen auf eine Äußerung von Camille Saint-Saëns, um seine Positionen zu unterstreichen  : 53 Ebd., S. 394. 54 Ebd., S. 395. 55 Exotische Mollmusik für Klavier von Georg Capellen. Erstes Heft  : Indien. Zweites Heft  : Egypten, Abessinien, Arabien, Babylonien, Algier, Leipzig  : Breitkopf & Härtel o. J. [1905]. 56 Georg Capellen, Ein neuer Exotischer Musikstil, Stuttgart 1905, S. 38.

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»Die Musik ist augenblicklich an der Grenze ihrer jetzigen Entwicklungsphase angelangt, die Tonalität, welche die moderne Harmonie erzeugt hat, ringt mit dem Tode. Um die Ausschließlichkeit der beiden Dur- und Mollgeschlechter ist es geschehen. Die alten Tonarten kehren auf den Schauplatz zurück und in ihrem Gefolge werden die Tonarten des Orients, deren Mannigfaltigkeit eine ungeheure ist, ihren Einzug in die Kunst halten. Alles das wird der erschöpften Melodie neue Elemente zuführen, sie wird in eine neue nicht weniger ergiebige Ära treten  ; a u c h d i e H a r m o n i e w i r d s i c h d a n a c h r i c h t e n , und der kaum ausgebeutete Rhythmus wird sich entwickeln.«57

Capellen propagiert in diesem Sinne eine »Vermählung von Orient und Okzident, [durch die] wir zu dem neuen exotischen Musikstil, zur ›Weltmusik‹« gelangen.58 Die hier gewonnenen Tonsysteme werden dabei als Erweiterungen oder Varianten von Dur und Moll aufgefasst, so dass die Kirchentonarten »durch die neuen harmonischen Bezeichnungen Kleinmoll, Nonenmoll und Großmoll [gekennzeichnet bzw.] für lydisch und mixolydisch aber Rechtsdur bzw. Linksdur« verwendet werden solle.59 In einem Kapitel, das »Extreme Exotik« überschrieben ist, hat Capellen in seiner Harmonielehre eine Differenzierung in »Chinesische Ganztonmusik«, »Projektion fremder Tonleitern«, »Exotische Verzierungsmusik« und »Exotische Vierteltonmusik« vorgenommen.60 Für Capellen (weniger für Louis/Thuille) sind sie ein Ausweg angesichts der Überzeugung, dass das Dur-Moll-System in seiner herkömmlichen Form nicht weiter für neue Ausdrucksmöglichkeiten herangezogen werden könne. Zumindest ein Strang der Musiktheorie suchte also eine Alternative zum Dur-MollSystem (bzw. zu seiner Erweiterung) außerhalb des eng umgrenzten Zeit-Raum-Horizonts. Am Terzaufbau meist festhaltend soll auf die Harmonik der Vergangenheit und/ oder (in Anverwandlung) fremder Kulturen zurückgegriffen werden, um einer als verbraucht begriffenen zeitgenössischen Harmonik neues Leben einzuhauchen. Die angestrebten Wirkungen sind dabei doppelt bestimmt. Zum einen ist die Herkunft der harmonischen Sprache den Akkorden und Akkordfolgen gleichsam eingeschrieben. Kirchentonale Wendungen sollen für Archaisches, exotische Leitern für die Darstellung des Fremden herangezogen werden. Zum anderen aber könnten sich langfristig die Ausdrucksbereiche von dieser Herkunft lösen und in umfassenderer Weise neue Möglichkeiten der Darstellung erschließen. Capellen deutet einen »neuen exotisch-europäischen Mischstil« an, »falls unsere Komponisten sich in die neuen Ausdrucksformen einzuleben und die fremdartige Nahrung in eigenes Blut umzuwandeln vermögen«.61 Ähnliches 57 Ebd., S. 56. 58 Ebd., S. 46. 59 Ebd., S. 38. 60 Vgl. Georg Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, Leipzig 1908, S. 180ff. 61 Capellen, Fortschrittliche Harmonielehre, S. 185.

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dürften Louis/Thuille im Sinn haben, wenn sie von einem Rückgriff auf Vergangenes wie Fremdes die »Bereicherung und Erweiterung unseres musikalischen Empfindungsvermögens selbst« erwarten bzw. erhoffen.62 In beiden Fällen bleibt eine strenge tonartliche Gebundenheit und (im weitesten Sinn) eine Diatonik die Grundlage harmonischer Prozesse, die den vor allem von Kurth diagnostizierten Zersetzungstendenzen durch Alteration und insbesondere »Disalteration« (ein Ton erscheint in zwei Alterationen gleichzeitig) Einhalt gebieten sollen. Nicht Auflösung der Tonalität, sondern deren Neufassung jenseits der Chromatik bildet also das Zentrum der Überlegungen. 3.2. Klänge jenseits der Terzschichtung und neue Leitern

Dass »eigentümliche Wirkungen« auf das Moment der »Unberührtheit zurückzuführen« sind, hat auch Schönberg als Prämisse formuliert.63 Diese »Unberührtheit« siedelt er jedoch nicht in der Vergangenheit (Kirchentonarten) oder anderen Weltgegenden an, sondern in neuen Bauprinzipien der Klänge. Im Unterschied zu seiner kompositorischen Praxis um 1910 thematisiert er in der Harmonielehre dabei vor allem Quartzusammenklänge. Anders als später bei Webern werden das »Neue und Ungewohnte eines neues Zusammenklangs« nicht auf eine gleichsam abstrakte Tendenz des Materials zurückgeführt, sondern auf ein »starkes Ausdrucksbedürfnis«,64 zu dessen Realisierung es des »Muts bedarf, sich ganz seinen Neigungen zu überlassen.«65 Quartenakkorde bzw. -harmonik sind für Schönberg »Ausdruck einer Naturstimmung«,66 wobei auf Beethovens Sinfonia pastorale und Wagners Tristan und Isolde verwiesen wird. Unberührtheit wird somit in einem doppelten Sinn verstanden  : als Noch-nicht-Erklungenes oder »Unerhörtes«67 sowie als gleichsam reine Natur. Das erste Verständnis öffnet die Möglichkeiten mithin zum Unendlichen, das zweite führt sie auf einfache Verhältnisse (der Obertonreihe) zurück. In jedem Fall steht Unberührtheit der Dur-Moll-Tonalität entgegen, die Schönberg an anderer Stelle als ein »an hohe Einrichtungen gemahnende[s] Symbol« bezeichnet.68 Die Idee, dass Dur und Moll um 1910 zu einem »Symbol« geworden seien, ist auch von Ferruccio Busoni vertreten worden. Er verbindet hiermit allerdings nicht so sehr die Vorstellung von etwas Unantastbarem, das sich gleichsam überlebt habe. Vielmehr stellt er in den Mittelpunkt seiner Argumentation, dass das Festhalten an dem System die Individualisierung und Flexibilisierung des Ausdrucks entschieden verhindere. In 62 Louis/Thuille, Harmonielehre, S. 386. Capellen weist auf diese Stelle in seiner Fortschrittlichen Harmonielehre, S. 186, hin. 63 Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien 71966, S. 481. 64 Ebd., S. 478. 65 Ebd., S. 479. 66 Ebd., S. 80. 67 Ebd., S. 481. 68 Ebd., S. 111.

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seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst hat Busoni Dur und Moll einen relativ langen Absatz gewidmet, der auch eines der Zentren von Pfitzners späterer Kritik und Schönbergs Kommentierung bildet. Es verdient festgehalten zu werden, dass es sich hier ebenfalls zwar um einen musiktheoretischen Diskurs handelt, der aber eben von Personen geführt wurde, die sich primär als Komponisten verstanden. Die Sache, um die es geht, hat also unmittelbar mit dem eigenen Schaffen und dem kompositorischen bzw. künstlerischen Selbstverständnis zu tun, so dass es wenig verwunderlich ist, dass die Auseinandersetzung eine solche Schärfe gewann.69 Unter der Prämisse, dass die Entwicklung der Tonkunst noch ganz in ihren Anfängen stecke und noch ungeahnte Möglichkeiten bereithalte, schreibt Busoni zu Dur und Moll  : »Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt  – eine Einschränkung fordert die andere. Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegensätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore – Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer – Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter noch bis heute und übermorgen abgezäunt.70 Moll wird in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauermarsch kann man heute nicht mehr ›komponieren‹, denn er ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebildeteste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald der Trauermarsch – irgendwelcher – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und Moll-Sinfonie voraus.«71

Und in der Fassung von 1907 fügte er noch an (später gestrichen)  : »Wir werden von Dur und Moll beherrscht  ; wir stehen unter zwei Pantoffeln.«72 Symbol meint bei Busoni, dass Dur und Moll nicht mehr unmittelbare Träger des Ausdrucks sind, sondern gleichsam nur noch als Zeichen fungieren, die wir uns angewöhnt haben, in einer bestimmten Weise zu verstehen und zu gebrauchen. Das in diesem Zusammenhang verwendete Wort »abzäunen« deutet einen (eng) umgrenzten Bezirk an, der sowohl in der Vergangenheit als auch in Zukunft vorgab oder vorgibt, wie wir ein Stück in Dur oder Moll zu verste69 Die äußeren Daten dieser Debatte seien nur kurz wie folgt zusammengefasst. 1907 veröffentlichte Busoni eine schmale Broschüre mit dem Titel Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, die erst 1916 in einer veränderten und erweiterten Fassung breitere Resonanz fand. Auf diese Fassung reagierte Hans Pfitzner 1917 mit seiner Schrift Futuristengefahr. Zugleich hat auch Schönberg sowohl Busonis Schrift umfangreich glossiert als auch zu Pfitzners Text eine Schrift unter dem Titel Falscher Alarm entworfen, die jedoch nicht fertiggestellt wurde. 70 Dazu im Handexemplar Busonis die Bemerkung  : »So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen acht Jahre haben unser Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.« 71 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 21916, S. 38. 72 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Triest 1907, S. 25.

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hen haben. Unter dem Axiom der Freiheit der Musik aber konnte Busoni in dieser Einschränkung keine Notwendigkeit erblicken. Die Verfestigung ließ sich dabei nur durch ein radikales Mittel aufbrechen  : den Verzicht auf Dur und Moll. Der von Busoni angebotene Ausweg von 113 Skalen, der in dieselbe Richtung weist wie kurze Zeit später die 312 Skalen (bzw. Tonarten) von Capellen,73 erscheint daher einerseits plausibel, weil nun mehr Skalen und Tonsysteme zur Verfügung stehen, die folglich einen differenzierteren Ausdruck ermöglichen (sollen). Andererseits erscheint er unplausibel, weil wieder die Vorgaben eines Tonsystems die Ausdrucksmöglichkeiten regulieren sollen (und damit mindestens langfristig erneut Symbole entstehen). Den letzten Punkt hat Arnold Schönberg sehr deutlich gesehen, indem er in einer ausführlichen Randbemerkung in seinem Exemplar die 113 Tonarten als genauso konstruiert und damit dem Prinzip der Freiheit entgegenstehend kritisierte wie vordem Dur und Moll. Ihnen setzt er die unbedingte Freiheit des Einfalls entgegen.74 Wenn also individueller Ausdruck ermöglicht werden sollte, dann musste es ohne System geschehen. Das aber ließ die Frage virulent werden, worin dann noch der Kunstcharakter des Ausdrucks begründet liege. Schönberg hat diese Frage in doppelter Hinsicht beantwortet  : Zum einen verstand er sich gleichsam als Medium, das die Musikgeschichte so verinnerlicht habe, dass es eben zu künstlerischem Ausdruck gelange,75 zum anderen vertraute er seinem (aus der Tradition gespeisten) Formgefühl, das den unmittelbaren Ausdruck zum Kunstwerk werden lasse.76 Pfitzner war in dieser Hinsicht vorsichtiger  : Zwar war auch er ein unbedingter Anhänger der Einfallsästhetik, aber er sah sie doch um des Verständnisses oder der Kommunikationsfähigkeit willen an die Tradition gebunden. Er war (im Unterschied zu Schönberg) der Auffassung, dass aus der Unmittel73 Capellen, Fortschrittliche Harmonie- und Melodielehre, S. 171. 74 Schönberg merkt an  : »Die 113 Busonis stehen auf keinem bessern Niveau als die 7 der Alten. Im Gegenteil  : die 7 entsprangen einem ursprünglichen Irrtum des Geistes  ! Die 113 aber entstehen auf dem trockenen Weg der Kombination.« (Zitiert nach  : Ferruccio Busoni, Enwurf einer neues Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt, Frankfurt/Main 1974, S. 72). Auch in der Harmonielehre äußert sich Schönberg negativ zu dem Versuch, weitere Skalen zu konstruieren  : »Und so erledigen sich für mich auch die, wie es scheint sonst sehr geistreichen Versuche von Busoni und Georg Capellen. […] Aber daß man besondere Tonreihen aufstellen muß, um zu solchen und noch anderen melodischen Wendungen zu gelangen, vorkonstruieren muß, was erfunden sein sollte, glaube ich deshalb nicht, weil ich bestimmt weiß, daß es anders geht, und weil ich fest glaube, daß man so nicht komponieren darf. Erfinden, nicht aber errechnen  ! […] Aus einer Tonart heraus kann man nur frei schaffen, wenn das Gefühl für diese Tonart im Unbewußten vorhanden ist.« (Schönberg, Harmonielehre, S. 473) 75 Vgl. Schönbergs berühmten Aphorismus aus dem Jahr 1910  : »Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben. […] Die aber oft die Augen schließen, um wahrzunehmen, was die Sinne nicht vermitteln, um innen zu schauen, was nur scheinbar außen vorgeht. Und innen, ist die Bewegung der Welt  ; nach außen dringt nur der Widerhall  : das Kunstwerk«  ; zitiert nach  : Arnold Schönberg, Stile herrschen, Gedanken siegen. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Anna Maria Morazzoni, Mainz u. a. 2007, S. 25. 76 Vgl. u. a. Schönberg, Harmonielehre, S. 499.

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barkeit des Einfalls nicht die Unmittelbarkeit des Verstehens folge. Zu der Passage über den Trauermarsch schrieb er  : Busoni hört »nur das Moll, nicht den Trauermarsch, nur das Tonelement, nicht die Komposition, nur den Laut, nicht die Sprache der Musik.«77 Der Sprachcharakter der Musik bildet das eigentliche Zentrum von Pfitzners Musikanschauung, und zum Verstehen bedürfe die Musik eben Vokabeln und einer Grammatik, die aber deshalb nicht zu Symbolen gerinne, weil sie in immer neuen Kontexten und Mischungen auftauche  : Dur und Moll müssen nach Pfitzner wesentlicher Bestandteil dieser Grammatik sein, denn – so Pfitzner – wenn »ich Dur und Moll nicht mehr empfinde, verstehe ich z. B. das Lied ›Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus‹ von Schubert nicht mehr mit seinem so ergreifenden Moll-Dur-Wechsel. Und für den ganzen Apparat von Dr. Cahill gebe ich dieses eine Lied nicht heraus«.78 Für Pfitzner ist das Gebäude der Dur-Moll-Tonalität weder hinfällig noch an sein Ende gekommen  : Er ist der Überzeugung, dass dieses System daher einerseits notwendig sei und andererseits noch viele ungeahnte Möglichkeiten bereithalte. Ja mehr noch, für ihn war Dur und Moll eine unabdingbare Voraussetzung, die zum Verständnis von Musik nötig sei. Da das System gleichzeitig nur sehr allgemein den Ausdruck konturierte, welcher erst durch andere Parameter wie Melodik, Motivik oder Kontrapunktik konkretisiert werde, war es auch nicht verbraucht.79 In diese Richtung weist übrigens auch die einzige Harmonielehre, die eigens ein Kapitel über »Harmonik als Ausdruck« enthält  : die Harmonielehre von Eugen Schmitz. Die Idee von Musik als einer Ausdruckskunst wird von Schmitz einerseits sehr stark gemacht (mit Verweis auf die Hermeneutik von Hermann Kretzschmar), zugleich wird jedoch die Vorstellung zurückgewiesen, dass »eine systematische Ausdruckslehre der Harmonik, die etwa für jede Art der Akkordbildung, Modulation usw. die darin sich aussprechende Empfindung zu charakterisieren versuchte«, unmöglich sei, »weil der harmonische Ausdruck natürlich in fortgesetzten Wechselbeziehungen zur Melodik und Rhythmik steht«.80 *** Webern hat 1932/33 das Verschwinden des Dur-Moll-Systems als eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit beschrieben. Nicht nur Pfitzner hat diese Einschätzung zurückgewiesen und interpretierte die Entwicklung nach 1910 als einen Verlust, ja sogar als einen Niedergang. Auch ein Komponist wie Ernst Křenek schrieb 1929 im Umkreis des 100. Todestages von Franz Schubert  :

77 Hans Pfitzner, Futuristengefahr, in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Augsburg 1926, S. 218. 78 Ebd., S. 219. 79 Vgl. ebd., S. 219f. 80 Eugen Schmitz, Harmonielehre als Theorie und Geschichte der musikalischen Harmonik, Kempten und München 1911, S. 206.

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»Höchste Lebendigkeit, das ist stete Variabilität und subtilste Feinheit im Ausdruck bei größter Ökonomie der Mittel, können wir von ihm [Schubert] am besten lernen. Eine Wendung nach Moll zum Beispiel ist bei Schubert noch ein entscheidendes musikalisches Ereignis – in einem chromatischen Allerweltschaos ist sie belanglos wie alles andere, was sich in solcher Musik begeben kann.«81

Die sogenannte Atonalität – und damit die Verabschiedung des Dur-Moll-tonalen Systems, die am Beginn des 20. Jahrhunderts noch als ferne Möglichkeit am Horizont aufgetaucht war,  – war seit den 1910er-Jahren erst in einem kleinen Wiener Kreis, nach dem Ersten Weltkrieg dann zu einer weitverbreiteten Erscheinung geworden, auch wenn die Dur-Moll-Tonalität in den 1920-Jahren weiter in modifizierter Form als kompositorisches Mittel herangezogen wurde. In den zwischen 1900 und ca. 1914 erschienenen Harmonielehren macht sich zwar bemerkbar, dass gerade im Hinblick auf die Ausdrucksqualitäten Dur und Moll als gleichsam erschöpft interpretiert wurden, doch zielen fast alle Schriften auf eine Entwicklung, die als Erneuerung durch Differenzierung und Erweiterung des Systems interpretiert werden muss. Der Einsicht, dass die geschichtliche Entwicklung in der Tat zu immer neuen Klängen tendierte, wurde als Grenze immer die Natürlichkeit des Dur-Systems (und des in unterschiedlicher Form davon abgeleiteten Moll-Systems) entgegengestellt. Zwar wird auch von anderen Autoren als Schönberg die (damals) theoretische Möglichkeit erkannt, dass es Musik jenseits dieser Grenze geben könne, doch haben nur Schönberg (und Busoni) den Versuch gemacht, zu schildern, was sich hinter dieser Grenze befinden könnte. Möglicherweise war es nicht so sehr die Furcht vor der Überschreitung als die Tatsache, dass für Musik jenseits der Dur-MollTonalität kein neues Ordnungssystem erkennbar war82 bzw. ein solches Ordnungssystem ausdrücklich abgelehnt wurde (wie von Schönberg um 1910), die verhinderte, dass man sich bereits zu dieser Zeit mit den Möglichkeiten näher befasste. In den Harmonielehren erscheint daher die Dur-Moll-Tonalität noch intakt, doch macht die Diskussion um die Kirchentonarten oder der Hinweis auf eine Hinwendung zu einer kontrapunktischen Schreibart deutlich,83 dass gerade im Hinblick auf neue Wirkungen die Möglichkeiten ausgereizt schienen, so dass in der Theorie erst einmal nur ein Rückzug auf Vorhandenes

81 Ernst Křenek, »Schubert«, in  : ders., Zur Sprache gebracht. Essays über Musik, München 1958, S. 39f. 82 Selbst Henry Cowell führt wesentliche Ideen in seinen New Musical Resources auf das dur-moll-tonale System sowie Phänomene wie Sequenz und Kadenz zurück. 83 Kontrapunkt als Lösung der Probleme des Dur-Moll-Systems wird von Louis/Thuille vertreten, vgl. die Schlusssätze in der Harmonielehre, wo es heißt  : »Eher will es uns scheinen, als ob wir vor einer Wandlung bezw. Entwicklung unseres musikalischen Empfindens nach der Richtung hin stünden, dass wir – ohne die tonal-harmonische Basis ganz zu verlassen – uns wieder mehr gewöhnten, im eigentlichen Sinne des Wortes contrapunctisch d. h. also so zu hören, dass mehrere nebeneinander herlaufende melodische Linien in horizontaler Richtung verfolgt […] werden.« (Louis/Thuille, Harmonielehre, S. 398)

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(und damit Älteres oder Fremdes) sinnvoll schien.84 Auch wenn also eine atonale harmonische Sprache nicht oder allenfalls am Rande auftaucht, so sind die Harmonielehren dieser Zeit gerade in manchen beiläufigen Nebenbemerkungen doch ein Gradmesser für das Maß, das die Unsicherheit über die Zukunft des Systems erreicht hatte. Erst im und nach dem Ersten Weltkrieg brachen die Konflikte um die neue Musik, die dann zur Neuen Musik werden sollte und die zunächst eher in der Musikkritik thematisiert worden waren, auch unter Komponisten auf. Wie Schönbergs, Pfitzners und Křeneks Bemerkungen zeigen, war man sich einig in dem Verlust, den die Aufgabe des dur-molltonalen Systems mit sich brachte.85 Umstritten aber blieb, ob dieser Verlust notwendig oder umgekehrt unnötig war. Wie die Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, war vermutlich erst nach einer Phase der Atonalität eine erneute Verwendung von Dur-Moll-Tonalität möglich. Diese aber geriet dann gleichsam in die Position, die um 1900 die Kirchentonarten eingenommen hatten – als System, das seine Wirkungen nicht (mehr) gewissermaßen natürlich hervorbrachte, sondern erst im Kontext und Kontrast zu einer völlig anderen Musiksprache. Davon aber ließen die Harmonielehren der Zeit um 1900 bis 1914 noch nichts ahnen.

84 Noch Schönberg deutet in der Harmonielehre an, dass ein 11-töniger Akkord aus dem Monodram Erwartung im Sinne der Dur-Moll-Tonalität (als Vorhaltakkord wie als »Addition zweier Akkorde«) erklärt werden könne, vgl. Harmonielehre, S. 300. 85 Louis/Thuille hatten ihre Harmonielehre noch mit dem Hinweis beschlossen (S. 398), »jedenfalls wäre jede Entwicklung zu beklagen, die einen Fortschritt, oder richtiger gesagt, eine Neuerung damit erkaufte, dass sie wertvolle Errungenschaften der vergangenen Zeiten ohne zwingende Notwendigkeit preisgibt«.

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll« Tongeschlechter im Zugriff politischer Ideologie

Dieser Beitrag unternimmt eine Diskursanalyse der Kategorien ›Dur‹ und ›Moll‹ in der sowjetischen Musikkultur der 1930er bis 1950er Jahre, mit besonderem Fokus auf ihre semantischen Zuschreibungen und kulturellen Verknüpfungen. Das Frappierendste an einer solchen Untersuchung ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich überhaupt anstellen lässt. In den westlichen Kunstmusikkulturen hatte bekanntlich das dur-moll-tonale System seit dem Aufbruch in die Neue Musik um 1910 seinen Default-Charakter in wichtigen Bereichen eingebüßt. Für viele Protagonisten der musikalischen Moderne war es zu einer historischen Größe mutiert, auf die am ehesten im Modus von Brechungen und Verfremdungen Bezug genommen wurde. In der stalinistischen Sowjetunion dagegen blieb die Dur-MollTonalität als Basis der zeitgenössischen Kunstmusik nicht nur intakt, sondern hochgradig vital, und zwar dezidiert auch in solcher Musik, der gemeinhin das Label ›künstlerischer Rang‹ zugesprochen wird. Die symphonischen, konzertanten und kammermusikalischen Werke eines Dmitrij Šostakovič, Sergej Prokof ’ev und vieler anderer sowjetischer Komponisten, etwa des in den letzten Jahren sensationell wiederentdeckten Mieczysław Weinberg, trugen seit den 1930er Jahren ihre Tonartenbezeichnungen nicht nur der guten Ordnung halber, sondern waren auch immanent nach tonalitätsdramaturgischen Prinzipien organisiert. Die Intaktheit des dur-moll-tonalen Systems galt nahezu uneingeschränkt für die Zeit des Hochstalinismus bis in die Tauwetterperiode, konkret von der proletarischen Kulturrevolution um 1930 bis zum Beginn der 1960er Jahre. Am Schluss dieses Zeitraums traten Komponisten wie Alfred Schnittke, Edison Denisov oder Sofija Gubaidulina mit Kompositionen hervor, die sich offen an die Innovationen der westlichen Nachkriegs-Avantgarde anlehnten, insbesondere an dodekaphone und serielle Prinzipien. Vor dem hier fokussierten Zeitraum, vom Revolutionsjahr 1917 bis zum Ende der 1920er Jahre, hatte die Sowjetunion eine Phase des revolutionären Aufbruchs in den Künsten und einer vergleichsweise liberalen Kulturpolitik erlebt. Wie in den westlichen Ländern schloss dies unterschiedliche, bereits in den 1910er Jahren angelegte Erschütterungen der Dur-Moll-Tonalität ein, bis hin zu einzelnen Vorstößen in ein atonales Komponieren. Für den Großteil der sowjetischen ›Modernisten‹ war bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre hinein die Klangorganisation des späten Aleksandr Skrjabin der prägende Ausgangspunkt.1 Dessen Klangzentrentechnik ließ sich, je nach intervallischer 1 Vgl. Andreas Wehrmeyer, Studien zum russischen Musikdenken um 1920, Frankfurt/Main u. a. 1991, S. 14,

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Ausgestaltung, stärker oder schwächer an die Dur-Moll-Tonalität anbinden, ähnlich, wie dies in dodekaphonen Systemen mittels der Integration kryptotonaler Elemente möglich ist. Nikolaj Roslavec (1880jul/1881greg  – 1944), der  – auch wegen seines Auftretens als links-marxistischer Publizist  – profilierteste sowjetische Adept der Skrjabin’schen Innovationen, nannte die von ihm seit 1913 bevorzugten Klangzentren programmatisch ›Synthetakkorde‹. Der fast allen Roslavec’schen Klangzentren zugrundeliegende sechstönige Akkord (Intervallstruktur  : 0 2 4 5 8 11) ›synthetisiert‹ die Grundakkorde des traditionellen tonalen Systems  : den Dur-Akkord, den Moll-Akkord, den übermäßigen Dreiklang, den Dur-Septakkord und auch (hierin über Skrjabins Prometheusakkord hinausgehend) den verminderten Septakkord (vgl. Notenbeispiele 1a und 1b).2 Gegenüber seiner früheren Neigung zu atonaler Klangdistribution spielte Roslavec in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre das tonale Potenzial seiner Synthetakkord-Konstruktionen verstärkt aus, besonders in Richtung des ›Duralen‹, etwa in seiner ekstatisch-revolutionären Symphonischen Dichtung Komsomolija (1928).3

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Notenbeispiel 1a: Roslavec’ Synthetakkord als Skala

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Notenbeispiel 1b: Teilakkorde des Synthetakkords

Dezidierte Atonalität blieb in der Sowjetunion auch in den ›wilden‹ 1920er Jahren ein Randphänomen  – stärker noch, als dies auch in Westeuropa der Fall war. Schönbergs Zwölftontechnik wurde kaum rezipiert und von sowjetischen Komponisten erst seit den späten 1950er Jahren produktiv aufgegriffen. Freie Atonalität, oftmals in Verbindung mit Ostinato- und Kanon-Techniken, findet sich in der Mitte der 1920er Jahre in einiund Wolfgang Mende, »Ekstase und Apokalypse. Skrjabins Erbe in der frühen Sowjetära«, in  : MusikTheorie 30 (2015), S. 155–170. 2 Charles McKnight hat die Klangzentren von 44 Kompositionen Roslavec’ zwischen 1913 und 1928 analysiert. Demnach schwankt die Zahl der Töne des für das jeweilige Stück gültigen Klangzentrums zwischen 6 und 9. In fast allen Fällen bildet die in Notenbeispiel 1 gezeigte sechstönige Intervallkonstellation die Basis dieser Klangzentren. Er kann somit als ›der‹ Roslavec’sche Synthetakkord bezeichnet werden. Vgl. Charles Mc­ Knight, Nikolai Roslavets  : Music and Revolution, Diss. Cornell University 1994, S. 123f. Vgl. auch Wolfgang Mende, Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln u. a. 2009, S.  377–380. Zum Synthesegedanken bei Roslavec und seiner möglichen Verwurzelung in der russischen Religionsphilosophie vgl. Wehrmeyer, Studien zum russischen Musikdenken um 1920, S. 192 und 22. 3 Vgl. Mende, »Ekstase und Apokalypse«, S. 165–169, und Christoph Hust, »Tonalitätskonstruktion in den Klaviersonaten von Nikolaj Andreevič Roslavec«, in  : Die Musikforschung 54 (2001), S. 429–437.

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

gen Werken von Dmitrij Šostakovič (Klavierzyklus Aphorismen op.  13, An den Oktober/2. Symphonie op. 14, Die Nase op. 15) oder Aleksandr Mosolov. Aber schon einem Werk wie Mosolovs Zavod (»Die Fabrik«, bekannt als »Die Eisengießerei«, 1927), dem seinerzeit erfolgreichsten Produkt der sowjetischen Musikavantgarde, hätte ein ›wohlmeinender‹ stalinistischer Werkrubrizist gar nicht viel Gewalt angetan, wenn er seine Tonart mit ›C-Dur‹ angegeben hätte. Auch bei Šostakovič trat die Atonalität schon gegen Ende der 1920er Jahren wieder in den Hintergrund. Stattdessen nutzte er den semantischen Kosmos von Dur und Moll zunehmend virtuos als Folie für seine skurrilen und sarkastischen Verfremdungen. Ein ideologiekritisch gestimmter Forscher, der die affirmative Restitution des DurMoll-Systems seit den 1930er Jahren ins Visier nähme, würde sein Interesse klassischerweise auf die Bruchstellen innerhalb eines solchen zwangsstabilisierten Systems richten und nach Ironisierungen, semantischen Travestien u. ä. suchen. Dies ist in der musikwissenschaftlichen Sowjetologie in den letzten Jahrzehnten auch in reichem Maße geschehen, insbesondere in der ebenso lebhaften wie kontroversen Šostakovič-Exegese, die zum Stimulus einer erneuten Grundsatzdiskussion über Fragen der musikalischen Hermeneutik geworden ist.4 In diesem Beitrag soll demgegenüber  – was eher selten geschieht  – die Ebene v o r diesen individuellen, oftmals subversiven Werkausdeutungen beleuchtet werden, die in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit in der Regel unsichtbar bleibt  : die Ebene der ›offiziellen‹ Konzeptualisierung und semantischen Normierung von Dur und Moll, wie sie die institutionell autorisierte sowjetische Musiktheorie und Musikwissenschaft vorgenommen hat. Dabei werden einige theoretische, kulturelle und ideologische Kontexte zu Tage treten, die demjenigen, der der Materie aus historischer oder kultureller Distanz gegenübertritt, kaum bewusst sein dürften. Sie sind nicht nur für das Nachvollziehen systemkonformer Werkdeutungen relevant, sondern um die Ecke herum auch für die Entschlüsselung ironischer oder äsopischer Chiffrierungen. In vier Kapiteln werden im Folgenden untersucht  : – die Rubrizierung von Dur und Moll unter die russisch-sowjetische Kategorie des »lad« mit ihren kulturhierarchischen und strukturtheoretischen Implikationen  ; – die soziologische Herleitung der Dursphäre aus ›klassenkämpferischem‹ Intonationsvokabular und die Aporie einer entsprechenden Ableitung des Moll  ; – die tragende Rolle von Dur und Moll für das Konzept des sozialistischen Realismus mit seinen normativen Tendenzen  ; – die formdramaturgische Rolle von Dur und Moll im Kontext des sowjetischen Symphonismus mit seinem rigorosen geschichtsphilosophischen Anspruch. 4 Vgl. die Analyse dieses Phänomens in Richard Taruskins brillantem Essay »Shostakovich and Us« in  : Shostakovich in Context, hrsg. von Rosamund Barlett, Oxford 2000, S. 1–29.

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Wolfgang Mende

1. Dur/Moll musiktheoretisch: zwei »lad«-Systeme unter vielen

Die sowjetische – wie auch die vorrevolutionäre und jüngere russische – Musiktheorie subsumiert die Phänomene Dur und Moll einer Kategorie, zu der es in westlichen Theoriediskursen kein exakt kongruentes Äquivalent gibt und die deshalb oftmals unübersetzt bleibt  : die Kategorie des »lad«. Das russische Wort »lad« bedeutet in seiner allgemeinsprachlichen Verwendung ›Eintracht‹, ›Friede‹, ›Ordnung‹ oder ›Wohlorganisiertheit‹.5 Es entspricht damit weitgehend der Bedeutung von altgriechisch »harmonía«, gerade auch darin, dass es die Vorstellung einer vorgängigen, durch die Harmonisierung zu überwindenden Gegensätzlichkeit oder Unordnung einschließt.6 Als musiktheoretischer Fachterminus kann »lad« annäherungsweise, aber nicht deckungsgleich mit ›Modus‹ wiedergegeben werden. Ebenfalls nur partiell kongruent sind die Übersetzungen ›Tonart‹, ›Tonalität‹ oder ›Tonsystem‹.7 Nach Igor’ Sposobin (1900–1954), dem wohl einflussreichsten sowjetischen Musiktheoretiker in der Mitte des 20. Jahrhunderts, ist ein »lad« die »Gesamtheit von Tönen, die auf der Basis gegenseitiger Verwandtschaft (Beziehungen) in einem System, das eine Tonika aufweist, vereint sind«.8 Die sich oktavweise wiederholenden Töne des »lad« verfügen über ein jeweils spezifisches Maß an »Stabilität« (»ustojčivost’« oder »ustoj«) bzw. »Instabilität« (»neustojčivost’« oder »neustoj«). In mehrstimmiger Musik bilden auch Zusammenklänge von Tönen (in der Regel Dur- oder Molldreiklänge) ein System »stabiler« und »instabiler« Stufen. Ein »lad« ist also nicht nur eine durch Tonhöhenabstände definierte Skala, sondern ein differenziertes System von Beziehungsqualitäten.9 5 Vgl. die Explikationen »1. soglasie, mir, družba  ; 2. porjadok, slažennost‹« des renommierten, von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebenen »Wörterbuchs der modernen russischen Literatursprache« (Slovar’ sovremennogo russkogo literaturnogo jazkya, Bd. 6, Moskau 1957, Sp. 19–23). 6 Vgl. Paul von Naredi-Rainer, Artikel »Harmonie«, in  : MGG2, Sachteil, Bd. 4, Kassel u. a. 1996, Sp. 116–118. 7 Der von der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft herausgegebene sechssprachige Terminorum musicae index septem linguis redactus (Budapest und Kassel 1978, Bd. 2, S. 695) gibt die Entsprechungen »Modus« und »Tonart« an. Das Fachwörterbuch Musik. Deutsch-russisch und russisch-deutsch (hrsg. von Gita Balter, Leipzig 1976, S. 332) verzeichnet unter dem Lemma »lad« die Übersetzungen »Tonalität«, »Tonart«, »Modus« und »Tonsystem«. Erläuternd heißt es hierzu  : »der Begriff ›lad‹ kann jedem dieser Termini entsprechen  ; seine eigentliche Bedeutung ist ›tonales Bezugssystem‹ […]«. 8 Igor’ Sposobin, Ėlementarnaja teorija muzyki [Elementare Musiktheorie], Moskau 1959, S. 86. 9 Während der Terminus »lad« schon seit dem 17. Jahrhundert im Sinne von ›Modus‹ oder ›Tonart‹ nachweisbar ist und spätestens seit dem 19. Jahrhundert standardmäßig so verwendet wurde, scheint sich das mit ihm verbundene Konzept eines Systems von Beziehungsqualitäten erst in sowjetischer Zeit verfestigt zu haben. Das »Neue enzyklopädische Wörterbuch« der Firma Brockhaus & Efron definierte »lad« noch 1915 ganz schlicht als »Skala« (zvukorjad bzw. gamma) mit bestimmten Ton- und Halbtonabständen (Nikolaj Solov’ev, Artikel »lad«, in  : Novyj ėnciklopedičeskij slovar’, Bd. 23, St. Petersburg 1915, Sp. 892). In der ersten Auflage der »Großen Sowjetenzyklopädie« findet sich bereits eine systemorientierte Definition des »lad« als »Organisation musikalischer Töne, die durch die Beziehung aller in einem musikalischen Werk enthaltenen Töne bestimmt ist« (Artikel »lad«, in  : Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija [1. Aufl.], Bd. 35, Moskau 1937, Sp. 657f.).

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

Die wichtigste Differenz gegenüber der westlichen Kategorie des »Modus« besteht darin, dass ein »lad« nicht nur die Gravitationsverhältnisse innerhalb des horizontalen Melos konzeptualisiert, sondern auch die von vertikalen Zusammenklängen des betreffenden Tonvorrats. Die Notenbeispiele 2a und 2b zeigen die »lad«-Strukturen des klassischen Dur und Moll im sowjetischen Verständnis. Die Grundelemente des Dur-»lad« bilden der »Grundton« c, der »Grundakkord« C-Dur, die »Grundskala« mit ihren stabilen und instabilen Tönen (leerer bzw. gefüllter Notenkopf) und entsprechenden Spannungsvektoren sowie die »Hauptakkorde«. Die Schemata stammen von Jurij Cholopov (1932–2003), einem Schüler Sposobins, der in den letzten beiden Dekaden der Sowjetära der tonangebende Musiktheoretiker war.10 Основной тон

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Notenbeispiel 2a: Dur-»lad« nach Jurij Cholopov 1976, S. 388 Legende: Grundton | Grunddreiklang | Grundskala (melodisches Modell des »lad«) | Hauptakkorde (harmonisches Modell des »lad«) Основной звукоряд (мелодическая модель лада) Основной тон

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Notenbeispiel 2b: Moll-»lad« nach Jurij Cholopov 1976, S. 603 Legende: Grundton | Grunddreiklang | Grundskala (melodisches Modell des »lad«): Harmonisch | Natürlich | Melodisch | Hauptakkorde. Harmonisches Modell des »lad«

10 Jurij Cholopov verfasste einen beträchtlichen Teil der musiktheoretischen Artikel der zwischen 1973 und 1982 erschienenen Muzykal’naja ėnciklopedija, der bis heute einzigen russischsprachigen Musikenzyklopädie. Die Beispiele stammen aus den Artikeln »Mažor« (Dur) und »Minor« (Moll), in  : Muzykal’naja ėnciklopedija, Bd. 3, Moskau 1976, Sp. 388f. bzw. 603. – In seinem einflussreichen »lad«-Artikel hebt Cholopov noch stärker als Sposobin den Systemcharakter gegenüber der reinen Materialbasis einer Skala hervor  : »L[ad]. im musiktheoretischen Sinne ist die Systemhaftigkeit von [Ton]höhenbeziehungen, die durch einen zentralen Ton oder Zusammenklang vereint werden, und auch das ihn konkret verkörpernde Tonsystem (gewöhnlich in Form einer Skala).« Jurij Cholopov, Artikel »lad«, ebd., Sp. 130–143, Zitat Sp. 130.

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Wolfgang Mende

Zur Theorie des »lad« gehört auch die Annahme einer spezifischen »Färbung« (»o­kraska«) des »lad«-Systems. Dem Dur-»lad« wird standardmäßig eine »helle« (»svetlaja«) Färbung zugeschrieben, dem Moll-»lad« eine »dunkle« (»tëmnaja«). Die – eigentlich kontingente – Charakterisierung mithilfe der synästhetischen Metaphern ›hell‹ und ›dunkel‹ bzw. mit ›Licht‹ und ›Schatten‹ findet sich in der Sowjetunion überraschend einheitlich an den Knotenpunkten der Wissensnormierung  : in musiktheoretischen Standardwerken11 wie auch in Lexika und Enzyklopädien.12 Andere gängige Charakteristika, etwa die Affektpolarität ›freudig  – traurig‹, der haptisch-synästhetische (und etymologisch verankerte) Gegensatz ›hart – weich‹ oder der gender-Dualismus ›männlich – weiblich‹13, finden sich allenfalls in historischen Exkursen oder in detaillierteren Darstellungen der Ausdrucksmöglichkeiten. Eine Erklärung für diese auffällige Standardisierung der Helligkeitsanalogie könnte in der Anschlussfähigkeit an stereotype Metaphern anderer relevanter Diskurse liegen. So wurde in der Sowjetunion für die Beethoven’sche »per aspera ad astra«-Dramaturgie bevorzugt die Formel »Aus der Finsternis zum Licht« (»ot mraka do sveta«) verwendet, nicht etwa das aktionistischere »Kampf und Sieg« oder das idealistisch aufgeladene »per aspera ad astra«.14 Eine weiterreichende Diskursanbindung des Hell-Dunkel-Dualismus bietet die revolutionäre Lichtmetaphorik. Sie steigerte sich im Stalinismus zu einem regelrechten Sonnenkult, der in der Panegyrik des Personenkults ebenso figuriert wie in den in grelles Sonnenlicht getauchten Retortenbildern der neuen sozialistischen ›Wirklichkeit‹. In diesen Kontext gehört auch der Topos von der ›Morgenröte des Sozialismus‹. Er verbindet sich mit dem legendären Panzerkreuzer »Aurora«, von dem 1917 der mythisch überhöhte Startschuss zur Oktoberrevolution abgefeuert wurde.15 Schon 11 Vgl. etwa Sposobin, Ėlementarnaja teorija muzyki, S. 88 und 124, sowie Cholopov, »Mažor« und »Minor«. 12 Genau diese Charakteristika ›hell‹ bzw. ›dunkel‹ finden sich etwa in den Einträgen »Mažor« (Dur) und »Minor« (Moll) in der dritten Auflage der »Großen Sowjetenzyklopädie« (Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, Bd. 15 bzw. 16, Moskau 1974, Sp. 210 bzw. 295). Die Artikel enthalten dieselben »lad«-Schemata wie die Muzykal’naja ėnciklopedija (vgl. Notenbeispiele 2a und 2b). 13 Erstaunlicherweise definieren noch die Lemmata »Dur« und »Moll« der letzten gedruckten Brockhaus-Ausgabe die beiden Tongeschlechter als das »›harte‹ oder ›männliche‹« bzw. als das »›weiche‹ und ›weibliche‹« – ohne die durch die Anführungszeichen angedeutete Entlehnung aus einem spezifischen historischen Diskurs zu explizieren und kritisch zu reflektieren (Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Mannheim 2006, Bd. 7, S. 370f., und Bd. 18, S. 684f.). Vgl. dazu den Beitrag von Nina Noeske im vorliegenden Band. 14 Die Formel »Aus der Finsternis zum Licht« findet sich beispielsweise in Valentina Konens Standardwerk zur Geschichte der westeuropäischen Musik bei der Erklärung der Gesamtdramaturgie von Beethovens 5. und 9. Symphonie (Valentina Konen, Istorija zarubežnoj muzyki, Bd. 1  : Germanija, Avstrija, Italija, Francija, s 1789 goda do serediny XIX veka, Moskau 1958, S. 87 und 112). Das Finale der 9. Symphonie beschreibt nach Konen einen Übergang zum »Reich des Lichts« (ebd., S. 112). 15 Das Ausmaß an Geschichtsklitterung, das der Stilisierung des politischen Putschs der Bolschewiki zu einem revolutionären Volksaufstand zugrunde liegt, ist erst jüngst, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Ereignisses, weidlich betont worden. Šostakovič hat den Kurzschluss von Historie und Utopie, der dem

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

die Agitationsverse des proletarischen Dichters Alexandr Bezymenskij, die Šostakovič 1927 im Chorfinale seiner (später zur »2.  Symphonie« aufgewerteten) »Symphonischen Widmung« »An den Oktober« (Oktjabrju. Simfoničeskoe posvjaščenie) vertonte, modellier­ten die revolutionäre Lichtmetaphorik erkennbar auf eine symphoniegerechte »Durch-­Nacht-zum-Licht«-Dramaturgie hin  : Der durch Lenin erkämpfte »Sieg über Unterdrückung und Finsternis« (Z. 85) führt zum gelobten Land des »Oktober« als dem »Künder der ersehnten Sonne« (Z. 90).16 An diesen Beispielen wird erkennbar, wie die dem Dur- und Moll-»lad« zugeschriebene Licht- bzw. Schatten-Färbung die Schnittstelle zu politisch orientierter Semiose und Hermeneutik bildet. Sie rückt damit auch in eine unmittelbare Traditionslinie zur antiken Ethoslehre, die schon in ihrer Adaption durch Platon mit politischen Wunschvorstellungen verbunden war. Aber nicht nur die von der »lad«-Theorie geforderte semantische Erklärung der Färbung ist für das sowjetische Verständnis von Dur und Moll prägend. Weitreichende Implikationen hat auch die Tatsache, dass Dur und Moll nicht irgendeiner Sonderrubrik »harmonischer Tonalität« zugeordnet werden, sondern gleichrangig mit modalen Systemen der Folklore und der liturgischen Einstimmigkeit in die vielgestaltige Gruppe der »lads« eingereiht werden. In diesem Zusammenhang ist auch von Relevanz, dass in der sowjetischen »lad«-Theorie das lineare Melos mit seinen Intervallspannungen in der Regel als primäre Strukturebene betrachtet wird, die Harmonik als sekundäre.17 Diese beiden Momente – die kategoriale Gleichstellung von dur-moll-tonaler Musik mit archaischeren Modussystemen und der strukturelle Primat des Melodischen bei gleichzeitiger Integration des Harmonischen – machen das Konzept des »lad« besonders geeignet, um Schnittstellen zwischen einstimmiger und artifiziell mehrstimmiger Musik zu modellieren. Es ermöglicht beispielsweise, ausgehend von den linearen Spannungsverhältnissen innerhalb der aus folkloristischem Material herausdestillierten Skalen eine ›systemgerechte‹ Harmonik zu konstruieren. Schon im 19.  Jahrhundert kritisierten Theoretiker wie Vladimir Odoevskij, Aleksandr Serov oder Julij Mel’gunov aus einer solchen »lad«holistischen Perspektive heraus die seinerzeit übliche Harmonisierung russischer Volkslieder mithilfe ›westlicher‹, dur-moll-tonaler Kadenzharmonik. Stattdessen forderten sie eine der »lad«-Struktur entsprechende, streng diatonische, leittonmeidende Harmonisierung.18 Solche Fragen wurden in den 1930er Jahren wieder hochaktuell, als im Gefolge Aurora-Mythos inhärent ist, in seiner 12. Symphonie Das Jahr 1917 (1961) symphonisch durchdekliniert. Der 3. Satz, eine ›realistisch‹ illustrierte Schlachtmusik, trägt den Titel Aurora. Ihm folgt unvermittelt der in eine utopische Perspektive springende Finalsatz Die Morgenröte der Menschheit. Die Hauptthemen des Werks erscheinen dort in ›optimistischer‹ Verklärung. 16 Dmitrij Šostakovič, Simfonija No.  2 soč. 14 (= Novoe sobranie sočinenij 1/2), hrsg. von Manašir Jakubov, Moskau 2001, S. 83f. und 93. 17 Vgl. Cholopov, Artikel »lad«, Sp. 130f. 18 Ein bis ins 18.  Jahrhundert reichender Forschungsüberblick findet sich in der Studie von Igor’ Istomin,

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eines neu propagierten Nationalismus die Schaffung genuiner Kunstmusikkulturen für die nicht-slawischen Ethnien der Sowjetunion gefordert wurde. Die Folkloreadaptionen der nationalrussischen Schule wurden dabei als Modell empfohlen.19 Die Dominanz des »lad«-Modells im sowjetischen Musikdiskurs erleichterte es, bei komplexeren Werken dur-moll-tonaler und auch moderner Musik Rückbezüge zu einstimmigen Folkloretraditionen und damit zu ideologisch privilegierten Kulturbereichen herzustellen. Sowjetische Werkbesprechungen von zeitgenössischer Musik setzen nicht selten bei der Analyse der grundlegenden »lad«-Strukturen an, nicht etwa bei motivischthematischen Prozessen oder konstruktiven Prinzipien der Satzorganisation, wie sie in der westlichen Analysepraxis seit den 1950er Jahren dominierten.20 Ein Ergebnis einer solchen »lad«-Analyse in neuerer Kunstmusik ist die Herausarbeitung eines »Super-Moll« in der Musik Dmitrij Šostakovičs. Den Ausgangspunkt bildete ein vielbeachteter Artikel von Aleksandr Dolžanskij (1908–1966) »Über die ›lad‹Grundlage der Werke Šostakovičs« (1947).21 Der Musikwissenschaftler analysiert darin bei dem Komponisten häufig zu findende modale Skalenbildungen, in denen gegenüber den gängigen diatonischen Modi zusätzliche Stufen erniedrigt sind. So identifiziert er im ersten Satz von Šostakovičs 6.  Symphonie (1939) einen »erniedrigten phrygischen Melodiko-garmoničeskoe stroenie russkoj narodnoj pesni [Der melodisch-harmonische Bau des russischen Volkslieds], Moskau 1985, S.  8–40. Istomin verficht die These, dass in jeder einstimmigen Musik eine latente Harmonik angelegt sei und durch »lad«-Analyse erschlossen werden könne. Eine solche Harmonik manifestiere sich auch in der für die russische Folklore charakteristischen »Unterstimmenpolyphonie« (»podgolosočnaja polifonija«), die die Basis für adäquate Harmonisierungen bilden müsse. Als erster habe diese Methode der Musikethnologe Julij Mel’gunov in den 1880er Jahren angewendet (ebd., S. 17). Zur ›authentischen‹ Harmonisierung russischer Folklore und ihrer Rolle bei der Konstruktion von musikalischer ›Russizität‹ (»russianness«) vgl. die exzellente diskurskritische Studie von Marina Frolova-Walker, Russian Music and Nationalism. From Glinka to Stalin, New Haven und London 2007, besonders das Kapitel »Nationalism after the Kuchka«, S. 226–300. 19 Vgl. das Kapitel »Musical Nationalism in Stalin’s Soviet Union«, ebd., S. 301–355. 20 Die sowjetische »lad«-Analyse, verbunden mit dem Verweis auf die immensen folkloristischen Ressourcen des multiethnischen Sowjetimperiums, avancierte in der dichotomischen Dynamik des Kalten Kriegs zum Gegenmodell des westlichen Reihendenkens. Deutlich wird dies in einem vielzitierten Interview Dmitrij Šostakovičs im Rahmen des Warschauer Herbsts 1959, bei dem erstmals im großen Stil Techniken der westlichen Nachkriegsavantgarde im Ostblock präsentiert wurden. Šostakovič geißelte hier die Dodekaphonie als »engstirnigen Dogmatismus« und äußerte sich abfällig über konkrete und elektronische Musik. Als vielversprechende Alternative zu den westlichen Versuchen, das Dur-Moll-System zu verlassen, pries er den »lad«-Reichtum der sowjetischen Völkerschaften und zählte mit ethnographischer Hingabe charakteristische »lady« auf  : tatarische, georgische, aserbaidschanische, tadschikische und sogar einen in den Liedern der Jakuten vorkommenden »entwickelnden« »lad« (der unweigerlich an Schönbergs Terminus der ›entwickelnden Variation‹ denken lässt). Vgl. Dmitri Schostakowitsch, Erfahrungen. Aufsätze, Erinnerungen, Reden, Diskussionsbeiträge, Interviews, Briefe, hrsg. von Christoph Hellmundt und Krzysztof Meyer, Leipzig 1983, S. 140. An der Authentizität von Šostakovičs Äußerungen bestehen Zweifel  ; sie bedürften einer philologischen Überprüfung. 21 Aleksandr Dolžanskij, »O ladovoj osnove sočinenij Šostakoviča«, in  : Sovetskaja muzyka 11 (1947), Nr.  4, S. 65–74.

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

›lad‹« mit erniedrigter IV. Stufe (h c d es fis g a h  ; Notenbeispiel 3), in der 2. Klaviersonate (1943) einen »zweifach erniedrigten äolischen ›lad‹« mit erniedrigter IV. und VIII. Stufe (h cis d es fis g a b  ; Notenbeispiel 4a, Schema am Schluss des Beispiels).22 Letztere Skala wird in der Sonate nicht nur punktuell verwendet, sondern auch weiträumig in dem finalen Variationssatz (Thema in Notenbeispiel 4a) sowie modifiziert (mit erniedrigter VIII., aber gewöhnlicher IV. Stufe) im Hauptthema des ersten Satzes (Notenbeispiel 4b).

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Notenbeispiel 3: Erniedrigter phrygischer »lad« in Šostakovičs 6. Symphonie (aus Dolžanskij, »O ladovoj osnove sočinenij Šostakoviča«, 1947, S. 66)

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Notenbeispiel 4a: Zweifach erniedrigter äolischer »lad« im Variationsthema des 3. Satzes von Šostakovičs 2. Klaviersonate (aus Dolžanskij 1947, S. 67)

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Notenbeispiel 4b: Hauptthema des 1. Satzes von Šostakovičs 2. Klaviersonate (aus Dolžanskij 1947, S. 67) 22 Ebd., S. 66–68.

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Wolfgang Mende

Dolžanskij stürzt sich wie ein Musikethnologe auf das Šostakovič’sche Materialkorpus und stellt in der Manier älterer Folklorestudien Theorien auf, wie eine den identifizierten »lad«-Skalen gemäße Harmonik aussehen müsste. So entspreche beispielsweise der in dem »erniedrigten phrygischen ›lad‹« (h c d es fis g a h) enthaltene verminderte Septakkord fis a c es einem gewöhnlichen Dominantseptakkord, nicht dem Septakkord auf der VII. Stufe (»vvodnyj septakkord«).23 Und die eigenartigen Schlusstakte des ersten Satzes von Šostakovičs 2.  Klaviersonate (vgl. Notenbeispiel  4c) werden von Dolžanskij trotz der Notation mit dis nicht als Ausweichung von h-Moll nach H-Dur gedeutet, sondern enharmonisch als erniedrigter Quartvorhalt aufgefasst, der sich »lad«-gerecht in den tonikalen Moll-Akkord auflöst.24

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Notenbeispiel 4c: Schlusstakte des 3. Satzes von Šostakovičs 2. Klaviersonate mit erniedrigtem lydischem Quartvorhalt (aus Dolžanskij 1947, S. 68)

Dolžanskij konstruiert hypothetisch auch einen maximal erniedrigten »lad«, in dem sämtliche Stufen gegenüber der natürlichen Mollskala tiefalteriert sind  : h c des es f/fes ges as b (Notenbeispiel 5a). Obwohl ein solcher »lad« bei Šostakovič nur in Annäherungen vorkommt, diskutiert Dolžanskij ausführlich die harmonischen Implikationen. Dem doppelt verminderten Tonikadreiklang h-des-f (Notenbeispiel 5b) werden drei Grade der Dur-Aufhellung zugeschrieben  : Der einfach verminderte Dreiklang h-d-f übernimmt die Rolle des »gleichstufigen Dur« (Notenbeispiel 5c), der gewöhnliche Molldreiklang h-d-fis die eines »zweifachen Dur« (Notenbeispiel 5d) und der auf der Tonika aufgebaute Durdreiklang h-dis-fis die eines »dreifachen Dur« (Notenbeispiel 5e). Die gehäuften Tief­ alterationen von Stufen mollgefärbter »lady« sind Dolžanskij zufolge der Grund, warum Dur in den Werken Šostakovičs besonders »hell« klinge.25 Dolžanskij hebt hervor, dass Šostakovičs »lad«-Neuschöpfungen überwiegend aus dem Moll-Milieu hervorgehen. Er begründet das damit, dass Moll generell stärkere melodische Ausdrucksqualitäten habe, weshalb auch bei den Fugen Johann Sebastian Bachs diejenigen in Moll markanter seien.26 Darüber hinaus stellt er fest, dass die erniedrigten 23 Ebd., S. 68. 24 Ebd., S. 68. 25 Ebd., S. 70. 26 Ebd., S. 69.

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

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Notenbeispiel 5: Maximal erniedrigter »lad« mit drei Stufen der Dur-Aufhellung: normaler Tonika­ dreiklang, »gleichstufiges Dur«, »zweifaches Dur«, »dreifaches Dur« (nach Dolžanskij 1947, S. 70)

Moll-»lady« bei Šostakovič genau in dem Moment aufgetreten seien, in dem er begonnen habe, Werke »von tragischem Charakter« zu schreiben. Diese neuen »lady« hätten das Potenzial zu »immenser tragischer Spannung«.27 Dieser Ausdruckszuschreibung zufolge wäre auch der auffällige Ton es im Variationsthema der 2. Klaviersonate (vgl. Notenbeispiel 4a) nicht als Aufhellung in ein enharmonisches H-Dur – oder gar als kecke BluesWendung  – zu hören, sondern als weitere Einschwärzung eines durch die erniedrigte VIII. Stufe schon verdunkelten Moll. Die von Dolžanskij angedeutete Auffassung, dass in Šostakovičs erniedrigten äolischen oder phrygischen »lady« die ohnehin schon vorhandene Mollfärbung noch gesteigert wird, verfestigte sich in der sowjetischen Musiktheorie zum common sense. Der Musiktheoretiker Lev Mazel’ sprach von einer für Šostakovičs »lad«-Kreationen charakteristischen »vertieften und geschärften Mollexpressivität«.28 Jurij Cholopov verwendete im gleichen Sinne den bereits erwähnten Begriff »Supermoll«.29 In Analogie zu 27 Ebd., S. 70. Das früheste untersuchte Werk in dem Artikel ist die 5. Symphonie aus dem Jahr 1937, die in der Sowjetunion als Šostakovičs kathartische Bekehrung zum sozialistischen Realismus verstanden wurde. Tatsächlich finden sich die von Dolžanskij analysierten Skalentypen bei Šostakovič schon früher, bis weit in die 1920er Jahre hinein. 28 Lev Mazel’, Simfonii D. D. Šostakoviča. Putevoditel’ [Die Symhonien D.D. Šostakovičs. Ein Werkführer], Moskau 1960, S. 11. Mit konkreten Beispielen auch in Bezug auf die 6. (S. 57) und die 7. Symphonie (»vertieftes ›Šostakovič-Moll‹«, S. 71). 29 Vgl. Jurij Cholopov, »Die musikalische Sprache Schostakowitschs im Kontext der Musikströmungen des 20. Jahrhunderts«, in  : Klaus Wolfgang Niemöller und Vsevolod Zaderackij (Hrsg.), Bericht über das Internationale Dmitri-Schostakowitsch-Symposion Köln 1985 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung 150), Regensburg 1986, S. 506f. »Die durch Dolschanski entdeckten ›Tonarten von Schostakowitsch‹ bekamen keine allgemein gültigen Bezeichnungen. Vielleicht könnte die allgemeine Bezeichnung dieser Tonarten, die ebenso finsterer [»bolee mračnych«] als moll [sic] sind, wie moll finsterer als Dur ist, ›Supermoll‹ [»superminor«] lauten und ihre speziellste Form – mit verminderter Oktave – ›hemioktavische‹ Tonarten […]« (ebd., S. 510). Svetlana Savenko zeigte auf, wie Schostakowitschs »düsteres ›Super-Moll‹« in den sowjetischen »Intonationsvorrat« einging und von Komponisten wie Alfred Schnittke und Boris Tiščenko adaptiert wurde. Vgl. ihren

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Wolfgang Mende

Dolžanskijs Ansatz postulierte Cholopov auch die Möglichkeit eines »extrem intensiven und geschärften Durcharakters (»mažornost’«, was sich auch wörtlicher mit »Duralität« oder »Durizität« übersetzen ließe). Als Beispiel führt er das groteske Seitenthema aus dem Kopfsatz von Prokof ’evs 3. Klavierkonzert an (vgl. Notenbeispiel 6). Der ausschließliche Gebrauch von scharfen Dissonanzen auf Durbasis und die Timbrefärbung der die Melodie doppelnden Zusammenklänge bewirke, dass die durtypische »helle Schattierung« hier bis zu »blendender Grelligkeit« gesteigert sei.30

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Notenbeispiel 6: »Super-Dur« im Seitenthema des 1. Satzes aus Prokofevs 3. Klavierkonzert (aus Jurij Cholopov 1976, Sp. 136)

Die angeführten Konstrukte eines ›Super-Moll‹ und ›Super-Dur‹ demonstrieren die integrative Tendenz der sowjetischen »lad«-Theorie. Hinter ihr ist in vielen Fällen die Absicht zu erkennen, verschiedenartige musikkulturelle Sphären miteinander zu harmoniBeitrag »Zum Weiterwirken der von Schostakowitsch ausgehenden Traditionen im Schaffen sowjetischer Gegenwartskomponisten«, in  : Hannelore Gerlach (Hrsg.), Sowjetische Musik. Betrachtungen und Analysen, Berlin [Ost] 1984, S. 43–60, besonders S. 44. 30 Cholopov, Artikel »lad«, Sp. 136f.

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

sieren. Diese Integration greift auf unterschiedlichen Ebenen  : Zum einen können freiere Bildungen moderner Musik an die semantisch gut erschlossene und kulturell nobilitierte »lad«-Sphäre von Dur und Moll rückgebunden werden, zum anderen kann die »lad«Sphäre von Dur und Moll, wie sie in komplexerer Kunstmusik verwendet wird, in ›volksnäheren‹ Formen der Einstimmigkeit verankert werden. In beiden Fällen wird Musik, die potenziell dem Vorwurf eines bourgeoisen Elitarismus oder gar Formalismus ausgesetzt ist, strukturell an die Musikkultur einer ideologisch privilegierten Soziosphäre angenähert. Der gleichen integrativen Absicht dürfte es geschuldet sein, dass sich in der sowjetischen Musiktheorie das im westlichen Diskurs nur vereinzelt – etwa bei Gevaert – diskutierte Konstrukt eines ›Dur-Moll‹ bzw. ›Moll-Dur‹ zu einer Standardkategorie verfestigt hat.31 Nach Cholopov ist »Dur-Moll« [»mažoro-minor«] bzw. »Moll-Dur« [»minoromažor«] die Vereinigung eines gleichnamigen Dur- und Moll-»lad« zu einem synthetischen System (vgl. Notenbeispiel 7).32 МАЖОРО - МИНОР

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Notenbeispiel 9: Aleksandr Olenin, Kudejar (1911), Vorspiel zum 1. Akt (aus Frolova-Walker, Russian Music and Nationalism, 2007, S. 261)

ats (als – in Russland nur schwach ausgeprägte – traditionelle Arbeiterkultur, als – soziologisch dominierende – Kultur ländlicher Arbeitsmigranten oder als links-futuristische Industriekultur) und die autochthone Volkskultur (im Wesentlichen als Bauernkultur). Das traditionelle Volkslied wurde in diesem Kontext damals noch vielfach sehr kritisch bewertet, auch von staatlicher Seite. Im März 1926 veranstaltete die Bildungsbehörde Glavpolitprosvet eine Expertendiskussion über die Frage des »musikalischen Volkstümlertums«. In dem Abschlussbericht wurde ausdrücklich davor gewarnt, eine russische Bauernlied-»Nostalgie« zur Grundlage der sowjetischen Musikkultur zu erheben, denn das Bauernlied sei »Produkt einer anderen Ideologie« und drücke »Trauer, Passivität und Knechtschaft« aus – ein weiterer Beleg für das Beharrungsvermögen des im späten 18. Jahrhundert gestifteten Melancholie- und Moll-Topos, entgegen dem anders gerichteten Trend des kunstmusikalischen Folklorismus seit den 1860er Jahren.54 Diskreditierend war allein die Verknüpfung der nationalen Folklore mit dem Begriff des ›Volkstümlertums‹ (»narodničestvo«), einer politischen Bewegung des späteren 19. Jahrhunderts, die ein »sozialistisches System […] aus der russischen erdverbundenen Bauerngemeinde« entwickeln wollte.55

54 Semën Korev (Hrsg.), Muzyka i politprosvetrabota [Musik und politische Aufklärungsarbeit], o.  O. 1926, S. 19 und 21. 55 So in dem viel beachteten Artikel »O reakcionnom i progressivnom v muzyke« [Über das Reaktionäre und das Progressive in der Musik], der 1924 in der progressiv-marxistischen Zeitschrift Muzykal’naja kul’tura erschien (Heft 1, S. 45–51  ; Zitat S. 45f.). In dem Artikel heißt es, dass die Bauernkultur von »archaischer Agrarwirtschaft« und »kontemplativem Individualismus« geprägt sei. Entsprechend sei das Volkslied »harmonisch arm«, »melodisch eintönig« sowie »primitiv« und »anarchisch« in der Form (S. 48). Als Autor hinter dem

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

Die hier nur in Schlaglichtern angeleuchteten Diskurse  – die Assoziation von Moll mit dem russischen Volkslied und einer darin sich ›intonierenden‹ Haltung von passiver Melancholie  – dürfte den Hintergrund für ein kurioses Zitat von Anatolij Lunačarskij (1875–1933) gebildet haben. Der erste sowjetische Kulturkommissar, der für seine liberale Haltung in den 1920er Jahren bekannt war, aber ebenso für sein oft ans Peinliche grenzendes Pathos, äußert sich 1923 über ein Gastspiel des deutschen Dirigenten Oskar Fried mit Aufführungen von Tschaikowskis 6. und Beethovens 9.  Symphonie. Der folgende Ausschnitt aus seinem Essay belegt in schlagender Weise, wie stark die Semantik von Dur und Moll in der Sowjetunion mit politischem und geschichtsphilosophischem Gehalt aufgeladen war  : »Dur hat in sich einen solchen Charakter, dass es […] jeden Ton um einen Halbton erhöht, weil ihm alle Kräfte zuströmen. In analoger Weise hebt es lachend, mit jubelndem Freudengefühl die Stimmung, flößt Munterkeit ein. Moll dagegen gibt nach, Moll führt zum Kompromiss, Moll ist die Aufgabe der Stellung, Moll erniedrigt den aufgegriffenen Ton, weil ihm die Kräfte fehlen. Erlauben Sie mir als altem Bolschewiken folgendes zu sagen  : Dur ist bolschewistische Musik, Moll ist tief im Innern ein Menschewik. Der Kulturgeschichte hat es gefallen, die beiden Tongeschlechter der Klangwelt Dur [»mažor«] und Moll [»minor«] zu nennen (den großen [»bol’šoj«] und den kleinen [»menšij«] ›lad‹). […] Und um das Banner des Dur-Bolschewismus versammeln sich nicht nur das fortschrittliche Proletariat, sondern auch die besten Elemente der Intelligenzija, […] alles, was kräftig, alles, was vorwärtsgerichtet, mannhaft und freudig ist. […] Und um dieses Banner herum erklingen passenderweise die großen Symphonien des uns so nahen Beethoven, ausgeführt vom Moskauer Orchester unter der Leitung des uns so nahen Fried.«56 Pseudonym »Dialektik« (Dialektiker) wird Nikolaj Roslavec (s.  o.) vermutet. Eine deutsche Übersetzung des Artikels findet sich in  : Detlef Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Laaber 1980, S. 400–407. 56 Anatolij Lunačarskij, »Reč’ na koncerte pod upravleniem Oskara Frida« [Rede zu einem Konzert unter der Leitung von Oskar Fried], übersetzt nach  : A. V. Lunačarskij, V mire muzyki. Stat’i i reči, hrsg. von Grigorij Bernandt und Il’ja Sac, Moskau 1958, S. 114f. In den 1920er Jahren konnte eine solche – freilich eher feuilletonistische als politisch-autoritative  – Äußerung eines hochrangigen Politikers noch offen kritisiert werden. Der Experimentalfolklorist Arsenij Avraamov (1886–1944) verurteilte Lunačarskijs These, dass Moll »für die musikalische Wahrnehmung nicht nützlich« sei, als »verantwortungslose Demagogie« (»Atonal’naja muyzka« [Atonale Musik], in  : Muzykal’naja nov’ 1924, Nr. 9, S. 12f.). Avraamov hielt zwar weder das »›bolschewistische‹ Dur« noch den »angeborenen inneren Menschewik« Moll für ästhetisch zeitgemäß, befand Moll aber immerhin für »aktueller«. Er wies in diesem Zusammenhang auf den »bemerkenswerten Fehler« Lunačarskijs hin, dass dieser seine »Hymnen auf das Dur« gerade auf die einzigen beiden Mollsymphonien Beethovens, nämlich die 5. und die 9., gedichtet habe (»U. T. S.« [Universelles Tonsystem], Teil 2  : »Ė… ili RE…  ?« [E{volution} oder Re{volution}  ?], in  : Žizn’ iskusstva 1925, Nr. 40). Avraamov selbst propagierte ein 48-stufiges Tonsystem, das der Naturtonreihe bis zum 48. Oberton angenähert war und seiner Meinung nach die Grundlage aller östlichen Volksmusik bildete, die noch nicht durch die westliche ›Wohl-Temperatur‹ verseucht sei. In diesem Tonsystem sollten selbst komplexeste Akkordbildungen noch konsonant klingen

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3. Dur/Moll sozialistisch-realistisch: Museale Semantik

Während also Dur mit allerlei revolutionsheroischen Vorschusslorbeeren die Arena des sowjetischen Musikdiskurses betrat, war Moll mit der Semantik von Sentimentalität, Passivität und Schwäche belastet. Wo es allerdings galt, das ›Licht‹ des Sozialismus dialektisch aus der ›Finsternis‹ von Feudalismus, Kapitalismus, Menschewismus und anderer politischer ›Irrwege‹ hervorgehen zu lassen, kam dem Moll eine wichtige Rolle zu. Und sein besonderer Vorzug bestand dabei in der Dichte des semantischen Felds, das es seit dem 16. Jahrhundert akkumuliert hatte. Igor’ Sposobin, der bereits zitierte Musiktheoretiker des Hochstalinismus, formulierte in seiner Elementaren Musiktheorie aus dem Jahr 1959 den bemerkenswerten Satz  : »Realistisches musikalisches Denken ist nur auf Grundlage eines ›lad‹ möglich.« Daran schließt sich eine apodiktische Verdammung der als ›bourgeois‹ gebrandmarkten Neuen Musik an  : »Der Zerfall der bourgeoisen Musikkultur, ihr Bruch mit den Grundlagen der Volksmusik und der realistischen Musik der Klassiker äußert sich in der Kultivierung von Dissonanzen, der Verneinung von Melodizität und Wohlklang in der Musik. Oft zeigt sich dieser Zerfall auch in der Ablehnung eines ›lad‹-Fundaments der Musik – in der sogenannten Atonalität, die die Musik endgültig in ein sinnloses Chaos verwandelt, das für das normale Ohr unerträglich ist.«57

Nach diesem Ausfall folgt in dem für Musikschulen konzipierten Lehrbuch eine fünfzigseitige Darstellung des Dur- und des Moll-»lad«, einschließlich des jeweiligen satztechnischen Gebrauchs und der traditionellen Ausdrucksmöglichkeiten. Daran schließen sich noch drei Seiten zur Pentatonik an, fünf zu den Kirchentonarten und sechs zu sonstigen »lads«, darunter der schon vorgestellte synthetische Dur-Moll-»lad« und die RimskijKorsakov’sche Oktatonik. Das sind im Jahr 1959 in der Sowjetunion die Grenzen des ästhetisch approbierten Tonartenkosmos. In den Zitaten von Sposobin verdient der zweimal verwendete Begriff »realistisch« besondere Beachtung, weil er auf eine weitere wichtige Diskursebene im Zusammenhang mit Dur und Moll verweist. In einer sowjetischen Publikation aus dem Jahr 1959 bezog sich dieser Terminus unweigerlich auf den »Sozialistischen Realismus«. Diese ›schöpferische Methode‹ war bekanntlich in den Jahren 1933/34 zur künstlerischen Norm erhoben worden. Der Auftrag an die Künstler lautete, eine »wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung« zu geben, die geeigund auch altbekannte Phänomene wie das in der Folklore praktizierte natürliche Moll in neuem Licht erscheinen. Zu Avraamovs revolutionärem Archaismus vgl. Mende, Musik und Kunst in der Revolutionskultur, S. 259–272. 57 Sposobin, Ėlementarnaja teorija muzyki, S. 89.

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»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

net sei, die »ideologische Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus« zu befördern.58 Von Anfang an bereitete es Schwierigkeiten, diese für die Literatur formulierte Doktrin auf eine semantisch abstraktere Kunstform wie die Musik, insbesondere auf die Instrumentalmusik, anzuwenden. Schon die frühen Diskussionen betonten, dass der sozialistische Realismus in der Musik von illustrativem Naturalismus abzugrenzen und auch nicht in einem engen Sinne von narrativer Programmmusik zu verstehen sei. Hervorgehoben wurde dagegen die Fähigkeit symphonischer Musik, weltanschauliche Gehalte in ›philosophischer Verallgemeinerung‹ zu vermitteln. Es bedarf in diesem Zusammenhang wohl kaum des Hinweises, dass die Symphonien Beethovens, allen voran die Nummern 3, 5 und 9, das maßgebliche Modell für diese Idee eines sowjetischen »Symphonismus« bildeten. In den zeitgenössischen Kritiken und Werkbesprechungen wurde es bald zum Standard, in symphonische Werke entsprechende welt­ anschauliche Narrative und Bildungsromane hineinzulesen und auf diese Weise die Übereinstimmung mit den politischen Ansprüchen des sozialistischen Realismus auszuloten. Der sozialistische Realismus verlangte zwar lediglich eine relativ abstrakt bleibende Inhaltlichkeit, doch ließ sich deren weltanschauliche Stoßrichtung nur dann ermitteln, wenn das musikalische Material über ein Mindestmaß an Semantizität verfügte. Und in diesem Zusammenhang boten die Intonationssphären von Dur und Moll mit ihrer hochdifferenzierten Bedeutungstradition einen reich vernetzten Fundus, der als alternativlos hingestellt werden konnte. Man könnte die These aufstellen, dass die Hochkonjunktur der Dur-Moll-Tonalität zwischen 1930 und 1960, auf der nahezu sämtliche in der Sowjetunion entstandenen Werke dieses Zeitraums basierten, wesentlich durch den vom sozialistischen Realismus ausgehenden Semantizitätsdruck stimuliert wurde. Ein Produkt dieses Drucks war auch die Fortschreibung einer an die griechische Ethos-Lehre anknüpfende Tonarten- bzw. Tongeschlechtercharakteristik, die in internationaler Perspektive zu dieser Zeit anachronistisch anmutet. In Sposobins Elementarer Musiktheorie findet sich ein umfassender Katalog der Ausdrucksmöglichkeiten von Dur und Moll, der jeweils durch einige Musikbeispiele illustriert ist (Tabelle 1). Sposobins Katalog gibt einen interessanten Einblick in die Methodik sowjetischer Musiktheorie. Der Autor unternimmt keinerlei Versuch, die Wirkung der verschiedenen »lady« aus ihrer intervallischen Struktur und den dahinter verborgenen physikalischen und psychoakustischen Eigenschaften zu erklären. Stattdessen werden die Ausdruckswerte – ganz im Sinne der sozialevolutiven Intonationstheorie Asaf ’evs – aus repräsentativen Beispielen eines musikhistorischen Kanons abgeleitet (wobei die eigentliche Be58 Vgl. Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2  : Das 20. Jahrhundert, Teilband 1, Laaber 2008, S. 302–311. Die zitierte Formel stammt aus einem Grundsatzreferat des ZKMitglieds Andrej Ždanov auf dem ersten Unionskongress der sowjetischen Schriftsteller im Jahr 1934. Sie wurde in den Statuten des Schriftstellerverbands festgeschrieben (ebd., S. 306).

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stimmung der Semantik keine empirische Grundlage erkennen lässt, sondern offenbar einer intuitiven Hermeneutik entspringt). Bemerkenswert ist auch der kulturelle Horizont dessen, was hier als ›repräsentativ‹ ausgewählt ist. Es sind Werke der klassischromantischen Tradition deutscher (Mozart, Beethoven, Schumann) und slawischer (Chopin, Glinka, Čajkovskij, Rimskij-Korsakov) Komponisten, gleichberechtigt neben russischer Folklore und dem internationalen Arbeiterlied. Das jüngste herangezogene Stück Musik ist Rimskij-Korsakovs Oper Die Nacht vor Weihnachten aus dem Jahr 1895. Offenbar wird für die Zeit danach – darunter immerhin auch die bereits vier Jahrzehnte währende Sowjetherrschaft  ! – keine Weiterentwicklung angenommen, die eine substanzielle Ergänzung zur Semiosphäre des 19. Jahrhunderts bedeutet hätte. »lad«

Semantik / Ausdruck

Beispiele

Natürliches Dur

Triumph, Sieg

Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz Rouget de Lisle, Marseillaise

Fröhlichkeit, Lebensfreude

Čajkovskij, 4. Symphonie, 4. Satz

Ruhe, Verträumtheit, helle Nachdenklichkeit

Chopin, Nocturne Es-Dur op. 9/2

Betrübtheit

Glinka, Romanze der Antonida Ne o tom skorblju aus Ivan Susanin (Ein Leben für den Zaren)

Harmonisches Dur [mit erniedrigter VI. Stufe]

[Harmonisches] Moll

Natürliches Moll

Gram, Verbitterung

Schumann, Ich grolle nicht

Erhöhte Anspannung

Beethoven, Klaviersonate op. 31/3, 3. Satz, T. 9ff.

Komischer Effekt des Ärgers

Rimskij-Korsakov, Auftritt des Golova Zdravstvuj, milaja Solocha aus Noč’ pered Roždestvom (Die Nacht vor Weihnachten)

Dunkle »lad«-Färbung

Mozart, Cavatine der Barbarina L’ho perduta aus Le nozze di Figaro

Tragik

Trauermärsche wie z. B. Chopin, Klaviersonate op. 35, 3. Satz

Energie

Rimskij-Korsakov, Ouvertüre zu Pskovitjanka (Das Mädchen aus Pskow)

Fröhlichkeit, Witzigkeit

Tanzlied Oj, Ivan-to ty Ivan (aus der Sammlung 100 russische Volkslieder von Rimskij-Korsakov)

Größere Strenge, Beherrschtheit

Russische Volksmusik und von ihr beeinflusste Musik wie z. B. Borodin, Chor des Landvolks Och, ne bujnyj veter aus Knjaz’ Igor’ (Fürst Igor)

Tabelle 1: Semantische Typologie verschiedener »lad«-Varianten von Dur und Moll nach Sposobin, Ėlementarnaja teorija muzyki, 1959, S. 123–130

Bemerkenswert ist ferner, dass Alterierungen gegenüber den prototypischen Dur- und Moll-Skalen (etwa die kleine Sexte im »harmonischen Dur«) nicht als punktuelle An472

»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

passungen an harmonische oder kontrapunktische Wendungen (etwa die Mollsubdominante in Dur) konzeptualisiert werden, sondern als Elemente eigener, primär linear verstandener »lad«-Systeme, die über ein spezifisches Ausdrucksethos verfügen.

4. Dur/Moll (vulgär-)geschichtsphilosophisch: Requisiten ›optimistischer’ Teleologie

In Beethovens 5. und 9. Symphonie trug die Polarität von Moll und Dur wesentlich dazu bei, den triumphalen ›Durchbruch‹ zum finalen Jubel sinnfällig zu inszenieren. Sie war damit zu einem elementaren Konstruktionsfaktor der »Durch-Nacht-zum-Licht«-Dramaturgie geworden, wie sie von diesen beiden Werken abgeleitet wurde.59 Die zwischen Kunstphilosophie und Kunstreligion changierende, zunächst vor allem deutschsprachige Beethoven-Rezeption des 19.  Jahrhunderts integrierte den Dur-Moll-Gegensatz auf diesem Wege in einen Mythos der Symphonie, der diese zum Organon höchster weltanschaulicher Verkündigung erhob. Dieser Symphonie-Mythos wurde in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren unter dem Stichwort »Symphonismus« (»simfonizm«) in emphatischer Weise wiederaufgegriffen und revitalisiert,60 beflügelt von der Überzeugung, dass allein der Sozialismus der legitime Erbe der (durch Kapitalismus und Dekadenz der Bourgeoisie korrumpierten) humanistischen europäischen Kultur sei.61 Mit 59 Zu den Ursprüngen dieses dramaturgischen Modells in Ouvertüren von französischen Opern der Revolu­ tionszeit und seiner Nutzung in Symphonien mit politisch-patriotischem Kontext siehe den Beitrag von Stefan Keym im vorliegenden Band sowie ders. Symphonie-Kulturtransfer. Untersuchungen zum Studienaufenthalt polnischer Komponisten in Deutschland und zu ihrer Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition 1867–1918, Hildesheim 2010, S. 327–331. 60 Vgl. das instruktive Kapitel »Instrumentalmusik im Zeichen des Sozialistischen Realismus« in  : Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2/1, besonders S. 406–413. Der Begriff »Symphonismus« wurde schon 1918 durch Boris Asaf ’ev geprägt und war ein zentrales Element von dessen Theorie der »musikalischen Form als Prozess«. Terminologisch kanonisiert wurde er in der Sowjetunion im Februar 1935 durch eine vom Komponistenverband veranstaltete Fachkonferenz. Deren Ergebnisse fielen allerdings ziemlich diffus aus und waren noch stark vom Ideal einer proletarischen ›Demokratisierung‹ beherrscht. Eine neue Qualität erlangte der Symphonismus-Diskurs mit dem Sensationserfolg von Šostakovičs 5. Symphonie im November 1937. Den maßgeblichen Bezugspunkt bildete hier nicht mehr die Musikkultur des ›Volkes‹, sondern die komplexe Tradition europäischer Symphonik von Beethoven bis Mahler. Auch fehlte bei Šostakovičs 5. Symphonie eine allzu konkret verortbare ›Inhaltlichkeit‹. Die dennoch vorhandene semantische, expressive und formale Dichte erzwang Deutungen auf der Ebene ›philosophischer Verallgemeinerung‹, von der schon vorher in den Symphonismus-Debatten die Rede war. 61 Dieses Argument brachte mit zeittypischen vulgärsoziologischen Begründungen vor allem der mit Šostako­ vič befreundete Musikwissenschaftler Ivan Sollertinskij 1932 in seinem einflussreichen Buch über Gustav Mahler in Umlauf  : Gustaf Maler i problema evropejskogo simfonizma [Gustav Mahler und das Problem des europäischen Symphonismus], Moskau 1932  ; dt. von Reimar Westendorf in  : Iwan Sollertinski, Gustav Mahler – der Schrei ins Leere (= studia slavica musicologica 8), hrsg. von Günter Wolter, Berlin 1996, besonders S. 70–75.

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dem sowjetischen Begriff des »Symphonismus« verband sich eine Betonung des aus der Beethoven-Rezeption stammenden philosophischen Anspruchs. Dieser wurde sowohl in einer (auch relativ abstrakt auffassbaren) ›Inhaltlichkeit‹ als auch in rein musikalischen Entwicklungsdramaturgien verortet.62 »Symphonismus« war weder an die klassische Gattung ›Symphonie‹ noch an gängige Modelle der ›Sonatenform‹ gebunden. Das Prinzip konnte sich auch in anderen instrumentalen Formen realisieren, genauso wie in Oratorien, Opern, Balletten und selbst Kunstliedern  – sofern eine hinreichende philosophische Höhe des Inhalts sowie ein organisch-entwickelndes Formkonzept erkennbar war, das teleologisch auf ein qualitativ neuartiges ›Resultat‹ zielte.63 »Symphonismus« war auch nicht auf dialektisch-dramatische Formmodelle wie die »Durch-Nacht-zumLicht«-Dramaturgie beschränkt (die als homolog zur Dialektik à la Hegel/Marx sowie zum Prinzip der ›Revolution‹ gelten konnte). »Symphonismus« konnte sich ebenso in ›evolutionären‹ Formmodellen manifestieren, die dann als ›lyrisch‹ oder ›episch‹ klassifiziert wurden.64 Auch wenn also im sowjetischen Symphonismus-Diskurs ein gewisser Pluralismus der zulässigen dramaturgischen Modelle herrschte,65 ist nicht von der Hand zu weisen, 62 Die sowjetische Musikenzyklopädie definierte 1981 unter dem Stichwort »Simfonizm« (Symphonismus) in dieser Hinsicht sehr eindeutig  : »Symphonismus ist ein verallgemeinerter Begriff, der von dem Terminus ›Symphonie‹ […] abgeleitet, aber nicht mit diesem identisch ist. Im weitesten Sinne bedeutet S[ymphonismus]. ein künstlerisches Prinzip der philosophisch-verallgemeinernden dialektischen Widerspiegelung des Lebens in der Tonkunst. Als ästhetisches Prinzip ist der S[ymphonismus]. durch die Konzentration auf die Grundprobleme des menschlichen Daseins […] charakterisiert. In diesem Sinne hängt der S[ymphonismus]. mit der inhaltlich-ideellen Seite der Musik zusammen. Gleichzeitig impliziert der Begriff S[ymphonismus]. eine besondere Qualität der inneren Organisation des musikalischen Kunstwerks, seiner Dramaturgie und seiner Formbildung. In diesem Fall treten die Eigenschaften des S[ymphonismus]. als einer Methode in den Vordergrund, die geeignet ist, besonders tief und wirksam Prozesse des Entstehens und des Wachsens aufzudecken, den Kampf gegensätzlicher Prinzipien mittels intonatorisch-thematischer Kontraste und Zusammenhänge, die Dynamik und die Organizität der mus[ikalischen] Entwicklung und auch deren qualitatives Resultat.« Nadežda Nikolaeva, Artikel »Simfonizm«, in  : Muzykal’naja ėnciklopedija, Bd. 5, Moskau 1981, Sp. 11. 63 Vgl. ebd., Sp. 12f. 64 Unter Berufung auf Sollertinskij benennt Nadežda Nikolaeva, die Autorin des zitierten »Symphonismus«Artikels, zwei dramaturgische Haupttypen des Symphonismus   : »S[ymphonismus]. als konflikthaltige, dramatische Handlung und S[ymphonismus]. als lyrische oder epische Erzählung. Im einen Fall steht die Dynamik der Kontraste, der Gegensätze an erster Stelle, im anderen das innere Wachsen, die Einheit der emotionalen Entwicklung der Bilder oder ihre vielsträngige Verzweigung (epischer S[ymphonismus].)  ; im einen Fall liegt der Akzent auf den Prinzipien der Sonatendramaturgie, der motivisch-thematischen Arbeit, des dialogischen Widerstreits der Konfliktprinzipien (der S[ymphonismus]. Beethovens, Čajkovskijs, Šostakovičs), im anderen Fall auf der Variativität, dem allmählichen Anwachsen neuer intonatorischer Bildungen, wie zum Beispiel in den Sonaten und Symphonien Schuberts, und ebenso in vielen Werken von J. Brahms, A. Bruckner, S. V. Rachmaninov und S. S. Prokof ’ev.« (ebd., Sp. 14). 65 Die soeben referierte, ›pluralistische‹ Typologie von Nikolaeva stammt aus dem Jahr 1981. Es wäre zu untersuchen, inwieweit in den vorangehenden Jahrzehnten ›evolutionäre‹ Formdramaturgien nicht doch einer grundsätzlichen Kritik unterlagen. Immerhin berührte der Dualismus der Prinzipien ›Evolution‹ und ›Revo-

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dass das dialektische »Durch-Nacht-zum-Licht«-Schema am besten auf das Kernnarrativ der sozialistischen ›Heilslehre‹ passte. Dieses Narrativ besagt im Groben, dass ein heroischer und nötigenfalls auch gewaltsamer Kampf gegen feindliche Mächte nötig ist, um den qualitativen Sprung in eine bessere, nämlich sozialistische Gesellschaftsordnung zu erreichen. Und dieses Narrativ war mit der (dialektisch-›naturgesetzlich‹ begründeten, letztlich aber geschichtsmetaphysischen) Überzeugung verbunden, dass der historische Prozess langfristig immer diesen revolutionären Pfad beschreiten werde. Ein solcher Geschichtsdeterminismus ist schon in der bereits zitierten Formel des sozialistischen Realismus implizit enthalten, wonach der Künstler eine »wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung« zu geben habe. Die Formulierung lässt sich so lesen, dass eine ›historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit‹ genau dann »wahrheitsgetreu« und »realistisch« ist, wenn sie eine »revolutionäre Entwicklung« aufzeigt. Unter den Prämissen der Widerspiegelungstheorie bedeutet dies wiederum, dass in der ›Wirklichkeit‹ eine solche ›revolutionäre Entwicklung‹ auch immer objektiv vorhanden sein muss. In der Vorschaltung dieses geschichtsphilosophischen Dogmas vor jegliche empirische Wirklichkeitsanalyse lag die Grund­ aporie des sozialistischen Realismus. Und es bedarf hier wohl kaum des Hinweises, dass die künstlerische und exegetische Praxis in der Ära des Stalinismus eine ergebnisoffene, empirische Wirklichkeitsanalyse gar nicht erwartete, sondern allein auf die effektive Inszenierung gesellschaftlicher und historischer Wunschbilder ausgerichtet war (was aber nicht ausschloss, dass über die ›Wahrheitstreue‹ der gewählten ›Realismus‹-Konstrukte gestritten werden konnte). Geschichtsklitterung war im sozialistischen Realismus die Norm. Was bedeuten diese geschichtsphilosophischen und kunstnormativen Rahmendiskurse nun für die Semantik von Dur und Moll  ? Über das in der Sowjetunion hoch geschätzte »Durch-Nacht-zum-Licht«-Modell Beethovens war die Moll-Dur-Polarität auf die semantische Palette des sowjetischen Symphonismus gelangt und damit in den Grundwortschatz eines spezifischen philosophischen Erkenntnismodus von höchstem Prestige. Die effektvoll inszenierte Aufhellung von Moll nach Dur fungierte in diesem Kontext als Korrelat eines teleologischen Geschichtsmodells, dessen ›optimistische‹ Zielrichtung a priori feststand. Die Moll-Dur-Dramaturgie geriet damit in die Rolle eines Indikators für das Telos des Weltgeistes und die ›Wahrheit‹ marxistischer Geschichtsphilosophie.

lution‹ in der Sowjetunion eine kardinale ideologische Glaubensfrage, an der nicht zuletzt die philosophische Rechtfertigung revolutionärer Gewaltanwendung hing. Lunačarskijs oben zitierte Denunziation des Moll als ›menschewistisch‹ folgt genau einer solchen Verketzerung des ›Evolutionismus‹ (der politisch mit der Sozialdemokratie bzw. dem Menschewismus assoziiert wurde). Der Erfolg vieler nicht- oder nur schwach dialektischer Symphonien (s. u.) zeigt aber, dass dieser Diskurs im Bereich der Kunst weitaus komplexer war.

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So stellen sich die Zusammenhänge zumindest in theoretischer Perspektive dar. Ihr stand eine kompositorische und musikkritische Praxis gegenüber, in der sich durchaus auch Dynamiken entfalten konnten, die diesen theoretischen Prämissen zuwiderliefen. Im letzten Teil dieses Beitrags soll daher untersucht werden, welche Rolle und welches Gewicht der Semantik von Dur und Moll im sowjetischen Symphonismus-Diskurs tatsächlich zukam. Einschränkend muss angemerkt werden, dass eine befriedigende Untersuchung dieser Frage eine Quellenauswertung von einem weit größeren Ausmaß erfordern würde, als sie hier geleistet werden kann. Die folgenden Ausführungen fokussieren lediglich einzelne, mehr oder weniger zufällige Beobachtungen. Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass im Folgenden nur Werke betrachtet werden, die explizit als ›Symphonie‹ bezeichnet sind. Diese bilden lediglich eine Teilmenge des sowjetischen Kosmos des ›Symphonismus‹, und noch dazu eine Teilmenge, bei der gar nicht bei jedem Element gesichert ist, ob ihm die Qualität des ›Symphonismus‹ zukommt.66 1. Zwischen 1930 und 1960 erschien der überwiegende Teil der in der Sowjetunion mit der Gattungsbezeichnung ›Symphonie‹ betitelten Werke unter Angabe einer Duroder Moll-Tonart bzw. hätte mit einer solchen versehen werden können.67 Welche äußeren Implikationen68 dies hatte, wird besonders an den Rändern des untersuchten Felds erkennbar. Die heute als ›2.‹ und ›3. Symphonie‹ mit den Tonarten H- bzw. Es-Dur geführten Werke Šostakovičs waren bei ihrer Uraufführung (am 5.11.1927 bzw. 21.1.1930) und ihrer Erstpublikation (1927 bzw. 1932) ohne Tonartenangabe erschienen. Auch die Zuordnung zur Gattung ›Symphonie‹ stand nicht von Anfang an fest. Die 2.  Symphonie trug bei ihrer Uraufführung und der parallel erfolgten Drucklegung den Titel Oktjabrju. Simfoničeskoe posvjaščenie (An den Oktober. Symphonische Widmung).69 Die 3.  Symphonie wurde unter dem Namen Pervomajskaja simfonija (1.-Mai-Symphonie) uraufgeführt. Erst mit der Veröffentlichung der Partitur im Jahr 1932 erhielt sie den Titel »3.  Symphonie« (mit dem Untertitel »1.  Mai«). Sie wurde damit eindeutig in die 66 Das maßgebliche Paradigma der ästhetisch-ideologischen Bewertung sowjetischer Symphonien bildete das oben beschriebene Konzept des ›Symphonismus‹ mit seinen philosophischen Implikationen. Eine Analyse in Bezug auf die Formtradition der historischen (›bourgeois‹ geprägten) Gattung ›Symphonie‹ war lediglich von akademischer Relevanz. 67 Zu einigen Ungewissheiten vgl. Anm. 77. 68 Inwieweit der formellen Angabe einer Tonart auch eine immanente Tonartendramaturgie entspricht, müsste im Einzelfall genauer überprüft werden. Es ist aber davon auszugehen, dass eklatante Diskrepanzen wie bei der im Folgenden besprochenen 2. Symphonie Šostakovičs später kaum noch vorkamen. 69 Vgl. Laurel Fay, Shostakovich. A Life, Oxford 2000, S.  40. Die Neuedition des Werks im Rahmen der seit 2000 vom DSCH-Verlag veranstalteten »Neuen Werkausgabe« brachte in philologischer Hinsicht keinen substanziellen Mehrwert gegenüber dem (dürftigen) Stand der sowjetischen Werkausgabe aus den Jahren 1979–1989. Der Herausgeberkommentar gibt keinerlei Auskunft darüber, auf welchem Wege das Werk später in den Rang einer Symphonie erhoben wurde und die Zählnummer 2 erhielt. Vgl. Dmitrij Šostakovič, Simfonija No. 2 soč. 14 / Symphony No. 2 op. 14 (= Novoe sobranie sočinenij 1/2), hrsg. von Manašir Jakubov, Moskau 2001, S. 104f.

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Gattungslinie der klassisch konzipierten 1. Symphonie eingereiht.70 Aufgrund der dabei vergebenen Zählnummer 3 wurde rückwirkend (und zunächst nur indirekt) auch die »Symphonische Widmung« »An den Oktober« in den Rang einer Symphonie erhoben. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt am ehesten als symphonische Dichtung mit Schlusschor aufzufassen.71 Die Rubrizierung dieser experimentellen Werke unter die klassische Gattung ›Symphonie‹ zu Beginn der 1930er Jahre kann als Reaktion auf die Restitution eines konservativen Kulturbegriffs in der Zeit des Hochstalinismus gesehen werden. Interessanterweise war zu diesem frühen Zeitpunkt die Angabe einer Tonart und damit die explizite Anbindung an die entsprechende Semiosphäre offenbar noch entbehrlich. Sie kam erst in der zweiten Phase der Nobilitierung dieser Werke hinzu, nämlich in den 1960er Jahren, als Šostakovičs avancierte, in der Stalinära als ›formalistisch‹ geächtete Frühwerke rehabilitiert wurden.72 1964 wurde die 3.  Symphonie wiederaufgeführt, 1965 erschien die 2. Symphonie auf Schallplatte. In einem Werkführer zu Šostakovičs Symphonien aus dem Jahr 1960, in dem der Verfasser Lev Mazel’ verhalten für eine Renaissance der experimentellen Frühwerke warb, war die Tonart der 3. Symphonie bereits mit Es-Dur angegeben, was fortan zum allgemeinen Usus wurde. Bei der 2. Symphonie fehlte hier noch eine Tonartenangabe, und Mazel’ bewertete sie mit dem Hinweis auf ihre »Abstraktheit« (eine höflichere Variante des Formalismus-Verdikts) auch kritischer als das Folgewerk.73 Bei der Schallplatteneinspielung unter Igor’ Blažkov aus dem Jahr 1965 wurde ihre Tonart mit h-Moll angegeben,74 bei einer weiteren Einspielung 1972 unter Kirill Kondrašin dann mit H-Dur,75 was sich schließlich als Standard durchsetzte.76 70 Vgl. Fay, Shostakovich, S. 298f., Anm. 20. Dass ein Werk, das in einem programmatischen Titel den Begriff ›Symphonie‹ enthält, keineswegs zwingend der Gattung ›Symphonie‹ im engeren Sinne zugeordnet werden muss, zeigt das Beispiel von Richard Strauss. Es wäre absurd, die Symphonia domestica und die Alpensymphonie zur ›3.‹ bzw. ›4. Symphonie‹ umzudeklarieren, in Verlängerung der beiden klassizistischen Gattungsbeiträge des noch jungen Komponisten. 71 Vgl. Fay, Shostakovich, S. 295f., Anm. 28. 72 Vgl. Wolfgang Mende, »Desavouierter Konstruktivismus in Šostakovičs Früh- und Spätwerk«, in  : Dmitri Schostakowitsch. Das Spätwerk und sein zeitgeschichtlicher Kontext, hrsg. von Manuel Gervink und Jörn Peter Hiekel, Dresden 2006, Tabelle 1, S. 128. 73 Lev Mazel’, Simfonii D. D. Šostakoviča. Putevoditel’ [Die Symphonien D. D. Šostakovičs. Ein Werkführer], Moskau 1960, S. 30f. 74 Dmitrij Šostakovič, Simfonija no. 2 si minor ›Oktjabrju‹, Melodiya D 017953–4, 1965 (Leningrader Philharmoniker). 75 Dmitrij Šostakovič, Simfonija No. 2 »Oktjabrju«, Melodiya CM 03625–6, 1972 (Moskauer Philharmonisches Orchester). 76 So etwa im Werkverzeichnis des Personenartikels »Šostakovič, Dmitrij Dmitrievič« von Leonid Rimskij in der Muzykal’naja ėnciklopedija, Bd. 6, Moskau 1982, Sp. 392  ; ebenso im (nicht kritisch-philologisch konzipierten) Werkverzeichnis von Derek C. Hulme und auch im Werkverzeichnis in NGroveD2 (Laurel Fay, David Fanning). Das Werkverzeichnis in MGG2 (Detlef Gojowy) verzichtet dagegen bei der 2. und 3. Symphonie nach wie vor auf Tonartenangaben.

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Die Angabe einer Tonart ist bei beiden Werken alles andere als selbstverständlich. In der 3. Symphonie ist immerhin der gesamte Schlusschor erkennbar auf eine tonale Sphäre von Es-Dur bzw. c-Moll bezogen. Der vorangehende Instrumentalteil zeigt eine gewisse Präferenz für das tonale Zentrum b. Von einer stringenten Tonartendramaturgie, die sich gezielt des form- und bedeutungsbildenden Potenzials der Gattungstradition bedient, kann in dem athematisch konzipierten Werk aber nicht die Rede sein.77 Weit fragwürdiger noch ist die Tonartenfestlegung bei der 2. Symphonie. Ein Indiz dafür ist allein das anfängliche Schwanken zwischen h-Moll und H-Dur. Eine h-Tonalität ist ausschließlich aus dem Schlusschor abzuleiten. Dort findet sich allerdings eine erstaunlich konventionelle »Durch-Nacht-zum-Licht«-Dramaturgie, die vom initialen hMoll (bzw. modalen Bildungen in der ›Zwei-Kreuz-Diatonik‹) des Chores zum finalen Orchesterfeuerwerk in H-Dur führt. Die Aufhellungen nach Dur werden an mehreren Stellen als spektakuläre Durchbrüche mit kaskadenartigen Skalen-Ergießungen inszeniert  : bei den Worten »Kampf« (Z. 81, E-Dur), »Oktober« (Z. 87, Fis-Dur, mit Sirene in Fis  ; Z. 90, H-Dur), »Werkbänke« (Z. 93, C-Dur) und schließlich im instrumentalen Schlussjubel (Z. 96, H-Dur). Der instrumentale Anfangsteil ist dagegen über weite Strecken radikal atonal komponiert und lässt auch in seinen wenigen tonalen Inseln (die am ehesten als ironische Zitate lesbar sind) keine Ausrichtung auf eine h-Tonalität erkennen. Mit seinen proto-sonoristischen, mikro- und ultrapolyphonen Bildungen gehört er zum Avanciertesten, was in der Kunstmusik europäischer Tradition in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt komponiert worden ist. Das (in den seltsam zwischen krudem Agitprop und schwülstigem Pathos pendelnden Versen Bezymenskijs bereits angelegte) »Durch-Nacht-zum-Licht«-Schema ist musikdramaturgisch auf zwei unterschiedlichen Ebenen realisiert. Im Schlusschor führt es, wie schon skizziert, ausgehend von h-Moll über eine Kaskadenfolge von Dur-Durchbrüchen zum finalen H-Dur-Feuerwerk. Auf der Ebene des Gesamtwerks bildet nicht der Kon­ trast von Moll und Dur das Konstruktionsgerüst, sondern der Gegensatz von Atonalität und Tonalität. Der ›Finsternis‹ der Atonalität tritt das ›Licht‹ der finalen Tonalität erlösend gegenüber, und zwar das ›helle‹ Licht des Dur. Die Unsicherheit in der Tonartenbenennung, die sich schließlich bei der (nicht konventionsgemäßen) Etikettierung der Finaltonart H-Dur eingependelt hat, verrät eine Störung des traditionellen »DurchNacht-zum-Licht«-Schemas. Umso markierter ist aber die Botschaft, die von der Fixierung des (terminologisch prekären) H-Dur ausstrahlt. Der Hauptakzent fällt durch diese Wahl nicht auf den ›kleinen‹, standardmäßigen Nacht-Licht-Durchbruch im Verlauf des 77 Zu einseitig scheint andererseits das Urteil von Eberhard Hüppe, dass in der 3. Symphonie Es-Dur »als heroische Tonart« nur in den letzten Takten »ungebrochen« erklinge. Vgl. das Kapitel »Symphonik und Politik«, in  : Die Symphonie im 19. und 20. Jahrhundert, Teil 2  : Stationen der Symphonik seit 1900 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 3/2), hrsg. von Wolfram Steinbeck und Christoph von Blumröder, Laaber 2002, S. 218.

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Chorschlusses, sondern auf den unkonventionellen großen  : den Triumph der ›optimistischen‹ Tonalität des Chors über das atonale Chaos des Instrumentalteils. Die Botschaft der Tonartenbenennung strahlt aber auch noch in eine andere Richtung aus. Gemäß der oben zitierten Doktrin Sposobins, dass »realistisches musikalisches Denken« nur auf Grundlage eines »lad« möglich sei,78 erhält Šostakovičs 2. Symphonie mit der Zuweisung des H-Dur-»lad« gewissermaßen das Eintrittsbillett in den Kosmos des sozialistischen Realismus. Die Atonalität des Anfangsteils erscheint in diesem Kontext als drastisch dargestellter Ausnahmezustand, der durch die ›erlösende‹ Macht der finalen Dur-Tonalität affirmativ überwunden wird. Damit wird das Werk gleichzeitig auch kategorial gegenüber den in den 1960er Jahren entstehenden Kompositionen der zweiten sowjetischen Avantgarde abgegrenzt, bei denen die Angabe einer Tonart nicht mehr möglich war. Das ist in diesem Fall insofern von besonderer Bedeutung, als es durchaus naheliegend gewesen wäre, einen Zusammenhang zwischen den Modernismen von Šostakovičs 2. Symphonie und den seriellen und sonoristischen Verfahren der neueren, nonkonformistischen Werke herzustellen. Das H-Dur-Etikett markiert gewissermaßen eine Durchgangssperre zwischen erster und zweiter sowjetischer Avantgarde. 2. Lunačarskijs flamboyante Stigmatisierung des Moll aus dem Jahr 1923 hatte keinerlei Langzeitfolgen. Das ›weiche‹ bzw. ›finstere‹ Tongeschlecht blieb im sowjetischen »lad«-Repertoire fest verankert. Von den zwischen 1930 und 1960 komponierten Symphonien steht eine beträchtliche Anzahl in Moll  : bei Šostakovič sind es 6 von 8 Symphonien (Nr. 4–11  ; 75%), bei Prokof ’ev 2 von 3 (Nr. 5–7  ; 67%), bei Nikolaj Mjaskovskij 10 von 17 (Nr. 11–27  ; 59%) und bei Aram Chačaturjan 2 von 3 (Nr. 1–3  ; 67%). Einzig bei Vissarion Šebalin dominiert Dur (Nr. 3 und 4  ; 0% Moll-Symphonien).79 Der größte Teil der hier aufgeführten Moll-Symphonien endet in Dur. Es gibt allerdings Ausnahmen,80 78 Vgl. Anm. 57. 79 Bei einigen Komponisten, die in der Sowjetunion als Symphoniker durchaus Beachtung fanden, ließen sich die nötigen Daten wegen unzugänglicher Partituren und dem geringen wissenschaftlichen Erschließungsgrad nicht ermitteln, so etwa bei Lev Knipper mit dreizehn (!) Symphonien im betreffenden Zeitraum (Nr. 2–14), bei Gavriil Popov mit fünf (Nr. 1–5) und bei Vladimir Ščerbačev mit drei entsprechenden Werken (Nr. 3–5). In den bislang vorliegenden Werkverzeichnissen von Knipper und Ščerbačev (als Anhänge von Monographien oder Dokumentarbänden) sind generell keine Tonarten aufgeführt. Vgl. Tat’jana Gajdamovič, Lev Knipper. Gody žizni [Lebensjahre], Moskau 2005, S. 189–201  ; Raissa Slonimskaja (Hrsg.), V. V. Ščerbačev. Stat’i, materialy, pis’ma [Artikel, Materialien, Briefe], Moskau 1985, S. 341–343. Die bibliothekarischen Angaben zu den Partiturdrucken lassen erkennen, dass die Tonarten meist auch nicht im Untertitel der Werke geführt wurden. Alle drei Komponisten bedienten sich in den 1920er Jahren der emanzipierten Dissonanz und einer partiell aufgehobenen Tonalität. Inwieweit diese Stilistik in Werken der frühen 1930er Jahre und eventuell auch danach noch nachwirkte, bedürfte einer eingehenden Untersuchung. 80 Pauline Fairclough nennt neben Mjaskovskijs 11. und 13. Symphonie (s. u.) noch Tichon Chrennikovs 1. Symphonie, in der sich das Finale im letzten Moment von D-Dur nach b-Moll wendet. Fairclough bezieht dies bei Chrennikov auf einen «spirit of playfully thwarting expectations« (A Soviet Credo. Shostakovich’s Fourth Symphony, Aldershot u. a. 2006, S. 42).

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und von diesen Werken stießen einige auch auf eine prekäre oder zumindest gedämpfte Rezeption. So enden Mjaskovskijs 11. und 13. Symphonie (1931/32 bzw. 1933, beide b-Moll) in Moll. Zwar lösten beide Werke keinen Skandal aus, doch wurden sie von der Kritik wie auch von der Musikpraxis weitgehend ignoriert. Von seiner 13. Symphonie hatte sich Mjaskovskij in seinen Mitte 1936 publizierten »Autobiographischen Bemerkungen« deutlich distanziert  : »Meine 13. Symphonie ist aus dem Bedürfnis nach einer gewissen Entladung aufgestauter subjektiver Eindrücke […] entstanden – ein sehr pessimistisches Werk mit recht seltsamem Inhalt.«81 Obwohl die Partitur 1945 im Druck erschien, blieb die Moskauer Premiere am 26. Dezember 1934 die einzige Aufführung des Werks in der gesamten Sowjetära.82 Dagegen fand die einsätzige 21. Symphonie von 1940, die in stillem (durchaus als ›trostlos‹ hörbarem) fis-Moll verklingt, einhellige Zustimmung und erhielt 1941 sogar den Staatspreis I. Klasse.83 Der Musikwissenschaftler Igor’ Bėlza hörte in ihr »Bilder der Heimaterde«, durchsetzt von einem »Gefühl freudiger Gehobenheit, lichtvollem Optimismus, sowie Frische und Tapferkeit«.84 Brisant war der Fall von Šostakovičs 4. Symphonie (1934–36, c-Moll). Bekanntlich wurde deren für den 11. Dezember 1936 angesetzte Uraufführung auf Wunsch des Komponisten ganz kurzfristig zurückgezogen.85 Das Werk endet nicht einfach nur in Moll, sondern scheint den größtmöglichen Kontrast zu einem ›optimistischen‹ Finale zu suchen. Über die letzten 143 Takte erstreckt sich ein manisch repetiertes c-Moll-Klangfeld, über das sich erratische Motivreflexe und schließlich Mollterzpendel der Celesta legen. Dieser Schluss ist umso provokanter, als er nach der denunziatorischen Pravda-Kritik vom Januar 1936 komponiert wurde. Seine beklemmende Wirkung lässt sich auch nicht durch den Hinweis relativieren, dass es sich formdramaturgisch ›nur‹ um eine Coda handelt und der eigentliche Sonatensatz konventionsgerecht in pompösem (allerdings durch allerlei Dissonanzen eingeschwärztem) C-Dur schließt. Auf wessen Initiative die Absetzung des Werks zurückging und was die konkreten Gründe dafür waren, ließ sich bis heute nicht eindeutig aufklären.86 Als sicher kann aber gelten, dass der pessimistische Mollschluss für den Komponisten unangenehme Debatten ausgelöst hätte. 3. Eine »Durch-Nacht-zum-Licht«-Dramaturgie auf Basis eines Moll-Dur-Durchbruchs war für ein symphonisches Werk keineswegs zwingend erforderlich, um Eingang in den ›Goldenen Fonds‹ der sowjetischen Klassik zu finden. Dies belegt der herausra81 Zitiert nach Soja Gulinskaja, Nikolaj Jakowlewitsch Mjaskowski, nach der russischen Ausgabe (Moskau 1981) übersetzt von Ernst Kuhn, Berlin [DDR] 1985, S. 156. 82 Vgl. Gregor Tassie, Nikolay Myaskovsky. The Conscience of Russian Music, Lanham u. a. 2014, S. 178. 83 Vgl. Gulinskaja, Mjaskowski, S. 188–191. 84 Zitiert nach ebd., S. 190. 85 Fay, Shostakovich, S. 95. 86 Abweichenden Darstellungen zufolge waren ein Einschreiten der Kulturbürokratie, die Überforderung des Dirigenten Fritz Stiedry, Meutereien der Orchestermusiker oder Bedenken des Komponisten selbst ausschlaggebend. Vgl. Fay, Shostakovich, S. 95–97.

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gende Erfolg einiger Symphonien, die ohne einen an die Moll-Sphäre gebundenen Initialkonflikt arbeiten. So verzichtet Prokof ’ev in seiner 5. Symphonie (B-Dur) weitgehend auf dialektische Dramaturgie und Moll-Tragik. In Moll steht allein der 2. Satz (Allegro marcato). Er hätte allerdings in Sposobins Affektkatalog der Tongeschlechter gut als Beispiel für die mit »Fröhlichkeit, Witzigkeit« charakterisierte Unterkategorie des harmonischen Moll dienen können (vgl. oben, Tabelle 1). Dessen ungeachtet wurde das 1944 komponierte Werk mitunter als ›die‹ sowjetische Siegessymphonie gehandelt – eine kunstmythographische Position, die Šostakovič mit seiner tragischen 8. und seiner heroik-parodistischen 9. Symphonie vakant gelassen hatte, sehr zum Ärger der offiziellen Kritik. Etwas komplexer liegt der Fall bei Mjaskovskijs 16. Symphonie (F-Dur) aus den Jahren 1935/36. Sie erhielt wegen der vom Komponisten lancierten (im Werktext aber nicht kodifizierten) Bezüge zum Fliegerkult der 1930er Jahre den Beinamen »Aviacionnaja«, übersetzbar etwa als »Luftfahrt-Symphonie« oder »Aviatorica«. Die sowjetische Musik­ historiographie krönte das Werk Ende der 1950er Jahre mit dem erlauchten Prädikat einer sowjetischen »Eroica«.87 Dem Beethoven’schen Muster entspricht, dass sich das tragische Moment im 2. Satz, einem Trauermarsch, konzentriert. Mjaskovskij zufolge entstand dieser Satz unter dem Eindruck des Absturzes des Riesenflugzeugs Maksim Gor’kij am 18. Mai 1935 – einem traurigen Exzess der sowjetischen Grandiosomanie, der gleichwohl in einer beispiellosen Medienkampagne zum Exempel sowjetischen Heldenmuts hochgespielt wurde.88 Bemerkenswert ist, dass die zeitgenössische Kritik in dem in a-Moll stehenden Satz die durchgängig verwendete Dur-Variante der Subdominante (D-Dur) hervorhob und sie mit dem »aufgehellten optimistischen Kolorit« des gesamten Satzes in Verbindung brachte, der nicht einen Hauch von »larmoyanter Sentimentalität« zeige.89 Wie in Beethovens Eroica steht in Mjaskovskijs 16. Symphonie auch der Kopfsatz in Dur. Anders als in dem legendären Vorbild ist hier allerdings der tragische Konflikt nicht schon angedeutet. Die emotionale Dramaturgie des Satzes entwickelt sich vielmehr aus der überschäumenden Euphorie des Hauptthemas, gedeutet als ›Widerspiegelung‹ des Enthusiasmus der Fliegerhelden. Von dieser Euphorie wird nach und nach das gesamte thematische Material erfasst. Dafür umgeht Mjaskovskij im Finalsatz, wie auch in vielen anderen seiner Symphonien,90 einen allzu affirmativen Dur-Optimismus. Schon das Themenmaterial zeigt einen deutlichen Molleinschlag, etwa das aus dem 1931 komponierten 87 Vgl. Boris Protopopov und Tamara Livanova, Kapitel »Simfoničeskaja muzyka, koncerty, kamernye žanry« [Symphonische Musik, Konzerte, Kammermusik], in  : Anatolij Solovcov u. a. (Hrsg.), Istorija russkoj sovetskoj muzyki [Geschichte der russischen sowjetischen Musik], Bd. 2  : 1935–1941, Moskau 1959, S. 388. 88 Vgl. Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2/1, S. 430–433. 89 Grigorij Chubov, »16-aja simfonija Mjaskovskogo« [Die 16. Symphonie Mjaskovskijs], in  : Sovetskaja muzyka 1937, Nr. 1, S. 17–30, hier S. 25f. 90 Vgl. Fairclough, A Soviet Credo, S. 6 und 42.

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Massenlied »Samolëty letjat« (Es fliegen die Flugzeuge) gewonnene erste Hauptthema oder das folkloristisch inspirierte zweite Hauptthema. In der Coda schließlich wird der dramaturgisch schon angebahnte Dur-Jubel ostentativ ›abgewürgt‹. Eine apotheotisch anhebende Steigerung über die augmentierten Hauptthemen des 1. und 4. Satzes kulminiert abrupt in vier schroffen fis-Moll-Akkorden, die am ehesten als Memento der tragischen Geschehnisse des 2. Satzes verstanden werden können. Anstatt mit enthusiastischem Triumph schließt der Satz mit einer Reminiszenz des lyrischen Themas des langsamen 3. Satzes, vorgetragen im nostalgischen Ton des Solohorns, ausklingend in einem verklärt an- und abschwellenden F-Dur-Akkord. Diese eigenwillige Schlussgestaltung mit ihrer Brechung des ›optimistischen‹ Telos tat der öffentlichen Akklamation des Werks keinen Abbruch. Der dialektisch geschulte Kritiker Georgij Chubov sah Mjaskovskij hier »bis ins Letzte den klaren Prinzipien des Beethovenschen Symphonismus« treu bleiben  : »Das große, optimistische Finale ist als Synthese der dramatischen Entwicklung der ersten drei Sätze der Symphonie konzipiert.«91 Die wohlwollende Bewertung steht offensichtlich in Zusammenhang mit Chubovs Projekt, Mjaskovskij zum Musterfall der sozialistischen Läuterung eines Künstlers aufzubauen, der seine Sozialisierung noch in der vorrevolutionären Intelligenzija erfahren hatte.92 In seiner Rezension der 16. Symphonie leistet dies der Leitbegriff der »Überwindung«. Chubov bezieht ihn doppeldeutig auf den Wagemut der sowjetischen Piloten wie auch auf die heroische Selbstüberwindung Mjaskovskijs, der von den früher bei ihm vorherrschenden »düsteren Stimmungen der Einsamkeit und Ausweglosigkeit«93 zu einer engen Verbindung zum »Leben seiner  – neu verstandenen  – Heimat« gefunden habe.94 Die Details der Dramaturgie, etwa die vereitelte Finalapotheose mit ihrem MollEinbruch, waren Chubov zur Untermauerung seiner These offenbar nicht wichtig. Entscheidend war der ›optimistische‹ Gesamtgestus des Werks. 4. In der ›offiziellen‹ sowjetischen Exegese des ideologisch-philosophischen Gehalts von Symphonien kam dem zyklusdramaturgischen Einsatz von Moll und Dur kein herausragender Stellenwert zu.95 Zumindest wurde die teleologische Konstruktion eines Werks in der Regel nicht schwerpunktmäßig an diesem Kriterium festgemacht, sondern am gesamten Ensemble der Ausdrucksmittel, und zwar nicht nur des Schlusses, sondern 91 Chubov, »16-aja simfonija Mjaskovskogo«, S. 27. 92 Chubov hatte Mjaskovskij auch dazu animiert, seine »Autobiographischen Bemerkungen« mit ihren vielen selbstkritischen Tönen zu veröffentlichen. Vgl. Gulinskaja, Mjaskowski, S. 156. 93 Von den bis 1930 entstandenen zehn Symphonien Mjaskovskijs stehen nur zwei in Dur (Nr. 5 und 8), die übrigen acht in Moll (80%). Von den acht Moll-Symphonien der früheren Schaffensphase wiederum enden nur drei in Dur (Nr. 4, 6 und 9), die übrigen fünf in Moll (z. T. mit alterierten Ajoutierungen). 94 Chubov, »16-aja simfonija Mjaskovskogo«, S. 18. 95 Die Aussage basiert auf der Kenntnis von geschätzt 20 sowjetischen Symphonie-Kritiken aus den betreffenden drei Jahrzehnten. Sie müsste durch eine systematische Analyse einer deutlich größeren Zahl entsprechender Texte überprüft werden.

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des gesamten Zyklus. Ein Grund hierfür könnte in der Furcht bestanden haben, sich dem Vorwurf einer schematischen Vulgärsemantik auszusetzen, wonach ein Ende in Moll pauschal mit ›Pessimismus‹ und eines in Dur mit ›Optimismus‹ gleichzusetzen wäre. Diese Tendenz bestätigt nicht nur das Beispiel von Mjaskovskijs 16. Symphonie, wo die Moll-Erschütterung der Coda keinen Einfluss auf die Gesamtbewertung hatte. Es zeigt sich auch in den Debatten über die Unglaubwürdigkeit von (formalen) DurSchlüssen. Der wohl meistdiskutierte Fall, der sogar grundlegende Fragen musikalischer Hermeneutik reaktualisiert hat, ist die Dur-Coda des Finalsatzes von Šostakovičs 5. Symphonie. Populär wurde die Frage vor allem durch die apodiktischen Aussagen in den  – hinsichtlich ihrer Urheberschaft suspekten  – ›Memoiren‹ von Solomon Volkov  : »Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedermann klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen wie in ›Boris Godunow‹. So, als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu  : ›Jubeln sollt ihr, jubeln sollt ihr.‹ […] Das ist doch keine Apotheose.«96 Im Gegensatz zu anderen Aufsehen erregenden Deutungen in Testimony (etwa zur 7. oder zur 10. Symphonie) war diese Infragestellung des Apotheosenschlusses nicht neu, sondern wurde in der Sowjetunion schon sehr früh und erstaunlich offen diskutiert.97 Im Wesentlichen hatte sie schon der Schriftsteller Aleksandr Fadeev, der der Uraufführung beiwohnte, in seinem (1957 publizierten) Tagebuch festgehalten  : »Aber das Ende klingt nicht wie ein Ausweg (und noch weniger wie ein Triumph oder Sieg), sondern wie Bestrafung oder Rache an jemandem.«98 In nuce wurde sie aber bereits in einer ausführlichen Besprechung des Werks aus dem Jahr 1938 formuliert, wiederum aus der Feder des auf ideologische Konsistenz bedachten Kritikers Gregorij Chubov  : »In diesem Zusammenhang ist auch die lärmende Coda mit ihrer ›Einhämmerung‹ [vkolačivanie] des Kopfmotivs des ersten Themas in D-Dur über 35 Takte hinweg wenig überzeugend  !«99 Interessant ist die Argumentation, über die Chubov zu diesem Urteil gelangt. Er macht es weniger an der orchestralen Inszenierung der Coda (die wuchtigen Paukenschläge, die ostinaten, mitunter sehr reibenden Streicherfiguren) fest, sondern vielmehr an der mangelhaften dialektischen Gesamtkonstruktion des Werks. Das größte Defizit sah Chubov darin, dass Šostakovič den von ihm selbst benannten Anspruch, das »Werden der Persönlichkeit« als eine »Tragödie mit einer leitenden lebensbejahenden Idee« darzustellen, 96 Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch. Aus dem Russischen von Heddy ProssWeerth, Berlin 32006, S. 283f. 97 ›Erstaunlich‹ deshalb, weil das Werk trotz dieses Verdachtsmoments nicht nur bei seiner ersten Aufnahme, sondern gerade auch in seiner langfristigen Kanonisierung unbeirrt als epochales Werk der Läuterung verstanden wurde. 98 Aleksandr Fadeev, Za tridcat’ let. Izbrannye stat’i, reči i pis’ma o literature i iskusstve, Moskau 21959, S. 895. Im Text der ›Memoiren‹ wird auch direkt auf Fadeev verwiesen. 99 Chubov, »5-ja simfonija D. Šostakoviča« [Die 5. Symphonie von D. Šostakovič], in  : Sovetskaja muzyka 1938, Nr. 3, S. 14–28, hier S. 27.

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Wolfgang Mende

nur »formal«, »nicht-organisch« gelöst habe.100 Dass das Finale mit seiner ›donnernden‹ Bekräftigung des Dur-Themas (in der Coda)« einen »herben und grausamen Eindruck« hinterlasse,101 führte er auf die mangelnde dialektische Vorbereitung dieser Wendung zurück. So bringe die Durchführung des 1. Satzes seiner Ansicht nach keine »qualitativ neuen Resultate« hervor, sondern nur ein »angestrengtes Bemühen, in sich selbst die positive, lebensbejahende Kraft der schöpferischen Überwindung« zu finden.102 Das entscheidende Übel verortete Chubov aber im 3. Satz, einem »Poème der Erstarrung«. Anstelle »echter Tragik«, die von »angestrengtem Kampf«, einer »hohen lebensbejahenden Idee« und kathartischen »Aufhellung« getragen sein müsse, präsentiere Šostakovič nur eine »kleine Welt lyrisch-subjektiver Erlebnisse… und larmoyanter Sentenzen«.103 Der ›erlösenden Kraft‹ eines Dur-Durchbruchs, der traditionell zum Kernrepertoire musikalischer Apotheotik gehört, traute Chubov offensichtlich wenig suggestive Potenz zu. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er den »bejahenden« Charakter des Hauptthemas des Finales schon bei dessen Exposition in d-Moll voll entfaltet sah.104 Die Dur-Metamorphose in der Coda bringt in seiner Interpretation lediglich eine Steigerung (oder Verhärtung) des Charakters, keine qualitative Transformation. In der Hierarchie der charakterprägenden Komponenten der Musik war der intonatorische Gestus der Themen offenbar dominant, die ›Färbung‹ durch ›finsteres‹ Moll oder ›helles‹ Dur eher nachrangig. *** Die vorgenommene Diskursanalyse hat gezeigt, wie stark in der Sowjetunion die Semantik von Dur und Moll von Diskursen politischer, ideologischer, soziologischer und geschichtsphilosophischer Art geprägt war und wie wenig sie sich aus rein musikimmanenten Zusammenhängen konstituierte – ein Befund, der in diesem Fall wegen der Rigorosität des Diskurses vielleicht nur besonders grell ans Licht tritt, nach dem aber in moderateren politischen und kulturellen Kontexten gleichermaßen zu fragen wäre. Dur und Moll waren in der sowjetischen Musik der 1930er bis 1950er Jahre omnipräsent. Der sowjetische Musikdiskurs verlieh diesen traditionellen Kategorien eine spezifische inklusorische Funktion. Aktuelle sowjetische Musik, idealerweise verfasst nach der Methode des sozialistischen Realismus, wurde über die Grundierung in der DurMoll-Tonalität an die Semiosphäre der klassisch-romantischen Tradition angebunden und damit einem breiten, ›realistischen‹ Verständnis zugänglich gemacht. Die Rubrizierung dieser Tonalitätsparadigmen als »lad«, gleichberechtigt neben modalen Systemen 100 101 102 103 104

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Ebd., S. 17. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 26.

»Bolschewistisches Dur« – »Menschewistisches Moll«

der Folklore, gewährleistete darüber hinaus die Durchlässigkeit zum ›Volksschaffen‹. Modernere kunstmusikalische Bildungen wie die mehrfach tiefalterierten »Super-Moll«Skalen bei Šostakovič konnten auf diese Weise in einen organischen Zusammenhang mit vergleichbaren Phänomenen der Folklore gebracht werden. Mit der inklusorischen Tendenz war reziprok auch eine ausgrenzende verbunden. Außerhalb der Sphäre von Dur und Moll sowie ähnlich strukturierter »lady«, konkret in den atonalen und seriellen Techniken der westlichen Avantgarde, galt eine ›realistische‹ Musik als unmöglich. Eine Diskussion der physikalischen bzw. psychoakustischen Eigenschaften von Dur und Moll fand kaum statt. An deren Stelle trat die soziologische Herleitung ihres Charakters und ihrer Semantik gemäß der Asaf ’ev’schen Intonationstheorie. Dur wurde dabei aus klassenkämpferischen Intonationen der Frühen Neuzeit abgeleitet. Für Moll fehlte eine entsprechende Legitimation. Das ›dunkle‹ Tongeschlecht war vielmehr soziologisch, prominent im Fall des russischen ›gedehnten Lieds‹, mit dem sozialen Überbau von Leibeigenschaft und Passivität der unterdrückten Klassen verbunden. Seine Existenzberechtigung gewann es vor allem als integraler Bestandteil der von Beethoven abgeleiteten, mit dem sowjetischen Symphonismus-Ideal seit den 1930er Jahren emphatisch wiederbelebten »Durch-Nacht-zum-Licht«-Dramaturgie, die das dialektische Basisnarrativ der sozialistischen Heilsgeschichte perfekt abbildete. So stand der Großteil der sowjetischen Symphonien zwischen 1930 und 1960 in Moll. Bei der Bewertung von deren philosophischer Konzeption und dialektischer Teleologie spielte das transformative Potenzial der Aufhellung von Moll nach Dur allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Die Semantik von Dur und Moll war zwar normativ verordnetes Gemeingut  ; ihre Wirkmacht wurde aber offenbar – vielleicht gerade wegen der Musealität und Dogmatik ihrer Restitution – nicht allzu hoch eingeschätzt.

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Valentina Sandu-Dediu

Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru Das Gedankengut der westlichen Neuen Musik fand auch in der rumänischen Musik­ avantgarde der Nachkriegszeit seinen Widerhall  ; zugleich gab es eine heimische Debatte rund um die Frage, ob es ein »nationales Spezifikum« in der Musik geben kann und darf. Trotz des Eisernen Vorhangs und der damit verbundenen Schwierigkeiten, sich Informationen zu beschaffen, versuchten die in den 1950er und 1960er Jahren debütierenden jungen Komponisten die Zensur des sozialistischen Realismus zu umgehen und eigene Wege zu beschreiten.1 Die meisten verfassten auch theoretische Studien über ihre eigenen Kompositionssysteme und die dazugehörenden Techniken und Strategien  ; darin geht es allerdings fast ausschließlich um Morphologie und Syntax. Vor 1990 wurde in Rumänien kaum über Expressivität oder Rhetorik der Moderne gesprochen, wohl auch aus Vorsicht, sich nicht mit der Zensur anzulegen. Einigen Komponisten schien es vorteilhafter, die Neue Musik in ihrem abstrakten Raum zu belassen und sich von den opportunistischen und klischeehaften Einlassungen zu distanzieren, die in der offiziellen, programmatischpatriotischen Musik zuhauf auftraten. Die Vorlesungen in den Fächern Analyse, Harmonielehre, Kontrapunkt und Orchestration, die Komponisten wie Dan Constantinescu (1931–1993), Miriam Marbe (1931–1997), Ștefan Niculescu (1927–2008), Tiberiu Olah (1928–2002), Aurel Stroe (1932–2008) und Anatol Vieru (1926–1998) an der Bukarester Musikhochschule hielten, beschäftigten sich ausschließlich – allerdings auf hohem intellektuellen Niveau – mit den Mechanismen, die den musikalischen Diskurs generieren. Mit Semantik setzten sich die damaligen Hochschulprofessoren nicht auseinander, auch wenn man sie ansatzweise deduktiv oder intuitiv besprechen konnte. Inter- und Transdisziplinarität gehörten hingegen zum Tagesgeschäft, denn die meisten dieser Musiker schöpften ihre Ideen aus mathematischen, logischen oder linguistischen Modellen. Ihren Studenten brachten sie bei, zunächst das traditionelle Repertoire gründlich zu verinnerlichen, um sich danach der Klangwelt und der Ideologie der Neuen Musik zu widmen  ; dabei galt es, Komponisten wie Arnold Schönberg und Olivier Messiaen, Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez schätzen zu lernen. Diese Anlehnung an »westliche« Musik erfolgte jedoch in ständiger Begleitung der »nationalen« Tonkunst, die ihre Quellen im raffinierten Nachlass George Enescus und in der Tradition der Folklore oder der byzantinischen Musik fand. Ähnliche Diskussionen und Fragestellungen zu den Dichotomien Tradition/Moderne (Neue Mu1 Für mehr Details dazu siehe Valentina Sandu-Dediu, Rumänische Musik nach 1944, Saarbrücken 2006.

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Valentina Sandu-Dediu

sik) und nationale/universale Musik finden sich in jener Zeit übrigens in allen Ländern Mittel- und Osteuropas, in denen kommunistische Regime diverser Prägung herrschten. Jedes einzelne Land weist trotzdem seine Charakteristika auf, und jeder Komponist behält sich das Recht vor, keiner bestimmten Stilrichtung lebenslang angehören zu müssen. Im Folgenden soll untersucht werden, wie zwei prominente rumänische Komponisten Elemente der Neuen Musik den Bedürfnissen ihrer eigenen Kompositionssysteme anpassen – es handelt sich um Tiberiu Olah und Anatol Vieru. Obwohl sich keiner von ihnen vom Serialismus angesprochen fühlte, haben beide einerseits an andere Ideen der europäischen Avantgarde angeknüpft (Strukturalismus, linguistische, logische und mathematische Modelle) und sich andererseits auch von Elementen der traditionellen rumänischen Musik inspirieren lassen, insbesondere von ihrer modalen Struktur. Nach 1970 versuchten sie, den Dur- und den Molldreiklang wiederzuverwerten und beide Akkorde in ein nicht-tonales Kompositionssystem zu integrieren. Olah und Vieru gaben in ihren theoretischen Schriften deutliche und einleuchtende Erläuterungen ihrer Werke. In beiden Fällen ist dennoch im Unterton eine gewisse Abwehrhaltung zu spüren, die von der Rezeption ihrer Musik innerhalb der geschlossen auftretenden Gruppe der radikalen Modernisten2 bewirkt wurde, der beide Komponisten selber angehörten. Olah und Vieru heben stets hervor, dass sie den Prinzipien der Neuen Musik keineswegs abgeschworen haben und dass ihre Vorgehensweise in keiner Weise eine Rückkehr zur tonalen Musik sei. Ganz im Gegenteil handele es sich dabei um einen Fortschritt, um eine »Emanzipation der Konsonanz« und um »Paratonalität« (Olah) bzw. um eine neue Diatonik, die theoretisch mit der Mengenlehre und mit der anhand des »Siebs des Eratosthenes« ermittelten Primzahlenreihe begründet werden (Vieru). Bevor wir auf die Eigentümlichkeiten der Dur- und Molldreiklänge in einigen Partituren von Olah und Vieru eingehen, sei noch erwähnt, dass beide Ende der 1950er Jahre das Moskauer Konservatorium absolviert hatten  ; nach dem Studium bei Jewgeni Messer bzw. Aram Chatschaturjan kehrten sie nach Bukarest zurück und läuteten eine neue Orientierung in der Musik ihrer Heimat ein. Aus jener Zeit stammen Cantata pe vechi versuri ceangăiești (»Kantate auf alte Volkslyrik der Tschangos«, 1956) von Olah und das Oratorium Miorița, Agnus homini von Vieru (1957) – beide Werke distanzieren sich entschieden von den vokalsymphonischen Tondichtungen des sozialistischen Realismus und bringen neue, unerwartete Klangwelten zu Gehör, die man heute als die ersten Schritte bei dem Erwerb der eigenen modalen Kompositionssprache betrachten könnte.

2 In meinem in Anm. 1 erwähnten Buch habe ich Hermann Danusers Kategorien der »gemäßigten« und »radikalen Moderne« übernommen. Siehe Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 7), Laaber 1984.

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Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru

1.

Was die weitere Entwicklung Tiberiu Olahs anbelangt, setzte er sich in den 1960er Jahren mit der traditionellen, mündlich überlieferten Volksmusik (insbesondere mit der transsilvanischen Folklore) auseinander. Als Folge erschien ein Zyklus von fünf Werken, die nach Skulpturen von Constantin Brâncuși betitelt sind3 und ähnlich wie die Kunst des Bildhauers auf Veredelung und Essenzialisierung folkloristischer Motive setzt. Olah entwickelt ein eigenes, auf Anhieb wiedererkennbares harmonisch-polyphones System, in dem er herausgefilterte Elemente der modalen Welt der Folklore, klangliche Ideen aus der präseriellen Periode der Wiener Schule und komplizierte heterophone4 Überlagerungen in der Tradition Enescus vereint. Diese Inspirationsquellen sind gründlich erschlossen, ebenso wie Werke von Anton Webern, mit denen sich Olah auseinandersetzte, um die gegenseitige Abhängigkeit des imaginären und des reellen Raums der Musik zu untersuchen. Olahs Musik beschreibt folglich die Heterophonie von heterophonen Entwicklungen, sie ist eine vertikale Heterophonie als Derivat partieller Heterophonien. Im Ergebnis kommt es zu methodisch inszenierten akustischen Interferenzen, zu einer Polyheterophonie, die das Problem der Horizontale-Vertikale-Einheit durch gegenseitige Verwandlung in einen mehrdimensionalen Raum löst. Polyheterophonie bedeutet im Grunde eine Heterophonie der Heterophonien – sie kann gelegentlich auch in den Partituren der Klassiker (beispielsweise bei Mozart) vorkommen, vor allem in der Orchestration oder als derivative Nebenerscheinung in der Harmonik oder im Kontrapunkt.5 In den 1970er und 1980er Jahren kristallisieren sich weitere Ideen in der Gestaltung und der Musiksprache Olahs heraus, die im Keim schon in vorangegangenen Werken vorhanden waren. Im Kompositionszyklus Armonii (»Harmonien«) setzt sich Olah weiterhin mit der Multidimensionalität des Klangraums auseinander und erfindet »superponierbare Strukturen« (»structuri autosuperpozabile«), die mit sich selbst oder anderen Strukturen simultan kombiniert werden können.

3 Coloana infinită (»Die unendliche Säule« für Orchester, 1962)  ; Pasărea măiastră (»Der Zaubervogel«. Sonate für Solo-Klarinette, 1963)  ; Spaţiu şi ritm (»Raum und Rhythmus« für drei Schlagzeuger-Gruppen, 1964)  ; Poarta sărutului (»Tor des Kusses« für Orchester, 1965)  ; Masa tăcerii (»Tisch des Schweigens« für Orchester, 1967). 4 Die Heterophonie ist – in der Auslegung der rumänischen Ethnomusikologie und Musikwissenschaft – eine von der traditionellen Musik inspirierte Kompositionstechnik, mit der eine Monodie in mehreren Erscheinungsformen gleichzeitig auf den Plan gerufen wird  ; es handelt sich somit um die Projizierung des monodischen Prinzips auf die Polyphonie, Harmonik und Instrumentation eines Musikwerkes. 5 Vgl. Tiberiu Olah, »Weberns vorserielles Tonsystem«, in  : Neue Zeitschrift für Musik/Melos 1, Nr. 2 (1975), S. 10–13 (Analyse der Bagatellen op. 9), und »Une nouvelle méthode d’organisation du matériau sonore (la ›polyhétérophonie‹ d’Enesco)«, in  : Muzica 4 (1983), S. 35–47 (Analyse der symphonischen Dichtung Vox maris).

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Valentina Sandu-Dediu

»Als ich die ersten drei Stücke des Zyklus Armonii fertig hatte, dachte ich, dass es wie eine moderne Symphonie sei, in der jeder Satz auch einzeln aufgeführt werden kann  ; mehr noch – die beiden Abschnitte von Armonii II können überlagert werden und somit ein neues Stück entstehen lassen, ebenso könnte man Armonii I und Armonii III überlagern. Somit entsteht eine Wechselwirkung im Klang-Gedächtnis, nicht nur auf der Makro-Ebene, sondern auch im Fall einiger Mikrostrukturen, deren Elemente sich teils radikal ändern, teils in neuer Erscheinung auftreten.6 […] Armonii I (1975) und Armonii III (1977–1978), beide für großes Orchester, sind superponierbar. Armonii II (1976) kann hingegen einer Selbst-Superposition unterzogen werden, d. h., die beiden Teile können nach der eigentlichen vollständigen Aufführung überlagert dargeboten werden. Indessen kommt in Armonii IV (1981) für Kammerorchester das Prinzip der Superposition nur teilweise und fragmentarisch zum Zuge.«7

Aus dieser Vorgehensweise resultieren Transformationen der Grundgestalt, neue Klangkonstruktionen, eine Wechselwirkung im Klanggedächtnis sowie polyphon überlagerte Klangschichten, die in der rumänischen Musik in dieser Komplexität ein Novum waren. Harmonisch betrachtet generieren die Überlagerungen allerdings keine Cluster  ; dieses Ineinanderfügen melodischer und modaler Linien erzeugt eine Klangwelt, in der die Konsonanz neu bewertet wird, ohne jedoch in tonale Musik zurückzufallen. Der Komponist experimentiert in diesem Sinne mit einfachen, tradierten, elementaren Strukturen wie dem Durdreiklang und der Pentatonik. Olah geht vom Ursprung des Dur-Dreiklangs in den ersten fünf Elementen der natürlichen Obertonreihe aus und »erweitert« den Akkord zur Pentatonik, in dem er jene Obertöne eliminiert, die im Halbtonschritt zueinander stehen. Nachdem im frühen 20.  Jahrhundert Komponisten wie Claude Debussy, Igor Strawinsky oder Béla Bartók der Pentatonik Aufmerksamkeit in ihren Werken schenkten, wartet Olah mit einem eigenen Konzept auf  – die Töne der pentatonischen Tonleiter werden »ausgefädelt« und in unterschiedlichen Oktavenhöhen positioniert. Die Harmonik der Zweiten Symphonie Peripeții cu trisonuri majore (»Abenteuer mit Durakkorden und Pentatonik«, 1987) basiert laut Olah auf »pentatonischen Relationen, die sowohl die Prinzipien der eigentlichen Atonalität als auch eine Wiederkehr zur klassizistischen Neotonalität ausschließen. Hier wäre es vielleicht angebrachter, von Paratonalität zu sprechen«.8 Im ersten Satz (Genesis) sind wir Zeugen einer allmählichen Entstehung des Durdreiklanges, der in diversen Umkehrungen die zwölf Stufen der chromatischen Tonleiter durchläuft  ; danach folgt eine Überlagerung von mehreren Dreiklängen in einer 6 Olah in einem Gespräch mit Smaranda Oțeanu, in  : Scânteia, Bukarest, 24.6.1983, vgl. Tiberiu Olah, Restituiri, hrsg. von Olguța Lupu, Bukarest 2008, S. 227. 7 Olah in einem Interview mit Laura Manolache, in  : Muzica 3 (1991), zitiert nach Olah, Restituiri, S. 252. 8 Olah im Interview mit Monica Cengher, »Tiberiu Olah la 70 de ani – muzica îndeamnă la introspecţie« [»Tiberiu Olah wird 70  : Die Musik regt zur Introspektion an«], in  : Muzica 1 (1998), S. 45.

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Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru

breiten pentatonischen Landschaft. Im zweiten Satz (Cântec lung) ist die Anspielung auf die Doina-Gattung in der rumänischen Volksmusik offensichtlich – hier handelt es sich um eine melismatische Melodie, die von pentatonischem Material oder Durdreiklängen begleitet wird, wobei letztere übereinandergeschichtet werden und somit Dissonanzen entstehen lassen. Im dritten Satz (Scherzo pentatonico) verwendet Olah die asymmetrischen Aksak-Rhythmen in einem komplexen Kontrapunkt von Polyrhythmie und Polytempi und im Finale greift er schließlich auf die Durdreiklänge vom Beginn des Werks zurück, um sie in beschleunigtem Rhythmus übereinanderzustellen und in einen überwiegend dissonanten Gesamtklang zu verwandeln.9 Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich im Peripeții cu trisonuri majore (»Abenteuer mit Durdreiklängen«) betitelten Bläserquintett (1993). In diesem Werk wird ein C-DurAkkord in eine »paratonale« Harmonik umgegossen und auf alle Register der EnsembleBesetzung verteilt (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn). Olah sucht hier nach weiteren Wegen, der Konsonanz eine Emanzipation zu ermöglichen, wie er im Kontrast zu Schönbergs Emanzipation der Dissonanz zu sagen pflegte. Der Komponist leugnet jedoch keinen Augenblick, dass er ein Produkt der Avantgarde der 1960er Jahre ist, er schwört seinem eigentümlichen, in langjähriger, sorgfältiger Arbeit entstandenen Harmoniksystem keineswegs ab. Zugleich versucht er, Impulse aus der Klassik zu integrieren – Mozart und Beethoven bleiben für ihn unanfechtbare Vorbilder. Wenn man den gesamten Werdegang Olahs kennt, muss man sich allerdings auch fragen, ob seine Filmmusik und seine Werke für den Konzertsaal tatsächlich zwei völlig verschiedene Welten sind – wie auf den ersten Blick oft angenommen und behauptet wurde. In den Jahren 1958 bis 1987 entstanden aus der Zusammenarbeit mit rumänischen Regisseuren Soundtracks zu etwa 30 Filmen, in denen der Komponist seine »zumeist gut kaschierte romantische Ader«10 zeigt. Es gab sogar Stimmen, die den Modernisten Olah einen »klassizistischen Deviationisten«11 nannten und ihm seine Zugeständnisse an die tonale Musik in seiner Filmmusik zum Vorwurf machten. Die Filme waren allerdings unterschiedlicher Natur (Historienfilme, aktuelle Spielfilme, sogar Avantgarde-Filme), und die Soundtracks wurden zum Publikumserfolg, was den Komponisten veranlasste, einige auch zu Konzertsuiten zu bearbeiten. Das unbestreitbare Talent Olahs, die visuelle Dramaturgie mit ungewöhnlichen, wenn auch überwiegend romantischen Klangbildern zu ergänzen, kann in der heutigen, weniger von Tabus beherrschten Zeit besser verstanden werden. In seiner Filmmusik harmonisiert Olah die folkloristischen Einfügungen   9 Interessanterweise spricht Olah im o.e. Interview von der »verträumten Ruhe« des Durdreiklangs und von der »bedrohlichen, dramatischen« Tönung der Dissonanz. In den theoretischen Schriften des Komponisten sind solche Einlassungen über die Expressivität der angewendeten harmonischen Techniken eher selten. Zu Äußerungen dieser Art ließ er sich vielmehr in nach 1990 geführten Interviews bewegen. 10 Andrei Tănăsescu, »Tiberiu Olah și muzica de film« [»Tiberiu Olah und seine Filmmusik«], in  : Tiberiu Olah, Restituiri, S. 517. 11 Ebd.

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Valentina Sandu-Dediu

modal oder tonal, und streckenweise kommt auch sein eigenes System der Superpositionen oder die Technik der räumlichen Verteilung konsonanter Akkorde zum Zuge  ; diese Vorgehensweise ist in den Soundtracks allerdings weniger kompliziert als in seiner modernistischen Musik, wenngleich auch hier Dissonanzen gelegentlich hörbar sind. Im Bereich der Neuen Musik hingegen sucht Olah nach Möglichkeiten, die Konsonanz wieder einzugliedern, selbst wenn er ihr die Zugehörigkeit zur tonalen Welt stets abstreitet. Die Geschicklichkeit, mit der Olah die Tonalität in seiner Filmmusik handhabt, erwies sich jedoch als gewinnbringend für seine kammermusikalischen und symphonischen Werke (für die Oper hat er sich nie interessiert)  ; die »Abenteuer mit Durdreiklängen« sind vermutlich aus Bescheidenheit so betitelt, vielleicht auch um den hohen Stellenwert zu kaschieren, den er dem Durdreiklang beimisst und der ohnehin über eine einfache Begebenheit hinausgeht. Letztendlich kommt das  – in den Soundtracks so offensichtliche – dramaturgische Talent Olahs auch in den anderen Partituren des Komponisten durch die feine Dosierung von Überraschungseffekten und Kontrasten zum Zuge. Dur- und Molldreiklänge sind die Protagonisten des harmonischen Geflechts auch in Olahs Dritter Symphonie (1989)  ; hier zieht der Komponist die aus der Vertikale gewonnenen Elemente der Akkorde aus dem ersten Satz der »Mondscheinsonate« von Beethoven12 für seine Zwecke heran. Die Manipulation der Dreiklänge ist hier kein Einlassen auf »Abenteuer« mehr, sondern die Haupttechnik der harmonischen Gestaltung und Umgestaltung des Initialmaterials (worauf auch der Untertitel der Symphonie hinweist  : Dacă treci râul Selenei… Metamorfoze pe Sonata Lunii (in etwa  : »Überquert man den Selene-Fluss… Metamorphosen nach der Mondscheinsonate«). Das Konzept der Paratonalität wird hier mit dem musikalischen Zitat in Verbindung gebracht und veranschaulicht somit die Kompatibilität der Harmonik Olahs mit derjenigen Beethovens. Das berühmte Motiv der Beethoven’schen Klaviersonate wird in Olahs Musik absorbiert und organisch integriert, es kommt obsessiv immer wieder zum Vorschein (melodische Bruchteile der bekannten Arpeggio-Begleitung). Eine weitere Methode, den musikalischen Diskurs zu generieren, ist die Verbindung der prägnantesten Dissonanz aus Beethovens Partitur (h-e-g-ais, Beethoven, T. 16) mit einem Akkord aus Farben (Nr. 3 der Fünf Orchesterstücke op.  16) von Schönberg (c-gis-h-e-a). All diese Klangquellen werden durch diverse Variationstechniken in ein engmaschiges harmonisches und kontrapunktisches Gewebe verwandelt, in eine »komplexe, sich selbst superponierbare Harmonik, von der ich hoffe, dass sie als mein eigenes System anerkannt wird«.13 12 Vielsagend sind auch die Titel der einzelnen Sätze der Dritten Symphonie, die Auskunft über die Beziehung zu Beethovens Partitur geben  : 1. La colonna armonica  ; 2. Sovrapposizione armonica 1  ; 3. Canone  : basso beet­hoveniano = [ganze Note] colla sua diminuzione = [Viertelnote]  ; 4. Sovrapposizione armonica 2 e canone diminuato  ; 5. Il basso errante e la dissonanza beethoveniana (si, mi, sol, do, la ♯)  ; 6. Sovrapposizione 3  ; 7. Sovrapposizione e l’accordo beethoveniano (accelerato). Vgl. Tiberiu Olah, Simfonia a III-a, Dacă treci râul Selenei… Metamorfoze pe Sonata Lunii, Bukarest 1996. 13 Olah in einem Interview mit Laura Manolache, in  : ders., Restituiri, S. 260.

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Valentina Sandu-Dediu

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Notenbeispiel 2: Tiberiu Olah, Symphonie Nr. 3, 1. Satz, T. 51-53

In der rumänischen Musikwissenschaft gibt es mehrere detaillierte Analysen14 dieser Symphonie Olahs, was zumindest von der Bewunderung dieses Werkes in Fachkreisen zeugt (der offizielle Musikbetrieb zeigte sich hingegen nicht gerade erpicht darauf, 14 Eugen Wendel, »Simfonia a III-a de Tiberiu Olah. Câteva aspecte armonice și formale« [»Die 3. Symphonie von Tiberiu Olah. Einige harmonische und formale Aspekte«], und Olguța Lupu, »Conexiuni în Simfonia a III-a de Tiberiu Olah« [»Zusammenhänge in der 3. Symphonie von Tiberiu Olah], in  : Tiberiu Olah și multi-

494

Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru

es im Konzertsaal aufführen zu lassen). Es wurde auch die Frage aufgeworfen, ob eine Musik, die auf Zitate und auf die Tradition der Klassik zurückgreift, nicht etwa Ausdruck einer rumänischen musikalischen Postmoderne sei.15 Olah selbst war allerdings eher zurückhaltend gegenüber einer solchen Vereinnahmung (wie übrigens auch seine Komponistenkollegen aus derselben Generation). Wie dem auch sei  – die Einstellung Olahs ist beispielsweise nicht im Geringsten vergleichbar mit jener Mauricio Kagels in Ludwig van oder jener Karlheinz Stockhausens in Opus 1970. Die Zeiten sind auch unterschiedlich  – in der Neuen Musik hat sich die Einstellung gegenüber der Tradition von den 1970ern bis in die 1990er Jahre empfindlich gewandelt. Die Dritte Symphonie Olahs ist kein Auftragswerk zu einem bestimmten Anlass (wie die beiden anderen erwähnten Werke, die anlässlich des 200. Beethoven-Jubiläums komponiert wurden) und hat auch keine programmatische Intention, die Rezeption Beethovens kritisch zu hinterfragen oder den Missbrauch seiner Musik als Konsumprodukt der Kulturindustrie zu kritisieren. Olah setzt sich lange Zeit mit A k k o r d e n und mit aus der Vertikale abgeleiteten H a r m o n i e - S ä u l e n obsessiv auseinander, bis er sie für den Gebrauch in seiner eigenen Musiksprache herausfiltern kann. Wenn man seine Bewunderung für die Wiener Klassik als Argument für eine gewisse Einstellung gelten lässt (nach der Dritten Symphonie komponierte er ein Konzert für Saxophone mit dem Titel Obelisc pentru Wolfgang Amadeus [»Obelisk für Wolfgang Amadeus«], 1991), dann könnte man einige seiner Werke der Postmoderne zuschreiben. Doch Olah wirft einen viel subtileren Blick auf die Vergangenheit, seine Erfahrung mit Filmmusik und sein Talent für Harmonik potenzieren die Auseinandersetzung mit der musikalischen Überlieferung. Die Arbeit mit Durdreiklängen, die Rückwendung zur Melodie und zur neuen Konsonanz zeigen bereits in den 1970er Jahren, dass sein Schaffen in einer gewissen perspektivischen Verwandtschaft zum Werk György Ligetis steht, selbst wenn die Werke der beide aus Siebenbürgen stammenden Komponisten an sich keine Ähnlichkeiten aufweisen.

2.

Das Interesse an der Konsonanz wird bei Anatol Vieru Anfang der 1970er Jahre offenkundig, in einer Zeit, als sein Ruf als nonkonformistischer Avantgarde-Komponist zumindest in rumänischen Künstlerkreisen konsolidiert war. Gebrauch von Zitaten macht er schon früher als Olah, wobei die Bedeutung dieser Vorgehensweise eher in einer ähnlichen Einstellung wie in den oben erwähnten Werken Kagels oder Stockhausens zu finden ist. Und schon haben wir es wieder mit Beethoven und dem berühmten Zitat aus plele fațete ale postmodernismului [»Olah und die vielseitigen Facetten der Postmoderne«], hrsg. von Olguța Lupu, Bukarest 2008, S. 77–92 und 115–141. 15 Sandu-Dediu, Rumänische Musik nach 1944, S. 205–210.

495

Valentina Sandu-Dediu

der »Mondscheinsonate« zu tun  : In Vierus komödienhafter Collage Sieb des Eratosthenes (1969) erklingt genau jener Takt 16 aus dem ersten Satz (die »Beethoven-Dissonanz«), jedoch nur als flüchtige Andeutung in Überlagerung mit anderen Zitaten und musikalischen Ereignissen. In ihrem kompositorischen Suchen sind Olah und Vieru gleichermaßen von der Idee der Zeit und des Gedächtnisses beflügelt. In dieser Zeit (Ende der 1960er Jahre) beginnt Olah über seine (auch mit sich selbst überlagerbaren) Superposi­ tionen nachzudenken, während Vieru mit Musikformen experimentiert, die er als »Sieb« und »Sanduhr« bezeichnet. Die Komposition Das Sieb des Eratosthenes widmet sich der Idee einer »vom Zahn der Zeit durchlöcherten Musik«.16 Die musikalische Umsetzung basiert auf Eratosthenes’ gleichnamigem Algorithmus und der Schaffung von 206 Zeitkästchen von je 3–4 Sekunden. Vieru ordnet den musikalischen Ereignissen Primzahlen und deren Vielfache zu und eruiert dadurch die Häufigkeit der zu inszenierenden Ereignisse  : Am häufigsten treten »anonyme« Klangereignisse auf, am seltensten »ungewöhnliche«, während Zitaten von Mozart, Beethoven und Pablo Sarasate sowie Auszügen aus Eugène Ionescos Theaterstücken ein moderater Auftritt gegönnt wird. Im Ergebnis haben wir es mit einer mehrschichtigen Collage von Zitaten zu tun, wobei die Klangereignisse in Kategorien unterteilt sind, die Vieru »wenig prägnante Musik«, »prägnante Musik« (die Zitate) und »sehr prägnante Musik« nennt. Auf der Ausdrucksebene liegt die Zweckmäßigkeit dieser Musik in der Erzeugung von Ironie und »Verballhornung«, jedoch wird hier nicht die Klassik per se aufs Korn genommen, sondern es werden die Mechanismen der Hörgewohnheiten persifliert. Ein gewisser Zeitgeist schwebte ohnehin über Europa und der Szene der Neuen Musik  – Vierus Sieb des Eratosthenes wurde nur wenige Jahre nach Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten (1965) komponiert. Auch bei Zimmermann haben wir es mit einem stilistischen Pluralismus des Zitats und der Collage zu tun und auch der deutsche Komponist hat eine eigene und originelle Auffassung von Zeit – er spricht von der »Kugelgestalt der Zeit«. Eine weitere mögliche Parallele zu Vierus »Verballhornungsstrategie« könnte man auch bei Mauricio Kagel in der parodistischen Entstellung des Zitats in Ludwig van (1970) erblicken. Und schließlich ist es möglicherweise kein Zufall, dass Vierus Sieb des Eratosthenes und Berios Sinfonia im selben Jahr (1969) komponiert wurden  ; das zuletzt genannte Werk ist insbesondere für die Komplexität der musikalischliterarischen Collage im dritten Satz berühmt. Das »Sieb des Eratosthenes« ist bekanntlich ein einfacher Algorithmus, um Primzahlenreihen zu generieren. Nach dem gleichnamigen Stück von 1969 griff Vieru auch in späteren Werken auf diese Methode zurück, die zu seinem Lieblingsverfahren im Aufbau des Tonmaterials wird. In der Zweiten Symphonie hat das von Durdreiklängen abgeleitete Material keinerlei Bezug zu den Gesetzmäßigkeiten der Tonalität, sondern befolgt 16 Anatol Vieru, »În domeniul formei muzicale« (»Im Bereich der Formenlehre«), in  : Studii de muzicologie 8, Bukarest 1972, S. 18.

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Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru

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* Legato de expresie ca pentru o frază lungă. Legato d'expression comme pour une très longue phrase. ** Tremolo non misurato.

Notenbeispiel 3: Anatol Vieru, Symphonie Nr. 2, Psalm, T. 1-9

497

Valentina Sandu-Dediu

mathematische Grundsätze.17 Vieru filtert aus einer Menge von natürlichen Zahlen die Primzahlen 2, 3, 5, 7 etc. heraus. Jeder einzelnen Primzahl ordnet er je einen unterschiedlichen Dur-Dreiklang zu, die ihrerseits im Abstand von jeweils einer perfekten Quinte zueinander stehen. Von den drei Teilen der Symphonie – Tachykardie, Psalm und Entfesselte Melodie – ist der zweite eine Reihenfolge von Durdreiklängen (beginnend mit F-Dur), denen die ersten 12 Primzahlen von 2 bis 37 entsprechen  : 2

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17 In seinem in Rumänien in englischer Sprache erschienenen Buch The Book of Modes (Bukarest 1993) erläutert Vieru sein System der Modi-Generierung mit Hilfe der Mengenlehre ausführlich. Die Töne und Intervalle des temperierten Systems können demnach als Restklassen Modulo 12 betrachtet werden. Mit Hilfe ganzer Zahlen können ferner auch einfache Intervalle dargestellt werden  : 0 – Unisono, 1 – Halbton (kleine Sekunde), 2 – Ton (große Sekunde), 3 – kleine Terz, 4 – große Terz, 5 – reine Quarte, 6 – übermäßige Quarte, 7 – reine Quinte, 8 – kleine Sexte, 9 – große Sexte, 10 – kleine Septime, 11 – große Septime. 18 Für eine detaillierte Analyse der Strukturmechanismen dieser Symphonie siehe Adina Sibianu, »Sita lui Eratostene în Simfonia a II-a de Anatol Vieru« [»Das Sieb des Eratosthenes in der 2. Symphonie Anatol Vierus«], in  : Muzica 1–2 (2015), S. 162–174.

498

Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru

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Notenbeispiel 4: Anatol Vieru, Symphonie Nr. 5, 1. Satz, T. 1–20

Ohne auf weitere technische Details einzugehen, lässt sich zusammenfassend sagen, dass Vieru mit dieser Vorgehensweise nicht-tonale Konsonanzen herstellt. Er geht sogar von der Idee aus, dass die diatonischen Dur- und Molltonleitern, die dem tonalen System zugrunde liegen, eigentlich nur zirkuläre Permutationen desselben heptatonischen diatonischen Modus seien. Mit Hilfe der Mengenlehre und der dazugehörigen Operationen (Komplemente, Inklusion, Vereinigung etc.) baut Vieru sein eigenes Modussystem auf, ähnlich wie Messiaen von natürlichen Modi ausgegangen war, um seine eigenen »künstlichen« Modi mit begrenzten Transpositionsmöglichkeiten zu definieren. Eine besondere Rolle kommt hier dem »Dur-und-Mollakkord« zu, der beide Terzen enthält und in der mündlich überlieferten Musik in Südosteuropa wie auch in Bartóks Musik oft vorkommt  : »Often we witness matchings and blendings of the major with the minor. There exists an ancient tradition in this respect. Certain aspects of this expressive symbiosis have become a second 499

Valentina Sandu-Dediu

nature. Such are the major dominant in the minor tonalities […], the minor subdominant in major tonalities  ; the Picardian third as an ending of musical pieces in minor tonality  ; the enriching or replacement of the steps of the major with those of the minor homonym (or – more seldom – the contrary). We can speak of the major-minor mode (3,1,3,5 = C, E flat, E, G) in which a perfect fifth contains within its limits a fluctuating major-minor third.«19

All diese rigorosen theoretischen Einlassungen Vierus begründen die Rückbesinnung des rumänischen Komponisten auf eine neue Konsonanz und zugleich auf die Diatonik. In einem Interview von 1991 eröffnete er, dass er in den 1960er Jahren zwar der Auffassung gewesen sei, dass die Diatonik eine historisch überholte Etappe der Musikgeschichte bilde, um sie später jedoch wiederzuentdecken und sich wieder auf ihren Wert zu besinnen. Dies war aber nicht der Ausdruck einer Retro-Haltung, sondern Teil eines Prozesses, der den Sinn und die Bedeutung der Neuen Musik vertieft und bereichert.20 Auf die Frage, ob er mit dieser Auffassung in die Nähe der Postmoderne gerückt werden könne, antwortete er ausweichend und hob die Bedeutung des I n t e r v a l l s im kompositorischen Denken hervor  ; es handle sich dabei um eine integrative Technik, die eine neue Musik hervorbringen soll, die sich zugleich vor der Vergangenheit nicht verschließt  : »Es gibt einige Theorien der Gegenwart, die tiefe Gesetzmäßigkeiten im Musikdenken ans Tageslicht befördert haben, die alle gewichtigen Musiksprachen der Vergangenheit gemeinsam haben. So etwa ist die rumänische Modi-Theoretisierung von der neomodalen Komposition ausgegangen und hat anschließend, über den Tellerrand blickend, Gesetzmäßigkeiten und Operationen eruiert, die sowohl in der modalen als auch in der tonalen und seriellen Musik wirksam sind. Die amerikanischen Theoretiker sind wiederum von der Analyse der atonalen Musik ausgegangen (einer aufstoßenden, unorganisierten, schwer zu definierenden Musik, die historisch betrachtet zwischen Tonalität und Serialismus zu platzieren ist) und haben schließlich dasselbe Modell des musikalischen Denkens entdeckt. Über die Atonalität hinaus haben sie also dieselben allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten entdeckt, die folglich einen objektiven Charakter haben. Diese Theorien waren nicht auf die Postmoderne zugeschnitten, sie können ihr jedoch nützlich sein, denn heute kann man Musik direkt nach diesen tiefgehenden Gesetzmäßigkeiten konzipieren, die Modalität, Tonalität und Serialismus gemeinsam haben.«21

Dass Vieru auf amerikanische Theoretiker Bezug nimmt  – genauer gesagt auf die sogen. »Pitch-Class-Set«-Analyse –, ist wohl kein Zufall  : In den 1980er und 1990er Jahren entdeckte der rumänische Komponist Zusammenhänge zwischen seiner Kompositions19 Vieru, The Book of Modes, S. 99. 20 Ebd., S. 100. 21 Valentina Sandu-Dediu, »Interviu cu Anatol Vieru« (»Interview mit Anatol Vieru«), in  : Melos 11–12, Bukarest 1991, S. 5.

500

Dur- und Molldreiklänge in nicht-tonalen Werkstrategien von Tiberiu Olah und Anatol Vieru

methode und einigen Forschungsrichtungen der amerikanischen Musikwissenschaft. Zusammen mit John Rahn, der die analytische Tradition von Theoretikern wie Milton Babbitt, George Perle, Allen Forte synthetisierte, organisierte Vieru 1994 sogar ein Symposium über Musik und Mathematik in Bukarest. Während die amerikanischen Theoretiker sich hauptsächlich der Analyse atonaler Musik widmeten, blieb Vieru der modalen Musik treu. Was sie dennoch eint, ist die Idee des Intervalls als Maßeinheit, die auch der aus der Mengenlehre abgeleiteten Kompositionsmethode zugrunde liegt. Somit wird das ahistorische Zusammentreffen aller Musiksprachen begünstigt. *** Wenn man die theoretischen Argumente von Olah und Vieru zugunsten der Einfügung von Dur- und Molldreiklängen in ihre Kompositionen rückblickend betrachtet und ihre Werke vom heutigen Standpunkt aus erneut analysiert und mit den Ohren des 21. Jahrhunderts hört, so bemerkt man den Mut der beiden Komponisten, die Dreiklänge erneut auf den Plan zu rufen, nachdem sie lange Zeit in der Avantgarde der Nachkriegszeit verpönt waren. Ihre Vorgehensweise begründen beide mit strukturellen Erläuterungen  : Olah definiert in dieser Weise seine Harmonik, Vieru sein Intervallkonzept.22 Keiner der den beiden Komponisten schwört jedoch explizit der chromatischen Tonleiter und den Tabus der europäischen Musik der 1950er und 1960er Jahre ab. Zusammen mit anderen, bereits erwähnten Generationskollegen bleiben sie bis zum Ende der westlichen Neuen Musik treu. Dem kommunistischen Regime, das den Komponisten tonale, zugängliche, breite Massen beflügelnde Werke abverlangte, stellten sie eine Art stille Fronde entgegen. Mit der Neubewertung der Dreiklänge in einigen Kompositionen machten sie weder Zugeständnisse an den Massengeschmack noch Kompromisse mit der Zensur. Andererseits blieben sie auch nicht in einer intoleranten Avantgarde gefangen. Olah und Vieru waren Komponisten, die in tiefer Kenntnis und Verehrung der Vergangenheit sich der Tradition wieder annäherten, um aus ihr nur das herauszufiltern, was mit dem jeweils eigenen Konzept zusammenpasst. Sie passen sich unauffällig und spontan dem integrativen und toleranten postmodernen Zeitgeist jener Jahre an. Die konsonanten Dreiklänge in der Musik von Olah und Vieru sind keineswegs der Logik der tonalen Funktionsharmonik unterworfen, sie werden aber auch nicht als »Fremdkörper« in einem atonalen Kontext behandelt. Sie sind organisch in einer Musiksprache eingebettet, in der die Relation zwischen den Akkorden nicht von tonalen Gesetzmäßigkeiten regiert, sondern eventuell von Regeln der modalen Welt bestimmt wird, die wiederum (im Fall Vieru) mathematisch generiert sind. Die beschriebenen Werke können folglich keineswegs als neoklassi-

22 Erst in Essays, die er nach 1990 veröffentlichte (auch wenn sie schon früher verfasst worden waren), bezog sich Anatol Vieru auf die Semantik des Dur-und-Mollakkords in seiner Zweiten und Fünften Symphonie  ; Anatol Vieru, Cuvinte despre sunete [»Worte über Töne«], Bukarest 1994.

501

Valentina Sandu-Dediu

zistisch oder als Retro-Stil bezeichnet werden, sie beschreiten ihre eigenen, individuellen Wege im Kontext der Neuen Musik der 1970er und 1980er Jahre. Übersetzung  : Sorin Georgescu

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Felix Wörner

Dur/Moll-Klänge in »posttonaler« Musik Erinnerungsfragmente einer verlorenen Idylle?

»But Dmitri Dmitrievich was listening, and hearing, as he always did. So when the three glasses with their different levels came together in a single chink, he had smiled, and put his head on one side so that the sunlight flashed briefly off his spectacles, and murmured, ›A triad.‹ And that was what the one who remembered had remembered. War, fear, poverty, typhus and filth, yet in the middle of it, above it and beneath it and through it all, Dmitri Dmitrievich had heard a perfect triad. The war would end, no doubt – unless it never did. Fear would continue, and unwarranted death, and poverty and filth – perhaps they too would continue for ever, who could tell. And yet a triad put together by three not very clean vodka glasses and their contents was a sound that rang clear of the noise of time, and would outlive everyone and everything. And perhaps, finally, this was all that mattered.«1

In der Rahmenhandlung von Julian Barnes’ meisterhaftem Künstlerroman The Noise of Time wird ein durch drei aneinanderstoßende Gläser zufällig entstehender Dreiklang zum Auslöser von Lebenserinnerungen des Protagonisten Dmitri Shostakovitch. Der Klang des Dreiklangs erscheint dabei als ein unerschütterliches Symbol der Hoffnung auf Unberührbarkeit, Überlegenheit und Reinheit der Kunst, auch in Zeiten von Armut, Furcht, Krieg, politischer Verfolgung und Existenznot von Gruppen und Individuen  – den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Dass der Wert und die Aussagekraft von Kunst unabhängig vom »Lärm der Zeit« zu überdauern vermag, mutet im Roman allerdings nur als Silberstreif einer Hoffnung an. Denn in den Reflexionen und aufsteigenden Erinnerungssequenzen Shostakovitchs werden auch die  – bekanntermaßen häufig ungeachtet der Intentionen des Komponisten propagierten  – tendenziösen und politisch motivierten Lesarten seiner Werke geschildert. So portraitiert die offiziell sanktionierte Interpretation des monumentalen Schlusses seiner Symphonie Nr.  5 D-Dur diese bekanntermaßen als »A Soviet Artist’s Creative Reply to Just Criticism«,2 die Coda als Abschluss einer optimistischen Tragödie und das Werk als Korrektur seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk.3 Tatsächlich steht diese Interpretation aber wie ein Zerrbild neben der gebrochenen Doppelbödigkeit des Werkes, die der Erzähler im Roman so schildert  : 1 Julian Barnes, The Noise of Time, London 2016, S. 180. 2 Ebd., S. 57. 3 Die Uraufführung fand am 22.1.1934 statt  ; die vernichtende Kritik im Artikel »Chaos statt Musik« wurde

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Felix Wörner

»They [die offiziellen Lesarten] missed the screeching irony of the final movement, that mockery of triumph. They heard only triumph itself, some loyal endorsement of Soviet music, Soviet musicology of life of the sun under Stalin’s constitution. He [Shostakovitch] had ended the symphony fortissimo and in the major. What if he had ended it pianissimo and in the minor  ? On such things might a life – might several lifes – turn.«4

Während eine konventionelle semantische Aufladung der Dur/Moll-Polarität  – ein orchestrales, im Fortissimo vorgetragenes Ende in Dur wird mit einem apotheotischen Triumph, ein verhaltenes, im Pianissimo und Moll ausklingendes Finale mit Hoffnungslosigkeit, Trauer und Scheitern assoziiert  – als Deutungsmuster in der Rezeptionsgeschichte des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen Kontexten tatsächlich eine fundamentale Rolle gespielt hat, wurde – wie in Barnes’ Roman geschildert – in Hinblick auf Shostakovitchs Fünfte Symphonie später die trügerische Simplizität dieser Deutung entlarvt. Über diesen berühmten Einzelfall hinaus wird die zugeschriebene Bedeutung der Modi Dur und Moll, und damit im weiteren Sinne die Auffassung von Tonalität, sowohl für die Lesart älterer tonaler Werke mit andauernder ästhetischer Präsenz im 20. Jahrhundert als auch für das aktuelle Komponieren nach 1900 – und zwar über das Repertoire der sogenannten Kunstmusik hinaus  –, entscheidend von den jeweiligen kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Kontexten beeinflusst.5 Unübersichtlich wird die Situation zusätzlich dadurch, dass die »Emanzipation der Dissonanz« zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekanntermaßen zu keiner vollständigen Aufgabe von Tonalität geführt hat  ; stattdessen ist ihre andauernde, wenngleich changierende Bedeutung in unterschiedlichsten Stilrichtungen der Kunstmusik bis in die Gegenwart zu beobachten. So folgt der Umgang mit und die Auffassung von Tonalität nicht länger einheitlichen oder gar verbindlichen Regeln, sondern lässt sich nur als variable künstlerische Ausdrucksform, die sich durch einen ungeheuren Facettenreichtum ihrer Erscheinungsformen ausprägt, begreifen.6 Wie andere Bereiche von Kunst ist auch Tonalität in der Moderne nicht länger als Gegenstand einer ungebrochenen kulturellen Überlieferung, die quasi als ›zweite Natur‹ aufgefasst werden kann, gegeben. Ernst zu nehmen ist nach der Aufführung am 26.1.1936 im Bolschoi-Theater am 28.1.1936 in der Pravda veröffentlicht. 4 Barnes, The Noise of Time, S. 58. 5 Nachdem die Musikhistoriographie inzwischen davon abgerückt ist, ›Neue Musik‹ als primären Gegenstand der Musik des 20. Jahrhundert zu betrachten, sind auch Bereiche wie populäre Musik, Filmmusik und traditionelle Musik verstärkt in das Blickfeld geraten  ; besonders in Hinblick auf Popularmusik und Filmmusik dürfte eine Untersuchung des Umgangs mit Dur/Moll-Polaritäten reiche Ergebnisse zutage fördern. 6 Vgl. dazu beispielsweise Richard Taruskins musikgeschichtliche Darstellung in Bd. 4 und 5 der The Oxford History of Music, New York 2005  ; das zweibändige Projekt von Felix Wörner, Ullrich Scheideler und Philip Rupprecht (Hrsg.), Tonality 1900–1950. Concept and Practice, und Tonality Since 1950, Stuttgart 2012 und 2017, sowie die stärker musiktheoretisch ausgerichtete Studie von Daniel Harrison, Pieces of Tradition. An Analysis of Contemporary Tonal Music, New York 2016.

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Dur/Moll-Klänge in »posttonaler« Musik

daher die Erinnerung Theodor W. Adornos, dass ein Verstehen von Kunstwerken nicht mit einer Übersetzung in bereitliegende Begriffe oder Kategorien zu erreichen sei, sondern nur, »sobald man in seiner immanenten Bewegung darin ist  ; fast möchte man sagen, sobald es vom Ohr seiner je eigenen Logik nach nochmals komponiert, vom Auge gemalt, vom sprachlichen Sensorium mitgesprochen wird«. Verstehen, so fährt Adorno fort, stelle sich »erst auf höchst vermittelte Weise […] her  ; indem nämlich der im Vollzug von Erfahrung ergriffene Gehalt, in seiner Beziehung zur Formensprache und den Stoffen des Gebildes, reflektiert und benannt wird.«7 Während dieser von Adorno eingeforderte (Nach)Vollzug eine Schwierigkeit für den Interpreten und Hörer von Musik darstellen kann  – insbesondere auch, da der eingeschriebene Beziehungsreichtum plurale Bezüge und Deutungen nicht nur zulässt, sondern sogar herausfordert – so ist auch auf der Seite der künstlerischen Produktion, d. h. primär dem Komponieren, im 20. Jahrhundert die Realisierung tonaler Momente vor ein nicht zu unterschätzendes Problem gestellt, das auf je individuelle Weise gelöst werden kann, ja gelöst werden muss. Denn mit den unvergleichlich reichen kompositorischen Möglichkeiten entbehrt im 20. Jahrhundert die Frage »Tonal oder nicht-tonal  ?« weitgehend ihrer Triftigkeit. Sie wird durch das Ausloten eines weiten Spektrums von Schattierungen ersetzt, mit denen sich die Erscheinungsweisen von Tonalität kompositorisch manifestieren und in der Wahrnehmung der Hörer entfalten können. In diesem Sinne muss davon ausgegangen werden, dass in der posttonalen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts nicht der Kontrast zwischen Dur und Moll an sich eine besonders signifikante musikgeschichtliche Spur hinterlassen hat. Zu prüfen ist vielmehr erstens, ob und wie klangliche Erscheinungen tonale Assoziationen auszulösen vermögen, und zweitens, ob diese im betreffenden musikalischen Werk als Relikte auftreten oder ob sie stimmig im Werk als Ganzes aufgehen.8

7 Theodor W. Adorno, »Voraussetzungen« [1961], in  : ders., Noten zur Literatur III (= Gesammelte Schriften 11), Darmstadt 1998, S. 431–446, hier S. 433. 8 Adorno wies zu Recht darauf hin, dass diese Fragestellung nicht auf technische Aspekte zu begrenzen sei, sondern unmittelbar das ästhetische Urteil betreffe  : »Nicht minder fiel hinter den gegenwärtigen Stand zurück, wer gut bürgerlich Geist und Technik in der Kunst einander entgegensetzte, als wer beide schlicht identifiziert, geistige Fragen für gänzlich reduktibel auf solche der Hantierung des Materials hält. Wo das Kunstwerk material keine volle Stimmigkeit erreicht, ist es auch ästhetisch betroffen«  ; Theodor W. Adorno, »Kriterien der neuen Musik« [1957], in  : ders., Klangfiguren. Musikalische Schriften I (= Gesammelte Schriften 16), Darmstadt 1998, S. 170–228, hier S. 183. An anderer Stelle hebt Adorno die Bedeutung der je eigenen ›Stimmigkeit‹ hervor, ohne den Begriff freilich genauer eingrenzen zu können  : »In der neuen Musik, die zählt, hat so wenig das Subjekt bloß sich emanzipiert, wie sie umgekehrt Objektivität bloß beschwört. Ihre Idee ist Autonomie. Sie hält sich an nichts, was ihrem eigenen Impuls, ihrer eigenen Stimmigkeit, bloß auferlegt wäre und fremd  ; sie will durch rückhaltlose Versenkung in ihr je Einmaliges, ohne Stütze und Anleihe, aus Subjektivität heraus objektiv werden«  ; ders., »Die Funktion des Kontrapunkts in der neuen Musik« [1957], in  : ders., Klangfiguren, S. 145–169, hier S. 157.

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Die hier skizzierte Problemstellung soll zunächst an einem Beispiel illustriert werden. In seinem elfteiligen Zyklus Musica ricercata (1951–1953) arbeitet György Ligeti in jedem Stück mit einem klar definierten und begrenzten Tonvorrat. Dieser wird sukzessive erweitert und besteht immer aus einem Element mehr als die jeweilige Nummer des Stückes im Zyklus  : im ersten Stück, Sostenuto, werden genau zwei Tonklassen (a, d) verwendet, im zweiten Satz, Mesto, rigido e cerimoniale, drei (eis, fis, g) und im elften (und abschließenden Satz), Omagio a Girolamo Frescobaldi, das chromatische Total. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang der dritte Satz, Allegro con spirito, in dem ausschließlich die Tonklassen c, e, es und g eingesetzt werden.9 Wie der Tonvorrat nahe legt, kann das Allegro con spirito, das formal als A-B-A’ angelegt ist und einen spielerischen, leichten Tonfall anschlägt, als eine Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene kleine Studie über die Polarität von Dur und Moll gelesen werden. Aus dem reduzierten Tonvorrat ergibt sich ein reduzierter Intervallvorrat, den Ligeti vorwiegend in enger Lage realisiert. Die erste Phrase (T. 1–5) des A-Teils exponiert in Takt 1 ein durch die kleine Terz (c-es) geprägtes Motiv (Notenbeispiel 1a)  ; nach der Wiederholung in Takt 2 erfolgt eine fortspinnungsartige Entwicklung und Überleitung (T. 3–5). In der in Takt 6 beginnenden zweiten, ebenfalls fünftaktigen Phrase liegt über einer fortlaufenden Achtelbewegung eines gebrochenen C-Dur Akkords in der linken Hand das erste Motiv in der rechten Hand, allerdings metrisch um einen halben Takt versetzt und auf die Tonstufen g-e transponiert.10 In Takt 11 werden die in Takt 1 (c-es) resp. 6 (e-g) exponierten Motive in Engführung präsentiert und die beiden Terztöne es und e in unmittelbare Nähe gebracht, aber nicht als Simultanintervalle verwendet (Notenbeispiel 1b). Mit dem Beginn des Mittelteils B (T. 16) zieht vorübergehend ein spielerischer Tonfall ein (Spielanweisung leggiero e giocoso). Für die Entwicklung des Stückes weniger entscheidend als die neue Kombination der Durterz c-e (als repetierender Ostinatobass) mit der melodisch präsentierten Mollterz es in der rechten Hand (T. 16ff.) erweist sich vielmehr der Einsatz der Töne es und e als sukzessive, aufsteigende kleine Sekunde (T. 19f.). Nach mehrstufiger Verdichtung, für die diese kleine Sekunde herangezogen wird (T. 21ff.), wird in Takt 33 der abschließende Teil A’ erreicht. Ausgehend von der imitatorischen Führung (vgl. T. 11ff.) wird die kleine Sekund e-es erstmalig als Sukzessivinterval abwärts präsentiert (T. 36 und 37) und in der folgenden Steigerung die Töne es und e auch simul  9 Der dritte Satz der Sammlung, die Ligeti auch als Tizennégy tanulmány (»Elf Studien«) bezeichnete, geht auf den ersten Satz seiner 1950 entstandenen vierhändigen Sonatine für Klavier zurück. Gleichzeitig bearbeitete Ligeti die Komposition für Bläserensemble als Kopfsatz der Sechs Bagatellen (für Fl, Ob, Klar, Hr und Fg  ; 1953). Vgl. dazu Sammlung György Ligeti. Musikmanuskripte (= Inventare der Paul Sacher Stiftung 34), hrsg. von Heidy Zimmermann, Mainz 2016. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Klavierfassung (Musica ricercata), da die klangfarbenreichere Bearbeitung für Bläser das kompositorische Spiel mit den Modi leicht verschleiert. 10 Als weitere Kontrastelemente können die Dynamik (T. 1–5  : forte  ; T. 6–10  : pianissimo) sowie die unterschiedliche Oktavlage (hoch/tief) genannt werden.

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a

b

c

Notenbeispiele 1a–c: György Ligeti, Musica ricercata III, (a): T. 1; (b): T. 11; (c) T. 42f.

tan angeschlagen (insbesondere T. 42f.; vgl. Notenbeispiel 1c). Den Schlusspunkt setzt das Stück mit einem isolierten c. Obwohl das Stück eindeutig in C steht, verweigert sich Ligeti konsequent einem konventionellen Umgang mit den Tongeschlechtern. Dur und Moll alternieren zu Beginn, werden quasi gleichberechtigt nebeneinander gestellt  ; was aber im ersten Moment als Alternative erscheinen mag, wird nicht zu einer strukturell tragenden Polarität entwickelt. Dur und Moll wirken zunächst eher als Farbe  ; im weiteren Verlauf des Stückes gewinnt Ligeti dem Tonrepertoire weitere Facetten ab. So tritt das Potenzial der kleinen Sekunde es-e als lineares Intervall in den Vordergrund  ; die Simultanität von (c)-es-e-g (vgl. T. 42f.) erweist schließlich das Erreichen der Gleichzeitigkeit von Klein- und Großterz als das dramaturgische Ziel des Stückes  ; die mögliche Entfaltung der im Tonmaterial angelegten Dur/Moll-Polarität wird hingegen nicht umgesetzt. Mit der Verweigerung, diese Polarität kompositorisch auszuschöpfen, indem Dur-Moll als Kontrastpaar gedeutet wird, macht Ligetis Komposition eine Situation sichtbar, die für das Komponieren im 20. Jahrhundert nicht untypisch ist und die in den folgenden Ausführungen näher erörtert werden soll. Die Erscheinung von Dur und Moll bzw. Klangformationen, die im Hörer tonale Assoziationen aufrufen, stellen in »posttonaler« Musik einen Spezialfall dar, der auf anderen Prämissen beruht als beispielsweise die Verwendungsweise des Kontrastpaars Dur/

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Moll innerhalb funktionaler Tonalität.11 Innerhalb posttonaler Kontexte können sowohl alleinstehende Dur- resp. Molldreiklänge als auch ausgedehntere Folgen von Dur- und Mollakkorden schnell als Überbleibsel erscheinen, als Relikte einer Tradition tonalen Komponierens, die zwar im 20. Jahrhundert nicht erloschen, aber seit der »Emanzipation der Dissonanz« nicht länger allgemeingültige musikalische Sprache ist. Es ist im 20. Jahrhundert ein häufiger von Musikwissenschaft und ästhetischer Kritik benutzter Topos, die Verwendung traditioneller Elemente wie der Tonalität als regressiv und daher als ästhetisch verdächtig zu brandmarken.12 Der hier aufscheinende Gegensatz zwischen ›progressiven‹ und ›regressiven‹ kompositorischen Tendenzen und musikalischen Werken ist jedoch problematisch, unter anderem deswegen, weil diesen Werturteilen ein verengtes Geschichtsbild zugrunde liegt, das der Vielfältigkeit der Geschichte nicht gerecht zu werden vermag. Das Beispiel von Ligetis drittem Satz aus der Musica ricercata steht als pars pro toto für das vielfältige Bemühen von Komponisten im 20. Jahrhundert, außerhalb tonaler Funktionalität neue Verwendungsweisen für Klänge, die auch tonale Assoziatio­ nen wecken können, zu finden. Indem Ligeti das Tonmaterial so reduziert, dass keine funktionale Akkordprogression mehr möglich ist, muss der dramaturgische Verlauf des Stückes durch andere individuell einzusetzende Mittel gestaltet werden (wie in diesem Fall Wechsel der Tongeschlechter, Herausarbeiten der kleinen Sekunde als lineares Kernintervall und Verdichtung mit dem Ziel der Simultaneität von Klein- und Großterz). *** Ich werde mich im Folgenden mit den ästhetischen Debatten, die über die Angemessenheit tonalen Komponierens oder der Verwendung tonal konnotierten Materials in der Kunstmusik im 20.  Jahrhundert geführt worden sind, nicht beschäftigen. Ich präsentiere stattdessen vier weitere Fallbeispiele, die zumindest punktuell Einblicke in unterschiedliche kompositorische Verwendungsweisen von Dur- und Molldreiklängen in posttonaler Musik ermöglichen. Dass diese Auswahl nur einen schmalen Ausschnitt der Möglichkeiten abdeckt und nach vielen Richtungen erweiterbar wäre, braucht bei einem so weiten Feld kaum eigens hervorgehoben zu werden. Die Beispiele sollen jedoch deut11 In diesem Beitrag verwende ich die Bezeichnung »posttonale Musik« als wertneutralen und weitgefassten Sammelbegriff, der sehr unterschiedliche Ausprägungen der Neuen Musik – beispielsweise freie Atonalität, Zwölftontechnik, Serialismus, aber auch Minimalismus, Neoklassizimus etc. – umfasst. 12 So beispielsweise Theodor W. Adorno, wenn er schreibt  : »Daß die vorgegebene Sprache der Musik Reflexion erheische, problematisch geworden sei, meint etwas überaus Triftiges  ; keineswegs bloß, daß etwa die traditionelle Tonalität aus der Mode gekommen wäre und daß, wer sich für up to date hält, sich geniere, mit jenen Mitteln zu komponieren. Sondern sie sind objektiv falsch geworden. […] Hat jemand in Krähwinkel noch nicht gehört, was mit der Tonalität geschah, so ist, was er schreibt, nicht integer sondern brüchig und unstimmig in allen Elementen  : so die Symphonik von Sibelius, vielleicht das letzte tonale Produkt innerhalb des westlichen Kunstbereichs, das nachdrücklichere Ansprüche anmeldet«  ; in  : ders., »Kriterien der neuen Musik«, S. 172.

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lich machen, dass der musikalische Elementarkontrast, der in ganz unterschiedlichen musikgeschichtlichen Kontexten vor 1900 eine Rolle gespielt hat, in posttonaler Musik nicht einfach fortgeschrieben wird. Treffender scheint es zu sein, wie Hermann Danuser am Beispiel der Zweiten Sinfonie von Wolfgang Rihm dargelegt hat, von einer »Transformation« zu sprechen.13 Die Bedeutung und der Sinn von Dur/Moll, d. h. von einzelnen tonalen Klängen bis zu ausgedehnteren tonal geprägten Passagen, hängt in posttonaler Musik essenziell von den jeweiligen Kontexten ab. Denn wenngleich »posttonale Musik« impliziert, dass die Prinzipien der harmonischen Tonalität keine oder nur eine untergeordnete Rolle für die kompositorischen Prozesse spielen, so kennt die Musik des 20. Jahrhunderts natürlich alternative Mechanismen, tonale Wirkungen zu erzielen. Beschreibt man Tonalität allgemein als Relationen zwischen einem gegebenen Tonvorrat und einem Referenzpunkt, so schließt diese Bestimmung auch andere Erscheinungsformen als die harmonische Tonalität ein. Beispielsweise können tonale Wirkungen auch durch ein Zentraltonprinzip oder durch eine oktatonische Ton- und Intervallordnung kompositorisch realisiert werden  : Nicht grundlos prägte der amerikanische Musiktheoretiker und Komponist George Perle sogar den Begriff einer »Twelve-Tone Tonality«14. Dennoch  : unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Ton- und Referenzsystems posttonaler Musik bleiben während des gesamten 20.  Jahrhunderts prägende Merkmale funktionaler Tonalität und auch die herausgehobene Position von Dur- resp. Molldreiklängen erhalten. So formulierte der amerikanische Komponist Roger Sessions 1951  : »The intervals, and their effects, remain precisely the same  ; two notes a fifth apart still produce the effect of the fifth, and in whatever degree the context permits, will convey a sensation similar to that of a root and its fifth, or of a tonic and its dominant. A raising interval of a semitone will produce somewhat the effect of a ›leading tone‹, principal or secondary, and so on.«15

Selbstverständlich muss Sessions’ Aussage, dass die Deutlichkeit der Wahrnehmung der Töne eines Quintintervalls als ›Tonika-ähnlich‹ und ›Dominant-ähnlich‹ entscheidend von weiteren kontextuellen Faktoren abhänge, näher qualifiziert werden  : So interpretieren wir ein Quintintervall eher als eine funktionale Dominant-Tonika-Beziehung, wenn die Bewegung im Bass liegt und wenn weitere Faktoren in Melodiebildung, Bewegungsablauf, Dynamik und Artikulation, kurz, der gesamte gestische Habitus der betreffenden Phrase, einen entsprechenden Bezug unterstützen. Stimmt man Sessions’ These aber grundsätzlich zu, dass wir mit einer Quintbeziehung oder einem Halbtonschritt auch 13 Vgl. dazu den Beitrag von Hermann Danuser im vorliegenden Band. 14 George Perle, Twelve-Tone Tonality, 2., erweiterte und revidierte Ausgabe, Berkeley 1996. 15 Roger Sessions, Harmonic Practice. New York 1951, S. 407.

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in posttonaler Musik vergleichbare Funktionen assoziieren, die uns aus der harmonischen Tonalität vertraut sind  – oder diese Assoziationsmöglichkeit zumindest prinzipiell besteht  –, so müssen wir prüfen, ob dies auch für Dur- resp. Molldreiklänge gilt. Im Gegensatz zu Dominante und Leitton, die eine konkrete Erwartung auslösen (die Dominante fordert die Tonika, der Leitton die Weiterführung einen Halbtonschritt aufwärts), implizieren jedoch weder Dur- noch Molldreiklang an sich eine bestimmte Fortsetzung, anders gesagt  : Ihre Funktionalität hängt von dem jeweiligen Tonsystem und ihrer spezifischen Einbettung in eine Akkordfolge – mit anderen Worten  : von den jeweiligen Ton- und Akkordbeziehungen – ab. Auch semantische Implikationen sind in der Musik des 20.  Jahrhundert grundsätzlich anders gelagert. Während beispielsweise die Tonalitätsauffassung der Wiener Klassik als Binärsystem mit den Polen ›Dur‹ und ›Moll‹ interpretiert werden kann, dessen zwei Modi aufgrund kultureller Prägung im Allgemeinen gegensätzliche semantische Felder ausdrücken (abhängig von der Gattung und Tonart wird Dur tendenziell mit »erhaben«, »festlich«, »fröhlich« usw. konnotiert, Moll mit »tragisch«, »ausdrucksstark«, »dramatisch«),16 ist dieser Gegensatz in posttonaler Musik häufig sekundär. Klänge wie Dur- und Molldreiklänge sind in posttonaler Musik als tonal konnotierte Klänge in der Regel der gemeinsamen Kategorie »tonal konnotierter, konsonanter Klang« zugeordnet  ; sie sind bereits als Klang an sich, d. h. unabhängig von einer möglichen tonalen Funktion oder semantischen Aufladung, »markiert«. Die aus der Linguistik stammende Kategorie der Markierung bezeichnet innerhalb einer Komposition Elemente, die sich aufgrund charakteristischer Züge wie Klangeigenschaft, syntaktischer Stellung etc. von ihrem stilistischen Kontext abheben und als Opposition zu ihrer Umgebung wahrgenommen werden.17 Ob Dur- und Molldreiklänge als markierte Ereignisse, beispielsweise als »stehengelassene Konvention«18 wirken, hängt entscheidend von ihrer kompositorischen Realisierung ab. Die Schlüssigkeit ihrer Integration in den sie jeweils umgebenden posttonalen Stil, ihre Funktion und ihre semantische Aufladung sind für die ästhetische Bewertung fundamental. So legitimierte beispielsweise Adorno die stilistischen Brüche, die auch durch »tonale Einschiebsel« in fast allen Werken Alban Bergs entstünden, mit der ästhetischen Kategorie ›Wahrheit‹. Als Begründung führte Adorno 16 Zur Bedeutung von Moll in der Symphonik der Wiener Klassik vgl. beispielsweise Matthew Riley, The Viennese Minor-Key Symphony in the Age of Haydn and Mozart, Oxford 2014, sowie den Beitrag von Markus Neuwirth in diesem Band. 17 Das Konzept der »Markierung« (»markedness«) wurde von Michael Shapiro, The Sense of Grammar, Bloomington 1983, formuliert und von Robert Hatten für die musikalische Semiotik fruchtbar gemacht (vgl. Robert Hatten, Musical Meaning in Beethoven. Markedness, Correlation, and Interpretation, Bloomington und Indianapolis 1994, S. 29–66). 18 Als »stehengelassene Konvention« charakterisiert Wendell Kretschmar in Thomas Manns Roman Doktor Faustus »Trillerketten […] Fiorituren und Kadenzen« im »Adagio molto semplice e cantabile« von Beethovens Klaviersonate c-Moll op. 111  ; vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus (= Gesammelte Werke 6), Frankfurt/ Main 1990, S. 75.

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in seiner Berg-Monographie an, dass der »Verzicht auf ästhetisch bruchlose Einheit in einer Welt, welche Kontinuitat und Totalität nur als Farce gestattet«, konsequent sei, da »sie [die bruchlose Einheit] jedem zerspring[e], der treu dem Stundenschlag des Geistes nachhorch[e].«19 Mit dieser gesellschaftskritisch-soziologischen Argumentation rechtfertigt Adorno u. a. Bergs stilistische Brüche in seinem Violinkonzert und siedelt dessen Verfahren in der Nähe der Opposition von ›Dissonanz‹ als Allegorie des Negativen und ›Konsonanz‹ als Erlösung an. Diese Polarisierung, die Berg in seinen eigenen atonalen Kompositionen bereits aufgehoben habe, lasse sich, so Adorno, im Violinkonzert nur mit der letztendlich ästhetisch überzeugenden Vermittlung und der inhaltlichen Gesamtaussage des Werkes rechtfertigen. Doch tonale Klänge in posttonalen Kontexten wirken nicht notwendigerweise als krasser Gegensatz zu ihrer Umgebung, da sie über das Potenzial verfügen, unsere Wahrnehmung des Kontextes, d. h. des musikalischen ›davor‹ und ›danach‹, entscheidend zu beeinflussen. Wie ich in meinem ersten Fallbeispiel anhand einer freiatonalen Komposition Anton Weberns zeigen werde, kann ein einzelner, strategisch gesetzter konsonanter Dreiklang eine völlig neue Sinnschicht eines Kunstwerkes freilegen. Aus meiner bisherigen Darstellung ergibt sich, dass sich die Verwendungsweisen von Dur und Moll in posttonaler Musik des 20. Jahrhunderts zu keiner Stilkategorie verfestigen, da Handhabung und Wirkung von der je spezifischen Situation abhängen. Um wenigstens einige Ausschnitte der Möglichkeiten des Umgangs mit und der Wirkung von Dur/Moll in posttonalen Kontexten zu skizzieren, erörtere ich im Folgenden kursorisch vier unterschiedliche Situationen. Die von mir ausgewählten Stücke sind 1910, 1943, 1985 und 2000 komponiert und stammen von Anton Webern, Luigi Dallapiccola, György Ligeti und Thomas Adès.

1. Anton Webern

Anton Weberns Vier Stücke für Violine und Klavier op. 7 entstanden 1910  ; die Nummer 1 der Gruppe wurde im April 1911 öffentlich uraufgeführt und im März 1912 in der Zeitschrift Der Ruf abgedruckt  ; damit handelt es sich um die früheste veröffentlichte Komposition Weberns. Die Tatsache, dass Webern dieses Stück für seine erste Veröffentlichung auswählte, deutet darauf hin, dass er es um 1912 als eines seiner Schlüsselwerke betrachtete. Die 1922 bei der Universal Edition erschienene Druckfassung ist jedoch das Ergebnis einer beträchtlichen Revision der Erstfassung, die eine gewisse Distanzierung von der um 1912 verfolgten Klangästhetik erkennen lässt.20 19 Theodor W. Adorno, Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs [1968], in  : ders., Die musikalischen Monographien (= Gesammelte Schriften 13), Frankfurt/Main 1997, S. 349. 20 Vgl. zu der frühen Aufführungsgeschichte, der Auswertung der vorliegenden Quellen und dem Revisions-

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Die Komposition zeigt viele bekannte Merkmale einer freiatonalen Komposition Weberns  : Knappe Formulierungen ausdrucksstarker Gesten formen sich zu einem dichten Feld von Ereignissen. Weberns Vorstellung von Gestik, Artikulation und Klang sind stark ausdifferenziert  ; das Notenbild dokumentiert den Versuch, diese Vorstellung dem Interpreten möglichst genau zu vermitteln. Der Tonvorrat speist sich aus dem chromatischen Total, ohne dass, wie noch zu zeigen sein wird, tatsächlich eine ›Gleichberechtigung‹ der Töne realisiert wird. Terzen und Quinten innerhalb von Akkorden werden häufig durch eine hinzugefügte kleine Septime verunklart (vgl. Klavier, rechte Hand, T.  3ff.). Trotz Schönbergs Diktum, Weberns freiatonale Musik sei konzentrierteste Ausdrucksmusik,21 legt eine detailliertere Analyse eine außerordentlich reflektierte Gestaltung der Partitur offen, die sich nicht nur auf die Tonhöhenstruktur beschränkt, sondern Tonraum, rhythmisch-metrische Disposition, Dynamik, Agogik etc. mit einbezieht.22 Das vielleicht überraschendste Ereignis tritt mit dem letzten Akkord ein  : Über dem verlöschenden (und kaum hörbaren) Ton e (linke Hand) schlägt die rechte Hand einen Es-Dur-Quartsextakkord an. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein unmotiviertes tonales Relikt innerhalb einer freiatonalen Komposition. Webern formuliert diesen Schlussakkord in der ersten Niederschrift als übermäßigen Dreiklang h-es-g und ändert dann das h zum b ab.23 Dieser im Stück singuläre Durdreiklang erhellt schlaglichtartig eine neue strukturelle Ebene des Satzes und lässt sich als ein Zeichen einer bewussten Reflektion auf verborgene tonale Strukturen lesen. Diese These kann durch einige Beobachtungen begründet werden  : Innerhalb frei-atonaler Werke entstehen in der Regel durch Dauer, Lage, Wiederholung, Artikulation usw. einzelner Töne oder Tongruppen zumindest momentane Konzentrationen, die im Tonraum Gravitationszentren ausprägen. Im vorliegenden Werk nimmt der Ton es diese Funktion eines Zentraltones ein. Dieser Ton ist mit Ausnahme prozess den Beitrag von Felix Meyer und Anne Shreffler, »Performance and Revision  : the Early History of Webern’s Four Pieces for violin and piano, Op. 7«, in  : Webern Studies, hrsg. von Kathryn Bailey, Cambridge 1996, S. 135–169. 21 »So eindringlich für diese Stücke [Weberns Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9] die Fürsprache ihrer Kürze, so nötig ist andrerseits solche Fürsprache eben für diese Kürze. / Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber  : einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken  : solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt«  ; zitiert nach Arnold Schönberg, Vorwort zu  : Anton Webern, Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9, Wien 1924 [U.E. 7575], S. [1]. 22 Auf die Ergebnisse der zahlreichen analytischen Studien zu Weberns freiatonalen Werken kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. 23 Meyer und Shreffler bezeichnen in ihrer Übersicht der autographen Quellen zu Weberns op. 7 (vgl. dies., »Performance and Revision«, S. 148f.) diese mit Tinte geschriebene, Korrekturen aufweisende vollständige Partitur als Manuskript 2. Die Quelle befindet sich in der Paul Sacher Stiftung, Sammlung Anton Webern. Auf dem Titelblatt hat Webern eingetragen  : »Vier Stücke für Geige und Klavier / op. 6 No 1 / op 6 7 / Anton Webern / endgiltige Fassung Sommer 1914«.

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a

Notenbeispiele 2a und b: Anton Webern, Vier Stücke op. 7, Nr. 1, (a): T. 1f.; (b): T. 5

b

von Takt 5 in jedem Takt in zumeist herausgehobener Funktion des Stückes präsent. Als gehaltener Einzelton definiert das es3 zu Beginn den einzigen Fixpunkt im Tonraum, dem der Akkord in Takt 2 mit dem verdoppelten Ton a als Opposition gegenübergestellt wird (vgl. Notenbeispiel 2a). Wichtiger als dieser momentane Gegensatz es-a ist in diesem Satz aber das Verhältnis des einen Gesamtrahmen bildenden es-Klangs und des zuletzt eintretenden Tons des chromatischen Totals. Webern hat in seinen Vorlesungen Der Weg zur Komposition in zwölf Tönen darauf hingewiesen, dass die erste Vervollständigung des chromatischen Totals einen wichtigen Moment in seinen freiatonalen Werken darstellen kann.24 In Op. 7 Nr. 1 handelt es sich um den Ton b in Takt 5, der fast genau in der Mitte des Stückes eintritt (Notenbeispiel 2b). Diese Quintbeziehung es-b stärkt Webern durch den mit dem Ton b eintretenden Klang f-h-d-b-f, zu dem für die Länge eines Achtels der Ton as hinzutritt. Es handelt sich also um einen B7-Akkord, der allerdings durch die Lage der Töne, sein kurzes, quasi beiläufiges Erscheinen und den hinzugefügten Ton h verun24 »Ungefähr 1911 habe ich die ›Bagatellen für Streichquartett‹ (op. 9) geschrieben […]. Ich habe dabei das Gefühl gehabt  : Wenn die zwölf Töne abgelaufen sind, ist das Stück zu Ende. […] Das Wichtigste ist, daß das Stück – der Gedanke – das Thema – durch die einmalige Abwicklung der zwölf Töne einen Einschnitt bekommen hat«  ; zitiert nach Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik, hrsg. von Willi Reich, Wien 1960, S. 55 (Vorlesung vom 12.2.1932).

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klart wird. Der Sinn dieses kaum wahrnehmbaren Momentes erschließt sich erst aus der Perspektive des markierten finalen Es-Dur-Dreiklangs. Der tonale Es-Dur-Klang deutet rückblickend eine imaginäre Progression Tonika (es) – Dominante (B-Dur-Septakkord, Mitte)  – Tonika (Es-Dur) an, die zwar keine strukturbildende harmonische Funktion ausübt, aber gleichsam als Erinnerung an die tonale Grundspannung Tonika-Dominante und damit als Reverenz an eine von Webern gerade erst in Frage gestellte traditionelle kompositorische Praxis interpretiert werden kann. In Weberns späterem Zwölftonwerk kann ein vergleichbarer bewusster Einsatz konsonanter Dreiklänge kaum überzeugend nachgewiesen werden.25 Prägender sind solche Akkordformationen bei Luigi Dallapiccola, der bekanntermaßen ein großer Verehrer von Weberns Musik war und insbesondere von dem Klang seiner Musik und seiner Kanontechnik fasziniert war.

2. Luigi Dallapiccola

Bei Luigi Dallapiccola ist die Aneignung der Zwölftonmethode und die sich ausbildende Vertrautheit mit ihrer kompositorischen Handhabung das Ergebnis eines mehrjährigen Prozesses, der ab den späten 1930er Jahren auch durch die persönliche Begegnung mit Alban Berg und Anton Webern und das Studium von dessen Zwölftonkompositionen stark beeinflusst wurde.26 Dallapiccolas Liriche Greche, die sich in drei Gruppen, die Cinque frammeti di Saffo (1942  ; gedruckt 1943), die Due liriche di Anacreonte (1944–45) und die Sex carmina alcaei (1943) aufteilen, zeigen als relativ frühe Zwölftonwerke eine häufige lineare Verwendung der Reihen sowie die Erprobung kanonischer Satztechniken. Am Beispiel der sehr übersichtlichen »Expositio« der Sex carmina alcaei, die Anton Webern gewidmet sind,27 kann gezeigt werden, dass Dallapiccola bei der Handhabung der Zwölftonreihen Dur/Moll-Klängen nicht nur nicht ausweicht, sondern diese bewusst 25 Graham H. Phipps argumentiert (meiner Ansicht nach wenig überzeugend), Weberns Akkordbildungen und -progressionen in späteren Zwölftonwerken lägen zumindest gelegentlich tonale Muster zugrunde (vgl. ders., »Harmony as a Determinant of Structure in Webern’s Variations for Orchestra«, in  : Music Theory and the Exploration of the Past, hrsg. von Christopher Hatch und David W. Bernstein, Chicago und London 1993, S. 473–504). 26 Zur Beziehung Dallapiccolas zur Zweiten Wiener Schule vgl. Ulrich Mosch, »Luigi Dallapiccola e la Scuola di Vienna«, in  : Dallapiccola. Letture e prospettive, hrsg. von Mila De Santis, Lucca 1997, S. 119–129, sowie die Beiträge in Luigi Dallapiccola, die Wiener Schule und Wien (= Journal of the Arnold Schönberg Center 9/2011), hrsg. von Hartmut Krones und Therese Muxeneder, Wien 2013. Dallapiccola schildert seine Begegnung mit Webern in »Incontro con Webern« [1945], autorisierte deutsche Teilübersetzung als »Begegnung mit Anton Webern«, in  : Melos 32/4 (April 1965), S. 115–117  ; aus analytischer Perspektive vgl. neuerdings Brian Alegant, The Twelve-Tone Music of Luigi Dallapiccola (= Eastman Studies in Music 76), Rochester 2010. 27 »Quest’opera dedicata da Anton Webern nel giorno del suo sessantesimo compleanno (3 dicembre 1943), offro oggi con umilià e devozione, alla di Lui memoria, 15 settembre 1945.«

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Notenbeispiel 3: Luigi Dallapiccola, Sex Carmina Alcaei, I. »Expositio«, Ziffer 1 bis Schluss

einsetzt. Das kurze Lied für Sopran und Klavier auf den Text »O coronata di viole, divina dolce ridente Saffo« (»Veilchengekrönte, göttliche, reinlächelnde Sappho«) teilt sich in einen prosodischen, unbegleiteten ersten Abschnitt, der von einem Klaviernnachspiel gefolgt wird. In der Vokalpartie realisiert Dallapiccola die Zwölftonreihe cis-e-fis-g-esb-a-as-f-d-h-c als Melodie zweimal, zuerst in ihrer Grundform (P-1),28 gefolgt von der Krebsform beginnend auf dem Ton des (R-2)  ; Dallapiccola kommentiert diese Linie bei anderer Gelegenheit als Beispiel für eine ideale melodische Gestaltung in der Zwölftontechnik.29 Der Ton cis markiert sowohl den Anfang der beiden Textzeilen (und gleichzeitig den Anfang der beiden Reihenformen), als auch den Einsatz des Klaviers (cis in 28 Ich folge hier der Bezeichnung der Reihenformen bei Alegant, The Twelve-Tone Music, der nach US-amerikanischem Usus die auf c beginnende Reihenform der Grundreihe als »P-0« bezeichnet (P = prime form)  ; die eine kleine Sekunde höher beginnende Reihenform ist folglich P-1. 29 Dallapiccola rekurriert in »Erfahrungen mit der Zwölftonmethode« (in  : Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen, Berlin und Wunsiedel 1952, S. 162–165  ; Wiederabdruck in Krones und Muxeneder [Hrsg.], Luigi Dallapiccola, die Wiener Schule und Wien [wie Anm. 26], S. 239–241) auf diese Stelle, und zwar unter

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rechter und linker Hand) und das Ende der zweiten Reihenform im Klavier rechte Hand. Darüber hinaus entstehen im Zusammenklang der Reihenabläufe nach Ziffer 1 mehrere sukzessiv erklingende, relativ deutlich wahrnehmbare Dreiklänge (Notenbeispiel 3)  : Auf der Silbe »Saf-« erklingt ein Cis-Dur-Dreiklang (cis-f-gis), auf der Silbe »-fo« hMoll (fis-d-h), Es-Dur (es-g-b), as-Moll (es-ces-as), B-Dur (f-b-d) und ein C-Dur Septakkord ([f]-b-g-e-c-cis). Diese Stelle, die aus dem vorherigen Lied, dem letzten der Cinque frammenti di Saffi, entlehnt ist, verwendet hier eine andere Zwölftonreihe. Am deutlichsten werden die beiden Dreiklänge Cis-Dur und h-Moll auf den beiden letzten Textsilben »Saf-fo« artikuliert, während die nachfolgenden Dreiklänge, die in der Regel aus einem sukzessiven Quintintervall im Klavier rechter Hand mit hinzugefügter Terz im Klavier linker Hand gebaut sind, auch durch den Gebrauch des Pedals klanglich verschwimmen. Die unregelmäßig eintretenden Dur- und Molldreiklänge konstituieren kein Kontrastpaar und kein tonales Zentrum – der Zentralton bleibt auch hier der Ton cis, mit dem die Passage endet. Eine semantische Aufladung ergibt sich durch den kompositorischen Rückbezug auf das fünfte der Cinque Frammenti di Saffo, dessen Text in deutscher Übersetzung lautet  : »Lange habe ich im Traum mit Aphrodite gesprochen.« Dallapiccola setzt die flüchtigen, vorbeigleitenden Dur- und Molldreiklänge als Symbol einer entrückten, träumerischen Sphäre ein, die kaum fassbar wird und einer zerbrechlichen Erinnerung gleicht.

3. György Ligeti

In den späten 1970er Jahren manifestiert sich im Schaffen György Ligetis eine Neuorientierung, die mit einer (selbst-)kritischen Evaluierung der in den 1950er und 1960er Jahren erreichten Positionen des Serialismus Darmstädter Prägung und seiner eigenen Werke der 1960er-Jahre (Atmosphères) einhergeht. Der neue kompositorische Ansatz wird unmittelbar sinnfällig in dem Einsatz tonaler Dreiklänge, besonders prominent im Horntrio (1982), aber auch im ersten Buch der Études für Klavier (1985).30 Ligeti selbst hat unterschiedliche Einflüsse auf die Konzeption seiner Musik der 1980er Jahre benannt (darunter die Musik der Subsahara-Region und die Studien für Player Piano Conlon Nancarrows), gleichzeitig aber auf die Schwierigkeiten einer stilistischen Einordung seiner Werke hingewiesen  : »was ich komponiere«, so erklärte Ligeti, »ist weder ›avantgardistisch‹ noch ›traditionell‹, nicht tonal und nicht atonal – und keinesfalls postmodern,

Bezugnahme auf Ferruccio Busonis Diktum, das 20. Jahrhundert sei ein Zeitalter der Melodie (vgl. Wiederabdruck, S. 241). 30 Vgl. dazu u. a. Eric Drott, »The Role of Triadic Harmony in Ligeti’s Recent Music« in  : Music Analysis 22/3 (2003), S. 283–314.

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Dur/Moll-Klänge in »posttonaler« Musik

Notenbeispiel 4: György Ligeti, Études pour piano, premier livre, Nr. 4: Fanfares, Beginn

da mir die ironische Theatralisierung der Vergangenheit fernliegt.«31 Ich möchte anhand des vierten Stückes des ersten Buches der Études, Fanfares, erläutern, wie die zugrundeliegende kompositorische Idee Ligetis Umgang mit Dreiklängen beeinflusst und welche Wirkung diesen Dreiklangsstrukturen zukommt. Zwei metrisch-rhythmische Strukturebenen, die Ligeti konsequent durchhält, liegen Fanfares zugrunde. Zu Beginn etabliert Ligeti eine Ostinatofigur in der linken Hand des Klaviers, die in unterschiedlichen Oktavlagen und mit verschiedener Dynamik gespielt wird. Die aufsteigende Linie c-d-e-f-fis-gis-ais-h ist in drei Achtelgruppen zu je drei, zwei und wieder drei Tönen gegliedert  ; der Anfangston jeder Gruppe, also c, f und gis wird akzentuiert. Die acht Achtel umfassende Einheit soll ausdrücklich nicht als eine metrische Takteinheit wahrgenommen werden. Die zweite Strukturebene wird durch Phrasengruppen gebildet, die eine melodisch-harmonische Bewegung zu dem Ostinato hinzufügen (Notenbeispiel 4). Zwischen diesen beiden Strukturebenen gibt es konjunkte und disjunkte Elemente. Im ersten Teil der Komposition tritt ein Klangwechsel auf der melodisch-akkordischen Ebene immer simultan mit einem akzentuierten Ostinato-Ton ein, so dass die Notenwerte dieser Ebene an das Ostinato gekoppelt sind und immer drei bzw. zwei Achtel betragen. Im Gegensatz zu der Tondauer der einzelnen Simultanklänge ist die Länge der Phrasengruppen, die durch Pausen voneinander abgegrenzt sind, unabhängig von 31 György Ligeti, »Études«, in  : Booklet György Ligeti Edition 3, Sony Classical SK 62308, [Hamburg 1996], S. 14–20, hier S. 19.

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dem Ostinato gestaltet. Dadurch kommt eine kontinuierliche, aber nicht antizipierbare rhythmisch-metrische Verschiebung zwischen beiden Strukturebenen zustande. Mit anderen Worten  : Während auf der Ostinato-Ebene sich drei Einheiten von 3+2+3 Achteln zu einer Gruppe zusammenschließen, sind auf der melodisch-harmonischen Ebene fünf Einheiten (zu Beginn 3+2+3+3+2 Achtel  ; die letzte Achtelgruppe ist eine Pause) zusammengefasst. Die so entstehende »metrische Dissonanz« wird erst mit dem Einsatz der vierten melodisch-harmonischen Einheit aufgelöst, da in diesem Moment der Beginn des Ostinato und der melodisch-harmonischen Gruppe zusammenfallen. – Beide Strukturebenen sind gleichzeitig harmonisch komplementär angelegt. In den ersten acht Takten ergänzt der akzentuierte Ton des Ostinato das Intervall in der rechten Hand zu einem Durdreiklang  : Es erklingen in der ersten Einheit Takt  2f. in unterschiedlichen Stellungen C-, F-, Des- und As-Dur, in der zweiten Einheit Takt 3f. E-, F-, B- und As-Dur usw. Da der Basston Grundton, Terz oder Quinte des Akkordes sein kann, geben die drei möglichen Basstöne c, f oder gis die Auswahl der möglichen Durdreiklänge vor  : Der Ton c tritt beispielsweise nur als Teil von C-, As/Gis- und F-Dur auf. In der zweiten Phrase, ab Takt 10, ändert Ligeti die Ausführung des Prinzips, indem er das Ostinato eine Oktave höher in die rechte Hand legt und die Intervalle der linken Hand so wählt, dass immer Molldreiklänge entstehen (T. 10f.: d-, f-, a- und b-Moll  ; T. 12f.: c-, f-, cis-, f-Moll etc.). Erneut ist Ligeti in der Auswahl der Dreiklänge durch die jeweilige Note im Ostinato gebunden  : So lässt sich die Note c nur als Teil eines c-, a- oder f-Moll-Dreiklangs harmonisieren. Mit Beginn der dritten Phrase in Takt 18 kehrt Ligeti zur Ausgangssituation mit Durakkorden zurück  ; in Takt 23 erklingt zum ersten Mal ein c-Moll-Septakkord und es kommt im weiteren Verlauf zu einer Verdichtung der harmonisch-melodischen Ebene. Bereits am Beginn des Stückes werden Ligetis Handhabung und die Wirkung der Dur/ Moll-Klänge deutlich erkennbar. Dur- und Mollklänge wirken als konsonante Klänge vertraut, stehen aber aufgrund ihrer Gebundenheit an ein anderes kompositorisches Prinzip außerhalb der Regeln harmonischer Tonalität und unterlaufen die kulturell geprägten Wahrnehmungsmuster eines Hörers der westlichen Kultursphäre  ; die strukturelle Anlage des Werkes erzeugt in keinem Moment eine harmonisch-melodische Expektanz, so dass sich die Ereignisse trotz des durchlaufenden Ostinatos in ihrer konkreten Abfolge nie voraushören lassen. Verstärkt wird dieser Konflikt zwischen Implikation und Realisierung durch die rhythmisch-metrische Disposition  : Die Phasenverschiebungen zwischen den rhythmisch-metrischen Strukturebenen führen dazu, dass trotz der starren Regelmäßigkeit des Ostinatos das Zusammenspiel der beiden Ebenen nie vorhersehbar wird. In dieser spezifischen Disposition sind Dur/Moll-Dreiklänge nicht als einzelne markiert, sondern markiert ist die fortdauernde Dissoziation der »tonal konnotierten Klänge« von ihrer Verwendung. Der Gegensatz Dur/Moll, wie er sich beispielsweise zwischen den ersten beiden Phasen manifestiert, erscheint in diesem Kontext als Gegensatz oder als Farbe ohne expliziten semantischen Gehalt oder die Ausbildung eines strukturellen Kontrasts. 518

Dur/Moll-Klänge in »posttonaler« Musik

4. Thomas Adès

Die Verwendung von tonalen Klängen in posttonaler Umgebung zählt zu den Merkmalen von Thomas Adès’ kompositorischem Stil, die sowohl für Stücke, in denen er Stilvorlagen mit großer Virtuosität um- und überschreibt, als auch für Werke, die ohne solche Rückbezüge entstanden, prägend sind. Mit dem Begriff »irrational functional harmony« skizzert Adès den Abstand zwischen funktionaler harmonischer Tonalität und seiner Gestaltung tonaler Klangfolgen, die sich unserer an Dur/Moll-Tonalität geschulten Erwartung widersetzen und daher in ihrem Verlauf »irrational« wirken.32 Da eine genauere Erörterung von Adès’ Verfahren den hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde, möchte ich nur eine Passage aus seinem Piano Quintet, abgeschlossen im Jahr 2000, kommentieren.33 Der formale Grundriss des Werkes orientiert sich klar an der Sonatenform – die Teile Expositon, Durchführung, Reprise und Coda sind deutlich ausgeprägt. In einem posttonalen Kontext werden häufig Akkorde, die tonale Assoziationen auslösen, verwendet, ohne dass strukturbildende tonale Zentren entstehen  ; zu beobachten ist allerdings die wiederkehrende Verwendung von bestimmten Klängen (wie beispielsweise der Terz c-es), um formale Schlüsselstellen zu gestalten und zu markieren. Besonders auffällig sind darüber hinaus kadenzielle Wendungen, die ihr Ziel nicht erreichen und unvermittelt in entfernte Tonartenregionen umgeleitet werden. Auch wenn Dur- und Molldreiklänge immer wieder nebeneinander stehen, so prägt sich in dieser Musik voller Überraschungen doch kein strategisch angelegter Kontrast zwischen Dur und Moll aus. Eine besondere Wirkung innerhalb des Stückes entsteht durch eine A-Dur-Passage nach Ziffer 8, die syntaktisch klar gegliedert und tonal geschlossen beginnt und im übergeordneten Satzverlauf die Funktion eines Seitensatzes einnimmt. Unter Einhaltung konventioneller Stimmführungsregeln wechseln die Harmonien im homophonen Klaviersatz im des Vordersatzes zunächst regelmäßig zwischen Sextakkord der Tonika und Dominantsekundakkord (I6-V2)  ; vor der ersten Zäsur tritt ein Subdominantklang hinzu. Im Nachsatz wird diese Harmoniefolge ausgeweitet und über die diatonischen Stufen iii-vi-IV-ii die Kadenz V7-I erreicht. Mit dieser schulbuchmäßigen harmonischen und syntaktischen Anlage stellt die Passage innerhalb des Stückes einen außerordentlichen Moment dar. Trotz der prägnanten harmonischen und syntaktischen Struktur stellt sich der Eindruck eines klaren, strahlenden A-Dur-Klanges kaum ein, da Adès mit unterschiedlichen Strategien die tonale Struktur verschleiert  : Erstens ist die metrische Abfolge so gewählt, dass auf schwerer Zeit jeweils der Dominantseptakkord erklingt, also 32 Vgl. Thomas Adès und Tom Service, Thomas Adès  : Full of Noises. Conversations with Tom Service, New York 2012, S. 141 und 144–146. 33 Für eine differenziertere Behandlung dieser Fragestellung sei auf meinen Beitrag »Tonality as ›Irrationally Functional Harmony‹  : Thomas Adès’s Piano Quintet«, in  : Tonality Since 1950, hrsg. von Felix Wörner, Ullrich Scheideler und Philip Rupprecht, Stuttgart 2017, S. 295–311, verwiesen, in dem ich auch auf die rasch wachsende Forschungsliteratur zu Adès eingehe.

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harmonischer Ruhepunkt (Tonika) und metrischer Schwerpunkt nicht zusammenfallen. Zweitens verlangt Adès mit der Spielanweisung »lontanissimo, affondato sempre« einen besonderen Klangeffekt im Klavier  : Die Musik soll irreal klingen. Die hinzugefügten Klänge, »flaut.«, ppp marc. leggiero in Violine 2 und Flageolett-Klänge in Violine 1 nehmen der Passage klangliche Substanz und fügen punktuell Dissonanzen hinzu  ; der tonal stabilste Moment des Stückes erscheint somit im unkörperlichsten Klanggewand. Infolgedessen wirkt die A-Dur Passage nicht wie entrückte Idylle, die Klänge stellen die Idylle als Schein bloß. – Darüber hinaus löst Adès die tonale Geschlossenheit nach wenigen Takten auf  : Es kommt zur metrischen Verschiebung zwischen Klaviersatz und Oberstimme. Nach Ende der stabilen A-Dur-Passage führt Adès einige rhythmische und motivische Elemente fort  ; konsonante Akkorde stehen allerdings nicht länger in funktionalem, auf eine Tonika bezogenem Zusammenhang  ; gleichzeitig werden die in den Streichern nach Ziffer 8 eingeführten fallenden Terzen verdichtet. Rhythmus und motivische Elemente (fallende Terz) werden auf Kernelemente reduziert, verdichtet, die Passage geht in ein Auflösungsfeld über und mündet bei Ziffer 10 in einen neuen Abschnitt. *** Die von mir ausgewählten Beispiele zeigen unterschiedliche Verfahrensweisen im Umgang mit Dur/Moll. Im Webern-Beispiel wurde der abschließende Durakkord als Schlüsselmoment interpretiert, dessen Wirkung auf die Auffassung des gesamten Satzes zurückwirkt und die Komposition wie einen Kommentar auf die verloren geglaubte harmonische Tonalität erscheinen lässt. Dallapiccola realisiert die »Expositio« seiner Sex carmina alcaei so, dass einerseits Dur- und Molldreiklänge als momentane Formationen eintreten und andererseits der im monodischen Abschnitt hervorgehobene Ton cis durch Cis-Dur-Dreiklänge als tonales Zentrum aufgewertet wird. Die beiden abschließend besprochenen Komponisten suchen verschiedene Möglichkeiten, Dur- und Mollakkorde in neue kompositorische Strukturen zu integrieren. Dabei streben sie eine andere Wirkungsweise dieser Akkorde an, die partiell mit konventionelleren, durch die harmonische Tonalität geprägten Hörerwartungen spielt. Dennoch verblasst bei Ligeti und Adès die Vorstellung, dass es sich bei Dur- und Molldreiklängen um »Relikte« der Vergangenheit handelt, und eröffnet den Auffassungen dieser Klangformationen als flüchtige und zerbrechliche Erinnerungsbilder einen neuen Raum.

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Dan Dediu

Delinquenz in der Neuen Musik nach 1970 Ein immunologischer Blick auf das Dur-Moll-Dispositiv

Es gibt keine Immunreaktion auf das Fett. Byung-Chul Han

Einführende Erwägungen

Die vorliegende Studie geht von dem Gedanken aus, dass die Nutzung von Elementen der tonalen Musiksprache im Kontext der atonal-seriellen Musik mit der komplexen Problematik einer Zuwiderhandlung gegen die ästhetische Norm und gegen den Kanon der ontologischen Reinheit der Neuen Musik einhergeht. Dieser Aufruhr der Frondeure, dieser Bruch mit dem Kanon kann gewiss aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden  : in juristischer Hinsicht (»Verstoß gegen das Gesetz  !«), in ethischer Betrachtung (»So geht das nicht  !«), in ökonomischer Perspektive (»Es ist kontraproduktiv  !«), managementbezogen (»Es ist zu riskant  !«) etc. Im Folgenden soll ein komplexes Ideengerüst skizziert werden, in dem Versuch, die subtilen Vorgänge zu eruieren, die zur Entscheidung führen, das »Dur-Moll-Dispositiv« (DMD) in einer ungünstigen (ja sogar feindlichen) Umgebung zu verwenden, die wir wiederum als »Atonal-Serielles-Dispositiv« (ASD) bezeichnen  ; dabei soll ein besonderes Augenmerk auf die immunologische Perspektive und auf das Konzept der Abweichung gerichtet werden, so wie diese in den Schriften Peter Sloterdijks und Byung-Chul Hans einerseits und in den Werken von Michel Foucault und Gilles Deleuze andererseits theoretisiert wurden. Das Bekenntnis der Avantgardemusik zu ihrer revolutionären Rolle, die unschwer mit der Rolle der linken politischen Bewegungen verglichen werden könnte, führt uns zur Ausformulierung eines Gedankenkontextes, in dem der Zorn (»thymos«) seine eigenen stilistischen Prinzipien artikuliert, die er dann mit einem internationalistischen Treibstoff tankt und einer permanenten und vorsichtigen Aufschiebung der Rache unterzieht, die wiederum von einer kriegerischen, ein thymotisches Kapital handhabenden Agentur verwaltet wird.1 Dieses Kapital des aufgeschobenen Zorns nährt und hält das Bewusst1 »Man könnte die Moderne definieren als Epoche, in der die Motive Rache und Immanenz miteinander fusionieren. Diese Liaison ruft die Existenz einer Racheagentur von globaler Tragweite hervor«  ; Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt/Main 2008, S. 113.

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sein der Beteiligten am Leben, einer messianischen Gruppe  – der Avantgarde  – zugehörig zu sein, die die wahre Erkenntnis sammelt und strenge, unwiderlegbare Gebote formuliert. In diesem Sinne lautet das erste Gebot der Avantgarde in der Neuen Musik nach 1950  : Das Dur-Moll-Dispositiv ist strengstens verboten, egal unter welchen wandelbaren Verkörperungen oder Modulationen es erscheinen mag. Dispositio non grata. Nach 1970 erfährt dieses Gebot eine Aufweichung und wird um eine Nuance reicher, die der Eingliederung der Andersartigkeit in homöopathischen Mengen zustimmt. Wie das zustande gebracht wird, werden wir noch erläutern.

Das Dur-Moll-Dispositiv und die Neue Musik

Was versteht man unter »Dur-Moll-Dispositiv« (DMD)  ? Das Konzept des Dispositivs, das im weiteren Verlauf dieser Studie zur Anwendung kommt, wurde in der Philosophie von Michel Foucault vage umrissen und später von Giorgio Agamben präziser definiert. Als Abkömmling einer operativen Konzeptserie gingen dem Terminus »Dispositiv« Begriffe wie »Struktur« (Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes) und »Assemblage« (Gilles Deleuze und Felix Guattari) voraus, wobei Agamben das Dispositiv als »alles, was in der einen oder der anderen Weise imstande ist, die Gestik, das Verhalten, die Ansichten und den Diskurs der Lebewesen festzuhalten, zu orientieren, zu bestimmen, abzufangen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern«2 erläutert. Diese äußerst technische und umfangreiche Definition des Begriffs Dispositiv erlaubt es uns, ihn auch im Bereich der Ästhetik der Neuen Musik anzuwenden und ihm inhaltlich einen spezifisch musikalischen Bedeutungsinhalt beizusteuern. In diesem Sinne ist das D u r - M o l l - D i s p o s i tiv (DMD) eine komplexe Ansammlung von historisch bewährten m u s i k a l i s c h e n Ve r f a h r e n , P r o z e d u r e n u n d P r o z e s s e n , d i e To n m a t e r i a l i m R a h m e n d e s t o n a l e n S y s t e m s a u f g r e i f e n . Auf diese Weise werden Tonarten, Motive, Akkorde, Tonleitern, Intervalle oder Dreiklänge, harmonische Strukturen und funktionale Relationen des tonalen Systems herangezogen und zur hypertelischen3 Proliferation und Akkumulation eingesetzt mit dem Ziel, der intrinsischen Logik des Systems zu dienen. In der vorliegenden Studie wird das DMD in seiner systemischen Ganzheit betrachtet, denn seine Wirkung in der Neuen Musik gleicht jener eines Virus mit zwei tödlichen Komponenten – das Dur- und das Moll-Ethos –, die unter dem Gesichtspunkt der Schuldzuweisung aneinandergekoppelt und austauschbar und folglich gleichermaßen verpönt und verfolgt sind, ungeachtet ihrer gänzlich unterschiedlichen Ausdrucksfähigkeit. Obwohl die beiden Komponenten sich im tonalen Kontext 2 Giorgio Agamben, »Ce este un dispozitiv  ?«, in  : Prietenul și alte eseuri, Bukarest 2012, S. 40. 3 Der Begriff »Hypertelie« stammt von Jean Baudrillard und bezeichnet eine unkontrollierte Wucherung der Gegenstände und Scheinphänomene (vgl. ders., Les Stratégies fatales, Paris 1986).

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Delinquenz in der Neuen Musik nach 1970

bis zur Komplementarität oder Gegensätzlichkeit (Dur und/oder Moll) unterscheiden, werden sie im Umfeld der Neuen Musik als globale Bedrohung und als Fremdkörper empfunden, der eine Abwehrreaktion des Klangorganismus hervorruft. Das zweite Schlüsselkonzept in dieser Studie, die »Neue Musik«, ist ein restriktiver Begriff, der die einschlägige Musik ausgehend von der radikalen Idee purer Neuheit (serielle Musik unterschiedlicher Ausprägung, »musique concrète«, elektronische Musik, Aleatorik, Bruitismus etc.) definiert, folglich nur der Avantgarde und der experimentellen Musik nach 1945 Rechnung trägt und somit andere Richtungen, die die Tradition der Zwischenkriegszeit fortsetzen (Neoklassizismus, sozialistischer Realismus), ausschließt oder der leichten Muse zuschreibt (symphonischer Jazz, Minimalismus). Diese Unterscheidung ist leicht zu begründen  : Die »radikale Neue Musik« (insbesondere jene, die dem Darmstädter Katechismus gehorcht) intendiert die Schaffung von klanglichen Erscheinungen, die absolut neu sind und Tabula rasa machen mit den alten Gepflogenheiten und tradierten Manieren, die Tonhöhen und Notenwerte zu organisieren, während die in der Tradition des Zwischenkriegszeit stehende »gemäßigte Musik« nach 1945 die Beibehaltung von bekannten Elementen im Klangbild beabsichtigt, selbst wenn die Kompositionstechniken und die Tonhöhe-/Notenwert-Organisation modifiziert werden (wie im Fall Igor Strawinskys nach 1953). In diesem Sinne ist auch der Unterschied zwischen Strawinskys Dodekaphonie und Pierre Boulez’ Serialismus nach 1953 relevant  : Strawinsky übernimmt die neue Technik der Tonhöhenorganisation – den Serialismus – und passt sie seinen Zwecken an, seine Musik bleibt jedoch erkennbar, während Boulez mit Hilfe der radikalen seriellen Technik neue Klangeffekte, noch nie da gewesene Klanghüllen erschaffen will. Einfacher ausgedrückt  : Die radikale4 Moderne setzt auf die komplette Ausgrenzung des DMD, während die gemäßigte Moderne das DMD adaptiert und in neue Formen gießt – Fragmentation-Kombination (Strawinsky-Modell) und Juxtaposition-Superposition (Messiaen-Modell). In der Folge haben wir zwei Hauptakteure  : die Neue Musik und das Atonal-SerielleDispositiv (ASD) bzw. die tonale Musik und das Dur-Moll-Dispositiv (DMD), die in einer grundlegenden Inkongruenz zueinander stehen (DMD ≠ ASD).

1. Theoretische Vorüberlegungen Das Immunsystem und die Ästhetik der Neuen Musik

Für den Philosophen Peter Sloterdijk ist das Immunsystem eine Sphäre, die den Menschen nahezu wie eine zweite Haut umgibt und der die Rolle zukommt, seine kulturelle Integrität zu verteidigen. Das Immunsystem ist Synonym mit Identität und reagiert all4 Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen radikaler und gemäßigter Moderne vgl. Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 7), Laaber 1984, S. 292.

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ergisch, wenn diese angegriffen wird.5 Ohne auf alle Fluchtpunkte in Byung Chul-Hans Essay Müdigkeitsgesellschaft einzugehen, lassen sich aus seiner Schrift drei klare Regeln des Immunsystems ableiten  : 1. Nur das Fremde wird angegriffen, was heißt, dass Gleiches oder Ebenbürtiges nicht zur Bildung von Antikörpern führt. 2. Auf die Menge kommt es nicht an. Selbst in geringen Mengen vorhanden, wird das Fremde ausgeschlossen.6 3. Der Abwehrreflex manifestiert sich durch die Errichtung von Schranken auf diversen Ebenen, ähnlich konzentrischer Kreise, die wie militärische Festungen für den Kampf gegen Fremde aufgerüstet sind. Han geht einen Schritt weiter und schlägt ein interessantes Konzeptpaar vor  : i m m u n o l o g i s c h e und n i c h t - i m m u n o l o g i s c h e A b s t o ß u n g .7 Erstere stößt das Fremde ab und vernichtet es, ungeachtet der Menge, in der das Fremde vorhanden ist, während das zweite Konzept die Abstoßung des Gleichen oder Ähnlichen bezeichnet, wenn es über die Grenzen des Ertragbaren wuchert. Baudrillard erwähnt Begriffe wie Inflation, Wucherung, Obesität,8 während Han von Fett spricht. Dieses »Fett«, ein Ergebnis des Übermaßes an Positivität, bringt digestiv-neuronale Abreaktionen und Ablehnungen mit sich, die letztendlich zu chronischer Ermüdung und psychischen Infarkten führen.9 Folglich müsse das Immunsystem zum Anpacken gebracht werden, damit die im Fett angesammelte und gespeicherte Energie befreit wird, um das »Nicht-Mehr-KönnenKönnen«10 und das »erschöpfte Selbst«11 zu vermeiden. Wenn sich kein äußerlicher Feind zeigt, greift man zu einer List, um die eigene Entropie überleben zu können und die Kraft der Negativität zu entfesseln  : Man erfindet einen Feind. Dies kann durch eine Impfung vonstattengehen, also durch die Einführung von Bruchteilen des »Feindes« in den eigenen Körper, in der Absicht, eine Immunreaktion hervorzurufen. Han drückt das   5 Vgl. Holger Freiherr von Dobeneck, Das Sloterdijk-Alphabet, Würzburg 2006, S. 127f.   6 »Die immunologische Abwehr richtet sich immer gegen das Andere oder das Fremde im emphatischen Sinne. Das Gleiche führt nicht zur Bildung von Antikörpern. […] Die immunologische Abstoßung erfolgt dagegen unabhängig von dem Quantum, denn sie ist eine Reaktion auf die Negativität des Anderen. Das immunologische Subjekt mit seiner Innerlichkeit wehrt das Andere ab, s c h l i e ß t e s a u s , selbst wenn es nur in geringster Menge vorhanden ist.« Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2012, S. 13f.   7 »Wir müssen zwischen immunologischer und nicht-immunologischer Abstoßung unterscheiden. Diese gilt dem Z u v i e l a m G l e i c h e n , dem übermaß an Positivität. An ihr ist keine Negativität beteiligt. Sie ist auch keine Ausschließung, die einen immunologischen Innenraum voraussetzt.« Ebd.   8 Jean Baudrillard, Die Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 75, zitiert nach ebd.  9 Han, Müdigkeitsgesellschaft, S. 19–25. 10 Ebd., S. 25. 11 Alain Ehrenberg, La fatigue d’être soi. Dépression et société, Paris 1998.

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treffend aus  : »Man tut sich freiwillig ein wenig Gewalt an, um sich vor einer viel größeren Gewalt zu schützen, die tödlich wäre.«12 Die Ästhetik der Neuen Musik richtete sich und funktioniert immer noch nach dem Vorbild des Immunsystems  : Was nicht akzeptiert ist, wird abgelehnt  ; aber auch das Unbekannte wird abgelehnt. In einer ersten Phase wurde die Immunreaktion der Ästhetik der Neuen Musik selbst von infinitesimalen Mengen an DMD hervorgerufen. Das Auftreten eines Dur- oder Mollakkords in atonalem Kontext wurde sofort als Fehler entlarvt und nach dem Kanon der Avantgarde-Orthodoxie ausgebessert. Mit der Zeit stieß die Ästhetik der Neuen Musik auf ein anderes Phänomen  : die Anhäufung von »Fett«, wobei unter »Fett« die Proliferation von dogmatischen, radikal akademischen und dadurch unwirksamen Musikwerken zu verstehen ist. Somit entsteht eine zweite, raffiniertere Phase der Immunreaktion  : die Impfung. Um das Übermaß an Positivität und damit das »Fett« zu vermeiden, lässt sich die Neue Musik in dieser Phase mit harmlosen Elementen des Dur-Moll-Dispositivs impfen  ; dadurch wird die Neue Musik stärker und sie assimiliert das Fremde, indem sie es in sich einschließt und in ästhetischer (und zum Schluss auch in ethischer) Hinsicht neutralisiert.13 Nach Darstellung dieser Immunstrategie dürfen wir nun eine weitere Sichtweise einbringen  : Sie kann nämlich auch als Abweichung von der Norm betrachtet werden. Kontrollgesellschaft vs. Leistungsgesellschaft. Widerstand und Delinquenz

Gilles Deleuze14 übernahm einige intuitive Erkenntnisse Michel Foucaults, die dieser in einer tiefgehenden Analyse der Gesellschaftsmechanismen des 16. bis 20.  Jahrhunderts darlegte,15 und führte sie schöpferisch weiter  : Er unterscheidet zwischen drei Gesellschaftsordnungen, die jede für sich auf einer bestimmten Mentalität basiert. Nach Foucault und Deleuze gibt es zunächst die »Souveränitätsgesellschaft«, eine eigenartige Modalität, den Tod zu organisieren (der Monarch ist eine Art Verwalter des Todes seiner Untertanen), dann gibt es die »Disziplinargesellschaft« als Lebenserhaltungsmodalität (die Industriegesellschaft, wie wir sie teilweise kennen, weil einige unter uns sie noch erlebt haben) und schließlich existiert noch die »Kontrollgesellschaft«, eine Modalität, sowohl dem Leben als auch dem Tod Rechnung zu tragen, was dank der digitalen Revolution in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts möglich wurde. Während Disziplin das Ideal der Lebenserhaltung und des manchmal fragwürdigen Lebensschutzes impliziert, führt Kontrolle, die zahlenmäßige Erfassung, zu einer »objektuellen Mentalität«. 12 Han, Müdigkeitsgesellschaft, S. 17. 13 Aus der Perspektive Deleuzes könnte man diese Strategie als »Reterritorialisierung durch Deterritorialisierung« bezeichnen. 14 Gilles Deleuze, »Post-scriptum sur les sociétés de contrôle«, in  : Pourparlers 1972–1990, Paris 1990, S. 240– 247. 15 Michel Foucault, Surveiller et punir, Paris 1975.

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Demnach muss alles durchnummeriert werden – von Oberflächenformen bis Viren, von Wolkenkratzern bis hin zu Büroklammern. Diese Neigung zur buchhalterischen Erfassung jeglicher (lebendigen oder nicht lebenden) Entität ist die logische Konsequenz der oben erwähnten Proliferation der Gegenstände, und die Kontrolle erfolgt recht einfach  : Jedem Lebewesen, jeder Handlung und jedem Dispositiv wird eine Reihe von Zahlencodes zugewiesen, die im elektronischen Format in riesigen und globalen Datenbanken gespeichert werden. Byung-Chul Han übernimmt diese Dreiteilung und setzt der Kontrollgesellschaft Deleuzes die »Leistungsgesellschaft« entgegen, die er gründlich erforscht und theoretisiert16, indem er den Paradigmenwechsel von der Disziplinargesellschaft zur Leistungsgesellschaft besonders hervorhebt. Worauf es uns hier ankommt, ist jedoch eher, die Koexistenz der zwei Mentalitäten zu verfolgen, die ausgehend von der Disziplinargesellschaft entstehen (die wiederum vom negativen Modalverb »nicht-dürfen«17 regiert wird)  : die von Foucault und Deleuze beschriebene Kontrollgesellschaft einerseits und die von Han theoretisierte Leistungsgesellschaft andererseits. Wir haben es hier also mit einer interessanten Bifurkation zu tun. Die Disziplinargesellschaft bietet zwei Entwicklungsmöglichkeiten  : die Evolution in Richtung Kontrolle und in Richtung Leistung. In unserem Fall schlagen die Avantgarde und die Neue Musik die Entwicklungsrichtung Disziplinargesellschaft→Kontrollgesellschaft ein und in diesem Sinne funktionieren sie wie soziale Immunsysteme. In einer älteren Studie haben wir aufgezeigt, wie die Abweichungen von der Norm, die Übertretung der Systemregeln zwei Formen annehmen können  : W i d e r s t a n d und D e l i n q u e n z .18 Der Widerstand kann als offenkundige Ablehnung des Systems (in einer radikalisierten Form sogar als Guerillakrieg) definiert werden, während die Delinquenz als vorgetäuschte Akzeptanz der Systemregeln betrachtet werden kann, mit dem Ziel, die Regeln heimlich zu unterminieren, zu übertreten und ihnen Risse zuzuführen. Die beiden Abweichungsformen haben ihren gemeinsamen Ursprung in der Ablehnung eines Regelwerks, das sich auf Disziplin und Kontrolle stützt, sind jedoch unterschiedlich stark in der Intensität ihrer Negativität  : Der Widerstand ist hartnäckig, erwachsen, bedrohlich und organisiert, während die Delinquenz aufflammend, unreif, heuchlerisch und chaotisch ist. Der Widerstand lässt ein anderes System im Inneren eines existierenden Systems entstehen, er unterminiert und bekämpft aufrichtig, während die Delinquenz verlogen, provisorisch und oberflächlich ist und damit letzten Endes zur Stärkung des Systems beiträgt. In diesem Sinne ähnelt die Delinquenz der Impfung – es ist eine Art und Weise, die Immunreaktion des sozialen Systems zu verursachen und das System fit zu halten, ohne es lebensgefährlich zu bedrohen.

16 Han, Müdigkeitsgesellschaft. 17 Ebd., S. 22. 18 Dan Dediu, Radicalizare și guerrilla, Bukarest 2004, S. 137–144.

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Hier eröffnet sich ein Auslegungsfeld, das man frei nach Sloterdijk als »interparanoisch« bezeichnen könnte, das heißt eine psycho-politische Realität, die dazu führt, dass jede Partei sich verfolgt fühlt und gleichzeitig auch als Verfolger fungiert.19 In der Neuen Musik greift das Phänomen der Interparanoia sowohl in Kreisen des Widerstands als auch im Rahmen der Delinquenz – Konzepte, die sich Radikale und Gemäßigte gleichermaßen zu Eigen gemacht und verinnerlicht haben. Widmen wir uns zunächst dem Widerstand. Stellen wir uns einerseits das Dispositiv der Avantgarde vor  : Sie muss ihre Stellung, ihre Überzeugungen und die Begründung ihrer Handlungen verteidigen, indem sie die Zornbanken20 mit all dem Gedankengut speist, das sich von jenem aus der Vergangenheit am meisten unterscheidet. Somit leistet die Avantgarde offenkundigen Widerstand gegen die Tradition, aber auch gegen die Geschmacksdemokratisierung und die Invasion der leichten Musik.21 Diese Art Widerstand stützt sich auf einen nahezu militarisierten Verbotskatalog, eine Art »BushidoCode« der Samurai im Dienste der Neuen Musik, die mit dem Preis ihres Lebens das Wertesystem der atonalen Reinheit verteidigen. Andererseits kann der Widerstand auch andersrum aufgefasst werden, nämlich als Artikulierung der Gemäßigten, die sich mit der puristisch-avantgardistischen Einstellung nicht abfinden können und daher versuchen, neue technische Lösungen zu finden (Polytonalität, Polymodalität, komplementäre Tonleitern etc.) und diese an altem Tonmaterial anzuwenden mit dem klaren Ziel, ein tonal-modales Zentrum beizubehalten. Und nun zur Delinquenz – aus Sicht der Avantgarde. Die seriell-dodekaphone Dogmatik hat die Verwendung von Terzakkorden unter Verbot gestellt, insbesondere ihre Verwendung in Form von Dur- und Molldreiklängen. Es erscheint folglich als normal, dass im Umfeld der Neuen Musik, die diese Akkorde als symbolische Relikte des alten Systems betrachtet, ihre Verwendung stillschweigend oder explizit verpönt ist. In diesem Zusammenhang liest sich die Geschichte der Verwendung des DMD (Akkorde, Tonarten, harmonische Funktionen) im Rahmen des neuen, nicht-zentrierten, atonalen Systems (ASD) wie ein Strafregister der neuen Delinquenz. Der auf tonale, in der Dur-Moll-Logik stehende Elemente zurückgreifende Komponist wird unweigerlich als Übeltäter aufgefasst. Er ist ein Räuber, ein Robin Hood der Musiksprache, der das Reine mit Unreinheit 19 »Le moment est venu de comprendre que la réalité historique des nations et des groupes culturels est marquée par la loi de l’interparanoïa. La paranoïa, ce n’est pas un concept qu’on peut utiliser au singulier. L’essentiel d’une théorie valable de la paranoïa réside dans la découverte que les paranoïaques sont vraiment persécutés – et cela très souvent par des agents qui se croient persécutés à leur tour. L’analyse de l’interparanoïa déploie une culture de la description du champ politico-psychique, qui nous permet finalement de reconnaître que la paranoïa a toujours raison. Elle est la raison même.« Peter Sloterdijk und Alain Finkielkraut, Les battements du monde, Paris 2003, S. 172. 20 Die »Zornbank« ist ein symbolisches Konzept, mit dem die Sammelpunkte des Zorns ähnlich der Funktion linker Parteien bezeichnet werden. Das Konzept wurde von Peter Sloterdijk in Zorn und Zeit, S. 96ff., geprägt. 21 Alessandro Baricco, L’âme de Hegel et les vaches du Wisconsin, Paris 2007.

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befleckt, der gerade jenen Ort beschmutzt, wo Sauberkeit, Hygiene und Aseptik herrschen. Tut er dies vor 1970, gilt er sogar als Klassenfeind. Lässt er sich nach 1970 darauf ein, als das DMD im Rahmen des ASD akzeptabel wurde, gilt sein Unterfangen als Impfung  ; soll heißen, er tut sich lieber freiwillig ein wenig Gewalt an, um immun zu werden, als in der Entwicklung stecken zu bleiben und dadurch übermäßig »fett« zu werden. Im folgenden Abschnitt werden wir versuchen, die Nutzung des DMD im Rahmen der Neuen Musik nach 1970 anschaulich zu erläutern, wohl wissend, dass es in jener Epoche auch andere, parallel verlaufende Musikrichtungen gab, die sich anders entwickelten und sich auf den Paradigmenwechsel von Disziplin zu Leistung (Han) stützten und nicht der Paradigmenfortführung der Disziplin in Kontrolle (Foucault) Folge leisteten. Gerade diese letzte Richtung wird im Folgenden beleuchtet, wobei ein besonderes Augenmerk der Paradigmenkontinuität von Disziplin zu Kontrolle gilt. Neue Musik und DMD-Impfung

Die Neue Musik war nach 1945 und blieb bis heute ein Disziplinarsystem im Sinne von Foucault, Deleuze und Han. Sie ist von »No-Gos«, Verboten und Einschränkungen beherrscht und verlangt Gehorsam und Folgsamkeit.22 Ihr Immunsystem ist wachsam und unbarmherzig gegenüber jeglichem Fremdkörper und jeglicher Verunreinigung. Jegliche Menge oder jeder Bruchteil eines DMD wird in der Neuen Musik als Feind identifiziert und erbarmungslos vernichtet. Doch dieses Disziplinarschema kommt recht bald an seine Grenzen. Die Neue Musik sollte bald begreifen, dass sie Reformen braucht, um ihren Kollaps durch »Überfettung« zu vermeiden und um wettbewerbsfähig zu bleiben. »Ab einem bestimmten Punkt der Produktivität stößt die Disziplinartechnik bzw. das Negativschema des Verbots an seine Grenze. Zur Steigerung der Produktivität wird das Paradigma der Disziplinierung durch das Paradigma der Leistung […] ersetzt, denn ab einem bestimmten Produktivitätsniveau wirkt die Negativität des Verbots blockierend und verhindert eine weitere Steigerung.«23

Doch diese innere Umgestaltung der Neuen Musik kommt nicht als liberale Revolution zustande, sondern in Form von P e r e s t r o i k a und G l a s n o s t , was bedeutet, dass sich die Neue Musik eine »harmlose Impfung« mit äußerster Sorgfalt und Sparsamkeit präpariert und verabreicht hat, um so eine »Umstrukturierung« und eine »Transparenz« in Szene zu setzen und diese theatralisch und überzeugend vorzutragen. Die verabreichte Impfung enthält Fragmente des DMD-Feindes, doch diese Fragmente artikulieren sich nicht im Geiste und in der Ausdrucksform des erwähnten Dispositivs. Durch die her22 Han, Müdigkeitsgesellschaft, S. 23. 23 Ebd.

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vorgerufene Immunreaktion verstärkt die DMD-Impfung die ASD-Disziplin, indem Erstere die Letztere durchdringt und die Flexibilität der Abwehrmechanismen steigert. Paradoxerweise wird durch die freiwillig im Körper der Neuen Musik induzierte stilistische Entspannung die Prämisse für eine technisch versiertere und subtilere Kontrolle geschaffen. Hier sind wir also in einer »brave new world of control« angekommen, die als weiter fortgeschrittenes Stadium der Disziplin aufgefasst wird, als Turbo-Version derselben. Die Welt der Kontrolle zeichnet eine hohe Überlebenskapazität aus, sie ist mit Vernichtungswaffen gewappnet, die eine Anpassung an den Feind und dessen Einverleibung ermöglichen, und verfügt über komplexe Verteidigungsstrategien. Das ist auch die Welt der »neuen Neuen Musik« nach 1970, die wir im Folgenden kurz kartographieren möchten. Zuvor muss man allerdings noch festhalten, dass es berühmte Beispiele für dieses Procedere auch in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts gibt, die als Vorläufer der oben dargestellten vorsätzlichen ästhetischen Strategie angesehen werden können. Die Komponisten der im Folgenden angeführten Beispiele scheinen die Krise der Neuen Musik nach 1945 »vorausgeahnt« und sich intuitiv der DMD-Nutzung als Paralleluniversum zum ASD zugewandt zu haben  : als ontologische Alterität bei Alban Berg (im Violinkonzert, 2. Satz, Bach-Choral Es ist genug), als verschlüsseltes Symbol ebenfalls bei Berg (Lyrische Suite, Finale, kaschiertes Zitat24 aus Richard Wagners Tristan und Isolde), als Anamnese der Kindheitsunschuld und als Nachahmung der Jahrmarkt-Drehorgel bei Igor Strawinsky (Petruschka, Thema der Ballerina) und bei Béla Bartók (Streichquartett Nr. 5, 5. Satz25). Das DMD diente somit als ästhetisch-immunologischer Schutzschirm im Rahmen des ASD, ebenso wie das ASD seinerseits als propagandistischer Schutzwall gegen das DMD herhalten musste. Die Interparanoia-Gesetzmäßigkeit Sloterdijks kann kaum perfekter zum Ausdruck kommen.

2. Prozeduren der DMD-Einfügung in das ASD

Es gibt mehrere Modalitäten, das DMD im ASD einzugliedern  : Museifikation, Mumifizierung, Vampirisierung, Zombifizierung, Babelisierung und Integration. Im Folgenden werden sie der Reihe nach erläutert  : 24 George Perle, »The Secret Program of the Lyric Suite«, in  : ders., The Right Notes  : Twenty-Three Selected Essays on Twentieth-Century Music, Stuyvesant (NY) 1995, S. 75–102. 25 In den Takten 699–720 fügt Bartók unerwartet eine groteske und enigmatische tonale Episode ein, die mit dem chromatischen Ambiente stark kontrastiert. In der einführenden Analyse der Universal Edition-Partitur Philharmonia Nr. 167 wird die Stelle folgendermaßen beschrieben  : »Unerwartete, leierkastenartig groteske Umwandlung des zweiten Themas. Stilfremde Harmonisierung (primitiv tonal  – nur Tonika und Dominante  –, schließlich polytonal, an ein verstimmtes Instrument erinnernd). Die Bedeutung dieser Collage bleibt rätselhaft.«

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A. Die M u s e i f i k a t i o n kann folgendermaßen definiert werden  : Sie besteht aus der Einrichtung einer imaginären Vitrine oder eines Fensters und der Platzierung von Musik hinter der Glasscheibe, wobei die Musik als Verbildlichung der (verklärt oder nicht verklärt dargestellten) Vergangenheit fungiert, sich aber gleichzeitig zwingend mit dem zeitgenössischen musikalischen Diskurs überlappt, wie zwei unterschiedliche und synchrone Ebenen. Kurz gesagt  : mit diesem Procedere werden das DMD und das ASD überlagert. Die häufigsten Erscheinungsformen der Museifikation sind das Zitat und der Pastiche. Die Umsetzung erfolgt in zweierlei Manier  : entweder durch szenische und funktionale Distanzierung – wie in Mozarts Don Giovanni (1. Akt) oder in Bergs Wozzeck (die beiden Orchester)  – oder durch Genre- und Plan-Distanzierung  – wie im bereits erwähnten Violinkonzert Bergs (Choral). Nach 1970 sind solche Überlagerungen immer häufiger zu finden, beispielsweise in Werken von Luciano Berio (Naturale, Ritorno degli snovidenia), Witold Lutosławski (Streichquartett, Dritte Symphonie, Les espaces du sommeil), Jörg Widmann (Lied, Messe), James Macmillan (Veni, veni, Emmanuel), Adrian Iorgulescu (Dritte Symphonie), Dan Dediu (Gotische Melancholien–1. Bratschenkonzert, Frenesia). B. Die M u m i f i z i e r u n g kann als Errichtung eines imaginären Sarkophags und Platzierung von Musik in diesem Sarkophag26 definiert werden, wobei diese Musik eine Verbildlichung der (verklärt oder nicht verklärt dargestellten) Vergangenheit ist, aber zwingend nicht vom musikalischen Diskurs der Gegenwart begleitet wird  ; die Mumifizierung fungiert als eine Art zeitlicher, räumlicher und kultureller Riss, als diachronischer Bruch und als Zeitloch. In dieser Prozedur wechseln sich das DMD und das ASD sukzessive ab, nur ist das DMD quantitativ schwächer vertreten, wodurch das ASD an Bedeutung zunimmt und somit seinen Status als Referenzsystem beibehält. Die mit Vorliebe verwendete Technik bei der Mumifizierung ist die Collage, und die daraus resultierende Ästhetik wurde in manchen Fällen als »Polystilistik« bezeichnet. Alfred Schnittke ist einer der Komponisten, die am meisten auf Mumifizierung zurückgreifen, wobei bei ihm die Spannung im Dur-Moll-Gefüge durch Cluster-Akkorde konterkariert und zersetzt wird (Konzert für Klavier und Streichorchester, Bratschenkonzert). Ähnliche Beispiele finden sich auch in den Frühwerken Wolfgang Rihms, etwa die Einfügung einer Marsch-Rune als historische Ruine (in Dis-Kontur, 1974), die Mahler’schen Kulminationen (in Sub-Kontur, 1975),27 der isolierte, parasitäre Molldreiklang als Fremdkörper (es26 Zu diesem Terminus ließen wir uns von einem Interview mit Helmut Lachenmann inspirieren, in dem er sagt, dass er in seiner Tanzsuite mit Deutschlandlied (1979/80) die deutsche Nationalhymne »like a skeleton that now serves to help me articulate a characteristic time grid« verwendete. Vgl. Abigail Heathcote, »Sound Structures, Transformations, and Broken Magic  : An Interview with Helmuth Lachenmann«, in  : Contemporary Music. Theoretical and Philosophical Perspectives, hrsg. von Max Paddison und Irène Deliège, Surrey 2010, S. 335. 27 »Rihm speaks of Sub-Kontur, which premiered at Donaueschingen in 1976, in comparable terms to its sibling [Dis-Kontur], commenting that melodic adagio, as a cipher of an existing type of musical language, climbs up from under, through the omnipresent attacks of a musical raw state. […] When this partly hidden stratum is

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ges-b am Ende von Nachtordnung. Sieben Bruchstücke für 15 Streicher, 1976)28 oder die Unterminierung einer barocken Adaption durch Worte und expressionistische Paranoia (eine Arie aus Händels Kantate Lucrezia in Die Hamletmaschine, 1986).29 All dies sind Mittel, um ein ambivalentes und emotional komplexes Ambiente zu schaffen.30 Bei Helmut Lachenmann finden wir eine interessante Variante der Mumifizierung  : Er kaschiert in der Tiefe seiner Werke andere Musikfragmente, die kaum wahrnehmbar sind  : das unterschwellige Geflüster aus Mozarts Klarinettenkonzert in Accanto (1975/76), das Evozieren von Beethovens Neunter Symphonie in Staub (1985/87), die Kaiserhymne Haydns in der Tanzsuite mit Deutschlandlied (1979/80).31 Eine weitere Variante der Mumifizierung erscheint im originellen und sich selbst genügenden Werk des US-amerikanischen Komponisten George Crumb. In Makrokosmos I (1972) für elektrisch verstärktes Klavier schleust sich (im Stück Nr. 11, Gemini, mit dem Titel Dream Images. Love-Death-Music) wie im Traum ein Zitat aus Chopins FantaisieImpromptu ein. In Black Angels für elektrisch verstärktes Streichquartett (1970) sind wir Zeugen einer seltsamen Verpflanzung von zwei tonalen Musikfragmenten (Pavana lachrymae – ein Zitat aus dem zweiten Satz von Schuberts Streichquartetts Der Tod und das Mädchen – und Sarabanda de la Muerte Oscura, ein Pastiche im »synthetischen Renaissance-Stil«, wie der Komponist selbst angibt), begleitet von Insektenzirpen (im Part der 1. Violine). Die beiden Fragmente treten halluzinatorisch zu Tage und zeugen von einer Veränderung des mentalen Zustands. Bei Crumb geht das Verfahren der Mumifizierung eng einher mit einem Gefühl der Todesnähe, des Fallens in eine kataleptische und ekstatische Trance. Ganz anders geht Aurel Stroe vor  ; in Préludes lyriques (1999) und insbesondere in Mandala cu o polifonie de Antonio Lotti (Mandala mit einer Polyphonie von Antonio Lotti, 2000) ist ein fetischisierendes Konzept der Mumifizierung festzustellen. Mitten in seiner related to the idea of a sub-contour embodied in the score’s title, it functions as a signifying layer that breaks through to the surface of the music. Such moments occur with particular force in the Mahlerian outbursts of the principal theme in the ›Exposition‹ at the bar 81 and the «Recapitulation» at bar 272.« Alastair Williams, Music in Germany since 1968, Cambridge 2013, S. 126. 28 »Und ist nicht der konsonante es-Moll-Dreiklang, mit dem Wolfgang Rihms Nachtordnung. Sieben Bruchstücke für 15 Streicher (1976) schließt, viel angespannter als der dissonante Klang am Ende des zweiten Stückes von Arnold Schönbergs Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 (1911)  ? Der dunkle Ton der Bratschen, das heftige, fast geräuschhafte Crescendo auf kleinstem Raum und die Isolierung durch lange Stille vorher und nachher geben dem es-Moll außenordentliche Intensität.« Clemens Kühn, Analyse lernen, 2. Auflage, Kassel 1993, S. 86. 29 Williams, Contemporary Music, S. 368. 30 Viele der öffentlichen Einlassungen Rihms sowie die von ihm verwendeten Konzepte sind streitbar und herausfordernd  : »Ich schreibe keine reine Musik.«, »Ich schreibe Durchführungsmusik.«. Konzepte wie »Wildwuchs«, »Übermalung«, »vegetatives Komponieren« sind ebensoviele Argumente für die Idee der stilistischen Unreinheit. 31 Williams, Contemporary Music, S. 363.

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Musik ist eine symbolische und sonderbare stilistische Schicht »eingegraben«, die als solche deutlich wahrnehmbar ist und zur übrigen Musik keinerlei Bezug hat. In Mandala artikuliert Stroe ein perfektes Palindrom und mitten in diese Musikform pflanzt er ein polyphones Zitat aus einem Stück des italienischen Barock-Komponisten Antonio Lotti wie einen Kern ein. Das Zitat ist für Solo-Singstimmen geschrieben und kommt nur an dieser einen symphonischen Stelle vor, es wirkt wie ein ontologischer Einschnitt von unerklärlicher und absurder Einzigartigkeit und ermöglicht den Einblick in eine völlig fremde Welt, wie ein in Meditation versunkener Buddha mitten in einem Mandala von erstaunlicher Komplexität und geometrischer, koloristischer Perfektion. Die angeführten Beispiele unterscheiden sich sicherlich voneinander  ; was sie jedoch gemeinsam haben, ist, dass sie nicht aus postmoderner, sondern nur aus modernistischer Perspektive verstanden werden können, als DMD-Impfung im Rahmen des ASD. Die Idee der Schizophrenie ist der Postmoderne wichtig, wie Frederic Jameson32 feststellt und dabei die Gedanken von Jacques Lacan fortführt, denn sie bedeutet den Bruch mit der Autorität der Sprache, eine Trennung des Signifikantes vom Signifikat, und bringt somit einen Zugang zu Intensität ohne Tiefe33. Weder bei Schnittke, Stroe oder Crumb noch bei Rihm oder Lachenmann kann die Rede von einem Bruch mit der Autorität des ASD sein  ; es handelt sich vielmehr um die Beibehaltung der Ordnung durch eine Entspannung vom Typ Perestroika, wie oben bereits erwähnt. Bei Schnittke findet man sogar schon in den 1970er Jahren, noch vor Gorbatschows Entspannungspolitik in den 1980ern, Glasnost und Perestroika in seiner Musik, eine seltsame Mischung ASD+DMD in unterschiedlichen Proportionen (Requiem, Moz-Art à la Haydn, Concerto grosso Nr.2). Bei Crumb kann man von Flucht in die Traumwelt, bei Stroe von regressio ad uterum sprechen, einer Rückwanderung zu purer Musik, die von der stilistischen Komponente befreit ist und sich auf Struktur und Konzept beschränkt. Und schließlich haben wir es bei Rihm und Lachenmann mit unterschiedlichen Formen der Delinquenz zu tun, die umso mehr die ASD-Ordnung festigen  : Rihm bringt das DMD mit brachialer Gewalt zur Erscheinung, eine pseudokriminelle Eskapade wie das Auftauchen des Hais im Splattermovie Jaws (Der weiße Hai), um die ins Auge gefasste Beute zu schnappen (Sub-Kontur), während Lachenmann Elemente des DMD heimlich in die Struktur des ASD einschleust und begräbt, sodass sie beim Hörern nicht wahrnehmbar sind  ; somit erbringt Lachenmann eine Art menschliche Opfergabe, die er symbolisch am Grundstein des musikalischen Gebäudes legt. C. Die Va m p i r i s i e r u n g beruft sich auf Theodor W. Adornos Beschreibung der Kompositionsmanier Strawinskys und kann in diesem Zusammenhang als Bearbeitung eines Musikvokabulars definiert werden, das dem DMD entstammt, sich aber nach Prinzipien des ASD entwickelt. Diese Vorgehensweise ist typisch für die dadaistische und radikale Richtung nach 1970. Beginnend mit den 1980er Jahren entscheidet sich Mauricio 32 Fredric Jameson, Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism, London 1991, S. 29. 33 Williams, »Postlude«, S. 368.

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Kagel für eine Musiksprache, die auf DMD-Splitter zurückgreift  : Dur- und Mollakkorde in Kombination mit chromatischen Aggregaten (Trio, Phantasiestück), obsessive Stauungen (Les idées fixes), pseudofolkloristische rhythmisch-melodische Bruchstücke, die besonders an Klezmermusik erinnern (Stücke der Windrose). Ein weiteres Beispiel aus den 1980er und 1990er Jahren findet sich im Werk des rumänischen Komponisten Tiberiu Olah (1929–2002), dessen bewundernswerte Dritte Symphonie Metamorphosen nach der Mondscheinsonate auf allseits bekanntes Tonmaterial von Beethoven zurückgreift, um es »vampirartig« durch eine repetitiv-durchführende Technik zu fragmentieren und seine Bedeutung neu zu umschreiben. Damit zeugt Olah von einer metastilistischen Einstellung in seiner Ästhetik, die er auch in Obelisc pentru Wolfgang Amadeus pentru saxofoane și orchestră (»Obelisk für Wolfgang Amadeus für Saxophone und Orchester«, 1991) walten ließ. Ein weiterer Komponist, der auf dieses Prozedere zurückgreift, ist Jörg Widmann. In seinem Jagdquartett (2003) geht er von einem Schumann-Zitat im jagdtauglichen 12/8Takt aus, das er allmählich entstellt und in einem Massaker enden lässt, das zum symbolischen Tod der »Beute« führt, die wiederum theatralisch vom Cellisten verkörpert wird. Hier haben wir es mit einer Verschiebung hin zur »musique concrète instrumentale« und zum instrumentalen Theater zu tun  ; dieselbe Vampirisierung (mit anderen Parametern) lässt der Komponist auch in seinem späteren Streichquartett Versuch über die Fuge walten. D. Die Z o m b i f i z i e r u n g 34 kann als exzessive Nutzung eines DMD-Sprachele­ments (Intervall, Akkord, Tonleiter, Rhythmus etc.) verstanden werden, bis der ursprüngliche Sinn verloren geht und stattdessen ein selbstständiges Klangbild entsteht, das aus der puren Betrachtung der neuen Sonorität besteht. Die Fetischisierung des Durakkords oder des Dominantseptnonakkords in Karlheinz Stockhausens Stimmung (1968) hat eine ganze Reihe von Komponisten massiv beeinflusst  : Mit diesem Werk wagte es Stockhausen mutig, auf Elemente des DMD zurückzugreifen und sie repetitiv, wie ein buddhistisches Mantra zu verwenden, bis jeder ursprüngliche kulturelle Sinn oder jede funktionale Relation verschwindet. Stimmung war jenes ausschlaggebende Werk, das einen enormen Einfluss auf den französischen Spektralismus, den »Holy Mininalism« in Osteuropa (Henryk M. Górecki, Arvo Pärt) und den rumänischen »Archetypismus« (Corneliu Cezar, Corneliu Dan Georgescu, Octavian Nemescu) ausübte. Die Konversion Stockhausens vom ASD-Jünger zum DMD-Verwender hatte – selbst wenn sie falsch verstanden wurde – eine Signalwirkung für die Entstehung eines immunologischen Lecks im ASD, das mit dem amerikanischen Minimalismus begann und durch Stockhausen (der damals unter dem Einfluss der Hippie- und der Flower-Power-Bewegung stand) fortgeführt wurde. Dieses immunologische Leck konnte nicht mehr geschlossen werden, es blieb im ASD-Körper wie die blutende Wunde des Amfortas bestehen. 34 Für ein besseres Verständnis des Begriffs »Zombie« siehe Maxime Coulombe, Petite philosophie du zombie, Paris 2012.

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Eine interessante Variation brachte Mitte der 1970er Jahre Aurel Stroe mit seinem Klarinettenkonzert (1976), in dem er die Gegenüberstellung von Texturen mit dem Durdreiklang in einer äußerst originellen Art und Weise durchführt. Der letzte Satz besteht zur Gänze aus einer hypnotischen Stauung des D-Dur-Zombie-Akkords  ; die so entstandene, fetischisierte Klangwelt ist sich selbst genug, wie ein Gegenstand der nachdenklichen, ewigen Kontemplation. Diese Vorgehensweise hat Stroe auch zu Beginn seiner Oper Orestia II (1983) angewandt, nur ist dort der Zombie-Akkord ein C-Dur-Dreiklang. E. Die B a b e l i s i e r u n g kennzeichnet sich hauptsächlich durch die Einschließung von diversen DMD-Fragmenten im ASD oder umgekehrt. Dieser Vorgang der umfassenden Einschließung von heterogenen Musikfragmenten bewirkt eine Überschreibung, die eine große Dichte von gleichzeitig stattfindenden Ereignissen generiert, woraus ein klanglicher Palimpsest resultiert. Diese Wirkung kann auch als »Verunreinigung« von Musik durch Überlagerung anderer Musikfragmente beschrieben werden, wobei ein halluzinatorischer polyphoner Agglutinationseffekt entsteht. Man kann gewissermaßen sagen, dass die Babelisierung eine Radikalisierung und Multiplizierung der Museifikation ist. Beispiele für die Babelisierung finden sich schon in Bernd Alois Zimmermanns Musique pour les soupers du roi Ubu (1966), wo der Komponist auf stilistisches Surfen und Zitat-Collage zurückgreift, um eine dadaistische, fragmentarische, dystopisch-schizophrene Musik zu generieren, die König Ubu, die niederträchtig-groteske Hauptfigur in Alfred Jarrys gleichnamigem Theaterstück, angemessen beschreibt. Ein weiteres Beispiel ist das weniger bekannte Sextett Das Sieb des Eratosthenes (1968) von Anatol Vieru, in welchem Zitate von Haydn, Mozart, Beethoven und Sarasate mit Elementen des instrumentalen Theaters und Texten aus dem absurden Theater vermischt werden. Ein bereits kanonisches Beispiel ist schließlich der In ruhig fließender Bewegung betitelte dritte Satz von Luciano Berios Sinfonia (1968/69). Der diesem Titel innewohnende Humor und die Selbstironie sind symbolhaft für die Einstellung des Komponisten gegenüber dem »babelisierend« einverleibten Tonmaterial  : Berio täuscht Naivität vor und übernimmt Mahlers Vortragsbezeichnung (aus dem dritten Satz der Zweiten Symphonie) wie eine Reliquie und verwandelt sie in einen absurden und bestürzenden Titel, denn die turbulente und fragmentarische Musik steht im genauen Gegensatz zu den Vokabeln »ruhig« und »fließend«. Hier sind wir Zeugen einer Potenzierung des Nonsens’ und der Hybris, die zu prägenden Prinzipien in einer psychedelischen und von Studentenrevolten markierten Epoche werden. Die Schizophrenie, die Fredric Jameson35 als typisch für die Postmoderne ansah, ist hier konsistent vertreten  : Der Signifikant wird vom Signifikat gewaltsam getrennt und wir erleben die vertikale Summierung einer immensen Menge von Reizen, die den Eindruck eines Narrenschiffs à la Hieronymus Bosch hinterlässt  : Töne, Geräusche, Texte, Solfeggio, Zitate, diverse Sprachen, Gebärden, Onomatopoetika etc.

35 Fredric Jameson, Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham, N.C. 1991

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Berios Sinfonia ist in jener Epoche übrigens von zwei prominenten klanglichen »Abenteuern« György Ligetis flankiert. Es geht einerseits um die »Mimodramen« Aventures (1962), ein aufmüpfiges und befremdendes Stück, und Nouvelles Aventures (1962–65), ein Werk, in dem stilisierte musikalische Bezüge wie etwa ein Choral oder eine hysterische Opernarie für Sopran hergestellt werden (die Berio seinerzeit mit Sicherheit beeinflusst haben), und andererseits um die Anti-Anti-Oper Le Grand Macabre (1973–77), ein Meisterwerk der Babelisierung, in dem Ligeti Anspielungen mit Zitaten von Tonmaterial aus der Musikgeschichte kombiniert,36 die von Monteverdi bis Verdi, von Ciconia bis Wagner, von Rameau, Mozart und Schubert bis Kagel reichen und somit zur unversiegbaren Quelle für die entstellten und verschrobenen musikalischen Bezüge werden, die seinen bissig-ironischen und nervös-mutwilligen Stil ausmachen. Danach finden sich noch sporadische Anwendungen der Babelisierung, doch nur wenige Werke erreichen das Niveau von Berio und Ligeti. Zu erwähnen wäre das Schaffen des Amerikaners John Corigliano, insbesondere seine postmoderne »grand opera buffa« The Ghosts of Versailles (1991), eine subversive Fortsetzung von Mozarts Le nozze di Figaro, aber auch das Stück Circus Maximus (2004), wo die Musik im dritten Teil (Channel Surfing) ein fieberhaftes Suchen am Skalenblatt eines Radiogerätes nachahmt. F. Durch I n t e g r a t i o n wird eine Synthese zwischen Elementen des DMD und des ASD realisiert. In den meisten Fällen erfolgt dies in einem Rahmen, der einen Grundton als Mittelpunkt hat, allerdings einen nicht-tonalen. Man kann mehrere Integrationstechniken unterscheiden, von denen wir einige erläutern  : 1. Verwendung von komplementären Tonleitern  : Aufschlussreiche Beispiele finden sich im Spätwerk Witold Lutosławskis37 (Les espaces du sommeil, Dritte Symphonie, Subito), wo der polnische Komponist systematisch komplementäre Tonleitern konstruiert und verwendet, die zusammengenommen die chromatische Tonreihe ergeben. Die komplementären Tonleitern richten sich nach dem Prinzip der Polymodalität, während die Klangmorphologie sich auf Elemente des DMD stützt. 2. Verwendung der Obertonreihe als Tonleiter  : Der französische Spektralismus räumt dem Grundton eine wichtige Rolle ein und setzt auf eine Klangarchäologie, die eine Wiederbesinnung auf Natürlichkeit zum Ziel hat. Diese quasirituelle Einstellung und die utopische Absicht, den Weg der Analyse zu beschreiten, um mit akustischen Instrumenten die klangliche Synthese der elektronischen Musik zu rekonstruieren, haben etwas heroisch Donquichotteskes an sich, zeugen jedoch gleichzeitig von kompositorischer Wirklichkeitsfremdheit und Verwechslung von Virtualität und Realität. Die Originalität Gérard Griseys ist dennoch unbestreitbar  – in seinem Zyklus Les espaces acoustiques (I–VI) geht er von einem einfachen Verfahren in Partiels (1975) aus, um in Transitoires 36 Vgl. Constantin Floros, György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne, Wien 1996, S. 132–155. 37 Steven Stucky, »Change and Constancy. The Essential Lutosławski«, in  : Lutosławski Studies, hrsg. von Zbigniew Skowron, Oxford 2001, S. 127–162.

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(1980) und Épilogue (1985) eine hochentwickelte Technik anzuwenden, die tiefgehende und ergreifende Klangerlebnisse entstehen lässt. Dasselbe gilt auch für das Werk Tristan Murails, eines Kollegen von Grisey  ; Murail wendet eine eigene Formel der harmonischen Relationen an, die er als funktional, aber nicht-tonal bezeichnet.38 3. Verwendung des Unisono als Brücke zwischen dem ASD und dem DMD  : Das berühmte Prélude à l’unisson aus der Ersten Orchestersuite (1903) von George Enescu, die »Invention über einen Ton« (h) in der Szene III/2 von Alban Bergs Wozzeck (1914–1922) sowie Danse de la fureur, pour les sept trompettes, der sechste Satz aus Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps (1940/41), sind ebenso Beispiele dafür, dass einige Komponisten die soteriologische Kraft des Unisono intuitiv erfasst haben. Treffende Beispiele für Integration durch Unisono sind Werke wie Unisonos I-II (1970/71), Ison II (1975), die Zweite Symphonie (1980) und Cantos (1984–86) des rumänischen Komponisten Ștefan Niculescu. In den genannten Werken verwendet er das Unisono als Schnittmenge zwischen ASD und DMD  ; mit den gemeinsamen Elementen lässt sich leicht und treffsicher modulieren. Niculescu nutzt des Weiteren Techniken wie Synchronie und Heterophonie sowie eine modale Kombination von Obertonreihe und Diatonik. Dabei gelingt ihm eine originelle Integration der beiden Dispositive. 4. Ostinato mit überlagerter Kombinatorik  : Nach dem Trio für Violine, Horn und Klavier (1983) finden sich in den Werken Ligetis folgende Techniken  : Dreiklänge in unterschiedlichen Umkehrungen, die auf den betonten Tönen des melodischen Ostinato positioniert werden (Trio, Klavieretüde Nr. 4  : Fanfare, Passacaglia ongherese, Hungarian Rock), Vorhalte und expressive Appoggiaturen in Kollision mit sich anhand von repetitiven, nicht-funktionalen Intervallzyklen ablösenden Dreiklängen (Etüde Nr. 5  : Arc-enciel, Violinkonzert, zweiter Satz), Überlagerungen von komplementären Tonleitern – mit dem Ziel, das DMD im ASD organisch zu integrieren und die Illusion einer utopischen Temperatur herzustellen, die von Diatonik und Chromatik gleichermaßen entfernt ist (Etüde Nr. 1  : Désordre – die rechte Hand spielt die diatonische Tonleiter auf den weißen Tasten, die linke Hand spielt eine pentatonische Melodie auf den schwarzen Tasten). 5. Kombinatorik aus einer Reihe von Intervallen oder Dreiklängen  : Anatol Vieru geht von einer mathematisch generierten Struktur von Dur- und Molldreiklängen aus und schneidet aus diesem Kontinuum mit Hilfe eines Algorithmus (die Rede ist vom »Sieb des Eratosthenes«, mit dem Reihen von Primzahlen eruiert werden können) jene Akkorde heraus, die er zu Beginn seiner Fünften Symphonie (1984/85) verwendet. Ganz anders verfährt sein Kollege Tiberiu Olah  : Nach dem Webern’schen Prinzip der räum38 »Le style harmonique de Murail, qui procédait dans les années soixante-dix par transformations graduelles, a acquis peu à peu une souplesse permettant l’enchaînement rapide d’accords (ou spectres) différenciés selon une hiérarchie de couleurs et de tensions  : Murail est alors amené à revendiquer la nature f o n c t i o n e l l e de son harmonie, située en dehors de tout principe tonal et résolument fréquentielle.« Jérôme Baillet, »L’esthétique musicale de Tristan Murail«, in  : Tristan Murail, hrsg. von Peter Szendy, Paris 2002, S. 23.

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lichen Serialisierung entwickelt der rumänische Komponist ein auf Durdreiklängen basierendes Tonmaterial in Peripeții cu trisonuri majore (»Abenteuer mit Durdreiklängen«) und im symphonischen Zyklus Armonii (»Harmonien«).39 6. Verwendung von Gegensätzen und allmählicher Übergang von ASD- zu DMDElementen  : Die Verwendung von symbolischen Gegensätzen, d. h. von je einem emblematischen Element für das ASD bzw. für das DMD (z. B. Cluster- und Dur- oder Mollakkorde) ist eine Konstante in Alfred Schnittkes Werken der 1970er (Requiem, Concerti grossi), aber auch 1980er Jahre. Die Anwendung von symbolischen und stilistischen Gegensätzen (mit Einlagen aus Techno und Cool Jazz) in einer zynischen und fast schmerzhaften Form wird mit Vorliebe in symphonischen Werken von britischen Komponisten praktiziert, die sich ab den 1990er Jahren einen Namen machten (insbesondere Thomas Adès in Asyla40 und Mark-Anthony Turnage in Three Screaming Popes). Die Technik der Gegensätze kommt schließlich auch in symphonischen und konzertierenden Werken des Autors dieser Studie zum Zuge  : In Atlantis mit seinem schockierenden Anfang alterniert ein D-Dur-Akkord mit einer Mixtur aus komplexen Akkorden und Clustern  ; im Schlusssatz von Frenesia überschneiden sich zwölftönige Strukturen mit der modalen Melodie eines rumänischen Weihnachtslieds  ; in Febra (2013) – Triplu concert pentru flaut, clarinet, violoncel și orchestră (»Fieber – Tripelkonzert für Flöte, Klarinette, Cello und Orchester«) wird der psychedelischen Nostalgie des naiven Walzers eine obsessive, aus zwei Tönen (d-fis) bestehende »Oligochordie« entgegengesetzt  ; in Vitrines & vitraux (2014–15) – Dublu concert pentru vioară, violoncel și orchestră (»Vitrinen & Kirchenfenster – Doppelkonzert für Bratsche, Cello und Orchester) besteht der Gegensatz aus zwei Vorgängen, die wir als »Gangrän des Walzers« und »Hernie der Balkanbläser« bezeichnen könnten. Ferner hat der Autor dieser Studie auch mit dem allmählichen Übergang von einem ASD-Element zu einem DMD-Element gearbeitet. Im Inorog (Einhorn) betitelten Teil von A Mythological Bestiary für Violine und Klavier (1992) gibt es beispielsweise einen langsamen, schrittweisen Übergang von einem Cluster in mittlerer Tonhöhe zu einem Mollakkord in tiefem Register. Dieses Kompositionsprinzip verwendete bereits Ligeti durch die Alternation von Intervallen und Cluster-Akkorden in Continuum (1968) und 39 Vgl. den Beitrag von Valentina Sandu-Dediu im vorliegenden Band. 40 Hélène Cao, Thomas Adès le voyageur. Devenir compositeur. Être musicien, Paris 2007. – In einem Interview vom 27.5.1999 mit dem Independent berichtete Adès  : »So I bought some techno music and listened to it, just quietly, to get the structure rather than blast my head off. I realised that, in techno, you have to repeat things 32 or 64 times. So I tried to orchestrate it one night in my living room, repeating all these figures over and over, on this massive score paper, 30 staves to a page. At 3am, I went to bed and, as I sat there, realised my heart had stopped beating. I thought, ›Christ, I’m having a heart attack‹. I rang the hospital and then they sent an ambulance. My heart gradually started again, but very shallowly. The ambulance took me to the Royal Free, where I waited for two hours among other Saturday night casualties. And finally a doctor saw me and said, ›You hyperventilated‹. I thought, ›Thank God. It’s not my heart, it’s just my brain‹ …«

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in den Drei Stücken für zwei Klaviere, ebenso wie Lutosławski im sich stufenweise aufhellenden Finale seiner Dritten Symphonie (1973–83). In den 1990er Jahren wird die Integration durch allmählichen Übergang zu einem kennzeichnenden Merkmal des Kompositionssystems mehrerer Tonkünstler, die den ASD-Rahmen zwar beibehalten, ihn aber erweitern und mit DMD-Elementen bereichern  : Magnus Lindberg zeichnet enorme harmonische Landkarten und zyklische Akkordtransformationen nach dem Prinzip der Chaconne41 (Joy, Cantigas, Corrente, Gran Duo, Clarinet Concerto). Jonathan Harvey lässt eine wunderbare Klangwelt entstehen, in der akustische und elektronische Klangquellen zu einer Einheit verschmelzen (Bhakti, Madonna of Winter and Spring, Advaya, Body Mandala). John Adams schließlich ist ein begabter Zauberkünstler der Stilistik und ein technisch versierter Inszenierer von getrennten Klangebenen oder von völlig unerwarteten Vermengungen42 (My Father knew Charles Ives, Chamber Symphony, City Noir).

Schlussbemerkungen

Das Thema ist damit bei weitem nicht ausgeschöpft. Wir sitzen auf einem Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen könnte. An den straff zugeschnürten, aber bereits unter dem Druck der Masse platzenden Ecken sickert schon die heiße Lava des Ungesagten durch. Der Spalt wird größer und die Lava überflutet alles. Das Ungesagte zehrt alles bereits Gesagte auf. Man könnte sicherlich weitere Darlegungen hinzufügen. Vorerst beenden wir aber unsere Ausführungen mit einem erleuchtenden Zitat, das Adornos »Dilemma der Moderne« beschreibt  : »How to create a unity which does not conceal the fragmentary nature and chaotic state of the handed-down musical material and yet which does not simply mirror fragmentation through identification with it, but which is able to embody, negate, and transcend it.«43

Hier liegt unseres Erachtens das Geheimnis der Delinquenz in der Neuen Musik nach 1970  : Durch Impfung mit DMD-Elementen schafft es die Neue Musik, das Fragmentarische zu v e r k ö r p e r n , es durch Vereinheitlichung auf einer neuen ontologischen Ebene zu v e r n e i n e n und in einem einschließenden, ökumenischen Sinne zu t r a n s zendieren. Übersetzung  : Sorin Georgescu 41 Peter Szendy, »La pointe du style (à propos de Joy)«, in  : Magnus Lindberg (= Les Cahiers de l’IRCAM. Compositeurs d’aujourd’hui 3), Paris 1993, S. 53–71. 42 John Adams, Hallelujah Junction. Composing an American Life, London 2008. 43 Max Paddison, Adorno’s Musical Aesthetics, Cambridge 1993, S. 158.

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Jenseits von Dur und Moll? Zur Tonalität in der populären Musik nach 1960

Während sich die funktionsharmonische Dur-Moll-Tonalität mit ihrer auf Leittönen und dominantischen Kadenzen beruhenden Fortschreitungslogik im 20. Jahrhundert aus der europäischen Kunstmusik weitgehend verabschiedet hat,1 gilt populäre Musik weiterhin als Bastion einer an der Dur-Moll-Tonalität und deren Semantik orientierten musikalischen Ausdrucksweise. Ähnlich wie in Kinderliedern, so scheint es, werden in populären Songs einfache und fröhliche Textaussagen durch ein strahlendes Dur bekräftigt, während nachdenkliche, traurige oder düstere Stimmungen eher durch eine dunklere Moll-Tonart unterstrichen werden. Dieser Kontrast zwischen hell und dunkel wird dann besonders greifbar, wenn sich in einem Lied sowohl Passagen in Dur als auch Moll finden. So künden in Tanze Samba mit mir, einem von Franco Bracardi komponierten und 1977 von Tony Holiday interpretierten Schlager, die Strophen in f-Moll von einer düsteren Stimmung des Begehrens (»Du bist so heiß wie ein Vulkan und heut’ verbrenn’ ich mich daran …«), die sich in den Refrains in einem fröhlichen oder triumphierenden FDur entlädt (»Tanze Samba mit mir, Samba, Samba die ganze Nacht …«). Doch lässt sich dieser Befund auch auf andere Bereiche der populären Musik übertragen, etwa auf Rockund Pop-Songs amerikanischer oder britischer Provenienz, die auch in Deutschland seit langem mindestens ebenso populär sind wie Schlager oder volkstümliche Musik  ? In den vergangenen Jahrzehnten ist eine breite und kontinuierlich anwachsende Forschungsliteratur zur Tonalität und Harmonik von populärer Musik entstanden. Die musikwissenschaftlich und -theoretisch ausgerichteten Studien sind eine wichtige Ergänzung der ansonsten vorwiegend kultur-, medien- oder sozialwissenschaftlich orientierten Popmusikforschung und werden daher in Abgrenzung zu den interdisziplinär ausgerichteten ›Popular Music Studies‹ bisweilen auch als ›Popmusicology‹ oder ›Popular Musicology‹ bezeichnet.2 Zwar wird in den Studien zur Tonalität und Harmonik populärer Musik bisweilen auch auf die stereotype Semantik des Dur-Moll-Gegensatzes Bezug genommen. Im Zentrum vieler Ansätze steht jedoch der Hinweis auf die Unangemessen1 Vgl. die Beiträge von Felix Wörner und Dan Dediu im vorliegenden Band. 2 Vgl. etwa Critical Essays in Popular Musicology, hrsg. von Allan F. Moore, Aldershot 2007  ; zur Geschichte der Popmusikforschung vgl. Martin Pfleiderer, Nils Grosch und Ralf von Appen, »Populäre Musik und Wissenschaft. Forschungstraditionen und Forschungsansätze«, in  : Populäre Musik. Geschichte, Konzepte, Forschungsperspektiven, hrsg. von dens. (= Kompendien der Musik 14), Laaber 2014, S. 200–209.

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heit und die Unzulänglichkeiten einer Deutung der Tonalität von Rock- und Pop-Songs im Sinne eines funktionsharmonischen Dur oder Moll sowie die Suche nach alternativen Deutungsansätzen, vor allem für die populäre Musik nach 1960. Im Folgenden werden einige dieser Ansätze dargestellt. Im Einzelnen geht es um populäre afroamerikanische Musik, die außerhalb der europäischen Dur-Moll-Tonalität steht, um den Vorschlag, die Rock-Tonalität als modale Tonalität zu verstehen, sowie um die tendenzielle Auflösung eines herkömmlichen Harmonieverständnisses, u. a. durch terzfreie Power-Chords oder eine chromatisch orientierte Harmonik. Während sich manche Autoren auf exemplarische Songanalysen beschränken, wird inzwischen in vielen Studien ein umfangreiches Repertoire an Stücken untersucht. Durch diese Vorgehensweise, die mitunter auf computergestützte Analyse- und Auswertungsmöglichkeiten zurückgreift, können die analytischen Befunde auf eine breitere und differenzierte Datengrundlage gestellt werden.3

1. Afroamerikanische Musik und ihr Einfluss auf die populäre Musik nach 1960

Im Blues, dem einflussreichsten afroamerikanischen Musikgenre im 20.  Jahrhundert, finden sich vor allem zwei Gestaltungsmittel, die der herkömmlichen europäischen Funkt­ionsharmonik widersprechen  : die sog. Blue Note und die Verwendung von Durseptakkorden (Grundton, große Terz, Quinte, kleine Septime) ohne dominantische Funktion. Aus diesem Grund sowie aufgrund der zyklischen Wiederholung von kurzen Akkord-Patterns besitzt die aus dem Blues abgeleitete Harmonik und Melodik einen weit geringeren harmonischen Fortschreitungsdrang als die herkömmliche Harmonik und Melodik innerhalb des funktionalen Dur-Moll-Systems. Wie die Musikethnologen und Bluesforscher David Evans und Jeff Todd Titon übereinstimmend feststellen, sind die sog. Blue Notes Tonhöhenbereiche, vor allem um die kleine und große Terz, die variabel gestaltet werden.4 Vielfach sind hier gleitende Tonhöhenbewegungen, z. B. von der kleinen zur großen Terz, charakteristisch, die entweder vokal im Bluesgesang oder instrumental, z. B. durch Ziehen der Gitarrensaiten (»bending«), realisiert werden.5 Hinzu kommt, dass durchaus kleine(re) Terzen über einer Begleitung 3 Nicholas Cook weist auf die großen Potenziale für eine Erneuerung der Musikforschung als »a more datarich discipline« durch vergleichende und computergestützte Korpusstudien hin, vgl. Nicholas Cook, »Computational and Comparative Musicology«, in  : Empirical Musicology. Aims, Methods, Prospects, hrsg. von dems. und Eric Clarke, Oxford und New York 2004, S. 103–126. Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte der Dur-Moll-Tonalität vgl. die Korpusstudie von Joshua D. Albrecht und David Huron, »A Statistical Approach to Tracing the Historical Development of Major and Minor Pitch Distributions, 1400–1750«, in  : Music Perception 31/3 (2012), S. 223–243. 4 Vgl. Jeff Todd Titon, Early Downhome Blues. A Musical and Cultural Analysis, Urbana 1977, S.  164, und David Evans, Big Road Blues. Tradition and Creativity in the Folk Blues, New York 1982, S. 24. 5 Vgl. Tilo Hähnel »›Blues Falling Down Like Hail‹. Vokaler Ausdruck in drei Spielarten des Blues«, in  : Stimme,

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mit Durakkorden erklingen können, ohne dass diese als eine dissonante Spannung wahrgenommen werden, die nach einer harmonischen Auflösung verlangt. Hinsichtlich dieser Praxis und der generellen Beweglichkeit oder Labilität der Terzen im Blues und in den hierauf aufbauenden afroamerikanischen Musikstilen (u. a. Rhythm & Blues, Soul, Funk, Rap Music) kommt Richard Ripani zu dem Schluss, dass »the very concept of major or minor is largely invalid in the analysis of a blues-mode melody«.6 Vergleichbare Intonationseigenheiten wie bei der Terz gibt es im Bereich der Quinte und der (kleinen) Septime.7 Eine weitere Eigenheit von Blues-Songs besteht darin, Durakkorde mit kleiner Septime nicht gemäß ihrer Funktion als Dominante zu einer nachfolgenden Tonika aufzulösen, sondern ihnen vielmehr einen klanglichen Eigenwert ohne Fortschreitungsdrang zuzugestehen. In der schematisierten zwölftaktigen Bluesharmonik (vgl. Abbildung  1) kann nicht nur auf der V., sondern auch auf der I. und IV. Stufe ein Durseptakkord stehen. Wenn dem Durseptakkord in Takt 1 oder 4 im jeweils folgenden Takt ein Durseptakkord auf der IV. Stufe folgt, so ist dies nicht als dominantische Bewegung zu verstehen. I7 IV7 I7 I7 IV7 IV7 I7 I7 V7 IV7 I7 I7 (V7) Abbildung 1: Zwölftaktiges Bluesschema

Die »Blues-Kadenz« in T.  9-11 dreht die Bewegung der herkömmlichen Kadenz (Sub­ dominante→Dominante→Tonika) um. Tatsächlich erklingt in vielen Songs aus afroamerikanischer Musik die V. Stufe eher selten oder wird völlig vermieden. Die IV. Stufe (mit großer Terz und oft mit kleiner Septime) besitzt dagegen einen weit größeren Stellenwert  ; gerade der Wechsel vom tonalen Zentrum zur IV. Stufe und wieder zurück identifiziert Songs vielfach als Blues-Songs bzw. als blues-artige Songs.8 Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA (1900–1960), hrsg. von Martin Pfleiderer u. a. (= Texte zur populären Musik 8), Bielefeld 2015, S. 233–268. Dass es sich hierbei nicht um Unzulänglichkeiten der Musiker handelt, wird dadurch deutlich, dass Zieltonhöhen bei Glissandi oft sehr genau intoniert sind und dass bei Instrumenten, die keine Möglichkeit des Glissando besitzen, andere Techniken für ein klangliches Verschwimmen eingesetzt werden  ; so ist es bei Bluespianisten Usus, gleichzeitig die kleine und große Terz (oder die verminderte und reine Quinte) anzuschlagen. Vgl. auch Martin Pfleiderer, »Commentary on ›Microtonal Analysis of ‚Blue Notes‘ and the Blues Scale‹ by Court B. Cutting«, in  : Empirical Musicology Review 13, 1–2 (2018), S. 104–106. 6 Richard J. Ripani, The New Blue Music. Changes in Rhythm & Blues, 1950–1999, Jackson 2006, S. 21. 7 Vgl. ebd., S. 23ff, siehe auch Titon, Early Downhome Blues, und Evans, Big Road Blues. 8 Ripani, The New Blue Music, S. 41. Zu vergleichbaren Akkordfolgen in anderen Bereichen populärer Musik

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Ripani spricht von der Tendenz zu einer statischen Harmonik afroamerikanischer Musik, also dem Einsatz von Akkorden und zyklischen Akkordfolgen, die keiner Logik von Spannung und Entspannung folgen. Die in der populären Musik übliche Bezeichnung von Akkorden mit Akkordsymbolen und nicht mit Stufen- oder Funktionsbezeichnungen ist insofern durchaus folgerichtig, als dort eine Tendenz zur geschilderten Bluesoder statischen Harmonik vorherrscht. Im Extremfall besitzen Songs überhaupt keine Akkordfolgen, sondern nur eine Akkordfläche, die sich über das ganze Stück oder über längere Abschnitte des Stückes erstreckt. Eine solche harmonische Statik ohne Akkordwechsel findet sich bereits in Blues-Aufnahmen von Musikern aus dem Mississippi Delta, z. B. bei John Lee Hookers Boogie Chillun (1948), dann jedoch vor allem im Funk, der sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre aus dem Soul entwickelt hat. In vielen Aufnahmen von James Brown werden zwei- oder viertaktige rhythmisch-tonale Patterns ohne Akkordbewegung, oftmals mit Dur- oder Mollseptakkorden, unablässig wiederholt. Ein kontrastierender Zwischenteil (Bridge) steht in der Regel gemäß der Blues-Harmonik auf der IV. Stufe, so etwa in Cold Sweat (1967) oder Say It Loud, I’m Black and I’m Proud (1968). Wie Ripani feststellt, lassen sich diese Stücke harmonisch nicht als Dur oder Moll deuten, da sie keinerlei dominantische Fortschreitungen oder Auflösungen besitzen. Zu Brown’s Say It Loud, I’m Black and I’m Proud, in dem nur die Akkorde Bb7 (Hauptteil) und Eb7 (Bridge) gespielt werden, schreibt er  : »The Eb7 in this song simply represents another tonic level, and when we eventually arrive at the Bb7 again, we do not get a feeling of harmonic resolution as much as a realization that we are back at that ›other tonic level‹.«9 Die Harmonik des ›Blues System‹ – so bezeichnet Ripani die übergreifenden Gestaltungsmittel afroamerikanischer Musik – steht somit in engem Zusammenhang mit der formalen Gestaltung der betreffenden Stücke. In populärer afroamerikanischer Musik weit verbreitet sind Patterns (Muster) von wenigen Akkorden, die zyklisch wiederholt und oftmals durch ebenfalls wiederholte melodisch-rhythmische Patterns, etwa ostinate Basslinien oder Gitarren-Riffs, unterstützt werden. Diese Pattern-Zyklen dauern zwei, vier, seltener acht Takte und bestehen oftmals aus nur vier (oder weniger) Akkorden, deren Harmonik aufgrund der ständigen Wiederholung sowie oftmals aufgrund des Fehlens von kadenzartigen Fortschreitungen statisch wirkt. Eine zyklische Formgestaltung auf der Grundlage von Akkord-Patterns, so zeigt Ripani in der statistischen Auswertung aller Songs aus den Top-25-Billboard-Charts des afroamerikanischen Musikmarktes, hat im Zeitraum zwischen 1950 und 1999 stark zugenommen.10 Bestimmten solche Akvgl. unten  ; siehe auch generell  : David Temperley, »The Cadential IV in Rock«, in  : Music Theory Online 17/1 (2011), www.mtosmt.org/issues/mto.11.17.1/mto.11.17.1.temperley.pdf, 16.4.2018.  9 Ripani, The New Blue Music, S. 36. James A. Snead spricht in diesem Zusammenhang von einer afroamerikanischen Ästhetik der Wiederholung und des Schnittes (»Cut«)  ; James A. Snead, »Repetition as a Figure of Black Culture«, in  : Black Literature and Literary Theory, hrsg. von Henry Louis Gates Jr., Methuen 1984, S. 59–79. 10 Ripani, The New Blue Music, S. 174ff. Die Billboard-Charts für populäre afroamerikanische Musik trugen in

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kord-Patterns in den 1950er Jahren nur 5 % aller Songs, so stieg ihr Anteil bereits in den 1960er Jahren auf 33 % und lag in den 1990er Jahren bei 76 %.11 Der prozentuale Anteil von Akkorden auf der IV. Stufe war in diesem Repertoire durchweg höher als derjenige von Akkorden auf der V. Stufe. Während in den 1950er und 1970er Jahren noch ca. die Hälfte der Akkorde auf der I. Stufe standen, sank deren Anteil in den 1980er Jahren auf 39 % (1990er 38 %)  ; der Anteil von Akkorden der IV. Stufe lag nur noch bei 13 % (1990er Jahre  : 18 %) und der von Akkorden der V. Stufe bei 11% (1990er Jahre  : 14 %).

2. Rock-Harmonik als modale Harmonik?

Populäre afroamerikanische Musik, wie sie von Ripani untersucht wurde, hat im Laufe des 20. Jahrhunderts die populäre Musik in den USA und weltweit nachhaltig geprägt. Dieser prägende Einfluss ist vor allem bei der rhythmischen und klanglichen Gestaltung unübersehbar.12 Doch auch in harmonisch-melodischer Hinsicht bieten afroamerikanische Musikgenres – die verschiedenen Spielarten des Blues sowie Soul und Funk seit den 1960er und Rap Music seit den 1970er Jahren – neuartige Gestaltungsweisen, die auch in anderen populären Musikrichtungen aufgegriffen und teilweise weiterentwickelt worden sind. Dies zeigte sich bereits in den 1950er Jahren im Rock’n’Roll, dessen musikalische Grundlage der Rhythm & Blues war, und seit den 1960er Jahren im Rock, der stark von Rhythm & Blues und älteren Spielarten des Blues beeinflusst wurde. Aus dieser Beobachtung zieht der britische Musikwissenschaftler Allan F. Moore in seiner erstmals 1993 erschienenen Studie Rock  : The Primary Text. Developping a Musicology of Rock13 weitreichende Schlussfolgerungen für die harmonische Analyse von Rockmusik. In seiner 2014 veröffentlichten umfassenden Darstellung Song Means. Analysing and Interpreting Recorded Popular Song14 erweitert Moore diese Überlegungen und überträgt sie auf andere stilistische Bereiche der populären Musik. Generell versteht Moore populäre Songs als hybride Musikformen, da sie ihre Gestaltungsmittel aus zwei Traditionslinien schöpfen  : den afroamerikanischen Musiktraditionen und den Traditionen der American Popular Songs, also der von den Tin-Pan-AlleyVerlagen publizierten Revue- und Musical-Lieder  – die als sog. ›Jazz Standards‹ auch diesem Zeitraum verschiedene Bezeichnungen  : ›Rhythm & Blues‹, ›Soul‹ (ab 1969), ›Black Music‹ (ab 1982) und wieder ›Rhythm & Blues‹ bzw. ›Rhythm & Blues/Hip-Hop‹ (in den 1990er Jahren). 11 Parallel dazu nahm die Verbreitung des herkömmlichen zwölftaktigen Bluesschemas von einem Anteil von 60% in den 1950er Jahren stark ab und war in den 1970ern nicht mehr in den Charts anzutreffen. 12 Zur afroamerikanischen Rhythmusgestaltung vgl. Martin Pfleiderer, Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik, Bielefeld 2006, S. 291–328. 13 Ich zitiere im Folgenden nach der mir vorliegenden überarbeiteten Neuauflage aus dem Jahre 2001  : Allan F. Moore, Rock. The Primary Text. Developping a Musicology of Rock, Second Edition, Aldershot 2001. 14 Allan F. Moore, Song Means. Analysing and Interpreting Recorded Popular Song, Aldershot 2014.

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zur harmonischen Grundlage weiter Bereiche des Jazz der 1930er bis 1950er Jahre geworden sind.15 Während sich die Harmonik innerhalb der zweiten Tradition gemäß der funktionalen Dur-Moll-Tonalität (mit Dominant-Kadenzen oder zumindest QuintfallFortschreitungen16) beschreiben lässt, sperrt sich, so Moore, die Harmonik in afroamerikanisch geprägter Musik gegen eine solche Interpretation. Vielmehr finden sich hier nicht-funktionale Durseptakkorde ebenso wie zyklische Akkordpatterns, die unablässig wiederholt werden können (»open-ended structures«17). Im Anhang seines Aufsatzes »Patterns of harmony« listet Moore mehrere hundert solcher Akkord-Patterns auf, die er nach Kriterien des Tonvorrats und des tonalen Zentrums sowie der Art der AkkordFortschreitung (schrittweise, mit Terz- oder Quartsprung) systematisiert hat.18 Um nun Songs aus den beiden unterschiedlichen Traditionslinien auch in harmonischer Hinsicht miteinander vergleichen zu können, plädiert Moore für die Verwendung eines übergreifenden modalen Interpretationsrahmens. Darin wird die Durtonleiter zum ionische Modus, die natürliche Molltonleiter19 zum äolischen Modus. Außerdem sind der mixolydische Modus und der dorische Modus weit verbreitet, seltener sind Lydisch, Phrygisch und Lokrisch.20 Dieses Verständnis von Modalität folgt dem auch in der Jazztheorie gebräuchlichen, jedoch nicht unproblematischen Verständnis der diatonischen Modi oder sog. Kirchentonarten.21 Moore betont, dass die Zuordnung eines Akkord-Patterns zu einem Modus nicht für den gesamten Song, sondern oft nur für die Dauer des jeweiligen Akkord-Patterns gültig ist, denn innerhalb von Songs finden sich regelmäßig Wechsel der Modi, vor allem bei kontrastierenden Formteilen  : »Modal change is extremely common, and a first approximation should be to assume that a mode operates only for the 15 Ebd., S. 70. 16 Vgl. hierzu auch Peter K. Winkler, »Toward a theory of popular harmony«, in  : Moore (Hrsg.) Critical Essays in Popular Musicology (siehe Anm. 2), S. 251–274. 17 Moore, Rock, S. 53. 18 Allan F. Moore, »Patterns of harmony«, in  : Popular Music 11/1 (1992), S. 73–106. Eine ähnliche Systematisierung von sog. ›Pop-Formeln‹ schlägt Kramarz vor  : Volkmar Kramarz, Die PopFormeln. Die Harmoniemodelle der Hitproduzenten, aktualisierte Ausgabe, Bonn 2007  ; vgl. auch ders., Warum Hits Hits werden. Erfolgsfaktoren der Popmusik. Eine Untersuchung erfolgreicher Songs und exemplarischer Eigenproduktionen, Bielefeld 2014. 19 Die harmonische und die melodische Molltonleiter sind in populärer Musik sehr selten. Auch während der Strophen von Tanze Samba mit mir verzichtet die Gesangsmelodie auf den Leitton e (große Septime), der allerdings in den Dominantakkorden der Begleitung erklingt. 20 David Temperley bezeichnet Ionisch, Äolisch, Mixolydisch und Dorisch als die »most commonly used ­modes in rock«, vgl. David Temperley, The Cognition of Basic Musical Structure, Cambridge 2004, S. 258. 21 Zur Problematik des Modalitäts-Verständnisses im ›modal jazz‹ vgl. Martin Pfleiderer, Klaus Frieler und Wolf-Georg Zaddach, »Pitch class hierarchies in Miles Davis’ ›So What‹. Reconsidering modal jazz improvisation with computer-based analysis tools«, in  : Beitragsarchiv zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 ›Musikwissenschaft  : die Teildisziplinen im Dialog‹, hrsg. von Wolfgang Auhagen und Wolfgang Hirschmann, Mainz 2016, http://schott-campus.com/pitch-class-hierarchies-in-miles-davisso-what, 16.4.2018.

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length of the pattern it describes.«22 Das tonale Zentrum solcher Akkord-Patterns – und damit die Zuordnung zu einem Modus – lässt sich, so Moore weiter, durch die Kriterien der längeren Akkorddauer, der Stellung des Akkords am Beginn und/oder Ende eines Patterns sowie der besonderen Betonung (Lautstärke, Klangfarbe etc.) zumeist eindeutig bestimmen.23 Da die Akkord-Patterns oftmals sowohl Akkorde mit großer als auch Akkorde mit kleiner Terz enthalten, spielt die Semantik von Dur und Moll in den von Moore vorgestellten Analysen kaum noch eine Rolle. Wenn sie dennoch ins Spiel gebracht wird, folgt die Bedeutungszuschreibung der herkömmlichen Semantik von Hell-Dunkel bzw. Positiv-Negativ. Moore bringt diese Semantik dann ins Spiel, wenn es um die Bestimmung des tonalen Zentrums eines Akkord-Patterns geht, das wiederum Auswirkungen auf die Bestimmung des jeweiligen Modus als äolisch oder ionisch, mixolydisch oder dorisch hat. Auf diesem Umweg unterstützt die Semantik der Song-Aussage, wie sie wohl in erster Linie aus dem Song-Text abgeleitet wird, für Moore die Bestimmung der Tonalität. Denn »[…] the larger the number of minor intervals the mode contains between successive scale pitches and the modal tonic, then the more depressed/emotionally negative/ lacking in energy the effect of the track is likely to be, all other factors being equal.«24 Moore überträgt somit die Semantik des Dur-Moll auf die Semantik der modalen Tonalität  : »[…] the further down […] (from lydian to locrian) one moves, the more negative the modal connotations«.25 Dieser Auffassung folgt auch der amerikanische Musiktheoretiker David Temperley im Kontext seiner Überlegungen zu den in der Rockmusik oftmals anzutreffenden »scalar shifts«, also dem Wechsel der Modalität zwischen den Formabschnitten (»sectional scalar shift«), seltener innerhalb eines Abschnitts (»mo­ men­tary scalar shift«).26 Temperley schlägt vor, die Bewegung in einen anderen Modus durchweg semantisch zu interpretieren, und zwar in dem Sinne, dass eine Aufwärtsbewegung im Quintenzirkel einer Aufhellung, eine Abwärtsbewegung einer Verdunklung entspricht  : »[…] the modes commonly employed in rock (Ionian through Aeolian) reflect a clear and gradual progression corresponding to their line-of-fifths order, with Ionian being happiest and Aeolian being saddest.«27 Ulrich Kaiser hat darauf hingewiesen, dass kausale Verknüpfungen der psychologisch nachweisbaren Wahrnehmungsqualitäten von »heller« und »dunkler« mit emotionalen Wirkungen im Einzelfall nicht selten willkürlich erscheinen, und wendet sich aufgrund von wissenschaftstheoretischen Überlegungen generell gegen die Annahme solcher Kau22 Moore, Song Means, S. 71f. 23 Ebd., S. 75  ; hier gibt Moore auch mehrere Beispiele von problematischen Tonalitätszuordnungen. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 David Temperley, »Scalar Shift in Popular Music«, in  : Music Theory Online 17/4 (2011b), www.mtosmt.org/ issues/mto.11.17.4/mto.11.17.4.temperley.pdf, 16.4.2018. 27 Ebd.

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salbeziehungen.28 Zudem zeigt er an einem Beispiel Temperleys, dass sich das tonale Zentrums eines Akkord-Patterns – und damit sein Modus – oftmals nicht eindeutig bestimmen lässt. Allerdings konnten Temperley und Daphne Tan Beziehungen zwischen Modalität und wahrgenommener bzw. zugeschriebener Emotion in einer Studie experimentell nachweisen. Bei systematischen Paarvergleichen zwischen jeweils zwei Versionen einer Melodie, die in unterschiedlichen Modi stehen, beurteilten die Versuchsteilnehmer bei 84% der Melodiepaare die ionische Version und bei 64% bzw. 58% der Paare die mixolydische bzw. lydische Version als »glücklicher« oder »fröhlicher« (»happier«)  ; dagegen wurden nur 40% der dorischen, 34% der äolischen und 21% der phrygischen Melodieversionen im direkten Paarvergleich als »glücklicher« eingeschätzt.29 Selbst wenn also das Dur-Moll-System generell als unangemessen für populäre Musik abgelehnt wird und sich der Modus einer Melodie u. U. nicht eindeutig bestimmen lässt, so wirkt doch die stereotype Dur-Moll-Semantik anscheinend weiter, und sei es umgedeutet auf die Intervallstruktur diatonischer Modi.

3. Tonalitätstypen in der populären Musik nach 1960

Allen F. Moore begründet die Abwendung vom funktionalen Tonalitätskonzept des DurMoll und die Hinwendung zu einem modalen System vor allem durch den starken Einfluss der afroamerikanischen Musiktraditionen auf die populäre Musik, insbesondere in den USA und Großbritannien. Angesichts des hieraus resultierenden hybriden Charakters weiter Bereiche populärer Musik habe er sich dafür entschieden, »[…] not to regard popular harmony as a deviation from the norms of Western tonality, but as establishing norms in its own right, which may or may not accord particularly strongly with those found in the music of Bach, Beethoven and Brahms.«30 Zahlreiche Popmusikforscher, u. a. David Temperley und Philip Tagg,31 folgen dieser Argumentation. Andere Wissenschaftler bleiben dagegen den an der ›common practice music‹ des 18. und 19. Jahrhunderts geschulten musiktheoretischen Ansätzen treu und beschreiben die Besonderheiten der populären Harmonik als Erweiterungen der her28 Ulrich Kaiser, »Fraktale Strukturen im Hard Rock. ›Back In Black‹ (AC/DC), ›Highway Star‹ (Deep Purple) und ›The Future Never Dies‹ (Scorpions) im Fokus einer musikanalytischen Perspektive«, in  : Samples. Online-Publikationen der Gesellschaft für Popularmusikforschung, 12 (2014), www.aspm-samples.de/Samples12/ kaiser.pdf, 16.4.2018, S. 4ff. 29 David Temperley und Daphne Tan, »The Emotional Connotations of Diatonic Modes«, in  : Music Perception 30/3 (2013), S. 237–257. In dem Hörexperiment beurteilten neun Teilnehmer jeweils alle möglichen Paare der modalen Versionen von sieben verschiedenen Melodien. 30 Moore, Song Means, S. 70. 31 Vgl. Philip Tagg, Everyday Tonality. Towards a Tonal Theory of What Most People Hear, 2., überarbeitete Auflage, New York und Huddersfield 2014.

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Jenseits von Dur und Moll?

kömmlichen funktionalen Dur-Moll-Harmonik. So interpretiert der Musikwissenschaftler und Rockgitarrist Volkmar Kramarz die von ihm als ›Pop-Formeln‹ bezeichneten Akkord-Patterns durchweg mit den Riemann’schen Funktionsbezeichnungen. Ein Akkord auf der Stufe bVII wird so zur Doppel-Subdominante, und es entstehen »subdominantischen Ketten«, z. B. SSSS, SSS, SS, S, T (für bVI, bIII, bVI, IV, I), wobei diese Akkordfolgen auch umgestellt und verkürzt werden können.32 Ob diese Akkordfolgen tatsächlich eine Fortschreitungswirkung erzeugen, durch die eine funktionsharmonische Deutung gerechtfertigt wäre, ist jedoch fragwürdig. Insbesondere im angelsächsischen Sprachraum sind jene Ansätze weit verbreitet, die sich bei der Analyse auch von populärer Musik auf Heinrich Schenker stützen. Der Schenker-Ansatz legt Wert darauf, das Verhältnis der Fortschreitungen der einzelnen Stimmen (›voice leading‹) und die (funktionale) harmonische Fortschreitung der Akkorde aufeinander zu beziehen  ; prinzipiell bestimmend bleibt dabei eine funktional gedeutete harmonische Hintergrundbewegung.33 Mit den Worten des amerikanische Musikwissenschaftler Walter Everett, dem wohl profiliertesten Vertreter dieser ›Schenkerian Popular Musicology‹  : »[…] while the underlying principles of tonality are unchanging, rock has evolved several different ways of relating to that tonal background.«34 Neben Analysen einzelner Songs hat Everett 2004 eine umfassende, durch zahlreiche Beispiele illustrierte Klassifikation der tonalen Systeme des Rocks vorgelegt, der eine Analyse von über 6000 Rock-Songs aus den 1950er und 1960er Jahren zugrunde liegt und die sich auf viele weitere Bereiche der populären Musik übertragen lässt. In seinem Buch The Foundations of Rock  : From ›Blue Suede Shoes‹ to ›Suite  : Judy Blue Eyes‹ hat Everett seinen Ansatz durch die Diskussion zahlreicher weiterer Beispiele – verteilt auf vier Buchkapitel und über hundert Druckseiten – illustriert.35 In seiner Klassifikation unterscheidet Everett zwischen sechs Kategorien (mit zusätzlichen Unterkategorien), wobei die erste ganz der europäischen Dur-Moll-Tonalität des 18. und 19. Jahrhunderts folgt, während die anderen fünf Kategorien graduell von deren Regeln abweichen  : »1a  : Major-mode systems with common-practice harmonic and voice-leading behaviors. May be inflected by minor-mode or chromatic mixture. 1b  : Minor-mode systems with common-practice harmonic and voice-leading behaviors. May be inflected by major-mode or chromatic mixture. 32 Volkmar Kramarz, Die PopFormeln, S. 92ff. 33 Moore fasst seine Kritik an der Anwendung des Schenker-Ansatzes für die Analyse von Rockmusik zu Beginn eines Aufsatzes zusammen  ; vgl. Allan F. Moore, »The So-Called ›Flattened Seventh‹ in Rock«, in  : Popular Music 14 (1995), S. 185–201. 34 Walter Everett, »Making Sense of Rock’s Tonal Systems«, Music Theory Online 10/4 (2004), www.mtosmt.org/ issues/mto.04.10.4/mto.04.10.4.w_everett.html, 16.4.2018. 35 Walter Everett, The Foundations of Rock. From ›Blue Suede Shoes‹ to ›Suite  : Judy Blue Eyes‹, Oxford 2009, S. 190–301.

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2  : Diatonic modal systems with common-practice voice-leading but sometimes not with common-practice harmonic behaviors. 3a  : Major-mode systems, or modal systems, with mixture from modal scale degrees. Commonpractice harmonic and voice-leading behaviors would be common but not necessary. 3b  : Major-mode systems with progressive structures. Common-practice harmonic and voiceleading behaviors would be typical at lower, but not higher, levels. 4  : Blues-based rock  : minor-pentatonic-inflected major-mode systems. Common-practice harmonic and voice-leading behaviors not always emphasized at the surface, but maybe articulated at deeper levels and/or in accompaniment. 5  : Triad-doubled or power-chord minor-pentatonic systems unique to rock styles  : I-bIII-IV-V-bVII. Common-practice harmonic and even voice-leading behaviors often irrelevant on the surface. 6a  : Chromatically inflected triad-doubled or power-chord doubled pentatonic systems of early metal. Common-practice harmonic and voice-leading behaviors often irrelevant on the surface. 6b  : Chromatically related scale degrees with little dependence upon pentatonic basis. Common-practice harmonic and voice-leading behaviors often irrelevant at deeper levels as well as surface.«36

Neben Dur-Moll-harmonisch traditionellen Stücken finden sich also Stücke mit modaler Tonalität (2), die sich insbesondere durch das Fehlen von Leittönen auszeichnen  ; »progressive« Mischungen von Dur-Moll und Modalität (3), bei denen entweder ein Tonvorrat verwendet wird, der sich keinem diatonischen Modus eindeutig zuordnen lässt, oder bei denen es zu Rückungen und Modulationen ohne Rückkehr zum anfänglich etablierten tonalen Zentrum kommt  ; sowie schließlich die oben bereits diskutierte BluesHarmonik (4). In den beiden verbleibenden Klassen wird das Gebiet der herkömmlichen Dur-Moll-Tonalität weitgehend verlassen  : Im Rock und Heavy Metal werden AkkordPatterns verwendet, die aus pentatonischen Riff-Melodien (der Mollpentatonik  : 1, b3, 4, 5, b7) entstehen, indem über jeden der Skalentöne ein Durdreiklang bzw. ein terzloser Akkord, ein sog. ›Power-Chord‹, gespielt wird (5). Laut Everett lassen sich diese Akkordverbindungen nicht funktional verstehen und die herkömmlichen Stimmführungsregeln sind stark eingeschränkt.37 In der letzten Klasse werden die Akkorde auf der pentatonischen Skala durch chromatische Anreicherungen und Rückungen erweitert, wobei sowohl herkömmliche Stimmführungsregeln als auch das Harmonieverständnis der DurMoll-Tonalität entweder auf der klanglichen Oberfläche (6a) oder auf der Schenker’schen Hintergrundebene (6b) irrelevant werden. 36 Everett, »Making Sense of Rock’s Tonal Systems«, Table 1. 37 Ebd., Absatz 20  : »In the triad-doubled minor-pentatonic mode, expressed in I, bIII, IV, V and bVII chords, harmony is non-functional, and voice-leading is severely compromised  ; all voices, again, tend to move in strictly parallel doublings of root-position triads or empty power-chords.« Ebd., Absatz 20. Drei exemplarische Analysen zu diesem Tonalitätstyp finden sich bei Ulrich Kaiser, »Fraktale Strukturen im Hard Rock«.

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Jenseits von Dur und Moll?

Es dürfte klar sein, dass Dur und Moll für die zuletzt dargestellte Gruppe von Hardrock-, Heavy-Metal- und Alternative-Rock-Songs kaum noch eine Rolle spielen. Doch wie steht es um jene Songs, deren Tonalität sich entweder als Dur oder Moll beschreiben lässt  ? Immerhin sind dies laut Everett die meisten der von ihm untersuchten Songs aus den Jahren 1955–1969. Für Everett handelt es sich bei der Zuschreibung von ›fröhlich‹ zu Dur und ›traurig‹ zu Moll allerdings nur noch um bloße Klischees, deren angebliche Gültigkeit er durch die Aufzählung zahlreicher Gegenbeispiele hinterfragt.38

4. Korpusstudien: Zur Repräsentativität der Tonalitätsanalysen

Sowohl Moore als auch Everett entwickeln ihre Überlegungen auf der Grundlage der Analyse einer großen Anzahl von Stücken, die sie in erster Linie dem Repertoire der 1950er, 1960er und 1970er Jahre entnehmen, allerdings auf mehr oder weniger systematische Weise. Ihre Befunde werden jedoch durch die Resultate von Korpusstudien unterstützt, bei denen die Kriterien der Stückauswahl und die Analyseschritte offengelegt werden und die daher prinzipiell reproduzierbar sind. Trevor de Clercq und David Temperley untersuchen die Akkordverteilungen in einem Korpus von 100 Rock-Songs, je 20 aus jedem Jahrzehnt zwischen 1950 bis 1999, die einer vom Rock-Magazin Rolling Stone veröffentlichten Liste der »500 Greatest Songs of All Time« entnommen wurden. Alle 100 Songs wurden von den Autoren transkribiert und in ein computerlesbares Format überführt.39 Ihre Ergebnisse zur Akkordverteilung stützen jene Befunde, die Ripani in seiner Studie der afroamerikanischen Chart-Hits desselben Zeitraums dargestellt hat (vgl. oben). Wie Tabelle 1 zeigt, sind neben Akkorden auf der I. Stufe Akkorde auf der IV. Stufe in allen Jahrzehnten am häufigsten anzutreffen, und zwar deutlich häufiger als Akkorde auf der V. Stufe (Tabelle 1). Betrachtet man die Übergänge zwischen den Akkorden, so zeigt sich dasselbe Bild  : Bewegungen von der I. zur IV. und von der IV. zur I. Stufe sind weit häufiger als Bewegungen weg von und hin zu der V. Stufe (Tabelle 2). Dieser Befund wird durch die Häufigkeiten der Folgen von drei Akkorden, die mit dem Akkord über dem tonalen Zentrum enden, erhärtet (Tabelle 3)  : Zwar ist die klassische Kadenz (IV-V-I) hier am häufigsten vertreten, umfasst aber (gemeinsam mit der Kadenz II-V-I) nicht einmal die Hälfte aller Fortschreitungen zum tonalen Zentrum. 38 Everett, The Foundations of Rock, S. 161ff. Außerdem differenziert Everett die Semantik der relativ wenigen Moll-Stücke dahingehend, dass Moll nicht nur Traurigkeit, sondern auch Tragik, Düsternis, Melancholie, Einsamkeit und das Geheimnisvolle ausdrücken könne. 39 Trevor de Clercq und David Temperley, »A corpus analysis of rock harmony«, in  : Popular Music 30/1 (2011), S. 47–70. Einzelheiten zu den Daten sowie sämtliche Transkriptionen werden auf der Projekt-Website http:// rockcorpus.midside.com/ dargestellt.

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1950s

1960s

1970s

1980s

I

42,3

32,7

30,2

33,2

0,1

0,0

0,4

0,8

0,8

II

0,4

7,4

3,8

0,5

5,0

0,0

0,9

3,2

2,8

4,0

♭II ♭III

1990s 31,3

III

0,7

4,0

2,7

0,2

1,7

IV

32,1

23,9

22,6

22,0

18,7

0,0

0,1

0,9

0,0

0,0

V

22,1

14,6

15,4

17,0

15,3

0,1

0,3

5,4

4,7

6,2

♭VII

1,1

7,2

6,3

8,1

10,0

0,7

8,4

8,9

10,8

6,4

VII

0,6

0,6

0,4

0,0

0,7

♯IV

♭V

VI

Tabelle 1: Prozentualer Anteil aller chromatischen Akkordstufen in je 20 Songs pro Dekade40 Chord II Chord I

I

I

♭II

II

♭III

♭II

II

♭III

III

IV

25

132

94

44

0

0

2

2

20 0

31 120

1

50

6

6

♯IV

V

♭VI

VI

♭VII

1052

2

710

104

302

470

16

0

0

0

0

0

0

12

58

0

97

0

24

10

0

64

2

2

67

0

41

0

III

16

0

39

0

IV

1,162

14

30

98

45

7

0

0

6

0

10

788

0

36

6

17

392

4

208

0

1

20

0

22

6

22

144

0

87

0

32

260

0

124

21

386

0

0

11

2

188

2

26

114

6

18

0

0

0

12

0

4

0

0

3

♯IV

V

♭VI

VI

♭VII

VII

46

VII

0

6

0

60

3

4

4

514

57

72

90

4

0

0

0

0

0

6

191

48

0

10

78

0

3

0 0

0

Tabelle 2: Häufigkeit von Abfolgen zweier Akkordstufen in den 100 Songs (in der linken Spalte stehen die Ausgangsakkorde, in der Kopfzeile die jeweiligen Folgeakkorde, in den Zellen die Anzahl der Übergänge zwischen den beiden Akkordstufen41)

40 Aus ebd., S. 64. In dieser und den folgenden Tabellen wird keine Unterscheidung zwischen Akkorden mit großer und kleiner Terz vorgenommen. 41 Aus ebd., S. 61.

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Jenseits von Dur und Moll?

Trigram IV V I V IV I

Anzahl 352 292

♭VII IV I

146

VI IV I

126

♭VII ♭VI I ♭III ♭VI I II V I

103 66 63

♭VI ♭VII I

60

V VI I

42

IV ♭VII I

Tabelle 3: Folgen von drei Akkordstufen, die mit der I. Stufe enden, innerhalb der 100 Songs in absteigender Reihenfolge der Häufigkeit42

39

Leider differenzieren die Autoren nicht zwischen verschiedenen Akkordtypen (kleine oder große Terz, Septakkorde, ›Power Chords‹). Zudem beruhen die Auswertungen auf der Annahme, dass das tonale Zentrum innerhalb eines Songs stabil bleibt – eine Annahme, die von Temperley selbst in Frage gestellt wurde. Schließlich lässt sich einwenden, dass ein Korpus von 100 Songs doch relativ beschränkt ist.43 Durch die Anwendung von computergestützten Analysemethoden, wie sie seit den 1990er Jahren im Bereich von Musikinformatik und Music Information Retrieval entwickelt worden sind,44 konnten Musikinformatiker um Matthias Mauch eine Untersuchung zu Akkorden und Akkordübergängen in populärer Musik auf eine weit umfassendere Datengrundlage stellen.45 In ihrer Studie untersuchen Mauch et al. knapp 17.000 Songs, die zwischen 1960 und 2010 in den US-Billboard-Hot-100-Charts vertreten waren. Grundlage sind dabei nicht die Transkriptionen der Songs, sondern zufällig gewählte, jeweils 30 Sekunden lange Ausschnitte aus den digitalen Audio-Dateien der Songs, die mit automatisierten Methoden der Musikinformatik einer Spektralanalyse mit 42 Aus ebd., S. 63. 43 In einer Folgestudie vergleichen die Autoren die harmonische und melodische Gestaltung eines erweiterten Musikkorpus mit 200 Stücken mit derjenigen in europäischen ›common-practice‹-Kompostionen  ; vgl. David Temperley und Trevor de Clercq, »Statistical Analysis of Harmony and Melody in Rock Music«, in  : Journal of New Music Research 42 (2013), S. 187–204. 44 Vgl. hierzu Michael A. Casey, Remco Veltkamp, Masataka Goto, Marc Leman, Christophe Rhodes und Malcolm Slaney, »Content-Based Music Information Retrieval. Current Directions and Future Challenges«, in  : Proceedings of the IEEE 96/4 (April 2008), S. 668–696, und Meinard Müller, Fundamentals of music processing  : audio, analysis, algorithms, applications, Cham 2015. 45 Matthias Mauch, Robert M. MacCallum, Mark Levy und Armand M. Leroi, »The Evolution of Popular Music. USA 1960–2010«, in  : The Royal Society Open Science 2 (2015), https://royalsocietypublishing.org/ doi/10.1098/rsos.150081

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nachfolgender Chroma-Zuordnung unterzogen wurden.46 Aufgrund der Chroma-Werte wurden sodann alle möglichen Übergänge zwischen den vier wichtigsten Akkordtypen (Dreiklang mit kleiner bzw. großer Terz sowie Vierklänge mit kleiner Septime und kleiner bzw. großer Terz) und schließlich acht harmonische Kategorien ermittelt, die sich auf bestimmte Akkordtypen innerhalb von Akkordwechseln beziehen. Durch die statistische Berechnung der Häufigkeit des Auftretens dieser Kategorien in den Songs eines Jahres lassen sich Rückschlüsse auf die Verbreitung einer bestimmten Harmoniegestaltung in der populären Musik dieser Zeit ziehen. Abbildung 2 bietet einen Überblick über die relativen Häufigkeiten der einzelnen Kategorien (H1 bis H8) in allen Songs jeweils eines Jahres. Abbildung 2: Die relative Häufigkeit von acht Harmoniekategorien in den US-Billboard-Hot-100-Charts zwischen 1960 und 201047

Auffällig ist zunächst der schwankende, aber dennoch durchweg hohe Anteil von Durakkorden ohne erkennbare Akkordwechsel (H 8). Der Anteil von Akkordwechseln, die einen Dominantseptakkord beinhalten (H 1), nimmt dagegen kontinuierlich ab, von knapp 20% um 1960 auf unter 5% in den 2000er Jahren. Dagegen steigt der Anteil von Akkordwechseln mit Mollseptakkorden (H 3) während der 1970er Jahre stark an, was die Autoren mit der wachsenden Popularität von Funk und Disco in diesem Zeitraum in Zusammenhang bringen. Auffällig ist zudem der Anteil von Songs ohne erkennbare 46 Das untersuchte Korpus umfasst 86% aller Charts-Songs im genannten Zeitraum. Die Audio-Dateien wurden von der Internet-Plattform »last.fm« zur Verfügung gestellt, die von einem der Autoren, Mark Levy, betrieben wird. Für die Chroma-Bestimmung wurden Analysefenster mit einer Länge von 16.384 Samples oder 372 Millisekunden ausgewählt, die in Abständen von 1024 Samples oder 23 Millisekunden über die Audio-Datei verschoben wurden. Sowohl durch die zufällige Auswahl der Ausschnitte als auch durch eine messtechnische Bestimmung der Chroma-Werte kann es eventuell zu kleineren Verzerrungen kommen, die jedoch angesichts der immensen Größe des Gesamtkorpus statistisch kaum ins Gewicht fallen dürften. 47 Mauch et al., »The Evolution of Popular Music«, Figure 2 (S. 4). Detaillierte Angaben zu den acht Kategorien und ihrer Verteilung bei bestimmten Genres und Künstlern lassen sich aus den vertiefenden Tabellen (»indepth tables«) erschließen, die online einsehbar sind  : https://figshare.com/articles/Extended_Tables_Tags_ Artists_Topic_Composition_/1399131, 16.4.2018.

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Jenseits von Dur und Moll?

Akkordwechsel oder ohne Akkorde (H 5), der zu Beginn der 1990er Jahre von zuvor weniger als 5% auf bis zu 20% ansteigt  ; hierfür lassen sich die Erfolge der Rap Music mit Stücken ohne tonale Anteile – es erklingen ausschließlich Rap, Samples und perkussive Beats – in den 1990er und frühen 2000er Jahren verantwortlich machen. Der prozentuale Anteil der restlichen vier Kategorien (H2  : Akkordwechsel innerhalb der natürlichen Mollskala bzw. des äolischen Modus  ; H4  : einfache diatonische Akkordwechsel in Dur  ; H6  : stufenweise Akkordwechsel, die auf eine modale Tonalität hinweisen  ; H7  : ambivalente Akkordzuschreibungen) bleibt, von kleineren Schwankungen abgesehen, über die Jahrzehnte hinweg konstant. Selbst wenn man also kleinere Verzerrungen aufgrund der zufälligen Auswahl der untersuchten 30-sekundigen Ausschnitte oder aufgrund von Fehlern bei der automatisierten Bestimmung der Tonhöhenklassen und, darauf aufbauend, der Akkorde und Akkordwechsel in Rechnung stellt, so führt die Studie doch auf einer breiten Datengrundlage zu erstaunlich eindeutigen Ergebnissen  : Die harmonischtonale Gestaltung in populärer Musik seit 1960 ist vielfältig und lässt sich nicht allein mit Hilfe der Dur-Moll-Tonalität beschreiben.

5. Fazit

Während sich die Tonalität in Songs aus der Tradition von Tin-Pan-Alley, aber auch bei europäischen Liedgenres wie etwa dem Schlager oder der volkstümlichen Musik wohl in der Regel noch eindeutig als funktionsharmonisch und dabei vorwiegend als Dur, weit seltener als Moll, beschreiben lässt, häufen sich in der populären Musik seit den 1960er Jahren Songs, deren Tonalität sich gegen eine funktionsharmonische Deutung sträubt. Angesichts der skizzierten Vielfalt der harmonischen Konzepte wird in diesem Bereich die Gültigkeit einer kulturell tradierten, in der europäischen Kunstmusik verwurzelten Semantik von Dur und Moll ebenfalls fragwürdig. Denn wenn sich Stücke nicht als Dur oder Moll beschreiben lassen, so werden auch die damit verbundenen kulturellen Konnotationen hinfällig. Blues-Songs und Stücke aus anderen Richtungen afroamerikanischer Musik, aber auch viele Pop- und Rock-Songs stehen außerhalb der Dur- oder Moll-Tonalität und sperren sich aufgrund der zyklischen Wiederholung kürzerer Akkord-Patterns gegen eine Interpretation im Sinne einer harmonischen Entwicklungs- und Fortschreitungslogik. Die Tonalität weiter Bereiche der neueren populären Musik lässt sich dagegen als modal deuten, wobei Ionisch (Dur) und Äolisch (natürlich Moll) gleichberechtigt neben Dorisch und Mixolydisch stehen  ; seltener erklingen lydische, phrygische oder lokrische Modi. Diese Modi, die allesamt von der diatonischen Skala abgeleitet sind, werden, so ein empirischer Befund, oftmals gemäß der herkömmlichen Semantik als heller und positiver (mehr große Intervalle) bzw. als dunkler und negativer (mehr kleine Intervalle) wahrgenommen und gedeutet. Darüber hinaus gibt es insbesondere im Hard Rock, Heavy Metal und Alternative Rock unzählige Stücke, deren 553

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Akkorde der pentatonischen Skala zugeordnet sind, sowie Akkorde ohne Terzen (›Power Chords‹). Schließlich häufen sich seit dem Charts-Erfolg des Hip-Hop in den 1990er Jahren in der populären Musik Stücke, die auf jegliche Akkorde weitgehend oder ganz verzichten, die also, neben dem Sprechgesang, entweder rein perkussiv aufgebaut sind oder nur eine Basslinie und kurze Samples beinhalten. Die populäre Musik der vergangenen Jahrzehnte ist eine zunehmend hybride oder transkulturelle Musikform, die starke Einflüsse aus afroamerikanischen Musiktraditionen aufweist. Zugleich wird sie zunehmend für einen globalen Markt und eine entsprechend heterogene Hörerschaft produziert,48 sodass die europäische Dur-Moll-Tonalität sowohl für die Musiker und Songwriter als auch für die Hörer, die aus ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen, wohl nur noch ein mögliches tonales Bezugssystem unter vielen darstellt und die entsprechenden klischeehaften Konnotationen ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit verloren haben.

48 Vgl. hierzu etwa Keith Negus, »The Corporate Strategies of the Major Record Labels and the International Imperative«, in  : Global Repertoires  : Popular Music within and beyond the Transnational Music Industry, hrsg. von Andreas Gebesmair und Alfred Smudits, Aldershot 2001, S. 21–31.

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Hermann Danuser ist seit 1993 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2014 arbeitet er an dem Projekt »Musikalische Topik«. Weiterhin koordiniert er die Forschung der Paul Sacher Stiftung Basel. Im Jahr 2017 erschienen die Bücher Metamusik (Argus, Schliengen) sowie Wessen Klänge? Über Autorschaft in neuer Musik, hrsg. mit Matthias Kassel (Schott, Mainz). Im akademischen Jahr 2017/18 nahm er am Central Conservatory of Music Beijing eine Gastprofessur wahr. Wolfgang Auhagen ist seit 2003 Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Emeritierung 2018). Er studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Georg-August-Universität in Göttingen, wo er 1983 promoviert wurde mit Studien zur Tonartencharakteristik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. 1982–1987 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft der Universität zu Köln, wo er sich 1992 habilitierte mit der Arbeit Experimentelle Untersuchungen zur auditiven Tonalitätsbestimmung in Melodien. 1994–2003 war er Professor an der Humboldt-Universität Berlin, 2009–2017 Präsident der Gesellschaft für Musikforschung. Jüngste Buchveröffentlichung (gemeinsam mit Christoph Reuter): Musikalische Akustik (Laaber 2015). Nina Noeske ist seit 2014 Professorin für Musikwissenschaft mit einem Gender-Schwerpunkt an der HfMT Hamburg. Sie studierte in Bonn, Weimar und Jena. Magisterabschluss 2001, Promotion 2005 (Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Böhlau 2007), Habilitation 2014 (Liszts ‚Faust‘: Ästhetik – Politik – Diskurs, Böhlau 2017). Berufliche Stationen an der HfM Weimar, der HMTM Hannover und der Universität Salzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte fokussieren aus unterschiedlichen Perspektiven die Musik- und Kulturgeschichte des späten 18. bis 21. Jahrhunderts. Wolfgang Fuhrmann ist seit 2018 Professor für Musiksoziologie und Musikphilosophie an der Universität Leipzig. Er studierte Musikwissenschaft sowie Germanistik an der Universität Wien und wurde dort 2003 über das Thema Herz und Stimme im Mittelalter promoviert. Mit der Schrift Haydn und sein Publikum. Die Veröffentlichung eines Komponisten ca. 1750 bis ca. 1815 habilitierte er sich 2010 an der Universität Bern. Nach langjähriger musikpublizistischer Tätigkeit lehrte er an den Universitäten Wien und Mainz und nahm Lehrstuhlvertretungen an der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart und der Humboldt Universität Berlin wahr. Seit 2013 ist er Sprecher der Fachgruppe »Soziologie und Sozialgeschichte der Musik« in der Gesellschaft für Musikforschung. 555

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Timothy R. McKinney ist Associate Dean for Graduate Studies und Professor of Music Theory an der School of Music der Baylor University in Waco, Texas. Er erwarb 1989 einen Ph.D. in Musiktheorie an der University of North Texas. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Verhältnis von Musik und Text, die Geschichte der Musiktheorie sowie Analyse von Musik des 16. und späten 19.  Jahrhunderts. Er veröffentlichte Aufsätze in Early Music, Musical Quarterly, Music Theory Spectrum, Music Review sowie anderen Zeitschriften und Sammelbänden. Sein Buch Adrian Willaert and the Theory of Interval Affect zeigt die Ursprünge der Assoziation von Dur mit positiven Gefühlen und von Moll mit negativen auf. Ludwig Holtmeier ist seit 2003 Professor für Musiktheorie an der Freiburger Musikhochschule und seit 2017 auch deren Rektor. Er studierte Klavier in Detmold, Genf und Neuchâtel (1992 Konzertexamen) sowie Musiktheorie, Musikwissenschaft, Schulmusik, Deutsch, Geschichte in Freiburg und Berlin. 1998–2000 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Musikwissenschaft) an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« Berlin, 2000– 2003 Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber«. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Musik & Ästhetik und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie. Louis Delpech ist seit 2018 wissenschaftlicher Assistent am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich und Herausgeber der Revue de Musicologie. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Orgel in Paris und New Haven und wurde 2015 an der Université de Poitiers mit einer Arbeit über deutsch-französische Musiktransfers und Musikermigration im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert promoviert. Seitdem hat er u.a.  auch zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft in Frankreich und Deutschland und zur Kulturgeschichte der musikalischen Moderne um 1900 publiziert. Stefan Keym ist seit 2019 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Leipzig. Nach Studien der Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte in Mainz, Paris (Sorbonne) und Halle, der Promotion über die Franziskus-Oper von Olivier Messiaen (HalleWittenberg 2001) und Habilitation über deutsch-polnischen Symphonie-Kulturtransfer im langen 19. Jahrhundert (Leipzig 2008) lehrte er u. a. an den Universitäten Tübingen, Zürich, Berlin (HU) und Hamburg sowie zuletzt als Professor an der Université Toulouse Jean Jaurès und leitete das DFG-Projekt »Leipzig und die Internationalisierung der Symphonik, 1835–1914«. Er beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen der Kompositionsgeschichte und ihren kulturellen Kontexten, insbesondere im Bereich der großen Gattungen der Instrumentalmusik und des modernen Musiktheaters. Markus Neuwirth ist seit März 2020 Professor für Musikanalyse an der Anton-Bruckner Universität Linz. Außerdem forscht er am Digital and Cognitive Musicology Lab der 556

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École polytechnique fédérale de Lausanne, wo er zusammen mit Martin Rohrmeier das von der Volkswagen Stiftung geförderte Projekt »From Bach to the Beatles« leitet. 2013 wurde er in Musikwissenschaft mit einer Arbeit zu den rekomponierten Reprisen bei Haydn und seinen Zeitgenossen promoviert. Zusammen mit Pieter Bergé gab er den Sammelband What is a Cadence? (Leuven University Press 2015) heraus, der von der amerikanischen Society for Music Theory mit dem Outstanding Multi-Author Collection Award 2018 ausgezeichnet wurde. Neuwirth ist Ko-Autor (mit Felix Diergarten) einer neuen musikalischen Formenlehre, die 2019 bei Laaber erschien. Felix Michel arbeitet an einem Dissertationsprojekt zu Klaviersonaten um 1830 und ist daneben als freier Musikjournalist tätig. Er studierte 2007–2011 Musikwissenschaft und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Zürich und war 2012–2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Musikwissenschaftlichen Institut. Matteo Giuggioli ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main im Projekt »OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen« der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Er wurde 2010 an der Universität Pavia (Cremona) in Musikgeschichte und -philologie mit einer Dissertation über die Streichquintette Luigi Boccherinis promoviert. 2011–2012 war er Postdoctoral Fellow am Centre d’Études Supérieures de la Renaissance in Tours, 2013–2018 Assistent am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Er hat besonders über italienische Instrumentalmusik des 18.  Jahrhunderts und über Filmmusik publiziert. Marie Agnes Dittrich ist seit 1993 Professorin für Historische Musikwissenschaft (Schwerpunkt Analyse) an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Sie studierte Geschichte und Musikwissenschaft in Hamburg und lehrte u.a.  am Hamburger Konservatorium (1983–1993), an der Donau-Universität Krems, der Universität Wien sowie als Gastprofessorin am Historischen Seminar der Universität Leiden (NL, 2014 und 2019). Schwerpunkt in Lehre und (vorwiegend populärwissenschaftlichen) Publikationen: Analyse musikalischer Techniken, Formen und Interpretationstraditionen und ihrer Abhängigkeit von (oft längst vergessenen) mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen und politischen Interessen. Christoph Hust ist seit 2011 Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Er studierte Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Musiktheorie und lehrte in Mainz und Bern. Aktuelle Arbeitsgebiete liegen in der Geschichte der Musiktheorie, der Musikverlagsgeschichte und der Rolle von Musik in den Medien (TV-Serien und digitales Spiel). 557

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Arne Stollberg ist seit 2015 Professor für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei Fragen der Musikästhetik und musikalischen Analyse, des Musiktheaters und der Instrumentalmusik vom 18. bis zum 21.  Jahrhundert. Jüngste Buchveröffentlichungen: Oper und Film. Geschichten einer Beziehung, hrsg. zus. mit Stephan Ahrens u.a., München 2019; Julius Korngold, Atonale Götzendämmerung. Kritische Beiträge zur Geschichte der Neumusik-Ismen (Wien 1937). Erstveröffentlichung als Faksimile, mit Vorwort, Kommentar und Anmerkungen hrsg. zus. mit Oswald Panagl u.a. , Würzburg 2019. Zudem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift wagnerspectrum. Hans-Joachim Hinrichsen ist seit 1999 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich (Emeritierung 2018). Er studierte Germanistik und Geschichte, anschließend Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (dort auch 1998 Habilitation). Er ist Mitglied der Academia Europaea und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien) sowie im Wissenschaftlichen Beirat des Beethoven-Hauses Bonn, außerdem Mitherausgeber der Periodika Archiv für Musikwissenschaft und wagnerspectrum und leitet die Arbeitsstelle von RISM Schweiz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, Rezeptionsgeschichte, Interpretationsforschung und Geschichte der Musikästhetik. Jüngste Buchpublikationen (Auswahl): Franz Schubert, München 2011 (22014, 32019); Beethoven: Die Klaviersonaten, Kassel etc. 2013; Bruckners Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer, München 2016; Ludwig van Beethoven. Musik für eine neue Zeit, Kassel/Berlin 2019. Ivana Rentsch ist seit 2013 Professorin für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. Sie studierte Musikwissenschaft, Medienwissenschaft und Linguistik an der Universität Zürich. Danach war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bern, wo sie 2004 über Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit promovierte (Anklänge an die Avantgarde, BzAfMw 61). Nach einem Forschungsstipendium des SNF war sie 2006–2013 (Ober-)Assistentin am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, wo sie sich 2010 mit einer Schrift über die Bedeutung des Tanzes für die Instrumentalmusik und Musiktheorie der Frühen Neuzeit habilitierte (Die Höflichkeit musikalischer Form, Kassel 2012). Seit 2015 leitet sie das DFG-Projekt »Thomas Selle – Opera omnia« an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Musik der Frühen Neuzeit, das Musiktheater des 17. bis 20. Jahrhunderts, die Gattungsgeschichte des Liedes und die tschechische Musikgeschichte. Shay Loya ist Senior Lecturer of Music an der City University of London und Trustee der Society for Music Analysis (UK). Er erwarb einen M.A. an der Tel Aviv University (2001) und einen Ph.D. am King’s College London (2006). Seine Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten des Nationalismus, Kosmopolitismus, Exotismus und der Transkulturalität 558

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im 19. Jahrhundert, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Musik Franz Liszts. Zu seinen Veröffentlichungen zählen die Monographie Liszt’s Transcultural Modernism and the Hungarian-Gypsy Tradition (University of Rochester Press 2011), die 2014 mit dem Alan Walker Prize ausgezeichnet wurde, und der Aufsatz »Recomposing National Identity: Four Transcultural Readings of Liszt’s Marche hongroise d’après Schubert (Journal of the American Musicological Society 69:2, 2016). Aktuell arbeitet er an einem Buch über Liszts Spätwerk (Liszt’s Late Styles). Signe Rotter-Broman ist seit 2012 Professorin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Sie studierte Schulmusik, Geschichte, Musikwissenschaft und Nordische Philologie in Frankfurt/Main und Kiel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Musikgeschichte Nordeuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Musikgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Renaissance sowie Geschichte der Musikhistorio­ graphie. Derzeit richtet sich ihr Forschungsinteresse auf die Zusammenhänge zwischen Weltausstellungsbewegung und musikalischer Wissensgeschichte um 1900. Benedikt Leßmann ist seit 2016 Universitätsassistent am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien. Er studierte Musikwissenschaft, Komparatistik, Romanistik und Kirchenmusik in Leipzig, Paris und Halle. Danach war er zunächst an der Universität Leipzig angestellt und unterrichtete zugleich an Musikhochschulen in Leipzig und Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die französische Musikgeschichte des 19. und 20. sowie die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts, wobei sein besonderes Interesse Prozessen von Rezeption, Kulturtransfer und Übersetzung gilt. Ullrich Scheideler ist seit 2005 Dozent für den Bereich Musiktheorie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er studierte Musikwissenschaft, Neuere Geschichte und Philosophie in Berlin und London sowie Musiktheorie in Berlin. 1993 M.A. mit einer Arbeit über Alban Bergs Streichquartett op. 3, 1994 Diplom in Musiktheorie, 2006 Promotion mit einer Arbeit über den kompositorischen Historismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umkreis der Sing-Akademie zu Berlin an der TU Berlin. 1995–2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arnold Schönberg Gesamtausgabe. Seit 2015 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH). Wolfgang Mende ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Richard-WagnerStätten Graupa. Er studierte Slavistik, Indogermanistik und Musikwissenschaft in Regensburg, Marburg, Moskau und Hamburg. 1999–2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der TU Dresden, dort 2005 Promotion (Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln: Böhlau 2009). Er publizierte zahlreiche kulturwissenschaftlich orientierte Arbeiten zur russischen/sowjetischen 559

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Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, zur Semantik von Instrumentation, in jüngster Zeit verstärkt auch zu Richard Wagner und dessen Umfeld. Felix Wörner ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel und seit 2018 assoziierter Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für empirische Ästhetik (Frankfurt/Main). Er wurde an der Universität Basel mit einer Arbeit zum frühen Zwölftonwerk Weberns promoviert und war anschließend in Berlin, an der Stanford University und an der UNC Chapel Hill tätig. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Musiktheorie, Musikästhetik und Kulturtransfer in Zentraleuropa und Nordamerika, mit Schwerpunkten auf Methodik der musikalischen Analyse, Aspekten von Tonalität, Geschichte musikalischer Form, Musik und Narrativität, Skizzenforschung. Er war Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (2013–2019) und ist Mitherausgeber des Lexikon Schriften über Musik (2017ff.). Valentina Sandu-Dediu ist Professorin für Musikwissenschaft und Stilistik an der National Music University of Bukarest, wo sie bis 1990 studierte und seit 1993 lehrt. Sie schrieb über 30 Studien, 300 Artikel und 10 Bücher. Sie war Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, ist seit 2014 Rektorin des New Europe College Bukarest und erhielt 2008 den Peregrinus-Stiftungspreis der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg. Dan Dediu ist seit 2003 Professor für Komposition an der Musikhochschule Bukarest, die er 2008–2016 als Rektor leitete. Er studierte Komposition bei Ștefan Niculescu und Dan Constantinescu in Bukarest (1989) und bei Francis Burt in Wien (1990/91). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen sowie eine Promotion in Musikwissenschaft mit einer Arbeit über die Phänomenologie des Komponierens. Als künstlerischer Leiter organisiert er die Internationale Woche der Neuen Musik in Bukarest und leitet das Profil Ensemble. Seine über 170 Kompositionen werden weltweit aufgeführt und auf CDs von Albany Records, Cavalli, Casa Radio und NEOS produziert. Martin Pfleiderer ist seit 2009 Professor für Geschichte des Jazz und der populären Musik am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Er studierte an der Universität Gießen Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie und wurde dort 1998 mit einer Studie zur Rezeption afrikanischer und asiatischer Musik im Jazz promoviert. 1999–2005 war er wissenschaftlicher Assistent für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, wo er sich 2006 mit einer Arbeit zur Rhythmusgestaltung in populärer Musik habilitierte. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte, Ästhetik und Analyse von Jazz und populärer Musik, Rhythmus- und Gesangsforschung, Kultursoziologie, Musikästhetik und Computational Musicology.

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