„Du bist mir noch nicht demüthig genug“: Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut 9783495825570, 9783495492369


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Gliederung
Der Trend zur Demut
I. Teil: Die Demut in christlicher und philosophischer Tradition
I.1 Zum Begriff »Demut«
I.2 Das Unbehagen an der christlichen Demut
I.2.1 Demut als Grundlage für Ohnmacht und Knechtschaft
I.2.2 Die demütige Verachtung des »Fleisches«
I.2.3 Die Demut unter Verdacht des Hochmutes und der Heuchelei
I.2.4 Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut
I.3 Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition
I.3.1 Die Demut im Neuen Testament
I.3.1.1 Jesus als Vorbild der Demut
I.3.1.2 Die Demut bei Paulus
I.3.2 Weichenstellungen für das Verständnis der christlichen Demut
I.3.3 Johannes Cassian und die Demut der »Wüstenväter«
I.3.4 Die Stufen der Demut in der »Regel des heiligen Benedikt«
I.3.5 Die Demut aus der Selbstbetrachtung bei Bernhard von Clairvaux
I.3.6 Thomas von Aquin und die Demut als Mäßigung des Strebens
I.3.7 Demut als »Absterben« des Selbst bei Thomas von Kempen
I.3.8 Die Demut im frühen 20. Jahrhundert
I.3.9 Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag
II. Teil: Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut
II.4. Theoretische Grundlegung der Demut
II.4.1 Demut aus Betroffenheit
II.4.1.1 »Es geht ein Übergroßes vor«
II.4.1.2 Zwischen »majestas« und »schlechthinniger Abhängigkeit«
II.4.1.3 Eine Autorität mit unbedingtem Ernst
II.4.2 Demut aus Besinnung
II.4.2.1 Selbsterkenntnis und Demut in der christlichen Tradition
II.4.2.2 Die Besonnenheit als Prüfstein zur Demut
II.4.2.3 Verfehlte Demut aus der Selbsterkenntnis bei Ludwig Wittgenstein
II.4.3 Demut und Selbstwert
II.4.4 Vom Wert zur Haltung
II.4.5 Die Demut zwischen Erfahrung und Lebensweise
II.5 Arten der Demut
II.5.1 Demut vor Gott
II.5.2 Demut vor einem Ideal
II.5.2.1 Das Zurückbleiben hinter einem Wert
II.5.2.2 »Die Demuth hat das härteste Fell«
II.5.3 Die Demut im Angesicht des Unverfügbaren
II.5.3.1 Das Unverfügbare am Beispiel der Krankheit
II.5.3.2 Besinnung auf das demütige »Empfangen«
II.5.4 Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung
II.5.4.1 Von der Katastrophe in die Demut
II.5.4.2 Das demütige Annehmen im Seinlassen
II.5.5 Die Demut im Miteinander
II.5.5.1 Die demütige Offenheit in der Kommunikation
II.5.5.2 Die persönliche Situation als Ausgangspunkt demütiger Explikation
II.5.5.3 Die demütige Besinnung auf das Miteinander
II.6 Zur Zukunft der Demut
Literaturverzeichnis
Handbuchartikel
Zeitungs- und Internetquellen
Personenregister
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„Du bist mir noch nicht demüthig genug“: Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut
 9783495825570, 9783495492369

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Neue Phänomenologie

Jonas Puchta

»Du bist mir noch nicht demüthig genug« Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut

VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495825570

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B

NEUE PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 33

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Walter Burger Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Hilge Landweer

https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Jonas Puchta

»Du bist mir noch nicht demüthig genug« Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Jonas Puchta

»You are not yet humble enough for me« Phenomenological Approaches to a Theory of Humility Humility is currently either apprehended as a square inheritance of Christianity or increasingly understood as a secular buzzword, which is used as a hortative call for retrieval of a lost moderation. Jonas Puchta undertakes the attempt, taking Christian tradition and its critics into account, to concept humility on the base of pertinent experiences of personhood. Phenomenological analyses present the variety of this approach and its potential to expedite a circumspect self-placement, through which the frequently neglected human dependence in its distinct facets will be able to retake shape in the modern conduct of life. The Author: Jonas Puchta, born in 1995, studied philosophy and sociology at the University of Rostock. He has been a lecturer there at the Institute of Philosophy since 2021.

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Jonas Puchta

»Du bist mir noch nicht demüthig genug« Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut Die Demut wird gegenwärtig entweder als ein verstaubtes Erbe des Christentums wahrgenommen oder vermehrt als ein säkulares »Modewort« verstanden, das als mahnender Aufruf für die Rückgewinnung eines verlorenen Maßes zum Einsatz kommt. Jonas Puchta unternimmt den Versuch, unter Berücksichtigung der christlichen Tradition und ihrer Kritiker die Demut auf Grundlage einschlägiger Erfahrungen des Menschseins auf den Begriff zu bringen. Die phänomenologischen Analysen eröffnen die Vielfältigkeit einer demütigen Haltung und ihr Potential, eine besonnene Selbstverortung voranzutreiben, durch welche die oftmals vernachlässigte menschliche Abhängigkeit in ihren verschiedenen Facetten wieder in der modernen Lebensführung an Gestalt gewinnen kann. Der Autor: Jonas Puchta, geb. 1995, studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Rostock. Er ist dort seit 2021 als Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie tätig.

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Gefördert durch die Stiftung Neue Phänomenologie.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Print) 978-3-495-49236-9 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82557-0

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Jürgen Janson zum Gedenken

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Danksagung

Dass ich hiermit die überarbeitete Fassung meiner Arbeit, die im Jahr 2020 entstanden ist, als Publikation vorlegen darf, habe ich nicht wenigen Menschen zu verdanken, die zu ihrer Entstehung und Entwicklung beigetragen haben. Ich danke Prof. Michael Großheim für seine Offenheit bei der Betreuung dieser Arbeit und für seine Unterstützung, die ich schon früh in meinem Studium erfahren durfte. Steffen Kluck gilt mein Dank für seinen offenen Rat und seine ehrliche Kritik, von welcher der Text an wesentlichen Stellen profitiert hat. Danken möchte ich auch der Stiftung Neue Phänomenologie für die Übernahme der Druckkosten und dem Karl Alber Verlag für die Aufnahme des Textes zur Publikation. Hermine Puchta danke ich für die unkomplizierte Bereitstellung längst vergriffener Bücher und Andrea Puchta und Grit Hiersche für ihre Geduld bei der Durchsicht des ersten Manuskripts. Dieser Text hätte auf diese Weise schlussendlich nicht ohne die Unterstützung Darynas und meiner gesamten Familie entstehen können, denen ich für ihre Zuwendung nicht genug danken kann. Gewidmet ist dieses Buch Jürgen Janson, der dessen Veröffentlichung leider nicht mehr erleben konnte.

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Gliederung

Der Trend zur Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Teil: Die Demut in christlicher und philosophischer Tradition I.1

Zum Begriff »Demut« . . . . . . . . . . . . . . . .

I.2 Das Unbehagen an der christlichen Demut . . . . I.2.1 Demut als Grundlage für Ohnmacht und Knechtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.2 Die demütige Verachtung des »Fleisches« . . . . . I.2.3 Die Demut unter Verdacht des Hochmutes und der Heuchelei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.4 Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3.1 Die Demut im Neuen Testament . . . . . . . . . . I.3.1.1 Jesus als Vorbild der Demut . . . . . . . . . I.3.1.2 Die Demut bei Paulus . . . . . . . . . . . . I.3.2 Weichenstellungen für das Verständnis der christlichen Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3.3 Johannes Cassian und die Demut der »Wüstenväter«.

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Gliederung

I.3.4 Die Stufen der Demut in der »Regel des heiligen Benedikt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I.3.5 Die Demut aus der Selbstbetrachtung bei Bernhard von Clairvaux . . . . . . . . . . . . . . . 94 I.3.6 Thomas von Aquin und die Demut als Mäßigung des Strebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 I.3.7 Demut als »Absterben« des Selbst bei Thomas von Kempen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 I.3.8 Die Demut im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . 108 I.3.9 Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag . . . 113

II. Teil: Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut II.4. Theoretische Grundlegung der Demut . . . . . . II.4.1 Demut aus Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . II.4.1.1 »Es geht ein Übergroßes vor« . . . . . . . . II.4.1.2 Zwischen »majestas« und »schlechthinniger Abhängigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . II.4.1.3 Eine Autorität mit unbedingtem Ernst . . . II.4.2 Demut aus Besinnung . . . . . . . . . . . . . . . . II.4.2.1 Selbsterkenntnis und Demut in der christlichen Tradition . . . . . . . . . . . II.4.2.2 Die Besonnenheit als Prüfstein zur Demut . II.4.2.3 Verfehlte Demut aus der Selbsterkenntnis bei Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . II.4.3 Demut und Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . . . II.4.4 Vom Wert zur Haltung . . . . . . . . . . . . . . . II.4.5 Die Demut zwischen Erfahrung und Lebensweise .

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123 124 125 135 142 151 152 165 178 182 191 200

Gliederung

II.5 Arten der Demut . . . . . . . . . . . . . . . . . II.5.1 Demut vor Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.5.2 Demut vor einem Ideal . . . . . . . . . . . . . . II.5.2.1 Das Zurückbleiben hinter einem Wert . . II.5.2.2 »Die Demuth hat das härteste Fell« . . . II.5.3 Die Demut im Angesicht des Unverfügbaren . . . II.5.3.1 Das Unverfügbare am Beispiel der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.5.3.2 Besinnung auf das demütige »Empfangen« II.5.4 Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung . II.5.4.1 Von der Katastrophe in die Demut . . . II.5.4.2 Das demütige Annehmen im Seinlassen . II.5.5 Die Demut im Miteinander . . . . . . . . . . . . II.5.5.1 Die demütige Offenheit in der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . II.5.5.2 Die persönliche Situation als Ausgangspunkt demütiger Explikation . . . . . . II.5.5.3 Die demütige Besinnung auf das Miteinander . . . . . . . . . . . . . . . II.6

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Zur Zukunft der Demut . . . . . . . . . . . . . . 307

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

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Der Trend zur Demut

»The day you become humble is the day you become successful.« 1 Die Demut, die als christliches Erbe lange verschollen geglaubt war, erfährt mit diesen beschwörenden Worten des indischen Unternehmers Naveen Jain eine eigentümliche Wiederkehr. Als Teil einer Erfolgsformel erweckt es den Anschein, dass die Demut in Gestalt eines Mittels zur Generierung von Anerkennung und Gewinn wieder einen Platz in der Öffentlichkeit behaupten kann. Der ehemalige Benediktinermönch und Unternehmensberater Anselm Bilgri forderte dementsprechend bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Wirtschaftsmanagern mehr Demut, unter der er »etwas sehr weltliches« versteht, »nämlich die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen – seine Schwächen zu kennen und mit ihnen zu rechnen«. 2 Als wäre Bilgri erhört worden, liest man vermehrt von Forderungen wie »Mut zur Demut in der Führung« 3 oder von ähnlichen Plädoyers, darunter dafür, dass »Chefs« mehr Demut bedürfen oder warum »Gründer« eine »intellektuelle Demut« 4 nötig haben. 1

Diese Worte von Naveen Jain sind als eines von vielen Zitaten auf seiner Internetseite nachzulesen: Naveen Jain: An Entrepreneur and Philanthropist. http:// www.naveenjain.com/ [zuletzt abgerufen am: 19. 06. 20]. 2 Anselm Bilgri im Gespräch mit Henrik Mortsiefer: »Vielen Managern fehlt die Demut«. https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/vielen-managern-fehlt-die-de mut/629392.html [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 3 Houben, Anke: Mehr Mut zur Demut in der Führung. In: https://www.welt.de/ wirtschaft/bilanz/article186349074/Managementstrategie-Mehr-Mut-zur-De mut-in-der-Fuehrung.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 4 Vgl. Thielecke, Susanne: Wer führen will, braucht Mut und Demut. https://un serewirtschaft.ihklw.de/wer-fuehren-will-braucht-mut-und-demut/ [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]; Vachova, Magdalena: Führungsstil: »Chefs brauchen mehr

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Der Trend zur Demut

»Demut macht Sinn« 5 oder »Demut macht stark« 6 – als Führungshaltung – bekräftigt auch der durch seine christliche Erbauungsliteratur bekannte Benediktiner Anselm Grün: »Denn führen heißt: dienen«. 7 Das Buch »Reich werden auf die gute Art« von Gregor Henckel-Donnersmarck gibt »Vermögenstipps eines Geistlichen« und ziert ebenfalls das Kapitel: »Bleibt locker und übt euch in Demut«. 8 Dementsprechend gibt man sich als Konzernchef, wie es heißt, »maximal demütig« 9, während anderen »Managern« die »Kategorie« 10 der Demut noch fehlen soll. An anderer Stelle gilt wiederum die »[d]eutsche Demut als Chance für eine blühende europäische Zukunft«. 11 Den Befund, dass die Demut zumindest dem Sprachgebrauch nach in die Moderne zurückgekehrt ist, bestätigt auch ein Blick auf die Politik. Dort zeigt man sich vor den Wahlen »demonstrativ

Demut«. https://kurier.at/wirtschaft/karriere/fuehrungsstil-chefs-brauchen-mehrdemut/400600394 [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]; Horstmann, Uwe: Warum Gründer intellektuelle Demut brauchen. https://www.capital.de/wirtschaft-politik/ warum-gruender-intellektuelle-demut-brauchen [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 5 Vgl. Nixdorf, Christian Philipp: Demut macht Sinn. Über Demut als Führungshaltung. Norderstedt 2020. 6 Furch, Kristian: Demut macht stark: Zehn Strategien zu mehr Führungserfolg – frei von Angst und Selbstüberschätzung. Gnadenthal 2008. 7 Grün, Anselm: Vom Mut, hinabzusteigen. In: Handelsblatt. 12. Dezember 2013. Nr. 230. S. 16–17, hier 16. 8 Vgl. Henckel-Donnersmarck, Gregor: Reich werden auf die gute Art. Vermögenstipps eines Geistlichen. Wien 2014. 9 Vgl. Mayr, Stefan: Neue Demut. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sapneue-demut-1.4914063 [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 10 Vgl. Pauls, Peters: Den Managern fehlt eine Kategorie völlig: die der Demut. https://www.deutschlandfunk.de/nach-dem-bgh-urteil-im-vw-dieselskandalden-managern-fehlt.720.de.html?dram:article_id=477708 [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 11 Vgl. Berschens, Ruth: Deutsche Demut als Chance für eine blühende europäische Zukunft. https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-deut sche-demut-als-chance-fuer-eine-bluehende-europaeische-zukunft/25380358. html?ticket=ST-508607-WsCevfjgcHp7RIabEcOI-ap1 [zuletzt abgerufen am 23. 06. 20].

16 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Der Trend zur Demut

demütig« 12, nimmt dann Wahlergebnisse 13 demütig an, akzeptiert seine Niederlage »mit Demut« 14 oder ist als Träger eines Amtes »zur Demut verdammt« 15. Dazu gilt die Demut als Mahnung 16, etwa als Haltung gegenüber der »Natur« 17 oder zum Gedenken an den Holocaust 18. Ebenfalls fungiert sie als Appell in der politischen Auseinandersetzung, wenn man zum Beispiel beteuert, nach der Aufdeckung einer Lobby-Affäre »keine Spur« von »Demut und Respekt« 19 vorzufinden, diese Haltung bei einem Parteikollegen vermisst 20 oder in einem offenen Brief 21 einfordert. 12

Vgl. Schulte, Ulrich: Demut und Differenzierung. https://taz.de/Gruene-vorden-Wahlen-2019/!5561092/ [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 13 Vgl. Röll, Thomas: »Demut vor dem Ergebnis. Verantwortung für das Land.« https://www.bayernkurier.de/inland/35161-demut-vor-dem-ergebnis-verant wortung-fuer-das-land/ [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 14 Vgl. ZEIT-Online/Dpa: Carrie Lam akzeptiert Wahlniederlage »mit Demut«. https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-11/hongkong-kommunalwahlendemokraten-wahlsieg-carrie-lam [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 15 Vgl. Herden, Lutz: Zur Demut verdammt. https://www.freitag.de/autoren/ lutz-herden/zur-demut-verdammt [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 16 Vgl. Angela Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Parteitag der »Jungen Union«: »Ich rate uns allen dazu, gemeinsam demütig zu sein«. https://www.welt.de/politik/deutschland/article169401243/Ich-rateuns-allen-dazu-gemeinsam-demuetig-zu-sein.html [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 17 Vgl. Bundeskanzlerin Merkel gemäß einer Pressemitteilung der Bundesregierung mit dem Titel: »Der Klimawandel ist inzwischen sichtbar«. https://www. bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/merkel-in-island-1661974 [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 18 Vgl. Prantl, Heribert: Mut zur Demut. https://www.sueddeutsche.de/politik/ auschwitz-steinmeier-holocaust-gedenken-1.4772250?reduced=true [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 19 Vgl. Welz, Franka: Von Demut und Respekt keine Spur. https://www.tagesschau. de/kommentar/amthor-kommentar-101.html [zuletzt abgerufen am 19. 06. 20]. 20 Vgl. ZEIT-Online/ Dpa: CDU-Vorsitz: Merz prescht vor – Brinkhaus fordert Demut. https://www.zeit.de/news/2020-02/14/bereit-verantwortung-zu-ueber nehmen-merz-will-aufbruch [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 21 Vgl. Beust, Ole v.: Wie wäre es mit Demut und Respekt, liebe Greta? Der ehemalige Hamburger Bürgermeister schreibt offenen Brief an die Klima-Aktivistin. https://www.bild.de/politik/2019/politik/greta-thunberg-ole-von-beustwuenscht-sich-demut-und-respekt-von-ihr-64933104.bild.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20].

17 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Der Trend zur Demut

Am umfangreichsten und in immer wiederkehrenden Abständen sind die Bekundungen von Demut wohl im Sport anzutreffen. Als ehemaliger Trainer empfiehlt man zum Beispiel den »Jungprofis« Demut, die für »Respekt«, »Anstand«, »Ehrlichkeit« und »Bescheidenheit« steht. Demut bedeutet deshalb auch »Respektvoll zu sein: Gegenüber allen Menschen, egal welchen Alters, welcher Herkunft, Bildung und sozialer Stellung. Vor allem aber auch vor der eigenen Bedeutung. Wir sind alle nur Bestandteil einer großen Geschichte, das sollte jedem bewusst sein, egal wer er ist.« 22

Auf diese Weise ist die Demut auch im Fußball der »Schlüssel des Erfolgs« 23. Ähnlich wie in der Politik zeigt man sich dann trotz eines Sieges demütig 24, fordert Demut von den Spielern 25 ein, erhält bei Niederlagen eine »Lektion in Demut« 26 oder schaut demütig auf die Tabelle und das nächste Spiel, wobei Demut ein Wort ist, »das für alle gilt«. 27

22

Matthias Sammer im Interview: »Die Verletzung hat mich demütiger gemacht«. https://www.spiegel.de/panorama/dfb-sportdirektor-matthias-sammer-zumthema-demut-a-829465.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 23 Vgl. Stold, Till-Reimer: Demut – der Schlüssel zu Klopps Erfolg. https://www. welt.de/regionales/nrw/plus205169755/Christliche-Tugenden-Demut-derSchluessel-zu-Klopps-Erfolg.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 2020]. 24 Vgl. Felber, Jan: Lilien- Demut im Angesicht des Erfolgs. https://www.echoonline.de/sport/fussball/darmstadt98/liliendemut-im-angesicht-des-erfolgs_213 42460 [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 25 Vgl. Jörg Ahrens im Interview: Inter Türkspor Kiel: Jörg Ahrens fordert Demut und Leidenschaft. https://www.sportbuzzer.de/artikel/inter-turkspor-kiel-jorgahrens-fordert-demut-und-leidenschaft/. [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 26 Loer, Christian: Kommentar zum 1:4 gegen Bayern. Lektion in Demut für den 1. FC Köln. https://www.ksta.de/sport/1-fc-koeln/kommentar-zum-1-4-gegenbayern-lektion-in-demut-fuer-den-1-fc-koeln-36249420 [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 27 Vgl. Michel, Christopher: Kocak: »Demut ist ein Wort, das für alle gilt«. https:// fussball.news/artikel/kocak-demut-ist-ein-wort-das-fuer-alle-gilt/ [22. 06. 20]; Nordkurier/O. A.: Hansas Unglücksrabe Nils Butzen fordert Demut. https://www. nordkurier.de/sportnachrichten/hansas-ungluecksrabe-nils-butzen-fordert-de mut-0438619803.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]; Hommers, Helge: Werder übt sich in Demut. https://www.butenunbinnen.de/sport/werder-frank furt-bundesliga-nachholspiel-100.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]; Hell-

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Der Trend zur Demut

Mit der Corona-Pandemie durchzog, wie es heißt, »eine Welle der Demut das Land«, von der auch der Sport als Wirtschaftsbranche erfasst wurde. 28 Die Demut wird hier zum Schlagwort für Bescheidenheit und ein Maß, das der Sport als Wirtschaftsfaktor mit Milliardengewinnen verloren habe und im Angesicht der prekären Weltlage zurückgewinnen müsse. So sagt man dem »höchsten Repräsentanten des deutschen Profifußballs« nach, dass, als er in der Krise vor die Öffentlichkeit trat, aus »seiner Demut« auch die »Furcht« der Fußballliga sprach. 29 Der Fußball entdecke in diesem Zug eine »neue Demut« 30, habe sie nötig 31 oder »lebt« eine »demütige Haltung« 32, zum Beispiel mit Blick auf die Diskussion um Gehaltsobergrenzen 33, die mit dem Schlagwort »Demut« und dem Verweis auf mangelnde Nachhaltigkeit gefordert werden. 34 Auf einer »Gratwanderung des Fußballs zwimann, Frank: Nationalmannschaft: Die neue Demut. https://www.fr.de/sport/ fussball/neue-demut-12990077.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]. 28 Vgl. Nägele, Frank: Die neuen Milliarden bedeuten das Ende der Demut im Fußball. https://www.ksta.de/sport/fussball/kommentar-die-neuen-milliarden-bedeu ten-das-ende-der-demut-im-fussball-36819864 [zuletzt abgerufen am 22. 06.20]. 29 Vgl. Franzke, Rainer: Seiferts Demut spricht für die Furcht der Liga. https:// www.kicker.de/774380/artikel [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 30 Vgl. Harms, Carsten: Die neue Demut des Profifußballs. https://www.abend blatt.de/meinung/article228975907/Die-neue-Demut-des-Profifussballs.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 31 Vgl. Maier, Josef: Der Profifußball hat Demut und Vernunft bitter nötig. https:// www.onetz.de/sport/kommentar-profifussball-hat-demut-vernunft-bitter-noetigid3020317.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 32 Vgl. Rehberg, Reinhard: Die Demut steht dem Deutschen Fußball gut zu Gesicht. https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/blogs/rehberg/rehberg-die-demutsteht-dem-deutsche-fussball-gut-zu-gesicht_21767671 [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 33 Vgl. Selldorf, Philipp: Der Fußball entdeckt die Demut. https://www.sued deutsche.de/sport/bundesliga-coronavirus-dfl-1.4892394 [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 34 Vgl. Muth, Carsten: Gehälter begrenzen, Rücklagen bilden – und Demut zeigen. https://www.hz.de/sport/sport-ueberregional/fussball-bundesliga-gehaelter-be grenzen_-ruecklagen-bilden-_-und-demut-zeigen-45803329.html [zuletzt abgerufen am 22. 06]; Lutz Pfannenstiel im Interview: Mehr Nachhaltigkeit, mehr Demut. https://www.heimatsport.de/fussball/profis/bundesliga/3681112_MehrNachhaltigkeit-mehr-Demut-Lutz-Pfannenstiel-hat-eine-klare-Vorstellung-vom-

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schen Demut und Geld« habe die Demut, zumindest für kurze Zeit, die »vielen großen G’s« wie »Geld, Gier, Gewinnmaximierung und Gasgeben« abgelöst. 35 Die durch die Pandemie ausgelöste Krise hat aber auch über den Sport hinaus die Demut in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gerückt. Das Virus ist für den Menschen als »Lehrstück in Sachen Demut« 36 ausgerufen, die nun dringend gefordert sei: »Sich demütig der Realität, der Natur, unterzuordnen, bedeutet, eine Bedrohung als Lebensrisiko zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Dazu gehört, bescheiden seine Grenzen anzuerkennen, um innerhalb dieser frei leben zu können.« 37 Auch in einer Leserumfrage zum Umgang mit der Krankheit heißt es: »Manche spüren Demut: ›Wir vergessen, dass die Natur stärker ist als der Mensch und wir uns unterordnen beziehungsweise anpassen müssen‹.« 38 Die Demut steht auch im unmittelbaren Zusammenhang mit einem neuen Lebensstil, den die Krise hervorbringen könnte, mit einer Zeit »nach der Krankheit«. 39 Im kuenftigen-Profifussball.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]; Bauschert, Uwe: Etwas mehr Demut bitte! https://www.siegener-zeitung.de/siegen/c-sport/etwasmehr-demut-bitte_a198937 [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 35 Vgl. Beck, Oskar: Die Gratwanderung des Fußballs zwischen Demut und Geld. https://www.welt.de/sport/article207701559/FC-Bayern-Co-Gratwanderungdes-Fussball-zwischen-Demut-und-Geld.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 36 Vgl. Schwennicke, Christoph: Ein Lehrstück in Sachen Demut. https://www. cicero.de/innenpolitik/corona-herrschaft-lehrstueck-demut/plus [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]; Haerder, Max: Im Zweifel für die Demut https://www. wiwo.de/my/politik/deutschland/corona-stillstand-im-zweifel-fuer-die-demut/ 25684600.html?ticket=ST-325632-p3DaSI3rjTlg4iVvGQtf-ap3 [zuletzt abgerufen am 23. 06. 20]. 37 Ritter, Christoph von: Warum wir jetzt Demut brauchen. https://www.dietagespost.de/leben/glauben-wissen/Warum-wir-jetzt-Demut-brauchen;art488 6,207643 [zuletzt abgerufen 22. 06. 20]. 38 Benninghoff, Martin et. al.: Angst, Unruhe, Wut – und Demut. https://www. faz.net/aktuell/deutschland-spricht/leseraktion-deutschland-spricht-angstunruhe-wut-und-demut-16767586.html [zuletzt abgerufen am 23. 06. 20]. 39 Vgl. Großbongardt, Annette: Die Demut danach. https://www.spiegel.de/ panorama/gesellschaft/corona-und-die-folgen-die-demut-danach-a-b32df27ac0a5-4c11-b085-02aa61f4b981 [zuletzt abgerufen 22. 06. 20]; Martenstein, Harald: Im günstigsten Fall haben wir etwas Demut gelernt. https://www.tagesspiegel.

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Der Trend zur Demut

politischen Jargon warnt man jedoch vor dem Übermut, der über die Gesellschaft bei vorschneller Euphorie angesichts wünschenswerter Entwicklungen im Kampf gegen die Krankheit kommen könnte, sodass die Demut auch im Zusammenhang mit gegenseitiger Rücksichtnahme steht, wobei, wie es heißt, die Krise helfen soll, die Demut und die Gemeinschaft zu stärken. 40 Nach diesem schlagwortartigen Panorama aus der Medienlandschaft wird mindestens zweierlei ersichtlich. Die Demut fungiert erstens gegenwärtig als ein »Modewort«, was schon seit längerem und mitunter kritisch in den Medien Aufmerksamkeit fand. 41 Über die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche hinaus ist die Demut salonfähig geworden, wenn es zum Beispiel gilt, in seiner Position die Bescheidenheit und das Maß zu wahren oder zurückzugewinnen. Zweitens wird damit auch deutlich, dass das Christentum als Urheber dieser Haltung die Demut schon längst nicht mehr als religiöse Tugend für sich behaupten kann. Öffentlichkeitswirksame Forderungen nach Demut sind von Seiten der Kirche sogar vergleichsweise selten zu hören. Die Demut de/politik/osterfest-in-der-coronakrise-im-guenstigsten-fall-haben-wir-etwasdemut-gelernt/25735010.html [zuletzt abgerufen am 22. 06. 20]. 40 Vgl. Birnbaum, Robert: Demut statt Übermut. https://www.tagesspiegel.de/ politik/gute-zahlen-schlechte-zahlen-demut-statt-uebermut/25751142.html [zuletzt abgerufen am 23. 06. 20]; Fünffinger, Anita: Schäuble im BR-Interview. Corona als Stresstest für Demokratie. https://www.br.de/nachrichten/deutschlandwelt/schaeuble-mit-geduld-und-demut-durch-die-corona-pandemie,Rx62r5I [zuletzt abgerufen am 23. 06. 20]. 41 Vgl. dazu die folgenden Kommentare und Interviews: Gumbrecht, Hans Ulrich: Demut im Trend! https://blogs.faz.net/digital/2013/10/11/demut-imtrend-383/ [zuletzt abgerufen am 29. 12. 20]; Rönne, Ronja v.: Über Modebegriffe. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/44/markus-soeder-demut-gesell schaftskritik [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]; Lucke, Albrecht v.: Kampfbegriff Demut. https://taz.de/Debatte-Demut-in-der-Politik/!5170759/. [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]; Gauß, Karl-Markus: Demut. https://www.sueddeutsche. de/politik/gastkommentar-demut-1.3860751 [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]; Menke, Birger: Wiederkehr der Demut: Ergebt euch! https://www.spiegel.de/ panorama/gesellschaft/demut-die-wiederkehr-der-werte-a-829604.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20]; Wolfgang Thierse im Interview: »Wer demütig ist, spricht nicht darüber«. https://www.spiegel.de/panorama/wolfgang-thierse-zumthema-demut-a-829463.html [zuletzt abgerufen am 06. 03. 20].

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hat ihre Rolle, so muss man vermuten, im Rahmen eines ausschließlich religiösen Weltbildes eingebüßt und kehrt dagegen als ein weltliches und vor allem sprachliches Mittel in den Wortschatz der Öffentlichkeit zurück. Ihr Wert ist als Haltung nicht mehr von rein religiöser, sondern von vordergründig instrumenteller Natur, wie es sich in den Verwendungsweisen dieses Begriffes in Wirtschaft, Sport und Politik niederschlägt. Wer sich dort demütig zeigt, der bekennt sich zu einem Handeln, das sich als bescheiden, maßvoll, respektvoll oder nachhaltig erweisen soll. Eine Aufgabe der Philosophie besteht in der Begriffsarbeit, durch die man sich Rechenschaft darüber ablegt, was der Fall ist oder was man gelten lassen muss. 42 Wer sich als Mensch in seiner Umgebung zurechtfinden will, bedarf eines Wissens darüber, was ihm widerfährt, um ein entsprechendes Handeln und Sprechen im und über das Leben gewährleisten zu können. Das zunehmend gängiger werdende Postulat der Demut, das vor allem in der medialen Öffentlichkeit hörbar ist, ist gerade deshalb auch für philosophische Überlegungen anregend, um ein Verständnis für diesen verschwommenen Begriff und das ihm zugrundeliegende Phänomen zu gewinnen, sodass eine Verortung dieser Haltung in der Lebenserfahrung des Menschen gelingen kann. Die hier vorgenommenen philosophischen Annäherungen an die Demut sollen dafür in Ansätzen eine Theorie begründen, die nicht auf einen religiösen Hintergrund in ihren Begründungen angewiesen ist, aber sich trotzdem dieser unhintergehbaren kulturellen Verhaftung gewahr bleibt. Das philosophische Arbeiten kann das vermehrte Vorkommen des Begriffes »Demut« in der Öffentlichkeit als Anstoß zur Besinnung wahrnehmen, aber ebenfalls die hier nur angerissenen Stimmen aus den Medien in den konkreten Analysen hinter sich lassen, um jenseits von hinter-

42

Ich berufe mich im weitesten Sinne auf das Philosophieverständnis von Hermann Schmitz, das im Verlauf der Arbeit zur Entfaltung kommt (II.4.2.2). Vgl. dafür z. B. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 4. Auflage. Freiburg 2014. S. 11 f.; Schmitz, Hermann: Wozu philosophieren? Freiburg/München 2018. S. 148.

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Der Trend zur Demut

gründigen politischen oder wirtschaftlichen Interessen danach zu fragen, was es mit dieser Haltung auf sich hat. Leitend sind dafür zwei Teile, welche die Überlegungen und ihren Fragehorizont strukturieren. Im ersten Teil (I.) ist es geboten, der philosophischen und theologischen Tragweite der Begriffstradition »Demut« nachzugehen. Diese Vergewisserung ist zwingend notwendig. Weil wir als Menschen mit einer Kultur verwoben sind, die eine Geschichte mit einer entsprechenden Tradition vorzuweisen hat, ist auch unsere Sprache als Medium der Welterschließung wesentlich vorgeprägt. Die Explikation dieser kulturellen und sprachlichen Prägungen des Verständnisses von Demut geschieht auf zwei Weisen. Nach kurzen Bemerkungen zum sprachgeschichtlichen Hintergrund des Begriffes »Demut« (I.1) wird zunächst die philosophische Kritik an dieser Haltung eine Betrachtung finden (I.2). Es mag verwundern, dass entgegen des oben angerissenen Medienechos viele philosophische Stimmen der Neuzeit der Demut mit oftmals massiver Kritik begegneten. Das Vorverständnis der Demut ist aber nicht nur durch dieses Unbehagen ausgezeichnet, sondern vielmehr durch die zuvor einflussreiche und jahrtausendealte christliche Tradition mitbestimmt. Nicht aus theologischer Perspektive, sondern mit philosophischen Absichten mögen deshalb einige christliche Bestimmungen der Demut in chronologischer Reihenfolge herausgearbeitet und der philosophischen Kritik abschließend gegenübergestellt sein (I.3). Der Ertrag dieser Analysen (I.3.9) verweist sowohl auf die Gefahren dieser Haltung als auch auf ihr Potential, was in beiderlei Hinsicht einen Anlass für den zweiten Teil (II.) liefert. Dieser umfasst die eigentliche philosophische Erfassung der Demut und erarbeitet in diesem Zuge eine Begriffsbestimmung. Dafür ist es nötig, die Quellen der Demut weitestgehend unbefangen zu beleuchten, also ohne zwanghaft auf ihren ursprünglich religiösen Kontext oder die Bestätigung der philosophischen Kritik zu pochen. Die Quellen fangen exemplarisch die Umstände und Beweggründe ein, welche die Betroffenen dazu bewegen, sich demütig zu zeigen. Ausgangspunkt ist dafür die oft vernachlässigte Dimension der Lebenserfahrung (II.4.1, II.4.1.1), bei der einer 23 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Der Trend zur Demut

Person etwas spürbar so widerfährt, dass sie sich demütig zeigen muss, was durch phänomenologische Analysen und Begriffe erklärbar ist (II.4.1.2, II.4.1.3). Eine weitere Quelle für die Demut liegt in der Besinnung (II.4.2) als eine Selbstverortung der Person, die sich schon im Christentum als eine Form der Selbsterkenntnis in der Tradition des delphischen »Erkenne dich selbst« aufspüren lässt (II.4.2.1), aber sich auch für nicht-religiöse Zwecke als anschlussfähig erweist (II.4.2.2). Ein lehrreiches Beispiel dafür, wie dieser Erkenntnisprozess bestenfalls nicht voranzutreiben ist, bieten die Tagebücher Ludwig Wittgensteins (II.4.2.3). Die daraus gezogenen Lehren machen es notwendig, dass die Demut mit einem Selbstwert in der Person vereint wird (II.4.3), um auch das philosophische Unbehagen aus dem ersten Teil zu entkräften. Dann wird die Demut nicht wie nach dem traditionellen Verständnis als Tugend, sondern als eine Haltung in der Fassung der Person ausgezeichnet (II.4.4). 43 Erst mit dem zusammenfassenden Abschluss der theoretischen Grundlegung kann dann die Frage, was die Demut per Definition ist, zu einer Antwort kommen (II.4.5). Die konkreten Bezüge der Demut ergeben sich aus den darauffolgenden Arten (II.5), die über das vormals religiöse Verständnis hinaus erarbeitet werden. Der Ausgangspunkt in der Lebenserfahrung und die Berücksichtigung des Zeitgeschehens sind hier leitend, wenn auch ansatzweise kulturkritische Überlegungen einfließen. Über die Gottesdemut hinaus (II.5.1) werden Möglichkeiten und Gründe für das »Demütigsein« in der Moderne reflektiert. Das Ideal (II.5.2) und das Unverfügbare (II.5.3) lassen wohl noch am ehesten den vormals religiösen Ursprung der Demut erahnen, sind aber auch ganz ohne ein solches Verständnis erschließbar. Denn nicht nur im Kontext der unverfügbaren Krankheit (II.5.3.1), sondern auch als ein Gegengewicht im Bestreben der Weltbemächtigung (II.5.4) erhält die Demut ihre Relevanz in den Krisen der Gegenwart. Darunter fällt auch der Anspruch der Demut, den sie im Miteinander verwirklichen könnte, wofür vor 43

Ich bezeichne die Demut im Folgenden nur dann als eine Tugend, wenn es die dabei vorgestellten oder diskutierten Autoren tun.

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Der Trend zur Demut

allem der gegenwärtige sozialpolitische Umgang eine zugespitzte Problematisierung findet (II.5.5). Es mag in den Analysen beinahe ironisch erscheinen, dass das Werk eines akribischen Kritikers der christlichen Demut, Hermann Schmitz’, des Begründers der Neuen Phänomenologie, immer wieder eine Grundlage für die hier vorgetragenen Überlegungen bildet. Schmitz’ phänomenologisches Begriffsvokabular ist an vielen Stellen tragend, weil ich mir erhoffe, gerade auf dem Fundament seiner Analysen der Lebenserfahrung so nahe zu kommen, dass darauf aufbauend nachvollziehbar wird, wie sehr die Demut eine Grundkonstante in der menschlichen Selbstverortung darstellen kann und schließlich auch sollte. Eine Voraussetzung ist dafür stets, dass sie nicht einseitig als Haltung in den Dienst einer »instrumentellen Vernunft« 44 in Wirtschaft und Politik gestellt wird und keine Beschränkung auf ihre religiöse Dimension erfährt.

44

Vgl. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main 2007; Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Übers. v. Joachim Schulte. 8. Auflage. Frankfurt am Main 2014. S. 11.

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I. Teil: Die Demut in christlicher und philosophischer Tradition

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I.1 Zum Begriff »Demut«

Um das traditionelle Verständnis der Demut zu erschließen, bedarf es zunächst einer Annäherung, die ihren Bedeutungshorizont in sprachlicher Hinsicht aufzeigt. Dieses Vorgehen ist auch nötig, um sicherzustellen, dass, wenn über die verschiedenen europäischen Kulturepochen hinweg von »Demut« die Rede ist, auf dieselbe Begriffstradition zurückgegriffen wird. Im europäischen Sprachraum geht die Demut auf das altgriechische Adjektiv ταπεινός zurück, das so viel wie »niedrig«, »gering«, »ärmlich« oder »unterwürfig« bedeutet und schließlich auch als »demütig« übersetzt werden kann. 1 Das Wort ταπεινός bildet den späteren Kern der ταπεινοφροσύνη, der Demut, die in substantivierter Form der Antike lange nicht vertraut war und erst mit den Paulusbriefen in Erscheinung trat. 2 Das altgriechische ταπεινός war in der nicht-christlichen Antike größtenteils mit einer negativen Konnotation versehen und wurde fast ausschließlich im abwertenden Sinn gebraucht, sodass Albrecht Dihle zu dem Schluss kommt, dass die Demut als erstrebenswerte Tugend in der antiken Ethik grundsätzlich keinen Platz hatte. 3 Die Zu1

Vgl. für die Verwendungsweisen des Adjektivs »ταπεινός« im Altgriechischen: Rehrl, Stefan: Das Problem der Demut in der profan-griechischen Literatur im Vergleich zu Septuaginta und Neuem Testament. Münster 1961. S. 26 ff. 2 Vgl. Thieme, Karl: Die christliche Demut. Eine historische Untersuchung zur theologischen Ethik. Erste Hälfte: Wortgeschichte und Demut bei Jesus. Gieszen 1906. S. 14; Schaffner, Otto: Christliche Demut. Des Hl. Augustinus Lehre von der Humilitas. Würzburg 1959. S. 39; Becker, Eva-Marie: Der Begriff der Demut bei Paulus. Tübingen 2015. S. 34. 3 Vgl. Dihle, Albrecht: Antike Höflichkeit und christliche Demut. In: Ders.: Ausgewählte kleine Schriften zu Antike und Christentum. Münster 2013. S. 1–14,

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Zum Begriff »Demut«

sammenhänge sind verwoben, inwiefern die Demut nach christlicher Ausdeutung der griechischen Antike als eine bewusst angestrebte Lebensform unbekannt war und welche Rolle dabei das Verhältnis zwischen den Griechen des Altertums 4, dem Neuen Testament und den frühen Christen spielte, was hier im sprachgeschichtlichen Sinne keine weitere Berücksichtigung finden kann. 5 In der lateinischen Sprache gibt die humilitas die »Niedrigkeit«, »Armut«, »Ohnmacht«, »Niedergeschlagenheit« oder auch »Demut« wieder, die auch von einer niederen Abkunft zeugte und deshalb ihren ablehnenden Bedeutungsgehalt auch in der römischen Antike bewahrte. Die humilitas ist gebildet aus dem Adjektiv humilis, das wegen seiner Verwandtschaft zu humus, dem Erdboden, etwas bezeichnet, das am Boden kriecht. 6 Die Demut hier 11; Dihle, A.: Demut. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 3. Stuttgart 1957. S. 735–778, hier 741 f. 4 Hervorzuheben ist hier zum Beispiel die Stoa – speziell Epiktet – und deren Verhältnis zum Christentum. Vgl. dafür z. B. a. bezüglich der Demut: Bonhöffer, Adolf: Epiktet und das Neue Testament. Gießen 1911. S. 15, 65, 355 f., 373 f. Ich werde im Folgenden an einigen wenigen Stellen und nur am Rande auf Äußerungen Epiktets verweisen, um einige Ähnlichkeiten zur christlichen Demut aufzuzeigen, was aber nicht direkte Beziehungen aus einer ideengeschichtlichen Perspektive beweisen soll. 5 Eine umfassende Untersuchung zum Statusverzicht mit Bezügen zur Demut, die von der paganen Antike über die jüdische Antike bis zum Neuen Testament und dem Urchristentum reicht, lautet: Guttenberger Ortwein, Gudrun: Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt. Freiburg et al. 1999. Für den Zusammenhang zwischen Antike und Neuem Testament vgl. a.: Rehrl: Das Problem der Demut in der profan-griechischen Literatur im Vergleich zu Septuaginta und Neuem Testament. A. a. O. Siehe für die Demut im frühen Christentum: Mühlenberg, Ekkehard: Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen. Göttingen 2006. S. 120–151; Unnik, Willem Cornelis v.: Zur Bedeutung von Ταπεινοῦν τὴν ψυχήν bei den Apostolischen Vätern. In: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft. Bd. 44. Heft 1 (1953). S. 250–255. 6 Vgl. Melzer, Friso: Entstehung und Wirksamkeit des christozentrischen Wortschatzes im Deutschen dargelegt an dem Wort Demut. In: Sprache und Sprachverständnis in religiöser Rede. Zum Verhältnis von Theologie und Linguistik. Hrsg. v. Thomas Michels u. Ansgar Paus. Salzburg/München 1973. S. 203–210, hier 205.

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Zum Begriff »Demut«

bezeichnet auf diese Weise auch nach ihrem bildlichen Wortsinn eine niedere Position, über die Höherstehende ungeachtet hinweggehen. Das Wort »Demut« ist grundsätzlich deutscher Herkunft, denn anderen germanischen Sprachen ist es unbekannt. 7 An der Verbreitung und der Vertrautheit dieses Wortes ist die reformatorische Bibelübersetzung Martin Luthers maßgeblich mitbeteiligt, der für die Übersetzung von ταπεινοφροσύνη und humilitas den Begriff »Demut« wählte und somit auf die deutsche Sprachbildung grundsätzlich einwirkte. 8 Das Grimmsche Wörterbuch verrät, dass die Demut auf das althochdeutsche deomuotî oder auch diomuoti 9 zurückgeht, das dort die »Gesinnung eines Knechtes« oder eine Haltung der »Unterwürfigkeit« meint. 10 Sie ist nach diesem Verständnis eine dem »Hochmut und der Selbstüberhebung entgegenstehende Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, eine Unterwürfigkeit unter Gottes Willen«. 11 Das althochdeutsche Wort diomuoti setzt sich zum einen aus dio-, das man heute im »dienen« wiederfindet, und zum anderen aus »muot« zusammen, das in »Mut«, »Gemüt« oder dem »Mutwillen« nachwirkt. 12 Die Demut war nach diesem Verständnis eine Haltung des Dienens und bezog sich primär auf die körperliche Arbeit eines Gefangenen, Unterworfenen oder Unfreien für einen »Herren«, weshalb sie auch als »Knechtgesinnung« verstanden worden ist. 13 Der Zwang zur körperlichen Arbeit und deren Abwertung, welche schon die Antike prägte, bilden somit einen Hintergrund des Wortes. 14 7

Vgl. Melzer: Entstehung und Wirksamkeit des christozentrischen Wortschatzes im Deutschen dargelegt an dem Wort Demut. A. a. O. S. 204. 8 Vgl. Becker: Der Begriff der Demut bei Paulus. A. a. O. S. 33 f. 9 Vgl. Demut. In: Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 25. Auflage. Berlin/Boston 2011. S. 189. 10 Vgl. Demut. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 2. Leipzig 1854–1961. Sp. 920. 11 Ebd. 12 Vgl. Melzer: Entstehung und Wirksamkeit des christozentrischen Wortschatzes im Deutschen dargelegt an dem Wort Demut. A. a. O. S. 204. 13 Vgl. Melzer: Entstehung und Wirksamkeit des christozentrischen Wortschatzes im Deutschen dargelegt an dem Wort Demut. A. a. O. S. 205. 14 Vgl. ebd.

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Zum Begriff »Demut«

Der Begriff »Demut« blickt rein nach seiner Wortbedeutung und Wortherkunft auf eine lange Tradition zurück, die diese Haltung epochenübergeifend mit einem Verständnis von Knechtschaft und Unterwürfigkeit belegte. Das mag ansatzweise erklären, warum die Demut auch in der Neuzeit kaum auf Resonanz gestoßen ist. Der sich aus dem Althochdeutschen ergebende »Dienmut« 15 oder »Mut zum Dienen« ist einem Misstrauen und einer Ablehnung gegenüber jeglicher Art von Unterordnung gewichen, wofür nicht zuletzt auch die katastrophalen Erfahrungen unter den Diktaturen des 20. Jahrhunderts gesorgt haben werden. Umso überraschender muss es sein, dass, wie einleitend gezeigt, die Demut gegenwärtig wieder einen Platz als Modewort in der Öffentlichkeit gefunden hat. Vor ihrem sprachgeschichtlichen Hintergrund bezeichnet die »Demut« oftmals eine Haltung, die am »Boden« beziehungsweise »ganz unten« ansetzt und im Zusammenspiel mit dem Verdacht von Unterwürfigkeit, Kleinheit und Knechtschaft die niedrigste, wenn nicht sogar unbedeutendste Stellung eines Menschen meinen kann. Aus Sicht der Philosophen verstärkt sich das sprachlich bedingte Unbehagen an der Demut durch ihre Einbettung in ein christliches Weltbild, das diesen Begriff aus europäischer Perspektive am nachhaltigsten geprägt hat. Auf den Spuren der christlichen Demut ist diesen kritischen Vorbehalten nun nachzugehen.

15

Vgl. Demut. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. A. a. O. Sp. 920.

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I.2 Das Unbehagen an der christlichen Demut

Ausgehend von der negativen Konnotation des Begriffes »Demut« ist aus philosophischer Perspektive danach zu fragen, worin diese Abwertung begründet ist. Dazu mögen drei grundsätzliche Punkte des Unbehagens an der Demut nacheinander vorgestellt sein, die zusammenfassend in die Kritik der christlichen Moral aus der Feder Friedrich Nietzsches münden. Zwar könnten Nietzsches Vorbehalte auch schon in den vorherigen Abschnitten auftauchen, aber da seine Kritik am Christentum aus moralischer Perspektive für die europäische Geistesgeschichte am einflussreichsten war, soll sein Unbehagen an der Demut abschließend als exemplarisch gelten. Es mag daneben noch einen anderen, hier nicht weiter verfolgten Grund für die Zurückhaltung der Philosophen hinsichtlich der Demut geben. Ausschlaggebend ist dafür nicht die Bewertung des Christentums, sondern vielmehr das eigene philosophische Selbstverständnis. Denn wer sich als Philosoph den großen Fragen nach der Wahrheit, nach der Möglichkeit von Erkenntnis oder nach dem guten Leben stellt und dabei geltend macht, eine Antwort gefunden zu haben, wird sich mit der Haltung der Demut schwertun müssen oder sie nur am Rande für sich beanspruchen können. I.2.1 Demut als Grundlage für Ohnmacht und Knechtschaft Für Max Stirner setzt mit der Demut, wie er in seinem Werk der »Einzige und sein Eigentum« (1844) ausführt, ein moralischer Einfluss ein, der das Selbstwertstreben des Menschen grundsätzlich hemmt: »Der moralische Einfluß nimmt da seinen Anfang, wo 33 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Das Unbehagen an der christlichen Demut

die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab.« 1 Bei Stirner kommt die Demut genau dann zur Wirkung, wenn der Mut durch die Demütigung gebrochen wird und damit das Streben des Individuums eine Beschränkung oder eine gänzliche Unterdrückung erfährt. Ob es sich um die Verehrung der Eltern, das Respektieren des Kruzifixes oder um den Anspruch handelt, stets die Wahrheit zu sagen, 2 immer erkennt die Person eine Instanz über sich an, die sie als moralisch bedeutender und würdiger versteht als die Durchsetzung der eigenen Interessen. Der moralische Einfluss der Demut tritt im Leben einer Person zutage, wenn sie einer solchen Instanz habituell den Vortritt lässt. Stirner führt diese als Selbsterniedrigung verstandene Herabsetzung des Eigenwertes auf eine Legitimierung durch den »Willen Gottes« oder auf eine äquivalente weltliche Autorität zurück: »[E]in Mensch soll sich da beugen vor dem Beruf des Menschen, soll folgsam sein, demütig werden, soll seinen Willen aufgeben gegen einen fremden, der als Regel und Gesetz aufgestellt wird; er soll sich erniedrigen vor einem Höheren: Selbsterniedrigung.« 3

Stirner versteht die Demut als eine Bereitschaft zur Vernachlässigung des Eigenwillens und zur Verneinung des Selbst, um einer höherstehenden Instanz in Gestalt eines Gesetzes oder eines Gottes bedingungslos zu folgen. Es handelt sich nach diesem Verständnis um eine Selbsterniedrigung, die aus freien Stücken, aus dem Glauben an etwas »Höheres« vorgenommen wird. Für Stirner »spukt« die ganze »Gespensterschaft der christlichen Tugenden« auf der Grundlage eines Glaubens, der etwas »außer sich« für größer, mächtiger oder berechtigter hält und diese »fremde Macht« in Gestalt eines Gottes anerkennt. 4 Dabei fürchtet der Gläubige nicht nur das ihn Übersteigende, sondern er verehrt es auch zugleich, sodass das »Gefürchtete« zu einer »innerlichen Macht« wird, von der man vollständig eingenommen ist 1 2 3 4

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart 2016. S. 88. Vgl. ebd. Ebd. Stirner spielt hier auf Mt 23,12 an. Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 77 f.

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Demut als Grundlage für Ohnmacht und Knechtschaft

und so unter deren Gewalt steht. 5 Stirner beobachtet dieses Verhalten nicht nur in Bezug auf eine religiöse Praxis, sondern er weitet seine Kritik auch auf die weltliche »Heiligkeit des Staates« aus, dessen Untertanen zugunsten der Herrschaft nicht weniger demütig sein müssen. 6 Die Selbstverleugnung und das Aufgeben des eigenen Machteinflusses bestärkt im Umkehrschluss die Herrschaft einer Autorität, vor der man sich klein macht: »Sie [die Gesellschaft; J. P.] besteht durch meine Resignation, meine Selbstverleugnung, meine Mutlosigkeit, genannt – Demut. Meine Demut macht ihr Mut, meine Unterwürfigkeit gibt ihr Herrschaft.« 7 Die Demut ist demnach als eine vom grundsätzlichen Streben des Eigenwillens absehende Ergebenheit zu begreifen, die gleichzeitig die Bedingung der Herrschaft über den Demütigen ist. Die passive Haltung spielt den Mächtigeren in die Hände, die sich das unterwürfige Verhalten ihrer Untertanen zunutze machen: »Deine Ohnmacht ist ihre Macht, deine Demut ihre Hoheit. Ihre Wahrheit also bist Du oder ist das Nichts, welches Du für sie bist und in welches sie zerfließen, ihre Wahrhaftigkeit ist ihre Nichtigkeit.« 8 Was die demütige Nichtigkeit für den einen bedeutet, wird für den anderen zur Grundlage seiner Herrschaft und seines Einflusses, wie Stirner zum Beispiel auch an der Heiligenverehrung beobachtet. 9 Zwei Zeitgenossen Stirners, die ihm in vielerlei Hinsicht kritisch gegenüberstanden, begreifen den moralischen Einfluss der Demut auf ähnliche Weise und sehen ihn an konkreten historischen Entwicklungen verwirklicht. So heißt es bei Karl Marx: »Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen Weisheit verhängt. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfig5 6 7 8 9

Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 78. Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 264. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 344. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 398. Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 77.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

keit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel nötiger als sein Brot.« 10

Marx und mit ihm Friedrich Engels werfen der Demut und der christlichen Moral überhaupt vor, bis in die Gegenwart ungleiche soziale Verhältnisse und ein Selbstverständnis legitimiert zu haben, das in »feiger« Selbsterniedrigung einen Teil der Gesellschaft unterwürfig und klein hält. Demnach legitimiert die Demut den Zustand einer Gesellschaft durch das ihr anhaftende christliche Weltbild, auf dessen Grundlage der Gläubige zum Beispiel mit Blick auf die Erbsünde seinen Zustand nicht als ungerecht, sondern als notwendig versteht und deshalb auch alle Möglichkeiten des Widerstands ausräumt. Das bessere Leben erwartet den Gläubigen erst im Jenseits, auf das die Gläubigen in Geduld und Demut warten müssen, wie Lenin im Anschluss an Marx und Engels kritisch konstatiert: »Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn.« 11

Dagegen wird man im Rahmen des von Marx und Engels prognostizierten Klassenkampfes auf keine demütigen Zugeständnisse treffen können, die Demut sogar als »reaktionär« abtun müssen, weil sie die korrekturbedürftigen Verhältnisse rechtfertigen, aber nicht verbessern will. Nach diesem Verständnis ist die Demut eine implizite Forderung, seine Situation resignierend auszuhalten und die Verunmöglichung eines Bestrebens, sie nach den eigenen Interessen zu verändern. 10

Marx, Karl: Der Kommunismus des »Rheinischen Beobachter«. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 4. Berlin 1959. S. 191–203, hier 200. 11 Lenin, Wladimir Iljitsch: Sozialismus und Religion. In: Ders.: Über die Religion. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden. Berlin 1958. S. 6–11, hier 6.

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Demut als Grundlage für Ohnmacht und Knechtschaft

Jenseits der marxistischen Tradition versteht auch John Stuart Mill die Demut zwar nicht wörtlich, wohl aber die christliche Moral insgesamt als ein reaktionäres Unternehmen: »Die (sogenannte) christliche Moral trägt alle Zeichen der Reaktion […].« 12 Der einzig »ausdrücklich« anerkannte Wert des Christentums ist demnach lediglich der »Gehorsam«, während die anderen von der christlichen Moral absorbierten Werte aus griechischen und römischen Quellen stammen sollen. 13 Würde man laut Mill »Geist und Empfinden« einer Person ausschließlich im Sinne eines »religiösen Typus« ohne weltliche Maßstäbe formen wollen, bildete sich »nur« ein »niedriger«, »verwerflicher« und »kriecherischer Charaktertyp« aus, 14 also ein Charakter, den man auch durch die Demut verwirklicht sah (I.1). Mills Sorge hinsichtlich des von ihm unterstellten christlichen Weltbildes betrifft nicht wie bei Marx oder Lenin das Potential einer unterdrückten Klasse, sondern die Individualität und das selbstbestimmte Streben einer freien Person. Mill stellt sich dagegen, dass »alles Individuelle zur Einförmigkeit abflacht« – was im Fall des bedingungslosen Gehorsams geschehen müsste – und plädiert dafür, dass das Individuelle ausgebildet wird und seine Kräfte aufbietet. 15 Die Demut in Gestalt des christlichen Gehorsams ist damit ein Gegenspieler des Strebens ganzer Gesellschaftsgruppen wie auch des einzelnen Individuums. Ganz im Zeichen dieser durch das christliche Weltbild legitimierten Ohnmacht definiert auch Baruch de Spinoza die Demut (lat. humilitas) als Affekt: »Demut ist eine Trauer, die dem entsprungen ist, daß ein Mensch seine eigene Ohnmacht oder Schwäche betrachtet.« 16 Die Ohnmacht oder Machtlosigkeit der 12

Mill, John Stuart: Über die Freiheit. Übers. v. Bruno Lemke. Stuttgart 2018. S. 72. 13 Vgl. Mill: Über die Freiheit. A. a. O. S. 73. 14 Vgl. Mill: Über die Freiheit. A. a. O. S. 75. 15 Vgl. Mill: Über die Freiheit. A. a. O. S. 91. 16 Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Übers. u. hrsg. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 2007. Dritter Teil. Definition 26. Vgl. a. Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. A. a. O. Dritter Teil. Lehrsatz 55, Anmerkung.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

Demut ist der Wirkungsmacht des Selbstzufriedenen gegenübergestellt, der bei der Betrachtung seiner selbst entsprechend Freude empfindet. 17 Der Demut kann dagegen der »Kleinmut« entspringen, durch den eine Person in Trauer weniger von sich hält, als eigentlich Recht wäre. 18 Nach Spinoza nennt man diejenigen Menschen demütig, die oft rot werden vor Scham, die auf dem Eingestehen der eigenen Fehler beharren, die beständig von den Vorzügen anderer sprechen oder mit gesenktem Haupt allen anderen den Vortritt lassen. 19 Bei Spinoza findet die Demut keinen Platz unter den Tugenden, weil sie nicht der »wahren Vernunft« als »Einsicht« in die »eigene Essenz« oder »eigene Macht« entspringt und deshalb eine »bloße« Leidenschaft darstellt. 20 Der Demütige betrachtet seine Ohnmacht einzig mit Trauer, aber nicht so, dass er durch »wahre Reflexion« Einsicht darin bekommt, was diese Ohnmacht oder Hemmung der eigenen Wirkungsmacht hervorruft. 21 Das bedeutet umgekehrt, dass die Demut als Affekt eine »vernünftige Einsicht« in die eigentliche Wirkungsmacht einer Person nie leisten kann, weil sie über die Trauer im Angesicht der eigenen Ohnmacht nicht hinauskommt und somit auch das selbstwirksame Handeln blockiert. Es handelt sich für Spinoza um einen Affekt rein passiver Natur, der den Betroffenen in seinem Zustand verweilen lässt und nicht zum Handeln oder praktischen Erkennen zugunsten einer Verbesserung der eigenen Lage antreibt. Ähnlich wie Spinoza bestimmt auch David Hume die Niedergedrücktheit (engl. humility) als Affekt, den er dem Stolz gegenüberstellt. Beide Affekte haben das »eigene Selbst« zum Objekt, sind aber in der Art und Weise ihres Bezugs verschiedener Natur:

17

Vgl. ebd. Vgl. Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. A. a. O. Dritter Teil. Definition 28 u. Definition 29. 19 Vgl. Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. A. a. O. Dritter Teil. Definition 29. 20 Vgl. Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. A. a. O. Vierter Teil. Lehrsatz 53. 21 Vgl. ebd. 18

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Demut als Grundlage für Ohnmacht und Knechtschaft

»Je nachdem wir eine mehr oder minder günstige Vorstellung von uns selber haben, empfinden wir einen dieser entgegengesetzten Affekte d. h. wir werden von Stolz gehoben oder wir fühlen uns niedergedrückt.« 22

Hume betont entschieden, dass es unmöglich ist, dass diese beiden Affekte über die eigene Persönlichkeit und deren Tätigkeiten oder Gefühle hinausgehen können. 23 Im Mittelpunkt steht also nicht eine Instanz, vor der dieser Affekt verspürt wird und auf die er sich zentriert, sondern die Niedergedrücktheit lenkt die Aufmerksamkeit stets auf einen selbst und die eigene Beschaffenheit. Diese Selbstzentrierung ist schon in den Ursachen des Stolzes wie auch der »Niedergedrücktheit« angelegt. Bei ihnen handelt es sich nach Hume zum Beispiel um persönliche Eigenschaften wie den Verstand, die Gelehrsamkeit, den Mut, die Schönheit oder die Kraft, aber auch um die sozialen Verhältnisse in Bezug auf die Familie, die Kinder oder den Besitz. 24 Auffällig ist, wie sehr Hume im Gegensatz zu den bisherigen Philosophen die Demut von ihrem rein moralischen oder christlichen Kontext befreit und er sich deshalb seinem Untersuchungsgegenstand relativ unbefangen mit Blick auf die Lebenserfahrung nähert. Dieser Anspruch äußert sich durch die Wahl seiner Beispiele, die keinen spezifisch religiösen Kontext vorweisen: »Nichts schmeichelt unserer Eitelkeit mehr als die Gabe, durch Witz, gute Laune oder irgendeinen anderen Vorzug zu gefallen; nichts demütigt uns mehr als ein mißlungener Versuch dieser Art.« 25 Auch das oben angedeutete Spektrum der Ursachen von Niedergedrücktheit und Stolz verdeutlicht, dass es Hume auf ein breites Feld der Erfahrbarkeit dieser Affekte ankommt. Ihn interessiert nicht eine Niedergedrücktheit vor einem Gott, sondern die Rolle dieses Affekts in alltäglichen Situationen, die vielmehr konkrete Bezüge zu 22

Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur. Teilband 2. Buch II: Über die Affekte. Buch III: Über die Moral. Übers. v. Theodor Lipps. Hamburg 2013. S. 339 f. 23 Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 349. 24 Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 341. 25 Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 361.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

den Mitmenschen implizieren. Für ihn ist zum Beispiel jede Krankheit ein Gegenstand der Niedergedrücktheit, sobald die Betroffenen jede Hoffnung auf Genesung aufgeben, wie es Hume bei »alten Leuten« beobachtet, die durch ihr Alter und ihre Gebrechen eine Kränkung erfahren. 26 Schlussendlich findet Hume den Stolz und die Demut nicht nur beim Menschen, sondern auch im Tierreich vor, weshalb diese Affekte ihren moralischen Gehalt vollends einbüßen. So beobachtet er an der Haltung und Bewegung eines Schwans oder Pfaus ein hohes Selbstbewusstsein, das die Verachtung ihrer Artgenossen ausdrückt und damit der Niedergedrücktheit konträr gegenübersteht. 27 Aufgrund seines methodischen Vorgehens verdient es Hume nur bedingt, unter den Kritikern der Demut aufzutauchen. Seine moralische Bewertung der Affekte setzt erst dann ein, wenn er die »Niedergedrücktheit« grundsätzlich als unangenehme beziehungsweise »unlustvolle« Empfindung charakterisiert, während der Stolz im Gegenteil eine angenehme Erfahrung begünstigt. 28 Der Stolz wird als Eindruck durch das Bewusstsein von der eigenen Tugend oder der eigenen Macht geweckt und erfüllt eine Person mit Selbstzufriedenheit, während die Niedergedrücktheit durch Laster oder Untugend das Gegenteil bewirkt. 29 Im Umkehrschluss tritt die Demut damit als Affekt beim Betrachten der Abwesenheit der eigenen Tugend oder Macht auf. Die Demut aber einzig in den Kategorien des Lasters und der Untugend zu begreifen, kann nichts anderes bedeuten, als sie kategorisch abzuwerten, sodass auch Hume zu dem Schluss kommt, dass die Niedergedrücktheit grundlegend ein Gefühl der Knechtschaft bewirkt: »Wenn Reichtum Vergnügen und Stolz, Armut hingegen Unlust und Niedergedrücktheit hervorruft, so muß aus demselben Grunde Macht die ersteren, Knechtschaft die letzteren Gefühlsregungen erzeugen.« 30 Auch bei Hume ist der Mensch damit 26 27 28 29 30

Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 367. Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 392. Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 349, 352, 354. Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 361 f. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 380.

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Die demütige Verachtung des »Fleisches«

durch diese Knechtschaft dem Willen anderer unterworfen, was viele »Nöte« und »Kränkungen« bewirkt. 31 Seine Unterscheidung zwischen dem Stolz als Tugend und der Demut als Untugend formuliert Hume jedoch ebenfalls provokant mit Blick auf jene, »die an den Stil der Schulen und Kanzeln gewöhnt sind« und denen die Demut nach seinen Worten noch als eine Tugend vermittelt wurde. 32 Hume unterscheidet sich trotzdem von der bisher skizzierten Kritik an der Demut durch seinen methodischen Anspruch, die Affekte des Stolzes und der Niedergedrücktheit so zu untersuchen, »wie sie in sich selbst geartet sind«, ohne zunächst das ihnen »gut« oder »verwerflich« Anhaftende zu berücksichtigen. 33 Ein Vorhaben, die Demut in philosophischer Absicht begreifbar zu machen, muss sowohl diese Unbefangenheit bei der Bewertung dieser Haltung als auch die Offenheit für ihren Erfahrungsreichtum bewahren, der über ihre rein christliche Verortung hinausgeht. I.2.2 Die demütige Verachtung des »Fleisches« Heinrich Heine macht der christlichen Demut einen Vorwurf, der den Schwerpunkt dieser Haltung von der ohnmächtigen Unterwürfigkeit vor einer Autorität zur enthaltsamen Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse verlagert. Seine Kritik richtet sich, wie Heine sagt, gezielt an den »römischen Katholizismus«: »Ich spreche von jener Religion in deren ersten Dogmen eine Verdammnis alles Fleisches enthalten ist, und die dem Geiste nicht bloß eine Obermacht über das Fleisch zugesteht, sondern auch diesen abtöten will um den Geist zu verherrlichen […].« 34

Das katholische Christentum brachte laut Heine ein Verständnis von der Sünde in die Welt, das im Rahmen einer »Verdammnis 31

Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 380 f. Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 361. 33 Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 362. 34 Heine, Heinrich: Die Romantische Schule. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd. 3. Hrsg. v. Klaus Briegleb. 2. Auflage. München 1978. S. 357–504, hier 362. 32

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

des Fleisches« die »unschuldigsten Sinnenfreuden« als fehlerhaft herabwürdigte. 35 Die christlich-katholische Religion bildet somit, so Heine, im Verbund mit der »Lehre von der Verwerflichkeit aller irdischen Güter« und der Auferlegung der »Hundedemut« die »erprobteste Stütze des Despotismus«. 36 Die christlichen Kreise zeichnen sich deshalb auch durch eine »christliche Wurmdemut« aus, die mit einer »christlichen Zerknirschung« des »Leibes« einhergehen soll. 37 Heine unterstellt dem Katholizismus, ein menschliches Selbstverständnis befördert zu haben, nach dem jegliche Begierde oder »Sinnenfreude« als korrekturbedürftige und sündhafte Regung angesehen wird, weshalb ein Handeln aus diesen Bedürfnissen heraus einzuschränken oder gänzlich zu unterlassen ist. Die Unterdrückung des »Fleisches«, das ich als eine Sammelbezeichnung dieser »sündhaften« Regungen verstehe, nennt Heine in einem Zug mit der »Hundedemut«, die, weil sie sich wie ein »Wurm« vor einer Obrigkeit klein macht, der uneingeschränkten Herrschaft über sich einen Boden bereitet. Der Vorwurf, dass die Demut die Unterwürfigkeit vor einer Autorität bestärken könnte, ist bereits durch Stirner oder Marx bekannt (I.2.1). Worauf es hier ankommt, ist der Zusammenhang zwischen der Unterdrückung der Begierden als Macht über sich selbst und der damit in Verbindung stehenden Herrschaft einer dem Gläubigen »äußerlichen« Autorität. Die Gewalt über die eigenen Begierden geht zugleich mit einer freiwilligen Unterwerfung unter eine »äußerliche« Instanz einher, sodass umgekehrt die Herrschaft einer Autorität erst durch die eigene Selbstbeherrschung ermöglicht und gestützt wird. Auch Mill unterstellt als Kritiker des christlichen Gehorsams dem Calvinismus, auf ähnliche Weise die Verachtung des Eigenwillens und der eigenen »Natur« befördert zu haben. Für die calvinistische Lehre ist laut Mill der »selbsteigene Wille« die »Todsünde« des Menschen, womit die Annahme verbunden ist, dass die »menschliche Natur« von Grund auf verdorben und daher die Er35 36 37

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Heine: Die Romantische Schule. A. a. O. S. 405.

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Die demütige Verachtung des »Fleisches«

lösung erst durch deren »Abtötung« möglich ist. 38 Die christliche Moral suggeriert damit auch eine »Abscheu vor der Sinnlichkeit«, wodurch sie die Askese zu ihrem Ideal machte. 39 Dieses Ideals hat sich auch Stirner angenommen, der wie Heine dem Christentum vorwirft, dass es das »Fleisch« zugunsten der »Geistesfreiheit« unterdrückt. Dem angestrebten Ideal der »Freiheit des Geistes« steht das »Fleisch« gegenüber, das ein Christ als »leidenschaftlich«, »böswillig« oder »unanständig« abwertet, weil er »dahinter« glaubt, die Stimmen des Teufels zu vernehmen. 40 Dagegen beobachtet Stirner, wie die vom Christentum angestrebte »Herrschaft des Geistes« als »Anstand« und erstrebenswerte »Leidenschaftslosigkeit« zugunsten der »Wohlmeinung« verortet wird. 41 Die Gläubigen verfolgen dabei ein Gebot der »Reinheit«, das sich von der Herrschaft des Fleisches als unreiner Sünde lösen will. 42 Für Stirner hat das Christentum auf diese Weise versucht, den Menschen von seiner »Naturbestimmung« oder seiner »Bestimmung durch die Natur« zu erlösen, weil es fordert, sich von den entsprechenden »natürlichen« Begierden zu befreien. 43 Ein Opfer dieser Selbstverleugnung stellt Stirner anhand eines fiktiven Szenarios bildlich dar: »Da sitzt Mir gegenüber ein Mädchen, das vielleicht schon seit zehn Jahren seiner Seele blutige Opfer bringt. […] Armes Kind, wie oft mögen die Leidenschaften an Dein Herz geschlagen, und die reichen Jugendkräfte ihr Recht gefordert haben. Wenn Dein Haupt sich in die weichen Kissen wühlte, wie zuckte die erwachsene Natur durch Deine Glieder, spannte das Blut Deine Adern und gossen feurige Phantasien den Glanz deiner Wollust in Deine Augen. Da erschien 38

Vgl. Mill: Über die Freiheit. A. a. O. S. 89 f. Vgl. Mill: Über die Freiheit. A. a. O. S. 73. 40 Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 68. 41 Vgl. ebd. 42 Für Stirner ist die Selbstverleugnung sowohl den »reinen« Heiligen als auch den »unreinen« Unheiligen gemein. Die einen verleugnen jede natürliche Beziehung zur Welt, um sich vor Gott zu erniedrigen, während die anderen alle Mahnungen des Gewissens und jede Scham verleugnen, um sich vor dem »Mammon der Erde« zugunsten der Habgier zu erniedrigen. Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 64. 43 Vgl. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 67. 39

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

das Gespenst der Seele und ihrer Seligkeit. Du erschrakst, Deine Hände falteten sich, Dein gequältes Auge richtet den Blick nach oben, Du – betest. Die Stürme der Natur verstummten, Meeresstille glitt hin über den Ozean Deiner Begierden.« 44

Im Rahmen dieser plakativen und reichlich ausgeschmückten Darstellung findet für Stirner der Kampf eines Mädchens zwischen »Geist« und »Fleisch« statt. Ein durch den Glauben geschulter Antrieb wirkt wie ein göttliches Gewissen auf das leidenschaftliche Mädchen ein, sodass es innehält, um in der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse den Sieg des »Geistes« – an dem nach diesem Verständnis auch die Demut ihren Anteil haben wird – gegen das »Fleisch« voranzutreiben. Hermann Schmitz bettet das vormals von Heine und Stirner diagnostizierte Bestreben des Christentums in eine Verfallsgeschichte des »abendländischen Geistes« ein, die jedoch schon bei den Philosophen der griechischen Antike eingesetzt haben soll. 45 Schmitz begreift das »wirksamste Erziehungswerk« des Christentums als »die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht«. 46 Das »Fleischliche« 47 lässt sich ganz allgemein dort verorten, wo Schmitz vom »affektiven Betroffensein« spricht: »Immer da, wo einen etwas nicht kalt lässt, nicht glatt an ihm abläuft, ihm nahe geht, ist er affektiv betroffen.« 48 Dieses spürbare Nahegehen, das jeder zum Beispiel im Ergriffensein von Gefühlen an sich nachvollziehen kann, ist für Schmitz wesentlich leiblich vermittelt, wobei der Leib all das ist, was der Mensch in der Gegend seines Körpers spürt, ohne auf seine fünf Sinne zu44

Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 66. Grundlegend sind dafür die »vier Verfehlungen des abendländischen Geistes«, vor deren Hintergrund Schmitz die Entwicklung der europäischen (Ideen-)Geschichte deutet. Vgl. für eine Zusammenfassung der Verfehlungen: Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999. S. 32–82. 46 Schmitz, Hermann: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2: Nachantike Philosophie. Freiburg/München 2007. S. 541. 47 Schmitz selbst thematisiert den Konflikt zwischen »Geist« und »Fleisch« in seiner eigenen Deutung der Paulusbriefe. Vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. 2. Teil 1: Der Leib. Studienausgabe. Bonn 2005. S. 507–528. 48 Schmitz, Hermann: Bewusstsein. Freiburg 2010. S. 110. 45

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Die demütige Verachtung des »Fleisches«

rückgreifen zu müssen. 49 Leiblich vermittelt sind zum Beispiel Gefühle wie Freude, Trauer und Scham oder bloße leibliche Regungen, die keine Gefühle sind, wie Hunger, Wollust oder Frische. 50 Schmitz unterstellt dem Christentum, dass es jegliches affektives Betroffensein und in diesem Zusammenhang auch Themen wie Essen, Trinken, Geschlechtslust, Schmerz oder den Tod unter die ständige Rücksicht auf die Allmacht Gottes gestellt hat, sodass der Gläubige eine ständige Selbstprüfung seiner Betroffenheit mit Blick auf Heil und Unheil nach dem Tod vornimmt. 51 Aus Angst um die eigene Seligkeit nahm der Gläubige gegen die als Sünden gebrandmarkten leiblichen Regungen oder Gefühle eine ablehnende Stellung ein, 52 indem er, wie es bei Heine heißt, sein »Fleisch« verdammte und unterdrückte, um nicht als Strafe in die Hölle fahren zu müssen. Die unterstellte Allmacht Gottes über Mensch und Welt, so lautet der Vorwurf, bündelt das affektive Betroffensein einseitig an das Thema der Macht, was sich in verschiedenen geistlichen Praktiken widerspiegelte und auch in Schmitz’ Kritik der Demut mündet. 53 Die »Westkirche« kultivierte in dieser Hinsicht eine »Frömmigkeit, die von der Furcht vor ewiger Verbannung in die Hölle und der Hoffnung auf ewige Seligkeit im Himmel bestimmt wird«. 54 Dieses »Lebensgefühl der Bedrohtheit« soll Augustinus mit seiner »Gnaden- und Verdammungslehre« noch gesteigert haben. Entgegen der geschlechtlichen Begierde pochte er auf die »Eigenmacht gegen die unwillkürlichen Regungen«, sodass die Willensmacht die leiblichen Regungen zum Gehorsam 49

Für eine vollständige Definition des Leibes vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib. Berlin/Boston 2011. S. 5. 50 Vgl. Schmitz: Der Leib. A. a. O. S. 4 f. 51 Vgl. Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 541. 52 Vgl. Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 213. 53 Schmitz verortet dieses Bestreben des Christentums unter die »dynamistische Verfehlung des abendländischen Geistes«. Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 37 ff. 54 Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 40.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

zwingt. 55 Man trifft hier auf das schon von Heine und Stirner diagnostizierte Bestreben, die Oberhand über das »Fleisch« zu gewinnen, das zugunsten der Freiheit von den Sünden »rein« gehalten werden soll, indem sich der Gläubige kontrolliert und gegen seine Begehren auflehnt. Im Akt der Buße ist für Schmitz die »Beschämung« ein »erstklassiger Angelhaken für die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht«. Sofern die Sünden aus den eigenen Begierden hervorgehen, ist es möglich, sie in der Beichte in die Scham zu überführen und in die Macht eines Priesters zu geben, der für den Erlass der Untat sorgen kann. 56 Die Macht kommt so in zweierlei Hinsicht zur Geltung, wenn zum einen der Gläubige Macht über sich ausübt und seine leiblichen Regungen aus Angst vor der Sünde zu kontrollieren versucht, und zum anderen, wenn Macht wiederum in die Hände der Institution Kirche gegeben wird, um das begangene Fehlvergehen durch Scham und Buße zu bereinigen. Es handelt sich um eine Selbstermächtigung zugunsten einer Unterwerfung unter die geistliche und göttliche Autorität, die von dieser doppelten Herrschaft profitiert. Im Rahmen dieser Selbstermächtigung kommt für Schmitz auch die Demut ins Spiel. Die demütige Unterwürfigkeit im Christentum soll zu einer »Verkümmerung der Offenheit des Ergriffen-werden-Könnens« und damit zu einer »Brechung des vitalen Stolzes« geführt haben. 57 Entgegen der von Schmitz angeklagten christlichen Demut ist sein Konzept des »vitalen Stolzes« als eine Form der Lebenskunst zu verstehen, die sich auf Leib und Gefühl einlässt und ein Leben aus diesen Instanzen als Potential versteht. Der »vital Stolze« vertraut sich dem »Schicksal seines Leiblichseins« mit »allen Chancen und Gebrechen« an, er versucht mit und aus seiner Ergriffenheit zu leben, aber unterdrückt sie weder schamhaft noch gibt er sich ihr unbefangen und willen-

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Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 44. Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 47. 57 Schmitz, Hermann: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität. Bonn 1994. S. 323 f. 56

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Die Demut unter Verdacht des Hochmutes und der Heuchelei

los preis. 58 Das Maß, das Schmitz im Rahmen dieses Stolzes vorsieht, wird im Kontext der Besonnenheit (II.4.2.2.) noch Teil intensiverer Auseinandersetzungen sein, wobei zu diskutieren ist, inwiefern sie trotzdem neben einem Konzept der Demut Platz haben kann. Schmitz selbst findet an dem bis hier vorgetragenen Verständnis der christlichen Demut keinerlei Bereicherung, wenn er diese Haltung stattdessen als grundlegendes Problem für das menschliche Selbstverhältnis charakterisiert. Für ihn ist die christliche Demut Teil eines Bestrebens, das die Leiblichkeit und die Ergriffenheit von Gefühlen, die er im Rahmen seines opus magnum, dem »System der Philosophie« 59, analysiert hat, unterdrücken und als Sünde herabwürdigen will, wobei der Mensch auf ein Selbstverständnis rekurriert, das ihm nahelegt, er könnte über seine Situation und seine leiblichen Regungen verfügen, wie es ihm beliebt. Zur Demut als Versklavung und Unterdrückung durch eine fremde oder »äußerliche« Autorität gesellt sich damit der zweite Vorwurf der demütigen Unterdrückung der Leidenschaften zugunsten einer sündenfreien Herrschaft über sich selbst. I.2.3 Die Demut unter Verdacht des Hochmutes und der Heuchelei Das bisherige Unbehagen an der Demut ist vor allem in ihrem Charakter begründet, welcher der Unterwürfigkeit und der Selbstbeschränkung der Person Vorschub leisten soll. In Demut lässt sich der Mensch demnach freiwillig von einer ihm äußerlichen Instanz unterdrücken oder er begrenzt und kontrolliert sein Bestreben bereitwillig selbst. Diese Bereitwilligkeit impliziert einen Nutzen, den sich der Gläubige durch seine Praktiken ver-

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Vgl. Schmitz, Hermann: Die Liebe. 3. Auflage. Bonn 2019. S. 12. Für Schmitz’ Verständnis des Leibes und der Gefühle vgl. aus seinem zehnbändigen »System der Philosophie«: Schmitz: System der Philosophie. Bd. 2. Teil 1: Der Leib. A. a. O.; Schmitz, Hermann: System der Philosophie Bd. 3. Teil 1: Der leibliche Raum. Studienausgabe Bonn 2005. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 2: Der Gefühlsraum. Studienausgabe Bonn 2005.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

spricht, was einen weiteren Verdacht gegen die Demut laut werden lässt. Nach Ludwig Feuerbach, der durch seine Schrift »Das Wesen des Christentums« (1841) bekannt wurde, ist dieser Nutzen bereits im christlichen Glauben insgesamt verankert, weil er dem Menschen ein »besonderes Ehr- und Selbstgefühl« verleiht. 60 Der vermeintliche Bezugspunkt des Glaubens in einer göttlichen Instanz wird für Feuerbach dadurch unterlaufen, denn durch die angestrebte Beziehung des Gläubigen zu seinem Gott erfährt auch der Christ selbst eine Auszeichnung vor den Nichtgläubigen: »Gott ist dieser personifizierte Unterschied und Vorzug des Gläubigen vor dem Ungläubigen.« 61 Zwar wirkt es so, als sei der Gläubige in seinem Handeln gänzlich auf Gott gerichtet, als ginge er von sich absehend ganz in seiner Glaubenspraxis auf, aber im Sinne Feuerbachs hat der Christ nur sein Selbstwertgefühl in eine andere Persönlichkeit verlagert. Es ist ein Bewusstsein des eigenen Vorzuges in einer anderen, zumeist göttlichen oder heiligen Person. 62 Das dem Christentum nachgesagte Bestreben, den Stolz des Menschen im Angesicht Gottes nichtig werden zu lassen, wird so von Feuerbach ins Gegenteil verkehrt: »Der Glaube ist hochmütig, aber er unterscheidet sich von dem natürlichen Hochmut dadurch, daß er das Gefühl seines Vorzugs, seinen Stolz in eine andere Person überträgt, die ihn bevorzugt […].« 63 Die Religion verleiht ihren Anhängern zum Beispiel einen besonderen Status, wenn sich diese durch ihren Glauben als Auserwählte eines Gottes hervortun. Von außen betrachtet steht, in Feuerbachs Ansatz übersetzt, ein Gott im Mittelpunkt des Geschehens, aber wenn der Mensch beginnt, an ihn zu glauben, dann weiß er sich umgekehrt von seinem Schöpfer erhoben und er spürt, dass es um ihn selbst geht, dass zum Beispiel er als Christ erwählt wurde und in den Himmel kommt. Auf satirische Weise überträgt Kurt Tuchol-

60 61 62 63

Vgl. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Stuttgart 1984. S. 372. Ebd. Vgl. ebd. Feuerbach: Das Wesen des Christentums. A. a. O. S. 372 f.

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Die Demut unter Verdacht des Hochmutes und der Heuchelei

sky dieses religiöse Selbstverständnis auf die Demut als Form eines verkappten Hochmutes: »Die Katholiken sitzen vor ihrer Hütte. Ein Heide geht vorbei und pfeift sich eins. Die Katholiken tuscheln: ›Der wird sich schön wundern, wenn er mal stirbt!‹ Sie klopfen sich auf den Bauch ihrer Frömmigkeit, denn sie haben einen Fahrschein, der Heide aber hat keinen, und er weiß es nicht einmal. Wie hochmütig kann Demut sein!« 64

Diese Diagnose stellt auch Feuerbach aus philosophischer Perspektive für die Demut auf: »Die Demut des Gläubigen ist ein umgekehrter Hochmut – ein Hochmut, der aber nicht den Schein, die äußeren Kennzeichen des Hochmuts hat.« 65 Der Demütige versteht sich als klein und niedrig vor Gott und versucht dies durch Wort und Tat nach außen sichtbar zu machen. Dieses Verhalten ist für Feuerbach jedoch durch den hochmütigen Glauben an die eigene Person motiviert, den wiederum der äußere Schein der Demut verdeckt. Denn so klein sich der Demütige auch gibt, er weiß doch dabei, dass es auch in dieser Position auf ihn selbst ankommt, weil ihn Gott für seine Selbstbescheidung »erhöht« und schätzt. In diesem Selbstbewusstsein der eigenen Auszeichnung liegt für Feuerbach der eigentliche Hochmut des Demütigen versteckt: »Er fühlt sich ausgezeichnet; aber diese Auszeichnung ist nicht Resultat seiner Tätigkeit, sondern Sache der Gnade; er ist ausgezeichnet worden; er kann nichts dafür.« 66 In seiner vermeintlichen Passivität ist der Demütige dem Schein nach ohnmächtig, aber er wird eigentlich durch die Annahme von Gottes Gnade aktiv über die Nichtgläubigen gestellt. Die »falsche Demut« geht deshalb mit dem »religiösen Hochmut« einher, wenn sich der Gläubige zwar nicht länger auf sich verlässt, aber dafür die »Sorge« Gott überlässt, der ein Interesse daran hat, dass seinen Anhängern Glück und das selige Heil zukommt. 67 Diese Sorge, Bekümmerung und Liebe Gottes »um mich« ist für Feuer64

Tucholsky, Kurt: Schnipsel. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 14: Texte 1931. Hrsg. v. Sabina Becker. Reinbek bei Hamburg 1998. S. 44–46, hier 45. 65 Feuerbach: Das Wesen des Christentums. A. a. O. S. 373. 66 Ebd. 67 Vgl. Feuerbach: Das Wesen des Christentums. A. a. O. S. 175.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

bach nichts weiter als »meine vergötterte Selbstliebe«. 68 Im Hintergrund von Feuerbachs Deutung der christlichen Demut steht seine grundsätzliche Religionskritik, die im Wesen und Willen Gottes nichts anderes als die vom Menschen zugeschriebenen Eigenschaften und Wünsche sieht, sodass das Wesen Gottes letztendlich im Wesen des Menschen besteht. 69 Die »falsche Demut« bezieht sich dann überhaupt nicht mehr auf einen Gott, sondern ist einzig Teil eines menschlichen Bedürfnisses, sich um das eigene Wohlergehen zu sorgen. Es ist dann keine von sich absehende Demut, sondern eine selbstzentrierte Sorge um sich, die aus der Selbstliebe resultiert und mit dem Wunsch nach Selbsterhöhung einhergeht. Feuerbach unterstellt den vermeintlich Demütigen einen versteckten Hochmut und damit eine Heuchelei, die nach »außen« den Schein der Demut wahrt, aber sich eigentlich vor den Mitmenschen und vor Gott ausgezeichnet weiß. Diese Beobachtung macht auch Sören Kierkegaard aus der Perspektive des Christen: »Ach ja, freilich, es ist so; das Christentum kam in die Welt und lehrte Demut, aber nicht alle lernten Demut vom Christentum, die Heuchelei lernte die Masken ändern und blieb die gleiche, oder richtiger, ward noch ärger. Das Christentum kam in die Welt und lehrte, du sollest beim Gastmahl nicht stolz nach dem obersten Platz trachten, sondern dich untenan setzen – und flugs saßen Stolz und Eitelkeit eitel untenan bei Tische, der gleiche Stolz und die gleiche Eitelkeit, o, nicht die gleichen, nein, noch ärgere.« 70 68

Vgl. ebd. »Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens.« Feuerbach: Das Wesen des Christentums. A. a. O. S. 54 f. 70 Kierkegaard, Sören: Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. Drei Reden beim Altargang am Freitag. In: Ders.: Die Krankheit zum Tode. Gesammelte Werke 24. und 25. Abteilung. Übers. v. Emanuel Hirsch. 4. Auflage. Gütersloh 1992. S. 135–163, hier 148. 69

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Die Demut unter Verdacht des Hochmutes und der Heuchelei

Auch Kierkegaard klagt jene, welche die christliche Demut als ein bloßes Werkzeug zur Durchsetzung der eigenen Interessen begreifen, der Heuchelei an. Die Heuchler benutzen die Demut zum Zweck der falschen Selbsterhöhung, indem sie »ihre Masken« als ihr scheinbares Verhalten ändern, aber ihr eigentliches Bestreben unverändert lassen. Sie versprechen sich davon eine Aufwertung ihrer eigentlich stolzen Person, wenn sie sich unter falschen Vorzeichen vermeintlich demütig auf den letzten und untersten Rang der Gesellschaft begeben, aber selbst noch in ihrem gespielten Verhalten einen Vorteil wittern. Sich auf den »letzten Platz« zu begeben, ist auf diese Weise zu einer weltlichen Strategie zugunsten der eigenen Bevorteilung geworden. Der Heuchler will nicht wirklich Demut praktizieren, sondern nur deren Verdienste ernten. Auch Arthur Schopenhauer kennt diese geheuchelte Demut, die er unter dem Namen der Bescheidenheit anführt: »Was ist denn Bescheidenheit anderes als geheuchelte Demut, mittelst welcher man in einer vom niederträchtigem Neide strotzenden Welt für Vorzüge und Verdienste die Verzeihung derer erbetteln will, die keine haben?« 71

Diese geheuchelte Demut stellt Schopenhauer in eine überspitzt dargestellte soziale Welt aus von Neid getriebenen Menschen, welche die Gunst der Höhergestellten durch ihre zur Schau gestellte Bescheidenheit erwerben wollen. Wohl um vor diesem Verhalten zu warnen, lässt Gerhart Hauptmann in seinem Drama »Der arme Heinrich« den gleichnamigen Protagonisten sagen: »Mißtrauet eurer Demut! denn ihr seid noch viel zu hochgemutet! Die Hoffart reitet auf deinem Nacken wie ein freches Weib, wenn du dich beugst und dich im Staube windest vor Gott.« 72 Jenseits des fiktiven Dramas erhebt Martin Luther in seiner berühmten Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« (1520) den Vorwurf an den Papst, sich genau dieser Hoffart schuldig gemacht 71

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 1. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 12. Auflage. Frankfurt am Main 2015. S. 329. 72 Hauptmann, Gerhart: Der arme Heinrich. Eine deutsche Sage. Stuttgart 2010. S. 55 (3. Akt, zum Ende).

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

zu haben, weil er der »echten« und vorbildhaften Demut durch sein Verhalten gerade nicht gerecht wurde: »Ich halt aber, wenn er [der Papst; J. P.] beten mit Tränen sollte vor Gott, er müßte stets solche Kronen ablegen, dieweil unser Gott keine Hoffart kann leiden. Nun sollte sein Amt nichts anderes sein denn täglich weinen und beten für die Christenheit und ein Exempel aller Demut vortragen.« 73

Auf wiederum fiktive Weise begegnet der berühmte »Till Eulenspiegel« (1510/1511) in einer »Historie« dem Papst, vor dem er sich heuchelnd und mit falscher Reue als vermeintlich bekennender Sünder inszeniert: »Allerheiligster Vater, ich bin ein armer, großer Sünder und zeihe mich solcher Sünden, daß ich des Altars nicht würdig bin, bis ich meine Sünden gebeichtet habe.« 74 Eulenspiegel, dessen Taten weit über das Maß von bloßen Kinderstreichen hinausgehen, versucht, mit seiner »geheuchelten Demut« 75 den Papst von seiner scheinbar reuevollen Einsicht zu überzeugen, die sein zuvor eingenommenes, unwürdiges Verhalten vor dem Altar erklären soll, was ihn hinterrücks eine Wette gewinnen lässt. Die Demut ist im Verbund mit der Heuchelei ein Mittel, das seine religiösen Bestrebungen vollends eingebüßt hat und von dem man sich in weltlicher Hinsicht Anerkennung und Erfolg verspricht. Hat diese Haltung damit einen rein instrumentellen Zweck gefunden, muss jede demütige Bekundung in den Verdacht geraten, dieses Verhalten nur für den eigenen Nutzen vorzutäuschen.

73

Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation. In: Ders.: An den christlichen Adel deutscher Nation und andere Schriften. Hrsg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 2018. S. 5–101, hier 23. 74 Bote, Hermann: Till Eulenspiegel. Vollständige Ausgabe. Hrsg. und übertr. v. Siegfried H. Sichtermann. 20. Auflage. Berlin 2018. S. 104 (34. Historie). 75 In seinem Kommentar zur »34. Historie« attestiert Sichtermann dem Eulenspiegel eine »geheuchelte Demut« gegenüber dem Papst. Vgl. Bote: Till Eulenspiegel. A. a. O. S. 290.

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Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut

I.2.4 Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut Nietzsche ist als einflussreichster Kritiker der christlichen Demut ein Philosoph, dem sich Autoren, die sich einer religiösen Neuentdeckung dieser Haltung verschrieben haben, in einer Auseinandersetzung stets verpflichtet fühlten. 76 Für diesen Fokus auf Nietzsche spricht seine umfassende Moralkritik des europäischen Christentums, von der auch die Demut nicht verschont blieb. Sein Werk ist für jedes christliche, aber auch säkulare Vorhaben einer Annäherung an die Demut eine Herausforderung, denn in seiner Kritik laufen alle bis hier skizzierten Vorbehalte gegenüber dieser Haltung zusammen. Ich möchte Nietzsche deshalb als »paradigmatischen Kritiker« der Demut verstehen, an dem sich der Ertrag des philosophischen Unbehagens anschaulich zusammenfassen lässt. In seiner »Götzendämmerung« formuliert Nietzsche 77 einen Aphorismus, der seine wesentlichen Kritikpunkte an der Demut erahnen lässt: »Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demuth. –« 78 Die Parallelen zur von Heine (I.2.2) diagnostizierten »Wurmdemut« sind offensichtlich, wobei Nietzsche über deren Charakter noch wesentlich ergiebigere Aussagen trifft. Nach seinem Verständnis ist der Demütige klein, unbedeutend und hilflos wie ein Wurm. Im Falle 76

Vgl. Schöller-Reisch, Donata: Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme. Frankfurt 2009. S. 285–322; Zemmrich, Eckhard: Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs. Berlin 2006. S. 22–82. Für eine ältere Auseinandersetzung mit Nietzsches Stellung zur Demut im Verbund mit einer Apologie der christlichen Demut vgl. Hauff, Reinhard v.: Versuch einer Überwindung von Nietzsches Antichristentum. Nietzsches Stellung zur christlichen Demut. Tübingen 1939. 77 Sämtliche Werke Friedrich Nietzsches zitiere ich nach der Kritischen Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzini Montinari, Berlin/New York 1980, die verkürzt mit »KSA« und der entsprechenden Ausgabe und der Seitenzahl wiedergegeben wird. 78 KSA 6, S. 64. Vgl. dazu den Psalm des Alten Testaments: »Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,/ der Leute Spott, vom Volk verachtet.« Ps 22, 7.

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eines Angriffs besteht die Gegenwehr des Wurmes nicht im direkten Widerstand, sondern er verharrt in seiner Passivität und macht sich vielmehr noch kleiner und resigniert vor seinem Gegner. Doch dieses Verhalten charakterisiert Nietzsche nicht als einseitige Ohnmacht (I.2.1), sondern als »klug«, denn es wird dabei eine Strategie verfolgt, unter deren Vorzeichen der Wurm seinem Kontrahenten ausweicht. So sehr der Demütige in seiner Situation auch verharrt, er verspricht sich doch einen Nutzen (I.2.3) aus seinem Verhalten, den Nietzsche in moralischer Hinsicht anhand des Christentums diagnostiziert hat. Nietzsche definiert die »Demuth« als eine »Neigung, sich herab zu setzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten zu lassen« 79 und setzt sie mit dem »absoluten Gehorsam« gleich. 80 Dabei steht die »Erbärmlichkeit als Demuth« Seite an Seite mit einer »Sklavengesinnung als christlicher Gehorsam«. 81 Es waren demnach die »Sklaven« 82, welche die Demut in das Christentum brachten, und im Kniefall des »verlogenen Kampfes« der Demut sieht Nietzsche noch die sklavischen Gewohnheiten der »Speichellecker Gottes« verwirklicht. 83 Ganz im Sinne des obigen »wurmhaften« Verhaltens ist auch für Nietzsche die Demut Teil einer »gebrochenen Widerstandskraft« in der Resignation vor dem Feinde. 84 Die Demut wird bei Nietzsche oftmals in einem Atemzug mit Selbsterniedrigung, Armut und Keuschheit genannt. 85 Das Christentum hält für ihn diese asketischen Praktiken und Tugenden zusammen, denn es versammelt den »gesammten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger« und »grober Enthusiasten der Demüthigung und Anbetung«. 86 So sieht Nietzsche auch in Jesus, welcher der Urheber der Demut (I.3.1.1) wie auch der christlichen Moral ist, einen Menschen, der sich mit anderen bereitwillig ans Kreuz 79 80 81 82 83 84 85 86

KSA 10, S. 80. Vgl. KSA 12, S. 329. Vgl. KSA 12, S. 537. Vgl. KSA 9, S. 475. Vgl. KSA 10, S. 434. Vgl. KSA 13, S. 250. Vgl. KSA 12, S. 35, 108, 199, 315; KSA 5, S. 352. Vgl. KSA 3, S. 60.

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Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut

schlagen und »demüthigen« lassen will. 87 Auf diese Weise vergöttlicht das Ideal der Demut und des Gehorsams das »Sklave-sein«, das »Beherrschtwerden«, das »Armsein«, das »Kranksein« und das »Unten-stehn«. In dieser Hinsicht glaubt der »christliche Sünder« den »Mangel an Macht und Selbstgewissheit« sogar für berechtigt zu finden, 88 wie oben auch Marx und Lenin unterstellen. Nietzsche setzt wie die vorhergehenden Kritiker die Demut grundsätzlich mit Unterwerfungslust, Sklaverei und bedingungslosem Gehorsam gleich, weil sie Teil eines Wertekanons sein soll, der die vollkommene Resignation als angebracht und notwendig versteht (I.2.1). Das vom Christentum als »vorbildlich« verstandene Leben besteht nach Nietzsche in der »Liebe« und »Demut«, in einer »Herzens-Fülle«, die auch die Niedrigsten nicht ausschließt. Teil davon ist auch eine »förmliche Verzichtsleistung« auf »Rechtbehalten-wollen«, auf Verteidigung und auf den Sieg im »Sinne des persönlichen Triumphes«. 89 Ideale wie diese haben laut Nietzsche einer »blöden entsagenden demüthigen selbstlosen Menschlichkeit« 90 in Gestalt von »Demuth«, »Keuschheit«, »Armut« und »Heiligkeit« dem Leben »bisher unsäglich mehr Schaden« angetan als irgendwelche »Furchtbarkeiten und Laster«. 91 Dafür ist es wesentlich, dass das »Gedemütigtsein« mit Eigenschaften zusammenhängt, die der Gläubige Gott zuschreibt. Die Vorstellung von und der Vergleich des Menschen mit einem allmächtigen Gott »beunruhigt« und »demüthigt«. 92 Würde sich eine Person unbefangen mit anderen Menschen vergleichen, hätte sie keinen Grund, »im besonderen Maase« unzufrieden mit sich zu sein, denn es wäre nur die rein menschliche Last der Unvollkommenheit zu ertragen. 93 Da sich der Mensch aber mit einem Gott vergleicht, schaut der Gläubige in einen »hellen Spiegel«, in dem ihm sein Wesen »so trübe, so ungewöhnlich verzerrt« er87 88 89 90 91 92 93

Vgl. KSA 5, S. 107. KSA 13, S. 232. Vgl. KSA 13, S. 103 f. KSA 5, S. 146. Vgl. KSA 6, S. 175. Vgl. KSA 2, S. 128. Vgl. KSA 2, S. 126.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

scheint, 94 denn im Vergleich mit einem absolut guten und ewigen Gott muss das Menschliche wiederum unvollkommen und nichtig wirken. Den Christen überkommt deshalb durch diese »falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen« ein Gefühl der Selbstverachtung. 95 Die Vorstellung von einem göttlichen Wesen, mit dem sich der Mensch vergleicht, beginnt den Gläubigen zu ängstigen, denn er denkt an die »strafende Gerechtigkeit« dieser göttlichen Instanz, sodass er in allen »grossen und kleinen Erlebnissen« glaubt, den Zorn und die Drohung Gottes und die »Geisselschläge seines Richter- und Henkerthums schon vorzuempfinden«. 96 Diese in seinem Frühwerk herausgestellte christliche Auslegung der menschlichen Handlungen und Empfindungen weitet Nietzsche im Verlauf seines Schaffens zu einer grundlegenden Moralkritik aus, in der auch die Demut ihren Platz findet. In seiner berühmten Deutung der christlichen Moral kommen zwei Grundtypen, die »Herren-Moral« einerseits und die »SklavenMoral« andererseits, zu einer dafür wesentlichen Gegenüberstellung. Im Fall des ersten Typs sind die »Herrschenden« oder auch die »vornehme Art Mensch« wertbestimmend, sodass der Begriff »gut« so definiert ist, dass die »erhobenen stolzen Zustände der Seele« als das die »Rangordnung Bestimmende empfunden werden«. 97 Der Glaube an sich und der Stolz auf sich selbst sind dabei vorherrschend, 98 während dagegen der »Kleinliche«, »Ängstliche«, »Feige« und – auch im Sinne der Demut – der »Sich-Erniedrigende« als »schlecht« angesehen wird. 99 Ursprünglich, also vor dem Aufkommen des Christentums, waren nach diesem Verständnis die moralisch »Guten« nicht jene, die »Güte« erwiesen haben, sondern es waren laut Nietzsche die »Vornehmen«, »Mächtigen«, »Höhergestellten« und »Hochgesinnten«, die ihr Tun selbst als »gut« und »ersten Ranges« empfanden im Gegensatz zu den 94 95 96 97 98 99

Vgl. ebd. KSA 2, S. 128. Vgl. KSA 2, S. 126. Vgl. KSA 5, S. 209. Vgl. KSA 5, S. 210. Vgl. KSA 5, S. 209.

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Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut

»Niedrig-Gesinnten«, »Gemeinen« und »Pöbelhaften«, die man zu den »Sklaven« zählte. 100 Mit dieser Gegenüberstellung stellt Nietzsche die Demut in das Zentrum der von ihm diagnostizierten »Umkehrung der Werte«, die er als Ausgangspunkt für die Ablösung der »HerrenMoral« auszeichnet. Der »Sklavenaufstand in der Moral« machte alles »Schöne« und »Stolze« der Herrenmoral verdächtig und setzte sie dem moralischen »Gewissensbiß« aus. 101 Menschen des »Typus« der »Sklaven-Moral« wie die »Vergewaltigten«, »Gedrückten«, »Leidenden«, »Unfreien« 102 oder »Missrathenen« unternahmen in Gestalt des Christentums den Versuch, die ihrer Situation günstigen Werturteile durchzusetzen. 103 Es ist somit nicht länger ein »Ja-sagen« zu sich selbst, das vormals in der »Herren-Moral« vorherrschend war, sondern es ist ein »negativer Werth«, der die »aristokratischen«, vormals als positiv verstandenen Werte wie »Stolz«, »Sinnlichkeit« oder »Reichtum« verleugnet. 104 Aus Sicht der »Sklavenmoral« sind nun die »Geduldigen«, »Demüthigen« und »Gerechten«, die nicht angreifen, nicht vergewaltigen und niemanden verletzten wollen, »gut«. 105 Was in der »Herren-Moral« als eigentliche Schwäche galt, ist nun zum »Verdienst« »umgelogen« worden, sodass das Christentum aus der »Ohnmacht« die »Güte«, aus der »Unterwerfung« den »Gehorsam« und aus der »ängstlichen Niedrigkeit« die »Demuth« machte. 106 Im Rahmen der christlichen »Sklaven-Moral« kommt ein »pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck« 107, denn nun werden jene Eigenschaften hervor100

Vgl. KSA 5, S. 259. Vgl. KSA 12, S. 332. 102 KSA 5, S. 211. 103 Vgl. KSA 12, S. 333. 104 Vgl. KSA 12, S. 334. 105 Vgl. KSA 5, S. 280. 106 Vgl. KSA 5, S. 281. Das »Ressentiment« wird damit selbst als Tugend ausgelegt, wozu Nietzsche wiederum an anderer Stelle die »ängstliche Niedrigkeit als Demuth«, die »Inoffensive«, die »Feigheit«, den »Gehorsam gegen Gott« oder die »Liebe der Feinde« zählt. Vgl. KSA 12, S. 334. Vgl. a. KSA 5, S. 211. 107 KSA 5, S. 211. 101

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

gehoben, die das »Leiden des Daseins« erleichtern. 108 Die wertbestimmenden »Schwächeren«, »Beherrschten« und »Gedrückten« wollen ihre Lage erträglicher machen, indem sie zum Beispiel den »Ruhm der Demuth« als eine Unterwerfung unter die »Gesetze des Daseins« kultivieren, was mit einer Vorliebe für die »Unfreiheit des Willens« einhergeht, bei welcher der Mensch »durch und durch abhängig« ist. 109 Die »Sklavenmoral« der »Gedemütigten« ist durch diesen entlastenden Charakter wesentlich »Nützlichkeits-Moral« 110. So wie der »gekrümmte Wurm« es verstand, sich kleinzumachen, versteht sich, laut Nietzsche, das Christentum darauf, die Moral zu seinem Vorteil umzudeuten. Die Demut ist daran maßgeblich mitbeteiligt, wenn sie ein Bestandteil »niederer Werte« ist, aus denen das Christentum seine Herrschaft beziehen soll: »Das Christenthum hat das Niedrigkeitsgefühl (Demuth) gut genannt: eine Leidenschaft daraus gemacht! Dadurch sich gehoben!« 111 Deshalb ist die Realität, auf die sich das Christentum aufbauen konnte, geprägt von der »Demuth«, die eigentlich ein »verkleideter Stolz der ›Auserwählten‹« ist. Diese Auserwählten praktizierten laut Nietzsche ein »innerliches Neinsagen« zu allem, was »obenauf« ist, das Glanz und Macht besitzt. Dieses Vorgehen selbst als eine Macht erkannt zu haben, schreibt Nietzsche dem »Genie des Paulus« zu. 112 Die christliche Erlösungslehre verspricht die »Seligkeit«, den »Vorzug« und das »Privilegium« der »Unscheinbarsten und Demüthigsten«, wobei diese Lehre nicht zu kritisieren, sondern in Dankbarkeit und Demut empfangen und anzuerkennen ist. 113 Nietzsche klagt Jesus an, selbst »Arme«, »Dumme«, »Kranke« und »Gesindel« bevorzugt zu haben, wogegen er sich mit einem »Gefühl des Richtens« gegen alles »Schöne«, »Reiche« und »Mächtige« gewandt habe, wobei ein »wahnsinniger Stolz« waltet,

108 109 110 111 112 113

Vgl. ebd. Vgl. KSA 10, S. 248. KSA 5, S. 211. KSA 9, S. 341. Vgl. KSA 12, S. 564. Vgl. KSA 12, S. 566.

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Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut

welcher die »feinste Lust an der Demuth hat«. 114 Den »Sklaven« unterstellt Nietzsche, die Rache an den vormals Herrschenden durch eine »Hervorkehrung« der ihnen entgegengesetzten Tugenden in Gestalt von »Abstinenz«, »willkürlicher Peinigung«, »Einsamkeit« oder »geistiger Armut« vorgenommen zu haben. 115 Nietzsche glaubt, die »Rache der demüthigen christenmässigen Seelen« 116 zu kennen, wobei nichts und niemand rachgieriger sei als die »Demuth des Priesters« 117, der für ihn als »Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf« 118 gilt. Die »vorherrschenden Werte« der Reichen und Mächtigen werden zwar dadurch bekämpft, aber die neuen Werte der Demütigen werden mit nicht weniger Stolz vertreten. Die »Demuth« steht daher unter dem »Eindruck des Lobes« 119, sodass sie dicht neben der »Wichtigthuerei« liegt 120 und selbst dort, wo die Menschen sich freiwillig »demüthigen«, spielt ihnen die Eitelkeit einen Streich, wenn die Gedemütigten auch in dieser Situation noch etwas »Unvergleichliches« und »Wunderhaftes« sein wollen. 121 Somit sieht Nietzsche, wie oben schon Kierkegaard, in der Demut ein »Korn Kunst und Heuchlerei« 122 verwirklicht und bei den entsprechend Frommen ein Überlegenheitsgefühl walten, wie es zuvor schon Feuerbach unterstellte (I.2.3): »Der Fromme fühlt sich dem Unfrommen überlegen: an christliche Demuth will ich glauben, wenn ich sehe, daß der Fromme sich vor dem Unfrommen erniedrigt.« 123 Zuletzt setzt Nietzsche die Demut auch in ein Verhältnis zu der vom Christentum vorgenommenen Unterdrückung der Be-

114 115 116 117 118 119 120 121 122 123

Vgl. KSA 11, S. 54. Vgl. KSA 10, S. 249. KSA 3, S. 230. Vgl. KSA 4, S. 117; KSA 10, S. 441. KSA 6, S. 175. KSA 9, S. 404. Vgl. KSA 5, S. 393. Vgl. KSA 2, S. 549. KSA 11, S. 347. KSA 8, S. 341.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

gierden und Leidenschaften (I.2.2), die eine Reihe von »Schwächungen« bewirkt haben soll: »Die Schwächung als Aufgabe: Schwächung der Begehrungen, der Lust- und Unlustgefühle, des Willens zur Macht, zum Stolzgefühl, zum Haben und Mehr-haben-wollen; die Schwächung als Demuth; die Schwächung als Glaube; die Schwächung als Widerwille und Scham an allem Natürlichen, als Verneinung des Lebens, als Krankheit und habituelle Schwäche … die Schwächung als Verzichtleisten auf Rache, auf Widerstand, auf Feindschaft und Zorn.« 124

Diese Schwächung des Lebens ist grundsätzlich als eine Schwächung des »starken Typus« der »Herrenmoral« zu verstehen, der dem für Nietzsche lebensimmanenten Streben nach Ruhm, Wachstum, Macht und Triumph entspricht; das Christentum und die Demut stehen deshalb auch aus dieser Perspektive für die Verneinung des Lebens. 125 Im christlichen »System der Schändung und Verschneidung des Leben[s]« 126 gelten die »starken Begehrungen und Leidenschaften« als Einwände gegen ein »starkes und blühendes Leben«, weil man »alles, woher dem Menschen Gefahr droht« und »alles, was über ihn Herr werden und ihn zu Grunde richten kann«, als »böse« und verwerflich versteht. Auf diese Weise, so unterstellt Nietzsche, macht das Christentum den Menschen »ungefährlich gegen sich und Andere«, er ist »schwach« und »niedergeworfen in Demuth und Bescheidenheit«. 127 Die Religion, aber auch die Metaphysik bezeichnen das »unvermeidlichNatürliche« als böse und sündhaft, sodass dem Menschen die eigene Natur »verdächtig« ist und er deshalb »lernt«, sich als grundsätzlich schlecht zu empfinden, weil er das »Kleid der Natur« nicht ausziehen kann. 128 Schon in der früheren Phase seines Schaffens beobachtet Nietzsche auch bei den Philosophen einen 124

KSA 13, S. 251. Vgl. für diese von Nietzsche unterstellte »lebensfeindliche Tendenz« des Christentums z. B. a. KSA 6, S. 170–174; KSA 12, S. 226; KSA 13, S. 188, 222, 347, 436. 126 Vgl. KSA 13, S. 348. 127 Vgl. ebd. 128 Vgl. KSA 2, S. 136. 125

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Nietzsche als paradigmatischer Kritiker der christlichen Demut

Hang zur »Askese, Demuth und Heiligkeit«, in deren »Glanz« sich das eigene Bild auf das »ärgste verhässlicht«, was einen Teil des eigenen Wesens grundsätzlich tyrannisiert hat. 129 Im »Zerbrechen seiner selbst« treibt der Asket »Spott« über seine »Natur«, was implizit einen »sehr hohen Grad« an »Eitelkeit« mit sich bringen soll. Denn einerseits findet der Mensch eine »wahre Wollust« darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu »vergewaltigen«, um andererseits im Rahmen seiner asketischen Moral den anderen, nicht »diabolisierten Teil« »von sich« als Gott anzubeten. 130 Der Asket sucht sich in einem Hang zur Eitelkeit und Herrschsucht seine Begierden als »innere Feinde«, um sich »wie ein Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit wechselndem Erfolg ringen«. 131 Dieses »Schlachtfeld« war schon in der Kritik Heines und Stirners zwischen dem »Geist« und dem »Fleisch« aufgespannt. Genauso wie in dieser Hinsicht Schmitz (I.2.2) dem Christentum vorwarf, dass es das affektive Betroffensein einseitig an das Thema der Macht knüpfte, diagnostiziert Nietzsche, dass die Sinnlichkeit immer mehr »verketzert« und gebrandmarkt wurde, sodass die »Gefahr ewiger Verdammnis« zunehmend an »diese Dinge« geknüpft wurde. 132 Im Rahmen des Kampfes gegen den »inneren Feind« konstatiert Nietzsche, dass das »Auf- und Niederschwanken der Waagschalen Hochmuth und Demuth« die Köpfe der »christlichen Pessimisten« genauso gut unterhielt wie der »Wechsel von Begierde und Seelenruhe«. 133 Abschließend sind in Nietzsches Moralkritik alle drei wesentlichen Vorwürfe an die christliche Demut anzutreffen. Er versteht die Demut als eine Haltung der Sklaverei, der Ohnmacht und der Willenlosigkeit, in der sich der Mensch wie ein Wurm nicht aus seiner Lage befreien, sondern passiv in ihr verharren will (I.2.1). Nietzsche stellt dazu die Demut neben Praktiken der Keuschheit und der Askese, mit der sich der Demütige von seinen Leiden129 130 131 132 133

Vgl. KSA 2, S. 131. Vgl. ebd. KSA 2, S. 134. Vgl. ebd. Vgl. KSA 2, S. 135 f.

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Das Unbehagen an der christlichen Demut

schaften und Begierden als seinen »inneren Feinden« befreien will (I.2.2). Noch umfassender als seine Vorgänger begreift Nietzsche zuletzt die Demut als eine versteckte Form der Selbsterhöhung, der Heuchelei und des Stolzes (I.2.3) im Rahmen des »Aufstands« der »Sklaven-Moral«, der das Christentum zur wertbestimmenden Instanz gemacht haben soll. Alle bis hier zur Sprache gekommenen Philosophen machen auf eine erstrebenswerte Neubestimmung der Demut wenig Hoffnung. Die Demut ist für sie stets mit Begriffen wie Unterwürfigkeit, Willenlosigkeit, Sklaverei, Knechtschaft, Ohnmacht, Folgsamkeit, Passivität, Resignation, Selbstverleugnung, Selbsterniedrigung, Selbstverneinung, Nichtigkeit und Schwäche verbunden. Diese Deutung der Demut stand stets im Licht eines christlichen Weltbildes, das diese Haltung maßgeblich mitbestimmt haben soll. Will man sich aber nicht nur der philosophischen Tradition der Kritiker, sondern auch der Tradition der christlichen Vertreter dieser Haltung verpflichtet fühlen, muss man nun das Christentum zu Wort kommen lassen, um zu überprüfen, wie viel berechtigten Gehalt die Vorwürfe tatsächlich vorweisen können.

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I.3 Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

Menschen stehen als Mitglieder einer Kultur, die aus einer verzweigten Geschichte hervorgegangen ist, ständig »in« einer Überlieferung. 1 Um der eigenen historisch und kulturell tradierten Voreingenommenheit gewahr zu werden, gilt es, die eigenen Vorurteile in der »Begegnung mit der Vergangenheit« zu erproben. 2 Wenn wir deshalb die Demut aus einer bestimmten Überlieferung heraus verstehen, dann ist diese nicht nur der philosophischen Kritik, sondern auch der christlichen und jüdischen Tradition selbst entwachsen. Die Berechtigung des philosophischen Unbehagens an der Demut ist an den christlichen Denkern zu messen, die einen maßgeblichen Einfluss auf das Verständnis dieser Haltung hatten. Dafür werden in diesem Abschnitt nicht alle, aber einige Ausdeutungen der christlichen Demut in chronologischer Reihenfolge vorgestellt und in ihrer Entwicklung grob skizziert. Dabei erhebe ich nicht den Anspruch, die verwendeten Texte in einen ihnen vollends würdigen oder vollständigen philologischen oder theologischen Rahmen zu stellen. Hier kommt es nur darauf an, die christliche Tradition aus philosophischer Perspektive auszugsweise so zu befragen, dass sich daraus ein facettenreiches Panorama der christlichen Demut ergibt. Die Vielseitigkeit dieser Haltung ist in der philosophischen Kritik untergegangen, die, wie gezeigt, ein recht einheitliches Bild der Demut hinsichtlich 1

Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. 7. Auflage. Tübingen 2010. S. 286. 2 Vgl. für diesen Anspruch: Gadamer: Wahrheit und Methode. A. a. O. S. 274, 311.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

der drei grundlegenden Vorbehalte zeichnete, hinter denen oftmals ein kritisches Grundverständnis der gesamten christlichen Moral stand. Es ist unmöglich, diese christliche Moral in Gänze hier auf ihre Tradition hin abzuklopfen, sodass ausschließlich der Begriff der christlichen Demut im Vordergrund stehen muss. Aus dem herausgestellten Ertrag muss eine Annäherung an diese Haltung in philosophischer Absicht ihre Lehren ziehen, aber ebenso Anknüpfungspunkte erschließen. Zugunsten zahlreicher Monographien lasse ich für die christliche Demut einflussreiche Denker wie Augustinus 3 unberücksichtigt und auch die Bedeutung des Alten Testaments 4 muss ausgeklammert bleiben. I.3.1 Die Demut im Neuen Testament 5 I.3.1.1 Jesus als Vorbild der Demut Es ist wenig verwunderlich, dass sich die Vorstellung von der christlichen Demut maßgeblich vor dem Hintergrund ihres Grundsteines, dem Leben und Handeln von Jesus Christus, gebildet hat. 6 Dieser Einfluss geht auf sein Selbstbekenntnis zurück, 3

Vgl. Schaffner: Christliche Demut. Des Hl. Augustinus Lehre von der Humilitas. A. a. O.; Zemmrich: Demut. A. a. O. S. 139–200; Baumann, Notker: Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus. Frankfurt am Main 2009. 4 Vgl. dafür: Dihle: Demut. A. a. O. S. 743–748; Bremer, Johannes: Demut (AT). In: WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. Hrsg. v. Michaela Bauks et. al. https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/16317/. [zuletzt abgerufen am 31. 03. 2020]; Mathys, Hans-Peter: Demut. II. Altes Testament. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. C-E. Hrsg. v. Hans Dieter Betz et. al. 4. Auflage. Tübingen 1999. S. 654 f.; Zunz, Leopold: Alte Sentenzen über Hochmut und Demut. In: Ders.: Gesammelte Schriften in einem Band. Hildesheim 1976. S. 214–220; Wengst, Klaus: Demut – Solidarität der Gedemütigten. München 1987. S. 35–67. 5 Bei den biblischen Zitaten aus dem Alten wie auch Neuen Testament berufe ich mich auf die Einheitsübersetzung von 1980. 6 Vgl. ausführlich für die Demut bei Jesus: Thieme: Die christliche Demut. Eine historische Untersuchung zur theologischen Ethik. A. a. O.; Schlatter, Adolf: Jesu Demut, ihre Mißdeutungen, ihr Grund. In: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie. Bd. 8. S. 35–93.

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Die Demut im Neuen Testament

mit dem Jesus gleichzeitig zu seiner Nachfolge aufruft: »Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele.« 7 Weil die Demut aber noch nicht als substantivierter Begriff in den vier Evangelien auftaucht und dort dementsprechend auch nicht konkret als Handlungsweise ausbuchstabiert ist, kann sie hinsichtlich ihrer Ausgestaltung einzig anhand von Jesu Worten und Taten rekonstruiert werden. Das von Jesus bezeugte »Joch«, zu dem Christen noch heute aufgerufen sind, es in ihrem Leben »auf sich zu nehmen«, 8 ist vordergründig durch seine dienende Gesinnung ausgezeichnet: »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für sie.« 9 Auch in dem Wissen um seinen Status als »Sohn Gottes« fordert Jesus die Menschen nicht dazu auf, ihm in Verehrung zu dienen, sondern er verweist umgekehrt auf sein eigenes Bestreben, von sich abzusehen, um den Menschen ein »Diener« zu sein: »Ich aber bin unter euch wie der, der dient.« 10 Diese dienende Gesinnung versteht Jesus als eine sich selbstverleugnende Haltung, die er auch von seinen Nachfolgern einfordert: »Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« 11 In diesem Sinne betont Jesus, dass auch er nicht nach seinem Willen »sein Werk«, sondern das desjenigen ausführt, der ihn »gesandt« hat: »Meine Speise ist es, den Willen Gottes zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen.« 12 Das selbstlose Handeln gegenüber den Menschen gründet in einem selbstlosen Handeln nach dem Willen Gottes. Deshalb heißt es bekanntermaßen auch in dem 7

Mt 11, 29. Noch im 20. Jahrhundert nimmt z. B. Dietrich Bonhoeffer in einer Predigt Bezug auf diese Stelle des Neuen Testaments, um an ihr zu erörtern, was es heißt, im christlichen Sinne demütig zu sein. Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Werke. Bd. 13. London 1933–1935. Hrsg. v. Eberhard Bethge. Gütersloh 1994. S. 376 f. 9 Mt 20, 28; Mk 10, 45. 10 Lk 22, 27. 11 Mt 16, 24; Mk 8, 34; Lk 9, 23. 12 Joh 4, 34. 8

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

von Jesus empfohlenen Gebet, das heute als das »Vaterunser« bekannt ist, »dein Wille geschehe« 13, aber nicht »mein« Wille geschehe. Diese Selbstlosigkeit ist auch um den Preis des Leides vorzunehmen: »Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!« 14 Jesus predigt ein Verhalten, das dazu ermahnt, sich in den Dienst Gottes und der Menschen zu stellen. Diesen Dienst vollzieht er exemplarisch anhand der ihm zugeschriebenen »Heilungen« oder seiner Forderung nach »Nächstenliebe« 15. Als Akt der Demut gilt auch die Fußwaschung, 16 die Jesus bei seinen Jüngern vornimmt und die ihnen ein Beispiel für das eigene Handeln geben soll: »Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe. […] Der Sklave ist nicht größer als sein Herr und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat.« 17

Wenn selbst der »Herr« bereit ist, sich zu den Füßen seiner »Diener« zu begeben, wie müssen dann erst jene handeln, die sich ihn zum Vorbild nehmen? Mit seiner dienenden Selbstverleugnung positioniert sich Jesus darüber hinaus auch konträr zu den Verhältnissen seiner Zeit: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß

13

Mt 6, 10. Ohne, dass er sich dabei auf einen Gott bezieht, rät auch Epiktet: »Verlange nicht, daß das, was geschieht, so geschieht, wie du es wünscht, sondern wünsche, daß es so geschieht, wie es geschieht, und dein Leben wird heiter dahinströmen.« Epiktet: Handbüchlein der Moral. Übers. u. hrsg. von Kurt Steinmann. Stuttgart 2012. S. 15 (Kap. 8). 14 Mt 5, 39. 15 Vgl. Mt 19, 19; Mk 12, 31; Lk 10, 27. 16 Vgl. Virt, Günter: Demut – eine unmoderne Tugend? In: Uni Trinoque Domino. Karl Berg Bischof im Dienste der Einheit – Festgabe. Hrsg. v. Hans Paarhammer und Franz-Martin Schmölz. Thaur 1989. S. 291–307, hier 298. 17 Joh 13, 14 ff.

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sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.« 18

Entgegen der vorherrschenden gesellschaftlichen Hierarchien fordert Jesus, eine bewusste Haltung des Dienens auf Seiten der »Niedrigen« einzunehmen, um sich zugleich von der gesellschaftlichen Obrigkeit abzugrenzen. Er stellt sich gezielt auf die Seite der niederen sozialen Schichten seiner Zeit und betont damit zugleich den Kontrast zwischen Hochmut und Niedrigkeit, der im Neuen Testament oftmals noch als Kontrast sozialer Gruppen zwischen den »Reichen« oder den einflussreichen Pharisäern einerseits und den Armen, Kranken oder anderweitig Benachteiligten andererseits gezogen ist. Die Worte Marias zu Beginn des Lukasevangeliums verorten Jesus in diesem Konflikt, der durch das Handeln Gottes geschlichtet werden soll: »Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron/ und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben/ und lässt die Reichen leer ausgehen.« 19 Jesu Demut vollzieht in diesem Sinne einen Akt der Solidarität, weil er sich freiwillig und trotz des ihm als Sohn Gottes zugeschriebenen Vermögens auf die Seite der »Niederen« stellt. 20 Das von ihm verheißene »Reich Gottes« will jede weltliche Hierarchie sprengen, die das »Gute« im weltlichen Ansehen und Reichtum verwirklicht sieht. Dafür stehen nicht zuletzt die Seligpreisungen in der Bergpredigt 21 oder die Verkündigung, dass eher ein Kamel 18

Mk 10, 42 ff.; vgl. a. Lk 22, 26. Lk 1, 51 ff. Vgl. dazu a. die Scheidung, die Jesaja auf ähnliche Weise schon im Alten Testament vornimmt: »Da senken sich die stolzen Augen der Menschen,/ die hochmütigen Männer müssen sich ducken, […] Denn der Tag des Herrn der Heere kommt/ über alles Stolze und Erhabene,/ über alles Hohe – es wird erniedrigt – […] Die stolzen Menschen müssen sich ducken,/ die hochmütigen Männer sich beugen […].« Jes 2, 11 f., 17; vgl. a. Jes 13, 11. 20 Vgl. für die Deutung der Demut als Akt der Solidarität: Wengst: Demut – Solidarität der Gedemütigten. A. a. O. S. 75 f.; Harnack, Adolf von: Sanftmut, Huld und Demut in der alten Kirche. In: Festgabe für D. Dr. Julius Kaftan zu seinem 70. Geburtstag. Tübingen 1920. S. 113–129, hier 122; Virt: Demut – eine unmoderne Tugend? A. a. O. S. 298. 21 Vgl. Mt 5, 3–12. 19

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

durch ein »Nadelöhr« geht, als dass ein »Reicher« in das »Reich Gottes« kommt. 22 Seine Ehre empfange man deshalb auch nicht durch weltliche Belange oder vom Menschen, sondern einzig von Gott: »Meine Ehre empfange ich nicht von Menschen. […] Wie könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eure Ehre voneinander empfangt, nicht aber die Ehre sucht, die von dem einen Gott kommt?« 23 Jesus stellt auf diese Weise die herrschenden »weltlichen Verhältnisse« auf den Kopf, wie Nietzsche (I.2.4) im Rahmen der »Umkehrung der Werte« diagnostizierte: »Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.« 24 Auch ein Streit um die Frage, wer im Himmelreich der Größte ist, wird von Jesus dementsprechend mit Verweis auf die Kinder, als die oftmals kleinsten und hilflosesten Mitglieder einer Gesellschaft, entschieden: »Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.« 25 Diese freiwillige Selbstbescheidung oder Erniedrigung zugunsten des Nächsten veranschaulicht Jesus zum Beispiel auch anhand eines Gleichnisses, auf das oben schon Kierkegaard anspielte (I.2.3) und das zur Veranschaulichung der »Rangordnung« im »Reich Gottes« dient: Auf der Hochzeit ist es von Vorteil, nicht den Ehrenplatz zu wählen, weil stets jemand eintreffen könnte, der dieser Platzierung würdiger ist. Besser ist es deshalb, bewusst einen niederen Platz zu wählen, um dann, falls es der Gastgeber fordert, noch aufrücken zu können. 26 Nach christlichem Verständnis zahlt sich die freiwillige und im weltlichen Leben vollzogene Selbstbescheidung auch im »kommenden« jenseitigen Leben aus.

22

Vgl. Mt 19, 24. Joh 5, 41 u. 44. 24 Mt 23, 11 f.; Lk 14, 11; Lk 18, 14. 25 Mt 18, 4; Vgl. a. Lk 9, 46 ff.; Mk 10, 15. 26 Luk 14, 7–10. Vgl. dazu a. den folgenden Vers aus der zweiten salomonischen Spruchsammlung des Alten Testaments: »Rühme dich nicht vor dem König/ und stelle dich nicht an den Platz der Großen; denn besser, man sagt zu dir: Rück hier herauf,/ als dass man dich nach unten setzt wegen eines Vornehmen.« Spr 25, 6 f. 23

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Die Demut im Neuen Testament

Wenn auch der Begriff »Demut« in Christi Worten noch nicht wörtlich auftaucht, ist es doch möglich, ihm ein »Demütigsein« sowohl vor Gott als auch vor den Menschen zu attestieren. Sein dienendes Handeln vollzieht er dabei nicht »aus sich« heraus, sondern er tut »durch« und »aus« Gott heraus sein Werk für die Menschen. Diese Haltung gipfelt in seinem Tod, wenn er »verspottet«, »bespuckt« und ans Kreuz »geschlagen« wird. 27 Der Jesus am Kreuz ist der verkörperte Akt der Demut und der Höhepunkt seiner den Menschen dienenden Gesinnung, die er vollzieht, um – wie Christen heute noch glauben – die Sünden der Menschen »auf sich zu nehmen« 28. Seine Forderung nach Selbstverleugnung impliziert darüber hinaus auch, von einer Verurteilung der Menschen abzusehen, weil das »Richten« einzig Gott vorbehalten bleibt: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« 29 Das bedeutet nicht, dass der Mensch im relativistischen Sinn jede Lebensweise bedingungslos und gleichermaßen für sich gelten lassen muss, was sich schon aus Jesu Positionierung gegenüber den »Mächtigen« oder den Pharisäern ergibt. Vielmehr liegt der Akt des abschließenden und absoluten Richtens, der einen eindeutigen und unantastbaren Maßstab von »Gut« und »Böse« impliziert, nicht in menschlicher, sondern in göttlicher Hand. Der Maßstab, auf dessen Grundlage es möglich ist, zu »richten«, bildet für Jesus einzig Gott. Das ergibt sich zum Beispiel auch aus seiner Ablehnung, als »gut« bezeichnet zu werden, weil diese Bezeichnung einzig Gott vorbehalten bleibt: »Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen.« 30 Das Maß des Guten ist das Reich Gottes, dessen »Königtum« nicht von dieser »Welt« ist 31, und nicht das weltliche und menschliche Wissen und Können, das dahinter vergleichsweise unendlich zurückbleiben muss. Begibt sich der 27

Vgl. z. B. Mk 15, 16–32. Vgl. z. B. Joh 1, 29; Gal 1, 3 f. Vgl. dazu a. Jesajas viertes Lied vom Gottesknecht: »Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht;/ er lädt ihre Schuld auf sich.« Jes 53, 11. 29 Mt 7, 1. 30 Mk 10, 18; Lk 18, 19. 31 Vgl. Joh 18, 36. 28

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Mensch dagegen in die Position eines Richters, der glaubt, absolut zwischen richtig und falsch scheiden zu können, geraten seine eigenen Fehler oftmals in den Hintergrund, weshalb Jesus fragend mahnt: »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?« 32 Was Jesus einfordert, ist der Vorzug der Selbsteinschätzung vor der Fremdbewertung, um sich selbst nicht auf hochmütige Weise zu überschätzen. Weil auch Jesus nicht nach seinem Willen, sondern dem des »Herren« handelt, ist es ebenso wenig angebracht, mit seinen vermeintlich eigenen Verdiensten zu prahlen: »Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen […].« 33 Mit dieser Ablehnung der prahlerischen Selbstdarstellung grenzt sich Jesus auch gezielt von den Pharisäern oder Schriftgelehrten seiner Zeit ab. Zwar ist zu befolgen, was diese sagen, aber nicht so, dass man sich auch ihre Taten zum Vorbild nimmt, »denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen«, denn alles, »was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen […].« 34 Wer so handelt, macht sich durch sein rein »äußerliches« Verhalten, das eine entsprechende Absicht vermissen lässt, der Heuchelei schuldig, was schon die Kritiker der Demut anprangerten (I.2.3), aber bereits von Jesus selbst problematisiert wurde: »So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit.« 35 Wohl auch deswegen liest man im Matthäusevangelium von dem Rat, beim Geben von Almosen seine »linke Hand« nicht wissen zu lassen, »was die rechte tut« 36, um vielmehr in der Verborgenheit nicht dem gleichen Auftreten zu verfallen und seine wahre Größe im Akt des gegenseitigen Dienens zu sehen. 37 Später wird zum Beispiel Luther diesen Gedanken direkt auf die Demut anwenden: 32

Mt 7, 3. Mt 6, 1. 34 Mt 23, 3 u. 5. 35 Mt 23, 28. 36 Mt 6, 3. 37 Hannah Arendt verweist mit Bezug auf Jesus auf eine grundsätzliche Problematik, die den Anspruch an das gute Handeln insgesamt betrifft. Für Arendt ist das »Tun einer guten Tat nicht möglich, wenn ich mir während des Tuns ihrer 33

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»Rechte Demut weiß nimmer, dass sie demütig ist, denn wo sie es wüsste, so würde sie hochmütig von dem Ansehen derselben schönen Tugend, sondern sie haftet mit Herz, Mut und allen Sinnen an den geringen Dingen […].« 38

Für Jesus war es aber kein Widerspruch, neben dieser Demut auch eine andere, offensivere Haltung gegenüber den Menschen zu vertreten. Das Dienen schließt für ihn nicht aus, auch um den Preis des Unfriedens den nach seinem Zeugnis einzig richtigen Standpunkt Gottes geltend zu machen: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« 39 Zwar ist mit dieser Aussage auch verbunden, dass Christi Lehre selbst auf Widerstand und Unverständnis treffen wird, aber Jesus setzt seinen Anspruch vereinzelt auch in ganz konkreten Handlungen durch. Im Rahmen der »Tempelreinigung« vertreibt er beispielsweise mit einer »Geißel aus Stricken« die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel und sucht dort gezielt die Konfrontation. 40 Trotz seiner dienenden Haltung nimmt Jesus deshalb keineswegs ein rein passives, willenloses oder sich unterordnendes Verhalten ein, sondern er ist, von seinen »Nachfolgern« unterschieden, als »Sohn Gottes« »gekommen«, um auch zu »richten« 41. Aber auch dieses Richten verbindet er wiederum ganz ofbewußt bin. Hier zählt nichts anderes als: ›Laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.‹ (Matthäus 6, 3). Ja: ›Wenn du … Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen‹ (Matthäus 6, 2), ist noch nicht genug; ich muß sozusagen von mir selbst abwesend sein und nicht von mir gesehen werden.« Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Übers. v. Ursula Ludz. 12. Auflage. München 2017. S. 109. Denn, so müsste man mit Blick auf die Demut hinzufügen, wenn ich mir während des guten Handelns meiner Taten insofern bewusst bin, als dass ich sie mit Genugtuung genieße, dann stehe ich sogleich unter dem Verdacht der Heuchelei und Prahlerei (I.2.3). 38 Luther, Martin: Kritische Gesamtausgabe 1. Abteilung. Bd. 7: Schriften 1520/21 (einschl. Predigten, Disputationen). Hrsg. v. J. K. F. Knaake et al. Weimar 1897. S. 562. 39 Mt 10, 34. 40 Joh 2, 15; Vgl. a. Lk 19, 45 f.; Mt 21, 12 f.; Mk 11, 15 ff. 41 Joh 5, 27: »Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.« Vgl. z. B. a. Joh 9, 39.

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fen mit der Preisgabe seines Willens, den er in Gottes Dienste stellt: »Von mir selbst aus kann ich nichts tun; ich richte, wie ich es (vom Vater) höre, und mein Gericht ist gerecht, weil es mir nicht um meinen Willen geht, sondern um den Willen dessen, der mich gesandt hat.« 42 Mit dieser Legitimation als Sohn Gottes verfolgt Jesus einen absoluten Anspruch auf die Richtigkeit seiner Lehre, wenn er nach eigener Aussage »der Weg, die Wahrheit und das Leben« 43 ist. Deshalb kristallisiert sich seine Demut, die man rein aus dem Beispiel seines Lebens ablesen möchte, noch nicht als rein passive Tugend heraus, sondern als Haltung im Rahmen von verschiedenen Verhaltensdispositionen. Jesus hat zu keiner »knechtischen« oder »sklavischen« Demut aufgerufen, durch die man ohnmächtig resigniert, was auch die Verbreitung des Christentums in seiner »Nachfolge« unmöglich gemacht hätte. I.3.1.2 Die Demut bei Paulus Der Begriff »Demut« geht in christlicher Hinsicht historisch wie sachlich vor allem auf Paulus zurück. 44 In seinen Briefen an die Gemeinden empfiehlt Paulus die ταπεινοφροσύνη für den direkten Umgang im Lebensvollzug der Gläubigen. Aus diesem Kontext heraus und im Verbund mit Paulus’ Deutung von Christi Leben ist es möglich, die Demut detaillierter ins Auge zu fassen, als es in den Evangelien möglich war.

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Joh 5, 30. Joh 14, 6. Für diesen Anspruch siehe auch Jesus’ deutliche Aufforderung zur Parteinahme: »Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.« Mt 12, 30. 44 Vgl. Becker: Der Begriff der Demut bei Paulus. A. a. O. S. 219. Beckers Monographie ist für das paulinische Verständnis der Demut maßgebend. Vgl. für kürzere Auseinandersetzungen zur Demut bei Paulus: Feldmeier, Reinhard: Macht, Dienst, Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik. Tübingen 2012. S. 89– 113; Wengst, Klaus: »… einander in Demut für vorzüglicher halten …«. Zum Begriff »Demut« bei Paulus und in paulinischer Tradition. In: Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments. Festschrift zum 80. Geburtstag von Heinrich Greeven. Hrsg. v. Wolfgang Schrage. Berlin/New York 1986. S. 428–439. 43

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Die Demut im Neuen Testament

Nach seiner »Bekehrung« nimmt sich auch Paulus des Aufrufs zur Nachfolge Christi an und verweist mit Nachdruck auf die Taten seines »Herrn«: »Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.« 45 Weil Jesus sich in seinem Tod für die Menschen »hingab«, sieht auch Paulus die freiwillige Dienstbereitschaft und Selbsterniedrigung für die Gesinnung eines Christen vor: »Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich,/ hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich/ und wurde wie ein Sklave/ und den Menschen gleich. […] er erniedrigte sich/ und war gehorsam bis zum Tod,/ bis zum Tod am Kreuz. – Darum hat ihn Gott über alle erhöht […].« 46

Entscheidend ist die implizite Freiwilligkeit der Selbstherabsetzung, die auch Jesus, obwohl er »gottgleich« war, vorgenommen hat. Die von Jesus geforderte Selbsterniedrigung unter Gott und Mensch macht auch Paulus für sein Handeln zum Wohl der Gemeinde geltend: »Oder habe ich einen Fehler gemacht, als ich, um euch zu erhöhen, mich selbst erniedrigte und euch das Evangelium Gottes verkündete, ohne etwas dafür zu nehmen?« 47 Auch Paulus’ Handeln gilt als vorbildlich, was aber wiederum nur durch das Vorbild in Christus legitimiert ist: »Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme.« 48 Wie schon an Jesu Wirken verdeutlicht, ist dieses Vorbild maßgeblich dadurch charakterisiert, sich als »Gottes Diener« nicht nur zu empfehlen, sondern auch dementsprechend zu handeln. Das Dienen erweist sich zum Beispiel im Leiden durch »große Standhaftigkeit«, in »Bedrängnis«, »Not«, »Angst«, »unter Schlägen«, in »Gefängnissen« oder in »Zeiten der Unruhe«. 49 Hier bewährt sich die Nachfolge Christi, wenn man nicht den eigenen, sondern Gottes Willen auch um 45 46 47 48 49

2 Kor 8, 9. Phil 2, 5–9. 2 Kor 11, 7. 1 Kor 11, 1. 2 Kor 6, 4 f.

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den Preis von Leid und Tod ausführt. 50 Deshalb ist es auch verständlich, wenn Paulus um »Christi willen« darauf verweist, dass man in seiner Nachfolge als »Abschaum der Welt« Hunger, Durst, Beschimpfung oder Verfolgung ausgesetzt ist. 51 Den Ertrag dieses Handelns sieht Paulus wegen der unhintergehbaren menschlichen Bedingtheit durch Gott jedoch nicht im eigenen Vermögen oder Ruhm begründet: »Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn […].« 52 Diese Aufforderung ist schon ähnlich im alttestamentarischen Buch Jeremia zu finden: »Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit/ der Starke rühme sich nicht seiner Stärke,/ der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums. Nein, wer sich rühmen will, rühme sich dessen,/ dass er Einsicht hat und mich erkennt, dass er weiß: Ich, der Herr, bin es,/ der auf der Erde Gnade, Recht und Gerechtigkeit schafft.« 53

Der Mensch ist nach diesem Verständnis nicht aus eigener Kraft »gut«, »weise« oder »stark«, sondern er ist vielmehr mit »nichts« in die Welt gekommen, wie es bei Paulus heißt: »Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen.« 54 Auch was der Mensch im Leben vollbringt, hat er nicht aus eigenem Vermögen vollbracht, sondern er wurde vielmehr durch Gottes Gnade dazu befähigt: »Doch sind wir dazu nicht von uns aus fähig, als ob wir uns selbst etwas zuschreiben könnten; unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott. Er hat uns fähig gemacht […].« 55 Deshalb ist auch der Vorrang, den man glaubt, durch das eigene Vermögen erarbeitet zu haben, »empfangen«, aber ursprünglich nicht durch die eigenen Taten 50

Auch über Jesus hinaus steht das Leiden in den Evangelien im engen Zusammenhang mit dem Willen Gottes. Im Johannesevangelium fragen die Jünger Jesus, wessen Sünde es gewesen sei, dass ein Mann von Geburt an blind war. Jesus antwortet, dass es weder die Schuld der Eltern noch die eigene war, sondern vielmehr offenbart sich das »Wirken Gottes« an dem Schicksal des blinden Mannes. Vgl. Joh 9, 1–4. 51 Vgl. 1 Kor 4, 11 ff. 52 1 Kor 1, 31; 2 Kor 10, 17. 53 Jer 9, 22 f. 54 1 Tim 6, 7. 55 2 Kor 3, 5 f.

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begründet: »Denn wer räumt dir Vorrang ein? Und was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?« 56 Im Zentrum steht nicht der selbst geschaffene Vorzug, der auch das »Tor« zum »Reich Gottes« aufhalten soll, sondern die Gnade, die Gott den Menschen schenkt und jeden Selbstruhm überflüssig macht: »Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt –, nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann.« 57 An anderer Stelle heißt es deshalb auch: »Und einer ist der Herr: Jesus Christus. Durch ihn ist alles und wir sind durch ihn.« 58 In diesem Sinne glaubt auch Paulus nur durch Gottes Gnade das zu sein, was er ist. 59 Diese unhintergehbare Abhängigkeit begründet sowohl die Demut gegenüber Gott als auch den Menschen. Aus eigener Kraft vermag der Mensch nicht zu existieren und zu handeln, er ist ganz angewiesen auf seinen Gott. Deshalb formuliert Paulus die Forderung, nicht gegeneinander zu sein, sondern in dieser gemeinsamen Abhängigkeit von Gott eine Gemeinschaft zu bilden: »Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für weise!« 60 Die Demut verlegt das Zentrum des Bestrebens nicht auf ein miteinander konkurrierendes Verhalten, das mit den eigenen Vorzügen prahlt. Vielmehr kultiviert sie ein Bewusstsein für die kollektive Bedingtheit durch Gott, um so eine Gemeinschaft zu werden, die in diesem Wissen und Handeln eines »Sinnes« ist. Grundlegend ist dafür, das Missverständnis auszuräumen, das für den eigenen Verdienst zu halten, was eigentlich von Gott stammt, sodass zugleich die Gefahr unterbunden wird, sich selbst als allmächtig zu verstehen.

56

1 Kor 4, 7. Eph 2, 8 f. Siehe dafür a. Röm 12, 6: »Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade.« 58 1 Kor 8, 6. 59 Vgl. 1 Kor 15, 10. 60 Röm 12, 16. 57

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Unter dieses Verhalten fällt auch die schon durch Jesus bekannte Forderung, einander nicht zu »richten«, die Paulus weiterträgt: »Daher wollen wir uns nicht mehr gegenseitig richten.« 61 Die absolute und bedingungslose Verurteilung bleibt auch für Paulus dem Strafgericht Gottes vorbehalten: »Rächt euch nicht selber […], sondern lasst Raum für den Zorn (Gottes) […].« 62 Die »Weisheit dieser Welt« stellt vor Gott eine »Torheit« dar, 63 weshalb es einzig der »Herr« sein kann, der über die Menschen urteilt: »Richtet also nicht vor der Zeit; wartet, bis der Herr kommt […].« 64 Die frühchristliche Lebensausrichtung lässt alle weltlichen Ansprüche hinter sich und will sich einzig nach göttlichen Maßstäben ausrichten: »Wir dagegen wollen uns nicht maßlos rühmen, sondern jenen Maßstab anlegen, den Gott uns zugeteilt hat […]. Wir überschreiten also nicht unser Maß […].« 65 Von dieser besonnenen Selbstbeschränkung nach dem Willen Gottes liest man auch im »Römerbrief«: »Strebt nicht über das hinaus, was euch zukommt, sondern strebt danach, besonnen zu sein, jeder nach dem Maß des Glaubens, das Gott ihm zugeteilt hat!« 66 Es geht Paulus nicht darum, das Streben des Menschen grundsätzlich im Sinne einer totalen Selbstverneinung oder -versklavung aufzugeben, wie die philosophische Kritik unterstellte (I.2.1, I.2.2), sondern um das Bewusstsein für ein Maß der eigenen Handlungsmöglichkeiten, das von göttlicher Hand zugeteilt wurde. Es gilt, dieses Maß zu achten und anzuerkennen, aber nicht in Hochmut zu überschreiten, weil dadurch auch der Friede des Gemeindelebens gefährdet ist. Deshalb ist es verständlich, warum es Paulus dagegen freut, »dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig, dass ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei 61 62 63 64 65 66

Röm 14, 13. Röm 12, 19. Vgl. 1 Kor 3, 19. 1 Kor 4, 5. 2 Kor 10, 13 f. Röm 12, 3.

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tut. Sondern in Demut schätze einer den anderen höher als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.« 67

Die Demut ist hier kein Verhalten der maßlosen Selbsterniedrigung, die eine Person in Passivität zum unwirksamen Handeln anleitet, sondern sie ist die Grundlage für ein solidarisches, verständnisvolles und einander achtendes Verhalten. Weil das Selbstverständnis der Gemeinde darin besteht, nicht auf Grundlage eines menschlichen Vermögens, sondern aus Gottes Gnade heraus zu bestehen, ist es möglich, dass jedes Mitglied von der eigenen vorzüglichen Beschaffenheit und Leistung absieht, um sich dem Potential seines Nächsten in Wertschätzung zuzuwenden. Für Paulus verbietet es sich, das eigene Vermögen in prahlerischer Selbstdarstellung hervorzuheben, weil in der geteilten Bedingtheit durch Gott ein Leben im Miteinander gefragt ist. Wer sich dagegen einen allmächtigen und unantastbaren Rang in der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zugesteht, hat noch nicht eingesehen, dass diese Position einzig Gott vorbehalten ist, der alles »Weltliche« als dessen »Richter« übersteigt. Paulus ist es bei seiner Forderung nach Demut deshalb auch nicht wichtig, eine rein eigensinnige Selbstbeschränkung voranzutreiben, sondern ein Verhalten zu fördern, das auf Gott und die anderen mit bezogen ist: »Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält.« 68 Auch im »Kolosserbrief« empfiehlt Paulus, sich mit »Demut« und Werten wie »Güte«, »Milde« oder »Geduld« zu »bekleiden«, um einander in Vergebung zu ertragen. 69 Es handelt sich um Tugenden, die mit der Demut im Zusammenhang der Gegenseitigkeit für ein solidarisches Miteinander stehen und eine geschwisterliche Gemeinschaft der Gleichen im Blick haben. 70 Die Liebe charakterisiert 67

Phil 2, 2–5. Eph 4, 2 f. 69 Vgl. Kol 3, 12 f. 70 Vgl. Wengst: Demut – Solidarität der Gedemütigten. A. a. O. S. 95; Wengst: »… einander in Demut für vorzüglicher halten …«. A. a. O. S. 437. 68

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

Paulus nach Werten, die auch für die Haltung der Demut von Bedeutung sind. So heißt es im »Hohelied der Liebe«: »Die Liebe ist langmütig,/ die Liebe ist gütig./ Sie ereifert sich nicht,/ sie prahlt nicht,/ sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig,/ sucht nicht ihren Vorteil,/ lässt sich nicht zum Zorn reizen,/ trägt das Böse nicht nach. […] Sie erträgt alles,/ glaubt alles,/ hofft alles/ hält allem Stand.« 71

Sowohl die Demut als auch die Liebe implizieren die Fähigkeit, sich dem anderen zuzuwenden, ohne nachtragend zu sein, ohne auf die eigene Größe und den eigenen Vorteil zu schauen, um sich dagegen ohne Aussicht auf den eigenen Nutzen auf die gemeinsame Situation einzulassen. Deshalb bewirkt die Demut zum Wohl des Friedens und der Einheit in der Gemeinde das Gegenteil einer »Aufsteigermentalität«, weil sie nicht den eigenen Vorteil, sondern den der anderen sucht. 72 Davon abgrenzend klagt Paulus das Praktizieren einer »falschen« Demut an, die sich auf die Darstellung der eigenen Person konzentriert: »Niemand soll euch verachten, der sich in scheinbarer Demut auf die Verehrung beruft, die er den Engeln erweist, der mit Visionen prahlt und sich ohne Grund nach weltlicher Art wichtig macht.« 73 Auch seinen Körper zu »kasteien« ist kein »Zeichen« von Demut, sondern »befriedigt nur die irdische Eitelkeit«. 74 Im »Petrusbrief« liest man später ähnlich wie schon zuvor bei Paulus vom solidarischen Nutzen der Demut zugunsten der Einheit in der Gemeinde 75: »Endlich aber: seid alle eines Sinnes, voll Mitgefühl und brüderlicher Liebe, seid barmherzig und demütig!« 76 So stellt sich die Demut auch im »Petrusbrief« gegen 71

1 Kor 13, 4–7. Vgl. Wengst: »… einander in Demut für vorzüglicher halten …«. A. a. O. S. 434. 73 Kol 2, 18. 74 Vgl. Kol 2, 23. 75 Vgl. z. B. für das Demutsverständnis der »erweiterten Paulusschule«: Feldmeier: Macht, Dienst, Demut. A. a. O. S. 113–128. 76 1 Petr 3, 8. 72

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Weichenstellungen für das Verständnis der christlichen Demut

das stolze, selbstherrliche Verhalten der Menschen zugunsten einer Erhöhung durch Gott: »Alle aber begegnet einander in Demut! Denn Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade. Beugt euch also in Demut unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist.« 77

Dieses Verständnis der Demut wird auch im »Jakobusbrief« mitgetragen. 78 Von nun an muss sich jeder Christ im Angesicht des »einen« Gesetzgebers und Richters in Gott demütig fragen: »Wer aber bist du, dass du über deinen Nächsten richtest?« 79 Durch seine Briefe hat Paulus mit Blick auf das Leben Jesu einen einflussreichen Grundstein für die christliche Demut gelegt. Seine Empfehlungen an die Gemeinde und sein implizites Verständnis dieser Haltung waren für die Christenheit maßgeblich, sodass sie auch in den folgenden Ausdeutungen der Demut immer im Hintergrund stehen werden, wenn auch in verschiedenerlei Hinsicht. I.3.2 Weichenstellungen für das Verständnis der christlichen Demut Bis hier ist von einer christlichen Demut, die ihre Kritiker als reine Knechtschaft, Sklaverei oder Heuchelei verstehen, nichts zu spüren. Das demütige Verhalten resultiert im Neuen Testament aus der Abhängigkeit von Gott, der aus Gnade den Menschen ihr Dasein ermöglicht und alle irdischen Rangunterschiede überflüssig macht. Christi Beispiel folgend geht damit auch eine Demut vor den Mitmenschen einher, die eine Selbsterhöhung ausschließt und vielmehr auf ein solidarisches, einander dienendes Miteinander abzielt, indem bewusst eine niedere Position zur Hilfe des Nächsten und zugunsten einer Erhöhung durch Gott 77 78 79

1 Petr 5, 5 f. Vgl. Jak 4, 6–10. Jak 4, 12.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

eingenommen wird. Aber schon in der frühen Christenheit lassen sich wesentliche Einschnitte im Verständnis der christlichen Demut ausfindig machen, die den Fokus dieser Haltung in ein anderes Licht rücken. In der Forschung macht man dafür zum einen den »Ersten Clemensbrief« und zum anderen den »Hirt des Hermas« verantwortlich. 80 Der »Erste Clemensbrief« (96/97 n. Chr.) stellt als eines der frühsten Dokumente des Urchristentums die Demut in eine Reihe mit Begriffen wie »Gehorsam«, »Einordnung« oder »Unterordnung«, sodass die demütige Haltung »die religiöse Autorität um ihrer selbst willen anerkennt«. 81 Der Aufruf zum Gehorsam war zwar schon in den paulinischen Briefen gegeben, 82 entscheidend ist aber, dass nun die Demut eindeutig zu einer unmittelbaren Stütze für diese Unterordnung wird. So betont Klaus Wengst mit Nachdruck, dass die vormalige paulinische Aufforderung zur Demut an die Gemeinden nicht innerhalb einer hierarchischen Struktur vorgenommen wurde, sondern im Horizont von Gleichheit und Gegenseitigkeit erfolgte. 83 Zentral für die Veränderung dieses Verständnisses der Demut ist die Aufforderung im »Ersten Clemensbrief« zum Gehorsam, der sich durch eine demütige »Niederwerfung« auszeichnet: »Laßt uns darum seinem großartigen und glorreichen Ratschluß gehorchen und […] uns niederwer-

80

Andere wesentliche Entwicklungsschritte der christlichen Demut zeichnet Ekkehard Mühlenberg nach. Im frühen Christentum skizziert er einen Weg von der Entdeckung der Demut als Tugend über differenziertere Bestimmungsversuche bis hin zur Integrierung dieser Haltung als Lebensform. Maßgebliche Autoren sind dafür zum Beispiel Origenes und Jesajas Monachus. Vgl. Mühlenberg: Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. A. a. O. S. 120–151. 81 Vgl. Brunner, Gerbert: Die theologische Mitte des Ersten Klemensbriefs. Ein Beitrag zur Hermeneutik frühchristlicher Texte. Frankfurt am Main 1972. S. 134. 82 Siehe z. B.: »Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt.« Röm 13, 1. 83 Vgl. Wengst: »… einander in Demut für vorzüglicher halten …«. A. a. O. S. 428. Dies ändert sich nach Wengst Einschätzung nicht nur mit dem »Clemensbrief«, sondern auch schon tendenziell im »Ersten Petrusbrief«. Vgl. Wengst: »… einander in Demut für vorzüglicher halten …«. A. a. O. S. 439.

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Weichenstellungen für das Verständnis der christlichen Demut

fen […], indem wir von der eitlen Bemühung, vom Streit und von der Eifersucht […] ablassen.« 84 Für Beispiele des Gehorsams gegenüber Gott, der auch dem Gemeindeleben zugute kommen soll, rekurriert Clemens auf zentrale Figuren des Alten Testaments wie zum Beispiel Noah, Lot oder Abraham. 85 Von diesen geistlichen Autoritäten ausgehend kann Clemens fordern: »Laßt uns also demütig sein, Brüder, indem wir alle Prahlerei und Aufgeblasenheit und Unverstand und Zornesbrüche ablegen und tun, was geschrieben steht.« 86 Die Demut resultiert aus der göttlichen Autorität in Gestalt der heiligen Schrift, also aus der bedingungslosen Anerkennung von dem, »was geschrieben steht«. Der Fokus, der noch bei Paulus und Jesus auf der Selbstbeschränkung für den Dienst am Nächsten lag, verschiebt sich bei Clemens hin zur Demut aus Gehorsam im Angesicht einer Autorität: »Mit diesem Gebot und mit diesen Weisungen wollen wir uns stärken, auf daß wir gehorsam gegenüber seinen heiligen Worten in Demut wandeln.« 87 Demut und Gehorsam bedürfen damit zur Legitimierung ausschließlich das Wort Gottes. Christus »gehört« den »Demütigen«, aber nicht jenen, die sich »gegen seine Herde auflehnen«. 88 Gefordert wird ein bedingungsloses Gehorchen und Unterordnen unter »die Schrift«, aber nicht das Auflehnen gegen jene, die nach seinem Wort handeln. Damit ist die Autorität, auf die sich die Demut bezieht, auch auf den Menschen als Wortführer des »Reich Gottes« übertragbar und vor einer menschlichen Instanz praktizierbar. Die Demut ist nicht länger eine allgemeine Haltung des »Gebeugt- und Niedrigseins«, sondern speziell eine »Haltung des gehorsamen sich Einund Unterordnens«, die einer Verbesserung des Menschen dien-

84

Clemens I.: Der erste Clemensbrief. Übers. und erklärt v. Horacio E. Lona. Göttingen 1998. S. 190 (9,1). Alle Stellen des »Clemensbriefes« werden im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Abkürzung »1 Clem« und den entsprechenden Kapiteln und Versen angegeben. 85 Vgl. 1 Clem 9,2–10,7. 86 1 Clem 13, 1. 87 1 Clem 13, 3. 88 1 Clem 16, 1.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

lich sein soll. 89 Nun ist sie eine »konkrete Verhaltensvorschrift« am Nächsten 90, womit sich das Verständnis der christlichen Demut als »gehorsame Untertänigkeit« zu einer wirkmächtigen Deutung dieser Haltung entwickeln konnte. 91 Dem schließt sich auch die Vorstellung an, man müsse seinen Geist für den Akt der Demut »zerknirschen« und »demütigen«, wovon im »Clemensbrief« ebenfalls die Rede ist: »Opfer für Gott ist ein zerknirschter Geist; ein zerknirschtes Herz und gedemütigtes Herz wird Gott nicht verachten.« 92 Mit dem »Hirt des Hermas« (1. Hälfte des 2. Jh. n. Chr.) gerät die Demut über den Akt des gehorsamen Einordnens hinaus in den Kontext einer »Bußstimmung« in Gestalt von Akten der Selbsterniedrigung, Askese und Pein, wobei bis in das 1. Jh. n. Chr. die Demut selbst noch nicht Teil eines Kanons konkreter Verhaltensregeln war, was sich aber schon mit dem eben skizzierten »Clemensbrief« zu ändern begann. 93 Im fünften Gleichnis des »Hirten« gibt dieser in Gestalt eines Engels Anordnungen zum richtigen Fasten. Gefordert ist das Unterlassen böser Taten, keine »böse Begier« im Herzen aufsteigen zu lassen sowie Gott mit »reinem Herz« zu dienen und seine Anforderungen zu befolgen. 94 Ebenfalls ist es erforderlich, am Tag des Fastens nur Brot und Wasser zu sich zu nehmen, um das für den weiteren Nahrungsbedarf verwendete Geld den Menschen in Not zu spenden, wobei dieser Verzicht vom »Hirten« explizit als »Selbsterniedrigung« verstanden wird. 95 Diese Selbsterniedrigung steigert sich mit der Forderung, seinen Leib möglichst »rein und unbefleckt« zu halten, 96 89

Vgl. Brunner: Die theologische Mitte des Ersten Klemensbriefs. A. a. O. S. 133. Vgl. Dihle: Demut. A. a. O. S. 752. 91 Vgl. Wengst: Demut – Solidarität der Gedemütigten. A. a. O. S. 103. 92 1 Clem 18, 17. 93 Vgl. Harnack: Sanftmut, Huld und Demut in der alten Kirche. A. a. O. S. 123, 125. 94 O. A.: Der Hirt des Hermas. Über. u. erklärt von Norbert Brox. Göttingen 1991. S. 302 (V 1, 5). Alle verwendeten Stellen des »Hirten« beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im Folgenden, wie eben angegeben, verkürzt zitiert. 95 V 3, 7. 96 V 7, 1. 90

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Johannes Cassian und die Demut der »Wüstenväter«

sowie im Bußakt gegen die eigenen Sünden. Die Sünden werden demnach in der Buße nicht sofort »nachgelassen«, sondern vielmehr »muss der Büßer seine Seele peinigen und bei all seinem Tun ganz demütig werden und vielen verschiedenen Qualen unterworfen werden«. 97 Es ist »notwendig«, diese Qualen für sich und seine Familie zu ertragen, indem man »demütig« bleibt und dem Herren mit »reinem Herzen« dient, weil nur auf diese Weise die Buße »stark« und »rein« sein kann. 98 Praktiken wie diese ordnet der Engel explizit als eine »Behandlung« an. 99 Die »Verkümmerung der Demut zur Selbsterniedrigungsaskese« 100 findet mit dem »Hirten« ihren Anfang, während Paulus noch zuvor ähnliche Praktiken ablehnte 101. Die Demut wird zur Demütigung als selbstverneinender Akt der Erniedrigung im Kontext eines Glaubens an die menschliche Sündhaftigkeit und der notwendigen Buße gesteigert. In Verbindung mit Clemens’ Forderung nach demütigem Gehorsam entsteht allmählich ein Bild der Demut, das ihr den Geschmack einer bedingungslosen Unterordnung und freiwilligen Selbstkasteiung verleiht, unter welcher der Eigenwille gebrochen werden soll. In christlicher Tradition wird sich dieses Verständnis fortsetzen, aber nicht die einzige Ausdeutung dieser Haltung sein. I.3.3 Johannes Cassian und die Demut der »Wüstenväter« Johannes Cassian (360–430/435) konkretisiert in seinen »Unterredungen mit den Vätern« Verhaltensweisen der Demut, welche auf die monastische Lebenspraxis des Christentums einen wesentlichen Einfluss ausübten. Der als »Wüstenvater« bekannte Cassian beruft sich in seinen Schilderungen stets auf eben jene Stellen in den Evangelien und den paulinischen Briefen, die für den Grund97

VII, 4. Vgl. VII, 5 f. 99 Vgl. VII, 1. 100 Harnack: Sanftmut, Huld und Demut in der alten Kirche. A. a. O. S. 126. 101 Vgl. Kol 2, 23. 98

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

stein der demütigen Nachfolge Christi ausschlaggebend waren. 102 Cassian bezeichnet die Demut nun konkret als eine Tugend, der er einen gesonderten Platz zuweist: »Die Demut jedoch ist die Lehrmeisterin aller Tugenden, sie ist das allersicherste Fundament des himmlischen Bauwerks [der Tugenden; Anm. des Übersetzers], sie ist das besondere und köstliche Geschenk unseres Erlösers.« 103

Diese Auszeichnung der Demut im Verhältnis zu allen anderen Tugenden hatte lange Zeit großen Einfluss auf das christliche Selbstverständnis. Auch für den bedeutenden Kirchenvater Augustinus († 430) galt die Demut als »Grundlage aller Tugenden« 104 und später lässt Hildegard von Bingen († 1179) in ihrem Singspiel »Reigen der Tugenden« (lat. Ordo Virtutum) die »Königin Demut« (lat. Humilitas Regina) als die »Königin der Tugenden« sagen: »Kommet zu mir, ihr Tugenden, und ich werde euch stark machen.« 105 Noch im Barock ist dieses Verständnis im »Cherubinischen Wandersmann« (1657/1675) von Angelus Silesius erhalten: »Die Demut ist der Grund, der Deckel und der Schrein,/ In dem die Tugenden stehn und beschlossen sein.« 106 Schließlich 102

In der 19. Unterredung verweist Cassian z. B. auf die Worte Jesu, dass er nicht seinen, sondern den Willen seines Vaters tue (Joh 6, 38), oder er zitiert die von Paulus geschilderte Erniedrigung Jesu in Phil 2,8. Vgl. Cassian, Johannes: Unterredungen mit den Vätern. Teil 3: Collationes 18 bis 24. Übers. v. Gabriele Ziegler. Münsterschwarzach 2015. S. 89 (Col 19, 6). Die Unterredungen 18 bis 24 beziehen sich auf den eben angeführten Beleg, der im Folgenden durch die Sigle »Col« mit der entsprechenden Stelle angegeben wird. 103 Cassian, Johannes: Unterredungen mit den Vätern. Teil 2: Collationes 11 bis 17. Übers. v. Gabriele Ziegler. Münsterschwarzach 2014. S. 168 (Col 15, 7). Die Unterredungen 11 bis 17 beziehen sich auf den eben angeführten Beleg, der im Folgenden durch die Sigle »Col« mit der entsprechenden Stelle angegeben wird. 104 Vgl. Baumann: Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus. A. a. O. S. 133–192. 105 Bingen, Hildegard v.: Reigen der Tugenden. Ordo Virtutum. Ein Singspiel. Hrsg. u. übers. v. der Abtei St. Hildegard. Berlin 1927. S. 81. 106 Silesius, Angelus: Cherubinischer Wandersmann. In: Ders.: Sämtliche poetische Werke. Bd. 3. Hrsg. v. Hans Ludwig Held. 3. Auflage. München 1949. S. 5–220, hier I, 94.

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Johannes Cassian und die Demut der »Wüstenväter«

liest man auch in Dietrich von Hildebrands Werk »Christliche Ethik«, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen ist, daß die Bedeutung der Demut solcherart ist, »daß sie die gesamte Sittlichkeit verwandelt. Sie durchdringt alle anderen Tugenden und verleiht jeder einen neuen Wert ohnegleichen. Nur auf der Grundlage der Demut entfalten alle anderen Tugenden ihre volle Schönheit.« 107 Bei Cassian bildet die Demut in Verbindung mit der »Einfachheit« die »festesten Grundmauern«, auf deren Verankerung der »Turm geistiger Tugenden« 108 in die Höhe gezogen werden kann und der »Wolkenbrüchen von Leidenschaften« oder einem wütenden »Sturm feindlicher Geister« zu trotzen vermag. 109 Wie beim »Hirten«, der den Leib von Sünden »rein« halten wollte, findet sich auch bei Cassian ein Bestreben im Verbund mit der Demut, sich gegen die Leidenschaften des »Fleisches« zu wappnen. Zur Tugend der Demut und Geduld gelangt man laut Cassian aber nicht durch eine »gespielte Demut«, bei der man mit heuchlerischen Worten, »theatralischen und überflüssigen Verbeugungen« oder mit der Zurschaustellung der eigenen Laster die Blicke auf sich zieht. 110 Vonnöten ist auch nicht die »Großartigkeit von Zeichen«, sodass man vor den Menschen wie ein »Schauspieler« »unreine Geister« oder Krankheiten austreiben will. 111 Wie schon Paulus (I.3.1.2) kennt auch Cassian den Verdacht gegen eine Demut, die sich auf dem Schein von Äußerlichkeiten ausruht, aber nichts über den eigentlichen Willen der Person verrät. Die Authentizität der Demut zeichnet sich stattdessen für den Wüstenvater im Festhalten an der »echten Herzensdemut« aus, 107

Hildebrand, Dietrich v.: Christliche Ethik. Düsseldorf 1959. S. 543. Im »Wandersmann« wird die Demut ebenfalls als fester »Grund« verstanden: »Mensch überheb dich nicht, die Demut ist dir Not;/ Ein Turn ohn rechten Grund fällt von sich selbst in Kot.« Silesius: Cherubinischer Wandersmann. A. a. O. III, 61. 109 Cassian, Johannes: Unterredungen mit den Vätern. Teil 1: Collationes 1 bis 11. Übers. v. Gabriele Ziegler. Münsterschwarzach 2011. S. 270 (Col 9, 2). Die Unterredungen 1 bis 11 beziehen sich auf den eben angeführten Beleg, der im Folgenden durch die Sigle »Col« mit der entsprechenden Stelle angegeben wird. 110 Col 18, 11. 111 Col 15, 7. 108

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

die nicht als eine vorgespielte und rein äußerliche Erniedrigung daherkommt, sondern eine Demut aus dem »[I]nnersten des Geistes« ist. 112 Am gründlichsten ist die Demut im monastischen Leben anhand der Geduld nachzuweisen, wenn einer das, was »ihm von einem anderen in arroganter Weise angetan wird, für nichts ansieht und ihm zugefügte Beleidigungen mit geduldigem Gleichmut des Geistes erträgt«. 113 Ähnliche Berichte, in denen die Demut als das Aushalten von Beschimpfungen, Verleumdungen oder Schlägen charakterisiert ist und die auf diese Weise sogar den »Teufel« vor den Mönchen zurückschrecken lässt, sind auch in den »Weisungen der Väter« (Ende des 5. Jh.) nachzulesen, die auch als die »Apophthegmata Patrum« bekannt sind. 114 Ist die Demut in dieser Form verinnerlicht, bedarf es, wie es bei Cassian heißt, weder der »Wohltat des Kellions« noch der »Flucht in die Einsamkeit« und damit keines »Schutzes« vor Versuchungen bei »irgendetwas draußen«, weil der Mönch durch die Demut als »Erzeugerin« und »Wächterin« der »Geduld« und der »Ausgeglichenheit« »drinnen« oder »in« sich selbst gestützt wird. 115 Wird der Mönch aber noch immer von jemandem aufgebracht, ist das ein Zeichen dafür, dass die »Fundamente der Demut« nicht fest genug verankert sind. 116 Überfällt den Einsiedler in diesem Fall der »Strudel der Ungeduld oder des Zorns«, kann er eine Art Einübung in die Demut vornehmen: Er gewöhnt seinen Geist daran, »sich in alles, was Gemeinheit ihm antun kann, mit vollkommener Demut zu fügen«, indem er sich verschiedene Arten des Unrechts und der Beleidigung ihm gegenüber vorstellt. 117 »Wenn ein Mensch sich 112

Vgl. Col 18, 1. Ebd. Vgl. für die »unerschütterliche Demut des Herzens« a. Col 14, 10 oder Col 23, 21. 114 Vgl. Weisungen der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt. Übers. v. Bonifaz Miller. Leipzig 1974. S. 355 (Nr. 1050), 356 (Nr. 1058), S. 359 (Nr. 1065). 115 Vgl. Col 18, 13. 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. Col 19, 14. Siehe dafür auch aus philosophischer Perspektive die Gedanken Epiktets, mit denen er ganz ähnliche Praktiken – wenn auch vor einem anderen Hintergrund – einfordert: »Gib dir Mühe, dich als einen Niemand und Unwissenden zu sehen. Nur eines zeige mir, nämlich, dass du nichts verfehlst, 113

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Johannes Cassian und die Demut der »Wüstenväter«

selbst tadelt, dann kann er überall bestehen«, 118 heißt es schon in den »Weisungen der Väter« und auch der »Mönchsvater« Pachom (287–347) hatte bereits für die mönchische Praxis in der Gemeinschaft zum »Aushalten in Demut« gemahnt, wie man es ähnlich schon bei Paulus nachlesen konnte (I.3.1.2). 119 Schließlich führt diese Einübung in Demut und Gehorsam bei Cassian zur Vorstellung von der »Abtötung des Eigenwillens« 120. Lobenswert ist deshalb das Verhalten eines »jungen Mannes«, der vor den Augen seiner Mitbrüder vom Abt eine Ohrfeige erhält, diese aber mit »unglaublich sanftmütigem Herzen in erstaunlicher Geduld« erträgt und dabei keinen Ton von sich gibt oder anderweitig die Beherrschung verliert. 121 An anderer Stelle preist Cassian die Demut und die Selbstverleugnung des Abtes Pinufius. Dieser Priester eines großen ägyptischen Klosters von hohen Ehren und Ansehen floh heimlich aus seinem Amt, damit er wieder in den Status der Unterordnung gelangen konnte. In einem anderen Kloster, von dem er, wie es heißt, wusste, dass es das strengste war, nahm er unerkannt die schwierigsten und beschämendsten Aufgaben auf sich, um sich so in Gehorsam und Demut zu üben. Nach drei Jahren fanden die ehemaligen Brüder den Entlaufenen und nahmen ihn wieder mit sich zurück, bevor er die erneute Flucht antrat. 122 Diese für die Mönche nachahmenswerten Berichte mawas du erreichen willst, und dass du in nichts hineingerätst, was du vermeiden willst. Andere mögen über Rechtshändel, Probleme und logische Schlüsse nachsinnen, du lerne zu sterben, Gefängnis, Marter und Verbannung zu ertragen. Dies alles tu mit Zuversicht und im Vertrauen auf den, der dich dazu berufen und dir diese Aufgaben zugewiesen hat.« Epiktet: Diatriben 2,1: »Über den scheinbaren Widerspruch von Zuversicht und Behutsamkeit«. Zitiert nach: Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte. Übers. u. hrsg. v. Wolfgang Weinkauf. Stuttgart 2009. S. 213. Vgl. Epiktet: Handbüchlein der Moral. A. a. O. S. 29 (Kap. 22). 118 Weisungen der Väter. A. a. O. S. 355 (Nr. 1051). 119 Vgl. Pachom: »An einen grollenden Mönch«. In: Über den geistlichen Kampf. Katechesen des Mönchsvaters Pachom. Kommentiert u. übers. v. Christoph Joest. Beuron 2010. S. 25–52, hier 32 (20). 120 Vgl. Col 3, 1. 121 Vgl. Col 19, 1. 122 Vgl. Kassian, Johannes: Das gemeinsame Leben im Kloster Buch I–IV. In: Frühes Mönchtum im Abendland. Erster Band: Lebensformen. Übers. v. Karl Suso

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chen deutlich, wie sehr das Verständnis der christlichen Demut bereits mit Gehorsam, einer niedrigen sozialen Stellung und entsprechenden Arbeiten verknüpft war. 123 Es war für Pinufius durch sein hohes Amt als Abt gar nicht mehr möglich, demütig und gehorsam zu sein, weshalb er mehrfach die Flucht unternahm. Wer in der »Demut des Geistes« verharrt, ist laut Cassian tatsächlich, wie es Jesus forderte, in der Lage, seine Feinde zu lieben, und mit »Geduld«, »Milde« und »Barmherzigkeit« dazu fähig, nicht über die Laster und Schwächen der Sünder in Zorn zu geraten, sondern mitleidend für sie um Vergebung zu bitten. 124 Aus Paulus’ Forderung, in Demut eines Sinnes zu sein und einander höher zu achten, als sich selbst, schließt Cassian, »dass der Gipfel wahrer Urteilsfähigkeit eher auf dem Urteil des anderen als dem eigenen fußt«. 125 Deshalb besteht auch die »erste Bewährungsprobe der Demut« darin, alle Gedanken der Prüfung eines Älteren zu unterziehen. 126 Durch diese Unterweisung eines Oberen geprägt zu werden, stellt die Demut dessen auf die Probe, der zum »heiligen Dienst« berufen ist. 127 Darüber hinaus ist auch das, was durch die »Väter« oder als »Überlieferung« weitergegeben wurde, in »tiefster Demut« zu befolgen und nachzuahmen. 128 Wie auch bei Paulus sind mit Blick auf das Leiden Jesu demjenigen, der in »echter Demut« wandelt, alles Unrecht und Leid willkommen und auch über den Verlust seines Vermögens kann er, eben weil es ihm nur durch Gott und nicht aus eigener Kraft gehört, keine Trauer verspüren. 129 Mit Hilfe der Tugend der DeFrank. Zürich/München 1975. S. 107–193, hier 182–185 (Buch IV, 30 u. 31). Ein weiterer Bericht erzählt ebenfalls von einem Bischof, der sein Amt aufgab, um als »Handlanger« zu dienen. Vgl. Weisungen der Väter. A. a. O. S. 368. (Nr. 1089). 123 Dafür steht auch der folgende Spruch der »Väter«: »Der Weg zur Demut ist aber dieser: Man soll körperliche Arbeit leisten, man soll sich selbst für einen sündigen Menschen halten, man soll sich allen unterwerfen.« Weisungen der Väter. A. a. O. S. 362 (Nr. 1083). 124 Vgl. Col 11, 9. 125 Col 16, 11. 126 Col 2, 10. 127 Vgl. Col 2, 14. 128 Vgl. Col 18, 3. 129 Col 24, 23. Cassian bezieht sich auf 1 Tim 6, 7 und die folgende Stelle im

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mut gilt es ebenso, das »Gut der Diskretio« als Einhaltung eines Maßes zu kultivieren, das vor jeder Übertreibung, zum Beispiel hinsichtlich des Fastens, abhält. 130 Denn auch beim Verzicht auf Nahrung ist es für Cassian notwendig, das Maß zu bewahren, sodass man zum Beispiel dem Körper zugunsten des »Geistes« so viel Nahrung zugesteht, wie es zur »Erhaltung des Leibes«, nicht aber zur Sättigung erforderlich ist. 131 Es »demütigt« auch der Widerstreit von »Fleisch« und »Geist« und erinnert bei allen geistlichen Erfolgen des Einsiedlers daran, dass er noch ein Mensch ist. 132 So wird zum Beispiel der Geist, wenn er im Überschwang zum Unmöglichen und Unüberlegten hinsichtlich der eigenen spirituellen Erfolge hingerissen wird, durch die »Gebrechlichkeit des Fleisches« gedemütigt und gemäßigt. 133 Nietzsche, Heine, Stirner und auch Schmitz sehen zunehmend bei der bis hier skizzierten Entwicklung ihren Vorwurf bestätigt, dass die Demut eine Unterdrückung der Begierden begründet, worunter exemplarisch auch das Abtöten des Eigenwillens fällt. 134 Was die philosophische Kritik grundsätzlich nicht bedenkt, ist die Rolle der Demut für ein friedliches und barmherziges Zusammenleben, wie es Cassian für die Gemeinde der Mönche vorsieht. Cassian steht mit seiner Ausdeutung der Demut in paulinischer Tradition, aber versteht sie darüber hinaus als Fundament der christlichen Tugenden. Ihm ist es ein Anliegen, Verhaltensweisen der Demut am Beispiel des monastischen Lebens und dessen Herausforderungen konkret auszubuchstabieren und zu veranschaulichen, was in der folgenden »Regel des heiligen Benedikt« noch ausführlicher geschieht.

»Zweiten Korintherbrief«: »Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage […].« 2 Kor 12, 10. 130 Col 2, 16. 131 Col 2, 16 f. u. 22. 132 Vgl. Col 4, 15. 133 Vgl. Col 4, 12 u. 16. 134 Vgl. Col 24, 23.

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I.3.4 Die Stufen der Demut in der »Regel des heiligen Benedikt« Die »Benediktsregel« des Benedikt von Nursia († 550) führt die Demut im Anschluss an Cassian weiter in ein formalisiertes und streng geordnetes Regelwerk des monastischen Lebens ein. In der »Regel« fordert Benedikt explizit, die »Unterredungen« des Cassian zu lesen und versteht sie neben anderen Schriften als eine »Anleitung zur Tugend«. 135 Dementsprechend tauchen alle der »Anzeichen«, die Cassian für die Demut im gemeinsamen Klosterleben vorsieht, in der Benediktsregel wieder auf. 136 Mehr denn je ist die Demut bei Benedikt ein fester Bestandteil vorgeschriebener Leitlinien einer »Regel«, welche die Mönche als »Lehrmeisterin« streng zu befolgen haben. 137 Der erste Schritt zur Demut besteht im »Gehorsam ohne Zögern«, 138 was sich im Verhältnis zu Gott, dem Abt oder den Mitbrüdern widerspiegelt und einflussreich anhand von »zwölf Stufen der Demut« dargelegt wird. Benedikt leitet aus Christi Worten – wer sich erhöht, wird erniedrigt und wer sich erniedrigt, wird erhöht 139 – ab, dass »jede Selbsterhöhung aus dem Stolz hervorgeht«. 140 Zur Vermeidung dieses Fehlverhaltens und um die »Erhöhung im Himmel« zu erlangen, bedarf es der Demut, durch deren Taten eine »Leiter« 141 errichtet 135

Vgl. Die Regel des heiligen Benedikt. 5. Auflage. Übers. v. Michaela Puzicha. Hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz. Beuron 2019. Kapitel 42, 3 ff. und 73, 5 f. Im Folgenden abgekürzt als »RB« mit Kapitel und Vers. 136 Einige dieser von Cassian empfohlenen Anzeichen der Demut, die für Benedikt bereichernd waren, seien hier kurz erwähnt. Es handelt sich z. B. um das Abtöten der Neigungen, das Unterlassen von Klagen bei geschehendem Unrecht, das Selbstverständnis, ein schlechter Arbeiter zu sein, oder das Unterlassen des Lachens. Ebenso von Bedeutung ist das Anvertrauen der Gedanken an die Oberen und deren Verfügung über die Handlungsgewalt. Vgl. Kassian: Das gemeinsame Leben im Kloster Buch I–IV. A. a. O. S. 190 (Buch IV, 39, 2). 137 Vgl. RB 3, 7. 138 RB 5, 1. 139 Vgl. Mt 23, 12; Lk, 14, 11; Lk 18, 14. 140 RB 7, 1 f. 141 Benedikt bezieht sich auf die »Jakobsleiter«, die im Alten Testament ihren Namen durch einen Traum des Jakob erhielt: »Da hatte er einen Traum: Er sah

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Die Stufen der Demut in der »Regel des heiligen Benedikt«

wird, die einen Weg »nach oben« ebnet. 142 Mit der Demut kann der Gläubige auf die höchste Stufe zur »vollendeten Gottesliebe« hinaufsteigen, während die Selbsterhöhung umgekehrt »nach unten« und damit von Gott weg führt. 143 Das Prinzip der Leiter übernimmt somit die von Jesus geforderte Selbsterniedrigung, durch die der demütige Mönch in der »Gottesliebe« erhöht wird. Auf der ersten Stufe der Leiter fordert Benedikt, in »Gottesfurcht« seinen Schöpfer nicht zu vergessen und auf der Hut vor Sünden und Fehlern zu sein, indem man bedenkt, dass Gott zu jeder Stunde vom Himmel auf die Menschen herabblickt. 144 Darunter fällt auch, den »Eigenwillen« abzulegen, sein Leben nach der »Schrift« auszurichten und sich vor den »Begierden des Fleisches« oder »jeder bösen Begierde« in Acht zu nehmen. 145 Auch auf der zweiten Stufe soll der Mönch seinen »Eigenwillen« nicht weiter lieben und deshalb auch keine Freude an der Erfüllung seiner Begehren verspüren, weil auch Jesus gekommen ist, um nicht seinen, sondern den Willen seines Vaters zu erfüllen. 146 Daraus resultiert auch auf der folgenden Stufe das weltliche Verhältnis zum »Oberen«, dem man sich »in vollem Gehorsam« aus Liebe zu Gott unterwerfen möge. 147 Diesen Gehorsam gilt es viertens auch dann auszuüben, wenn es »hart« und »widrig« zugeht und dem Mönch dabei Unrecht widerfährt. 148 Mit der fünften Stufe eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.« Gen 28, 12. 142 Vgl. RB 7, 5 f. 143 Vgl. RB 7, 7 u. 67. Dieses Verhältnis schildert bereits auch ein »Spruch« der »Väter«: »Je geneigter einer zur Demut ist, desto mehr nimmt er im Guten zu. Denn gleich wie der Stolz, selbst wenn er bis zum Himmel sich erhöbe, in die Hölle gestürzt wird, so wird auch die Demut, und wenn sie auch bis zur Hölle sich erniedrigte, bis zum Himmel erhoben werden.« Weisungen der Väter. A. a. O. S. 362 (Nr. 1079). 144 Vgl. RB 7, 10 u. 12 f. 145 Vgl. RB 7, 19 ff.; RB 7, 23 ff. 146 Vgl. RB 7, 31 f. 147 Vgl. RB 7, 34. 148 Vgl. RB 7, 35 u. 42. Vgl. dafür auch aus stoischer Perspektive die Forderung Epiktets, die richtige Vorstellung von den Göttern zu haben, »daß sie existieren und das Weltall gut und gerecht regieren und daß du die Bereitschaft haben mußt, ihnen zu gehorchen und dich allem, was geschieht, zu fügen und freiwillig

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ist der Mönch dazu angehalten, seinem Abt »demütig« alle bösen Gedanken mitzuteilen, ohne etwas zu verbergen. 149 Die Demut ist hier in den Kontext einer schonungslosen Selbstbetrachtung gestellt, die aber nicht selbstständig, sondern unter der Kontrolle des Abtes durchgeführt wird. Auf der sechsten Stufe möge sich der Mönch mit dem »Allergeringsten« und »Letzten« zufrieden geben und sich bei »allem, was ihm aufgetragen wird, für einen schlechten und unwürdigen Arbeiter« halten. 150 Die siebte Stufe will garantieren, dass der Mönche nicht in Form eines bloßen Lippenbekenntnisses erklärt, dass er niedriger und geringer als alle anderen sei, sondern dies auch aus »tiefstem Herzen« glaubt, während es auf der achten Stufe heißt, dass der Mönch sich ausschließlich an die vorgeschriebenen Regeln und das, »was die Väter mahnen«, zu halten hat. 151 Die Stufen Neun und Zehn betreffen das unmittelbare Auftreten und Verhalten des Mönches, der zum Beispiel so lange schweigsam sein muss, bis er gefragt wird, und grundsätzlich »nicht leicht und schnell« zum Lachen bereit sein soll. 152 Wenn dagegen der Mönch spricht, muss er dies laut der elften Stufe »ruhig und ohne Gelächter, demütig und mit Würde« tun und dabei ohne Geschrei wenige und vernünftige Worte finden. 153 Die letzte Stufe verbleibt bei der »äußeren« Haltung des Mönches und schreibt vor, dass die »ganze Körperhalzu folgen, in der Überzeugung, daß es von der vollkommensten Einsicht zum Ziel geführt wird.« Epiktet: Handbüchlein der Moral. A. a. O. S. 45 (Kap. 31). 149 Vgl. RB 7, 44. 150 Vgl. RB 7, 49. 151 Vgl. RB 7, 51 u. 55. 152 Vgl. RB 7, 56 u. 59. In seiner monumentalen Studie über das Lachen liest Lenz Prütting verschiedene Formen des Lachens in der frühchristlichen Literatur als Analogie zum christlichen Verständnis von Demut und Hochmut. Das »äußere« oder »körperliche« Lachen bezieht sich auf irdische, vergängliche Güter und gilt als Hoffart bzw. Hochmut, wobei auch hier das »verpönte schallende Gelächter des Narren« zu verorten ist. Das »innere« oder »geistige Lachen des Herzens« äußert sich meist als stilles Lächeln ohne Selbstgenuss und ist als »Bekundung wahrer, auf die ewigen Güter gerichteter Freude« ein Kriterium für die Demut. Vgl. Prütting, Lenz: Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Form und Funktion des Lachens. 4. Auflage. Freiburg/München 2016. S. 388 f. 153 Vgl. RB 7, 60.

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tung« ein Ausdruck der Demut sein muss, indem stets das Haupt immer geneigt und der Blick zu Boden gesenkt ist, wobei sich der Mönch mit seinem sündhaften Leben schon diesseitig vor das »Gericht« Gottes gestellt sehen möge. 154 Von guten Taten, zu denen die Diener Gottes imstande wären, liest man im Kontext der Demut nichts, aber an anderer Stelle der »Regel« heißt es dazu: »Sieht man etwas Gutes bei sich, es Gott zuschreiben, nicht sich selbst.« 155 Diese Aufforderung ist die konsequente Weiterführung der Worte des Paulus (I.3.1.2), der danach fragte, was man denn nicht von Gott empfangen hätte. 156 Wir finden auch in der »Regel des heiligen Benedikt« im Anschluss an Cassian ein Verständnis der Demut vor, das sich durch die »Verneinung des Eigenwillens« zugunsten des absoluten Gehorsams unter den Willen Gottes oder einer geistlichen Autorität auszeichnet. Der Mönch hat sich seiner Pflicht und seiner Niedrigkeit gegenüber Gott und seinen Oberen permanent bewusst zu sein. Mit der »Regel« ist ein Verständnis der Demut allgemein verbindlich für das Mönchtum institutionalisiert und im Detail nachvollziehbar ausformuliert. Jede Stufe der Demut ist nicht rein willkürlich, sondern ausführlich mit Stellen des Alten und Neuen Testaments unterlegt und durch die christliche Tradition legitimiert. Das Resultat ist eine Art »Anleitung« zur Demut, welche sich auf grundlegende Verhaltensweisen des alltäglichen Lebens erstreckt und mit deren Hilfe der Abt wie auch die Mönche ihr Verhalten gegenseitig kontrollieren können. War die Demut bei Jesus und Paulus noch nicht als Haltung konkret expliziert und vereindeutigt, ist dies spätestens mit der »Benediktsregel« detailliert geschehen. Die Demut wird zur Vorschrift, die nicht nur »innerlich«, sondern auch in der sichtbaren Haltung des gesenkten Kopfes, des Schweigens oder des Redens verkörpert ist. Man muss jedoch davor warnen, von dieser kurzen Darstellung der einzelnen Stufen auf den tatsächlichen und ganzheitlichen Lebensstil der Mönche zu schließen. Das demütige Nied154 155 156

Vgl. RB 7, 62 ff. RB 4, 42. Vgl. 1 Kor 4, 7.

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rigsein ist Teil eines grundsätzlichen Habitus, der immer eine ganzheitliche Art des Lebens meint, die sich nicht in einzelnen Vorschriften erschöpft. 157 Vielmehr bieten die Regeln eine Orientierung, anhand derer man »an sich selbst« überprüfen kann, inwiefern man der Demut und dem Mönchsein als Lebensstil gerecht wird. 158 Die Demut ist bei Benedikt wie auch schon bei Cassian als eine Tugend im Einzelakt ausführbar – wenn sie auch immer auf Gott und den Mitmenschen bezogen bleibt – und unterliegt in ihrer Regelstruktur einer konkreten christlichen Ethik und damit auch einer »religiösen Messbarkeit«. 159 Diese Tendenz nimmt im Verlauf des Mittelalters noch weiter zu, wenn diese nun als konkrete Tugend ausgestaltete Haltung vielseitiger definiert und nicht mehr ausschließlich an den Kontext des monastischen Lebens gebunden sein wird. I.3.5 Die Demut aus der Selbstbetrachtung bei Bernhard von Clairvaux Benedikt riet seinen Mitbrüdern, zum Vorbild auf die »Unterredungen« des Cassian zurückzugreifen, während rund 600 Jahre 157

Es sei ebenfalls davor gewarnt, die einzelnen Vorschriften vorschnell als Maßnahmen zum unwürdigen Leben zu verstehen, weil damit auch der jeweilige theologische Hintergrund der »Stufen« verschwiegen werden könnte. Aus seiner Erfahrung als praktizierender Mönch deutet z. B. Bernardin Schellenberger einige Facetten der Stufen: »Benedikt wünscht, daß seine Mönche ›stets mit gesenktem Kopf‹ gehen und ›das Lachen meiden‹ sollen. Man darf das nicht zu vordergründig verstehen, als Verpflichtung zur Trübseligkeit und zum trostlosen Dahinrotten, sondern es kann Ausdruck einer Berufung zum Mit-Leiden an der Not und Unvollkommenheit der Welt sein […].« Schellenberger, Bernardin: Ein anderes Leben. Was ein Mönch erfährt. 3. Auflage. Freiburg et. al. 1980. S. 92. 158 So betont die Benediktinerin Michaela Puzicha aus ihrer Perspektive als praktizierende Nonne, dass die »Benediktsregel« nicht als »einfache Anweisung« lesbar ist, weil es sich auch bei der Demut nicht nur um eine einzelne Tugend, sondern insgesamt um eine »Art und Weise zu leben« handelt. Vgl. Puzicha, Michaela: Nicht eine Tugend, sondern Lebensstil. Demut bei Benedikt. In: Erbe und Auftrag. 91. Jg. (2015). S. 366–378, hier 366, 368, 374, 377. 159 Vgl. Dihle: Demut. A. a. O. S. 759.

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Die Demut aus der Selbstbetrachtung bei Bernhard von Clairvaux

später Bernhard von Clairvaux († 1153) wiederum Bezug auf die einflussreiche »Benediktsregel« nimmt. Schon der Titel seiner Schrift »Über die Stufen der Demut und des Stolzes« verrät, dass Bernhard die Stufen der Demut, die zu Gott führen mögen, durch die absteigenden und von diesem wegführenden Stufen des Stolzes ergänzt. Bernhard beleuchtet in seiner Schrift vor allem die stolzen Gegenspieler der Demut, weil er darauf besteht, nur das zu lehren, was er selbst gelernt hat. Deshalb muss er sich dazu bekennen, dass er sich mehr auf das Absteigen von der Leiter im Sinne des stolzen Fehlverhaltens als auf das demütige Hinaufsteigen versteht. 160 Nichtsdestotrotz widmet sich Bernhard einer Bestimmung der Demut, bei der auch Jesus das »Beispiel der Demut« und das »Muster der Sanftmut« bleibt. 161 Die »Frucht der Demut« liegt nun aber grundlegend in der »Erkenntnis der Wahrheit«, die in letzter Konsequenz zur Gottesschau führt. 162 Die Demut als eine Form der Erkenntnis von Wahrheit wendet Bernhard zunächst auf den einzelnen Menschen an: »Die Demut ist die Tugend, durch die sich der Mensch in der aufrichtigsten Selbsterkenntnis selbst für gering schätzt.« 163 Bernhard definiert hier keine reine Tugend des Gehorsams vor einer Autorität, sondern eine Haltung, die grundsätzlich mit einer Selbstbetrachtung einsetzt und auf einer Eigenleistung beruht. Vom Erkennen der Wahrheit »in sich« soll man erst daran anschließend zu den Mitmenschen und schließlich zu Gott übergehen, sodass neben den zwölf Stufen der Demut, an deren Spitze die Wahrheit

160

Clairvaux, Bernhard v.: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. Übersetzt von P. Sinz. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Gerhard Winkler. Innsbruck 1992. S. 31–131, hier 129. Damit einher gehen auch die folgenden Bedenken Clairvauxs: »Wenn ich mit Nutzen von der Demut spräche, fürchtete ich, selbst nicht demütig zu erscheinen, oder wenn ich demütig schwieg, mich unnütz zu erweisen.« Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 45. 161 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 47, 69, 75, 85. 162 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 47. 163 Ebd.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

steht 164, sich wiederum auch die »Erkenntnis der Wahrheit« auf drei Stufen erstreckt: »Wir erforschen nämlich die Wahrheit in uns selbst, in unseren Mitmenschen, in ihrem eigenen Wesen. In uns, indem wir uns selbst beurteilen, in unserem Mitmenschen, indem wir mit ihren Übeln mitleiden, in ihrer Natur, indem wir sie reinen Herzens betrachten.« 165

Mit seiner Definition der Demut gibt Bernhard bereits das Ergebnis der Selbstbeurteilung vor, wenn man sich in ihrem Resultat selbst für geringschätzen soll. Dieses erkannte »eigene Elend« des Demütigen kultiviert wiederum ein Verständnis für das »fremde Elend« des Nächsten: »Damit du aber für fremdes Elend ein mitleidiges Herz haben kannst, mußt du zuerst dein eigenes Elend kennen, so daß du in deinem Hunger das Herz des Nächsten findest und aus dir selbst erkennst, wie du ihm helfen kannst, nämlich nach dem Beispiel unseres Erlösers, der leiden wollte, um mitleiden zu können […].« 166

Die Selbstbeurteilung, die das »eigene Elend« vergegenwärtigt, ermöglicht ein Mitleiden mit dem Nächsten in der Nachfolge Christi, denn der Mitmensch ist seinem Wesen nach nicht anders als man selbst beschaffen, was eine Selbsterhöhung oder gegenseitige Verachtung überflüssig macht. Aus dem Erkennen der eigenen Beschaffenheit leitet Bernhard ein barmherziges Verhalten ab, das sich dem anderen erbarmungsvoll zuwendet: »Denn du bist ja wirklich elend, um auf diese zu Weise lernen, dich zu erbarmen, da du es auf andere Weise nicht wissen kannst!« 167 Das notwendi164

Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 49. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 53. 166 Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 55. Als würde Nietzsche (I.2.4) diesen Gedanken von Bernhard kommentieren, schreibt er in einem Fragment auf gewohnt bissig-polemische Weise: »Man soll diese Geringschätzung des Menschen überhaupt nicht übersehen, welche im christlichen Gefühle der Menschenliebe liegt: ›du bist mein Bruder, ich weiß schon, wie es dir zu Muthe ist, was du auch seist – schlecht nämlich!‹« KSA 12, S. 27 f. 167 Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 65. Dazu heißt es auch: »Indem sie sich nämlich gegenüberstellen, zwingen sie sich, sich 165

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Die Demut aus der Selbstbetrachtung bei Bernhard von Clairvaux

ge Sich-Selbst-für-Geringschätzen hat somit gezielt die Funktion, aus der Selbsterkenntnis eine bestimmte Handlungsweise anzuregen. Bernhard beruft sich für diese Überlegungen auf den Apostel Paulus, macht aber auch implizit Anleihen bei dem berühmten Spruch am Orakel von Delphi, wenn er sagt »[…] daß wir die Wahrheit zuerst in uns selbst und dann erst im Nächsten suchen müssen. ›Betrachte dich selbst‹, sagt er, das heißt, wie leicht du dich einer Verführung hingibst, wie geneigt du bist, zu sündigen. Aus dieser Selbstbetrachtung sollst du milde werden, wenn du ›im Geist der Sanftmut‹ daran gehen willst, anderen beizustehen.« 168

Wie schon bei Paulus (I.3.1.2) und Cassian (I.3.3) begründet die Demut hier ein geduldiges, sanftmütiges und barmherziges Miteinander, das die Fehler des Nächsten nicht verurteilt, sondern deren Bedingung im Wesen des Menschseins erkennt. Der Mensch ist als Mensch und im Vergleich zu Gott ein Sünder, deshalb möge sich niemand hochmütig über den anderen stellen, sondern vielmehr dienend, hilfsbereit und verständnisvoll sein. Auch im Zusammenhang mit Christi Mahnung, nicht auf den Splitter im Auge des »Bruders« zu schauen, warnt Bernhard vor dem »Balken des Stolzes« im eigenen Auge, der bewirkt, nicht mehr zu erkennen, wie man »wirklich« ist, weil er nur die »Liebe der eigenen Vortrefflichkeit« im Blick hat. 169 Weil die Eigenliebe das Urteil gegen sich selbst trügt, bestimmt Bernhard die Demut dagegen auch als die »Verachtung der eigenen Vortrefflichkeit«. 170 Weitere Verhaltensweisen, die der Demut entgegenstehen, entwickelt Bernhard lang und breit anhand der »Stufen des Stolzes«, zu denen zum Beispiel die »Prahlerei«, die »Ichbezogenheit« oder das »heuchlerische Sündenbekenntnis« zählen. 171 Gegen dieses so zu sehen, wie sie sich sogar selbst nur mit Erröten sehen können.« Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 71. 168 Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 65. 169 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 67. 170 Ebd. 171 Für eine Übersicht der Stufen des Stolzes vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 39.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

Verhalten ist die Demut durch die Selbstbeurteilung ein erdendes Korrektiv, welches der Selbstüberschätzung und den Weisen des Stolzes entgegenwirkt. Abschließend steht die Demut für Bernhard am Anfang von drei Stufen, die zur Erkenntnis der Wahrheit führen: Auf der »ersten Stufe« erkennt der Mensch durch die »Mühsal der Demut« die »strenge« Wahrheit »in sich«, sodass er sich als elend und gering versteht. Der daraus resultierende »Affekt des Mitleids«, der das Elend auch im Nächsten erkennen lässt, führt zur zweiten »barmherzigen« Stufe der Wahrheit, während die dritte, hier nicht behandelte Stufe, die »Entrückung zur Schau« der »reinen« Wahrheit in Gott umfasst. 172 Bernhard betont dabei explizit, dass es die prüfende »Vernunft« (lat. ratio) ist, mit der die Demut zur ersten Stufe der Wahrheit führt. 173 Wenn auch der Gehorsam nicht unerwähnt bleibt, 174 ist die Demut damit keine reine Verhaltensvorschrift oder eine vermeintlich unreflektierte und rein passive Tugend, sondern sie beruht vielmehr auf einer aktiven und »vernünftigen« Prüfung seiner selbst. Der Grundton der Demut lautet hier nicht »Sei gehorsam!«, sondern vielmehr »Erkenne dich selbst und handele danach!« (II.4.2.1). Wenn das damit einhergehende Menschenbild des elenden Sünders auch Unbehagen hervorrufen mag, wird daraus immerhin ein Verhalten abgeleitet, das von eigensinniger Selbstkasteiung absieht und Verständnis, Mitleid oder Sanftmut gegenüber dem Nächsten kultiviert. Seine Überlegungen begründet Bernhard nicht auf Grundlage von exemplarischen Verhaltensweisen, sondern er führt diese Tugend von vornherein durch eine Definition ein, die er systematisch entfaltet. Die Demut ist hier kein postuliertes Gesetz, sondern eine mit nachvollziehbaren Argumenten begründete Haltung, der jeder Gläubige durch seine »ratio« schrittweise nacheifern kann. Dieses systematische Vorgehen führt nur die Scholastik mit Thomas von Aquin auf noch strengere Weise fort. 172

Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 75. Für die Gottesschau vgl. dort S. 77 ff. 173 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 75. 174 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 55 ff.

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Thomas von Aquin und die Demut als Mäßigung des Strebens

I.3.6 Thomas von Aquin und die Demut als Mäßigung des Strebens Schon für Paulus 175 und Cassian 176 hatte das Maß im Kontext der Demut eine Rolle gespielt. Thomas von Aquin integriert die Demut in diesem Sinne in ein ausgefeiltes System von Tugenden als eine Form der Bescheidenheit und ein Teil der Maßhaltung. 177 Mehr noch als Bernhard kommt es Thomas in der »Summa Theologica« auf eine genaue Bestimmung und Rechtfertigung dieser Tugend an, wenn sie auch hinsichtlich der Strukturierung seiner speziellen Tugendlehre eine untergeordnete Rolle spielen mag. 178 Die Selbstbeschränkung hinsichtlich eines Maßes wendet Thomas mit der Demut auf das Strebevermögen des Menschen an: »Zur Demut im eigentlichen Sinne gehört es, sich zurückzuhalten, um nicht nach Unerreichbarem zu streben.« 179 Das Streben oder der Eigenwille werden damit nicht grundsätzlich verneint, sondern nur in die »richtigen« Bahnen gelenkt. Die Aufgabe der Demut liegt daher in der »Leitung und Mäßigung des Strebevermögens«. 180 Das Maß für die Demut als die »Zügelung des ungeordneten Strebens nach Größe« entnimmt man der Erkenntnis, »insofern sich jemand nicht höher einschätzt, als er 175

»Wir dagegen wollen uns nicht maßlos rühmen […].« 2 Kor 10, 13 f. »Mit aller Anstrengung also müssen wir versuchen, das Gut der Diskretio, die uns unversehrt vor jeder Übertreibung bewahren kann, mithilfe der Tugend der Demut zu erwerben.« Col 2, 16. 177 Aquin, Thomas v.: Masshaltung (2. Teil). In: Ders.: Summa Theologica. Bd. 22: II–II 151–170. Graz et. al. 1993. q. 161, a. 4, ad 2. Im Folgenden abgekürzt durch den Kurzbeleg »S.th. II–II« und der entsprechenden Stelle. 178 Vgl. Ernst, Stephan: Die bescheidene Rolle der Demut. Christliche und philosophische Grundhaltungen in der speziellen Tugendlehre. In: Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen. Hrsg. v. Andreas Speer. Berlin 2005. S. 343–376, hier 348. Diese Verortung der Demut bei Thomas fasst Ernst an derselben Stelle zusammen: »In diesem Tugendsystem des Thomas taucht die Demut erst im Rahmen der letzten der Kardinaltugenden auf, nämlich der Maßhaltung, und auch hier erst im Rahmen der letzten mit der Maßhaltung verbundenen Tugend, nämlich der Bescheidenheit.« 179 S.th. II–II, q. 161, a. 2. 180 Vgl. ebd. 176

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

wirklich ist«. 181 Die Erkenntnis hat hier für die Demut einen ähnlichen Stellenwert wie schon zuvor bei Bernhard. Nach Thomas ist für die Mäßigung eine Kenntnis seiner Schwächen angesichts dessen vonnöten, was die eigenen Möglichkeiten übersteigt: »So gehört die Erkenntnis der eigenen Schwäche zur Demut wie eine Art Leitregel des Strebens.« 182 Dagegen will der Stolze konträr zur »rechten Vernunft« über das, was er ist oder was seinen Möglichkeiten angemessen ist, hinausstreben. 183 Die Demut aber achtet das »Maß der rechten Vernunft«, die auch zur »wahren Einschätzung seiner selbst führt«, und schützt vor dieser stolzen »Vermessenheit«, indem sie vor dem ungeordneten Streben zurückhält. 184 Umgekehrt ist, wie eingangs schon betont, der Preis für diese Mäßigung aber nicht die absolute Verneinung des Eigenwillens als bedingungsloser Gehorsam. Hier hat man es mit der Demut als einem ausgleichenden, aber nicht einseitig verneinenden Bestreben zu tun. Die Demut »bremst« und »mäßigt« das eigene Streben, 185 aber stoppt es nicht grundsätzlich. Deshalb denkt Thomas diese Tugend auch im Verbund mit der »Hochherzigkeit« oder »Großgesinntheit« (lat. magnanimitas), die ein »Sich-Ausstrecken des Geistes [der Gesinnung; Anm. des Übersetzers] auf Großes« meint. 186 Die Demut wie auch die Großgesinntheit hal181

S.th. II–II, q. 161, a. 6. Der durch seine reformatorischen Bestrebungen bekannte und schließlich als »Ketzer« hingerichtete Hieronymus Savonarola (1498 †) stand wohl unter dem Einfluss des Thomas, als er seine Definition der Demut formulierte: »Die Demut also ist eine Tugend, die den Mut zügelt, der sich nach ungeordneter Weise nach den hervorragenden Dingen ausstreckt […].« Savonarola: Demut und Hochmut (1492). In: Ders.: Predigten und Schriften. Hrsg. v. Mario Ferrara. Übers. v. A. Leinz. Salzburg 1957. S. 62–69, hier 63. 182 S.th. II–II, q. 161, a. 2. Thomas bezieht sich auch auf die schon mehrfach erwähnte Paulus-Stelle in Bezug auf das von Gott zugeteilte Maß. Vgl. S.th. II– II, q. 161, a. 5. 183 S.th. II–II, q. 162, a. 1. Siehe dazu auch die genauere Beschreibung des Stolzes in Bezug auf ein Gut: »Wenn sich daher jemand ein höheres Gut zuschreibt, als er tatsächlich besitzt, so strebt er nach einer Überlegenheit, die ihm nicht zusteht.« S.th. II–II, q. 162, a. 4. 184 Vgl. S.th. II–II, q. 162, a. 1, ad 3 u. a. 3, ad 2. 185 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1, ad 3. 186 Aquin, Thomas v.: Tapferkeit. Masshaltung (1. Teil). In: Ders.: Summa Theo-

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Thomas von Aquin und die Demut als Mäßigung des Strebens

ten sich die Waage, indem sie sich beide in Übereinstimmung auf die Vernunft beziehen. 187 Während die Hochherzigkeit den Geist zu »Großem« entsprechend der »rechten Vernunft« treibt, mäßigt die Demut dieses Bestreben so, dass der Mensch nicht über das Ziel hinausschießt. 188 Die Großgesinntheit festigt dazu den »Geist« vor der Verzweiflung – die sich einstellen müsste, wenn das Streben vollkommen unterdrückt ist – und spornt »vernunftgemäß« an. 189 Zu veranschaulichen ist dieses Verhältnis am Beispiel der Hoffnung: Die Demut zügelt vor überspannten Hoffnungen, die das Maß und die Möglichkeiten des Menschen übersteigen, während sich die Großgesinntheit überhaupt erst auf die Leidenschaft der Hoffnung richtet 190 und eine »innere Festigung« gegen das Verzagen bewirkt. 191 Thomas sieht das »Auffallendste« im Verhalten der Maßhaltung in der Zurückdrängung des Ansturms einer Leidenschaft, so wie es die Demut im Fall einer übertreibenden Hoffnung tut. 192 Er setzt deshalb die Demut mit der Besonnenheit gleich: »Daher sagt Aristoteles, wer sich entsprechend seinem Vermögen dem Kleinen zuneigt, heißt nicht hochsinnig, sondern ›besonnen‹ – wir können ihn auch demütig nennen.« 193 Bei aller Betonung der Mäßigung durch die Demut ist aber nicht außer Acht zu lassen, dass es auch bei Thomas in letzter Konsequenz um eine Haltung vor Gott geht. Die »Vollkommenheit des Menschen« wird im Vergleich zu Gott als mangelhaft empfunden, weshalb die Demut nicht nur dem geistlichen Klerus, sondern »jedem Menschen« zukommt. 194 Die Zügelung der Hoffnung resultiert aus der Ehrfurcht vor Gott, der das Maß, das nicht zu überschreiten logica. Bd. 21: II–II 123–150. Graz et. al. 1964. q. 129 a. 1. Im Folgenden abgekürzt durch den Kurzbeleg »S.th. II–II« und der entsprechenden Stelle. 187 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1, ad 3. 188 Vgl. ebd. 189 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1. 190 Vgl. S.th. II–II, q. 129, a. 1, ad 2. 191 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 2, ad 3. 192 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 4. 193 Ebd. 194 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1, ad 4.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

ist, erst zugeteilt hat, wie Thomas von Paulus weiß (I.3.1.2). 195 Die Demut als Achtung dieses Maßes bezieht sich deshalb in letzter Instanz auf die »Unterwerfung des Menschen« vor Gott. 196 Unterwerfen soll sich der Mensch aber auch dem Nächsten mit Blick auf das, was dieser von Gott erhalten hat. 197 Im eigentlichen Sinne unterwirft man sich deshalb nicht dem Menschen aus sich heraus, sondern nur hinsichtlich aller Eigenschaften, die ihm Gott erst zuteilte. Auch für die Demut vor dem Mitmenschen ist daher implizit eine Selbst- und Fremdbetrachtung angebracht: »Jedoch kann jemand im Nächsten etwas Gutes entdecken, das er selber nicht besitzt, oder etwas Schlechtes bei sich selbst, was beim anderen nicht vorhanden ist, und insofern kann er sich ihm in Demut unterwerfen.« 198

Die Bedingung der Demut vor dem Nächsten ist an die Fähigkeit geknüpft, auch zu erkennen, was der andere mir voraushat, um ihn entsprechend demütig anzuerkennen. Wie seine Vorgänger weiß auch Thomas um eine »falsche Demut«, die nur dem Schein nach durch »äußere Zeichen« praktiziert wird. 199 Daher betont der Kirchenlehrer mit Rückgriff auf Augustinus und Aristoteles, dass nicht das »Äußere«, sondern auch die »innere Entscheidung« zählt, 200 die darin besteht, auch den »Willen« 201 zur Demut zu haben. Zur Erkenntnis der eigenen Schwächen und zum Wissen um die Übertreibung hinsichtlich des eigenen Vermögens gehört auch das entsprechende Handeln nach dieser Einsicht, das nicht durch den Schein aufzuwiegen ist. 195

Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 2, ad 3. Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1, ad. 5 u. a. 2, ad 3. 197 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 3. 198 Ebd. 199 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1, ad 2. 200 Vgl. ebd. 201 Vgl. dazu a. Otto Coshauz’ resümierende Worte zur Demut bei Thomas: »Diese Erkenntnis selbst macht aber noch nicht eigentlich die Demut aus. Die hat ihren Sitz im Wollen in der willigen Anpassung an das erkannte Geringmaß.« Cohausz, Otto: Stolze Selbsterhebung oder christlich-demütige Selbstbescheidung? In: Theologisch-praktische Quartalschrift. 89. Jg. (1936). S. 673–691, hier 673. 196

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Demut als »Absterben« des Selbst bei Thomas von Kempen

Noch eindrücklicher als Bernhard verortet Thomas die Demut nicht nur im Kontext der Erkenntnis, sondern darüber hinaus auch als Teil der Maßhaltung. Beinahe gänzlich verliert die Demut damit den Charakter des vorbehaltlosen Unterwerfens und der bedingungslosen Selbsterniedrigung. Dass die Demut gerade nicht in ausschließlich selbstverneinende Praktiken umschlägt, garantiert Thomas durch ihren Verbund mit der Großgesinntheit. Schon durch dieses Verhältnis ist ersichtlich, dass die Demut durchaus mit einem Streben verbunden sein kann, das ein Selbstwertgefühl voraussetzt und die eigene Person achtet (II.4.3). Die Demut will hier ein ausgleichendes und maßvolles Bestreben, aber nicht die gänzliche Vernichtung des Eigenwillens zugunsten einer Autorität herbeiführen. Zwar ist sie als Tugend letztlich immer noch auf ein Niedrigsein vor Gott bezogen, sie fragt aber trotzdem stets nach der Angemessenheit ihrer Anwendung im menschlichen Streben. Damit ist die Demut zu einem Großteil in die Eigenverantwortung der Person verschoben, die nach der Selbsterkenntnis das eigene Verhalten beschränken muss, wenn auch die Stellung Gottes als des Ursprungs des Maßes unhinterfragt bleibt. I.3.7 Demut als »Absterben« des Selbst bei Thomas von Kempen Thomas und Bernhard verlegten das Wesen der Demut in eine wahrheitsgetreue Selbsterkenntnis, aus der heraus ein entsprechend demütiges Handeln gegenüber Gott und dem Nächsten möglich ist. Das Elend und die Sünde des Menschen sind dabei zwar mitgedacht, aber stehen nicht im Mittelpunkt dieser Haltung. Aus der christlichen Tradition heraus ergeben sich damit bis hier zwei Schwerpunkte der Demut, die Arnold Geulincx in seiner »Ethik« (1665) pointiert zusammenfasst: »Die Demut wird zweifach unterteilt: in Selbstbetrachtung und Selbstverachtung.« 202 202 Geulincx, Arnold: Ethik oder über die Kardinaltugenden. Fleiss, Gehorsam, Gerechtigkeit und Demut. Übers. v. Georg Schmitz. Hamburg 1948. S. 28.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

Der erste Teil dieser Tugend meint »nichts anderes« als das berühmte »Erkenne dich selbst« der Inschrift am »Tempel des Apollo« und erforscht die Bedingungen und Ursprünge der eigenen Natur. 203 Die Verachtung besteht im zweiten Teil in einem »Ausgehen aus mir selbst, durch welches ich mich gänzlich Gott überliefere, dem ich […] vollkommen (bei der Geburt, im Leben und im Sterben) angehöre; sie besteht darin, daß ich mich von keinem eigennützigen Gedanken leiten lasse und alle eifrige Sorge um mich von mir ablege; und da ich auf gar nichts, nicht einmal auf mich selbst ein Recht habe, mir auch kein Recht auf etwas anmaße […].« 204

Wie an Geulincx zu studieren ist, stellte man die christliche Demut zunehmend auf einen schmalen Grat zwischen der Selbsterkenntnis einerseits und der daraus resultierenden Selbstverachtung andererseits und das Verständnis dieser Haltung ist entweder mehr von der einen oder der anderen Seite dominiert. Thomas von Kempen († 1471), der als der meistrezipierte geistliche Autor des lateinischen Spätmittelalters gilt, 205 war noch vor Geulincx bestrebt, beide Elemente der Demut zu verbinden, aber den Akt der Selbsterniedrigung mehr in den Vordergrund zu rücken. Nach von Kempen ist die Selbsterkenntnis im Verbund mit der Demut für die »Nachfolge Christi« ein wesentlicher Bestandteil auf der Suche nach Gott: »Die demütige Selbsterkenntnis führt sicherer zu Gott als tiefe wissenschaftliche Untersuchungen.« 206 Sein Wesen zu erkennen, begreift von Kempen als wichtigste Aufgabe des Menschen, wenn auch das Ergebnis der Selbstbetrachtung durch das christliche Menschenbild, ähnlich wie oben bei Bernhard, schon feststeht: 203

Vgl. ebd. Vgl. Geulincx: Ethik oder über die Kardinaltugenden. A. a. O. S. 36. 205 Vgl. Staubach, Nikolaus: Thomas Hemerken (Malleolus) von Kempen. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 8: T-Z. 4. Auflage. Hrsg. v. Hans Dieter Betz et. al. Tübingen 2005. S. 377. 206 Kempis, Thomas v.: Die Nachfolge Christi. Übers. v. E. A. Kernwart. Zürich 1986. S. 11. 204

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Demut als »Absterben« des Selbst bei Thomas von Kempen

»Die höchste Aufgabe eines jeden ist es, sich selbst (in seinem Wesen) wahrhaft erkennen zu lernen. Sich selbst gering schätzen und über andere stets gut und edel denken, das setzt grosse Weisheit und Vollkommenheit voraus.« 207

Von Bedeutung ist das Wissen um das Wesen des Menschen, das allen gleichermaßen zukommt, aber nicht die »weltlichen« und kontingenten Eigenschaften einer Person. Von Kempen bestimmt dieses Wesen aus den bereits bekannten Glaubenssätzen, die er publikumswirksam radikalisiert, indem er die menschliche Sündhaftigkeit anschaulich in den Mittelpunkt stellt. Was in diesem Sinne grundlegend zählt, ist nicht der Mensch selbst, sondern nur Gott »in« ihm: »Du selbst als deine Persönlichkeit bist nichts, nur Gott in dir ist alles.« 208 Daraus resultiert von Kempens Interesse für das »Ewige«, das im Gegensatz zu dem steht, was im weltlichen Sinne als lobens- oder wünschenswert erscheint. 209 Alles ist somit elend, was nicht in letzter Konsequenz auf Gott bezogen ist: »Elend bist du, wo du auch seist und wohin du dich auch wenden magst, wenn du nicht danach trachtest, dich mit Gott zu vereinigen.« 210 Eitel ist es deshalb, sein Herz an Vergängliches zu hängen, Reichtümer anzuhäufen, nach Ehrenstellen zu jagen, den »Gelüsten des Fleisches« zu folgen oder sich ein langes Leben zu wünschen, ohne sich um das »göttliche Leben« zu kümmern. 211 Was für das Elend des Menschen gilt, betrifft auch seine Eitelkeit: »Alles ist Eitelkeit, ausser Gott lieben und ihm allein dienen.« 212 Im Sinne der »demütigen Unterwerfung« möge man deshalb alles, was man tut, im Namen Gottes vollbringen und seinen Eigenwillen aufgeben. 213 Von Kempen formuliert dazu eine For207

Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 8. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 104. 209 Vgl. ebd. 210 Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 55. Umgekehrt muss alles auf Gott als das letzte Ziel bezogen sein. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 115. 211 Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 5. 212 Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 4. 213 Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 42, 71, 114. 208

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

derung aus der fiktiven Sicht Gottes: »Du sollst dein Verlangen ganz nach MEINEM Wohlgefallen richten und nicht in der Eigenliebe ruhen, sondern MEINEM Willen ernstlich nacheifern.« 214 Jesus Christus ist das »Vorbild der Demut und des Gehorsams«, dessen Bestreben von Kempen auf das Verhalten vor dem Vorgesetzten überträgt: »Wer sich seinen Vorgesetzten nicht freiwillig und gern unterwirft, giebt dadurch zu erkennen, dass ihm seine sinnliche Natur noch nicht völlig unterthan ist, sondern noch oft widerstrebt und murrt.« 215 Der demütige Gehorsam verlangt nicht nur den Eigenwillen in die Hände anderer zu geben, sondern ist auch bedingt durch die totale Selbstkontrolle. Will jemand sein eigenes Fleisch »unterjochen«, soll er lernen, sich seinem Vorgesetzten zu unterwerfen. 216 Man ist seiner Seele dabei solange der »schlimmste Feind«, bis man nicht die Macht über seine »sinnliche Natur« erlangt und den »Eigenwillen« dem »göttlichen Willen« untergeordnet hat. 217 Von Kempen will jeglichen »unordentlichen Neigungen« den Kampf ansagen, denn während die Leidenschaft »innerlich unruhig« macht und »Stolze und Habsüchtige« deshalb niemals die Ruhe genießen, lebt der Demütige in der »Fülle des Friedens«. 218 Im Gegensatz zum Demütigen sind alle »Eigennützigen«, »Selbstsüchtigen«, »Lüsternen«, »Neugierigen« und »Ausschweifenden« an »Fesseln« gebunden, weil ihnen nur das »Fleisch« angenehm ist. 219 Diese »gänzliche Selbstverleugnung« wird zur »Selbstabtötung« gesteigert 220, die von Kempen immer wieder als das »Absterben« des Selbst einfordert: »Ein Mensch, der sich selber noch nicht völlig abgestorben ist, kommt schnell in Versuchung und unterliegt in kleinen und geringfügigen Dingen.« 221 Solange der Mensch noch an irdischen Dingen hängt und von diesen beunruhigt wird, 214 215 216 217 218 219 220 221

Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 119. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 123. Vgl. ebd. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 124. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 17, 21. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 148. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 156. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 17.

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Demut als »Absterben« des Selbst bei Thomas von Kempen

ist er sich selber noch nicht »völlig abgestorben«. 222 Wer aber seine Leidenschaften überwunden hat und damit den vergänglichen Formen der Welt abgestorben ist, kann durch diesen »mystischen Tod« eins mit Christus werden. 223 Für »fleischlich gesinnte Menschen« sieht von Kempen keinen Frieden, 224 während ein »innerlicher und von Begierden wahrhaft freier Mensch« sich über sich selbst erheben und in Gott selig zu ruhen vermag. 225 Dieser Frieden besteht für von Kempen nur in »wahrer Demut« und in Abwesenheit von eitler Selbstüberhebung. 226 Wer demütig bleibt und im selben Zug seine »niedere Natur« beherrscht und zügelt, wird nicht in Gefahr und Not geraten, 227 weshalb es daran liegt, die Begierde nach »Speise und Trank«, wie auch alle »fleischlichen Gelüste« überhaupt unter Kontrolle zu bringen. 228 Sich selbst zu beherrschen und vollkommen zu überwinden, wird zum »vollkommenen Sieg« über sich selbst. 229 Die »wahre Demut« geht mit diesem Sieg als das »Absterben des Selbst« einher: »Wenn du dich genau prüfst, so wirst du erkennen, dass noch die Welt in dir lebt und das eitle Verlangen, den Menschen zu gefallen; denn, da du vor Erniedrigung und Verachtung, die du wegen deiner Fehler verdient hast, zurückbebst, so ist es offenbar, dass du die wahre Demut noch nicht besitzest, dass du für die Welt noch nicht abgestorben bist.« 230

Mit dem ausklingenden christlichen Spätmittelalter gerät die Demut bei Thomas von Kempen in das Licht einer Tugend des Gehorsams und der Selbsterniedrigung, die man aber nicht nur nach Vorschrift, sondern auch freiwillig durch die Selbsterkenntnis praktizieren soll. Die Selbsterkenntnis des eigenen Wesens mündet in die Selbsterniedrigung und Unterwerfung aus der eigenen 222 223 224 225 226 227 228 229 230

Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 70. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 58, 88, 157. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 18. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 69, 130, 132. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 171. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 113. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 48. Vgl. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 168. Kempis: Die Nachfolge Christi. A. a. O. S. 164.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

»Vernunft« heraus. Von Kempen integriert die Demut damit wieder verstärkt in Praktiken der Buße und Askese, die ihren Anfang schon im »Hirt des Hermas« nahmen, und in einen Akt der Unterwerfung und des Gehorsams, den schon der Verfasser des »Ersten Klemensbriefes« wesentlich gemäßigter einforderte (I.3.2). Von Kempens Ausdeutung der Demut ist Wasser auf die Mühlen ihrer Kritiker und bestätigt jegliches Unbehagen an dieser Haltung. Paradigmatisch findet man die Forderung nach Gehorsam in der Verneinung des Eigenwillens (I.2.1) und das Bestreben nach absoluter Kontrolle über die sinnlichen Begierden und Leidenschaften (I.2.2) wieder, was konsequent im »Absterben des Selbst« gipfelt. Von Kempen versteht den Mensch mit seinen »Begierden« und seinen »sinnlichen Neigungen« grundsätzlich als Sünder und der Korrektur bedürftig, wobei die freiwillige Unterwerfung und asketische Selbstkontrolle als Verachtung des »Fleisches« im Sinne der Nachfolge Christi zu einer Vereinigung mit Gott führen soll. Es ist gerade diese Form der Demut, die das Verständnis ihrer Kritiker gezeichnet und auch das moderne Bild dieser Haltung maßgeblich geprägt hat. Für das Bestreben, ein für die Gegenwart anschlussfähiges Konzept der Demut zu entwickeln, das die Bedenken gegenüber dieser Haltung berücksichtigen und ausräumen will, muss von Kempens Werk im Gegensatz zu den Überlegungen von Thomas und Bernhard als Rückschritt gelten. I.3.8 Die Demut im frühen 20. Jahrhundert Es folgt ein weiter Sprung in das 20. Jahrhundert. Nach dem Wirken Luthers 231 und dem Walten der Reformation dominieren das Zeitgeschehen in theoretischer wie auch praktischer Hinsicht nicht das Christentum und die Demut, sondern deren Kritiker. Im Bestreben von den Theoretikern der Aufklärung, welche die »selbstverschuldete Unmündigkeit« des Menschen anpranger231

Für die Demut bei Luther vgl. Damerau, Rudolf: Die Demut in der Theologie Luthers. Giessen 1967.

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Die Demut im frühen 20. Jahrhundert

ten, 232 von den Akteuren der französischen Revolution und ihrem zum Teil gewaltsamen Aufbegehren gegen die Obrigkeit, von den Frühromantikern und den philosophischen Idealisten, welche die Weltkonstitution in das Vermögen eines absoluten »Ichs« verlagerten oder von den Kritikern der christlichen Moral wie Friedrich Nietzsche (I.2.4) konnte die Demut nicht länger einen wirkungsmächtigen Platz behaupten. Die Kirche verstand man nicht mehr ausschließlich als die Verkünderin und Bewahrerin des »Reichs Gottes«, sondern als eine Institution, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung ihrer primär weltlichen Autorität und Macht hat. Die mit dieser Zeit erstarkenden kritischen Stimmen deuteten die Demut, wie oben herausgestellt (I.2), als eine Haltung der Unterwerfung und Knechtschaft, die als eine wesentliche Stütze der kirchlichen und weltlichen Macht galt. Bemerkenswert ist dabei, dass auch die Kirche selbst dem neuzeitlichen Zeitgeist entsprechend der Demut nicht länger einen zentralen Stellenwert zugestand. So erlebt die Demut auch im frühen 20. Jahrhundert keine Renaissance, sondern bleibt in Philosophie und Theologie eine Randerscheinung. Eine Ausnahme bildet der Philosoph Max Scheler, der in seiner Schrift »Zur Rehabilitierung der Tugend« (1913) der Demut mit religiösen Absichten einen neuen Wert verleihen wollte. Scheler bezeichnet die Demut als »die zarteste, die verborgenste und schönste der christlichen Tugenden« und bestimmt sie als ein »stetiges, inneres Pulsen von geistiger Dienstbereitschaft im Kerne unserer Existenz, von Dienstbereitschaft gegen alle Dinge, die guten und die bösen, die schönen und häßlichen, die lebendigen und die toten«. 233 Es kommt ihm auf eine »christlich-göttliche Bewegung« an, bei der man ein »echtes Loslassen« des Selbst und des eigenen Wertes praktiziert, um sich in 232

Vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784. S. 481–494. Zitiert nach: Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie. Hrsg. v. Jürgen Zehbe. 3. Auflage. Göttingen 1985. S. 55–61, hier 55. 233 Scheler, Max: Zur Rehabilitierung der Tugend. In: Ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Gesammelte Werke Bd. 3. Hrsg. v. Maria Scheler. 5. Auflage. Bern/München 1972. S. 13–32, hier 17.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

die »fürchterliche Leere« jenseits aller Lebensbezüge »hinauszuschwingen«. 234 Laut Scheler ist man deshalb erst dann demütig, wenn man auf alle »Rechte«, »Würdigkeiten«, »Verdienste«, aber am meisten auf die »Selbstachtung« verzichtet hat. 235 Damit führt der Philosoph das Bild der Demut als Tugend der Selbstverleugnung konsequent fort. Es ist jener Stolz oder »Sittenstolz« »teuflisch«, der sich auf den eigenen höchsten moralischen Wert bezieht. 236 Daneben ist auch der »Seinsstolz«, der auf die »Substanz des eigenen Wertes« abzielt, von der Demut ausgeschlossen. 237 Bei Schelers Lobeshymnen auf die Demut läuft es immer darauf hinaus, dass diese Tugend zu Gott führen möge. So »verliert« man durch die Demut sich selbst, um Gott zu »gewinnen« und auch die Liebe und Offenheit zur Welt und den Dingen ist in letzter Konsequenz eine Liebe zum eigenen Schöpfer. 238 Die einseitige Fixierung der Demut auf Gott und die unbehagliche Annahme Schelers, dabei von einer »schönen Selbsterniedrigung« auszugehen 239, verdeutlichen, dass es ihm um eine rein religiös-christliche Rehabilitierung dieser Tugend geht. Scheler widmet sich nicht als Philosoph, sondern als gläubiger Christ der Demut, die er mehr voraussetzt, als die traditionellen Bestimmungen und Verhaltensweisen dieser Haltung zu diskutieren. 240 Ähnlich traditionelle Überlegungen liest man auch in Viktor Cathreins »Die christliche Demut« (1919). Die Demut ist auch hier der Gegensatz zum Stolz und hat ihre Wurzeln und Maßstäbe in der richtigen Selbsterkenntnis, die sich in der Erkenntnis des

234

Vgl. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. A. a. O. S. 17 f. Vgl. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. A. a. O. S. 18. 236 Vgl. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. A. a. O. S. 19. 237 Vgl. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. A. a. O. S. 20. 238 Vgl. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. A. a. O. S. 20 f., 23. 239 Vgl. Scheler: Zur Rehabilitierung der Tugend. A. a. O. S. 21. 240 Vereinzelt spricht Scheler aber, wie z. B. in seinem Hauptwerk »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik«, von der »mangelnden Demut« vor dem »sittlichen Wertreiche«. Vgl. Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. 7. Auflage. Hrsg. v. Manfred Frings. Bonn 2000. S. 308. 235

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Die Demut im frühen 20. Jahrhundert

eigenen »Nichts« gründet, weil auch der Mensch nichts als Sünde besitzt 241: »Die Demut fordert bloß, daß wir uns geringschätzen, weil wir aus uns selbst nichts haben als die Sünde, und wenn wir nicht noch größere Sünden begangen haben, so verdanken wir das nur der Gnade Gottes, dem alle Ehre dafür gebührt.« 242

Ebenso will kurz darauf Franz Sinner die Demut als die »Grundtugend des christlichen Lebens« (1925) ausweisen. 243 Auch Sinner geht, wie seine zahlreichen Belege aus der christlichen Tradition bezeugen, nicht über die bereits bekannten Ausdeutungen hinaus. Gott ist einerseits die absolute Wahrheit und Vollkommenheit, während andererseits die Demut als »Mutter aller Tugenden« 244 den Geschöpfen zukommt, durch welche diese ihre »Verdorbenheit«, »Ohnmacht«, »Abhängigkeit«, »Unterordnung« und ihr »angeborenes Nichts« anerkennen 245. Die »Geschöpflichkeit« ist als der »tiefste Grund« für die Demut und als gänzliche Nichtigkeit, sowie allseitige Abhängigkeit, Beschränktheit und Hilfsbedürftigkeit ausgezeichnet. 246 Die wesentliche Ursache für die Demut ist darin fundiert, dass sich der Mensch als Sünde in Person im Vergleich mit Gott aufrichtig verachten, verabscheuen und hassen muss. 247 Die Hilfsbedürftigkeit des Menschen resultiert aus der vom Sündenfall bedingten »sittlichen Verdorbenheit und Schwäche«, wogegen sich die menschliche Abhängigkeit unter anderem in der »Vorsehung« Gottes oder seiner Gnade gründet. 248 Jesus ist als »Gottmensch« die »menschgewordene Demut«, wenn er als »Erlöser« in demütigem Gehorsam in den Tod ging und 241

Cathrein, Viktor: Die christliche Demut. Ein Büchlein für alle Gebildeten. 3. Auflage. Freiburg 1920. S. 16 ff., 24, 28. 242 Vgl. Cathrein: Die christliche Demut. A. a. O. S. 163. 243 Sinner, Franz: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. Wiesbaden 1925. 244 Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 132. 245 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 13. 246 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 193. 247 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 321. 248 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 196, 201, 207.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

somit die Vollendung und Krone der Demut darstellt. 249 Dieses »Joch« Christi bleibt das Vorbild und die »Richtschnur der Demut«, die in Selbstentäußerung, Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung besteht. 250 Bei seinen Bestimmungen der Demut beruft sich Sinner unter anderem auf Bernhard von Clairvaux (I.3.5) und Thomas von Aquin (I.3.6). 251 Die Übungen für die Praxis der Demut leitet er dagegen lang und breit aus der »Regel des Heiligen Benedikt« (I.3.4) ab.252 Untergebene haben in ihrem weltlichen Verhältnis »nur eine Abhängigkeit, nämlich vom Obern; nur eine Pflicht, nämlich zu gehorchen«, während die Vorgesetzten ebenfalls Untertanen, aber zugleich Stellvertreter Gottes sind. 253 Wie bei Paulus (I.3.1.2) muss sich der Demütige eingestehen, dass alle Eigenschaften, Fähigkeiten oder Kräfte Gaben Gottes und damit empfangen sind. 254 Mit seiner umfassenden Arbeit zur christlichen Demut bestätigt Sinner noch im 20. Jahrhundert das Unbehagen der philosophischen Kritik. Neben Dietrich Bonhoeffer 255 ist es zum Beispiel Karl Barth, der diese Haltung neben anderen Ausnahmen 256 später wieder thematisiert, was in den folgenden Überlegungen noch zur Geltung kommt (II.5.4.1). Zuletzt werden auch die Erfahrun249

Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 36, 44,

49. 250

Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 59, 189 ff. 251 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 67–72. 252 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 223 f., 242, 255. 253 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 268. 254 Vgl. Sinner: Demut, die Grundtugend des christlichen Lebens. A. a. O. S. 315. 255 Vgl. für die Demut bei Dietrich Bonhoeffer das Register seiner Werkausgabe: Bonhoeffer, Dietrich: Werke. Bd. 17. Register und Ergänzungen. Hrsg. v. Herbert Anzinger u. Hans Pfeifer. Gütersloh 1999. S. 496. 256 Weitere Autoren, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im frühen 21. Jahrhundert die christliche Demut verstärkt in den Mittelpunkt ganzer Monographien rücken, sind u. a.: Przywara, Erich: Demut, Geduld, Liebe. Die drei christlichen Tugenden. Düsseldorf 1960; Gilen, Leonhard: Zur Psychologie der religiösen Persönlichkeit. Selbstwertstreben und Demut. Regensburg 1977; Zemmrich: Demut. A. a. O.; Mack, Wayne: Demut – Die vergessene Tugend. Ohne Ort 2011; Feldmeier: Macht, Dienst, Demut. A. a. O.

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Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag

gen des Krieges und des Totalitarismus dazu beigetragen haben, dass die Demut, die man schon vor dem 20. Jahrhundert als eine Tugend der Unterwerfung und Ohnmacht verstand (I.2), ihren Stellenwert in christlicher wie auch philosophischer Hinsicht nicht behaupten konnte. Wenn es seit diesen Ereignissen gilt, die Verbrechen totalitärer Regime nie wieder geschehen zu lassen, dann muss auch die Demut, der man einen Hang zum bedingungslosen Gehorsam nachsagt, von der Bildfläche verschwinden, wenn sie heute auch als Modewort wieder Einzug in das öffentliche Leben halten mag (s. »Der Trend zur Demut«). I.3.9 Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag Ein einheitliches Verständnis von der Demut konnte in der christlichen Tradition nur von den Urhebern dieser Haltung ausgehen, die zwar immer wieder zur theoretischen Legitimierung hergehalten haben, aber selbst nie eine eindeutige Tugend ausformulierten. Die Demut beruht im Christentum zwar grundlegend auf ihrem Vorbild in Jesus und ihrer Weiterentwicklung in den paulinischen Briefen, aber sie ist doch in ihren praktischen Verhaltensweisen durchaus unterschiedlich ausgedeutet worden. In den Evangelien und den paulinischen Forderungen an die Gemeinden lässt sich die Demut jedenfalls noch nicht in konkretere Vorschriften, Anweisungen oder Lebensweisen auflösen. Die demütige Gesinnung ist im Wirken Jesu (I.3.1.1) Teil seines Anspruches, nicht seinen, sondern den Willen Gottes auszuführen, was sich auch grundsätzlich auf das Verhalten gegenüber dem Nächsten auswirkt. Jesus fordert seine »Nachfolger« zwar zu einer Selbsterniedrigung auf, bei der man sein »Joch« oder das »eigene Kreuz« auf sich zu nehmen hat, was er aber nicht als Praxis der Selbstkasteiung und Ohnmacht, sondern als Dienst für die Ärmsten und Schwächsten verstand, für die man auch um den Preis des eigenen Leides von den Eigeninteressen absehen möge. Die Demut ist deshalb ein Akt der Solidarität mit den Armen um den Preis des Verzichtes, als »Richter« über das Fehlverhalten des Menschen zu urteilen, weil dieses Urteil in seiner Absolutheit ein113 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

zig »Gottes Gericht« vorbehalten bleibt. Auf diese Weise stellt sich die Demut auch konträr zu einem weltlichen Verständnis, welches Reichtum und weltliche Macht als erstrebenswerte Güter begreift. Den göttlichen, aber nicht weltlichen Maßstab in der Nachfolge Christi und im Gemeindeleben zu bedenken, fordert auch Paulus (I.3.1.2). Die Demut, von der in seinen Briefen erstmals als substantivierter Begriff zu lesen ist (I.1), resultiert aus der absoluten Abhängigkeit und Bedingtheit eines jeden Menschen von und durch Gott. Das vom Schöpfer zugeteilte Vermögen ist deshalb weder in Maßlosigkeit zu ignorieren noch als Eigenverdienst auszulegen, weil alles vielmehr durch Gnade empfangen ist. Diese Beschaffenheit des Menschen macht jedes selbstzentrierte und egoistische Verhalten überflüssig und eröffnet ein verständnisvolles Handeln im Dienst am Nächsten aus der Einheit in der Gemeinde. Die Demut ist in den paulinischen und katholischen Briefen als Forderung zu verstehen, nach der man sich im Wissen um die Bedingtheit durch Gott nicht über seine Mitmenschen in Stolz und Prahlerei stellen möge. Deshalb legt Paulus und später auch Cassian (I.3.3) der Demut Werte wie Sanftmut, Geduld und Milde an die Seite, um auf die menschlichen Fehltritte nicht mit Überheblichkeit, sondern Verständnis zu reagieren. Mit Blick auf Jesu Mahnungen, sich nicht der Heuchelei preiszugeben, und Paulus Verachtung einer falschen Selbstkasteiung ist im Neuen Testament noch nichts von einer der Demut nachgesagten Knechtschaft oder Unterwerfungslust zu lesen. Erst wenn sich das Christentum langsam beginnt zu formieren, wird auch die Demut allmählich zu einer Haltung ausformuliert, die ihre Kritiker in Teilen bestätigt. Schon in der frühen Christenheit rückt der »Erste Clemensbrief« die Demut in das Zentrum des Gehorsams vor einer geistlichen Autorität, die um ihrer selbst willen anzuerkennen ist (I.3.2). Dazu forderte kurz darauf auch der »Hirt des Hermas«, zugunsten der Demut seinen »Leib« möglichst »rein« zu halten und demütig die Qualen zur Vergebung der Sünden auszuhalten (I.3.2). Zwar ist auch schon, wie oben betont, bei Paulus von Aufrufen zum Gehorsam und vom Konflikt zwischen »Geist« und »Fleisch« die Rede, aber die Demut hat in seinen Briefen für diese Zusammenhänge noch keinen eigens ausge114 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag

wiesenen Stellenwert. Cassian bestimmt in Hinblick auf das monastische Leben die Demut als eine Tugend, die eine Grundlage für den »Geist« im Kampf gegen die »fleischlichen« Leidenschaften bildet, aber ebenso die Funktion hat, die gemeinsame Situation mit den Mitbrüdern in Geduld und Sanftmut zu ertragen (I.3.3). Liest man schon bei Cassian in diesen Zusammenhängen vom Ablegen des »Eigenwillens«, führt Benedikt von Nursia dieses Verhalten in ein institutionalisiertes und formalisiertes Regelwerk für das Mönchtum ein (I.3.4). Die Demut soll dort wie auf einer Leiter den Weg zu Gott ebnen, wofür auf verschiedenen Stufen unter anderem das Vermeiden der Sünden, der Gehorsam gegenüber den Oberen oder das Unterlassen des Lachens erforderlich ist. In den alltäglichen und grundlegendsten Verhaltensweisen wie im gesenkten Blick findet die Demut als Haltung eine Verkörperung, die wie eine stufenweise Anleitung für einen ganzheitlichen Lebensstil zu befolgen ist. Für die philosophische Kritik dürfte als ein Höhepunkt dieser Entwicklung die »Nachfolge Christi« des Thomas von Kempen gelten, der den Zusammenhang von Selbsterniedrigung und Demut als asketische Praxis noch stärker formuliert (I.3.7). Exemplarisch steht dafür wieder die Forderung nach Gehorsam unter eine weltliche oder geistliche Autorität in Verbindung mit der Aufgabe des Eigenwillens, was sich in der »Abtötung« des Selbst in Gestalt der Unterdrückung aller Begierden und Leidenschaften zuspitzt. Stolze und »fleischlich« gesinnte Menschen sind hier von Unfrieden geplagt, wogegen der Demütige als »Sieger« über sich selbst die Ruhe und den Frieden in Gott genießen darf. In dieser christlichen Tradition ist in der Tat, wie von der philosophischen Kritik unterstellt, die Demut eine Haltung, die den Gehorsam, die Selbstverachtung und auch die Unterdrückung des Eigenwillens bestärken kann (I.2.1, I.2.2). Dass die christliche Demut aber einseitig nur nach diesen Gesichtspunkten verstanden wurde, ist eine verkürzte Sicht, die schon der hier bei weitem nicht vollständigen Textauswahl nicht standhält. Das trifft in theoretischer Hinsicht auch auf den Vorwurf der Heuchelei und des versteckten Stolzes zu, der mit der Demut einhergehen soll (I.2.3). Nicht nur ursprünglich schon Jesus und 115 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

Paulus, sondern auch Cassian, Benedikt oder Thomas von Aquin versuchten mit ihren Forderungen oder ausgefeilteren Bestimmungen vor einer heuchlerischen Glaubenspraxis zu warnen, um nicht der Zurschaustellung der guten Taten oder einer falschen Kasteiung Vorschub zu leisten. Auch der Grundanspruch des Christentums bestand nie im rein »äußerlichen« Schein der Demut, sondern in einem Glauben, der an der Echtheit des eigenen Anspruchs interessiert ist und deshalb einen konsequenten Willen zur Umsetzung dieser Haltung voraussetzt. Dass in den christlichen Zeugnissen auch immer wieder vor einer falschen Demut gewarnt wird, spricht dafür, dass das Problem der Heuchelei im Christentum seit je her eine Rolle spielte, aber auch bekämpft werden wollte. Die Demut mag für den Missbrauch in Selbstdarstellung und Prahlerei anfällig sein, aber mit diesem Vorwurf ist sie nie allein konfrontiert, weil auch andere Haltungen oder Werte wie die Gerechtigkeit, Tapferkeit oder Besonnenheit diesem Verdacht immer mit ausgesetzt sind; das in I.2.3 geäußerte Unbehagen ist schlicht kein genuin religiöses oder christliches Problem, das man obendrein einzig auf die Demut beschränken könnte. 257 257

Anhand der Bedenken von Prütting hinsichtlich der von den kirchlichen Ämtern geforderten Demut wird dies besonders deutlich: »Allerdings ist die vom kirchlichen Funktionsträger geforderte Demut durchaus ambivalent, denn diese Forderung nach Demut entpuppt sich, schaut man etwas kritischer hin, durch diese Anbindung der mönchischen Demut an das Würdeideal alsbald als die Sprache der Macht, weil jede Organisation um so machtvoller nach außen auftreten kann, je demütiger und gehorsamer ihre Funktionäre innerhalb der Organisation sich verhalten und je würdiger sie nach außen hin auftreten.« Prütting: Homo ridens. A. a. O. S. 421. Dass die Demut auf diese Weise zu weltlicher Macht verhelfen kann und dass damit das nach »außen« vorgegebene Verhalten eines Menschen von gänzlich anderen Absichten unterlaufen wird, will ich nicht im Geringsten bezweifeln (I.2.3). Diese Bedenken wurden implizit schon eingangs (s. »Der Trend zur Demut«) durch den Verdacht geäußert, der Modebegriff »Demut« könnte für instrumentelle Zwecke in Wirtschaft und Politik missbraucht werden. Wenn man aber in der Moderne das »Würdeideal«, wie Prütting es nennt, an Werte wie »Nachhaltigkeit«, »Solidarität« oder »Gleichheit« bindet, steht man vor der gleichen Problematik, wie man sie im Verhältnis von kirchlicher Macht und Demut verwirklicht sah. Auch Anhänger oder politische Funktionäre von Bewegungen aller Couleur, die z. B. möglichst »nachhaltig«, »solidarisch«, »vernünftig«, »kritisch« oder »emanzipiert« auftreten, stehen dann unter

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Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag

Grundsätzlich untersteht jede ernsthaft vertretene Haltung der Bedingung, dass sie auch von einem Willen oder einer Entscheidung zur ungeheuchelten Stellungnahme getragen ist. Dieser Anspruch an sich selbst, der sowohl die Motivation zum Handeln als auch die Art und Weise des Auftretens umfasst, liegt unvertretbar in der Eigenverantwortung jeder Person. Auch deshalb ist die Demut nicht mehr oder weniger erstrebenswert, weil Menschen mit ihrer Verantwortung Missbrauch getrieben haben. Stattdessen ist die Legitimation und das mit ihr verknüpfte Menschenbild für die Demut von Bedeutung und auch für ihre Relevanz ausschlaggebend. Aber gerade wenn man die Demut nicht als bedingungslosen Gehorsam oder als Dienst in der Knechtschaft auslegen möchte, muss man der Eigenverantwortung der Person immer so viel Freiheit lassen, dass sie theoretisch mit ihrem Handlungsspielraum auch stets von Heuchelei und Geltungssucht Gebrauch machen könnte. Die Mahnung, sich diesem Verhalten nicht hinzugeben, hat das Christentum von seinen Ursprüngen an verlauten lassen. Auch wenn die Ausdeutungen der christlichen Demut oftmals von Forderungen nach Gehorsam und Leidenschaftslosigkeit begleitet waren, ist sie nicht ausschließlich Teil einer »umfassenden Unterwerfung« oder immer eine »Demut des vorbehaltlosen Unterordnens« gewesen. 258 Dass diese Einschätzung zu einseitig ist, wird spätestens dann ersichtlich, wenn man den ebenfalls im Christentum betonten Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Demut beleuchtet, der bis hier vor allem bei Bernhard von Clairvaux (I.3.5) und Thomas von Aquin (I.3.6) zur Geltung kam. Bei diesen Denkern findet die Demut neben der unhintergehbaren Autorität in Gott auch eine Legitimation durch eine eigenständige Selbstbetrachtung, aus der heraus eine Selbstdem gleichen Verdacht, dieses Verhalten nur für den Gewinn von politischem oder kulturellem Kapital vorzuleben. Es ist deshalb überhaupt nicht einzusehen, warum sich dieser Vorwurf auf die Demut beschränken oder besonders typisch für diese Haltung sein sollte. 258 Zu diesem Schluss kommt: Leng, Hermann-Otto: Die Dimensionen der Demut. Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens. Baden-Baden 2015. S. 74.

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Bestimmungen der Demut in der christlichen Tradition

beschränkung des Strebens erfolgt. Bernhard verstand die Demut als eine an der »Wahrheit« interessierte, aufrichtige Selbsteinschätzung, anhand derer sich die eigene Person geringschätzt, um darauf aufbauend auch das »fremde Elend« der Mitmenschen zu erkennen, sodass ein mitleidendes und barmherziges Miteinander möglich wird. Entgegen Spinozas Bestimmung der Demut als Affekt ohne »vernünftige« Einsicht (I.2.1), ist die Demut hier mit einer auf der Vernunft (lat. ratio) beruhenden Selbsterkenntnis verbunden. Die Demut ist dann keine Vorschrift zum Gehorsam oder Teil einer Unterdrückung der Leidenschaften, sondern ein erdendes Korrektiv aus der Selbstbeurteilung, die auf einer Eigenleistung beruht, um Stolz und Selbstüberschätzung entgegenzuwirken. Von reiner Ohnmacht, Unterwürfigkeit oder Heuchelei ist hier keine Rede, eben weil die Demut wesentlich an der »Wahrheit« interessiert ist, deren Erkenntnis nicht durch eine »äußere« weltliche Instanz abzunehmen ist. Diese Demut aus der Selbstverortung ist mit einem noch stärkeren Bezug zur Besonnenheit bei Thomas von Aquin aufzufinden. Der Kirchenlehrer verlegt die Aufgabe der Demut in die Leitung und Mäßigung des menschlichen Strebens, wobei das Maß dafür der Selbsterkenntnis entnommen wird, nach der eine Person ihr Vermögen nicht höher einschätzt, als es wirklich ist. Auch bei Thomas ist die Demut am Maß der Vernunft orientiert, das der Stolze in Selbstüberschätzung und Hochmut überschreitet. Die Konsequenz des demütigen Verhaltens liegt hier nicht im vollkommenen Brechen des Eigenwillens und im Absterben sämtlicher Begierden. Gefordert wird vielmehr eine eigenständige und angemessene Korrektur des Bestrebens im Verbund mit der Besonnenheit. Von Thomas ist zu lernen, dass es für die Demut keiner vollkommenen Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse bedarf, die vermutlich ohnehin nur, wie später deutlich wird, um den Preis der Krankheit umzusetzen ist (II.4.2.3). Stattdessen ist ein Maß im Umgang mit den Begierden nötig, das sie – gemessen am eigenen Vermögen – in die richtigen Bahnen lenkt, ohne dafür das Selbst »absterben« lassen zu müssen. Dass die Demut auch keine reine Ohnmacht oder Knechtschaft bedeuten muss, ist ebenfalls dem von Thomas vorgesehenen Zusammenspiel von Großgesinntheit und Demut 118 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Facetten der christlichen Demut und ihr Ertrag

zu entnehmen, auf das später noch zurückzukommen ist (II.4.3). Ein säkulares Verständnis der Demut hat hier Anknüpfungspunkte zu erschließen, auch weil eine besonnene Selbstverortung in der Eigenverantwortung der Person nicht auf ein Gottesbild angewiesen sein muss (II.4.2.2), dem Bernhard und Thomas selbstredend stets verhaftet bleiben. Mit dem Wissen um das Zusammenspiel der Demut mit einer vernünftigen Einsicht und einem darauf aufbauenden Maß kann diese Haltung in Teilen vor den Vorwürfen der Kritiker bewahrt bleiben (I.2). Die Demut hat in Verbindung mit der Selbstbetrachtung über das Christentum hinaus das Potential, der hochmütigen Selbstüberschätzung und einem ausschließlich eigennützigen Verhalten entgegenzuwirken, um gleichzeitig auch ein den Mitmenschen achtendes Verhalten zu fördern, wie es schon Paulus für seine Gemeinden einforderte. Damit könnte sie – so soll im Folgenden deutlich werden – als Haltung auch für die moderne Lebensausrichtung ein Vermögen des Menschen wecken, das ihm möglicherweise durch den Rückgang des Christentums oder des Religiösen überhaupt verlustig gegangen ist. Die Arten der Demut (II.5) mögen diesen Gedanken später plausibilisieren. Die bis hier formulierten Annahmen liefern damit den Ausgangspunkt für den zweiten Teil der Überlegungen. Dort soll schrittweise ein philosophisches Verständnis der Demut erarbeitet werden, das nicht auf ein Gottesbild angewiesen ist, aber diesen Einfluss dennoch nie vollkommen ausklammert. Die nun folgenden phänomenologischen Annäherungen an die Demut haben sich hiermit ihrer christlichen Tradition vergewissert und bleiben, trotzdem sie die religiösen Glaubenssätze nicht teilen können, beider Aspekte dieser Haltung gewahr: Wir fanden einerseits eine christliche Demut als Form der Selbsterniedrigung vor, die bis zur Selbstverachtung gesteigert wurde und in der Tat eine gehorsame Unterwerfung unter eine geistliche oder weltliche Autorität bei gleichzeitiger Unterdrückung des »Fleisches« begründet. Die für philosophische Zwecke wesentlich fruchtbarere Demut beruht andererseits auf einem Akt der Selbsterkenntnis, der für die Selbstbeschränkung und das gemeinschaftliche Handeln ein »vernünftiges« Maß zum Ausgangspunkt hat. 119 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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II. Teil: Phänomenologische Annäherungen an eine Theorie der Demut

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II.4. Theoretische Grundlegung der Demut

Das historisch und kulturell geprägte Verständnis der Demut offenbarte sich an der philosophischen Kritik sowie an den traditionell christlichen Ausdeutungen dieser Haltung. Der Charakter der nun folgenden phänomenologischen Annäherungen an diese Haltung besteht darin, die Demut nicht auf Grundlage ihres traditionell christlichen Weltbildes zu rehabilitieren, sondern sie vor dem Hintergrund eines Weltverständnisses zu erschließen, das auf ein rein religiöses Bestreben nicht angewiesen ist. Das Programm dieser Annäherungen hat sich der Frage verschrieben, was es mit der Demut auf sich hat, wie sie also zu bestimmen sei, wofür es nötig ist, nach ihren Quellen zu fragen, die auch für ihre Legitimierung ausschlaggebend sind. Ein Ausgangspunkt der christlichen Demut besteht im grundsätzlichen Glauben an einen Gott, vor dem man zwangsläufig durch die menschliche Beschaffenheit demütig sein muss. Dieser Ansatz ist für ein philosophisches Bestreben lehrreich, wenn es an Stelle eines Gottes einer diesseitigen Autorität für die Demut bedarf. Dem Christentum ist außerdem, wie schon ausführlich betont, zu entnehmen, dass die Demut aus einer besonnenen Selbsterkenntnis resultieren kann, die das menschliche Selbst- und Weltverhältnis problematisiert. Diese Quelle der Demut fasse ich als Besinnung der Person auf (II.4.2). Wer aber die Demut einzig durch eine Selbstverortung erschließen möchte, erweckt dabei den Anschein, als handelte es sich um eine Haltung, die sich ausschließlich aus rein theoretischen und nüchtern konstatierten Beweggründen ableiten lässt. Aus den Augen gerät dann die Lebenswelt des Menschen, in der er zur Auseinandersetzung mit spürbaren Erfahrungen aufgerufen ist. Auch der Ausgangspunkt der demütigen Selbsterkenntnis 123 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Theoretische Grundlegung der Demut

muss nicht im willkürlichen Belieben der Person fundiert sein, sondern kann nicht weniger Erlebnissen entwachsen, die einen Menschen zwingend so aufhorchen lassen, dass er sein Weltverhältnis thematisieren muss. Diese oftmals vernachlässigte Dimension der Erfahrung ist hier als Betroffenheit ausgezeichnet und stellt die zuerst untersuchte Quelle der Demut dar (II.4.1). Um wiederum die Lehren aus der christlichen Tradition (I.3) ernst zu nehmen, muss man die Demut vor einer einseitigen und rein passiven Ausgestaltung in »Selbstkasteiung« und »Knechtschaft« bewahren, was dadurch zu garantieren ist, dass sie neben anderen Werten auch Raum für ein Selbstwertgefühl zulässt, das gleichermaßen die Vorzüge der Person zur Geltung bringt (II.4.3). Dann kann die Demut als eine Haltung in die Fassung der Person integriert werden (II.4.4), wodurch sie zwar keine Auszeichnung als Tugend erhält, aber dafür stärker im unmittelbaren Erleben des Menschen ihren Platz findet. Es handelt sich damit um eine prozesshafte Erschließung des Phänomens »Demut«, die bereits mit der Offenlegung der Vorgriffe in sprachlicher (I.1), moralkritischer (I.2) und religiöser (I.3) Hinsicht einsetzte, und nun übergeht zur Analyse der Quellen und der Charakterisierung als Haltung, um erst dann in einer Begriffsbestimmung (II.4.5) zu münden. II.4.1 Demut aus Betroffenheit Die christliche und philosophische Tradition verstand die Demut oftmals als eine Tugend oder Haltung, die der Gläubige zielgerichtet und auf Grundlage seines willkürlichen Handlungsvermögens einnimmt. Das »Demütigsein« hat demnach mit einem bestimmten Verhalten zu tun, das sich in »äußeren« oder vielmehr sichtbaren und nachvollziehbaren Handlungen niederschlägt, aber auch »innere« Elemente umfasst, die man als einen »Willen« 1 1

Im Christentum ist dieser Wille nicht nach dem Eigeninteresse, sondern nach göttlichen Maßstäben ausgerichtet: »Der Wille zur Demut ist der Wille als Einwilligung in Gottes Willen. Und das in jeder Situation unserer Existenz.« Seiss,

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Demut aus Betroffenheit

oder eine Entscheidung zur Demut versteht. Neben diesem traditionellen Verständnis, nach dem sich eine Person als aktiv handelnder Akteur die Demut im Rahmen einer Glaubenspraxis aneignet, steht jene Lebenserfahrung, die sich im Rahmen spürbarer Widerfahrnisse dem Belieben des Menschen widersetzt. In dieser Lebenserfahrung und deren Reichtum, so möchte ich zeigen, liegt die oftmals übergangene Quelle der Demut, die einer Person auf Grundlage ihrer Erlebnisse erst eingegeben oder nahegelegt wird. Auch der passive Charakter, den man der Demut nachsagt, resultiert aus diesem unmittelbaren Erleben, dessen Nachwirken sich ein Betroffener langfristig nicht entziehen kann. Die Legitimierung der Demut besteht dann ursprünglich nicht in einem metaphysischen oder religiösen Weltbild, sondern im Charakter einer Erfahrung, die einer Person kaum wirksamen Handlungsspielraum lässt, sodass sie sich demütig zeigen muss. Anstatt die Demut also einfach als Tugend vorauszusetzen, möchte ich danach fragen, inwiefern diese Haltung auf konkreten Erfahrungen beruht, die religiösen oder anderen theoretischen Legitimierungsversuchen vorhergehen. Dafür ist die Rolle der Betroffenheit im Kontext der Demut anhand spürbarer Erfahrungen nachzuweisen (II.4.1.1) und anschließend durch phänomenologische Begriffe begreifbar zu machen (II.4.1.2, II.4.1.3). II.4.1.1 »Es geht ein Übergroßes vor« Um das Verhältnis von Erfahrung und Demut zu beleuchten, bedarf es Zeugnisse, die den spezifischen Charakter als Art und Weise der Erfahrungen erkennen lassen. Gesucht sind damit Erlebnisse, von denen ausgehend die Betroffenen bereit sind, ihr Verhalten als demütig auszuzeichnen. Entgegen dem bereits explizierten Unbehagen an der Demut (I.2) besteht der Anspruch dieRudolf: Mut und Demut im Leben Jesu nach dem Zeugnis des Evangeliums. In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 149–155, hier 149.

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Theoretische Grundlegung der Demut

ser Untersuchung darin, die Erfahrungen nicht von vornherein aus moralkritischer Perspektive als korrekturbedürftig abzuwerten, weil sie zum Beispiel von der Ohnmacht oder der Überwältigung einer Person berichten. Der Maßstab zur Begriffsbildung unterliegt vielmehr phänomenologischen Ansprüchen, nach denen die Lebenserfahrung als das, was dem Menschen spürbar widerfährt, zur Geltung kommen soll, ohne dass er sich dabei seiner Situation nach Belieben bemächtigt hätte. Soweit es möglich ist, mögen die Erfahrungen sprechen, »so wie sie in sich selbst geartet sind« und »ohne uns zunächst um das etwa ihnen anhaftende Gute oder Verwerfliche zu kümmern« 2. Von Bedeutung ist deshalb das Bewusstsein dafür, dass sowohl die herangezogenen Zeugnisse wie auch deren Deutungen immer im »Licht der verwendeten Sprache und des geschichtlich geprägten Hintergrunds« 3 entstehen. Die Explikation dieses historisch und kulturell gewachsenen Hintergrundes des Begriffes »Demut« und dessen Kritik schlug sich bereits in den Auseinandersetzungen des ersten Teils nieder. 4 Weil dieses Vorverständnis damit bereits ausführlich befragt wurde, kann man sich nun im Wissen um diese Voreingenommenheit der »Demut« und dem für sie relevanten Erfahrungshorizont umso offener nähern, wenn auch die eigene Prägung dabei nie vollends abgelegt werden kann. Die Art des Erlebens, die sich aus den Schilderungen ableiten lässt, ist, soweit möglich, von der inhärenten Auslegung der Betroffenen zu trennen, die das Erfahrene zum Beispiel oftmals auf ihr religiöses Weltbild zurückführen und vor diesem Hintergrund berichten. Ohne eine spezifisch religiöse Erfahrung gemacht zu haben, berichtet der ehemalige Astronaut Ulrich Walter von seinem Erleben im All, dass ihn demütiger machte, als er die Gewalt der »Natur« auf der Erde walten sah. In einem Interview berichtet er:

2

Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. A. a. O. S. 362. Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. A. a. O. S. 13. 4 Es wären dazu dringend Untersuchungen nötig, die einen Zusammenhang zwischen dem europäisch geprägten Verständnis von Demut und einem weitestgehend äquivalenten Begriff anderer Kulturkreise und Religionen herstellen. 3

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»Ursula Heller: Aber so wie ich Sie verstanden habe, ist auch Ihre Demut größer geworden. Ulrich Walter: Ja, das stimmt. Denn man sieht eben auch, dass wir Menschen sehr stark von der Natur abhängig sind. Wenn man von dort oben z. B. einen Sandsturm sieht, der auf 1000 Kilometer Breite Millionen Tonnen von Sand in den Atlantischen Ozean hinausschiebt, wenn man also solche Naturgewalten sieht, dann sagt man sich natürlich: ›Was können wir Menschen schon groß gegen die Natur ausrichten?‹ Wenn man das alles mit eigenen Augen gesehen hat, dann lautet die Antwort auf diese Frage: ›Nichts!‹« 5

Walter begründet die Demut ausgehend von einer Naturerfahrung in Gestalt eines Sandsturms, dessen gewaltige Zerstörungskraft er aus dem Weltall in Gänze überblicken konnte. Die Demut gründet sich hier auf eine konkret erfahrbare Autorität, vor der ein Betroffener sich demütig zeigen muss, weil die Umstände ihm keine andere Möglichkeit zum ernsthaften Widerstand lassen. Der Astronaut fasst diese autoritäre Instanz unter dem Schlagwort »Natur«, die er aber konkret anhand der Übermacht eines Sandsturmes erlebt oder vielmehr wahrnimmt, ohne selbst dabei in unmittelbarer Gefahr zu sein. Es handelt sich um eine Abhängigkeit von einer Autorität, die den Handlungsspielraum des Menschen einschränkt, übersteigt oder verunmöglicht, sodass man »nichts«, wie Walter sagt, in der jeweiligen Situation auszurichten vermag. Die Demut aus der Betroffenheit von einer bestimmten Erfahrung stellt sich dazu völlig unabhängig vom Belieben oder den Standpunkten einer Person ein, weil diese wesentlich passiv einem Widerfahrnis ausgesetzt ist. Die Demut ist in diesem Sinne unwillkürlich, weil sie auf Erfahrungen beruht, die sich ein Mensch nicht willentlich zurechtgelegt hat, sodass er sein Erleben beeinflussen könnte. 6 Wie mit einem Schlag kann dem Betroffenen evident werden, dass er in seiner Stellung gegen5

Prof. Dr. Ulrich Walter im Gespräch mit Ursula Heller. In: Alpha-Forum des Bayrischen Rundfunks. Sendung vom 26. 05. 2009. Eine gedruckte Version des Gesprächs ist zu finden unter: https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/ alpha-forum/ulrich-walter-gespraech100~attachment.pdf [Zuletzt abgerufen am 14. 01. 20]. In diesem Dokument berufe ich mich auf S. 10. 6 Ich beziehe mich auf die Definition der »unwillkürlichen Lebenserfahrung«,

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über einer ihn übersteigenden Instanz machtlos, abhängig und deshalb grundsätzlich in seinem Handlungsvermögen begrenzt ist. Eine Person ist durch eine Erfahrung zu der Stellungnahme bereit, sich ihre Machtlosigkeit, Abhängigkeit und Begrenztheit einzugestehen. Diese drei Kernmomente sollen für die Demut sowohl auf Grundlage einer spürbaren Erfahrung als auch der später zu untersuchenden Besinnung (II.4.2) charakteristisch sein. Die Erfahrungen, welche die Demut als Anerkennung der eigenen Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit hervorrufen, zwingen eine Person – im Gegensatz zur willkürlicheren Besinnung – zu ihrem einsichtigen Verhalten, weil in der jeweiligen Situation kein wirkungsvolles Handeln möglich ist, das den eigenen oder jeweils anderen (wie im Fall des Astronauten) Zustand verändern könnte. In einem Erfahrungsbericht ruft sich ein Betroffener eine Situation ins Gedächtnis, in der ihm die Demut »existentiell« bewusst wurde: »Mir steht dabei mein Krankenlager nach einer schweren Verwundung während des Zweiten Weltkriegs vor Augen. Damals, 1944, stand ich zweimal am Rande des Todes. […] [I]ch erfuhr ein totales Ausgeliefertsein an die Mächte des Todes; ich wurde hineingezogen in einen Prozeß, der mich hilflos machte, der mich überfiel, der stärker war als meine Lebenskraft.« 7

Wenn sich hier die konkreten Umstände auch wesentlich von der Situation des Astronauten unterscheiden, charakterisiert doch der Betroffene die Art seiner Erfahrung auf ähnliche Weise: »Es war das völlige Ausgeliefertsein an etwas Stärkeres.« Und er fügt hinzu: »Hier entscheidet sich, ob mein Leben sinnvoll oder sinnlos ist.« 8 Der Tod ließ ein »Ausgeliefertsein« an eine »Macht« erfahren, die wie sie Schmitz vorgelegt hat. Vgl. Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. A. a. O. S. 13. 7 Sudbrack, Josef: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 137–147, hier 137 f. 8 Sudbrack: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. A. a. O. S. 138.

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den Betroffenen überfällt, ihn hilflos macht oder sogar auszulöschen droht. Diese Erfahrung, die der Schwerverwundete auch als »persönliche Erfahrung des Angewiesenseins« bezeichnet, 9 hatte dazu eine Geltungskraft, die den Demütigen sein Leben grundsätzlich überdenken lässt, sodass er sein Erleben nachhaltig in einen moralischen Kontext stellt. Die »existentielle« Note dieser Erfahrung ist darin fundiert, dass der Betroffene auch über die konkrete Situation des Erlebens hinaus die Sinnhaftigkeit und Richtung seines Lebens so hinterfragt, dass er sein Handeln und Denken neu ausrichten muss. Von der Erfahrung und der daraus entspringenden Demut kommt der Betroffene nicht mehr los, wenn auch der Ausgangspunkt im unmittelbaren Erleben schon zeitlich längst zurückliegen mag. Hinter den aus der Erfahrung abgeleiteten Momenten der Demut als Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit der Person würde die bereits vorgestellte philosophische Kritik (I.2) wohl eine Unterdrückung des Individuums oder ganzer Gesellschaftsschichten vermuten. Lässt man aber zunächst diese vorschnellen moralischen Bewertungen hinter sich, wird deutlich, dass die ursprünglichen Erfahrungen, die mit der Demut im Zusammenhang stehen, einem willkürlichen Handeln aus moralischen Gesichtspunkten vorhergehen. Es ist nicht so, dass sich die Betroffenen willentlich fragen, was in ihrer Situation wünschenswert wäre, sondern wesentlich ist gerade, dass sie in ihrer Lage zunächst gar nicht anders können, als sich in Demut zu bescheiden. Erst die sekundär aus der Erfahrung resultierende demütige Stellungnahme und die daraus entstehenden Praktiken mit moralischen Absichten dürften Teil einer Moralkritik sein, nicht aber eine Erfahrung, die zunächst gar nicht im Belieben der Person liegt. 10 Zu unterscheiden sind die Art und Weise der Erfahrung, die einem Menschen die Demut nahelegt, und die moralischen Verhaltensweisen, die aus diesem Erleben nachhaltig abgeleitet werden. Aber 9

Vgl. Sudbrack: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. A. a. O. S. 140. 10 Anders würde es sich wiederum verhalten, wenn eine Person sich bewusst auf eine Erfahrung einlassen möchte, von der sie sich die Demut verspricht.

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auch der Charakter der Erfahrungen lässt kein einseitiges Verständnis der Demut zu, das sie ausschließlich in den Kontext einer korrekturbedürftigen Ohnmacht oder Knechtschaft stellt. Wie schon die obigen Schilderungen des Astronauten nahelegen, muss eine Situation, die für die Demut ausschlaggebend ist, nicht immer eine einseitig ablehnenswerte Konnotation implizieren. Die für die Demut spezifische Abhängigkeit ist sogar im Zusammenhang mit dem Tod als erhaben im angenehm erfüllenden Sinne erfahrbar: »Was die Demut betrifft: Während des geschilderten klinisch-toten Zustandes war mein größtes und erhabenstes Gefühl das Gotteserlebnis. Ich fühlte mich vom Göttlichen getragen. […] Ich spürte, daß mein Ich-Bewußtsein ein winziger Teil, aber doch Teil des unerklärlichen, allmächtigen All-Bewußtseins, anders ausgedrückt, des Gottes-Bewußtseins ist. Dieses wunderbare Gotteserlebnis ist nicht in Worte zu fassen. […] Gott ist unerfaßbar, unerforschbar, unbegreiflich, unerklärlich, unendlich und allmächtig. Im klinisch-toten Zustand konnte ich die absolute Liebe als Substanz Gottes nur demütig ahnen. Demut vor Gott ist nicht demütigend – im Gegenteil, sie ist ein erhabenes Gefühl.« 11

Die Nahtoderfahrung begünstigt eine Stellungnahme, mit welcher der Betroffene seine Demut in der Auseinandersetzung mit einer Instanz bekundet, die er nachträglich als »Gott« oder »Gotteserlebnis« auszeichnet. Dem Spezifikum dieser Erfahrung, unabhängig von einem metaphysischen oder nachträglich dazu gestellten Weltbild, kommt man näher, wenn man die sogenannte »Substanz« des »Gottes« in den Mittelpunkt rückt, die in der Schilderung als »absolute Liebe« bezeichnet ist. Diese Liebe konnte der Betroffene nur in Demut »erahnen«. Diese Ahnung ergibt sich aus der Konfrontation mit einer Allmacht, von der sich das »Ich« als »winziger Teil« »getragen« fühlt. Die Demut konzentriert sich auf eine Autorität, die als »Gott« oder seine »absolute Liebe« erfahren wurde und im spürbaren Kontrast der Person ihre Nied11

Jankovich, Stefan v.: Vom Tod ins Leben. In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 115–124, hier 123 f.

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rigkeit oder Winzigkeit suggeriert. Diese Allmacht überkommt den Demütigen in der Auslieferung an den nahestehenden Tod, wobei der Betroffene seine Situation nicht als rein erdrückend, sondern als, um es erneut zu betonen, »tragend« erfährt. Es ist kein Zufall, dass der am Abgrund des Todes Stehende in der Schilderung die Unaussprechlichkeit seiner Erfahrung betont und sich an Stelle einer konkreteren Beschreibung seines Erlebens mit der Aufzählung von Eigenschaften wie Unendlichkeit, Unbegreiflichkeit oder Allmächtigkeit begnügt, als deren Träger er Gott ausweist. Aus diesen Eigenschaften, die erst nachträglich einem Gott zugeschrieben werden, spricht der Charakter und die Intensität einer Erfahrung, die im Umkehrschluss die eigene Person in ihrer Stellungnahme zur Demut zwingt. Im Zuge seiner Niedrigkeit begreift sich der Demütige als Teil eines Geschehens, das ihn willenlos und ohnmächtig macht, aber nicht im Sinne einer peinlichen Demütigung, sondern im Rahmen eines Geschickes, von dem er sich »getragen« und aufgenommen versteht, so klein er sich dabei auch fühlen mag. Hinsichtlich ihrer Quellen ist die Demut damit weder ausschließlich ein Bestandteil von angenehm-tragenden noch unangenehm-beengenden Erfahrungen, weil der Gehalt ihres Erlebens wesentlich reicher ist, als es schon die theologische oder philosophische Tradition nahelegte (I.2, I.3). Im Fall eines Krankenlagers ist das Leid in der Erfahrung eindeutig dominierend, aber selbst im Tod oder im Angesicht eines zerstörerischen Naturschauspiels muss den Betroffenen ihr Erlebnis nicht als reine Erniedrigung oder Vernichtung entgegentreten. Dafür sprechen auch Erfahrungsberichte, die William James in seinem Werk »Die Vielfalt religiöser Erfahrung« heranzieht, in denen die Betroffenen unabhängig von einer Nahtoderfahrung davon berichten, dass sie demütig und glücklich 12 oder demütig und dank12

»Ich begann, mich außerordentlich glücklich und demütig zu fühlen, und gleichzeitig so verabscheuungswürdig wie nie zuvor. Ich konnte es einfach nicht lassen, ich mußte laut sprechen, und sagte, Herr, ich verdiene dieses Glück nicht, oder etwas ähnliches; und dabei floß ein Strom, der sich ähnlich wie Luft anfühlte und den ich deutlicher empfand, als wenn ich etwas getrunken hätte, in meinen Mund und in mein Herz […]. Mein Herz drohte zu zerspringen, aber es hörte

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bar 13 waren, wobei sie sich von einem Gefühl der Liebe durchflutet fühlten. Auch ist die Autorität, welche die Demut zur Grundlage hat, nicht nur auf einen »Gott« zu beschränken, sondern auch auf den Tod oder die »Natur« auszuweiten, die einem Menschen seine Abhängigkeit, Machtlosigkeit oder Begrenztheit nicht weniger vermitteln können. Den Erfahrungen gemein ist aber, dass sie einen so hohen Stellenwert für die Betroffenen besitzen, dass diese darauf aufbauend moralische Überlegungen hinsichtlich ihrer Stellung in der Welt unternehmen, was sie entweder zu der Annahme eines Gottes bewegt oder den Sinn ihres Lebens anderweitig hinterfragen lässt. Diese Vielseitigkeit der Demut kommt auch in Rainer Maria Rilkes Gedicht »Du meinst die Demut« zum Ausdruck. Es ist offensichtlich, dass auch dieses Gedicht, das Teil von Rilkes »Stunden-Buch« ist, die Demut in letzter Konsequenz als eine Haltung vor Gott begründet. Weil aber in den Versen das Göttliche in seinen Erscheinungsweisen äußerst facettenreich zur Geltung kommt, lassen sich entsprechend unterschiedliche Situationen ausfindig machen, die einen Anlass zur Demut liefern: »Du meinst die Demut. Angesichter/ gesenkt im stillen Dichverstehn./ So gehen abends junge Dichter/ in den entlegenen Alleen./ So stehn die Bauern um die Leiche,/ wenn sich ein Kind im Tod verlor, –/ und was geschieht ist doch das Gleiche:/ Es geht ein Übergroßes vor.« 14

nicht auf, bis ich mich unbeschreiblich erfüllt fühlte von der Liebe und Gnade Gottes.« James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Übers. v. Eilert Herms u. Christian Stahlhut. Berlin 2014. S. 211. 13 »Die Last der Schuld und Verdammnis war gewichen, die Dunkelheit ausgetrieben, mein Herz war demütig und voller Dankbarkeit, und meine ganze Seele, die noch vor wenigen Minuten unter Bergen des Todes gelechzt hatte und zu einem unbekannten Gott um Hilfe geschrien hatte, war jetzt erfüllt mit unsterblicher Liebe, schwebte auf den Flügeln des Glaubens, befreit von den Ketten des Todes und der Finsternis […].« James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. A. a. O. S. 235. 14 Rilke, Rainer Maria: Du meinst die Demut … In: Ders.: Die Gedichte. 5. Auflage. Frankfurt am Main/Leipzig 2014. S. 248–249, hier 248.

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Rilke schildert die körperliche Haltung der Demut anhand des gesenkten Hauptes, das die niedere Stellung des Demütigen nahelegt. Von der Demut selbst liest man in zwei verschiedenen Szenarien: Einerseits ist die Rede von »jungen Dichtern«, die in besinnlicher Andacht demütig – vielleicht in feierlicher Stille oder auch in Melancholie – eine Allee entlanggehen. Andererseits hat die Demut die Leiche eines Kindes zum Anlass, um die einige Bauern – wohl in Fassungslosigkeit oder Trauer – versammelt stehen. So unterschiedlich die Situationen ablaufen, es ist ihnen doch eine Demut gemein, deren Kern das lyrische Ich deutlich zum Ende der Strophe herausschält, wenn es heißt: »Es geht ein Übergroßes vor.« Das »Übergroße« gestaltet sich als eine Autorität, welche die Person an die Grenze des Machbaren und Verstehbaren bringt und deshalb die eigene Begrenztheit, Machtlosigkeit und Abhängigkeit erfahren lässt. Bei den »Dichtern« im dritten und vierten Vers lässt sich nur erahnen, worin sich dieses »Übergroße« ausdrückt. Es handelt sich, wie soeben nahegelegt, vielleicht um eine feierliche Stille im Sichrichten auf »Gott« oder um eine Ergriffenheit, die aus der abendlichen Atmosphäre der Alleen resultiert. Bei den Bauern, die um eine Kindesleiche versammelt sind, kann dieses »Übergroße« aus der Trauer oder der Verzweiflung resultieren, die sich zum Beispiel als Gefühle um die Ungerechtigkeit des viel zu frühen Ablebens zentrieren. Der Charakter der Demut ist als »Sichbeugen« vor dem »Übergroßen« gleich, die Umstände und die Gefühle sind verschieden. Von diesem Erfahrungsreichtum des »Übergroßen« liest man auch in der zweiten Strophe des Gedichtes. Dort liegt der Bezugspunkt der Demut wieder in der »Natur«: »Wer dich zum ersten Mal gewahrt,/ den stört der Nachbar und die Uhr,/ der geht, gebeugt zu deiner Spur,/ und wie beladen und bejahrt./ Erst später naht er der Natur/ und fühlt die Winde und die Fernen,/ hört dich, geflüstert von der Flur,/ sieht dich, gesungen von den Sternen,/ und kann dich nirgends mehr verlernen,/ und alles ist dein Mantel nur.« 15

15

Ebd.

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Das lyrische Ich sieht demütig in all seinen Erfahrungen das Göttliche verwirklicht, wenn sich »alles« als »sein« beziehungsweise Gottes »Mantel« zu erkennen gibt. Auf der »Spur« zu diesem Gott geht man »gebeugt« und ist dem »Übergroßen« somit in Anerkennung gewahr. Der »Mantel« Gottes ist aber selbst kein lebensfernes Abstraktum, sondern er offenbart sich in konkreten Erlebnissen, wenn sich das lyrische Ich der »Natur« »naht«. Es ist das Erleben der »Winde« und der »Sterne« oder der Blick in die »Fernen« des Horizonts, die eine Autorität vermitteln, die über das menschliche Vermögen hinausgeht und im Kontrast die eigene Eingeschränktheit oder Machtlosigkeit evident werden lässt. Wenn das lyrische Ich in letzter Konsequenz Gott »hinter« allen Dingen und damit auch als Instanz für die Demut vermutet, so schlägt sich diese Annahme doch im Charakter verschiedener Erfahrungen nieder, die eine solche Weltsicht erst eröffnen. Ähnliche Erfahrungen in der »Natur«, die aber ohne das Postulat eines Gottes auskommen, macht zum Beispiel Vincent van Gogh, wenn er seinen Zustand auch nicht wörtlich mit der Demut in Verbindung bringt: »Wenn man Stunde um Stunde durch die Gegend wandert, fühlt man, daß es eigentlich nichts anderes gibt als Erde, unendlich; dieser Schimmel aus Getreide oder Heide, dieser Himmel, unendlich. – Pferde, Menschen gleichen dann Flöhen, so klein. Man fühlt nichts mehr, auch wenn es an sich noch so groß ist, man fühlt nur, daß da Erde & Himmel sind.« 16

Der Gang durch eine Landschaft vermittelt dem Maler ein Gefühl der Weite, sodass er glaubt, es sei nichts als »Unendlichkeit« um ihn, wodurch er wiederum seine Begrenztheit im Angesicht seiner Umgebung erfährt. Seine Erfahrung der Kleinheit im Kontrast zur »Unendlichkeit« ist aber keine Erniedrigung in der Knechtschaft, von der van Gogh auch gar nicht berichtet, sondern es

16

Vincent van Gogh an Theo van Gogh am 2. November 1883. In: van Gogh, Vincent: Briefe. Ausgewählt u. hrsg. v. Bodo Plachta. Übers. v. Christel CaptijnMüller u. Winfried Jung. Durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2019. S. 159–163, hier 161.

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wirkt vielmehr so, als sei er mit seinem Zustand vollends einverstanden, als hätte er erkannt, wie es sich »eigentlich« verhält. Die Erfahrungen, die eine Person zur Demut bewegen, erweisen sich abschließend als äußerst facettenreich: Vom Erleben einer Naturgewalt beim Blick aus dem Weltall, dem Gang durch eine Landschaft oder durch die Stille einer Allee, über das Spüren der Winde oder den Anblick der Sterne und des Horizonts, bis hin zu existentiellen Nahtoderfahrungen voll Leid oder überströmender Liebe, bei allen diesen Geschehen haben die Betroffenen eine Erfahrung gemacht, die ich mit Rilke als ein »Übergroßes« verstehe und als Ausgangspunkt für die Demut begreifen möchte. Das »Übergroße« wird nicht durch eine nüchterne Betrachtung erschlossen, sondern einer Person durch eine Auseinandersetzung mit spürbaren Erfahrungen eingegeben. Ob die Betroffenen das »Übergroße« als Gott verstehen, ist dafür nicht ausschlaggebend, sondern es ist vielmehr der Charakter der Erfahrung selbst, der auf diese nachträglichen und metaphysischen Zuschreibungen nicht angewiesen ist. Sofern die Erfahrungen den Betroffenen so nahegehen, dass sie zugunsten ihrer Machtlosigkeit, Abhängigkeit und Begrenztheit Stellung beziehen müssen, können sie zum Anlass für die Demut werden; ob die Instanz »dahinter« als Gott vermutet wird oder nicht, bleibt zweitrangig. Deshalb ist die Demut nach ihrem Gehalt und der Art und Weise der mit ihr im Zusammenhang stehenden Erfahrungen überhaupt keine Haltung, die immer an die Religiosität einer Person oder an Religion überhaupt gebunden sein muss. II.4.1.2 Zwischen »majestas« und »schlechthinniger Abhängigkeit« Wenn auch die Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit als grundsätzliche Kernmomente für die Stellungnahme einer Person gelten, die sich zur Demut bekennt, ist noch über den Charakter der dafür wesentlichen Erfahrungen zu wenig gesagt. Auf der Grundlage philosophischer und phänomenologischer Begriffsarbeit ist eine Spezifizierung dieses Charakters nötig, um 135 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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auch sicher zu stellen, was es heißt, wenn von einem »Übergroßen« die Rede ist, das die Demut stiftet. In seinen Reden »Über die Religion« (1799) charakterisiert Friedrich Schleiermacher die Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« 17. Ausgangspunkt ist dabei das »Universum«, von dem sich die Religion in »Passivität« »ergreifen« lassen will: »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.« 18

Das »Gemüt« des Gläubigen muss für die Religion sowie für »Grad« und »Stärke« der jeweiligen Religiösität vom »Unendlichen« ergriffen werden und die »religiösen Gefühle« mögen alles Tun des Menschen wie eine »heilige Musik« begleiten. 19 Die Ergriffenheit von der »Unendlichkeit« und der Vergleich mit dieser wird für Schleiermacher auch zum Ausgangspunkt für eine »ungekünstelte Demut«: »Und wenn wir das Universum angeschaut haben und von dannen zurücksehen auf unser Ich, wie es in Vergleichung mit ihm ins unendlich Kleine verschwindet, was kann dem Sterblichen dann näherliegen als wahre, ungekünstelte Demut?« 20

Schleiermachers Darstellung erinnert an die oben zitierte Schilderung van Goghs, der auf ähnliche Weise bei einem Gang durch die Landschaft die »Erde« als »unendlich« und sich dagegen als »klein« erfährt. Parallelen weisen auch die anderen obigen Berichte auf, in denen die Demut nicht das Universum, sondern den Tod oder die »Natur« zum Ausgangspunkt hatte. Bei Schleiermacher, der die Erfahrungen des Unendlichen nicht weiter an der Lebenserfahrung konkretisiert, ist die erfahre17

Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Stuttgart 2019. S. 36. 18 Schleiermacher: Über die Religion. A. a. O. S. 35. 19 Vgl. Schleiermacher: Über die Religion. A. a. O. S. 46 f. 20 Schleiermacher: Über die Religion. A. a. O. S. 73.

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ne Unendlichkeit der Anlass für Religion und Demut. Das dabei suggerierte Verhältnis zum »Unendlichen« taucht später in seiner »Glaubenslehre« (1821/22) als das »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« wieder auf: »Das gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott.« 21 Der Mensch findet sich im »unmittelbaren Selbstbewußtsein« als schlechthin abhängig, weil im jeweils eigenen endlichen Sein das »unendliche Sein Gottes« immer schon mit gesetzt ist. 22 Die Unendlichkeit als das unendliche Sein Gottes begründet die grundlegende und immerwährende Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer. Das »ursprüngliche Abhängigkeitsgefühl« vermittelt dieses Verhältnis deshalb nicht bloß zufällig, sondern es handelt sich um ein »wesentliches Lebenselement«, das »nicht einmal persönlich verschieden, sondern gemeinsam in allem entwikkelten Bewußtsein dasselbige« ist. 23 Schleiermachers Betonung der menschlichen Passivität im Vergleich zum »Unendlichen« oder der grundlegende Charakter des Selbstbewusstseins in der Abhängigkeit stimmen auch hier mit der Art und Weise der oben herausgestellten Erfahrungen überein. Entscheidend bei Schleiermacher und auch für die weiteren Überlegungen ist der Ausgangspunkt im Gefühl, das sowohl die Religion als auch letztendlich die Demut begründen soll. Weil Schleiermacher aber keine konkreten Erfahrungen schildert, die das »Unendliche«, das »Universum« oder das »Abhängigkeitsgefühl« näher charakterisieren, gehen seine Umschreibungen kaum über die obigen Zeugnisse hinaus. In seinen Überlegungen kehrt zwar ein ähnliches Erfahrungsmuster wieder, aber über die Art und Weise des Erlebens ist damit noch immer zu wenig ausgesagt. 21

Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Teilband 1. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Erste Abteilung Bd. 7/1. Hrsg. v. Hans-Joachim Birkner. Berlin/ New York 1980. S. 31 (§ 9). Folgend abgekürzt mit »KGA«, Abteilung/Band, Teilband und Paragraphen. 22 Vgl. KGA I/7,1, § 36. 23 KGA I/7,1, § 37.

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Rudolf Otto liefert in seinem für die Religionsphilosophie einflussreichen Buch »Das Heilige« ein Begriffsinventar, das es möglich macht, das Verhältnis von Demut und Erfahrung weiter aufzuhellen. Otto 24 schließt in seinen Überlegungen an Schleiermachers »Abhängigkeitsgefühl« an, will es aber durch das von ihm charakterisierte »Kreaturgefühl« ersetzen: »Ich suche nach einem Namen für die Sache und nenne es Kreaturgefühl – das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist.« 25 Auch bei Otto ist es ein Gefühl, durch das sich der Betroffene im Vergleich mit einer ihn übersteigenden Instanz so klein fühlt, dass er im »Nichts« versinkt. Das Kreaturgefühl versteht Otto als ein »subjektives Begleitmoment« oder als eine Wirkung eines »objektiv« gegebenen »Numinosen«, mit dem er das Moment des Heiligen zu fassen versucht. 26 Das Numinose ist dabei nicht als etwas zu verstehen, das die Person erst in ihrem Gefühlsleben selbstständig konstruiert, sondern das sie »von außen« selbstständig überkommt. Primär ist die »objektive Gefühlsbestimmtheit« des Numinosen, die eine Person »ergreift« oder »bewegt« und erst sekundär als »Schatten« im »Selbst-Gefühl« das Kreaturgefühl folgen lässt. 27 Grundlegend ist dabei, dass das Numinose nur durch dieses Selbstgefühl überhaupt erst begrifflich nachvollziehbar ist. 28 Das numinose Moment der »majestas« als »schlechthinnige Übermacht«, das im Kreaturgefühl seinen »Schatten« wirft, bietet auch den »Stoff« für die Demut: »Besonders auf dieses Moment der schlechthinnigen Übermacht, dieser ›majestas‹, bezieht sich als sein Schatten und subjektiver Reflex jenes ›Kreaturgefühl‹ das als Kontrast zu dem objektiv gefühlten 24

Die fehlenden Kommata in Ottos Werk werden im Folgenden bei der Wiedergabe seiner Überlegungen textgetreu weggelassen. 25 Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 2014. S. 10. 26 Vgl. Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 11. 27 Vgl. Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 13. 28 »Da es [das Numinose; J. P.] selbst ja irrational, das heißt in Begriffen nicht explizibel ist wird es angebbar nur sein durch die besondere Gefühls-reaktion die es im erlebenden Gemüte auslöst.« Ebd.

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Demut aus Betroffenheit

Übermächtigen als das Gefühl eigenen Versinkens Zunichtewerdens Erde-, Asche- und Nichts-Seins sich verdeutlicht und sozusagen der numinose Rohstoff ist für das Gefühl der religiösen ›Demut‹.« 29

Die »majestas« ist eine »schlechthinnige« Übergewalt, die als objektiv anwesende Gefühlsmacht der betroffenen Person als kontrastierenden »Reflex« das Kreaturgefühl vermittelt, das als eingegebene Regung den Ausgangspunkt für die Demut darstellt. Das Kreaturgefühl lässt eine Person »Klein«- und »Zunichtewerden« und ist die »tiefe Antwort« auf eine Übermacht, vor der man sich entsprechend beugen muss. 30 Der Betroffene sieht sich einer »Macht« gegenübergestellt, die ihm keinen Handlungsspielraum lässt, sodass er sich vor dieser Autorität nichtig und klein fühlt. Die von der »majestas« vermittelte Nichtigkeit und Ohnmacht transportiert für Otto somit auch kein grundlegendes Gefühl der Abhängigkeit wie bei Schleiermacher, sondern darüber hinausgehend ein »Gefühl der schlechthinnigen Überlegenheit (Seiner als des übermächtigen)«. 31 Dass sowohl Schleiermacher im Fall des Abhängigkeitsgefühls als auch Otto bei der Bestimmung der »majestas« von einem »schlechthinnigen« Charakter ausgehen, steht für den Anspruch auf absolute Geltung, der den Erfahrungen wesentlich zugrunde liegen muss. Ebenfalls ist für beide Denker die Rolle des Gefühls von grundlegender Bedeutung. Für Otto vermittelt das Kreaturgefühl der ergriffenen Person darüber hinaus eine »Abwertung des Selbst und des Ich und der ›Kreatur‹ überhaupt als des nicht vollkommen wirklichen, wesentlich oder gar als des völlig nichtigen«, aus der die »Forderung« resultiert, bestimmte Handlungen gegen das Selbst bis hin zu dessen Zerstörung vorzunehmen. 32 Aus dem Erlebnis der Nichtigkeit im Vergleich mit einer übermächtigen Allmacht folgt eine Abwertung des Selbst, die wie im Christentum bestimmte Praktiken legitimierte, die vom Absehen der »Selbsterhöhung« bis hin zur Unterdrückung der Leidenschaften 29 30 31 32

Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 23. Vgl. Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 66. Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 24. Vgl. Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 24, 66.

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Theoretische Grundlegung der Demut

reichten (I.3). Diese Stellung nehmende Selbstbestimmung des Menschen resultiert für Otto nicht aus einer theoretischen Überlegung, sondern gründet sich auf einer Erfahrung im Angesicht einer Übermacht, vor der sich eine Person vergleichsweise nichtig fühlt, wie auch schon die Zeugnisse in II.4.1.1 nahelegten. Für eine Demut aus der Betroffenheit ist damit sowohl das Fühlen als auch dessen Geltungskraft von Bedeutung, weil beide Komponenten im Verbund eine Autorität bilden, in deren Anerkennung sich die Person ihre eigene Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit eingestehen muss. Für die im ersten Teil vorgestellten christlichen Bestimmungen der Demut, aber auch für die philosophische Kritik haben diese Feststellungen zur Folge, dass ihre Überlegungen stets einen Schritt zu spät eingesetzt haben. Denn der handlungsleitende Ausgangspunkt ist für die Demut nicht die theoretische Maxime eines religiösen Weltbildes, sondern die Erfahrung einer Übermacht, die einer Person spürbar die eigene Unzulänglichkeit vermittelt und ihr erst darauf aufbauend ein entsprechendes sittliches und moralisches Handeln nahelegt. 33 Das Überwältigende ist selbst kein gedankliches Konstrukt, sondern Teil einer spürbaren Erfahrung, die erst sekundär eine bestimmte Selbstbewertung oder Selbstverortung einleitet. Die Demut hat deshalb, um mit Otto zu sprechen, einen Prozess der »Versittlichung« oder der »Rationalisierung« 34 durchlaufen, der sie aus einer ursprünglichen 33

Der gegenwärtig für seine populär-christliche Erbauungsliteratur bekannte Anselm Grün versteht in einer seiner älteren Schriften, die er als noch junger Mönch verfasste, die Demut ebenfalls nicht als »angelerntes Verhalten«. Stattdessen sieht er sie einer Erfahrung entspringen, welche die Unzulänglichkeit vor dem unendlichen und vollkommenen Gott vermittelt. Für ihn ist die Demut demnach primär nicht das Ergebnis eines Strebens, das die Demut zu einer Tugend macht, sondern das Resultat einer schmerzlichen Erfahrung des Scheiterns, der Schwäche und der Niedrigkeit. Ähnlich wie bei Otto kann es sich dabei auch um eine Erfahrung der Furcht handeln, durch die der Mensch seine Kleinheit im Vergleich zur Größe Gottes erkennt. Ebenso nimmt Grün auf Schleiermachers »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« Bezug. Vgl. Grün, Anselm: Demut und Gotteserfahrung. 2. Auflage. Münsterschwarzach 2018. S. 11, 18, 39 f., 47, 67 f. 34 Für Otto wird das »Heilige« erst zum Heiligen des Christentums, wenn eine

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Demut aus Betroffenheit

Erfahrung heraus zu einer theoretisch begründeten Lebensform in Gestalt von Tugenden oder Vorschriften gemacht hat. In der christlichen Tradition versuchte man die Demut als gebotene Forderung in das Leben zu integrieren, wofür man entsprechende theoretische Annahmen hinsichtlich einer Bedingtheit durch Gott suchte. Dabei geriet oftmals in den Hintergrund, dass dieser Forderung selbst eine Erfahrung zugrunde liegen kann, die für das demütige Handeln erst den Ausgangspunkt bildete. Der Demütige deutet aus einer ihn übersteigenden Erfahrung sein Leben. Mit Rilke gesprochen spürt er, dass etwas »Übergroßes« vorgeht, was er als Aufforderung versteht, sich als abhängig, begrenzt, machtlos oder sogar nichtig zu begreifen. Weil die Quelle der Betroffenheit nicht nur der Lebenserfahrung grundsätzlich näher kommt, sondern auch erst eine nachträgliche Besinnung (II.4.2) als Selbstverortung einleiten kann, möchte ich die »ursprüngliche« Demut als Resultat einer Erfahrung begreifen. Zugleich möchte ich jedoch nicht behaupten, dass die Entstehung der Demut ausschließlich in einem Ursachenverhältnis von primärer Erfahrung und sekundärer Besinnung steht. Ansonsten wäre jede Person auf das Erleben eines »Übergroßen« angewiesen, um zur Demut zu finden, aber, wie ich später verdeutlichen möchte, kann auch die besonnene Selbstverortung auf ihre davon unterschiedene Weise diesen Weg bahnen. Anstatt also dieses Verhältnis grundsätzlich vorauszusetzen, ist es ratsamer, in jedem Fall einzeln zu entscheiden, ob die Quelle der Erfahrung oder der Besinnung für die Demut ausschlaggebender war, wenn es überhaupt möglich sein sollte, diese beiden Momente in Reinform auseinanderzuhalten.

»Versittlichung« oder »Rationalisierung« am Numinosen vorgenommen wird, sodass erst sekundär eine Idee von Gott entsteht, die mit entsprechenden ethischen Vorstellungen verbunden ist. Vgl. Otto: Das Heilige. A. a. O. S. 134 ff.

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Theoretische Grundlegung der Demut

II.4.1.3 Eine Autorität mit unbedingtem Ernst Otto eröffnet zwar ein klareres Verständnis für die Demut aus der Betroffenheit, aber einige seiner Begriffe bleiben noch immer zu unterbestimmt. Denn was soll es heißen, wenn ein Gefühl eine »Übermacht« darstellt oder eine »Forderung« für das demütige Handeln begründet? Otto hat diese Macht als »Forderung« der »majestas« nur angedeutet und auf das christliche Selbstverständnis angewandt, wenn sich die Gläubigen zum Beispiel aufgrund ihrer »Kreatürlichkeit« abwerten. Der Einfluss, den die Demut auf das menschliche Leben über eine Religion hinaus haben kann, wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass sie auf Erfahrungen zurückgeht, die für den Demütigen eine nötigende Geltung besitzen, nach der er sein Selbstverständnis und Handeln ausrichten muss. In II.4.1.1 hatte sich diese Geltung zum Beispiel anhand bestimmter »existenzieller« Erfahrungen abgezeichnet, die das Leben der Betroffenen nachhaltig in Frage gestellt haben. Diese Geltung, die als Autorität für die Demut im Zusammenhang mit Gefühlen stehen muss, wie wir von Schleiermacher und Otto wissen, bedarf einer genaueren Bestimmung. Daraus wird auch der absolute Anspruch des »Übergroßen« verständlicher, sodass die Analyse der Demut aus Betroffenheit zu einem Abschluss kommt. In seinen religionsphänomenologischen Arbeiten bemerkt Hermann Schmitz kritisch 35, dass das »Numinose« oder »Heilige« in Ottos Sinne nicht seinen Charakter erhält, weil es sich um eine bloße »Gefühlsmacht« handelt, sondern diese obendrein auch eine Verpflichtung impliziert, die als Autorität die Verbindlichkeit von Normen stiftet. 36 Schmitz ersetzt das Numinose bei Otto 35

Seine Anerkennung für Ottos Werk und dessen Rolle für die Phänomenologie weiß Schmitz jedoch an anderer Stelle deutlich zu würdigen: »Wie viel besser wäre die Phänomenologie auf den Weg gebracht worden, wenn Rudolf Otto, der Entdecker des Numinosen, damals die methodische phänomenologische Sachlichkeit inspiriert hätte.« Schmitz, Hermann: Wozu Neue Phänomenologie. Rostock 2003. S. 21. Vgl. a. Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994. S. 330. 36 Vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 4: Das Göttliche

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Demut aus Betroffenheit

durch die »göttliche Atmosphäre«, mit der eine besondere Verpflichtung von Normen einhergeht: »Eine Atmosphäre, die ein Gefühl (oder eine Konstellation von Gefühlen) als ergreifende Macht ist, ist göttlich, wenn ihre Autorität für den Ergriffenen unbedingten Ernst besitzt.« 37 Das »Göttliche« eines atmosphärischen Gefühls mit »unbedingtem Ernst« besitzt eine Geltungskraft, der sich eine Person nicht unbefangen zu entziehen vermag – nicht aber aus reiner Ohnmacht, Schwäche oder Unselbständigkeit, sondern im Gegenteil, gerade trotz des vorhandenen Vermögens der Person zur Distanznahme oder Kritik. 38 Ich verstehe das, was Rilke als das »Übergroße« oder Otto als eine auf das Numinose zurückgehende »Übermacht« bezeichnet hat, in dem eben angegebenen Sinn als göttliche Atmosphäre. Diese Atmosphäre stiftet eine Norm für die Betroffenen, aus der heraus sich auch die Demut (aus Betroffenheit) herleiten lässt. Um diesen Zusammenhang genauer zu erhellen, bedarf es eines besseren Verständnisses von der Schmitz’schen Normenlehre. Nach dieser ist eine Norm ein Programm für möglichen Gehorsam, wobei ein Programm wiederum eine Richtlinie für die Eigenführung des Verhaltens einer Person darstellt. 39 Unverbindliche Normen trifft man zum Beispiel in Gesellschaftsspielen an, in denen jedem Spieler nur bestimmte Züge seiner Spielfiguren erlaubt sind. Ebenfalls unverbindlich gelten die Normen einer Anleitung zum Aufbau eines Bücherregals, deren Anweisungen eine Person nach ihrem Belieben folgen, aber sie auch zugunsten

und der Raum. Studienausgabe Bonn 2005. S. 86; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 440; Ders.: Das Reich der Normen. Freiburg 2012. S. 155. 37 Schmitz: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 4: Das Göttliche und der Raum. A. a. O. S. 91. Vgl. a. Ders.: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 156. 38 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 439; Nörenberg, Henning: Der Absolutismus des Anderen. Politische Theologien der Moderne. Freiburg/München 2014. S. 84 f.; Lauterbach, Johanna: »Gefühle mit der Autorität unbedingten Ernstes«. Eine Studie zur religiösen Erfahrung in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Hermann Schmitz. Freiburg/München 2014. S. 543. 39 Vgl. Schmitz, Hermann: Geltung. In: Rostocker Phänomenologische Manuskripte. Hrsg. v. Michael Großheim. Heft 10 (2010). Rostock 2010. S. 1–14, hier 1; Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 323.

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Theoretische Grundlegung der Demut

der Eigenständigkeit ignorieren kann. Eine Norm gilt dagegen verbindlich, wenn sie unabhängig vom Belieben des Subjektes die Bereitschaft zum Gehorsam abnötigt. 40 Für die Erfahrung der Demut ist die »exigente Nötigung« als eine Art der Verbindlichkeit von Normen bedeutend. In diesem Fall ist der Betroffene genötigt, auch wenn er sich sträubt, sich der Norm mit Wissen und Willen unterzuordnen, denn »er kann den Stachel nicht loswerden, den die Zumutung in ihm zurückläßt«. 41 Von diesem »Stachel« der Norm kann sich eine Person wenn überhaupt nur im »Zwiespalt« so lösen, dass sie der Forderung nur halbherzig, befangen oder unsicher versuchen kann, auszuweichen. 42 Ein Paradebeispiel unabhängig von der Demut ist dafür eine Situation, in der man sich von seinem schlechten Gewissen aufgerufen weiß, dass es eigentlich falsch war, am Vorabend einem Freund die bitter nötige Hilfe, obwohl man sie hätte leisten können, durch eine Lüge zu versagen. Die verbindliche Geltung einer Norm beruht gewöhnlich auf einer Autorität. Diese ist zu verstehen als eine »Macht«, die einem Betroffenen die verbindliche Geltung einer Norm so auferlegt, dass ihm diese Auferlegung unverkennbar offenbar ist, was sich beispielhaft im Zwiespalt der Person niederschlägt. 43 Gerade weil eine Person im Zwiespalt vor einer Entscheidung steht, ist klar, dass sie nicht unbefangen ist, sondern sich zum Beispiel mit der Autorität einer Norm konfrontiert sieht, nach der es zum Beispiel »besser« oder »schlechter« wäre, jemandem Hilfe zu gewähren. Wenn die Autorität dieser Norm einer Person keinerlei Gelegenheit bietet, sich von ihr so zu emanzipieren oder distanzieren, dass sie den »Stachel« der Norm langfristig los wird, dann handelt es sich um eine Norm mit der Autorität des »unbedingten Erns-

40

Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 16; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 328. 41 Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 328 f. 42 Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 16; Ders.: Geltung. A. a. O. S. 8. 43 Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 17; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 223.

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Demut aus Betroffenheit

tes«. 44 Die Person kann dann auch über die unmittelbare Situation hinaus, in der sie in einer konkreten Erfahrung mit der Autorität dieser Norm konfrontiert wurde, deren Geltungskraft nicht von sich abschütteln. Man stelle sich eine Situation vor, in der eine Person ihre Hilfe unterlassen hat, als ein Passant vor ihren Augen in der Öffentlichkeit beleidigt und verprügelt wurde. Durch die unterlassene Hilfe überkommen die Person Schuldgefühle, die sie in keiner Weise, auch nach Jahren nicht mehr loslassen, sodass sie sich gezwungen sieht, auf Grundlage dieser Erfahrung ihr Verhalten grundlegend zu ändern. Eine Autorität mit unbedingtem Ernst offenbart sich zum Beispiel in Gestalt von Gefühlen, die eine Person ergreifen. 45 Gefühle, die sich auch auf Trägern wie Menschen, Orten, Artefakten oder »Göttern« verdichten können, sind zum Beispiel Zorn, Scham oder die Liebe, die in ihrer Autorität auch ausschlaggebend für Moral, Recht und Religion sind. 46 Vom Zorn eines Lebenspartners geht beispielsweise eine Autorität aus, die dem Mitstreitenden die Norm nahelegt, besser nicht zu widersprechen. Die gefühlsgeladene Autorität muss aber nicht immer personengebunden sein, sondern kann auch von der feierlichen Stille einer Landschaft oder einer Kirche ausgehen, die einer Person unabhängig von ihrem Belieben die Norm auferlegt, nicht zu sprechen oder zu lachen, um dem Ort seine Würde zu lassen. 47 Wenn mit dem Gefühl eine Norm mit einer Gewissensqualität einhergeht, die der Person jedem Distanzierungsversuch zum Trotz eine verbindliche Handlungsweise vorschreibt, dann hat das Gefühl eine Autorität mit unbedingtem Ernst und ist nach Schmitz’ Verständnis »göttlich«. 48 Das Göttliche besteht hier deshalb primär in der Art der

44

Vgl. Schmitz: Geltung. A. a. O. S. 12; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 347. 45 Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 17 f. 46 Vgl. Schmitz: Geltung. A. a. O. S. 9, 13; Ders.: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 18. 47 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 337. 48 Vgl. Schmitz: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 4: Das Göttliche und der Raum. A. a. O. S. 87.

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Verbindlichkeit, die im unbedingten Ernst der Norm besteht, aber nicht in einem notwendig religiösen Kontext. Göttlichen Charakter haben auch die »Gewissensgefühle«, worunter, wie erwähnt, auch der Zorn, die Schuld oder die Scham fallen können, deren Anspruch die Betroffenen insofern nicht mehr loslässt, als dass sie handlungsleitend werden. 49 Der sich Schämende kann dann zum Beispiel nicht umhin, sich die Schuld seiner Straftat einzugestehen, wenn diese auch schon Jahrzehnte zurückliegen mag, so wie der Zornige sich beim Anblick eines Unrechts schwört, sein Leben für die Gerechtigkeit welcher Art auch immer einzusetzen. Auch die Geltungskraft der Liebe ist hier anzusiedeln, wie jeder im Fall des Verliebtseins, des nicht mehr Loskommens von seinem Partner, an sich überprüfen kann. Die Geltung eines göttlichen Gefühls mit unbedingtem Ernst entfaltet ihre Kraft aber gerade nicht, wie bereits oben angedeutet, weil sie von der totalen Ohnmacht der Person profitiert, sondern gerade weil die Betroffenen sich auch nach aktiver, distanzierter und eingängiger Prüfung der ihnen auferlegten Norm beugen müssen: »Göttlich ist nur, was den Menschen einem Anspruch unterwirft, dem er sich beugen muß, aber nicht aus bloßer Schwäche und hilfloser Unselbstständigkeit, sondern im Besitz eines Vermögens, sich zu distanzieren, sich über etwas zu stellen, Kritik in Besonnenheit zu üben […].« 50

Neben den Gefühlen mit Gewissensqualität ist hier auch das »Numinose«, Heilige oder das, was man aufgrund dieser Erfahrungen als »Gott« oder »Götter« bezeichnet, zu verorten. Religionen haben zum Beispiel ein Interesse daran, die Verbindlichkeit ihrer Normen im Rahmen von Gottesdiensten oder anderen religiösen Ritualen wiederholt durch spürbare Erfahrungen zu stiften. Eine Autorität mit unbedingtem Ernst kann aber auch einer ästhetischen Erfahrungen inhärent sein, wenn zum Beispiel

49 50

Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 156. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 439.

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Demut aus Betroffenheit

bei Rilke ein Archaischer Torso dem Betrachtendem die Norm nahegelegt: »Du mußt dein Leben ändern«. 51 Eine Autorität mit unbedingtem Ernst offenbart sich neben den Gefühlen auch in der Evidenz des Seins, durch die der Betroffene nicht anders kann, als sich die Tatsächlichkeit eines Sachverhaltes einzugestehen. 52 Diese Autorität ist zwingend, wobei sie den Gehorsam nicht automatisch, sondern mit absichtlicher Zustimmung den Betroffenen abnötigt. 53 Es handelt sich um Situationen, in denen einer Person sprichwörtlich »etwas klar wird«, wenn zum Beispiel ein Diskussionspartner nach langem Streit einsehen muss, dass er im Unrecht ist oder eine Person erkennt, dass sie mit ihrem Lebensentwurf scheitert. Evidenzerfahrungen macht aber auch alltäglich jeder, der nach langem Grübeln die Lösung eines Problems findet oder der bemerkt, dass er seinen Schlüssel verloren hat. Ähnliches hat zum Beispiel van Gogh erlebt, dem beim Gang durch eine Landschaft klar wurde, »daß es eigentlich nichts anderes gibt als Erde« und alles andere dagegen verschwindend klein erscheint. 54 Für die Demut aus der Betroffenheit ist vor allem die Autorität mit unbedingtem Ernst eines Gefühls ausschlaggebend, dessen Norm für eine Person nicht weniger evident gelten kann. 55 Auf dem Weg zur Bestimmung der Demut als eine Haltung (II.4.5) können damit wesentliche Einsichten formuliert werden. Eine Person ist demütig, wenn sie durch die Ergriffenheit von einem Gefühl mit der Autorität unbedingten Ernstes und dessen Norm, die auch nach distanzierter Prüfung nicht an Geltungskraft verliert, zu der Stellungnahme bereit ist, sich die eigene Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit einzugestehen. Die Betroffenen sehen diese 51

Rilke, Rainer Maria: Archaïscher Torso Apollos. In: Ders.: Die Gedichte. 5. Auflage. Frankfurt am Main/ Leipzig 2014. S. 483. 52 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 53; 223. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. Vincent v. Gogh an Theo v. Gogh am 2. November 1883. In: Ders.: Briefe. A. a. O. S. 161. 55 »Einem Menschen kann mit völliger Evidenz gewiss werden, dass eine Norm für ihn gilt, sei es auf Grund eines Gefühls, des Pflichtbewusstseins oder im Fall einer logischen Schlussregel.« Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 31.

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Theoretische Grundlegung der Demut

Autorität allerdings nicht im Gefühl selbst begründet, sondern im Menschen, im Ort, im Artefakt, oder im »Gott«, auf die das Gefühl zentriert ist. Die Atmosphäre einer Landschaft oder eines Naturschauspiels, der Tod von Angehörigen oder ein religiöses Ritual können als »Übergroßes« eine Norm stiften, von der eine Person so befangen ist, dass sie anerkennen muss, dass ihr Handlungsspielraum grundsätzlich begrenzt ist, dass es da etwas gibt, was sie nicht ändern oder begreifen kann. Wenn die Betroffenen darauf aufbauend ihr Verhalten auslegen und nicht anders können, als sich in einer Stellungnahme als abhängig, machtlos oder begrenzt zu verstehen, dann sind sie gemäß dieser gestifteten Norm demütig. In diesem Fall spreche ich von Demut, die jedoch noch nicht zu einer Haltung ausgereift ist, deren Charakter erst darauf aufbauend an späterer Stelle deutlich werden mag (II.4.4). Die für die Demut grundlegenden spürbaren Erfahrungen wie auch die ihnen inhärente Norm sind grundsätzlich auf kein metaphysisches oder religiöses Weltbild angewiesen, wie Schmitz für die Geltung des unbedingten Ernstes betont: »Ebenso aber kann eine ergreifende Macht dem Menschen als Autorität mit unbedingtem Ernst begegnen und den Spielraum seiner personalen Souveränität ihr gegenüber zunichte werden lassen, ohne daß sie sich durch irgend welche metaphysischen Privilegien nach Rang und Macht auszuweisen brauchte […].« 56

Schmitz veranschaulicht dies zum Beispiel anhand der Betroffenheit von der göttlichen Atmosphäre eines »strahlenden Himmels« mit einer »Autorität des Leuchtenden in der Weite und Tiefe des Raumes« oder anhand der »stillen Erhabenheit des hohen Himmels«. 57 Ähnliche Beispiele fanden sich auch bei den Erfahrungen, die für die Demut charakteristisch waren (II.4.1.1). Nicht nur auf Grundlage einer Religion ist man demütig, sondern auch im Angesicht einer überströmenden Liebe oder in der Auseinandersetzung mit dem Leid, wenn man im nahenden Tod merkt, dass die Kräfte der Situation nicht gewachsen sind. Van Gogh fin56 57

Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 443. Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 441.

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Demut aus Betroffenheit

det zum Ende seines Lebens zur Demut, die er sich ermattet durch seine psychische Krankheit eingestehen muss: »Übrigens, nach der Erfahrung wiederholter Anfälle bekommt mir die Demut.« 58 Dem Maler, der durchaus ein religiöser Mensch war, widerfährt die Demut durch eine Norm, die aus der Erfahrung seiner Krankheit resultiert, die seine Kräfte wesentlich übersteigt. Auch der oben vorgestellte Astronaut machte eine Erfahrung im All, die ihm die Norm nahelegte, die menschliche Existenz als wesentlich abhängig oder sogar nichtig im Vergleich zum ganzen Planeten zu verstehen. Paulus (I.3.1.2) forderte von seinen Gemeindemitgliedern, »dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig, einträchtig, dass ihr nichts aus Streitsucht und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst«. 59 Hier soll die Demut aus der Norm eines Gefühl gemeinschaftlicher Liebe entspringen, die verlangt, sich keinen Vorrang vor seinen Mitmenschen einzuräumen, nicht zu prahlen oder zu streiten und »eines Sinnes« in der Gemeinschaft zu leben. In Rilkes »Du meinst die Demut« (II.4.1.1) wurden die Dichter in der Ergriffenheit von einer andächtigen Atmosphäre der abendlichen Alleen demütig sowie die Bauern in der Trauer um ein verstorbenes Kind. Eine Norm mit unbedingtem Ernst kann in all diesen Situationen ausschlaggebend für eine religiös motivierte Demut sein, kommt aber prinzipiell ohne Glaubenssätze aus und kann deshalb auch eine rein weltliche demütige Lebensweise begründen. So haftet die Demut selbst dem Klang einer Stimme an, die von religiösen Bezügen gänzlich frei sein kann, wovon das Gedicht »Entsühnung« von Ernst Stadler zeugt: »Ich lauschte dumpf der Stimme. Wie erstarrt. Sie kam/ Aus Fernen: still; demütig, aber fest; nachtwandelnd und/ im Glanze ihres Schicksals, und sie drang in meinen Traum.« 60 58

Vincent v. Gogh an Theo v. Gogh am 19. März 1889. In: Ders.: Briefe. A. a. O. S. 265–269, hier 266. 59 Phil 2, 2 f. 60 Stadler, Ernst: Entsühnung. In: Ders.: Der Aufbruch und andere Gedichte. Stuttgart 2014. S. 19–21, hier 20. In Stadlers »Die Befreiung« hat die Demut ihren Bezug in der »niederen Gesellschaft«: »In Not Gescharte, Bettler, Säufer, Dirnen und Verbrannte/ Wurden mein lieb Geschwister. Meine Demut kniete

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Theoretische Grundlegung der Demut

Zusammenfassend ist die Betroffenheit als spürbare Erfahrung eine Quelle, durch die eine Person auf Grundlage einer Norm zur Demut genötigt wird. Diese Norm beruht auf der Autorität eines Gefühls mit göttlichem Charakter, was Rilke mit dem »Übergroßen« und Otto mit dem »Übermächtigen« des Numinosen zum Ausdruck brachten. Göttlich ist das Gefühl, weil es eine Norm mit der Autorität unbedingten Ernstes besitzt, die einem Betroffenen keinen Spielraum lässt, sich unbefangen von ihr zu distanzieren, weshalb sie zur Grundlage des sittlichen oder religiösen Handelns wird. Die Autorität mit unbedingtem Ernst erklärt auf diese Weise das, was William James als die »Wirkkraft« 61 einer Erfahrung oder »Vorstellung« begriffen hat, die er jedoch im Vergleich zu Schmitz’ phänomenologischem Vokabular nur unzureichend charakterisieren konnte. Die Situation und das Gefühl können stets verschieden sein, die Norm, welche die Demut im Rahmen der Stellungnahme einer Person zur Grundlage hat, läuft aber immer ungefähr auf dieselbe Forderung hinaus: Sie birgt das Programm, dass sich eine Person in ihrer Situation oder in ihrer allgemeinen Beschaffenheit als abhängig, machtlos oder begrenzt verstehen möge, weshalb sie ihr Selbstverständnis und das damit einhergehende Handeln dementsprechend hinterfragt oder neu ausrichtet. Das praktische Handeln aus dieser Norm ist vielfältig, wie die Geschichte des Christentums (I.3) zeigt: Es kann darin bestehen, sich in Solidarität nicht über die Mitmenschen zu »erhöhen« (I.3.1.1, I.3.1.2), aber auch eine radikalere Selbsterniedrigung in der Unterdrückung der Bedürfnisse und der Verneinung des Eigenwillens zur Folge haben (I.3.7). Die Demut aus der Betroffenheit ist insoweit primär und »ursprünglich«, als dass sie grundlegend auf einer Norm beruht, die auf die Ergriffenheit durch ein Gefühl zurückgeht. Die Prüfung und Rechtfertigung dieser Norm kann dann erst sekundär sittliche oder religiöse Handlungsmaßstäbe begründen, zu denen sich dann auch theoretische Überlegungen gesellen können; die Betroffenheit (II.4.1) vor/ dem Licht, das fern in ihren Augen brannte […].« Stadler, Ernst: Die Befreiung. In: Ders.: Der Aufbruch und andere Gedichte. A. a. O. S. 28–29, hier 29. 61 Vgl. James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. A. a. O. S. 217.

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Demut aus Besinnung

geht dann der Besinnung vorher (II.4.2). Bei der nun folgenden Demut aus der Besinnung steht dagegen nicht diese ursprünglich erfahrene Geltungskraft der Demut im Vordergrund, sondern deren eigenständig vorgenommene Kultivierung, die zumindest theoretisch auf die Erfahrung eines Gefühls nicht angewiesen ist. II.4.2 Demut aus Besinnung Durch ein Gefühl mit der Autorität unbedingten Ernstes wird die Norm der Demut einer Person wesentlich aufgezwungen, aber auch in kritischer Distanz auf die Probe gestellt. Es ist in diesem Fall somit nicht nur von einer »reinen« Übermacht in Gestalt eines Gefühls die Rede, sondern auch von der aktiven Auseinandersetzung mit dem Widerfahrnis von Seiten der Betroffenen. Die Stellung der Person ist dabei insoweit passiv, als dass sie nicht unbefangen nach ihrem Belieben, sondern nach einer Norm handeln muss, von deren Aufforderung sie nicht loskommt wie im Fall des schlechten Gewissens. Die zweite Quelle der Demut fokussiert nicht diese ergreifende Komponente im Rahmen einer Erfahrung, sondern umfasst die vornehmlich theoretische und abwägende Suche nach Gründen für die Norm, die im Fall des Betroffenseins durch ein Gefühl eine Stellungnahme der Person zugunsten der Demut erzwang. 62 An die Stelle der Gefühlsautorität tritt nun die Eigenleistung einer Person, die zunächst nicht befangen ist oder genötigt wird, sondern aus einer selbständigen Besinnung heraus nach der Demut fragt. Dafür muss die Person durch eine Selbstbetrachtung – im idealtypischen Fall ohne den Anstoß einer spürbaren Autorität – erkennen, dass sie hinsichtlich einer be62

Für Schmitz kommt aus der willkürlichen Setzung einer Norm keine Autorität zustande, die verbindliche Geltung beanspruchen kann, weil ihr die Komponente einer Gefühlsmacht wesentlich fehlt: »Bloß aggressiv das Subjekt heimsuchende, im Realzusammenhang unmittelbar wirkende Mächte vermögen dieses Gleichgewicht zu verschieben, indem sie der Person die Unbefangenheit rauben. Nur dadurch kommt eine Autorität zu Stande, die der Geltung von Normen Verbindlichkeit für jemand (in seiner Perspektive) verleiht.« Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 44.

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Theoretische Grundlegung der Demut

stimmten Situation oder ihrer gesamten Beschaffenheit von einer entsprechenden Instanz abhängig, begrenzt oder machtlos ist. Diese Selbstverortung findet auf einem Niveau der Person statt, auf dem sie sich unbeirrt fragen kann, warum und in welchem Maß sie demütig sein sollte, während die Demut aus Betroffenheit kaum einen Spielraum lässt, um sich von der durch die Autorität des Gefühls gestifteten Norm zu distanzieren und wenn überhaupt, nur im Zwiespalt. Die Demut aus der Betroffenheit hat zwar durch die Autorität eines Gefühls im Erleben mehr Wirkungskraft, in der Demut aus der Besinnung agiert die Person aber wesentlich eigenständiger und ist auf eine entsprechende Erfahrung zumindest theoretisch nicht angewiesen. Die freiere und willkürliche Gewinnung der Demut aus der Besinnung kompensiert die Autorität eines Gefühls, die aber hinsichtlich ihrer Geltung wesentlich verbindlicher ist, weil sie sich dem Belieben der Person entzieht. Um den traditionell christlichen Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Demut erneut zu bestärken, mögen dafür zunächst auszugsweise einige christliche Denker zu Wort kommen (II.4.2.1). Daran anschließend wird dieser christliche Einfluss zurückgelassen, um die prüfende Besonnenheit, die auf ein religiöses Weltbild nicht angewiesen ist, der Demut an die Seite zu stellen (II.4.2.2.). Eine Auseinandersetzung mit den »Denkbewegungen« Ludwig Wittgensteins (II.4.2.3) bestärkt daraufhin die Forderung nach einem erforderlichen Maß in der Selbsterkenntnis, von der auch die Ausgestaltung der Demut profitieren soll (II.4.3). II.4.2.1 Selbsterkenntnis und Demut in der christlichen Tradition Noch immer steht mit der Selbsterkenntnis aus philosophischer Perspektive die Forderung des altgriechischen »gnothi seauton«, des »Erkenne dich selbst«, in Verbindung, wie sie am Apollontempel in Delphi noch vor der Mitte des 5. Jh. v. Chr. 63 gestanden 63

Vgl. Tränkle, Hermann: ΓΝΩΘΙ ΣΕΑΥΤΟΝ. Zu Ursprung und Deutungs-

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Demut aus Besinnung

haben soll. Als Wort des Gottes Apollon, das die nach einer Weisung verlangenden Eintretenden begrüßt, vermittelte es nach philologischem Ermessen ursprünglich wohl, dass der Mensch sich im Unterschied zum Gott in seiner Vergänglichkeit, Gebrechlichkeit und Unwissenheit erkennen möge. 64 Diesem Erkenntnisprozess ist nicht weniger die Besinnung auf die Vergänglichkeit und Sterblichkeit inhärent, die dem Menschen seinen Abstand wie auch seine Begrenztheit im Vergleich zum unsterblichen Gott suggeriert, was auch eine Maßgabe für das menschliche Verhalten birgt. 65 Wie Wolfgang Schadewaldt betont, hat der Gott aufgrund seiner Distanz zum Gläubigen nicht die Demut als »tapeinotes« oder eine Erniedrigung gefordert, sondern er habe dem Menschen seinen ihm »zukommenden Ort als Mensch in der großen Ordnung von Himmel und Erde« zugewiesen, indem er ihn gemäß der »conditio humana« in das »rechte Verhältnis zu dem, was über ihm, was um ihn und was er an sich selbst ist«, setzt. 66 Was bei Schadewaldts abgrenzender Unterscheidung untergeht, ist, dass die Demut als Haltung im Christentum zwar im Detail unter anderen Gesichtspunkten begründet wurde, aber Teil desselben ursprünglich delphischen Anspruches war, eine Verortung des Menschen mit Blick auf seine »conditio humana« vorzunehmen. Weil Schadewaldt die Demut in einem Satz mit »Erniedrigung« nennt, ist davon auszugehen, dass sein Verständnis dieser Haltung tendenziell den im ersten Teil behandelten Kritikpunkten verhaftet ist (I.2). Von einem ähnlichen Verständnis der Demut liest man bei Otto Friedrich Bollnow. Für ihn ist die Bescheidenheit ein richtiges Abschätzen der eigenen Kraft, das sich immer auf das

geschichte des delphischen Spruchs. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft. Neue Folge. Bd. 11. Hrsg. v. Joachim Latacz u. Günter Neumann. Würzburg 1985. S. 19–31, hier 20. 64 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v.: Reden und Vorträge Bd. 2. 4. Auflage. Berlin 1926. S. 172 f. 65 Vgl. Schadewaldt, Wolfgang: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. In: Ders.: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. Aufsätze und Vorträge. Frankfurt am Main 1990. S. 9–31, hier 19 f. 66 Vgl. Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. A. a. O. S. 23.

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rechte Maß im Verhältnis zum anderen Menschen bezieht. 67 Die Bescheidenheit ist demnach die Tugend des rechten Maßes, die damit in die Nähe der griechischen »sophrosyne«, der Besonnenheit, rückt. 68 Der ihr inhärente Erkenntnisprozess soll dagegen der Demut fehlen: »Demütig ist der Mensch aber nicht infolge irgendeiner bescheidenen Einschätzung seiner eignen Kraft, sondern im Bewußtsein seiner unaufhebbaren und alle Menschen in gleicher Weise betreffenden Schwäche.« 69 Während Schadewaldt die Demut implizit als bloße Erniedrigung zu begreifen droht, die er von einer rechten Verortung des Menschen in eine ihn übersteigende Ordnung frei halten will, sieht auch Bollnow für das Demütigsein keine maßvolle Erkenntnisleistung oder Selbsteinschätzung vor. Dabei weiß selbst Nietzsche (I.2.4) als schonungsloser Kritiker der Christenheit von diesem Verhältnis, wie man an einem seiner Fragmente studieren kann, in dem er zwar wie Bollnow die »Bescheidenheit« als umsichtige Selbsterkenntnis versteht, aber dabei ebenso gut von der christlichen Demut hätte sprechen können: »Jene Selbst-Erkenntniß, welche Bescheidenheit ist – denn wir sind nicht unser eigen Werk – aber ebensosehr auch Dankbarkeit ist – denn wir sind ›gut gerathen‹ –.« 70 Dass Nietzsche an dieser Stelle über die Bescheidenheit hinaus vor allem den Kern der christlichen Demut trifft, wird an seiner impliziten Anspielung auf jenes einflussreiche Gottesverhältnis deutlich, das schon Jesus (I.3.1.1) und Paulus (I.3.1.2) stark gemacht haben, als sie den Menschen als Empfänger von Gottes Gaben auszeichneten, weshalb ein jeder nicht sein »eigen Werk« ist, sondern sich vielmehr geschenkt wurde, wofür man sich als demütig und dankbar zu erweisen hat: »Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.« 71

67

Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Wesen und Wandel der Tugenden. In: Ders.: Studienausgabe. Bd. 2. Hrsg. v. Ursula Boelhauve et al. Würzburg 2009. S. 125– 282, hier 224 f. 68 Vgl. Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. A. a. O. S. 222. 69 Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. A. a. O. S. 225. 70 KSA 12, S. 119. 71 Joh 1, 16.

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Vergewissert man sich daher erneut der christlichen Tradition, wird ersichtlich, dass die Demut stets mehr war als ein Gebot zum erniedrigenden Gehorsam. Im ersten Teil dieser Überlegungen standen dafür vor allem Bernhard von Clairvaux (I.3.5) und Thomas von Aquin (I.3.6). Die christliche Demut war ihnen eine Haltung, die mit einem Prozess der Selbsterkenntnis, wie er in der delphischen Forderung des »Erkenne dich selbst« ausgesprochen ist, wesentlich verknüpft war. Über die Demut hinaus sollte diese Besinnung auch einen Weg zur Gotteserkenntnis ebnen. Die christliche Selbsterkenntnis war ohne Gotteserkenntnis nicht denkbar, da »alle Selbsterkenntnis – weil personal gerichtet –, sich selber transzendierend, auf Gott zugeht«. 72 Erkennt der Gläubige Gott als seinen Ursprung an, hat er auch einen Schritt auf dem Weg zur christlichen Demut getan, die sich in der Anerkennung der menschlichen Bedingtheit durch seinen Schöpfer ausdrückt. Sich selbst zu erkennen, heißt demnach, die eigene Niedrigkeit und Angewiesenheit auf Gott als Schöpfer und »lebensspendenden Ursprung« 73 zu erkennen. Die delphische Formel entwickelte sich zu einer Fassung der christlichen Selbsterkenntnis, die zum Beispiel die »schmerzvolle Erkenntnis« der Sündenverfasstheit befördert und auch zum Angelpunkt für die christliche Demut wurde. 74 Von diesem Zusammenhang liest man zum Beispiel in Johannes Calvins einflussreicher Schrift »Institutio Christianae Religionis«: »Wer sich also selbst erkennt, der wird dadurch nicht nur angeregt, Gott zu suchen, sondern gewissermaßen mit der Hand geleitet, ihn zu finden.« 75 Aus dem damit einhergehenden Vergleich mit Gott erkennt der Mensch auch seine Niedrigkeit: »Daran merken wir, daß den Menschen erst dann die Erkenntnis seiner Niedrigkeit ergreift, wenn er sich an Gottes Majestät ge-

72

Haas, Alois Maria: Christliche Aspekte des »Gnothi Seauton«. Selbsterkenntnis und Mystik. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Bd. 110 (1981). S. 71–96, hier 75 f. 73 Vgl. Haas: Christliche Aspekte des »Gnothi Seauton«. A. a. O. S. 76. 74 Vgl. Haas: Christliche Aspekte des »Gnothi Seauton«. A. a. O. S. 79 f., 81, 83, 85. 75 Calvin, Johannes: Unterricht in der christlichen Religion. Übers. v. Otto Weber. 5. Auflage. Neukirchen-Vluyn 1988. I, 1, 1.

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messen hat.« 76 Den Zusammenhang zwischen Gottes- und Selbsterkenntnis betont zum Beispiel auch Meister Eckhart, bei dem die »vollkommene Demut« auf ein »Vernichten seiner selbst« 77 abzielt: »Wer zum höchsten Adel seines Wesens gelangen will und zur Anschauung des höchsten Gutes, das Gott selber ist, der muß ein Erkennen seiner selbst haben, wie auch der Dinge, die um ihn sind, bis zum Höchsten.« 78 Im Folgenden möge erneut die christliche Tradition bemüht werden, um das Verhältnis von Selbsterkenntnis und Demut zu bestärken, sodass die christliche Demut endgültig von dem Vorwurf der unreflektierten Unterwerfung (I.2.1) befreit wird. Inhaltlich gehe ich dafür nicht über die bereits in I.3.5 und I.3.6 formulierten Erkenntnisse hinaus, sodass hier keine neuen Argumente zur Entfaltung kommen, sondern vielmehr ein ideengeschichtlicher Exkurs an deren Stelle tritt, auf den der Leser für das weitere Verständnis der theoretischen Grundlegung nicht angewiesen ist. Schon Jesus als das Vorbild der christlichen Demut (I.3.1.1) fordert eine umsichtige Selbstreflexion, die einer Fremdverurteilung vorherzugehen hat. Neben der bereits angeführten Aufforderung, zuerst den »Balken« im eigenen Auge, anstatt den »Splitter« des anderen zu bemerken, 79 antwortet Jesus, als man ihn nach seinem Urteil über eine »Ehebrecherin« fragt: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.« 80 Es ist ent76

Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. A. a. O. I, 1, 3. Meister Eckhart: Von der Abgeschiedenheit. In: Ders.: Mystische Schriften. Übers. v. Gustav Landauer. 11. Auflage. Frankfurt am Main/Leipzig 2016. S. 138–150, hier 139; Vgl. z. B. ausführlich für die Demut bei Meister Eckhart: Schöller-Reisch: Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. A. a. O. S. 46–128. 78 Meister Eckehart: Von der Selbsterkenntnis oder: Von der Vollendung der Seele. In: Ders.: Vom Wunder der Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten. Hrsg. v. Friedrich Alfred Schmid Noerr. Stuttgart 1977. S. 13–19, hier 13. 79 Mt 7, 3. Peter Sloterdijk verortet diesen Ausspruch im Rahmen seiner »Kritik der zynischen Vernunft« wie folgt: »Was Jesus lehrt, ist eine revolutionäre Selbstreflexion: mit sich selber beginnen und dann, wenn wirklich die andern ›aufgeklärt‹ werden sollen, mit eigenem Beispiel ihnen vorangehen.« Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main 1983. S. 96. 80 Johannes 8, 7. 77

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scheidend, dass Jesus nicht direkt fordert, die Steinigung zu unterlassen, sondern stattdessen die angehenden Strafvollzieher ermahnt, sich auf die eigenen »Sünden« zu besinnen. Der Befehl zum Unterlassen der Bestrafung ist implizit in seiner Forderung enthalten, hat aber nur dann Wirkung, wenn die Angesprochenen auch eigenständig einsehen, dass sie selbst nicht weniger gefehlt haben als die Angeklagte. Aus ähnlichen Gründen lautet deshalb eine Mahnung im »Römerbrief«: »Du belehrst andere Menschen, dich selbst aber belehrst du nicht.« 81 Wie schon Paulus (I.3.1.2) 82 plädiert neben dem Wüstenvater Antonius 83 auch Origenes († 254) für eine Selbsterprobung zur Unterscheidung zwischen dem, was aus dem eigenen Vermögen und dem, was aus Gottes Gnade stammt: »Wer nicht seine eigene Schwäche gespürt hat und die Gnade Gottes, der wird, wenn er Wohltaten empfängt, ohne sich selbst vorher erprobt und sich selbst verurteilt zu haben, sich einbilden, es sei seine eigene sittliche Leistung, was ihm (in Wirklichkeit) von der himmlischen Gnade geschenkt wird.« 84

81

Weiter heißt es daraufhin: »Du predigst: Du sollst nicht stehlen!, und du stiehlst. Du sagst: Du sollst die Ehe nicht brechen!, und brichst die Ehe. Du verabscheust die Götzenbilder, begehst aber Tempelraub. Du rühmst dich des Gesetzes, entehrst aber Gott durch Übertreten des Gesetzes.« Röm 2, 21 ff. 82 So lautet z. B. eine weitere Mahnung im »Epheserbrief«: »Prüft, was dem Herrn gefällt, und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis, die keine Frucht bringen, deckt sie vielmehr auf!« Eph 5, 10 f. Und im »Zweiten Korintherbrief« liest man: »Fragt euch selbst, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst!« 2 Kor 13, 5. 83 In der von Athanasius verfassten »Vita Antonii«, der Lebensbeschreibung des »heiligen Antonius« († 356), die ihm zum »Vater des Mönchstums« machte, wird mit Bezug auf Paulus zu einer täglichen Rechenschaft über seine Handlungsweise geraten, um z. B. seinen Nächsten nicht zu verurteilen und sich um das zu bemühen, was man unterlassen hat. Vgl. Athanasius: Vita Antonii. Übers. v. Heinrich Przybyla. Leipzig 1986. S. 80 f. (55). 84 Origenes: Vier Bücher von den Prinzipien. Übers. v. Herwig Görgemanns u. Heinrich Karpp. 3. Auflage. Darmstadt 1992. S. 505 (III 1, 12.). Vgl. dazu a.: Mühlenberg: Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. A. a. O. S. 128.

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Die Selbsterforschung korrigiert das falsche Selbstbild, nach dem man sich Leistungen und Verdienste in Prahlerei und Hochmut selbst zuschreibt, ohne Berücksichtigung der absoluten Bedingtheit durch Gott. Das Wissen um die eigenen Sünden, nicht aber deren Anzahl, ist bei Origenes ein Kriterium für Demut und Hochmut: »Bisweilen aber wird ein Sünder, der sich seiner eigenen Sünde bewußt ist und deshalb aus Reue über seine Verfehlungen demütig wandelt, einem andern vorgezogen, der in geringem Grade für sündig gilt, sich aber gar nicht für einen Sünder hält, sondern sich vielmehr wegen einiger Vorzüge, die er zu besitzen meint, brüstet und ihretwegen hochmütig ist.« 85

Augustinus († 430) setzt als einflussreicher Kirchenvater die Demut sogar mit der Selbsterkenntnis gleich: »Du, Mensch, erkenne, dass du ein Mensch bist. Deine ganze Demut besteht darin, dass du dich erkennst.« 86 Davon verspricht sich Augustinus die Erkenntnis der eigenen »Geschöpflichkeit« im Rahmen der »Ordnung aller Dinge«, sowie die Einsicht in die menschliche Sündhaftigkeit und die auf Gottes Gnade angewiesene menschliche Natur. 87 Es ist eine Forderung nach der Erkenntnis der »conditio humana«, die Schadewaldt oben auch dem Spruch von Delphi zuschrieb. Auch bei Bernhard von Clairvaux (I.3.5) wurde, wie bereits oben gezeigt, die »Selbsterkenntnis« zum »Vehikel der Demut« 88. Die Demut ist für ihn Teil einer Suche nach Wahrheit in der

85

Origenes: Gegen Celsus. I. Teil: Buch I–IV. Übers. v. Paul Koetschau. München 1927. S. 278 (Buch III 64). 86 Augustinus: Io. eu. tr. 25, 16 (CCL 36, 257). Zitiert nach: Baumann: Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus. A. a. O. S. 76. 87 Vgl. Baumann: Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus. A. a. O. S. 77. Vgl. a. für den fundamentalen Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Demut bei Augustinus: Baumann: Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus. A. a. O. S. 75–133; Schaffner: Christliche Demut. Des Hl. Augustinus Lehre von der Humilitas. A. a. O. S. 137–212. 88 Vgl. Haas: Christliche Aspekte des »Gnothi Seauton«. A. a. O. S. 84.

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Demut aus Besinnung

Selbsterkenntnis, durch die sich der Mensch auf aufrichtige Weise für gering schätzt 89: »Wenn du dich nämlich selbst im Licht der Wahrheit und ohne Verstellung im Inneren ansiehst und ohne Schmeichelei beurteilst, so zweifle ich nicht, daß auch du in deinen Augen gedemütigt wirst und dich selbst durch diese wahre Erkenntnis geringer einschätzt, wenn du es auch vielleicht noch nicht erträgst, auch in den Augen anderer so zu sein.« 90

Die Demut steht für Bernhard im direkten Zusammenhang mit der prüfenden Vernunft (lat. ratio) 91, wobei er die konkrete Annäherung an die »Wahrheit« aus der Selbsterkenntnis in seiner Schrift »De consideratione« thematisiert. Darin empfiehlt Bernhard seinem ehemaligen Schüler Papst Eugen III. eine Besinnung (lat. consideratio) für die maßvolle Ausführung seines Amtes 92: »Der Ausdruck Besinnung jedoch bedeutet angespanntes Nachdenken, um die Wahrheit zu erkennen, oder die Anspannung des Geistes bei der Wahrheitserkenntnis.« 93 Die Demut aus der »aufrichtigsten Selbsterkenntnis« steht unmittelbar im Zusammenhang mit der Besinnung, für die Bernhard das folgende Vorgehen empfiehlt: »Um aber aus der Besinnung nutzen zu ziehen, rate ich dir vier Themen an, wie sie sich ergeben: dich (selbst), was unter dir, was rund um dich und was über dir ist. Bei dir setze mit dei-

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Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 47. Clairvaux, Bernhard v.: 42. Predigt über das Hohe Lied. Übers. v. Hildegard Brem. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Gerhard Winkler. Innsbruck 1995. S. 80–95, hier 87 ff. 91 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 75. 92 Auch Luther empfiehlt dem von ihm vehement kritisierten Papst Leo X. die Schrift von »Sankt Bernhard« an Papst Eugen III.: »Aber ich folge hierin Sankt Bernhard in seinem Buch an den Papst Eugenius, welches alle Päpste gut täten, auswendig zu können.« Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). Ein Sendbrief an den Papst Leo X. In: Ders.: An den christlichen Adel deutscher Nation und andere Schriften. Hrsg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 2018. S. 102–141, hier 114. 93 Clairvaux, Bernhard v.: Über die Besinnung an Papst Eugen. Übers. v. H. Brem. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Gerhard Winkler. Innsbruck 1990. S. 611–841, hier 669. 90

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Theoretische Grundlegung der Demut

ner Besinnung an […].« 94 Auch Bernhard ist damit implizit auf der Suche nach der »conditio humana« des Menschen, die Schadewaldt als das »rechte Verhältnis zu dem, was über ihm, was um ihn und was er an sich selbst ist«, bestimmt hat. 95 Die christliche Demut ist als Teil dieser Suche mit einer Selbstverortung verknüpft, welche die eigene Situation und ihr Verhältnis zur Umgebung insoweit expliziert, als dass eine Person erkennt, wann und warum es angemessen ist, sich gegenüber Gott und Mensch zu bescheiden. Deshalb ermahnt auch Gregor der Große († 604) die »Aufseher« der Kirche zu einer Einkehr »in sich selbst«: »Diejenigen hingegen, welche die Worte des göttlichen Gesetzes zwar richtig auffassen, aber nicht mit Demut davon sprechen, muß man ermahnen, sie sollen, ehe sie die göttlichen Aussprüche andern vortragen, zuerst Einkehr bei sich selbst halten, um nicht den Werken anderer nachzugehen, während sie sich selbst vernachlässigen.« 96

Dabei lenkt die Demut durch die Besinnung die Aufmerksamkeit nicht auf das Lobenswerte, sondern auf das, was die Person unterlassen hat oder wozu sie nicht imstande war: »Nicht das Gute, das wir getan, sondern das, was wir zu tun unterlassen haben, soll es [das Auge der Seele; J. P.] betrachten, und soll das angesichts der eigenen Schwäche gedemütigte Herz bei Gott, dem Urheber der Demut, fester in der Tugend gegründet werden.« 97

In der besonnenen Selbsteinsicht möge die Person überprüfen, inwiefern ihr Handeln und ihre Ansprüche an die Umgebung gerechtfertigt sind. Falls sich das eigene Verhalten in der Prüfung der Situation als unwürdig erweist, gilt es, in Demut sein Selbstbild und sein Handeln zu korrigieren. 94

Ebd. Vgl. Schadewaldt: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. A. a. O. S. 23. 96 Gregor der Große: Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrer Gregor des Grossen Buch der Pastoralregel. Übers. v. Joseph Funk. Bibliothek der Kirchenväter. Zweite Reihe Bd. IV. München 1933. S. 209 (Pastoralregel III 24). 97 Gregor der Große: Des Heiligen Papstes und Kirchenlehrer Gregor des Grossen Buch der Pastoralregel. A. a. O. S. 266 (Pastoralregel IV). 95

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In der »Wolke des Nichtwissens« (14. Jh.) ist die Demut für den unbekannten Autor Teil des Weges zur mystischen Vereinigung mit Gott. Die Betrachtung der eigenen Beschaffenheit ist dabei ausschlaggebend: »Demut ist nichts anderes als eine schonungslose Erkenntnis und Erfahrung des eigenen Selbst in seiner Beschaffenheit. Denn wer wirklich erkennt und erfährt, wie er ist, müßte gewiß auch wirklich demütig sein.« 98 In der erstmals von Martin Luther herausgegebenen »Theologia Deutsch« oder dem sogenannten »Franckforter« (14. Jh.) liest man von einer »Hölle der Selbsterkenntnis« 99, die den Menschen demütig macht. So wie Christus am Kreuz in die Hölle musste, bevor er in das »Reich Gottes« kam, muss der Mensch in seiner Nachfolge diesen Weg durch die Selbsterkenntnis beschreiten: »Wenn sich der Mensch selber wahrhaft erkennt und merkt, wer und was er ist, und findet sich selber so gar schnöde, bös und unwürdig alles Tröstlichen und Guten, das ihm von Gott und von den Kreaturen je geschehen ist oder geschehen mag, so fällt er in eine gar tiefe Demütigkeit und Verschmähung seiner selbst […].« 100

Für Luther ergibt sich diese demütigende Selbsterkenntnis ganz ähnlich aus der Einsicht, dass man den Geboten Gottes unwürdig ist und nicht genügen kann: »Denn die Reue fließt aus den Geboten, der Glaube aus den Zusagungen Gottes, und so wird der Mensch durch den Glauben an die göttlichen Worte gerechtfertigt und erhoben, der durch die Furcht vor Gottes Gebot gedemütiget und zur Selbsterkenntnis gekommen ist.« 101

98

O. A.: Die Wolke des Nichtwissens. Worin die Seele sich mit Gott vereint. Übers. v. Wolfgang Riehle. 9. Auflage. Freiburg 2011. S. 60. 99 Vgl. Wehrung, Georg: Selbstgefühl und Demut. In: Zeitschrift für systematische Theologie. 23. Jg. Heft 4. (1954). S. 347–372, hier 358; Haas, Alois Maria: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Freiburg/Schweiz 1971. S. 8. 100 O. A.: Theologia Deutsch. Übers. v. Rudolf Alexander Schröder. Gütersloh 1947. S. 46. 101 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. A. a. O. S. 136.

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Theoretische Grundlegung der Demut

Thomas von Aquin (I.3.6) legt, wie bereits oben verdeutlicht, bei der Demut weniger Wert auf dieses vollkommene Ungenügen oder Sündenbewusstsein des Menschen. Der Demut kommt für Thomas die Aufgabe der Maßhaltung zu, weshalb er sie auch mit der Besonnenheit gleichsetzt. 102 Die Tugend der Demut ist eine »Zügelung des ungeordneten Strebens«, deren Maß der »Erkenntnis« zu entnehmen ist, insofern sich jemand nicht höher einschätzt, als er wirklich ist. 103 Wer wahrhaft demütig sein will, ist im Rahmen einer eigenen Erkenntnisleistung darauf angewiesen, sein fehlerhaftes Bestreben zu erkennen: »So gehört die Erkenntnis der eigenen Schwäche zur Demut wie eine Art Leitregel des Strebens.« 104 Im Anschluss an Thomas von Aquin legen moderne christliche Bestimmungsversuche den Fokus der Demut ebenfalls weniger auf den reinen Gehorsam oder etwaige Bußpraktiken, sondern auf die richtige Selbsteinschätzung des Menschen. So besteht für Josef Pieper die Demut noch im 20. Jahrhundert darin, »daß der Mensch sich so einschätzt, wie es der Wahrheit entspricht«. 105 Auch Otto Cohausz deutet die Demut mit Rückgriff auf Thomas als Beschränkung des Strebens nach dem rechten Maß. 106 Matthias Premm versteht die Demut als »Wahrheit« oder »Anerkennung der Wahrheit«, die davor behütet, uns mehr zuzuschreiben, »als wir wirklich sind«, wofür die »richtige Selbsterkenntnis« eine Grundlage bildet. 107 Ähnliche Überlegungen liest man bei Bernhard Häring, der die »Wahrheit« der Demut auf das Verhältnis zum Nächsten anwendet: »Demut ist Wahrheit. […] Aus der wahren Selbsterkenntnis des vom Stolz versuchbaren Menschen 102

Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 4. S.th. II–II, q. 161, a. 6. 104 S.th. II–II, q. 161, a. 2. 105 Pieper, Josef: Zucht und Maß. In: Ders.: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Werke. Bd. 4. Hrsg. v. Berthold Wald. Hamburg 1996. S. 137–197, hier 181. 106 Vgl. Cohausz: Stolze Selbsterhebung oder christlich-demütige Selbstbescheidung? A. a. O. S. 673 f. 107 Vgl. Premm, Matthias: Von christlicher Demut. In: Theologisch-praktische Quartalsschrift. Bd. 99. (1944). S. 177–184, hier 177. 103

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meidet es der Demütige, unnötig auf die Fehler anderer zu schauen, um der Versuchung willen, sich selbst dabei besser vorzukommmen.« 108 Josef Sudbrack betont diesen Zusammenhang im Kontext einer christlichen »Armutserfahrung«, die er mit der delphischen Forderung in Verbindung bringt: »Diese Armutserfahrung entspringt der Selbsterkenntnis, dem ›Gnothi sauton‹ ; aber im Unterschied zur üblich gewordenen falschen Deutung meint wahre Selbsterkenntnis: Je tiefer und ehrlicher du in dein Selbst eindringst, desto mehr wirst du erfahren und erkennen, wie total du angewiesen bist auf das Geschenk von Gott, auf Gnade, Vergebung und Verzeihung.« 109

Günter Virt versteht die Demut als »haltungsmäßige Selbsteinschätzung, in der ein Mensch gleichsam auf dem Boden der Realität bleibt«. 110 Ähnlich wie Thomas geht auch Virt davon aus, dass dafür das Streben an der Wirklichkeit hinsichtlich eines »Zuwenig an Geltungsstreben« durch Kriecherei und eines »Zuviel« durch Prahlerei oder Machtstreben richtig zu messen und formen sei. 111 Demütig ist demnach schon in christlicher Tradition eine Person, die sich an der »Wirklichkeit« – verstanden als das begrenzte menschliche Vermögen oder die kreatürliche Sündhaftigkeit im Vergleich zu Gott – ausrichtet, damit der Gläubige seine Position hinsichtlich seines Wissens und Könnens nicht maßlos oder vergebens überschreitet. Die dafür notwendige Selbsteinschätzung, die der Überschätzung vorbeugt, mag im Christentum letztendlich in Gott begründet sein, betrifft aber im Verhalten des Demütigen vor allem das Verhältnis zur Mitwelt. Auch die christliche Demut muss deshalb in der Selbstbetrachtung keinen Anlass zur maßlosen Kasteiung geben, sondern kann unabhängig davon eine Grundlage dafür liefern, die Beschaffenheit des menschlichen Ver108 Häring, Bernhard: Demut als Weg der Liebe. In: Geist und Leben 30 (1957). S. 321–324, hier 323. 109 Sudbrack: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. A. a. O. S. 139. 110 Virt: Demut – eine unmoderne Tugend? A. a. O. S. 296. 111 Vgl. Virt: Demut – eine unmoderne Tugend? A. a. O. S. 303.

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Theoretische Grundlegung der Demut

mögens anzuerkennen. Mit Norbert Luyten lässt sich diese christliche Demut aus der Besinnung zusammenfassen: »An sich bedeutet Demut nicht Herabsetzung, sondern Anerkennung meines richtigen Platzes. Und in dem Sinn kann und muß man sogar sagen, daß Demut richtige Selbstbehauptung ist. Erst wenn ich mich richtig einordne, nicht nur Gott gegenüber, sondern auch bezüglich meiner Mitmenschen, kann ich echt und in Wahrheit ich selber sein. In dem Sinne hat die christliche Tradition immer betont: Demut ist Wahrheit.« 112

Damit die Einordnung aber nicht zur reinen Unterordnung und einer »Stütze des Despotismus« wird (I.2), bedarf es einer Selbsteinschätzung der Person, die einer einseitigen Selbsterniedrigung vorbeugt. Deshalb ist es notwendig, in der Selbstbetrachtung auch das Potential für ein selbstwirksames Handeln mit zu erkennen (II.4.3). In der Demut erkennt eine Person ihre Schwächen und ihr Angewiesensein an, was sie aber nicht dazu verleiten sollte, sich einseitig und ausschließlich auf diese Weise zu verstehen. Im Christentum deutete man das Menschsein und die Demut häufig – aber nicht ausschließlich – hinsichtlich des Sündenfalls und der menschlichen Unvollkommenheit (I.3). Wenn sich die christliche Demut dazu in letzter Konsequenz immer auf einen allmächtigen und allwissenden Gott bezieht, muss der ihr inhärente Vergleich ausnahmslos stets zum Nachteil des Menschen ausfallen, sodass sich sein Selbstbild im Angesicht der Vollkommenheit unweigerlich verzerrt, wie Nietzsche schon treffend feststellte (I.2.4). Da es sich hier nicht um theologische, sondern philosophische Annäherungen an die Demut handelt, ist die Form einer Selbstbetrachtung gefragt, die auf ein christliches oder anderweitig religiöses Weltbild nicht angewiesen ist (II.4.2.2). Ohne die Annahme eines allumfassenden Gottes, ist es dann auch nicht länger notwendig, dass sich ein Mensch in jeder Situation demütig zeigt, sondern immer nur dann, wenn es ihm eine Selbstbetrachtung (II.4.2) oder eine Erfahrung (II.4.1) nahelegt. Eine aufrichtige 112

Luyten, Norbert A.: Demut, Erfindung des Christentums? In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 229–238, hier 236.

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Selbsterkenntnis behütet sogar davor, sich als ein ausschließlich korrekturbedürftiges Wesen zu begreifen, wenn man mit ihr ein Wissen davon hat, worin sowohl die eigenen Vorzüge als auch die eigenen Schwächen bestehen. Die Demut kommt in diesem Erkenntnisprozess nur dann zur Geltung, wenn es angemessen ist, sich in einer Stellungnahme zu der eigenen Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit zu bekennen. Eine Grundlage bildet dafür, wie man schon im Christentum wusste, die Besonnenheit als das Erkennen des Maßes für die Demut. Die Besonnenheit ist nicht selbst schon Demut, sondern sie fragt nur nach deren Relevanz. Die für die Demut grundlegende Norm und die daraus abgeleiteten Verhaltensweisen gewinnen damit ihre Legitimierung aus der Besinnung als eine besonnene Selbstbetrachtung. II.4.2.2 Die Besonnenheit als Prüfstein zur Demut Die Anerkennung der eigenen Begrenztheit, Machtlosigkeit und Abhängigkeit wird in der Demut aus einer Besinnung nicht als Norm durch eine Gefühlsmacht (II.4.1.3) vermittelt, sondern selbstständig durch die Eigenleistung der Person im Rahmen einer Selbstbetrachtung eingesehen. Die Besonnenheit erhält dafür die Aufgabe, nach Gründen für die Demut zu suchen, aber die Person für die eigenen Vorzüge auch so offen zu halten, dass das Demütigsein nicht zur Maßlosigkeit verkommt. Deshalb muss die Besonnenheit in Verbindung mit einer Selbstverortung stehen, die auch ohne das bereits beleuchtete Gottesverhältnis auskommt. Zur Verdeutlichung dieser Überlegungen folgen nun einige Ausdeutungen der Besonnenheit, die ich in ihrer Funktion für die Demut fruchtbar machen will. Platon gibt im »Charmides« eine Bestimmung der Besonnenheit, die an das delphische »Erkenne dich selbst« angelehnt ist: »Der Besonnene also allein wird sich selbst erkennen und auch imstande sein zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht […].« 113 Denkt man zur Besonnenheit als das »Sichselbst113

Platon: Charmides, 167a. Ich beziehe mich auf die Ausgabe: Platon: Charmi-

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kennen« 114 die Demut hinzu, wird sich Letztere genau dann begründen lassen, wenn eine Person zum Beispiel darauf aufmerksam wird, was sie nicht weiß, sodass sie zum Beispiel denen, die eine entsprechende Kompetenz haben, den Vortritt lässt (II.5.5.3). Durch diese Einsicht in das eigene Vermögen ist sich der Demütige seiner Grenzen bewusst und erkennt diese auch im Zusammenleben an. In den »Nomoi« bringt Platon dieses demütige Verhalten mit der Besonnenheit konkret in Verbindung. An die Gerechtigkeit in Gestalt der »Dike« und an das »göttliche Gesetz« hält sich dort, »wer glücklich werden will« und folgt ihr deshalb in »Demut (altgriech. ταπεινός) und Bescheidenheit«. 115 Von Gott verlassen bleibt dagegen derjenige, der sich in »hochmütigem Stolz« durch Geld oder körperliche Schönheit hervortut und im »Übermut« glaubt, dass er weder »Gebieter« noch »Führer« braucht. 116 Dem Gott als das »Maß aller Dinge« gilt es, als Besonnener ähnlich zu werden, woran Platon bestimmte Handlungsweisen knüpft, die hier im Detail nicht von Interesse sind. 117 Demütig und maßvoll ist demnach jeder, der sich an die von Gott strukturierte Wirklichkeit und seine Gesetze hält, für deren Berücksichtigung und Einhaltung man eine Erkenntnisleistung erbringen und eine entsprechende Unterordnung vornehmen muss. 118 des. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. 33. Auflage. Reinbeck 2015. S. 215–245. 114 Vgl. ebd. 115 Platon: Nomoi, 716a. Die verwendete Ausgabe lautet: Platon: Nomoi (Gesetze) Buch IV–VII. Übersetzung und Kommentar v. Klaus Schöpsdau. Göttingen/ Mainz 2003. Origenes bezieht sich schon im frühen Christentum bei seiner Verteidigung der Demut gegen Celsus auf jene Stellen in Platons Nomoi. Vgl. Origenes: Gegen Celsus. I. Teil: Buch I–IV. A. a. O. S. 276 (Buch III 63); Origenes: Gegen Celsus. II. Teil: Buch V–VIII. Übers. v. Paul Koetschau. München 1927. S. 114 (Buch VI 15). 116 Vgl. ebd. 117 Vgl. Platon: Nomoi, 716c ff. 118 Hermann-Otto Leng versteht die Demut in Platons »Nomoi« als eine »dienende« und »politische« Demut, die ein »reflektiertes Niedrig-Gestellstein« meint und auf die Frage bezogen ist, wie und von wem ein politisches Amt auszuführen ist. Als guter Gesetzgeber kommt es nicht darauf an, sich »hochmütig« und »ar-

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Für Thomas von Aquin (I.3.6) war das, was Aristoteles als maßvoll (altgriech. σώφρων) bezeichnet hat, eng mit der Demut verwandt oder sogar mit ihr gleichzusetzen. 119 Bei Aristoteles heißt es: »Denn wer kleiner Dinge wert ist und sich kleiner Dinge für wert hält, ist maßvoll, aber nicht stolz.« 120 Entscheidend ist, dass der Maßvolle eine Kenntnis davon hat, dass er nicht großer, sondern kleiner »Dinge« wert ist. Er hat die Möglichkeiten seines Bestrebens und sein Unvermögen eingesehen, sodass er nicht über das, was seinem Streben möglich ist, hinausschießt. Wie der Demütige hat er sich seine Situation eingestanden, sodass er sein Handeln nach seinem Potential bemisst. Das muss aber nicht zwingend bedeuten, dass er deshalb in jeder Lebenslage auf die immer gleiche Weise maßvoll zu sein hat, sondern immer nur entsprechend des jeweiligen Maßstabes, der an den erforderlichen Fähigkeiten in der jeweiligen Situation ausgerichtet ist. Ganz in diesem Sinne rät auch Balthasar Gracian in seinem Werk »Handorakel und Kunst der Weltklugheit« dazu, die eigene »vorherrschende Fähigkeit« zu kennen. 121 Das damit verbundene Problem zeichnet sich für ihn nicht dadurch aus, dass wir als Menschen grundsätzlich unfähig oder unvollkommen sind, sondern dass wir nicht in der Lage sind, die Fähigkeiten auszubilden, die unserer Person jeweils gemäß sind, denn jeder »wäre in irgend etwas ausgezeichnet worden, hätte er seinen Vorzug gekannt«. 122 Der Demütige, so könnte man hinzufügen, weiß durch seine Besonnenheit darum, wovon er kein Wissen und Können hat, und lässt entsprechend den anderen, fähigeren Menschen den Vorzug, rogant« der Gesetze zu bemächtigen, sondern ihnen, vom »egoistischen Eigeninteresse« absehend, treu Gehorsam zu leisten. Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 115 ff., 118, 120. 119 Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 4. 120 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. v. Ursula Wolf. 7. Auflage. Hamburg 2018, 1123b. Im Folgenden abgekürzt mit dem Kürzel »EN« und der entsprechenden Stelle. 121 Gracian, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Übers. v. Arthur Schopenhauer. Stuttgart 1980. S. 20 (34). Angegeben ist die Seitenzahl mit der Nummer des Aphorismus in Klammern. 122 Ebd.

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was aber nicht bedeutet, dass er grundsätzlich und immer in Kleinmut resignieren muss. Nach Aristoteles ist es der »Kleinmütige«, der sich »kleinerer Dinge für wert hält, als er es ist […]« 123, der also keine klare Kenntnis über sein Vermögen hat und sich deswegen weniger zutraut, als ihm eigentlich möglich wäre. Gegen dieses Fehlverhalten hilft die Einsicht, die Gracian als die »beste Universalmedizin gegen Torheiten« auszeichnet. 124 Anstatt des Kleinmutes hat Gracian in seinem »Handorakel« aber mehr den alltäglichen Hochmut seiner Zeitgenossen vor Augen, den die Einsicht zügeln könnte: »Jeder hat eine hohe Meinung von sich, am meisten aber die, welche am wenigsten Ursache haben. Jeder träumt sich sein Glück und hält sich selbst für ein Wunder.« 125 Gegen diese überspannten Selbstbilder und Hoffnungen, die auf einer verfehlten und hochmütigen Selbsteinschätzung beruhen, sah Thomas von Aquin die Demut als eine Tugend vor, die das Bestreben in die richtigen, der Fähigkeit der Person angemessenen Bahnen lenkt (I.3.6). Um diese Korrektur vornehmen zu können, ist auch für Gracian eine Selbstprüfung notwendig, durch die man die Fähigkeiten seines Verstandes kennenlernt, indem man seine Fähigkeiten gründlich abwägt 126: »Jeder erkenne die Sphäre seiner Tätigkeit und seines Standes: dann wird er seine Begriffe nach der Wirklichkeit berichtigen.« 127 Was bei Gracian nachklingt, ist Platons Verständnis von der Gerechtigkeit in der »Politeia«, in der »jeder das Seinige verrichtet« 128, um den Staat und das Zusammenleben in ein ausgewogenes Verhältnis zu brin123

EN 1123b. Vgl. Gracian: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. A. a. O. S. 97 (194). 125 Ebd. 126 Vgl. Gracian: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. A. a. O. S. 142 (291), 46 (89). 127 Gracian: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. A. a. O. S. 97 (194). 128 Platon: Politeia, 433a f.: »Und gewiß, daß das Seinige tun und sich nicht in vielerlei mischen Gerechtigkeit ist, auch das haben wir von vielen andern gehört und gewiß auch öfters selbst gesagt. […] Dieses also, o Lieber, sprach ich, wenn es auf gewisse Weise geschieht, scheint die Gerechtigkeit zu sein, daß jeder das Seinige verrichtet.« Die verwendete Ausgabe lautet: Platon: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. 34. Auflage. Reinbeck 2013. S. 195–537, hier 333. 124

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gen. In der Moderne muss der eigene Stand aber nicht als unverrückbare oder gottgegebene soziale Stellung verstanden werden, sondern sollte als ein Wissensstand oder Stand der eigenen Fähigkeiten gelten, dessen Ermittlung vor einer Selbstüberschätzung bewahrt, sodass sprichwörtlich nicht auf den Hochmut der schmerzvolle Fall folgt, wie es in einem Psalm des Alten Testaments heißt: »Vor dem Sturz ist das Herz des Menschen überheblich,/ aber der Ehre geht Demut voran.« 129 Das Ziel liegt nicht darin, die Menschen wegen ihres Mangels an Wissen oder Können kleinzuhalten. Die Demut garantiert stattdessen, dass man seine Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit anerkennt, um daraus angemessene Schlüsse für die Selbstbehauptung zu ziehen. Nichts spricht gegen eine Ausbesserung oder Behebung der eigenen Mängel, sofern man auch dabei um die Grenzen des Möglichen weiß. Den Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung hat auch Johann Wolfgang von Goethe in seinen »Maximen und Reflexionen« bestärkt. Grundlegend ist für ihn ebenfalls die Anerkennung des je eigenen Vermögens: »Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt […].« 130 Aufschlussreich ist dafür das Ausloten dieser Grenzen: »Nur klugtätige Menschen, die ihre Kräfte kennen und sie mit Maß und Gescheitigkeit benutzen, werden es im Weltwesen weit bringen. – Ein großer Fehler: daß man sich mehr dünkt, als man ist, und sich weniger schätzt, als man wert ist.« 131

Man achte darauf, worin die »Klugtätigkeit« besteht: Sie besteht nicht in der maximalen Anhäufung von Wissen oder Ruhm, sondern sie umfasst die wirklichkeitsgetreue Kenntnis des eigenen Vermögens und zwar unbeirrt davon, wie reich es im Vergleich zum Mitmenschen ist. Es geht zunächst weder um eine Abwertung oder Aufwertung der eigenen Fähigkeiten noch um das, wo129

Spr 18, 12. Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Werke in 12 Bänden. Bd. 7. Berlin/Weimar 1966. S. 453–575, hier 476. 131 Ebd. 130

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rauf man letztendlich hinauswill. Entscheidend ist zunächst das Wissen darum, was ist, was also die persönliche Situation für ein Potential bereithält. Im Rahmen des erkannten Vermögens ist dann eine Person »klug tätig«, weil sie ihre Tätigkeit nach ihrer Klugheit, also nach dem Stand ihres Wissens und Könnens ausrichtet. Umgekehrt kann sie genau deshalb eine Tätigkeit angemessen ausführen, in der sie »klug« ist, weil sie das nötige Können dafür durch ihr entsprechend ausgebildetes Vermögen ausreichend beherrscht. Die Grundlage bildet dafür eine Betrachtung, durch die man sich auf seine persönliche Situation besinnt (II.5.5.2), denn der »Handelnde ist immer gewissenlos«, während »niemand Gewissen als der Betrachtende« hat. 132 Für Goethe muss diese Selbsterkenntnis nicht wie im traditionell christlichen Verständnis eine ausschließlich sündhafte oder korrekturbedürftige »Natur« ans Licht bringen, denn auch die Betrachtung selbst sollte einem Maß unterliegen: »Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: ›Erkenne dich selbst!‹, so müssen wir es nicht im asketischen Sinne auslegen.« 133 Das selbst schon hochmütig angelegte Bestreben, sein »Fleisch« »absterben« lassen zu wollen und seinen Willen grundsätzlich zu verneinen (I.2.2), ist als Konsequenz der Selbsterkenntnis gar nicht nötig. Goethe schlägt dagegen vor: »Gib einigermaßen acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst! Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quälereien […].« 134 Eine Demut, die nicht als reine Bußpraxis daherkommen will, sollte diesen Appell, mit dem Goethe wie im Vorbeigehen sowohl die christliche als auch antike Tradition rückblickend zum Maß aufruft, niemals aus den Augen verlieren. Für Goethe hat die Selbsterkenntnis ebenso das Potential, ein Verständnis für seine Mitmenschen zu eröffnen: »Wie viel bist du von andern unterschieden?/ Erkenne dich, leb mit der Welt in

132 133 134

Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 464. Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 485. Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 485 f.

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Frieden!« 135 Der »Friede« hat die Selbsterkenntnis zur Grundlage, durch die der Mensch ein Gespür dafür entwickelt, dass er hinsichtlich seiner Fehlbarkeit von den anderen kaum verschieden ist, weshalb ihn nicht das Bedürfnis dominieren sollte, sich vor seinen Mitmenschen permanent auszeichnen oder ausschließlich nach seinen Interessen handeln zu müssen. Auf diese Weise hatte auch Bernhard von Clairvaux (I.3.5) dafür plädiert, in der Demut das »eigene Elend« zu erkennen, um so mit Verständnis und Mitleid seinem Nächsten zu begegnen. 136 Zum Ende seines Lebens betont Goethe, als er den Ertrag seines Schaffens resümiert, nochmals den Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung: Die »Bescheidenheit« »übt« sich demnach nur an den Problemen, durch die sich der Mensch selbst kennenlernt, um »zugleich seine Beschränktheit mit der großen Breite, die ihm zu umschauen gegeben ist, kennen zu lernen und sich am Ende selbst ehrenhaft zu bescheiden …«. 137 Die Bedingtheit und Beschränktheit des Menschen, die Goethe aufging, hat nichts von einer Kasteiung oder Bußstimmung, sondern das »Bescheiden« geschieht für ihn auf eine »ehrenhafte« Weise. Sich selbst zu erkennen heißt, um die eigenen Grenzen zu wissen im Angesicht der »großen Breite«, die nicht auf einen Gott, sondern ebenso gut auf das Wissen und Handeln im diesseitigen Leben bezogen sein kann. Goethe nannte das Wissen um das Verhältnis zu »mir selbst« und der »Außenwelt« »Wahrheit«. 138 Schmitz machte sich als ein 135

Goethe: Zueignung. In: Ders.: Werke in 12 Bänden. Bd. 1: Gedichte I. Berlin/Weimar 1966. S. 3–6, hier 4. Auch Georg Wehrung verweist in seiner Auseinandersetzung mit der Demut auf diesen Vers Goethes: Wehrung: Selbstgefühl und Demut. A. a. O. S. 372. 136 Vgl. Clairvaux: Über die Stufen der Demut und des Stolzes. A. a. O. S. 55, 73. 137 Goethe, Johann Wolfgang: An Sigmund August Wolfgang Herder am 07. Juni 1831. In: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. 3. Auflage. München 1988. S. 426–428, hier 428. Den Hinweis auf diesen Brief Goethes entnahm ich: Schipperges, Heinrich: Mut und Demut – ein Beitrag zur Physiologie der Tugenden. In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 261–271, hier 269. 138 Vgl. Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 514.

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Exeget des Goethe’schen Werkes 139 die Suche nach dieser »Wahrheit« im Rahmen seines Werkes als Phänomenologe zu eigen. 140 Von Beginn seines Schaffens an definiert er die Philosophie als das »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung«. 141 Diese Besinnung hat zum Ziel, das Weltverhältnis des Menschen – und wie er sich darauf aufbauend selbst zu verstehen hat – auf Grundlage der Lebenserfahrung zu thematisieren und offenzulegen. Das »Sichbesinnen« versteht Schmitz auch als Aufforderung des delphischen »Erkenne dich selbst«. 142 Bei der Frage, wie sich der Mensch in seiner Umgebung vorfindet, kommt es Schmitz aber nicht nur auf eine »Selbstbesinnung«, sondern auch auf eine »Besinnung zur Besonnenheit« an, bei der es um das »rechte Maß« für das Verhältnis zur Umgebung ankommt, im Sinne von Antonios Forderung an Tasso: »Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!«. 143 In dieser Hinsicht wäre es, so Schmitz, die Aufgabe der Philosophen gewesen, eine »Besinnung auf das Netz der Abhängigkeiten des Menschseins wachzuhalten« 144, sich aber nicht hochmütig über diese zu erheben. Diese Abhängigkeiten sind zum Beispiel das, was dem Menschen als leibliches Wesen in Gestalt von Eindrücken oder Gefühlen (und ihren Normen (II.4.1.3)), von denen er zur Auseinandersetzung aufgerufen ist, spürbar widerfährt. Philosophen wie Platon 145, aber auch dem Christentum wirft Schmitz vor, sich dieser als »Begierden« gebrandmarkten Regungen und Atmosphären bemächtigen zu wol139 Vgl. dafür sein umfangreiches Buch: Schmitz, Hermann: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang. Bonn 1959. 140 Vgl. dafür a. die kurze, aber aufschlussreiche Analyse in: Prütting: Homo ridens. A. a. O. S. 1602 ff. 141 Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. 1: Die Gegenwart. Studienausgabe Bonn 2005. S. 15. 142 Vgl. Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 815, 819 f. 143 Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O. S. 285; Goethe, Johann Wolfgang: Torquato Tasso. In: Ders.: Werke in 12 Bänden. Bd. 3. Berlin/ Weimar 1966. S. 449–552, hier 552 (Fünfter Aufzug, Fünfter Auftritt). 144 Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 9. 145 Vgl. für eine zusammenfassende Liste der Hauptvorwürfe, die Schmitz Platon unterbreitet: Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 391 f.

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len (I.2.2), anstatt sie in der menschlichen Abhängigkeit als Potential für das Leben anzunehmen. 146 Auch Schmitz’ einseitige Deutung der christlichen Demut resultiert aus seiner daran anknüpfenden Auseinandersetzung mit der oben nur angerissenen »Ethik« von Arnold Geulincx und der ausführlicher behandelten »Imitatio Christi« des Thomas von Kempen (I.3.7). 147 Da, wie gezeigt, diesen Denkern die Forderung nach dem »Absterben des Selbst« wesentlich war, muss die von ihnen angestrebte Demut aus der Perspektive des Phänomenologen vor allem für die maßlose Unterdrückung der Gefühle stehen, denen Schmitz mit seinem Werk gerade zu ihrem Recht verhelfen wollte. Dass in seinem Werk deshalb zwar von menschlichen Abhängigkeiten, aber nicht im erstrebenswerten Sinn von Demut die Rede ist, liegt an diesem bereits artikulierten Unbehagen (I.2.2). Andere Konzepte der Demut, wie sie Thomas von Aquin (I.3.6) oder Bernhard von Clairvaux (I.3.5) vorlegten, hat Schmitz in diesem Zusammenhang nicht behandelt. Sein Konzept der Lebensführung liegt dagegen im Ideal des »vitalen Stolzes«. Statt seiner bedingungslosen Hingabe oder einer Unterdrückung des ihm Widerfahrenden, will der »vital Stolze« die Gefühle wie auch die Leiblichkeit überhaupt in ein »leibliches Selbstgefühl« münden lassen: »Dieser vitale Stolz, der sich entfalten kann, wenn der Mensch lernt, ohne Scham und ohne Übermut seinen Kopf hoch zu tragen und sich dem Schicksal seines Leiblichseins mit allen Chancen und Gebrechen anzuvertrauen, trägt in sich ein Regulativ der Haltung, der Formfindung des Maßes, etwa im Sinne der griechischen Sophrosyne […].« 148

Eng damit verbunden ist auch die »Verankerung des Lebenswillens in die Gegenwart« 149 als eine Lebensausrichtung, mit der man die Empfänglichkeit von Gefühlen und das Potential, sie als 146

Vgl. Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 10. Vgl. Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung Bd. 2. A. a. O. S. 172–178; Ders.: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 193 f. 148 Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 12. 149 Vgl. ebd. 147

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Gestaltungskraft wahrzunehmen, kultiviert. Dafür fehlt den Menschen aber »die Verbindung ihrer durch intellektuelle und technische Konstrukte abgelenkten Besonnenheit mit ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung, in der die Potentiale der Empfänglichkeit vergraben sind, aus der allein eine Gestaltungskraft erwachsen kann, die es vermag, Zeichen zu setzen und Formen zu finden, die dem Leben einen Inhalt, der es erfüllt, und eine Richtung des Bescheidwissens, was man will, zurückgeben können.« 150

Bei seiner Lesart des delphischen »Erkenne dich selbst« sieht Schmitz sich in der Rolle, den Menschen dieses Wissen und die dafür nötige Sprache zu liefern, die begreiflich macht, was ihnen in der Auseinandersetzung mit Situationen und den damit verbundenen Eindrücken, Gefühlen oder leiblichen Regungen widerfährt, sodass sie daraus einen maßvollen Umgang für das Leben ableiten können. 151 Schon Apollon forderte die Menschen dementsprechend dazu auf, »sich nicht zu erheben« und das »richtige Maß für die Selbstschätzung zu finden in Anbetracht alles dessen, was um sie ist«, was auch als »Aufforderung zu vielseitiger Rücksichtnahme« zu verstehen sei. 152 Schmitz machte es sich mit seinem »System der Philosophie« zum Anliegen, neben Leib und Gefühl auch das Potential und die Grenzen des Personseins, der Wahrnehmung, der Gegenwart oder des Göttlichen zu ergründen. 153 Der »vital Stolze« erkennt mit diesem Wissen »ohne Übermut« seine »Störbarkeit, Gebrechlichkeit und Sterblichkeit« an, sodass er sich auch als »Medium und Gefäß versteht, bestimmt für ein Geschehen, das ihn ergreift und über ihn hinausgeht«. 154 Dabei kann er sich aufgrund der »kritischen Funktion der Ver150

Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie. Rostock 2003. S. 3. Vgl. z. B. Schmitz: Wozu philosophieren? A. a. O. S. 154. 152 Schmitz, Hermann: Platon als Demokriteer. In: Platon im nachmetaphysischen Zeitalter. Hrsg. v. Gregor Schiemann et. al. Darmstadt 2006. S. 27–40, hier 36. 153 Vgl. dazu die entsprechenden Bände: Schmitz: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 4: Das Göttliche und der Raum. A. a. O.; Ders.: System der Philosophie. Bd. 4.: Die Person. Studienausgabe Bonn 2005. Ders.: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 5: Die Wahrnehmung. Studienausgabe Bonn 2005. 154 Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 12. 151

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nunft« für das ihn übersteigende und ergreifende Geschehen offen halten, aber auch wählerisch und wachsam bleiben, sodass er mit Goethe »nicht der Willkür der Wellen, sondern dem Willen seiner Einsicht folgt«. 155 Schmitz empfiehlt den Menschen an anderer Stelle nicht als ethische Pflicht, sondern als »guten Rat«, »sich selbst nicht gar so wichtig zu nehmen«, denn »Menschen sind […] wichtig als Medien der Darbietung von etwas, das an und mit ihnen geschieht, dem sie dienen oder sich widersetzen können, nicht dadurch, dass sie sich selber wichtig nehmen«. 156 Diese menschliche Stellung ist zum Beispiel auf die »diachrone Verantwortung« 157 bezogen, die eine Person über ihr Leben hinaus als Erbe entgegennimmt und in die Zukunft weiterreicht, sie ist aber auch auf das Menschsein als Medium in der Auseinandersetzung mit Gefühlen übertragbar. Dieser Appell, sich zugunsten von etwas, das den Menschen übersteigt, nicht so wichtig zu nehmen, ist eine Forderung, die man ganz ähnlich auch im Christentum antrifft. Dort ist es aus Gründen des Glaubens an einen Gott die Demut, die den Menschen dieses Selbstverständnis auf ähnliche Weise nahelegt (I.3.9). Im Lebensideal des »vitalen Stolzes« sehe ich das Potential bereitliegen, die Demut mit einer besonnenen Selbstverortung des Menschen zu vereinen. Den Ausgangspunkt dafür bildet einerseits die nicht auf eine Religion angewiesene Anerkennung von dem, was der Mensch sich nicht willentlich und nach seinen Interessen zurechtgelegt hat, was ihm zum Beispiel in Gestalt von Gefühlen widerfährt, wofür entsprechende Erfahrungen bereits beleuchtet wurden (II.4.1.1). In der daraus resultierenden Stellungnahme der Person zugunsten der menschlichen Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit ruht auch die Einsicht, dass man nicht ausschließlich ein Leben in der Position des aktiven

155

Vgl. ebd.; Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 477. Schmitz, Hermann/ Sohst Wolfgang: Hermann Schmitz im Dialog. Neun neugierige und kritische Fragen an die Neue Phänomenologie. Berlin 2005. S. 90. An dieser Stelle zitiert sich Schmitz aus: Ders.: Was ist Neue Phänomenologie. A. a. O. S. 285. 157 Vgl. ebd. 156

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Theoretische Grundlegung der Demut

»Machers« führt, sondern auch wesentlich als »Patheur« 158 in Passivität zum Beispiel durch eine Autorität mit unbedingtem Ernst (II.4.1.3) – wie im Fall der Liebe, des schlechten Gewissens oder des Zorns – geführt wird. Die Besonnenheit kann andererseits eine Grundlage dafür liefern, dass man einen Umgang mit seiner jeweiligen Situation oder seiner gesamten Beschaffenheit findet. Dafür ist die von der Besonnenheit vorangetriebene Selbstverortung maßgeblich, durch die der Mensch für seine Möglichkeiten offen bleibt, aber zugleich um seine Grenzen weiß. Der Mensch muss demütig begreifen und einsehen, dass er auch – aber nicht nur – in einem »zerbrechlichen Kahn« 159 sitzt, der es unmöglich macht, sich im Übermut eine Allmacht über seine Möglichkeiten auszustellen. Gleichzeitig muss es aber auch darauf ankommen, nicht einseitig in der Resignation zu »zerbrechen«, indem man aktiv einen maßvollen Umgang für seine Situation findet. Die Demut stellt sich bei dieser »Besinnung auf sein Sichfinden« ein und ist Teil eines Korrektivs für ein würdiges Maß, das die eigenen Grenzen nicht aus den Augen verliert. Schmitz sieht sich nicht in der Rolle desjenigen, der genaue Kriterien für dieses Maß anzugeben weiß, macht aber an wenigen Stellen seines Werkes kenntlich, dass ihm eine »sophrosyne« vor Augen schwebt, wie sie laut Thukydides der Spartanerkönig Archidamos forderte. 160 In Schmitz’ Lesart besteht diese Besonnenheit aus zwei Tugenden der Ausgewogenheit, »nämlich Immunität 1. gegen Überheblichkeit und Entmutigung, 2. gegen leichte Beeinflussung durch Lob und Tadel« und insgesamt aus der »Stabi158

Vgl. für diesen Begriff: Hasse, Jürgen: Raum der Performativität. »Augenblicksstätten« im Situationsraum des Sozialen. In: Geographische Zeitschrift. Bd. 98. Heft 2 (2010). S. 65–82, hier 70. 159 Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 477. 160 Thukydides, Historien I 84: »Sie ist im Grunde nur Besonnenheit und Mäßigung. Ihr verdanken wir, daß wir die Einzigen sind, die im Glück nicht hochmütig werden, im Unglück weniger niedergeschlagen sind als andere, daß wir uns nicht durch das Wohlgefallen an schmeichelhaftem Lob von anderen zu gefährlichen Unternehmungen, die wir nicht billigen, verleiten lassen und daß wir auch, wenn jemand uns durch Vorwürfe anstacheln will, uns nicht im geringsten außer Fassung bringen und überrumpeln lassen.« Die Übersetzung stammt aus: Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übers. v. August Horneffer. Essen 1984. S. 63.

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Demut aus Besinnung

lität als Unbestechlichkeit der Selbsteinschätzung«. 161 Die »sophrosyne« ist deshalb auch eine »Tugend der Selbstsicherheit in vorsichtiger Abschätzung der richtigen Proportionen für die eigene Stellungnahme« 162, die auch eine gewisse »Reife« 163 voraussetzt, bei der man um das Verhältnis der eigenen Möglichkeiten zur Wirklichkeit weiß. Diese Besonnenheit nimmt damit eine ähnliche Funktion ein wie die Besinnung für die Demut im Werk von Bernhard von Clairvaux oder anderer christlicher Autoren (I.3.5, I.3.6, II.4.2.1). Auf Grundlage der in diesem Abschnitt herangezogenen Denker verstehe ich die Besonnenheit als eine Praxis der Besinnung mit dem Ziel der Selbsterkenntnis, die eine umsichtige und wissentliche Stellungnahme der Person bezüglich ihres Handlungsvermögens und Sachverstandes ermöglicht. Somit kann der Besonnene eine Antwort auf die Frage liefern, welches Potential er hinsichtlich seines Wissens und Könnens bereithält. Die Demut ist wiederum eine mögliche, aus der Besonnenheit resultierende Stellungnahme der Person, wenn diese auf Grundlage einer Selbstverortung ihre Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit einsehen muss. Damit können Besonnenheit und Demut in einem engen Verhältnis zueinander stehen, sie sind jedoch strikt voneinander zu unterscheiden, da eine andere Stellungnahme, die sich aus der Besinnung ergibt, zum Beispiel auch in der »Groß161

Schmitz, Hermann: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung Bd. 1: Antike Philosophie. Freiburg/München 2007. S. 137; 240; Ders.: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 84. Vgl. a. Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O. S. 301. 162 Schmitz: Platon als Demokriteer. A. a. O. S. 36. 163 Den Anspruch der Formel von Delphi und wohl auch die »sophrosyne« der Spartaner sah Schmitz in seinem früheren Werk in der »Reife« der Person verwirklicht: »Für den reifen Menschen ist bezeichnend, daß er die Möglichkeiten, er selbst zu sein, die Fassung zu gewinnen und zu bewahren, sich über das unmittelbare Betroffensein zu erheben, sowie die Anfechtungen und Grenzen dieser Möglichkeiten einigermaßen kennt, nicht notwendig explizit, aber ganzheitlich im Innesein seiner persönlichen Situation, und schon dadurch vor allzu ausschweifenden, überspannten und verstiegenen Entwürfen bewahrt bleibt; das delphische ›gnoti sauton‹ will darauf hinaus.« Schmitz: System der Philosophie. Bd. 4.: Die Person. A. a. O. S. 309.

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Theoretische Grundlegung der Demut

gesinntheit« bestehen kann, die später noch zur Geltung kommen wird (II.4.3). II.4.2.3 Verfehlte Demut aus der Selbsterkenntnis bei Ludwig Wittgenstein Die »unbestechliche« und an der »Wahrheit« interessierte Selbstverortung trägt dazu bei, sich der Abhängigkeit und dessen, was das menschliche Vermögen übersteigt, zu vergewissern, aber ohne sich dauerhaft »entmutigen« oder herabwürdigen zu lassen. Eine Demut aus der Besinnung ist auf dieses besonnene Vorgehen angewiesen, das in einem Balanceakt nicht einseitig zugunsten der grundsätzlichen Selbstabwertung ausfallen sollte und trotzdem in der jeweiligen Situation die eigene Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit nicht aus den Augen verliert. Ludwig Wittgenstein bietet dagegen ein trauriges Beispiel für das einseitige Ausleben der Demut, weil er zumindest zeitweise jedes Maß für die eigene Selbsteinschätzung verloren hat. Sein Beispiel möge zugleich eine letzte Warnung darstellen, die Demut nicht auf Kosten dieses fehlenden Maßes so auszuleben, dass sie zur Grundlage einer die persönliche Situation vollends dominierenden psychischen Marter wird, weil jegliches persönliche Begehren als »Hochmut«, »Sünde« oder anderweitiges Laster ausgelegt wird. Wer zum Beispiel Thomas von Kempens »Nachfolge Christi« wörtlich nimmt, kann für dieses gefährliche Selbstverhältnis eine theoretische Grundlage finden (I.3.7). Wittgenstein setzt wie Augustinus (II.4.2.2) die Selbsterkenntnis mit der Demut gleich, wenn er in seinen als »Denkbewegungen« erschienenen Tagebüchern notiert: »Selbsterkenntnis & Demut sind eins« 164. Damit einhergehend fordert er auch in Anlehnung an den Spruch am Orakel von Delphi: »Decke auf,

164

Wittgenstein, Ludwig: Denkbewegungen. Tagebücher 1930–1932, 1936– 1937. Frankfurt am Main 1999. S. 52. Die Interpunktion, die Wittgenstein in seinen Tagebüchern vornimmt, wird stillschweigend übernommen.

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Demut aus Besinnung

was Du bist«. 165 Wittgenstein hält diese Selbsterkenntnis zwar für »furchtbar«, wobei es jedoch »kein besseres Mittel sich selbst kennen zu lernen« gebe »als den Vollkommenen zu sehen«. 166 Der »Vollkommene« muss dann »einen Sturm der Empörung in den Menschen wecken«, wenn sich diese nicht »ganz & gar demütigen wollen«. 167 Dieser Sturm der Empörung wütet in Gestalt einer zwanghaften Selbsterniedrigung auch durch Wittgensteins Notizen. Wittgenstein betont, wie schwer es ist, sich zu erkennen, 168 aber sobald er den Prozess der Selbsterkenntnis vorantreibt, weiß er zunehmend in christlicher Tradition, dass »Du in jeder Weise immer wieder ein armer Sünder bist« 169. In diesem Sinne nimmt der Philosoph eine geraffte »Auslegung der christlichen Lehre« vor: »Wach vollkommen auf! Wenn Du das tust, erkennst Du, daß Du nichts taugst […].« 170 Der Vergleich mit Gott offenbart Wittgenstein seine grundlegende Unzulänglichkeit 171 und seine Niederschriften erwecken den Eindruck, als müsste er sich immer wieder dieser freiwilligen, aber für ihn notwendigen Buße unterziehen. So lautet eine Antwort auf die Forderung nach Selbsterkenntnis: »Ich bin z. B. ein kleinlicher, lügnerischer Wicht & kann doch über die größten Dinge reden.« 172 An anderer Stelle heißt es in einem Geständnis: »Dazu lebt in mir eine unausrottbare Unbescheidenheit. […] Es ist als könnte ich, nur Trost finden, in der Erkenntnis meiner Jämmerlichkeit.« 173 Nach eigener Aussage

165

Ebd. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 95. 167 Vgl. ebd. 168 Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 94. 169 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 54. 170 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 101. 171 Wittgenstein stellt in diesem Sinne auch Überlegungen zur Demut auf, die er aus dem Erlösungstod Christi ableitet: »Im Glauben aber identifiziert man sich mit ihm, d. h. man entrichtet Schuld nun in der Form von demütiger Anerkennung; man soll also ganz niedrig werden, weil man nicht gut werden kann.« Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 99. 172 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 52. 173 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 78. 166

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Theoretische Grundlegung der Demut

fällt Wittgenstein wenig so schwer wie »Bescheidenheit« 174 und er hofft, dass seine Traurigkeit und Qual seine Eitelkeit, mit der er alles »beschmutzt« 175, »verbrennen« mögen 176. Er versteht sich als »gemein« und »niedrig«, weshalb er sich unterstellt, dass es ihm eigentlich »nur zu gut« geht 177 und dies »unverdient« 178 sei. Ebenso ertappt er sich auf »Schäbigkeit und Geiz« 179 und gesteht, dass er zu Unrecht geachtet wird. 180 Darüber hinaus bezeichnet sich Wittgenstein als »im höchsten Grade übelnehmerisch« 181, »feige« 182, »unfruchtbar«, »träge«, »blöd«, »schwach«, »anstandslos« und abhängig von der Meinung anderer 183. Als resümierte er seinen Erkenntnisprozess, notiert er: »Jede mögliche kleinste & größte Erbärmlichkeit kenne ich weil ich selbst sie begangen habe.« 184 Der Psychotherapeut Jörg Müller erarbeitet in seinem Buch »Stell dein Licht auf den Leuchter« ein »Verständnis« und »Missverständnis« der christlichen Demut, das auch Aufschluss über Wittgensteins Selbstverhältnis gibt. Müllers theologische Bezüge sind an dieser Stelle nicht von Interesse, wohl aber seine Erfahrungen als Therapeut, die davon Zeugnis ablegen, was aus einem Menschen wird, der die Demut tatsächlich als reine Selbstverneinung, Selbsterniedrigung oder als Absterben seiner Bedürfnisse versteht: »Das verbreitetste Mißverständnis von christlicher Demut besteht im Nichtwahrhabenwollen von aggressiven Gefühlen und von ständig hochkommenden ›egoistischen‹ Bedürfnissen. […] Die zunehmenden Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen, aber auch die vergifteten zwischenmenschlichen Beziehungen gehen fast alle174

Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 81. Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 47. 176 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 88. Für die Eitelkeit vgl. a. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 48, 55, 74. 177 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 98. 178 Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 94. 179 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 104. 180 Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 34. 181 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 105. 182 Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 42. 183 Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 22 ff. 184 Wittgenstein: Denkbewegungen. A. a. O. S. 40. 175

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Demut aus Besinnung

samt auf das Konto einer jahrelangen Unterdrückung elementarer, jedoch von vielen Menschen für egozentrisch gehaltener Bedürfnisse.« 185

Wenn Müllers Zeitdiagnosen hinsichtlich der Erziehung in den 1980er Jahren gegenwärtig kaum noch Geltung beanspruchen dürften, sind doch seine Schilderungen aus seiner Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen in einer Hinsicht bereichernd. Sie zeigen, dass einseitig negativ ausgelebte Demut als reine Selbstverachtung pathologische Züge aufweisen oder gänzlich in die Krankheit führen kann. Die Folgen dieses Verhaltens sind laut Müller sowohl Identitätskrisen, die aus der radikalen Verleugnung des Selbst resultieren, als auch ein Hang zum Masochismus, der mit einer »falsch« verstandenen Demut einhergeht. Der Selbstlose ist dann durch eine psychische Erkrankung in der Tat sein »Selbst los«, während man durch eine masochistische Lebenseinstellung »einen besonderen Hang zur Selbstbestrafung in Form von Bußübungen, Verzichtsleistungen und einer negativen Erwartungshaltung« entwickelt. 186 Das Problem mit einer Demut, die von diesen Tendenzen dominiert ist, fasst Günter Virt treffend zusammen: »Wer sein Selbst losgeworden ist oder für wertlos hält, hat das Entscheidende nicht mehr zu geben, nämlich sich selbst.« 187 Ohne Wittgenstein eine Diagnose ausstellen zu wollen, hinterlassen seine Notizen doch den starken Eindruck, dass er die Folgen dieser demütigen Lebensweise zu spüren bekam. Seine vernichtende Selbstbetrachtung offenbart, was geschieht, wenn der Demut jedes Maß abhandengekommen ist. Müllers psychotherapeutische Arbeit gibt davon ebenfalls ein authentisches Zeugnis aus erster Hand. Wittgensteins vollzogene Selbsterkenntnis und seine Demut sind verfehlt, weil er auf penetrante und einseitige Weise einzig seine Schwächen und Mängel in den Vordergrund rückt, ohne seiner Person jeglichen Raum für Selbstachtung und Selbstwertschätzung zu lassen. Zwar zeichnet sich die Demut 185

Müller, Jörg: Stell dein Licht auf den Leuchter. Verständnis und Mißverständnis christlicher Demut. Stuttgart 1986. S. 79. 186 Vgl. Müller: Stell dein Licht auf den Leuchter. A. a. O. S. 40, 67. 187 Virt: Demut – eine unmoderne Tugend? A. a. O. S. 303.

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Theoretische Grundlegung der Demut

durch das Eingeständnis der eigenen Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit aus, was aber nicht den Fehlschluss zur Folge haben sollte, dass man sich ausschließlich und in jeder Situation auf diese Weise versteht und sich damit maßlos in Wort und Tat an den Rand der Selbstzerstörung treibt. II.4.3 Demut und Selbstwert Eine Lehre aus der Aufarbeitung der christlichen Tradition (I.3) und aus der Auseinandersetzung mit Ludwig Wittgenstein ist besonders wichtig: Eine Person muss neben der Demut auch immer andere Haltungen gelten lassen können, die ein angemessenes Selbstwertgefühl vermitteln. In der philosophischen Kritik (I.2) nahm man die Demut als eine passive Haltung wahr, die eine wesentliche Grundlage für ohnmächtigen Gehorsam und bedingungslose Unterdrückung bildete, sodass der Demütige, sei es auf eigenen Wunsch, sei es durch eine andere Autorität, jeglichen Raum für individuelles und eigenständiges Handeln einbüßte. Dagegen plädiert auch Müller als Konsequenz seiner psychotherapeutischen Arbeit dafür, dass der Demütige ein »richtiges Selbstwertgefühl« besitzen sollte, auf deren Grundlage er eine Selbstkritik vornehmen kann, die nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung, sondern zu einer Korrektur seines Verhaltens führt, sodass eine Bejahung der eigenen Werte mit einer demütigen Erkenntnis der Fehler Hand in Hand geht. 188 Schon christliche Denker haben die Demut deshalb ganz ähnlich in Verbindung mit der »Großgesinntheit« als ein sich ausgleichendes Bestreben verstanden. Damit ist neben der Besonnenheit eine weitere Tugend nötig, welche die Demut vor einer Praxis der Selbstzerstörung bewahrt, wovon auch ein nicht-religiöses Verständnis dieser Haltung profitiert. Aristoteles gab für christliche Denker wie Thomas von Aquin eine maßgebliche Bestimmung der »Großgesinntheit«, die man auch als »Stolz« übersetzen kann: »Als stolz (megalopsychos) gilt, 188

Vgl. Müller: Stell dein Licht auf den Leuchter. A. a. O. S. 21.

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Demut und Selbstwert

wer sich selbst großer Dinge für wert hält und dies auch [wirklich] ist [Anm. der Übersetzerin].« 189 Im deutschen Sprachgebrauch erfährt der »Stolz« oftmals eine Abwertung, weil man ihn der Prahlerei, der Überheblichkeit oder des Hochmuts verdächtigt. Der Stolze will sich nach diesem alltäglichen Verständnis mit seinen Leistungen brüsten oder nur zum Schein vorgeben, dass er sie erbracht hat. Die aristotelische »megalopsychia« zielt dagegen darauf ab, dass man sich anspruchsvoller »Dinge« nicht nur für wert hält, sondern darüber hinaus auch gemessen an der Wirklichkeit darum weiß, dass man ihrer würdig ist, weil man dafür entsprechende Taten sprechen lässt. Es handelt sich also nicht um einen falschen, sondern berechtigten Stolz, der auf ein würdiges Handlungsvermögen und vollbrachte Leistungen verweist. Der Großgesinnte ist also weder im aristotelischen Sinne »eitel«, sodass er sich »ehrenvolle Dinge« attestiert, zu denen er eigentlich unfähig ist, noch ist er kleinmütig, als dass er sich aufgrund mangelnder Selbsterkenntnis kleiner Dinge für wert hält, aber eigentlich zu Größerem fähig wäre. 190 Entgegen dieser Überschätzung und Unterschätzung ist sich der Großgesinnte auf berechtigte Weise hinsichtlich seines Potentials in Wissen und Willen sicher. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass Schmitz sein Verständnis der »sophrosyne« (II.4.2.2) als »Tugend der Selbstsicherheit in vorsichtiger Abschätzung der richtigen Proportionen für die eigene Stellungnahme« 191 auch in der aristotelischen »megalopsychia« wiederfindet. 192 Für Thomas von Aquin (I.3.6) stehen, wie bereits herausgestellt, die »Großgesinntheit« und die Demut nicht im Widerspruch zueinander, weil sich beide in »Übereinstimmung auf die Vernunft« beziehen. 193 Der Großgesinnte weiß um das Potential seines Schaffens und kann zu Recht darauf verweisen, während der Demütige nicht weniger erkannt hat, worin er hinsichtlich seiner Schwächen oder Abhängigkeiten fehlbar ist. Thomas ver189 190 191 192 193

EN 1123b. Vgl. EN 1125a. Schmitz: Platon als Demokriteer. A. a. O. S. 36. Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 84, 98. Vgl. S.th. II–II, q. 161, a. 1, ad 3.

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Theoretische Grundlegung der Demut

steht die »Großgesinntheit« (lat. magnanimitas) ähnlich wie Aristoteles als ein »Sich-Ausstrecken des Geistes [der Gesinnung; Anm. des Übersetzers] auf Großes«. 194 Die Demut ordnet und zügelt das fälschliche hochmütige Streben, während die Großmut ein Interesse daran hat, das, was die Person tatsächlich leisten kann, auch umzusetzen. Pieper verdeutlicht dieses Verhältnis wie vor ihm schon Thomas am Beispiel der Hoffnung. Die »Hochgemutheit« oder auch »Großgesinntheit« verweist auf die »eigentlichen Möglichkeiten« des Menschen, während die Demut die Begrenztheit des eigenen Handlungsspielraums nicht vergessen lässt und vor »Schein-Verwirklichungen« bewahrt. 195 Bei Bernhard von Clairvaux ist es die Maria als »Mutter Gottes«, die ein Beispiel für das Zusammenspiel von Demut und Großgesinntheit gibt: »[…] [D]aß die Demut sie [die Auserwählten; J. P.] weder kleinmütig macht, noch die Großmut hochmütig. Vielmehr ergänzen sie einander, so daß sich durch die Großmut nicht nur keine Überheblichkeit einschleicht […]. Umgekehrt schleicht sich aufgrund der Demut keine Kleinmütigkeit ein […].« 196

Maria weiß, wie es im Lukasevangelium heißt, dass der »Herr« auf die »Niedrigkeit seiner Magd« geschaut, aber gleichzeitig »Großes« an ihr getan hat. 197 Einerseits hat Maria in Demut Kenntnis von ihrer Niedrigkeit im Angesicht eines Gottes, dessen Sohn sie austragen soll, aber gleichzeitig muss sie sich auch großmütig dafür fähig halten, diesen sie als Menschen übersteigenden Auftrag anzunehmen. Die Demut bewahrt Maria vor Allmachtsphantasien, die aus der ihr zugewiesenen Stellung resultieren könnten, wogegen die Großmut ihr eingibt, dass sie ihrer Pflicht würdig ist.

194

Vgl. S.th. II–II, q. 129, a. 1. Vgl. Pieper, Josef: Über die Hoffnung. In: Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. Werke Bd. 4. Hamburg 1996. S. 256–295, hier 265 f. 196 Clairvaux, Bernhard v.: Predigt zum Sonntag der Oktav von Mariä Himmelfahrt. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8. Innsbruck 1997. S. 595–619, hier 617. 197 Vgl. Lk 1, 48 f. Vgl. a. Häring: Demut als Weg der Liebe. A. a. O. S. 323. 195

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Demut und Selbstwert

An anderer Stelle gibt Bernhard mit einigen Worten zur Notwendigkeit der Selbstbesinnung den Gedanken preis, dass es für das Selbstverständnis jedes Menschen heilsam ist, auch der eigenen Person mit Liebe und Achtung zu begegnen, was ebenfalls eine selbstzerstörerische Demut ausschließt. Ich gebe diese Worte zugunsten ihrer Klarheit unkommentiert in einem Auszug wieder: »Wenn du vom gleichen Wunsch beseelt bist, für alle dazusein […], so lobe ich deine Menschenliebe, doch nur, wenn sie vollkommen ist. Wie kann sie aber vollkommen sein, wenn du ausgeschlossen bist? Auch du bist ein Mensch. Die Menschenliebe kann somit nur dann umfassend und vollständig sein, wenn das Herz, das alle umschließt, auch dich aufnimmt. Denn was nützt es dir sonst, wenn du alle gewinnst, wie der Herr sagt, nur dich selbst aber verlierst? […] Wer gegen sich selbst böse ist, gegen wen ist der gut? Achte also darauf, daß du dir – ich will nicht sagen, immer, nicht einmal häufig, doch dann und wann – Zeit für dich selber nimmst!« 198

Es sollte mit Blick auf Thomas und Bernhard deutlich geworden sein, dass auch die christliche Demut entschieden nicht mit Kleinmut verwechselt werden sollte. 199 Diese christlichen Denker 198

Clairvaux: Über die Besinnung an Papst Eugen. A. a. O. S. 641. In den »Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers«, deren erster Teil 1870 erstmals ohne Autor erschienen ist, stößt man auf die anschauliche Unterscheidung zwischen der Demut, die für den gläubigen Christen erforderlich ist, und der Kleinmut, die es strikt zu vermeiden gilt: »Professor: […] ›Und dann möchte ich noch sagen: es ist wahr, wenn mich auch das heilige Evangelium auf meiner Wanderung tröstet und meinen unreifen Geist erleuchtet, auch das kalte Herz erwärmt – so muß ich doch, meine Ohnmacht erkennend, aufrichtig sagen, daß die Bedingungen zur Durchführung der Werke der Frömmigkeit und der Erlangung der Erlösung, was doch, wie das vom Evangelium vorgeschrieben wird, völlige Selbstentsagung, heroische Askese, allertiefste Demut voraussetzt, mich erschüttern wegen der Erhabenheit des zu Erreichenden und wegen der mangelnden Herzenskraft. So stehe ich denn jetzt zwischen Verzweiflung und Hoffnung da und weiß nicht, was mit mir sein wird!‹ Shkimininik: ›Angesichts eines so besonderen Unterpfandes der wunderbaren Barmherzigkeit Gottes und im Hinblick auf Ihre wissenschaftliche Bildung wäre es nicht nur unverzeihlich, in Kleinmut zu verfallen, sondern es dürfte nicht einmal der Schatten eines Zweifels an Gottes Schutz und Beistand Ihre Seele befallen! Wissen Sie, was der von Gott erleuchtete Chrysostomos hierüber sagt? ›Keiner soll in Kleinmut verfallen‹ – so lehrt er –, und verleumderisch behaupten,

199

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Theoretische Grundlegung der Demut

sahen für den Menschen kein einseitiges Bestreben vor, das sich jeden Hang zur Größe grundsätzlich versagt, obwohl man zu mehr fähig wäre. Wer seine Lebensführung auf einen Glauben an einen Gott gründet, kann dies nicht ausschließlich aus einem Akt der Buße heraus tun, weil dieser jedes selbstbewusste Handeln hemmen muss. Deshalb betont Georg Wehrung noch im 20. Jahrhundert, dass die christliche Demut nur im Zusammenspiel mit einem ausgeprägten »Selbstgefühl« bestehen kann. 200 Die Demut als »Frucht« der »Besonnenheit« ist das Gegenteil vom Übersteigen des Maßes, die mit einem Stolz, der als Haltung den eigenen Wert kennt, vereinbar ist 201: »Wir dürfen durchaus zu Stolz erziehen, dem Heranwachsenden sagen: werde tüchtig, geh’ selbstständig deinen Weg, sei zu stolz, dich wegzuwerfen und gemein zu machen.« 202 Falsch ist dagegen nur das Abgleiten in die »Selbstüberhebung« der Eitelkeit, wenn zum Beispiel auch Christen »versucht« sind, sich als »Übermenschen« vorzukommen, wogegen die Demut ihnen ihre »wahre Stellung« und ihr »rechtes Verhältnis« zu den Mitmenschen aufzeigen möge. 203 Die Verteidigung der Demut im Verbund mit der Großgesinntheit stellt damit keine explizite Neuheit dar. Das Zusammenspiel dieser Tugenden ist im Christentum theoretisch seit Langem begründet, 204 die Gebote des Evangeliums seien nicht durchführbar oder ungeeignet zur Durchführung! Gott, der die Erlösung des Menschen von Anbeginn gewollt hat, hat ihm die Gebote sicherlich nicht in der Absicht gegeben, um ihn wegen der geringen Durchführungsmöglichkeiten derselben zum Verbrecher werden zu lassen.‹« O. A.: Aufrichtige Erzählung eines russischen Pilgers. Die vollständige Ausgabe. Übers. v. Reinhold von Walter. 20. Auflage. Freiburg 2020. S. 185 f. 200 Vgl. Wehrung: Selbstgefühl und Demut. A. a. O. S. 347 ff., 353. 201 Vgl. Wehrung: Selbstgefühl und Demut. A. a. O. S. 349; für die Besonnenheit vgl. dort a. S. 371 f. 202 Wehrung: Selbstgefühl und Demut. A. a. O. S. 350. 203 Vgl. Wehrung: Selbstgefühl und Demut. A. a. O. S. 354, 372. 204 Christoph Halbig hat sich in jüngerer Zeit einer »Apologie« der Demut im Verbund mit der Großgesinntheit gewidmet, fügt aber dem, was spätestens seit Thomas v. Aquin bekannt ist, im Wesentlichen nichts Neues hinzu. Vgl. Halbig, Christoph: Demut und Großgesinntheit. Apologie zweier schwieriger Tugenden. In: Liebe – eine Tugend? Das Dilemma der modernen Ethik und der verdrängte Status der Liebe. Hrsg. v. Winfried Rohr. Wiesbaden 2018. S. 335–356, hier 350.

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Demut und Selbstwert

wenn auch das christliche Selbstverständnis in der Lebenspraxis zum Teil andere Züge angenommen haben mag, wie es die Kritik nahelegte (I.2). Auch René Descartes betont als Philosoph im Anschluss an die christliche Tradition das Verhältnis zwischen dem »Edelmut« und einer »tugendhaften Demut«. »Wahrer Edelmut« lässt demnach einen Menschen in der Tradition der griechischen »megalopsychia« sich so hoch wertschätzen, »wie er es rechtmäßig kann«, wobei die Edelmütigsten oftmals auch die Demütigsten sein sollen. 205 Die »tugendhafte Demut« besteht für Descartes im Bewusstsein der »Ungefestigtheit unserer Natur« und dem Eingestehen der Fehler, die ein Mensch in der Vergangenheit gemacht hat und in der Zukunft machen wird. Dadurch denkt man sich gegenüber niemand anderem bevorzugt und weiß gleichzeitig darum, dass die anderen von der eigenen »freien Willkür« jederzeit auch »guten Gebrauch« machen können. 206 Hinter dem Wissen um die »freie Willkür« des Individuums steckt nicht nur die Annahme, dass wir grundsätzlich fehlbare Geschöpfe sind, sondern auch der Glaube daran, dass die Menschen auch jederzeit dazu bereit sein könnten, ihr Handeln nach guten Absichten auszurichten. Diese tugendhafte Demut besinnt sich somit auf eine Beschaffenheit, die allen Menschen gleichermaßen zukommt: Wir sind als Menschen fehlbare und verletzliche Wesen, aber gleichzeitig mit einem Vermögen ausgestattet, das es uns potentiell erlaubt, unser Verhalten zu korrigieren. Der Demütige erkennt, dass er als Mensch sein Unvermögen in jeglicher Hinsicht niemals vollkommen ablegen kann, was ihm auch ein Verständnis zur gegenseitigen Rücksichtnahme eröffnet. Gleichzeitig kann er aber als »Edelmütiger« alles daran setzen, damit einen produktiven Umgang zu finden, ohne ohnmächtig zu resignieren. In Abgrenzung dazu bestimmt Descartes die »lasterhafte Demut« als eine »Unterwürfigkeit«, die dem Edelmut entgegengesetzt ist, weil man sich so »schwach« und »wenig entschlossen« 205

Descartes, René: Die Passionen der Seele. Übers. v. Christian Wohlers. Hamburg 2014. S. 94 (Artikel 153), 95 (Artikel 155). 206 Vgl. Descartes: Die Passionen der Seele. A. a. O. S. 95 (Artikel 155).

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Theoretische Grundlegung der Demut

fühlt, »als ob man keinen vollständigen Gebrauch von seiner freien Willkür machen könnte«. 207 Eine »lasterhafte« Demut, durch die man in reiner Selbsterniedrigung und Willenlosigkeit von der vollkommenen Unfähigkeit seiner selbst ausgeht, kann dementsprechend auch kein Korrektiv für ein sinnvolles Handeln sein, weil sie das Selbstwertstreben überhaupt verneint. Ähnlich wie Spinoza unterstellte (I.2.1), läge dann eine Demut vor, die bloß in ihrer eigenen Ohnmacht verweilt, aber kein Streben zulässt, das die Situation verändern könnte, weil man sich aus fehlender Einsicht dazu nicht in der Lage fühlt. Dagegen bewirkt die tugendhafte Demut in Descartes’ Sinne sowohl die Anerkennung der menschlichen Laster als auch ein eigenmächtiges Handeln, sodass dem Hochmut wie auch dem Kleinmut ein Riegel vorgeschoben wird. In Nicolai Hartmanns »Ethik« (1925) ist dieser Gedanke später wieder ähnlich anzutreffen: »Echte Demut dagegen widerspricht weder der Würde des Menschen noch dem berechtigen Stolz […]. Schließlich ist eben das der Sinn echten sittlichen Stolzes, sich am unerreichbar Hohen und Absoluten zu messen.« 208 Der Demütige und der berechtigt Stolze haben ein unerreichbar hohes und vollkommenes Ideal (II.5.2) vor Augen, an dem sie sich messen. Der Demütige betont seine Unvollkommenheit im Gegensatz zum »Absoluten«, während der berechtigt Stolze sich daran wagt, das Unerreichbare möglich zu machen, wenn er auch darum weiß, dass es nie gelingen mag; beide wissen damit um ihre Stellung zum »unerreichbar Hohen«. Deshalb ergibt sich für Hartmann zwischen diesen beiden Tugenden auch keine »Wertantinomie«, sondern sie können im Gegenteil sogar nur in der Synthese bestehen. 209 Es bleiben aber, so Hartmann, »gefährliche Tugenden«, weil die Gefahr besteht, dass ihr Verhältnis zueinander fehlschlägt, wenn der Stolz ohne Demut zum Hochmut wird 207

Descartes: Die Passionen der Seele. A. a. O. S. 97 (Artikel 159). Hartmann, Nicolai: Ethik. 4. Auflage. Berlin 1962. S. 477. Anders sieht es wiederum Bollnow, für den sich Demut und Stolz grundsätzlich ausschließen. Vgl. Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. A. a. O. S. 224. 209 Vgl. Hartmann: Ethik. A. a. O. S. 446, 477. 208

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Demut und Selbstwert

und die Demut ohne Stolz der Würdelosigkeit die Türen öffnet. 210 Worauf es demnach ankommen muss, ist ein Verhältnis zu finden, in dem sich beide Tugenden die Waage halten. Dafür unterstellt Hartmann, dass auch der »berechtigt Stolze«, der sich im Sinne von Aristoteles’ »megalopsychia« für große Dinge wert erachtet und es auch wirklich ist, immer noch etwas finden muss, wovor er sich in Demut beugen muss. 211 Umgekehrt muss dagegen der Demütige, der nicht würdelos werden will, noch etwas »an sich« finden, »worauf er etwas hält«. 212 Unter gänzlich anderen Gesichtspunkten, aber nicht weniger aufschlussreich, macht Johann Gottlieb Fichte in seiner Unterscheidung zwischen der Vermessenheit und der »gar nicht lobenswürdigen Demut« auf die Möglichkeit einer Verfehlung dieses Verhältnisses aufmerksam: »Verrechnet er sich, indem er seine Kräfte überschätzt, so ist dies noch etwas Schlimmeres als Hochmut; es ist Vermessenheit. Schlägt er sie nicht genug an, und unterläßt, zu dessen Ausführung er berufen, so ist das gar nicht lobenswürdige Demut, sondern sehr tadelnswürdige Feigheit und Faulheit; denn der Mensch soll schlechthin, was er kann.« 213

Wenn die Demut dagegen lobenswürdig ausfallen soll – so wissen wir schon von der christlichen Tradition – muss sie in einem maßvollen Wissen um das eigene Unvermögen fundiert sein und gleichzeitig der Person die Möglichkeit lassen, das auch ihr würdige Vermögen auszuleben. Von der nötigen Anerkennung des Selbstwertes weiß auch Goethe, wenn es in seinem Gedicht »Selbstgefühl« heißt: »Jeder ist doch auch ein Mensch!! –/ Wenn er sich gewahrtet,/ Sieht er, daß Natur an ihm/ Wahrlich nicht gesparet,/ Daß er manche Lust

210

Vgl. Hartmann: Ethik. A. a. O. S. 477. Vgl. Hartmann: Ethik. A. a. O. S. 446. 212 Vgl. ebd. 213 Fichte, Johann Gottlieb: Zu »Jacobi an Fichte«. In: Ders.: Werke. Auswahl in sechs Bänden. Bd. 6. Hrsg. v. Fritz Medicus. Leipzig 1910. S. 357–363, hier 362. 211

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Theoretische Grundlegung der Demut

und Pein/ Trägt als er und eigen./ Sollt er nicht auch hinterdrein /Wohlgemut sich zeigen?« 214

Wie oben Bernhard von Clairvaux seinem Papst Eugen III. in Erinnerung rief, dass auch er ein Mensch sei, der die allumfassende Menschenliebe verdient hat, vermittelt auch Goethe seinen Lesern diese Notwendigkeit auf nochmals eigene Weise. Ist der Mensch zur Anerkennung seines Selbstwertes bereit, muss er zwangsläufig in seiner persönlichen Situation auch erkennen, welche Vorzüge oder achtenswerten Fähigkeiten er besitzt. Dass auch korrekturbedürftige oder tadelnswerte »Lust« oder »Pein« zu ihm gehören, muss seinem Selbstwert insgesamt noch keinen Abbruch tun. Goethe zeichnet das Bild eines Menschen, der seine persönliche Beschaffenheit als sein »Eigen« »trägt« und dabei sowohl zu den Lastern als auch zu dem steht, woran die »Natur« an »ihm« im wohlwollenden Sinne nicht »gespart« hat. Um aber etwas zu finden, auf das man, wie Hartmann fordert, auch in der Demut etwas geben kann und sich auch im Stolz noch verbeugen muss, bedarf es der Besonnenheit (II.4.2.2), durch die eine Person in der Lage ist, diese Werte in der persönlichen Situation oder auch am Mitmenschen zu entdecken (II.5.5.2). Nicht weniger wirksam ist dafür die »prüfende Vernunft« auf dem höchsten Niveau der »personalen Emanzipation«, auf dem sich die Person, so weit es möglich ist, von ihrer Befangenheit von einem Eindruck oder einem Gefühl distanziert hat. 215 Die Person muss auf Grundlage dieses Vernunftvermögens den Anspruch der Demut als Norm eines Gefühls mit unbedingtem Ernst (II.4.1.3) abweisen oder die triftigen Gründe aus der Besinnung (II.4.2) widerlegen und hat dann, »wenn das nicht gelingt, die Waffen zu strecken und sich der vollen Hingabe an das Gebotene zu öffnen, wie der ehrliche Mensch der Stimme seines kri-

214 Goethe: Selbstgefühl. In: Ders.: Werke in 12 Bänden. Bd. 1: Gedichte I. A. a. O. S. 397 f. 215 Vgl. Schmitz, Hermann: Wie der Mensch zur Welt kommt. Freiburg 2019. S. 54, 60; Vgl. Ders.: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 141 f.; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 348.

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tisch geprüften Gewissens gegenüber« 216. Sicher ist auch dieses Vermögen zur kritischen Stellungnahme fehlbar, wie es langfristig jede Entscheidung hinsichtlich einer offenen und ungewissen Zukunft sein muss. Mit der Haltung der Großgesinntheit und der Fähigkeit zur prüfenden Vernunft sind den Kritikern der Demut (I.2) damit zumindest zwei Korrektive entgegengesetzt, welche die Gefahren dieser im Christentum oftmals zu einseitig verstandenen Haltung korrigieren. Somit ist die Demut Teil eines menschlichen Selbstverständnisses, das auch die Selbstachtung und das Potential der Person zur Geltung kommen lässt. Falsch ist es dagegen, anzunehmen, dass mit der Demut stets das ganze Menschsein eine vollkommene und unabdingbare Ablehnung erfahren muss. Der Demütige weiß um seine Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit, was, wie schon oben betont, nicht den falschen Schluss zur Folge haben sollte, dass er ausschließlich diese Seiten seines Vermögens bis zur Selbstzerstörung behauptet. Eine Demut, die sich im Bewusstsein um die eigene Kritikfähigkeit neben die Großgesinntheit und die Besonnenheit gesellt, wird immer um ein Maß wissen, das sie vor selbstzerstörerischen Ausschweifungen bewahrt. II.4.4 Vom Wert zur Haltung Bis hier unterlagen die Quellen der Demut einer Untersuchung (II.4.1, II.4.2) und ihre Gefahren (II.4.2.3) fanden erneut Beachtung, wogegen die Besonnenheit (II.4.2.2) sowie die Großgesinntheit (II.4.3) ein ausgleichendes Mittel zur Selbstachtung darstellten. Um die theoretische Grundlegung der Demut abzuschließen, bedarf es einer Rechtfertigung, inwiefern sie abschließend als eine Haltung zu verstehen ist. Schon früh im Christentum verhandelte man die Demut als eine Tugend, die einen gesonderten Platz einnahm (I.3.3). Wer dieses Verhältnis würdig begründen möchte, muss sich einerseits in philosophischer und

216

Schmitz: Wie der Mensch zur Welt kommt. A. a. O. S. 60.

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christlicher Tradition vergewissern, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um explizit von einer Tugend sprechen zu können, um andererseits zu zeigen, dass die Demut diesen Bestimmungen gerecht wird. Dieses Vorgehen ist nicht falsch, wenn man sich zum Beispiel vor diesen traditionellen Ausdeutungen Rechenschaft ablegen will. Wenn ich diesen Weg nicht gehe und die Demut stattdessen in Abgrenzung als eine Haltung bezeichne, soll damit deutlich werden, dass es mir für die hier vorgenommene theoretische Grundlegung nicht auf ein Tugendverständnis ankommt, das die Demut als ein Ideal sittlichen Verdienstes auszeichnen möchte, auf dessen Grundlage zum Beispiel ein möglichst vollkommenes oder glückliches Leben gelingen kann. Statt den dafür nötigen Diskurs mit der Tugendethik zu führen, möge aus phänomenologischer Perspektive ein Weg nachvollzogen werden, der von einschlägigen Erfahrungen hin zu einer ausgeprägten Grundhaltung einer Person reicht. Dafür ist es nicht nötig, im strengen Sinn von einer Tugend auszugehen. In Anknüpfung an II.4.1.3 ist stattdessen zu begründen, inwiefern die Demut als Wert über eine Erfahrung hinaus Geltung beanspruchen und in der Fassung eines Menschen seinen handlungsleitenden Charakter bewahren kann. Die Zuschreibung von Werten geht ursprünglich und wesentlich auf spürbare Erfahrungen zurück, die, so Schmitz, »den Menschen emotional stark heimsuchen« und den Betroffenen deshalb eine Wertung abnötigen. 217 Werte sind deshalb »Markierungen von Wertungen (im Sinne günstiger Stellungnahmen), die den Menschen durch die Autorität von Gefühlen mittels verbindlich geltender Normen abverlangt werden«. 218 Es handelt sich um »Reflexe« von Wertungen durch die Autorität eines Gefühls, das eine Stellungnahme erzwingt: »Werte werden also von Menschen erwertet; sie sind Reflexe von Wertungen, aber nicht von solchen, die den Menschen belieben, son-

217

Vgl. Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 707. 218 Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 194.

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dern von solchen, die ihnen durch die Verbindlichkeit stiftende Macht von Gefühlen auferlegt werden.« 219

Im Fall der Demut besteht die wertende Stellungnahme im Angesicht einer konkreten Erfahrung in der Anerkennung der eigenen Begrenztheit, Abhängigkeit und Machtlosigkeit. Entsprechende Erfahrungen, die als Ursprung für den Wert der Demut infrage kommen, wurden bereits beleuchtet (II.4.1.1). Durch die Norm eines Gefühls mit der Autorität unbedingten Ernstes wird einer Person abgenötigt, sich in ihrer Situation oder gesamten Beschaffenheit als begrenzt, abhängig und machtlos zu verstehen (II.4.1.3). Als Wert »Demut« wird diese Wertung einer Person oder einer ganzen Gemeinschaft in der persönlichen oder gemeinsamen Situation auf ganz verschiedene Weise (z. B. als Grundhaltung, formalisierte Regel oder lockere Konvention) langfristig »fixiert« oder »fest-gesetzt« und damit handlungsbestimmend. 220 Die Norm des Gefühls mit der darauffolgenden Wertung der Person ist im Wert über die unmittelbare Erfahrung hinaus gewissermaßen »konserviert« und in eine dauerhafte Stellungnahme integriert. Werte bilden auf diese Weise ein bestimmtes Leitbild in der Lebensführung ganzer Kulturen, Gemeinschaften oder Institutionen. Die Entstehung des Wertes kann dabei ganz unwillkürlich und unbemerkt vonstattengehen. 221 219

Ebd. Vgl. a.: Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 717. 220 Das von der Neuen Phänomenologie entwickelte ontologische Konzept der Situation wird in II.5.5.2 entfaltet und erklärt. 221 In seinem Buch »Die Entstehung der Werte« führt Hans Joas die Werte auf »Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz« zurück. Seine Analysen der Wertentstehung bezogen sich z. B. auf die »Konversion und das Gebot«, »kollektive Ekstasen«, »nationalistische Kriegsbegeisterung«, »die Konfrontation mit dem Tod, Scham und Schuld, Reue und Demut« oder die »Öffnung des Selbst im Gespräch und im Erlebnis der Natur«. Joas, Hans: Die Entstehung der Werte. 8. Auflage. Frankfurt am Main 2019. S. 10, 227, 256. Viele dieser Erfahrungen könnten auch in den hier vorgenommenen Analysen ihren Platz finden. Mit Schmitz kann noch spezifischer bestimmt werden, was das Gemeinsame all der von Joas herangezogenen Erfahrungen ist, auf deren Grundlage Wertungen und die daraus entstehenden Werte ihre verbindliche Geltung beziehen. Es handelt sich um die Gemeinsamkeit der Autorität verschiedenster Gefühle, die dem Be-

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Das soll jedoch nicht bedeuten, dass die Werte einfach in »Reinform« vom Anspruch eines Gefühls übernommen werden. Mindestens genauso entscheidend ist die dazugehörige Stellungnahme einer Person oder eines ganzen Kollektivs. Diese Auseinandersetzung muss sich nicht auf den unmittelbaren Zeitraum der Ergriffenheit beschränken, sondern wird vielmehr längerfristig und darauf aufbauend Legitimierungsversuche mit einschließen, die Wert und Wertung in theoretischer Hinsicht fundieren wollen. Die Wertfindung hat damit mindestens zwei Seiten, nämlich einerseits die Komponente des Gefühls mit einer entsprechenden Norm und andererseits die wertende Stellungnahme der Person oder der Gemeinschaft, die in der vereinzelten oder gemeinsamen Prüfung des Erlebnisses erbracht wird. Vor allem an zweiter Stelle findet auch die Besinnung als zweite Quelle der Demut ihren Platz (II.4.2). Sie gewährleistet, dass auch der nicht von einer unmittelbaren Erfahrung Betroffene ein Verständnis für Werte wie den der Demut gewinnen oder sich für die in diesem Zusammenhang stehenden Ereignisse (II.4.1.1) offen und wachsam halten kann. Der Demütige ist somit – zumindest theoretisch – nicht unmittelbar auf eine Erfahrung angewiesen, um den Wert »Demut« anzuerkennen oder ihm in seiner Haltung Ausdruck zu verleihen. Die dem zugrundeliegende Unterscheidung zwischen »Betroffenheit« und »Besinnung« als Quellen der Demut kann jedoch nur einen idealtypischen Charakter haben, da sie sich in Reinform aus phänomenologischer Perspektive kaum auseinanderhalten lassen werden. Der Wert der Demut geht in eine Haltung über, wenn er im Selbstverständnis einer Person einen grundsätzlich handlungsleitenden Charakter erhält. Der Demütige ist dann auf eine seiner Situation angemessenen Weise, die dementsprechend variieren wird, bereit, sich zu seiner Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit in Wort und Tat zu bekennen. Eine christliche Variante dieser Haltung haben wir zum Beispiel anhand der »Regel troffenen eine bestimmte Wertung im Rahmen einer Stellungnahme abverlangen und denen eine bestimme Verbindlichkeit (z. B. bedingt oder unbedingt) inhärent ist (II.4.1.3).

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des heiligen Benedikt« (I.3.4) bereits kennengelernt. Dort wurde die Demut zu einem grundlegenden Lebensstil erhoben, der nahezu keine Verhaltensweise der Person unberücksichtigt ließ. Exemplarisch ist die Demut dann fester Bestandteil einer ganzheitlichen Lebensweise, die vor allem im Christentum das Selbstverständnis des Mönchtums prägte. Wer die Demut allerdings als einzig handlungsleitenden Wert seiner Lebensausrichtung begreift, lebt gefährlich, weil damit die Selbstachtung der Person grundsätzlich infrage gestellt ist, wenn nicht eine Haltung wie die Großgesinntheit (II.4.3) auch auf das Potential der Person verweist. Wie am Beispiel Ludwig Wittgensteins verdeutlicht (II.4.2.3), ist es deshalb nicht ratsam, die Demut als einzig erstrebenswerte Haltung der Person auszuzeichnen. Stattdessen empfiehlt es sich, einen »Sinn für Angemessenheit« auszubilden, der nach der Relevanz der Demut fragt, woran nicht zuletzt auch die Besonnenheit der Person ihren Anteil hat (II.4.2.2). Die Verortung dieses »Sinnes« macht auch das hier präferierte Verständnis von einer »Haltung« ersichtlich. Der »Sinn für Angemessenheit« versucht als »emotionale Disposition« die Bedeutsamkeiten in einer Situation wahrzunehmen und zu spüren, inwiefern uns das Gegebene angeht. 222 Auf diese Weise versucht eine Person, ihre handlungsleitenden Stellungnahmen zu ihren Gefühlen (II.4.1.3) oder Standpunkten (II.4.2) der Situation entsprechend angemessen abzustimmen. Man stelle sich zum Beispiel eine Situation vor, in der eine Person eine Prüfung erfolgreich bestanden hat, aber ihre Erfolgsnachricht aus Respekt vor einem Freund zurückhält, dem es bei seinem Examen weniger gut erging. Die Angemessenheit der Demut, nach der sie sich auch als eine Haltung äußert, muss, wenn sie nicht in die Einseitigkeit und Absolutheit abrutschen soll, im Rahmen der eigenen Fassung durch das in ihr verankerte »Taktgefühl« erschlossen werden. In alltäglichen Auseinandersetzungen hört 222

Vgl. Landweer, Hilge: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik. In: Gefühle als Atmosphären: Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Hrsg. v. Kerstin Andermann u. Undine Eberlein. Berlin 2011. S. 57–78, hier 58, 66.

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man vom Begriff der »Fassung«, wenn jemand zum Beispiel beteuert, die Fassung mit Mühe »bewahrt« oder beinahe »verloren« zu haben. Was die Fassung in dieser Hinsicht leistet, kommt oftmals erst dann zur Geltung, wenn man ihrer verlustig gegangen ist. Deshalb legt der Phänomenologe Schmitz, wenn er sagt, die »Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert«, 223 auch keine Begriffsbestimmung vor, sondern er zeigt damit vielmehr die stabilisierende Rolle der Fassung in der Lebenserfahrung auf. Mit seiner Fassung gibt sich der Mensch eine »Form«, durch die er sich gegenüber seinen Mitmenschen behauptet. 224 Durch die Fassung als Ganzheit hält man zum Beispiel dem Blick des Mitmenschen etwas entgegen. 225 Ein höflicher Gesprächspartner kann seine Fassung in der Konfrontation mit einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Peinlichkeit seines Gegenübers wahren, wenn er sich zum Beispiel von dem Fauxpas nichts anmerken lässt, indem er weiter mit einem freundlichen Blick versucht, das Gespräch fortzuführen. Die Fassung hat in dieser Situation eine stabilisierende Funktion, wenn man sich als jemand bestimmtes, zum Beispiel als höflichen Diskussionsteilnehmer, gibt. Der »Inhalt« der Fassung ist unter anderem durch die Berufsund Familienrollen einer Person bestimmt. 226 Die der Fassung inhärenten Rollen, die an ihnen haftenden Erwartungen und das entsprechende Auftreten im gemeinschaftlichen Umgang variieren bei einer Person stark, wenn sie zum Beispiel jeweils Mutter, Professorin oder Fußballspielerin ist. Unter die Fassung fällt auch die »innere Haltung«, mit der »die Person allen Zumutungen, die an sie herankommen, entgegentritt«. 227 Mit Jörg Zutts Charakterisierung der »inneren Haltung« nach ihren »Grundhaltungen« lässt sich abschließend auch die Demut verorten:

223

Schmitz, Hermann: selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg/München 2015. S. 133. 224 Vgl. Schmitz, Hermann: Fassung (Unveröffentlichtes Manuskript). S. 5. 225 Vgl. Schmitz: Fassung (Unveröffentlichtes Manuskript). S. 6. 226 Vgl. Schmitz: selbst sein. A. a. O. S. 133. 227 Vgl. Schmitz, Hermann: Zur Epigenese der Person. Freiburg/München 2017. S. 29 f.

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»Manche Haltungen, die aus bestimmten Wesenszügen hervorgehen, können fast dauernd die innere Haltung und damit das Handeln eines Menschen bestimmen: so Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit. Aus diesen Grundhaltungen heraus entwickeln sich die Nuancen von Einzelhaltungen, wie z. B. Entgegenkommen, Abweisen, Begrüßen, Verabschieden.« 228

Die Demut ist auf Grundlage einer Erfahrung (II.4.1) oder einer Besinnung (II.4.2) eine ebensolche Haltung in der Fassung der Person. Eine solche Haltung kann sich unwillkürlich zum Beispiel durch die soeben herausgestellten Wertungen und Werte herausbilden und behaupten. Von dieser Haltung gewinnt man durch signifikante Charakterzüge einer Person einen Eindruck, die zum Beispiel demütig von ihrem Ideal spricht (II.5.2), oder die bereitwillig in welcher Hinsicht auch immer ihren Mitmenschen den Vortritt lässt. Die Verankerung der Demut als eine Haltung in der Fassung bewahrt einen Menschen dazu auch vor dem schon in I.2.3 beleuchteten Vorwurf der Heuchelei. Schon Thomas von Aquin (I.3.6) hatte aus christlicher Perspektive betont, dass für die Demut nicht nur das »äußere« Auftreten, sondern auch eine »innere Entscheidung« wesentlich ist. Dieser »Wille zur Demut« 229 muss sich auch in der Fassung niederschlagen, sodass sie als Haltung zu einem Wesenszug der Person werden kann. Dabei verwischen jedoch die Grenzen zwischen dem willkürlichen Einnehmen dieser Haltung und ihrem unwillkürlichen oder unverfügbaren (II.5.3) Anteil, der sich nicht gezielt gegeben wird, sondern, ohne es sich zurecht gelegt zu haben, Teil der Fassung ist. Die »Beweglichkeit« ihrer Fassung kann eine Person ansatzweise »steuern«. Dies ist der Fall, wenn die Fassung als »Fühler der Einleibung« im zwischenmenschlichen Kontakt den anderen

228

Zutt, Jörg: Die innere Haltung. In: Ders.: Auf dem Wege zu einer Anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze. Berlin et. al. 1963. S. 1–88, hier 14. 229 Vgl. für den Willen zur Demut in modernen Interpretationen: Seiss: Mut und Demut im Leben Jesu nach dem Zeugnis des Evangeliums. A. a. O. S. 149; Cohausz: Stolze Selbsterhebung oder christlich-demütige Selbstbescheidung? A. a. O. S. 673; Buytendijk, F. J. J.: Erziehung zur Demut. Betrachtungen über einige moderne pädagogische Ideen. Ratingen 1962. S. 29 f.

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und dessen Anspruch am eigenen Leib spüren lässt. 230 Dieses leibliche Spüren ist beispielsweise im Kontakt mit einem Gesprächspartner anzutreffen, von dessen Blicken man sich »angeregt« oder »beschämt« fühlt. Mit der Fähigkeit des »Eingehenkönnens« 231 auf den anderen stimmt eine Person ihre Fassung und ihre entsprechenden Haltungen auf die Situation ab. Die Fassung beherbergt dafür auch den oben bereits eingeführten »Sinn für Angemessenheit«, wenn man sein Verhalten der Situation entsprechend abwägt. Dieses Gespür kann nicht nur die Gefahren der Demut (I.2) eindämmen, sondern dessen Ausgeprägtheit ist auch ausschlaggebend für die Empfänglichkeit für das Atmosphärische in einer Situation (II.4.1.1, II.4.1.3). Ob jemand demütig wird, hängt deshalb auch – aber nicht nur – von der Bereitschaft ab, sich von einem Gefühl ergreifen lassen zu wollen. Dazu gesellt sich die nötige Offenheit zur gewissenhaften Auseinandersetzung mit der von der Erfahrung abgenötigten Norm, mit der man einen Umgang finden will (II.4.2.2). So kann man ansatzweise erklären, warum zum Beispiel manche Menschen im Angesicht eines Naturschauspiels zur Demut finden, während diese Erfahrung bei anderen nicht einmal auf Interesse stößt. Vermutlich liegt auch hier ein Grund, warum die Demut ihren Wert eingebüßt hat. Denn wer nach dem modernen Selbstverständnis hinter der eigenen Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit kategorisch seine bedingungslose Unterwerfung vermutet (I.2), die seine persönliche Freiheit bedroht, wird keine Offenheit für die entsprechenden Erfahrungen aufbringen können (II.6). Das hat zur Folge, dass auch die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der im Gefühl fundierten Norm unterbunden wird, weil man die Selbstbehauptung der Person in jedem Fall als wichtiger versteht. Anzuerkennen, dass es etwas geben mag, das über den Willen der eigenen Person hinausgeht, ist dann die Ausnahme. Das fehlende Gespür für die Angemessenheit der Demut ist darüber hinaus auch auf ihre einseitige Verortung in den religiösen Kontext zurückzuführen. Traditionell gesehen mag diese 230 231

Vgl. Schmitz: selbst sein. A. a. O. S. 134, 223. Vgl. Schmitz: Fassung (Unveröffentlichtes Manuskript). S. 7.

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Vom Wert zur Haltung

Deutung nahe liegen, aber schon der Erfahrungsreichtum der Demut wie auch ihre verschiedenen Arten (II.5) lassen ihre Relevanz wesentlich weiter fassen. Versteht man die Demut dagegen als ausschließlich religiöse Angelegenheit, von der man sich auf Grundlage eines säkularen Selbstverständnisses freihalten möchte, wird man den für sie relevanten Erfahrungen verschlossener und dem Potential dieser Haltung mit weniger Verständnis begegnen können. Diese Offenheit variiert nicht zuletzt zwischen verschiedenen Kulturen, Religionen und Gemeinschaften. Wenn daneben zum Beispiel Terroristen welcher Gruppierung auch immer die jahrtausendealten Bauwerke einer anderen Kultur nicht demütig anerkennen wollen und sie darüber hinaus in die Luft sprengen, steht damit auch das fehlende Gespür für das ihnen Widerstreitende in Verbindung. Was den Tätern aber nicht weniger fehlt, ist das Gespür zum Anstoß für eine Besinnung (II.4.2), welche für die Demut ebenfalls einen Ausgangspunkt bildet. Auch die Offenheit und Bereitschaft zur Selbstverortung, durch die man sein Verhältnis zur Umgebung grundsätzlich hinterfragt, ist eine Bedingung für das demütige Handeln. Hier gilt ebenfalls für den, dem der Takt im zwischenmenschlichen oder andersartigen Umgang fehlt, weil ihm stets die Durchsetzung der eigenen Interessen wichtiger ist, dass er in Goethes Sinne (II.4.2.2) immer nur der gewissenlos Handelnde sein wird, der sein Gewissen in der Besinnung nicht erprobt. 232 Ob und inwiefern jemand den Wert der Demut als Haltung in seine Fassung verankert hat, hängt somit wesentlich mit der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit einem Gefühl (II.4.1) und mit einem »Sinn« für die Situation zusammen, durch den man auf angemessene Weise sein Verhältnis zur Umgebung hinterfragt (II.4.2). Ein konkreteres Vorgehen für dieses praktische Können vermag ich nicht anzugeben. Die Arten der Demut sollen stattdessen einen Anstoß für die Ausbildung dieses Vermögens liefern (II.5).

232

Vgl. Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 464.

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Theoretische Grundlegung der Demut

II.4.5 Die Demut zwischen Erfahrung und Lebensweise Die Begriffserschließung der Demut hat aufsteigend vom Boden der unwillkürlichen Lebenserfahrung bis hin zu ihrer Ausprägung als Haltung verschiedene Stadien durchlaufen. Zum Abschluss der theoretischen Grundlegung ist nun nach einer erneuten Zusammenfassung der Erkenntnisse eine Begriffsbestimmung vorzulegen. In der spürbaren Betroffenheit hat die Demut eine ihrer ausschlaggebenden Quellen gefunden. Darunter fallen zum Beispiel Erfahrungen, die von einem Naturschauspiel über die Liebe bis hin zum nahenden Tod reichen können, sodass den Betroffenen eine Autorität, die ich mit Rilke als »Übergroßes« bezeichnet habe, spürbar so nahe geht, dass sie sich zu ihrer Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit bekennen müssen (II.4.1.1). Die Demut hat dann ihre Quelle in der Ergriffenheit von einem Gefühl. Den Gefühlen ist eine Norm mit einer Autorität des unbedingten Ernstes inhärent, durch die sich eine Person trotz gewissenhafter Prüfung auf dem höchsten Niveau ihres Distanzierungsvermögens eingestehen muss, dass sie abhängig, begrenzt und machtlos ist (II.4.1.3). Entscheidend ist für diese Stellungnahme deshalb kein notwendiges Gottesbild (I.3), sondern vielmehr die Geltungskraft eines Gefühls im Rahmen von Erfahrungen, die auf einen religiösen Hintergrund nicht angewiesen sind. Demütig wird eine Person aber nicht vor dem jeweiligen Gefühl, sondern zum Beispiel vor einem Menschen, einem Ort, einer Landschaft oder einem »Gott«, auf die sich das Gefühl zentriert. Diese Quelle verstehe ich als »ursprünglich«, weil sie nicht nur hinsichtlich ihrer Geltungskraft der Lebenserfahrung grundsätzlich näher kommt, sondern auch, weil sie erst den Anstoß für die zweite Quelle der Demut als Besinnung liefern kann, aber nicht muss. Mit der Besinnung findet eine Person durch eine eigenständige Praxis der Selbstverortung oder Selbsterkenntnis zu einer Norm, welche die Stellungnahme der Person bezüglich ihrer Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit begünstigt. In diesem Fall tritt an die Stelle der Autorität eines Gefühls die weitestgehend 200 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Die Demut zwischen Erfahrung und Lebensweise

unbefangene, aber nicht unwillkürlich abgenötigte Gewinnung der Demut. Im Rahmen der Selbstbetrachtung, der nicht zwingend eine Erfahrung als Ausgangspunkt vorhergehen muss, ist die Besonnenheit, die schon im Christentum von Bedeutung war (II.4.2.1), der Prüfstein dafür, maßvoll Einsicht in die Gründe für die Demut zu nehmen (II.4.2.2). Weil daneben auch die Großgesinntheit (II.4.3) nach der Angemessenheit der Demut fragt sowie einen Raum für die Selbstachtung oder andere Werte in der persönlichen Situation schafft, kann diese Haltung vor einer maßlosen Praxis der Selbsterniedrigung (II.4.2.3) bewahren. Die demütige Stellungnahme kann über die unmittelbare Erfahrung oder Besinnung hinaus als eine grundsätzliche Wertung in das Selbstverständnis einer Person oder ganzer Gemeinschaften einwachsen. Auf diese Weise ist die Demut einem ursprünglichen Erlebnis enthoben und zu einem langfristigen Wert hypostasiert (II.4.4, II.5.2). Dieser kann wiederum zum Leitbild einer Haltung in der Fassung eines Menschen werden, wobei die Grenzen zwischen den willkürlichen und unwillkürlichen Anteilen dieses Prozesses stark verwischen. Das Taktgefühl der Fassung ergründet in Verbindung mit einem »Sinn für Angemessenheit« die Relevanz und das Maß der Demut in der jeweiligen Situation (II.4.4). Erst wenn die Demut somit als Haltung in die Fassung eingegangen ist, hat sie den Weg von ihren Quellen über ihre Generierung zu einem Wert bis hin zur vielseitigen Lebensweise zurückgelegt. Darunter ist jener Hergang zu verstehen, den Otto als »Rationalisierung« und »Versittlichung« einer Erfahrung bezeichnet hat (II.4.1.2). Ich definiere damit die Demut als eine in der Fassung verankerte Haltung, mit der eine Person ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit hinsichtlich ihres Wissens und Könnens grundlegend anerkennt. In Demut sieht man auf diese Weise ein, dass etwas »Übergroßes« oder »Übermächtiges« den eigenen Handlungsund Ermessensspielraum wesentlich begrenzt und überschreitet. Die dafür aus der christlichen Perspektive relevanten Bezüge fanden im ersten Teil bereits eine Betrachtung (I.3). Die nun folgenden Arten der Demut sollen neue Möglichkeiten ihrer Ausgestaltung aufzeigen. 201 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

II.5 Arten der Demut

Lange blieben die konkreten Bezüge der Demut – abgesehen von ihrem Erfahrungsreichtum (II.4.1.1) und der christlichen Tradition (I.3) – zugunsten ihrer theoretischen Grundlegung vernachlässigt. Nun mögen mit den Arten der Demut einige Vorschläge erarbeitet werden, die sowohl Erfahrungsmomente (II.4.1) als auch Besinnungsanstöße (II.4.2) für ein demütiges Handeln in der Moderne reflektieren. Sie sollen zugleich verdeutlichen, inwiefern diese Haltung auch in der Gegenwart ihren Wert verdient. Um zu gewährleisten, dass im Folgenden auch weiterhin von Demut die Rede sein kann, die nur in verschiedenen Facetten beleuchtet wird, muss stets auf die in der theoretischen Grundlegung erarbeiteten Einsichten rekurriert werden. Deshalb kommen mit jeder Art nicht nur die Quellen hinsichtlich einer Erfahrung oder einer Besinnung zur Sprache, sondern auch die drei Kernmomente der Demut als Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit (II.4.1.1) in der jeweils auszubuchstabierenden Hinsicht. Daneben fließen jedoch auch ethische oder kulturkritische Überlegungen mit ein, die über die eben geleisteten phänomenologischen Analysen hinausgehen. Auf Grundlage der bereits erarbeiteten traditionellen Deutungen umfasst die erste Art der Demut das christliche Verhältnis zu Gott (II.5.1), woraufhin ich zu den Arten übergehe, die auf ein religiöses Weltbild nicht angewiesen sind. Das Ideal (II.5.2) und das Unverfügbare (II.5.3) haben teilweise einen Charakter, der noch am ehesten an den ursprünglich religiösen Kontext der Demut erinnert. In der Auseinandersetzung mit der »Weltbemächtigung« stellt die Demut ein Korrektiv für das menschliche Streben und dessen Konsequenzen dar (II.5.4), während die Demut im 202 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Demut vor Gott

Miteinander auf den zwischenmenschlichen Umgang in gesellschaftspolitischer Hinsicht ausgerichtet ist (II.5.5). II.5.1 Demut vor Gott Wie bereits in I.3 anhand verschiedener Stationen dargelegt, die ich hier nur in geraffter Form zusammenfasse, bildet Jesus Christus das grundlegende Vorbild für die christliche Demut. Seine für Christen nachahmenswerte dienende Gesinnung gipfelte im Kreuztod. Auf diesem Weg war die Forderung maßgeblich, sich zugunsten einer Erhöhung durch Gott im Dienst an den Mitmenschen »erniedrigen« zu lassen. Daneben war für die christliche Demut auch das von Paulus (I.3.1.2) vertretene Menschenbild einflussreich, das auch für die angestrebte Nachfolge Christi grundlegend ist. Demnach ist der Mensch unabänderlich und ausnahmslos durch Gott geschaffen und bedingt. Er kam mit »nichts« in die Welt und muss alles, was er erhalten hat, nicht seinem Vermögen, sondern Gott und seiner Gnade zuschreiben. Aus dieser Beschaffenheit, die allen Menschen gleichermaßen zukommt, werden rein weltlich begründete Werte wie zum Beispiel Ansehen und Ruhm nichtig. Zu dieser Erkenntnis kann der Mensch durch eine Erfahrung (II.4.1.1) oder eine Selbstverortung (II.4.2.1) gelangen, sodass sich seine Stellungnahme hinsichtlich der eigenen Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit primär auf Gott bezieht. Für den Verfasser des Buches »Hiob« könnte eine solche Erfahrung oder Besinnung beim Schreiben der folgenden Verse, die auch an das in II.4.1.1 herangezogene Gedicht von Rilke erinnern, von Bedeutung gewesen sein, wenn es heißt: »Die Tiefen Gottes willst du finden,/ bis zur Vollkommenheit des Allmächtigen vordringen? Höher als der Himmel ist sie, was machst du da?/ Tiefer als die Unterwelt, was kannst du wissen? Länger als die Erde ist ihr Maß,/ breiter ist sie als das Meer. Wenn er daherfährt und gefangen nimmt,/ wenn er zusammentreibt, wer hält ihn ab?« 1 1

Hi 11,7–10. William James kommentiert diese Stelle aus dem Buch »Hiob« mit den Worten: »Für den Verfasser des Hiobbuches zum Beispiel sind die Ohnmacht

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Arten der Demut

Das daraus resultierende Verhalten des Gläubigen weitet sich auf seine Mitmenschen aus, wenn er es zum Beispiel aufgrund der geteilten Beschaffenheit vor Gott unterlässt, sich über seinen Nächsten in Eigennutz und Prahlerei zu erhöhen, um sich ihm stattdessen mit Sanftmut, Milde und Verständnis zuzuwenden (I.3.1, I.3.3, I.3.5). Demütig dient der Gläubige dann nicht nur Gott, sondern auch den Ärmsten und Schwächsten in einem Akt der Solidarität, für den man um den Preis des Leidens in der Selbsterniedrigung von seinen Eigeninteressen und dem Anspruch auf Selbstdarstellung absieht. Darunter fällt auch das Ablassen von einer Verurteilung der Menschen als ihr »Richter«, der ein absolutes und überzeitliches Urteil fällt, weil diese Position einzig Gott vorbehalten bleibt. 2 Was zählt, ist nicht das menschliche oder weltliche, sondern einzig das göttliche Maß, vor dessen Hintergrund sich auch der Mensch zu verorten hat. Der erkannte Mangel im Vergleich mit Gott kann auch einseitig in die Unterdrückung der »sündhaften« oder »niedrigen« »Natur« des Menschen umschlagen. Auf diese Weise kultiviert die christliche Demut ein auf Übermut und stolze Selbstbehauptung verzichtendes Verhalten, das sich zum Beispiel in selbstbezogenen asketischen Bußpraktiken niederschlägt (I.3.2, I.3.7). Aus dem demütigen Unterlassen der Verurteilung anderer zugunsten eines verständnisvollen Miteinanders wird dann der bedingungslose Gehorsam unter eine geistliche oder weltliche Autorität, der begleitet wird vom Streben nach der »Abtötung« aller weltlicher Begierden oder »sündhafter« Bedürfnisse. Das verbreitetere Verständnis der christlichen Demut hat sich vor allem auf den zuletzt skizzierten Bahnen bewegt, kann aber auch mit dem Wissen um ein Maß, das schon im Christentum selbst gefordert wurde

des Menschen und die Allmacht Gottes das einzige, was zählt.« James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. A. a. O. S. 108. 2 Anschaulich liest man von diesem Verhältnis z. B. a. im »Cherubinischen Wandersmann«: »Wer stets in Demut lebt, wird nie von Gott gericht;/ Warum? er richtet auch niemand und sündigt nicht.« Silesius: Cherubinischer Wandersmann. A. a. O. V, 117.

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Demut vor einem Ideal

(II.4.2.1, II.4.3), eine andere Seite dieser Haltung wiederentdecken. 3 II.5.2 Demut vor einem Ideal Lässt man den rein christlichen Bezug der Demut hinter sich, kann man in Goethes Gedicht »Demut« einen weltlichen Aspekt dieser Haltung aufspüren 4: »Seh ich die Werke der Meister an,/ So seh ich das, was sie getan;/ Betracht ich meine Siebensachen,/ Seh ich, was ich hätt sollen machen.« 5 Vom Boden (lat. humus) aus blickt das lyrische Ich in Demut (lat. humilitas) zu den »Meistern« auf, die dem Betrachter seine Unzulänglichkeit vermitteln. Aus dem Vergleich mit den »Werken« der Meister erkennt der Demütige, wonach er sein Leben in Wort und Tat hätte eigentlich ausrichten sollen. Die Demut offenbart, woran es dem eigenen Vermögen und den damit einhergehenden Leistungen mangelt, inwiefern man entsprechend begrenzt ist. Die Vorbilder und ihre Werke werden zu einem Ideal hypostasiert, dessen Werte in Demut handlungsleitend sind, gerade weil man ihnen nicht genügt (II.5.2.1). Die sich mit dem Vergleich einstellende Norm kann zur Grundlage eines demütigen Verhaltens werden, das die eigene Begrenztheit und Schwäche anerkennt, aber zugleich einen Aufforderungscharakter implizieren, der das Potential und den Eifer der Person weckt, es dem Vorbild gleichzutun oder für sein Ideal »Opfer« zu bringen (II.5.2.2).

3

Zemmrich leitet die christliche Demut zum Beispiel aus den »geistlichen Grundgrößen« in Gestalt von Glaube, Liebe und Hoffnung ab. Für eine Zusammenfassung vgl.: Zemmrich: Demut. A. a. O. S. 440–449. 4 Peter von Matt sieht zum Beispiel auch in Goethes Gedicht »Grenzen der Menschheit« eine »selbstbewusste Demut« zum Ausdruck kommen. Vgl. von Matt, Peter: Selbstbewusste Demut. In: 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Bd. 2. 2. Auflage. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main/ Leipzig 1994. S. 117–121. 5 Goethe, Johann Wolfgang: Demut. In: Ders.: Werke in 12 Bänden. Bd. 1: Gedichte I. A. a. O. S. 398.

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II.5.2.1 Das Zurückbleiben hinter einem Wert Nicolai Hartmann erarbeitet in seiner »Ethik« ein Verständnis der Demut, das ich mit Rückgriff auf Goethe als »Demut vor einem Ideal« verstehen möchte: »Demut ist das Bewußtsein unendlichen Zurückbleibens, bei dem aller Vergleich versagt. Sie mißt das eigene Sein an der Vollkommenheit, so wie sie diese versteht, als Gottheit, als sittliches Ideal oder als erhabenes Vorbild.« 6

Hinter den Idealen oder Vorbildern 7 verbergen sich oftmals Werte wie »Schönheit«, »Gerechtigkeit«, »Heiligkeit« oder »Weisheit«, die man als bestmöglich oder vollkommen versteht, weshalb man versucht, ihnen im eigenen Verhalten zu entsprechen. Das »Reich« dieser Werte erstreckt sich traditionell über die Moral, die Religion, die Politik, die Kunst oder die Literatur und umfasst im modernen Verständnis auch den Sport 8 (z. B. im Körper- oder Fitnesskult), die Mode oder die Musik. 9 6

Hartmann: Ethik. A. a. O. S. 476. Siehe dafür z. B. a. Schelers Auseinandersetzungen mit »Vorbildern«, die er anhand des »Heiligen«, des »Genius«, des »Helden«, des »führenden Geistes der Zivilisation« oder des »Künstlers des Genusses« untersucht. Vgl. Scheler, Max: Vorbilder und Führer. In: Ders.: Schriften aus dem Nachlass Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Hrsg. v. Maria Scheler. 3. Auflage. Bonn 1986. S. 255–344. 8 Im Sport bietet z. B. das berühmteste Radrennen der Welt, die Tour de France, ihren Teilnehmern die Möglichkeit, sich einen »großen Namen« zu machen, und damit zu einem Ideal zu werden, vor dem ein Zuschauer angesichts der sportlichen Leistungen demütig wird. Roland Barthes bringt in diesem Sinne die Bedeutung der »Helden« der »Tour« zum Ausdruck, wenn er das sportliche Großereignis mit einem Epos vergleicht, aber freilich ohne dabei wörtlich von Demut zu sprechen: »Und dann kehren diese Namen ständig wieder; sie stellen in dem großen Schicksalsgeschehen des Wettkampfs Fixpunkte dar, deren Aufgabe es ist, eine episodische, stürmisch-bewegte Dauer an die stabilen Essenzen großer Charaktere zu binden, als wäre der Mensch vor allem ein Name, der sich zum Herrn des Geschehens macht. Brankart, Geminiani, Lauredi, Antonin Rolland, solche Patronyme lesen sich wie algebraische Zeichen für Wert, Redlichkeit, Heimtücke oder Stoizismus.« »Die Tour besitzt also eine wahre homerische Geographie. Wie in der Odyssee ist die Fahrt hier Rundfahrt von einer Prüfung zur nächsten und zugleich totale Erforschung der Grenzen der Welt. Odysseus hatte mehrmals die Pforten der Unterwelt erreicht. Die Tour berührt an mehreren Stellen die außer7

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Demut vor einem Ideal

Für Immanuel Kant 10 setzt die Demut in moralischer Hinsicht genau dann ein, wenn man sich mit dem vollkommenen »moralischen Gesetz« vergleicht: »Das Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines moralischen Werths in Vergleichung mit dem Gesetz ist die Demuth (humilitas moralis).« 11 Wichtig ist der Vergleich mit dem idealen oder vollkommenen Gesetz, das in letzter Konsequenz die Demut unvermeidlich macht, wie zum Beispiel schon Bernhard 12 oder Luther 13 angenommen hatten: »Aus unsemenschliche Welt: Auf dem Ventoux, heißt es, hat man den Planeten Erde bereits verlassen, ist man unbekannten Sternen nahe.« Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Übers. v. Horst Brühmann. 3. Auflage. Berlin 2015. S. 143, 147. 9 Denkt man zu diesen Werten die ihnen entsprungenen Ideale hinzu, sind auch hier die von Peter Sloterdijk herausgearbeiteten »Vertikalspannungen« zu verorten. Diese führt er mit der Beobachtung ein, »daß alle ›Kulturen‹, ›Subkulturen‹ oder ›Szenen‹ auf Leitdifferenzen aufbauen, mit deren Hilfe das Feld menschlicher Verhaltensmöglichkeiten in polarisierte Klassen unterteilt wird. So kennen die asketischen ›Kulturen‹ die Leitdifferenz Heilig versus Profan, die aristokratischen ›Kulturen‹ die von Vornehm versus Gemein, die militärischen ›Kulturen‹ die von Tapfer versus Feige, die politischen ›Kulturen‹ die von Mächtig versus Ohnmächtig, die administrativen ›Kulturen‹ die von Vorgesetzt versus Nachgeordnet, die athletischen ›Kulturen‹ die von Exzellenz versus Mittelmaß, die ökonomischen ›Kulturen‹ die von Fülle versus Mangel, die kognitiven ›Kulturen‹ die von Wissen versus Unwissen, die sapientalen ›Kulturen‹ die von Erleuchtung versus Verblendung.« Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. 3. Auflage. Frankfurt am Main 2016. S. 28. 10 Bei der Wiedergabe von Kants Werken beziehe ich mich auf die preußische Akademieausgabe und orientiere mich an der von der Kant-Gesellschaft vorgegebenen Zitierweise: Siglum, AA (Bd.-Nr.). Dazu gebe ich zur besseren Orientierung hinter der Sigle den Namen des Werkes in Klammern an. 11 Kant, Immanuel: MS (Metaphysik der Sitten), AA 06. S. 435. 12 Aus christlicher Perspektive heißt es bei Bernhard von Clairvaux: »Dem Gesetzgeber war es nicht verborgen, daß das Gewicht dieses Gebotes über die Kräfte der Menschen ging; doch er hielt es für nützlich, sie eben dadurch an ihr Ungenügen zu erinnern. Sie sollten somit wissen, welchem Ziel der Gerechtigkeit sie nach Kräften zustreben müßten. Indem er also Unmögliches verlangte, machte er die Menschen nicht sündig, sondern demütig, damit jeder Mund verstumme und die ganze Welt sich Gott unterwerfe.« Clairvaux, Bernhard v.: 50. Predigt über das Hohe Lied. Übers. v. Hildegard Brem. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 6. Hrsg. v. Gerhard Winkler. Innsbruck 1995. S. 170–181, hier 173. 13 Wie schon in II.4.2.1 angedeutet, ist der Vergleich mit dem Gesetz Gottes auch bei Luther von wesentlicher Bedeutung für eine demütige Selbstverortung

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rer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz (dessen Heiligkeit und Strenge) muss unvermeidlich wahre Demuth folgen […].« 14 Auch in Kants »Pädagogik« heißt es ähnlich: »Daher ist die Demuth eigentlich nichts anders, als eine Vergleichung seines Werthes mit der moralischen Vollkommenheit.« 15 An einer Stelle seiner »Kritik der praktischen Vernunft« setzt Kant die Demut der christlichen Tradition entsprechend (II.4.2.1) auch mit der Selbsterkenntnis gleich. 16 Deshalb ist wohl auch für Kant der Vergleich mit der moralischen Vollkommenheit in eine Selbstbetrachtung eingebettet (II.4.2), aus der heraus die Demut resultiert. Was Kant damit aber entschieden nicht verfolgt, ist das Projekt einer »falschen Demuth«, »welche in der Selbstverachtung, in der winselnden erheuchelten Reue und einer bloß leidenden Gemüthsfassung die Art setzt, wie man allein dem höchsten Wesen gefällig werden könne […]«. 17 Gemeint ist auch keine Demut als Haltung der »Kriecherei«, die der »angeborenen Würde« des Menschen widerspricht und die es sich zum Grundsatz macht, überhaupt keinen Grundsatz und keinen Charakter zu haben, »d. i. sich wegzuwerfen und sich zum Gegenstande der Verachtung zu machen«. 18 Kant weiß damit sowohl um den traditionell christlichen Zusammenhang von Selbsterkenntnis und

des Menschen: »Die Gebote lehren und schreiben uns vor mancherlei gute Werke, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht, lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu bestimmt, daß der Mensch drin sehe sein Unvermögen zu dem Guten und lerne, an sich selbst verzweifeln. […] Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, daß ihm nun angst wird, wie er dem Gebot genug tue, sintemal das Gebot muß erfüllt werden oder er muß verdammt werden, so ist er recht gedemütigt und zunichte geworden in seinen Augen […].« Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. A. a. O. S. 121. 14 Kant: MS (Metaphysik der Sitten), AA 06. S. 436. 15 Kant, Immanuel: Päd (Pädagogik), AA 09. S. 491. 16 »[…] daß es zuerst durch die Reinigkeit des moralischen Princips […] Schranken der Demuth (d. i. Selbsterkenntnis) gesetzt habe.« Kant, Immanuel: KpV (Kritik der praktischen Vernunft), AA 05. S. 86. 17 Kant, Immanuel: KU (Kritik der Urteilskraft), AA 05, S. 273. 18 Kant: MS (Metaphysik der Sitten), AA 06, S. 420.

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Demut (II.4.2.1) als auch um die Vorbehalte der Kritik (I.2), von denen er sich zu distanzieren weiß. 19 Die Demut vor einem Ideal, das bei Kant in der moralischen Vollkommenheit besteht, setzt genau dann ein, wenn eine Person erkennt, dass sie den im Ideal verankerten Werten nicht genügt. Die Unerreichbarkeit dieser vollkommenen Vorbilder oder Ideale stiftet laut Hartmann ein »Distanzgefühl«, das sowohl »erdrückt«, weil es die eigene Nichtigkeit vermittelt, als auch »erhebt«, weil es zugleich ein Gefühl »direkten Bezogenseins« auf das »überragend Große« stiftet. 20 Das »direkte Bezogensein« auf das »überragend Große« offenbart sich zum Beispiel dann, wenn man bereit ist, seinem Ideal das ganze Leben in der »Nachfolge« zu widmen. Das Ideal ist jedoch nicht als eine rein abstrakte Größe zu verstehen, auf die der Mensch unabhängig von seiner Lebenswelt einen Zugang haben könnte. Hier ist nicht die Rede von einem »Ideenhimmel« oder einer »Schau« ideeller Werte, denen man sich »rein«, also frei von Sinnlichkeit und Leiblichkeit, nähern könnte, um sich dann ihren Gehalt zum Vorbild zu nehmen. Wie schon in II.4.4 verdeutlicht, schlagen sich Werte, die zu einem Ideal werden, spürbar in konkreten Erfahrungen nieder, in denen ein Gefühl den Betroffenen zu einer Wertung des ihm Widerfahrenen nötigt. Das »Gute«, »Schöne« oder »Gerechte« ist deshalb auch nicht jenseits der Erfahrung zugänglich und raum- und zeitlos jedem »Sein« enthoben. Werte, an denen wir uns orientieren, brauchen vielmehr ein Substrat, das sie auszeichnen müssen, sodass sie uns von ihrem jeweiligen Träger aus in spürbaren Erfahrungen angehen und wir sie daraufhin im Rahmen unserer Stellungnah-

19

Auch in seiner Religionsschrift verweist Kant auf den Vorwurf an den christlichen Glauben, bezogen auf die Art, wie er an die Gemüter gebracht wird, »[…] weil sie nie ein Zutrauen in sich selbst setzen, in beständiger Ängstlichkeit sich nach einem übernatürlichen Beistande umsehen und selbst in dieser Selbstverachtung (die nicht Demuth ist) ein Gunst erwerbendes Mittel zu besitzen vermeinen, wovon der äußere Ausdruck (im Pietismus und der Frömmelei) eine knechtische Gemüthsart ankündigt«. Kant, Immanuel: RGV (Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft), AA 06. S. 184 (Anmerkung). 20 Vgl. Hartmann: Ethik. A. a. O. S. 476.

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me als erstrebenswert verstehen. 21 Ideale zentrieren sich deshalb um Menschen, Werke, Orte oder Artefakte, von denen eine Atmosphäre ausgeht, welche die Betrachtenden spürbar ergreift, sodass diese Erfahrung für sie eine Norm stiftet, aus denen eine Wertung resultiert. 22 In Goethes Gedicht »Demut« gehen diese Wertungen in den »Wert« der Werke »großer Meister« über, die dann zum Beispiel von ihren Büchern, Kunstwerken oder Lebensweisen ausgehen und deren Bedeutung der Betrachter oder Leser in Demut anerkennen muss. In der konkreten Erfahrung dieser Werke wird dem Betroffenen zum Beispiel die Norm nahegelegt, dass man »so« zu leben und handeln habe. Diese Norm kann dann nicht weniger auf Grundlage eines Gefühls die eigene Unzulänglichkeit hinsichtlich der eigenen Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit im Angesicht des Erstrebenswerten vermitteln, sodass wir in diesem Fall von Demut sprechen dürfen (II.4.1.3, II.4.5). Ausgangspunkt kann dafür schon ein »Held« der Kindheit sein, wie Gilbert Chesterton betont: »Alle temperamentvollen und natürlichen Leute kosten die Demut schon als Schulknaben aus, vom Moment an, wo sie anfangen, sich für einen Helden zu interessieren.« 23 Etty Hillesum hat sich zum Beispiel leidenschaftlich dem Schreiben gewidmet, wobei sie immer wieder bemerken muss, wie sie nach ihrer Ansicht hinter ihrem Ideal zurückbleibt: »Es ist immer wieder dasselbe: Man möchte sofort etwas ganz Besonderes und Geniales schreiben, man geniert sich vor der eigenen Unzulänglichkeit.« 24 In ihrem Fall ist die Evidenz der Unzulänglichkeit, die auch für die Norm der Demut wesentlich ist (II.4.1.3), mit der Scham gepaart. Im Hintergrund eines Ideals stehen wie im Gedicht Goethes die großen Namen der »Meister«, die hinsichtlich ihrer Werke 21

Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 193. Vgl. Schmitz: Das Reich der Normen. A. a. O. S. 193 f. 23 Chesterton, Gilbert K.: Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge. Deutsche Übertragung aus dem Jahr 1917 ohne Übersetzername. Frankfurt am Main 1986. S. 52. 24 Hillesum, Etty: Das denkende Herz. Die Tagebücher 1941–1943. Übers. v. Maria Csollány. 29. Auflage. Reinbek bei Hamburg 2019. S. 193 f. 22

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oder ihres Vermögens auch deshalb »vollkommen« wirken, weil sie eine kulturelle oder historische Relevanz vorweisen können. Ein Ideal aber rein nach dessen Wert für die Menschheit auszuzeichnen, ist eine zu einseitige Charakterisierung. Vorbilder und Ideale können gerade hinsichtlich ihrer Quelle in der Betroffenheit für nur eine Person in ihrer jeweiligen Perspektive gelten. Exemplarisch steht dafür van Gogh, der für sein Schaffen zu Lebzeiten keinerlei Ruhm erntete und trotzdem fest entschlossen war, sein Leben der Malerei vollkommen unterzuordnen. In einem seiner Briefe heißt es: »Sie werden niemals verstehen, was Malen ist – nicht das Verständnis dafür aufbringen, daß die Figur eines Grabenden – einige Furchen umgepflügter Erde – ein paar Brocken Sand, Meer und Himmel ernsthafte Motive & so schwer, aber auch so schön sind, daß es durchaus der Mühe wert ist, ihnen sein Leben zu widmen und die darin liegende Poesie wiederzugeben.« 25

Das Ideal in der Malerei ist für van Gogh kein lebensferner Wert jenseits von Raum und Zeit, sondern es drückt sich vielmehr in konkreten Motiven und Bezügen in der Lebenserfahrung aus. Es handelt sich zum Beispiel um den Anblick von »umgepflügter Erde«, über die man im Alltag vielmehr interesselos hinweggeht und die deshalb auch kaum als Motiv für eine eingängigere Betrachtung in Frage kommt. Van Gogh ist dagegen bereit, sich in spürbarer Begeisterung von seinen Motiven angehen und ergreifen zu lassen, sodass ihm die Norm aufgeht (II.4.1.3), dass er ihnen in der Malerei sein ganzes Leben widmen muss. Dass van Gogh auf keine Anerkennung seiner Werke stieß, ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen, aber an seinem Ideal wollte er, auch um den Preis, »am Hungertuch zu nagen«, nicht ablassen, wie aus einem weiteren Brief an seinen Bruder Theo hervorgeht: »Doch soweit sind wir vorläufig sicher noch nicht – ich habe eine Reihe von Jahren vor mir, in denen meine Arbeiten nach Deiner eigenen Aussage noch bitterwenig Handelswert haben werden. – Gut – 25

Vincent van Gogh an Theo van Gogh am 26. August 1882. In: Gogh, Vincent van: Briefe. A. a. O. S. 128–133, hier 130.

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DANN BEGEBE ICH MICH LIEBER IN DIE HÄNDE EINES KÜMMERLICHEN DASEINS und manger de la vache enragée – was ich schon öfter getan habe – als in die Hände des Herren Van Gogh.« 26

Ein ideales Vorbild und dessen Werte können für die Gesamtgesellschaft vollkommen irrelevant, aber einer einzigen Person evident und handlungsleitend sein. Entscheidend ist dafür primär nicht die von den Mitmenschen ausgehende Anerkennung, sondern die Geltungskraft eines Wertes (II.4.4), der auf einer Erfahrung und einem daraus resultierenden Willen fußt. Die dafür wesentliche Geltungskraft eines Gefühls stiftet auch die Demut, wenn eine Person merkt, wie »unendlich« sie hinter diesem Wert in Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit zurückbleiben muss (II.4.1.3). Bei seiner kurzen Auseinandersetzung mit der Demut macht Hartmann eine wichtige Einschränkung: »Demut empfindet der Mensch nicht vor dem Menschen – das wäre falsche Demut, Selbsterniedrigung, sklavischer Sinn.« 27 Ähnliches hat wohl auch Kant im Sinn, wenn er, wie oben gezeigt, sich von einer »kriecherischen Demut« abgrenzt und darüber hinaus meint, dass diese Haltung nicht aus einem Vergleich mit den Mitmenschen resultieren soll: »Sehr verkehrt ist es, die Demuth darein zu setzen, daß man sich geringer schätze als Andre.« 28 Das Unbehagen an der Demut ist demnach im Verhalten des Menschen fundiert, der sich der Demut bemächtigt, aber es liegt nicht in einem Ideal, vor dem man demütig wird, weil es unerreichbar erscheint. Hartmann plädiert implizit dafür, nur vor einem Ideal gewissermaßen in »Reinform« demütig zu werden, aber nicht vor dessen Träger in menschlicher Gestalt, um nicht einem Machtmissbrauch oder einer falschen Selbstverleugnung Vorschub zu leisten. Versteht 26

Vincent van Gogh an Theo van Gogh etwa am 2. März 1884. In: Gogh, Vincent van: Briefe. A. a. O. S. 164–175, hier 175. 27 Vgl. ebd. Ähnlich versteht auch Bollnow die Demut als ein Verhältnis, das nicht das relative Verhältnis zum anderen Menschen meint, sondern einzig das absolute Verhältnis zu einer Gottheit. Vgl. Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. A. a. O. S. 225. 28 Kant: Päd (Pädagogik), AA 09. S. 491.

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man das Ideal aber als rein abstrakte Größe, die jeglichen lebensweltlichen Zusammenhängen entzogen ist und damit keinerlei »Träger« oder Substrat aufweist, muss man sich fragen, inwiefern die Demut als das Zurückbleiben vor der »Vollkommenheit« noch zugänglich wird. Das Ideal wird sich zwangsläufig, wenn man sich sicher sein will, worüber man spricht, um konkrete Vorbilder zentrieren müssen, die eben auch Menschen und ihre Werke sein können, aber zum Beispiel bei van Gogh auch von Motiven einer Landschaft ausgehen. Dementsprechend zentriert sich Anton Reisers Ideal im gleichnamigen Roman zunächst um einen redegewandten Pastor, von dessen Person er erst in einem zweiten Schritt vorsichtig absieht, um auf eigene Weise der angestrebten »Vollkommenheit« nachzueifern: »Indes hatte er sich sein Ideal von Glückseligkeit völlig von dem Pastor Paulmann abstrahiert. – Er konnte sich nichts Erhabeneres und Reizenderes denken, als, wie der Pastor Paulmann, öffentlich vor dem Volke reden zu dürfen und alsdann so wie er manchmal gar die Stadt mit Namen anzureden.« 29

Hartmanns Bedenken, dass die Demut vor einem Menschen gefährliche Züge annehmen kann, sind berechtigt. Seine daraus resultierenden Einschränkungen für das Verständnis dieser Haltung gehen aber an der Lebenserfahrung vorbei. Man müsste demnach vor einem Ideal demütig werden, aber von dessen Verkörperung »in« der vorbildhaften Person absehen. Das, was uns ideal erscheint, wird sich dagegen, wie bereits betont, vor allem als Wert aus der Norm einer Gefühlsmacht ergeben (II.4.1.3, II.4.4), die sich um das Vorbild der konkreten Gestalt einer Person, eines Ortes oder eines Werkes zentriert. Mit weniger Geltungskraft kann uns das Ideal auch aus einer Besinnung oder Selbstverortung (II.4.2) aufgehen. Beide Quellen sind nicht nur mit Blick auf die Demut stets einer gewissenhaften Prüfung zu unterziehen (II.4.3). Diese Prüfung ist das wichtigste, aber auch einzige Mittel

29

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Dortmund 1986. S. 51.

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zum Schutz vor dem Machtmissbrauch oder einer verfehlten Selbsterniedrigung. II.5.2.2 »Die Demuth hat das härteste Fell« Es mag verwundern, dass man gerade bei Nietzsche, der wohl am vehementesten die christliche Demut kritisierte (I.2.4), auch einen für ihn erstrebenswerten Aspekt dieser Haltung ausfindig machen kann. 30 Dieser ist auf das schaffende Vermögen des Menschen bezogen: »Das Grosse zu lieben, auch wenn es uns demüthigt. – Warum sollte der Künstler nicht vor der Wahrheit knien, der Führer einer geistigen Bewegung sich beschämt vor der Gerechtigkeit niederwerfen und sagen, ›ich weiss es, Göttin, meine Sache ist nicht deine Sache, vergieb, aber ich kann nicht anders‹.« 31

Das »Große« als ein Ideal, das der Künstler abbilden oder der Anführer einer Bewegung als Rechtszustand ermöglichen will, macht demütig, weil es in seiner Umsetzung eigentlich unerreichbar ist. Deshalb spricht Nietzsche auch die »Göttin« an, welche diesen unabänderlichen Abstand zum Menschen verkörpert. Es ist durch diese Distanz auch nicht »meine«, sondern »ihre« Sache als »Göttin«, das »Große« in Gestalt von »Wahrheit« oder »Gerechtigkeit« zu ermöglichen. Trotzdem wollen jene, die auf »Größeres« aus sind, in Demut nach der Verwirklichung ihres Ideals streben. Was Nietzsche deshalb an dieser Stelle auch nicht meint, ist eine Demut, die alle produktiven Seiten der Person verneint und somit das eigene Potential grundsätzlich ausbremst, was er gerade dem christlichen Verständnis dieser Haltung zum Vorwurf machte 30

Vgl. für andere Auseinandersetzungen zur »positiven Demut« bei Nietzsche, die auch im Zusammenhang mit seinem »Zarathustra« stehen: Zemmrich: Demut. A. a. O. S. 62–78; Schöller-Reisch: Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. A. a. O. S. 294–301; Schöller-Reisch: Die Demut Zarathustras. Ein Versuch zu Nietzsche mit Meister Eckhart. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Vol. 27 (1998). S. 420–439. 31 KSA 8, S. 509.

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(I.2.4): »Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet.« 32 Was aber wäre dagegen ein Ideal, vor dem man nicht demütig werden könnte, weil es über die eigenen Fähigkeiten und Leistungen überhaupt nicht hinausgeht? Gerade im Streben nach einem »höheren Selbst« muss man sich eingestehen, dass da ein Potential oder Vermögen vorliegt, das man bislang nicht erfüllen konnte. Deshalb weiß auch Nietzsche, dass das Erringen eines Ideals sich nicht hochmütig selbst zu attestieren, sondern im Rahmen der »schweren Kunst der freiwilligen Selbst-Demüthigung« 33 zu erlangen ist. Der »große Mensch« kennt das »Martyrium des Aufsteigens«, bei dem man in »seine Höhe« »gestoßen«, »gedrängt« und »hinaufgemartert« wird. 34 Angesichts dieses notwendigen Aktes der freiwilligen Demütigung weiß auch Nietzsche dem Christentum etwas für die »erfinderischen Geister« abzugewinnen: »Man weiss, was die drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals sind: Armuth, Demuth, Keuschheit: und nun sehe man sich einmal das Leben aller grossen fruchtbaren erfinderischen Geister aus der Nähe an, – man wird darin alle drei bis zu einem gewissen Grade immer wieder finden.« 35

Die Askese, so Nietzsche, wurde zwar durch die Kirche »verdorben«, aber grundsätzlich ist sie nützlich und unentbehrlich im Dienste der »Willenserziehung« oder »Erziehung zur Willenskraft« 36, durch die man sich eine »Übermacht und Gewißheit in Hinsicht auf seine Willensstärke« 37 verschafft. 38 Es sind diese ursprünglich asketischen Ideale, die auch für die erfinderischen Geister im weltlichen Sinne die »eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres besten Daseins, ihrer schönsten Fruchtbar32 33 34 35 36 37 38

KSA 2, S. 352. KSA 2, S. 497. Vgl. KSA 12, S. 50. KSA 5, S. 352. KSA 12, S. 552. KSA 13, S. 68. Vgl. dafür auch »Vom Asketismus der Starken« in KSA 13, S. 476.

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keit« 39 sind und offenbaren, »ob Einer Werth hat oder nicht« 40. Der Schaffende weiß um das »Große«, hinter dem er unendlich zurückbleibt, vor dem er demütig werden muss, aber als gleichzeitig erfinderischer und großgesinnter Geist (II.4.3) nimmt er sein Vorhaben auch um den Preis der Armut, Keuschheit und Selbsterniedrigung auf sich. Ganz ähnlich zeichnet sich Albert Camus’ Demutsverständnis aus, das er mit Bezug auf Nietzsche bündig charakterisiert: »Der Ehrgeiz eines Nietzsche, eines Tolstoi oder eines Melville erschüttert mich gerade wegen seines Scheiterns. In meinem geheimsten Herzen empfinde ich Demut einzig angesichts des Lebens der Ärmsten oder der großen Abenteurer des Geistes.« 41

Von einer bewusst gewählten Armut zugunsten eines »Abenteuers des Geistes« ist zum Beispiel in Anton Čechovs »Die Möwe« zu hören. Dort bekennt sich die Protagonistin Nina zu ihrem Ideal des Schreibens und Schauspielens: »Für ein Glück, wie Schriftstellerin oder Schauspielerin zu sein, würde ich die Feindschaft meiner Verwandten, Not und Enttäuschung auf mich nehmen, ich würde unter dem Dach wohnen und nur Roggenbrot essen, würde leiden an der Unzufriedenheit mit mir selbst, am Bewußtsein meiner Unvollkommenheit, aber dafür würde ich Ruhm verlangen – echten rauschenden, Ruhm …« 42

Nina betont das Bewusstsein ihrer Unvollkommenheit, wie es Hartmann oben als Charakteristikum für die Demut auszeichne39

KSA 5, S. 352. »Solchen Menschen, welche mich etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, – ich wünsche daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob Einer Werth hat oder nicht, – daß er Stand hält …« KSA 12, S. 513. 41 Camus, Albert: Licht und Schatten. In: Ders.: Zwischen Ja und Nein. Frühe Schriften. Übers. v. Guido Meister. Leipzig und Weimar 1986. S. 5–60, hier 12 f. (Vorwort). 42 Čechov, Anton: Die Möwe. Komödie in vier Akten. Übers. u. hrsg. v. Peter Urban. Zürich 1996. S. 40 (Zweiter Akt, Ende). 40

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te. Trotzdem ist sie willens, für ihr Ideal als Schriftstellerin oder Schauspielerin in Armut, Leid und Ablehnung zu leben wie van Gogh, aber was sie dafür als »großgesinnter Geist« im Resultat verlangt, ist Anerkennung und Ruhm. Für Nietzsche bedarf es auf diesem Weg zur »Erhöhung des Menschen« einer solchen »Zucht des grossen Leidens«, 43 die der Schaffende in Kauf nehmen muss. 44 Eindrucksvoll liest man von diesem Zusammenhang in Nietzsches »Also sprach Zarathustra«, dem vor allem die »Schaffenden« lieb sind, weil sie die Bereitschaft auszeichnet, an ihrem Vorhaben bereitwillig »zugrunde zu gehen«: »Ich liebe Den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zu Grunde geht.« 45 Als Zarathustra sich in die Einsamkeit zurückzieht, trifft er auf seine »stillste Stunde«, die ihn mit seinem eigenen Anspruch konfrontiert: »Du weisst es, Zarathustra, aber du redest nicht!« 46 Das Wissen des Zarathustra umfasst seine »Lehre« vom »Übermenschen« und der »ewigen Wiederkehr«, 47 die hier inhaltlich nicht von Belang sind. Es kommt vielmehr darauf an, wie Zarathustra von der Verkündigung seiner Erkenntnisse denkt: »Ach, ich wollte schon, aber wie kann ich es! Erlass mir diess nur! Es ist über meine Kraft!« 48 Er sieht sich der Aufgabe der Verkündigung nicht gewachsen, denn sie ist ein »Übergroßes« (II.4.1.1), vor dem er zurückweicht. Doch die »stillste Stunde« macht Zarathustra deutlich, worum es eigentlich geht: »Was liegt an dir, Zarathustra! Sprich dein Wort und zerbrich!« 49 Von Bedeutung ist nicht Zara43

KSA 5, S. 161. Am Ende der Komödie »Die Möwe« bekennt sich Nina erneut zu ihrem Ideal des Schauspielens und Schreibens, um diesmal nicht das Motiv des Ruhmes, sondern des Leidens zu bestärken: »Ich weiß heute, Kostja, ich begreife, daß in unserer Arbeit – egal, ob wir Theater spielen oder schreiben – das Wichtigste nicht der Ruhm ist, nicht der Glanz, nicht das, wovon ich geträumt hatte, sondern die Fähigkeit zu leiden.« Čechov: Die Möwe. A. a. O. S. 73 (Vierter Akt, Ende). 45 KSA 4, S. 83. 46 KSA 4, S. 188. 47 So ist zum Beispiel die Lesart von: Schöller-Reisch: Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. A. a. O. S. 296; Zemmrich: Demut. A. a. O. S. 68. 48 KSA 4, S. 188. 49 Ebd. 44

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thustras Person, sondern seine »Lehre«, für die er nach dieser Aufforderung bereit sein muss, »alles« zu geben, auch um den Preis, als Schaffender »zugrunde zu gehen« oder zu »zerbrechen«. Auch die Essenz der religiösen oder nicht-religiösen Demut umfasst diese Einsicht: Es geht nicht um dich als Person, sondern, was zählt, ist das, was über dich hinausgeht, dem du zum Beispiel im christlichen Sinne nachfolgen (I.3.1.1, I.3.9) oder für das du im weltlichen Sinne ein »Medium« darstellen sollst (II.4.2.2). Auch Zarathustra selbst sieht den Ertrag seiner »Lehre« nicht darin, dass es sich um »seine« Erkenntnisse handelt, durch die er sich hervortun könnte: »Ach, ist es mein Wort? Wer bin ich? Ich warte des Würdigeren; ich bin nicht werth, an ihm auch nur zu zerbrechen.« 50 Reinhard von Hauff vermutet aus der Perspektive des Theologen in diesen Äußerungen ein Geständnis, nach dem sich Zarathustra der Grenzen seines Vermögens durchaus bewusst war, wenn er auch nach dem Grenzenlosen strebte. 51 Die »stillste Stunde« vermutet aber wohl einen versteckten Stolz in den Worten Zarathustras, der ihn von seinem Vorhaben zurückweichen lässt, weil er sich selbst noch zu wichtig nimmt, um sich dem »Zerbrechen« preiszugeben. Was folgt, ist eine Aufforderung zur Demut: »Was liegt an dir? Du bist mir noch nicht demüthig genug. Die Demuth hat das härteste Fell.« 52 In Demut ist der Mensch bereit, für ein Ideal vollkommen von sich abzusehen, um der Sache auch unter der Bedingung des eigenen Leides alles unterzuordnen. Es ist das »Fell« der Demut, was es möglich macht, diese Situation zu ertragen. Dieses Fell lässt den Schaffenden von seinem Eigenwillen absehen und die Strapazen aushalten, die es zum Beispiel erfordert, um »das Wort« Zarathustras zu sprechen. 50

Ebd. Vgl. dafür a. die offensichtlichen Parallelen zum Neuen Testament, die aus theologischer Perspektive ins Auge fallen müssen, wenn »Johannes der Täufer« das Kommen von Jesus Christus ankündigt, um zugleich sein eigenes Handeln zu relativieren: »Er verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren.« Mk 1,7. 51 Vgl. Hauff: Versuch einer Überwindung von Nietzsches Antichristentum. A. a. O. S. 129. 52 Ebd. Ähnlich liest man in KSA 10, S. 421: »Das härteste Fell hat die Demuth.«

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Demut vor einem Ideal

So sehr es auch überraschen mag, aber hier findet man in Nietzsches Werk ein ursprünglich christliches Ideal wieder, das Jesus als das Vorbild einer dienenden Demut begreift, mit der er sich abschließend im freiwilligen Kreuzestod für die Menschen »hingab« (I.3.1.1). 53 Worauf es Jesus wie auch Zarathustra entschieden ankommt, ist die Opferbereitschaft für die Sache, der man sich ausdauernd und auch unter widrigen, leidvollen Umständen hinzugeben hat. Bei Jesus war es die Verkündigung des »Reichs Gottes«, während es für Zarathustra die Verkündigung der »ewigen Wiederkehr« und des »Übermenschen« ist, die um den Preis der Aufopferung in die Welt getragen werden soll. Zarathustra ist sich dem dafür nötigen »Fell« seiner Demut durchaus bewusst: »Was trug nicht schon das Fell meiner Demuth! Am Fusse wohne ich meiner Höhe: wie hoch meine Gipfel sind? Niemand sagte es mir noch. Aber gut kenne ich meine Thäler.« 54 Am Fuße oder am Boden (lat. humus) seiner Höhe »wohnt« Zarathustra in Demut (lat. humilitas). Er hat die »Gipfel« seines Berges oder seines höheren Selbst nie erklommen und nie gesehen, weil er davor zurückbleibt und im aufschauenden Vergleich nur um die Niedrigkeit seiner »Täler« weiß, weshalb er sich als unwürdig versteht. In Demut weiß Zarathustra um seine »Höhe« als den Anspruch seines Auftrages im schaffenden Leiden. Seine »stillste Stunde« fordert von ihm trotzdem, »befehlend voranzugehen« und dafür auch den »Stolz der Jugend« abzulegen. 55 Später blickt Zarathustra auf diese Konfrontation mit der »stillsten Stunde« zurück, von der er sagt, dass sie seinen »demüthigen Mut« 53

Reinhard von Hauff unterstellt Nietzsche, dass er mit seiner »stillsten Stunde« Ähnliches erleben will, wie die Propheten Gottes im Alten Testament, wenn sich z. B. Zarathustra zunächst wie Mose weigert, seinen Auftrag anzunehmen. Auch das Motiv der flüsternden Stimmen oder die Furcht vor dem Spott der Menschen findet man sowohl bei den Propheten des Alten Testaments als auch bei Zarathustra wieder. Vgl. Hauff: Versuch einer Überwindung von Nietzsches Antichristentum. A. a. O. S. 52 f., 112. 54 KSA 4, S. 188. Von einer ähnlichen Formulierung liest man in Nietzsches Fragmenten: »Bin ich nicht ein Bescheidener? Am Fuße wohne ich meiner Höhe und niemals noch sah ich meine Gipfel: unüberredbar ist meine Demuth.« KSA 10, S. 422. 55 Vgl. KSA 4, S. 189.

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entmutigt hatte. 56 Es ist ein demütiger Mut, der sich auch im Verhältnis von »Großgesinntheit« und Demut widerspiegelt (II.4.3). Einer Gefahr, der Zarathustra, aber auch jeder, der sich den »Höhen« seines Ideals verschrieben hat, ausgesetzt bleibt, ist das Vergessen dieser großmütigen Demut, das genau dann einsetzen kann, wenn man glaubt, sein Ideal erreicht zu haben. Davon berichtet zum Beispiel Brutus in William Shakespeares »Julius Cäsar«: »Doch oft bestätigt sich’s,/ Die Demut ist der jungen Ehrsucht Leiter;/ Wer sie hinanklimmt, kehrt den Blick ihr zu;/ Doch hat er erst die höchste Spross’ erreicht,/ Dann kehret er der Leiter seinen Rücken,/ Schaut himmelan, verschmäht die niederen Tritte,/ Die ihn hinaufgebracht.« 57

Shakespeare transportiert das in der »Benediktsregel« (I.3.4) ausgestaltete Bild der »Jakobs«-Leiter, die durch die Demut den Weg zu Gott ebnet, in ein weltliches Verhältnis, das auch für den Umgang mit den eigenen Idealen aufschlussreich ist. Wenn Zarathustra auf den Stufen seiner Demut sein Ideal erreicht haben sollte, darf er daraufhin nicht im Hochmut vergessen, auf welchem Weg und mit welcher Haltung er zu seinen »Höhen« gekommen ist. Dies würde nicht nur seiner ursprünglichen Demut widersprechen, sondern auch den Verdacht laut werden lassen, dass er in Prahlerei und Heuchelei sein Ideal entweder gar nicht oder auf unwürdige Weise erreicht hat. Nur die unerschöpfliche Selbstverortung (II.4.2.2) wird den wirklich Demütigen vor diesem Verhalten bewahren können. Die Demut besteht hier in der Anerkennung eines Ideals, hinter dem man »unendlich zurückbleibt«, für das man aber auch unter der Härte seines demütigen »Fells« bereit ist, sich aufopfernd für dessen Umsetzung einzusetzen. Auch van Gogh weiß um die Bedeutung dieses Fells, das er zur Anschaffung empfiehlt,

56

Vgl. KSA 4, S. 232. Shakespeare, William: Julius Cäsar. In: Ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 4: Tragödien. Hrsg. v. Anselm Schlösser. Übers. v. August Wilhelm Schlegel et. al. S. 179–262, hier 200 (Zweiter Aufzug, Erste Szene, Vers 22–28).

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um wie in seinem Fall das Leben in den Dienst der Malerei zu stellen: »Du müßtest versuchen, Dir ein dickeres Fell zuzulegen, ein Temperament, um alt zu werden, Du müßtest wie ein Mönch leben, der alle vierzehn Tage ins Bordell geht – ich mache das so, das ist nicht sehr poetisch, aber letztlich fühle ich, daß es meine Pflicht ist, mein Leben der Malerei unterzuordnen.« 58

Nicht nur van Gogh, sondern auch Nietzsche war über seinen »Zarathustra« hinaus bereit, sein Leben in den Dienst seines philosophischen und dichterischen Schaffens zu stellen. Der Maler wie auch der Philosoph sind um diesen Preis auf ihre Weise tatsächlich am Wahnsinn zugrunde gegangen. In dieser Hinsicht waren sie »Schaffende«, wie sie Zarathustra »liebte«. Erneut ist die Parallele zum Verständnis der »Nachfolge Christi« offensichtlich, bei der man auch unter widrigen Umständen sein »Kreuz« auf sich zu nehmen hat (I.3.1.1). Wenn es auch nicht ohne Gefahr ist, sich van Goghs und Nietzsches Schaffen in dieser Intensität zum Vorbild zu nehmen, so sind sie doch beide mit ihren Werken selbst zu Verkörperungen von Idealen geworden, die man demütig anerkennen kann. In diesem Akt des Dienens und Schaffens hat die Demut sowohl in religiöser als auch säkularer Hinsicht eine produktive Note in der Bereitschaft, sich aufzuopfern, was wiederum gleichwertig neben dem Wissen um die eigene Niedrigkeit und Unvollkommenheit steht. II.5.3 Die Demut im Angesicht des Unverfügbaren Der Kern der Demut besteht in der Anerkennung eines »Übergroßen«, mit dem sich gleichermaßen die menschliche Machtlosigkeit, Abhängigkeit und Begrenztheit offenbart. Als Menschen stoßen wir an eine Grenze, anhand derer wir einsehen müssen, dass etwas wesentlich über unser Vermögen hinsichtlich 58

Vincent van Gogh an Émile Bernard am 26. Juni 1888. In: Gogh, Vincent van: Briefe. A. a. O. S. 216–221, hier 221.

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unseres Wissens und Könnens hinausgeht. Die Demut kann in genau solchen Momenten einsetzen, die Karl Jaspers als »Grenzsituationen« charakterisiert hat. Diese Situationen sind »nicht überschaubar; in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem anderen erklären oder ableiten zu können.« 59

Die bloße Unüberschaubarkeit einer Situation bringt den Menschen noch nicht gleich an seine Grenze, weil er stets auf Orientierung in ganzheitlichen und unübersichtlichen Situationen angewiesen ist. Diese Orientierung vollzieht man zum Beispiel zu ganz alltäglichen Zwecken, wie beim Schreiben einer Einkaufsliste oder auf der Suche nach einem Schlüssel. Was den Menschen erst an seine Grenze bringt, ist das Zunichtewerden seiner grundlegenden Gewohnheiten und Erwartungen, die in Ausnahmesituationen ihren handlungsleitenden Charakter eingebüßt haben. Bildlich kann dafür der Schock stehen, bei dem einer Person in Erstarrung kein sinnvolles Reagieren in der Grenzerfahrung aufgeht. Die sich damit auftuende Grenze offenbart sich aber nicht ausschließlich im rein passiven Erstarren oder Resignieren, sondern auch in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Tod, dem Leiden oder mit der Schuld, die Jaspers als Grenzsituationen auszeichnet. Das »Stoßen« und »Scheitern« besteht darin, dass der Mensch zunächst auf keine Weise einen sinnvollen Umgang mit diesen Situationen finden kann. Grenzsituationen sind in ihrem Eintreten, in ihren Abläufen und Folgen nicht »ab-sehbar« oder »über-schaubar«, weshalb sie unseren Handlungs- und Ermessensspielraum durch etwas »Übergroßes« übersteigen, das sich zum Beispiel auch durch ein Gefühl ausdrückt (II.4.1.1, II.4.1.3). Diese Situationen bringen radikal zur Klarheit, dass der Mensch in seiner Beschaffenheit wesentlich endlich, fehlbar und zerbrechlich ist. Sophokles zeichnet in »Ödipus auf Kolonos« einen 59

Jaspers, Karl: Philosophie II: Existenzerhellung. 4. Auflage. Berlin et. al. 1973. S. 203.

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Wesenszug des menschlichen Lebens, der auch solche Grenzsituationen umfasst: »Denn: Sah einer die Jugend verwehn,/ die luftreiche Narrheit betört,/ welch leidreicher Schlag bleibt dann/ fern? Welche Drangsal setzt ihm nicht zu:/ Neid, Aufruhr, Streit, Kampf/ und gar Mord, und das verabscheute erlost ihn sich noch/ ohne Freunde, das Alter, wo alle,/ Übel der Übel hausen. […]/ Wie von überall her eine nördliche Klippe/ wogengepeitscht im Sturm des Winters umtobt wird,/ so umtoben auch diesen von Grund auf/ furchtbar anbrandende/ Unheilsstürme […]« 60

Es ist nicht im gleichen Maße nötig, das menschliche Leben als reine Abfolge von »Unheilsstürmen« oder Schicksalsschlägen zu begreifen, die eine Person in regelmäßigen Abständen heimsuchen. Sophokles’ Verse führen dem Leser vielmehr eine menschliche Beschaffenheit vor Augen, die sich nicht durch die Häufigkeit ihres Offenbarwerdens auszeichnen muss, sondern die vielmehr im Hintergrund des Lebens liegt, aber auch jederzeit ans Licht kommen kann: Der Mensch ist ein grundsätzlich verwundbares und vergängliches Wesen, was sich zum Beispiel in Schicksalsschlägen offenbart, die in »Unheilsstürmen« das menschliche Ausgesetztsein vermitteln. Die Demut setzt genau dann ein, wenn der Mensch in existenziellen Grenzsituationen seiner Beschaffenheit hinsichtlich der eigenen Begrenztheit, Machtlosigkeit und Abhängigkeit gewahr wird. Darunter fallen zum Beispiel Erfahrungen der Angst, der Verzweiflung und der Leere, welche auch die Norm für die Demut stiften können (II.4.1.3). Von einer solchen Grenzerfahrung berichtet Emil Cioran: »Eine unmittelbare Ergriffenheit überwältigt einen ganz plötzlich. Man findet sich in eine ungeahnte Fülle getaucht, oder eher in einer triumphalen Leere. Das war eine grundlegende Erfahrung, die unmittelbare Offenbarung der Nichtigkeit all dessen, was existiert.« 61

60

Sophokles: Ödipus auf Kolonos. Übers. v. Kurt Steinmann. Stuttgart 2007. Vers 1229–1244. 61 Cioran, Emil M.: Ein Gespräch mit Sylvie Jaudeau. Übers. v. Verena von der Heyden-Rynsch. St. Gallen 1992. S. 9.

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Ähnliche Einsichten kann die Atmosphäre der Stille begünstigen, von der man sich spürbar so durchdrungen fühlt, dass die eigene Verlorenheit und Bedeutungslosigkeit evident wird, wie man in Max Frischs Jugendwerk »Antwort aus der Stille« nachlesen kann: »Und was uns zurückbleibt aus aller Begeisterung, die uns die Natur schenkt, ist immer nur die erwachende Einsicht, wie ausgeschieden du bist aus dieser Welt, die schön ist und vielleicht einen Sinn hat, wie ausgestoßen aus aller natürlichen Vollendung, wie einsam in deiner Leere, wie fremd und taub in dieser großen Stille eines solchen Waldes.« 62

Erfahrungen wie diese können den Betroffenen in der gespürten Stille oder auch Leere die Nichtigkeit von all dem vermitteln, worauf der Mensch hinaus will, woran er geglaubt hat oder wovon er überzeugt ist. Zugleich kann uns die Stille dabei aber auch, wie im Fall des Zarathustra, der sich mit seiner »stillsten Stunde« konfrontiert sah (II.5.2.2), auf die Programme aufmerksam machen, für die es sich bei aller persönlichen Unzulänglichkeit zu leben lohnt, wenn auch der damit verfolgte Lebenssinn über die Bedeutung der eigenen Person hinausgeht (II.5.2). 63 62

Frisch, Max: Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen. 5. Auflage. Frankfurt am Main 2015. S. 60. Dementsprechend heißt es im selben Werk auch an anderer Stelle: »Es ist, als löse sie alles Denken auf, diese Stille, die über der Welt ist; man hört nur noch sein eignes Herz, das klopft, oder mitunter den Wind, der in den Ohrmuscheln saust. Und wenn einmal eine schwarze Dohle um die Felsen segelt und wieder mit heiserem Schrei entschwindet, immer bleibt diese einsame Stille zurück, die um alles Leben ist und jeden Aufschrei verschluckt, als sei er nie gewesen, diese namenlose Stille, die vielleicht Gott oder das Nichts ist. Und die dem Wanderer nicht leicht wird.« Frisch: Antwort aus der Stille. A. a. O. S. 36. 63 Zu einer ähnlichen Einsicht mag auch letztendlich der Wanderer in Max Frischs Roman gekommen sein: »[…] auch wenn er es vielleicht niemals wird sagen können, was er in der großen Stille gehört hat; aber es muß schon einen großen Sinn haben, was dieser Stille standhielt, und wenn er auch manches in diesen drei Nächten verloren hat, so nur, weil es vielleicht wenig war, und was ihm geblieben ist, wird viel sein, da er nun weiß, daß es kein gewöhnliches Leben gibt, kein verächtliches Leben, das einfach wegzuwerfen wäre, und daß wohl alles genug ist, was wir wirklich erfüllen.« Frisch: Antwort aus der Stille. A. a. O. S. 143 f.

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Die Demut im Angesicht des Unverfügbaren

Die mit der erfahrenen »Nichtigkeit« einsetzende Sinnlosigkeit bringt die Person an die von Jaspers charakterisierte »Grenze« ihrer Existenz, was die Ausrichtung des eigenen Lebens grundsätzlich fraglich werden lässt. Diese existenziellen Erfahrungen sind zum Beispiel auch an der Grenze zum nahenden Tod ein Einfallstor für die Demut gewesen (II.4.1.1). In solchen Situationen kann einem Menschen ganz ohne Gottesbezug evident werden, dass er ein endliches und verletzliches Lebewesen ist, dessen Begrenztheit, Abhängigkeit und Machtlosigkeit er anerkennen muss. Religionen wie der Buddhismus haben auf ganz ähnliche Weise die Anerkennung dieser menschlichen Beschaffenheit zum Ausgangspunkt. Der historische Buddha hat die erste der »vier edlen Wahrheiten« als die Erkenntnis des Leidens durch »Geburt«, »Alter«, »Krankheit« und »Tod« ausgezeichnet. 64 Das Leiden ist hier nicht als alltägliches Erfahren von Schmerzen, Qualen und Ängsten zu verstehen, sondern es bezieht sich unter anderem auf einen grundlegenden Charakter des Lebens, der in der Vergänglichkeit und den damit zusammenhängenden Verlusten besteht. Diese grundlegende Vergänglichkeit, die dem Menschen schon mit der Geburt mitgegeben ist, offenbart sich in eben jenen Momenten des Alterns, Erkrankens oder Sterbens. In der Besinnung (II.4.2) auf diese Momente oder in der unmittelbaren Konfrontation im Erleiden (II.4.1.1) dieser Grenzsituationen liegt auch der Keim zur Demut. Corine Pelluchon hat die Demut jüngst aus ähnlichen Gründen im Rahmen ihrer »Ethik der Wertschätzung« begründet. Pelluchon zeichnet die Demut dort als das »Fundament des Verhältnisses zu sich selbst« 65 aus, wie es schon Cassian und andere christliche Denker in ihrem Tugendverständnis auf ähnliche Wei64

So heißt es in der ersten Lehrrede des Buddha: »Dies nun, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist leiden […].« In: Samyutta-Nikaya 56:11. Zitiert nach: In den Worten des Buddha. Eine ausgewählte Sammlung von Lehrreden aus dem Pali-Kanon. Hrsg. u. vorgestellt von Bhikkhu Bodhi. Übers. v. Andreas Hubig. 2. Auflage. Stammbach 2011. S. 67. 65 Pelluchon, Corine: Ethik der Wertschätzung. Übers. v. Heinz Jatho. Darmstadt 2019. S. 36.

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se getan haben (I.3.3). Bei Pelluchon besteht die Demut nicht in einem Affekt, sondern in der »Anerkennung der Zerbrechlichkeit der körperlichen Verfasstheit und der Opazität, in der wir uns befinden«. 66 Grundlegend ist dafür eine Erfahrung, die wir »an uns selber machen«, was uns eine »Kenntnis unserer Selbst« ermöglicht, die von unserer »fleischlichen Erfahrung« als der Erfahrung unserer Grenzen und all dem ausgeht, was »sich unserer Herrschaft entzieht«. 67 Die für ihre Ethik zentrale Form der Wertschätzung ist für Pelluchon durch eine Erfahrung oder eine Realität bedingt, »die mich transzendiert«. 68 Dabei handelt es sich nicht um eine aufsteigende Erfahrung zu Gott, sondern um das Erleben der eigenen Verwundbarkeit im Diesseits. 69 Für diese Erfahrung ist es bedeutsam, sich in seiner »Passivität« zu spüren, um einen Zugang dazu zu erhalten, was »jenseits unserer Sprache liegt« und um auf diese Weise zu erfahren, was Menschen und Tiere gemeinsam haben. 70 Die daraus resultierende Wertschätzung soll ein »tiefes Verständnis der Solidarität« auf Grundlage der gemeinsam geteilten Ausgangserfahrung der Verwundbarkeit ermöglichen. 71 Die gemeinsame Grenze ist durch »Affekte« oder »Empfindungen« wie Angst, Schrecken, Mitleid und Lust beziehungsweise durch Erfahrungen des Schmerzes, des Leidens, der Krankheit oder in der Auseinandersetzung mit dem Tod spürbar und soll die »Endlichkeit« und die »Passivität« des Subjekts vermitteln, um so ein Verständnis für eine »gemeinsame Welt« zu eröffnen. 72 Die »Wert-Schätzung« läuft für Pelluchon somit auf zwei Momente hinaus. Erstens schätzt eine Person ihren Wert im Verhältnis zu sich und ihrer Umgebung richtig ein, wenn sie sich zum Beispiel als verletzbares und passives Wesen begreift. Daraus kann

66 67 68 69 70 71 72

Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. A. a. O. S. 37. Vgl. Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. A. a. O. S. 37 f. Vgl. Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. A. a. O. S. 112. Vgl. Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. A. a. O. S. 113. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. A. a. O. S. 115.

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Die Demut im Angesicht des Unverfügbaren

dann zweitens eine Wertschätzung gegenüber Mensch und Tier entstehen, die in ihrer Beschaffenheit ein ähnliches Schicksal tragen müssen. Pelluchon bezieht ihr Verständnis der Demut ganz offen aus dem Werk von Bernhard von Clairvaux, der, wie oben gezeigt, in der Selbsterkenntnis durch die Entdeckung des Elends »in sich« das Mitleid für das Elend in den anderen kultiviert hat (I.3.5). 73 Pelluchon begründet die wertschätzende Demut auf eine säkulare Weise, indem sie deren Bezugspunkt nicht auf eine jenseitige Instanz, sondern auf eine gemeinsam geteilte Erfahrung im Diesseits gründet. Demütig muss man deshalb nicht wegen eines Gottes sein, sondern wegen einer geteilten Beschaffenheit aller Lebewesen. Diese Beschaffenheit ist für Pelluchon durch Erfahrungen vermittelt, die man oftmals als unangenehm und leidvoll versteht, weil sie dem Menschen seine Passivität hinsichtlich seiner Verletzbarkeit und Endlichkeit offenbaren. Die Betroffenheit, die für die Demut ausschlaggebend ist, muss sich aber nicht nur auf diese einseitig als negativ verstandenen Erfahrungen erstrecken, sondern kann auch die angenehmen und erhabenen Momente des Lebens umfassen (II.4.1.1). Deshalb sollte die Bedingung für die Demut auch nicht nur in der Wertschätzung unserer Grenzen liegen, die uns unsere Passivität im Leiden mitteilen. Die Demut sollte vielmehr insgesamt die grundsätzlich unverfügbaren Grenzen des Menschseins ins Auge fassen. Das Unverfügbare ist das, was an der Grenze oder außerhalb des menschlichen Einflussbereiches liegt und dem man als Mensch somit zwangsläufig ausgesetzt ist. Das Ausgesetztsein besteht im nicht kontrollieren, berechnen oder ausweichen können des uns Widerfahrenen. Das Unverfügbare ist jedoch nicht als Gott oder dessen Wirken zu verstehen, weil es sich dann in letzter Konsequenz um eine Gottesdemut handeln müsste, die hier nicht gemeint ist (II.5.1). Die Rede ist nun von einer Demut, die durch die Betroffenheit (II.4.1) vom Unverfügbaren oder durch eine Besinnung (II.4.2) auf dieses einsetzt, was dem Menschen seine

73

Vgl. für Pelluchons Bezüge zu Clairvaux: Pelluchon: Ethik der Wertschätzung. A. a. O. S. 37–40.

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Begrenztheit, Abhängigkeit und Machtlosigkeit vermittelt. Pelluchon betont das Unverfügbare vor allem mit Blick auf die Passivität und das Leiden der Menschen, das zwangsläufig jedem Leben inhärent ist. Nicht weniger unverfügbar sind uns jedoch Momente, die wir als bereichernd, vorteilhaft oder tragend verstehen. Beide Momente des Unverfügbaren sind ein möglicher Ausgangspunkt für die Demut, wie ich nun nacheinander beleuchten möchte. II.5.3.1 Das Unverfügbare am Beispiel der Krankheit Unverfügbar ist uns nicht nur der Eintritt unseres Todes 74, sondern auch unsere sterbliche und endliche Beschaffenheit überhaupt. Auf seinem Lebensweg ist für den Menschen auch das Altern ein unverfügbares Widerfahrnis, dem er spürbar ausgesetzt ist, aber mit dem er auch im Zulaufen auf seinen Tod einen Umgang finden kann, wenn er zu einer ernsthaften Auseinandersetzung bereit ist. Diese Stellungnahme zur eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit kann sich schleichend ausbilden, aber auch mit einem »tragischen« Schlag gezwungenermaßen im Kampf um eigenes oder fremdes Leben zum Vorschein kommen. Aus dieser Betroffenheit (II.4.1), welche die Spuren des Alterns hinterlässt, resultiert auch die Demut, wie Odo Marquard beteuert: »Die Endlichkeit rückt alles zurecht. Es macht demütig, die persönlichen Entbehrungen und die eigene Entbehrlichkeit spüren zu müssen.« 75 Im Alter und im Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit tritt der »Sieg des So-ist-es über das So-hat-es-zu-sein« zutage, dem jede Illusion über die eigene Beschaffenheit weichen muss. 76 In der demütigen Anerkennung des »So-ist-es« triumphiert die menschliche Endlichkeit und Machtlosigkeit – oder 74

Der Versuch, sich seinen Tod im Selbstmord verfügbar zu machen, ist hier ausgeklammert. 75 Marquard, Odo: Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. Stuttgart 2013. S. 90. 76 Vgl. Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. A. a. O. S. 68. Vgl. a. für eine jüngere philosophische Auseinandersetzung mit dem Altern: Angehrn, Emil: Vom

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auch Begrenztheit und Abhängigkeit – über das »So-hat-es-zusein«, das sich in den unstillbaren Hoffnungen, Sehnsüchten und Zielen der Menschen ausdrückt. Über den persönlichen und unvertretbaren Alterungsprozess hinaus wird der Menschheit im 21. Jahrhundert ihre unverfügbare Endlichkeit auf herausfordernde und kollektive Weise durch die Krankheit in Gestalt einer Pandemie vermittelt. Unverfügbar ist die Krankheit, die über uns unbemerkt hereinbrach und zunächst hinsichtlich der Möglichkeit, von ihr betroffen zu sein, jegliche Unterschiede zwischen den Menschen nichtig machte. Vor einer Infektion und ihren Gefahren, die schlussendlich den Tod bedeuten können, ist in der Ausnahmesituation anfangs niemand gefeit. Die Krankheit ist dann als Thema und hinsichtlich einer potentiellen Ansteckung allgegenwärtig, aber gerade nicht so, als handelte es sich um einen sichtbaren Gegner, dem man im Fall der Konfrontation gezielt ausweichen könnte. Eine unbekannte Krankheit globalen Ausmaßes entzieht sich den menschlichen Einflussmöglichkeiten, wenn eine Infektion nicht bemerkt, ihr Wirkungsverlauf nicht beeinflussbar und die Überlebenschancen zunächst nicht absehbar sind. Der Mensch »stößt« sich und scheitert an der unüberschaubaren Grenzsituation, in der die Krankheit wütet. Nicht der Mensch »hat« die Krankheit, als wäre sie in seinem kontrollierten Besitz. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass der Mensch im passiven Sinne durch die Krankheit »gekränkt« wird, wenn ihn das Virus ergreift und dessen Wirkung ihn in Beschlag nimmt. Dass die Demut zu einer Zeit weniger ausgeprägt ist, kann man am anfänglichen Umgang mit der unverfügbaren Krankheit ablesen, welche die Menschheit in den globalen Ausnahmezustand versetzt. Zwangsläufig wird der unverfügbare Charakter der Krankheit zunächst nicht als eine gemeinsam geteilte Grenze demütig anerkannt. Politik und Wissenschaft sind dazu gezwungen, die Unverfügbarkeit der Krankheit zugunsten einer Heilung in den eigenen Einflussbereich zu verlagern. Der Mensch muss Anfang und Ende. Leben zwischen Geburt und Tod. Frankfurt am Main 2020. S. 93–136.

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sich die »Welt« dafür wieder mehr verfügbar machen, sie zur Behandlung der Krankheit in die eigene »Reichweite« bringen und auf diese Weise einen Umgang mit der Situation finden. 77 Diese »Reichweitenvergrößerung« geschieht in der Wissenschaft zum Beispiel durch das Ermitteln von Messergebnissen, Impfstoffen oder Infektionszahlen, 78 deren Erhebung eine permanente Verbreitung in den Medien findet. Für den »einfachen« Bürger geschieht diese Verfügbarmachung auf ganz eigene Weise. Seine soziale Wirklichkeit, die massiv bedingt ist durch die allumfassende Digitalisierung des menschlichen Lebens, ist von der Auseinandersetzung mit der Krankheit durchsetzt. Wenn die Krankheit für den einzelnen Bürger schon nicht auf praktische Weise zu bekämpfen ist, so glaubt man sich sicherer, wenn man so viel wie möglich über sie weiß. Den wenigen Einfluss, den man auf seine Situation aufrechterhalten kann, glaubt man, durch das gängige Wissen kompensieren zu können. Wissen wollen wir, unter welchen Umständen, in welchem Alter, mit welchen Symptomen und für welche Dauer die Krankheit auftritt und welche Gegenmittel wirksam sind. Die Informationen über die Krankheit treten für den Bürger an die Stelle ihrer ernsthaften Bekämpfung, die vor allem hinsichtlich wirksamer Maßnahmen der Wissenschaft und der Politik vorbehalten bleibt. Die Informationsflut, die zunächst nur vermeintliche Stabilität suggeriert, lässt den Menschen in dem Glauben, die Krankheit wäre verfügbar und unter Kontrolle. Die Masse an Informationen zieht aber nicht selten keine heilenden Effekte für das menschliche Zusammenleben nach sich. Dies durfte man beobachten, als sich Menschen panisch und zum Teil maß- und rücksichtslos mit Nahrung und Hygieneartikeln eindeckten, während andere die Folgen der Krankheit hochmütig ignorierten, als sie Kontaktverbote missachteten, weil sie zum Beispiel altersbedingt nicht als Teil der »Risikogruppe« ausgezeichnet 77

Vgl. zur »Weltreichweitenvergrößerung« als Verfügbarmachung: Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. 3. Auflage. Wien/Salzburg 2019. S. 16 f.; Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 5. Auflage. Berlin 2017. S. 521. 78 Rosa veranschaulicht den Umgang mit der unverfügbaren Krankheit zum Beispiel anhand des Bestrebens, optimierbare Parameter von Kranken und Pflegebedürftigen zu ermitteln. Vgl. Rosa: Unverfügbarkeit. A. a. O. S. 93.

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wurden. Der Mensch versucht mit seiner Lage auch fertig zu werden, indem er sie nicht wahrhaben will. Dann hört man von Verschwörungstheorien, die unterstellen, dass jemand die Krankheit zu seinen Zwecken erfunden oder böswillig in die Welt gebracht haben muss. Neben skurrilen und gefährlichen Weltbildern steckt hinter diesen Theorien auch der Glaube daran, dass es so etwas wie eine unkontrollierbare und alle gleichermaßen bedrohende Krankheit nicht (mehr) geben könne. Selbst in diesen Grenzsituationen glaubt sich der Mensch noch als Macher seines Geschickes, wenn er zum Beispiel davon ausgeht, dass Regierungen oder Milliardäre die Schuld an der Katastrophe tragen. Was sich einzelne Betroffene im Angesicht eines persönlichen Schicksalsschlags täglich fragen, fragt sich in einer Pandemie die Menschheit im kollektiven Ausnahmezustand: Warum trifft es uns gerade jetzt? Der Demütige hat seinen Mitmenschen in diesen Grenzsituationen voraus, dass er ein Gespür (I.4.4) oder auch ein Verständnis für die menschliche Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit entwickelt hat, das manch anderer zum Beispiel auf Grundlage seines Wohlstandes aus den Augen verloren hat. Der moderne Mensch hat im Zuge des als unaufhaltsam bezeichneten Fortschritts die unwillkürliche Erwartungshaltung eingenommen, dass alles so geschehen werde, wie er es sich berechnend und planend zurechtgelegt hat. Dies betrifft sowohl den einzelnen Lebensentwurf als auch die politischen und wirtschaftlichen Prognosen, welche die Gemeinschaft betreffen. Das Motto lautete lange Zeit, dass »wir es in der Hand haben«, wenn wir nur den Willen und die Mittel für unsere Zwecke aufbringen können: »Denn die Zukunft ›kommt‹ nicht mehr; wir verstehen sie nicht mehr als das ›kommende‹ ; wir machen sie.« 79 Durch die Demut macht sich dem Menschen wieder bemerkbar, wie sehr sein Selbstverständnis in die Irre gehen kann, wenn er seine endliche Beschaffenheit aus den Augen verloren hat. Dem Christentum warf man in Teilen zu Recht vor, den Menschen einseitig als ohnmächtigen Sünder auszuzeichnen (I.2, I.3). Ist der Einfluss des Christentums in dieser 79

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. 7. Auflage. München 1985. S. 313.

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Hinsicht versiegt, glaubte man im Umkehrschluss lange Zeit hochmütig, man sei als Mensch bedingungslos zu allem fähig. Die Grenzsituationen der Krankheit und des Leidens können das Menschsein und die persönliche Selbstbehauptung wieder richtig verorten und auch ein maßvolles Leben in Demut begründen. Dafür ist es entschieden nicht notwendig, religiös zu sein. Was aber die Religionen dem Atheismus in dieser Hinsicht voraushaben, ist ihre Verortung des Menschen im Rahmen einer Wirklichkeit, die ihn durch Gott und Götter wesentlich transzendiert. Der Atheist muss lernen, eine Wirklichkeit, die sein Wissen und Können übersteigt, unabhängig von einem Gott nicht nur anzuerkennen, sondern auch wieder kennenzulernen. Was dafür aus einer Krankheit wachsen kann, ist die Demut vor dem Unverfügbaren, dem wir abhängig, machtlos und begrenzt ausgesetzt bleiben. Die Erfahrungen mit der Krankheit korrigieren das fehlgeleitete Selbstverständnis. Der Mensch ist nicht zu allem fähig, denn er kann über sein endliches Vermögen in letzter Konsequenz nicht verfügen. Er vermag es, Wohlstand anzuhäufen, grenzenlos zu kommunizieren und sein Leben, so gut es geht, einzurichten und zu verlängern, aber bisher hat das nichts an seiner unhintergehbaren Vergänglichkeit verändert, so optimistisch Wirtschaft und Forschung ihn auch stimmen mögen. Pfleger und Ärzte wissen durch ihre alltägliche Arbeit um diesen Befund. Im praktischen Umgang mit ihren Patienten kann die Demut durch eine Erfahrung (II.4.1) eine gewichtige Rolle spielen. Rainer Wiesmeier berichtet aus seinem Alltag als Chirurg von einer Erfahrung, die ihn »bei aller Begeisterung für den Beruf und bei allem Glauben an das technisch Machbare hat Demut erleben lassen«. 80 Er berichtet von einem älteren Herren, der notfallmäßig, aber erfolgreich mit einem akuten Darmverschluss operiert wurde. Die Euphorie der Heilung wird aus Sicht der Ärzte durch den Bettnachbarn des Patienten gebremst, der wesentlich jünger, mit Mitte vierzig, einen Dickdarmtumor wohl nicht überleben wird. Der Chirurg resümiert die kontrastreiche Situation: 80

Wiesmeier, Rainer: Demut im Alltag des Chirurgen. In: Erbe und Auftrag. 91. Jg. (2015). S. 412–414, hier 412.

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»Das dämpft jede euphorische Stimmung, die Grenzen der Medizin sind klar erkennbar: Der Senior wird den Jüngeren deutlich überleben!« 81 Für den Chirurgen resultiert die Demut aus einer Erfahrung, die ihm bei der Behandlung eines Patienten evident werden lässt (II.4.1.3), dass der Mensch trotz seiner technischen Möglichkeiten endlich und in letzter Konsequenz, wenn es um die Erhaltung seines Lebens geht, machtlos bleibt. Silvio Jenny resümiert aus seiner Arbeit mit psychisch und somatisch schwerstbehinderten Kindern den Stellenwert der Demut in der Auseinandersetzung mit dem Unverfügbaren: »Die Realität dieses Unverfügbaren beginnt durchzuscheinen, wenn Krankheit die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz sichtbar macht. Darin, in der Offenbarung des Unverfügbaren, liegt der Sinn der Krankheit.« 82

Im alltäglichen Umgang mit der Krankheit fällt für den Arzt der Mut zur Tat mit der Demut zur Hinnahme des Unausweichlichen in eins. 83 Gerade im Umgang mit diesen existenziellen Grenzsituationen ist der Zusammenhang zwischen (Groß-)Mut und Demut (II.4.3) offensichtlich. Etty Hillesum hat dieses Zusammenspiel aus demütiger Anerkennung und mutiger Selbstbehauptung noch vor ihrer Deportation nach Auschwitz in Worte gefasst: »Für mich bedeutet Ergebung nicht Resignation oder Entsagung, sondern den Versuch, nach besten Kräften dort zu helfen, wo Gott mich zufällig hinstellt, und mich nicht nur dem eigenen Kummer und Ärger hinzugeben.« 84 81

Wiesmeier: Demut im Alltag des Chirurgen. A. a. O. S. 412 f. Jenny, Silvio: Krankheit und Kranksein – Medizin und ärztlicher Auftrag. In: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 273–281, hier 281. 83 Vgl. Jenny: Krankheit und Kranksein – Medizin und ärztlicher Auftrag. A. a. O. S. 280. 84 Hillesum: Das denkende Herz. A. a. O. S. 138. Hillesums Haltung erinnert auch an stoische Verhaltensweisen, wie sie Epiktet eingefordert hat: »Bedenke: Du bist Darsteller eines Stücks, dessen Charakter der Autor bestimmt, und zwar eines kurzen, wenn er es kurz, eines langen, wenn er es lang wünscht. Will er, daß du einen Bettler darstellst, so spiele auch diesen einfühlend; ein Gleiches gilt für den Krüppel, einen Herrscher oder einen gewöhnlichen Menschen. Deine Auf82

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Auch die Demut muss nicht Resignation und Ohnmacht bedeuten, wenn der Betroffene auch im Leid seine Situation anerkennt, um darauf aufbauend mit Mut und Einsatz für sich und andere an der gemeinsamen Grenze einzustehen. Günter Virt zeichnet die Aufgabe der Demut genau in dieser Hinsicht aus: »Nicht Selbstlosigkeit, sondern Selbsteinsatz und Engagement für den Dienst an den Niedrigen sind in der Demut ethisch gefragt.« 85 Im demütigen Mut erkennt der Betroffene seine Grenzen an, aber er ist nicht weniger bereit, bis an diese heranzutreten und um jedes Leben zu kämpfen, wenn er auch akzeptieren muss, dass es vergeblich ist: »In solchen Situationen können wir nur bestehen, wenn wir zugleich mutig und demütig sind –: demütig im Annehmen dieser Situation, und sei es die Situation unseres Todes; mutig aber im Entschluß, uns dieser Situation zu stellen.« 86

Die Demut ist dann der Grundstein für einen existenziellen Ernst, in dessen Rahmen wir um unser Scheitern und unsere Endlichkeit wissen, ohne uns in Hochmut oder Scheu vor unserem Schicksal zu verschließen, um stattdessen für uns und andere einen besonnenen Umgang (II.4.2.2) mit der gemeinsamen Situation zu finden. Die Betroffenheit (II.4.1) vom Unverfügbaren oder die Besinnung (II.4.2.) auf dieses kann die Norm einer Demut stiften (II.4.1.3), die uns eingibt, dass wir begrenzte, abhängige und auch machtlose Wesen sind. Aber nicht so, dass man in dieser Situation verharrt, sondern sich ihr mit Mut stellt, indem wir anderen beistehen. Hier eröffnet sich ebenfalls der Sinn der »Dienmut«, wie man die Demut aus dem Althochdeutschen heraus auch bezeichnen darf (I.1.): Die Menschen können einander in Anerkennung an etwas sie Übersteigendes dienen und werden auf diese Weise mit ihrer Situation fertig.

gabe ist es nur, die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie auszuwählen, steht einem andern zu.« Epiktet: Handbüchlein der Moral. A. a. O. S. 25 (Kap. 17). 85 Virt: Demut – eine unmoderne Tugend? A. a. O. S. 303. 86 Sudbrack: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. A. a. O. S. 146.

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II.5.3.2 Besinnung auf das demütige »Empfangen« Das Unverfügbare, das uns auf unangenehme, belastende und niederschmetternde Weise überkommt, empfinden wir sprichwörtlich als eine Bürde, die uns »auferlegt« oder »abverlangt« wurde. In diesen Fällen ist auch von einem Schicksalsschlag die Rede, der uns »getroffen« hat. Was uns dagegen als Bereicherung im Leben widerfährt, das hat einen »Geschenkcharakter« 87, sodass es »geschenkt«, »empfangen« und »erhalten« wurde oder uns »zugekommen« ist. Bei diesen Redeweisen ist häufig nicht entscheidend, »von wem« oder »weshalb« uns das Erfahrene »auferlegt« oder »warum« es von uns »empfangen« wurde – in der Religion ist die Sache dagegen eindeutiger. Was stattdessen aus all diesen Erlebnissen und ihren Schilderungen spricht, ist das Ausgesetztsein des Menschen, als ihn etwas überkam, das sich seinem Einfluss wesentlich entzog und das er damit nicht »in der Hand« hatte, weshalb er zu einer Auseinandersetzung aufgerufen war. Diese Auseinandersetzung hat in den zerstörerischen Momenten des Lebens einen leidvollen und herausfordernden Charakter, der die Betroffenen an ihre Grenzen bringt. Auf Grundlage dieser Erfahrungen deutet Pelluchon die Bedeutung der menschlichen und nicht-menschlichen Verletzbarkeit für die Demut (II.5.3). Daneben steht gleichwertig der Umgang mit den unverfügbaren Ereignissen, der oftmals unbemerkt vonstattengeht, weil die Betroffenen auf keinen merklichen Widerstand stoßen, der ihnen unangenehm ist, weil den Erfahrungen entweder ein selbstverständlicher oder erfüllender Charakter inhärent ist. Der Soziologe Hartmut Rosa versteht das Unverfügbare im Rahmen seiner Resonanztheorie ausschließlich in diesem angenehm positiven Sinn. 88 Beide Blickwinkel auf das Unverfügbare bleiben zu einsei87

Für Rosa haben Resonanzerfahrungen als Widerfahrnis einen »Geschenkcharakter«. Vgl. Rosa: Unverfügbarkeit. A. a. O. S. 68. 88 Das Moment der Unverfügbarkeit gehört für Rosa wesentlich zu einem »InResonanz-treten« mit der Welt, dessen Gegenspieler in Angst, Frust, Wut und Verzweiflung bestehen. Der Mensch ist in der Resonanzerfahrung fähig, mit der Welt in ein selbstwirksames Verhältnis zu treten, während die Depression »resonanzunfähig« machen soll. Vgl. z. B. Rosa: Unverfügbarkeit. A. a. O. S. 10, 33, 41.

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tig, wenn man sie entweder als ausschließlich leidvoll oder einzig erfüllend versteht. Wie bereits oben festgehalten wurde, müssen deshalb auch beide Facetten des Unverfügbaren für die Demut von Bedeutung sein. Habe ich eben die Demut vor dem Unverfügbaren im herausfordernden Leid beleuchtet, müssen nun einige als Bereicherung verstandene Momente des unverfügbaren »Empfanges« zur Geltung kommen. Eine lang ersehnte und schließlich erfüllte Hoffnung, freudige Erinnerungen und Erwartungen, die uns überkommen, einen liebevollen Eindruck, den wir von einem Menschen erhalten oder ein plötzlicher Einfall – über all diese Situationen verfügt der Mensch nicht als ihr bedingungsloser Schöpfer, sondern er ist in diesen Geschehen vielmehr Ereignissen ausgesetzt, die ihm unverfügbar widerfahren. Exemplarisch steht dafür die Liebe, die vielen implizit als ein unverfügbares Ereignis geläufig ist, das man zunächst nicht mit leidvollen Grenzsituationen in Verbindung bringt, weil man die Momente des Verliebtseins in erster Linie als eine Bereicherung wahrnimmt. Das Eintreten des Verliebtseins wie auch die Bedingungen für das echte Gefühl von Liebe liegen zu einem wesentlichen Anteil nicht in der Ermächtigung der Person, als könnte sie sich ihren Partner auf Grundlage von Berechnungen auswählen, wie es »Partnerbörsen«, »Datingapps« oder »Kuppelformate« suggerieren wollen. Die Ergriffenheit von der Liebe wie von Gefühlen überhaupt ist nicht programmierbar oder planbar. Das geht aus dem Charakter der Ergriffenheit selbst hervor. Wenn ein Gefühl echt ist, dann muss die Person zunächst ein Stück mit dem sie ergreifenden Gefühl mitgehen und zu dessen Diese normative Komponente in Rosas Theorie macht sich auch an der Auswahl seiner Beispiele bemerkbar, die er in der Auseinandersetzung mit der Unverfügbarkeit im Rahmen von Resonanzerfahrungen heranzieht: Der fallende Schnee, der Berg im Morgenrot, ein Musikkonzert oder ein ansprechendes Gedicht sollen uns eine unverfügbare Resonanzerfahrung eröffnen, weil sie uns »berühren« oder »ansprechen«. Vgl. Rosa: Unverfügbarkeit. A. a. O. S. 7, 42 f., 52. Das Scheitern in Angst, Verzweiflung und Leere spricht eine Person wohl nicht im erstrebenswerten Sinn an – und wird damit für Rosa nicht Teil einer Resonanzerfahrung sein –, aber es dürfte nicht weniger unverfügbare Momente bergen, die es gleichermaßen zu betonen gilt.

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»Komplizen« oder »Gefangenen« werden. 89 Diese Echtheit besteht darin, dass sich der Betroffene nicht erst entscheiden oder ernsthaft fragen müsste, ob ihn tatsächlich etwas spürbar ergreift oder ihm nahegeht. 90 In der Lebenserfahrung wird das am Beispiel überströmender Freude deutlich, die uns bei einer überwältigenden Nachricht überkommt, wodurch wir unser Verhalten zunächst im Aufschreien oder Lachen nicht kontrollieren können. Immer erst nachträglich, wenn man in das Gefühl immer schon verstrickt war und sich von dessen Einfluss ein wenig lösen konnte, kann man zu seiner Situation Stellung beziehen, indem man sich auf das Geschehen einlässt oder es zu unterdrücken versucht. 91 Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob das Gefühl den Betroffenen besonders heftig ergreift oder die Ergriffenheit von besonders langer Dauer ist. Seinen Gefühlen ist man damit nicht absolut ausgesetzt, sondern wir sind vielmehr, sobald wir das Ergriffensein bemerkt haben, zu einer Auseinandersetzung aufgerufen. Zwar versucht sich der Mensch Situationen einzurichten, um Gefühle wie die Liebe oder Stimmungen wie die Zufriedenheit »einzuladen«, 92 aber eine Erfolgsgarantie gibt es für deren Eintreten nicht. Wenn Liebende merken, dass sie nicht anders können, als sich ihrer Zuneigung hinzugeben, wenn sie sich »gezogen« oder »getragen« fühlen, dann findet man in diesen Situationen etwas »Übergroßes« (II.4.1.1) und »Unverfügbares« in Gestalt eines Gefühls vor, dem man in Abhängigkeit und Machtlosigkeit ausgesetzt ist. Deshalb liegt Chesterton richtig, wenn er etwas überspitzt formuliert: »So ist keiner noch verliebt gewesen, ohne eine 89

Vgl. Schmitz: Der Leib. A. a. O. S. 65, 95. Vgl. Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 65. 91 Vgl. Schmitz: Der Leib. A. a. O. S. 95. 92 Der Mensch versucht zum Beispiel die Atmosphären seines Wohnens zu verwalten, indem er seine Wohnung entsprechend einrichtet, um sich heimisch zu fühlen. Vgl. für das Wohnen als »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum«: Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle. 3. Auflage. Bielefeld 2015. S. 74–80. Seine ausführliche Auseinandersetzung zur »Wohnung« führt Schmitz in: Ders.: System der Philosophie. Bd. 3. Teil 4: Das Göttliche und der Raum. A. a. O. S. 207–308. 90

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wahre Orgie der Demut zu feiern.« 93 Die Autorität der Liebe, durch die man von seinem Partner nicht mehr loskommt, ist durch die ihr inhärenten Normen, 94 die auch schon für die Demut ausschlaggebend waren (II.4.1.3), erklärbar. Diese Normen haben einen so starken Anspruch an die Betroffenen, dass sie nicht anders können, als sich dem Geschehen hinzugeben, wenn sie ihren Partner immer wieder hören, sehen oder an ihn denken müssen. Als Liebende übersehen wir oftmals diese Abhängigkeit und Machtlosigkeit, weil wir uns dem Geschehen bestenfalls gerne und bereitwillig hingeben. Im Gegensatz zu den leidvollen Erfahrungen des Lebens betont man bei der Liebe gerne den Umstand, sich auf sie »eingelassen« zu haben, aber nicht, dass man von einem Gefühl zu einer Handlung »gezwungen« oder »gedrängt« wurde wie zum Beispiel im Fall der Angst. Dass aber auch mit dem Gefühl und der Situation der Liebe ein Zwang einhergeht, wird spätestens dann deutlich, wenn man im Fall einer Trennung in Sehnsucht und Trauer nicht mehr von seinem Partner loskommen kann. Von diesem uns nötigenden Trennungsschmerz liest man zum Beispiel bei Sappho: »Damit sie vor Verlangen nicht vergeh/ nach deinem sanften Mund, irrt sie umher,/ vor tiefem Kummer tut das Herz ihr weh./ ›Komm zu mir!‹ fleht sie laut, doch allzu schwer/ ist ihre ferne Stimme zu verstehen./ Sie dringt nicht übers nächtlich dunkle Meer.« 95

Im Eintreten, aber auch im Ausfallen der Liebe ist man seinen Gefühlen damit zunächst ausgesetzt. Dass man eine Liebe »empfangen« hat, macht sich ebenfalls dann bemerkbar, wenn man sich auf die Zuwendung besinnt, die man als »geliebter« Mensch erfährt. Auch dann sind wir einer bedingungslosen Liebe ausgesetzt, die uns zukommt und gegen die wir, über unsere räumliche Situation hinaus, nichts ausrichten können. In einem Brief an Felice Bauer gibt Franz Kafka diesen Charakter der Liebe preis: »Und 93

Chesterton, Gilbert K.: Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer mißachteter Dinge. A. a. O. S. 52. 94 Vgl. Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 63 f. 95 »Nächtliche Erinnerungen«. In: Liebeslieder der Antike. Ausgewählt u. nachgedichtet von Erich Fabian. Rostock 1963. S. 39.

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ob Du willst oder nicht, ich gehöre Dir.« 96 Es ist entscheidend, dass Kafka nicht schreibt: »Und ob du willst oder nicht, du gehörst Mir.« Denn die Liebe, die Felice Bauer für ihn empfinden mag, ist Kafka hinsichtlich ihrer Intensität und Verbindlichkeit ebenfalls unverfügbar, sodass er diesen Anspruch, wenn er ihn denn formuliert hätte, gar nicht einlösen kann. Was Kafka dagegen sehr wohl in seiner Ergriffenheit zumindest behaupten kann, ist, dass er auf ewig seiner Verlobten gehören wird, weil ihm diese Norm (II.4.1.3) auch unabhängig von ihrem zukünftigen Verhalten abgenötigt wird. Dafür steht zum Beispiel auch die unbedingte Liebe der Eltern, die sie ihren Kindern auch nach deren üblem Verhalten oder trotz deren Ablehnung spenden. 97 Mit der Liebe sei hier abschließend nur ein Gefühl angedeutet, das wir »empfangen« haben, wobei grundsätzlich der unverfügbare Anteil unseres Gefühlslebens wie auch der gesamten unwillkürlichen Lebenserfahrung, wie sie auch in II.4.1.1 beleuchtet wurde, hier implizit mitgemeint ist. 98 Wie sehr dazu auch die Möglichkeit der Begegnung, die das Zentrum der Ergriffenheit sein kann, wiederum von unverfügbaren Umständen abhängt, ge96

Franz Kafka an Felice Bauer, 3./4. Januar 1913. In: Ders.: Briefe an Felice Bauer und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main 2015. S. 224–226, hier 226. 97 Die Liebe einer sich sorgenden und trauernden Mutter kommt in Nikolai Gogols Roman »Taras Bulba« zur Darstellung. Während die schlafenden Söhne die Zuwendung ihrer Mutter nicht einmal bemerken, zeugt das mütterliche Verhalten von einer unerschütterlichen Liebe, die auch nach der ausbleibenden Wiederkehr der Jungen anhalten muss: »Nur die arme Mutter konnte nicht schlafen. Sie kauerte sich zu Häupten ihrer geliebten Söhne, die beieinander lagen. Sie kämmte ihnen die zerzausten Locken und benetzte sie mit Tränen. Sie betrachtete beide, hingebungsvoll, all ihre Liebe legte sie in ihren Blick und konnte sich nicht satt an ihnen sehen. Sie hatte sie an ihrer Brust genährt, hatte sie aufgezogen, gehegt und gepflegt und sollte sich nun so kurzer Zeit nur an ihnen freuen.« Gogol, Nikolai: Taras Bulba. Übers. v. Ruth Fritze-Hanschmann. Leipzig 1957. S. 14 f. 98 Siehe auch für die Verortung der unwillkürlichen Lebenserfahrung zur Sphäre des Unverfügbaren bei Schmitz: »Der Ausdruck ›unwillkürliche Lebenserfahrung‹ dient mir zur Umschreibung alles dessen, was nicht bloß ausgedacht, sondern in der Erfahrung der Willkür des Konstruierens unverfügbar vorgegeben ist. Es ist das, wonach die Phänomenologie fahndet.« Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? A. a. O. S. 3 f.

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rät ebenfalls oft in den Hintergrund. Milan Kundera bringt diese unverfügbare Bedingtheit seiner verliebten Romanhelden zum Ausdruck: »Vor sieben Jahren trat zufällig im Krankenhaus der Stadt, wo Teresa wohnte, ein komplizierter Fall einer Gehirnkrankheit auf, und Tomas’ Chefarzt wurde zu einer dringenden Konsultation gebeten. Zufällig hatte dieser Chefarzt Ischias, konnte sich nicht bewegen und schickte Tomas zur Vertretung in das Provinzkrankenhaus. In der Stadt gab es fünf Hotels, doch Tomas stieg zufällig dort ab, wo Teresa arbeitete. Zufällig hatte er vor der Abfahrt des Zuges noch etwas Zeit, und er setzte sich ins Restaurant. Teresa hatte zufällig Dienst und bediente zufällig an seinem Tisch.« 99

Mit dieser zufälligen Verkettung von Ereignissen ist hier kein implizites Plädoyer für die Annahme eines göttlichen Willens oder unausweichlichen Schicksals vorgetragen. Diese fiktiven Schilderungen regen vielmehr zu einer Besinnung darauf an, was uns als Menschen ohne verfügbaren Einfluss zugefallen ist, was wir auf diese Weise also »empfangen« haben. Dieses Zufallen von Ereignissen und Umständen ist in der menschlichen Endlichkeit selbst beschlossen. Wie Marquard betont, leben wir als Menschen »einfach nicht lange genug, um dem, was wir schon sind, beliebig weit zu entkommen und um unser Leben durch Wahl nach absoluten Prinzipien total einzurichten […].« 100 Aufgrund dieses Zeitproblems lautet eine Grundeinsicht Marquards, die er mit Bezug auf Jean-Paul Sartre formuliert: »Darum muß er [der Mensch; J. P.] stets überwiegend das bleiben, was er geschichtlich schon war: er muss ›anküpfen‹. Zukunft braucht Herkunft: ›Die Wahl, die ich bin‹, wird ›getragen‹ durch die Nichtwahl, die ich bin […].« 101 99

Kundera, Milan: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Übers. v. Susanna Roth. 46. Auflage. Frankfurt am Main 2016. S. 43 f. 100 Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. A. a. O. S. 21 f. 101 Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1995. S. 16. Vgl. für ähnliche Formulierungen Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. A. a. O. S. 122. Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart 2015. S. 150, 154, 238, 285.

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Entgegen der Vorstellung, selbst Urheber einer »autonom-prinzipiellen Absolutmachung« zu sein, nach der wir uns bedingungslos selbst erschaffen und einrichten, bleibt das, was wir sind, überwiegend zufällig und durch den Tod begrenzt. 102 Unsere menschliche Beschaffenheit begründet das ungleiche Verhältnis von dem, was uns schon mit der Geburt ins Leben und in dessen weiterem Verlauf zugefallen ist, und dem, was wir darauf aufbauend aus unserer Situation machen können. Der Mensch ist angesichts seiner kurzen Lebensspanne und wesentlichen Endlichkeit nicht in der Lage, sein Leben so sehr in die Hand zu nehmen, als dass er es nach seinem vollkommenen Belieben umstrukturieren könnte. Er ist deshalb mehr seine Widerfahrnisse als seine Leistungen, 103 mehr seine Zufälle als seine Wahl, sodass der Zufall überhaupt seine sterblichkeitsbedingte und geschichtliche Normalität ist. 104 Das zufallsbedingte »Anknüpfenmüssen« des Menschen an eine Kultur, Tradition oder Gemeinschaft zeichnet sich also nicht durch die beliebig wählbaren und wieder abwählbaren Interessen einer Person aus, sondern umfasst »unverfügbare und kaum-entrinnbare Schicksale«. 105 Diese Bedingtheit des Menschen ist sogar eine Grundbedingung seines Handelns: Seine Tätigkeit lebt von seiner Untätigkeit und sein Machen davon, dass er das meiste gerade nicht macht – weil es zum Beispiel andere vor ihm getan 102

Vgl. Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. A. a. O. S. 22. Vgl. Marquard: Zukunft braucht Herkunft. A. a. O. S. 272. 104 Vgl. Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. A. a. O. S. 22; Marquard: Zukunft braucht Herkunft. A. a. O. S. 160. Ähnlich wie oben Kundera die zufällige Begegnung seiner Protagonisten schildert, gibt auch Marquard das Zufällige seines Werdegangs wieder: »Ich hätte auch gar nicht oder früher oder später geboren sein können; zufällig geschah es 1928, zufällig in einer Weltgegend, in der zur Kultur die Philosophie gehört, im übrigen zufällig in Hinterpommern, wo ich Kind war und zur Schule ging, ehe ich, auch durchaus zufällig, auf eine politische Internatsschule kam und dann den Krieg – zufällig – überlebt habe: Mit siebzehn hatte ich meine Kriegsgefangenschaft schon hinter mir, ehe ich dann – zufällig wohnte eine Tante in einem hessischen Ort, an dem ein Abiturkurs lief – mein Abitur machte und – zufällig wurde ich nicht in Magdeburg oder Kiel, sondern in Münster zum Studium zugelassen – ganz und gar zufälligerweise ohne Lebensverspätung zu studieren begann […].« Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. A. a. O. S. 17 f. 105 Vgl. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. A. a. O. S. 18. 103

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haben und immer noch tun –, sodass die meisten Dinge schon immer ohne eigenes Zutun ablaufen. 106 Was dem Menschen damit grundsätzlich auch »zugekommen« ist, ist ein Talent, ein lobenswerter Charakter, aber auch wünschenswerte soziale und kulturelle Lebensbedingungen, von denen er gegebenenfalls von Geburt an profitiert. Der Mensch ist in sein Leben »geworfen« worden, sodass er über einen Großteil seines »in« ihm angelegten Vermögens und seiner damit verbundenen Möglichkeiten zunächst nicht verfügt. Diese Möglichkeiten sind auch durch die Gemeinschaft bedingt, in die wir geboren sind, wie Martin Buber betont: »Die menschliche Person gehört, ob sie es wahr haben, ob sie damit ernstmachen will oder nicht, der Gemeinschaft zu, in die sie geboren oder geraten ist.« 107 Auch unser Charakter, unsere Veranlagungen, unsere Erziehung sind Anteile unserer persönlichen Situation, die uns »zugekommen« sind, aber die wir nicht aktiv ausgebildet haben, als hätten wir sie willkürlich gewählt. Es ist das »[…] Gewicht der Herkunft, die vitale Bedeutung des Anfangs, der ungeachtet des lebensweltlichen Vergessenseins auf das Dasein ausstrahlt – die Tatsache, dass wir uns immer schon vorfinden, in unverfügbarer Weise in das Leben geworfen sind und von einem uneinholbaren Grund her existieren.« 108

Diese unverfügbaren Begleitumstände reichen von der Tatsache, dass man ungefragt in die Welt gekommen ist, über die Familie, deren soziale Stellung und das Milieu, in dem man aufwächst, die nationalen und globalen Zeitumstände seiner Lebenszeit, bis zur körperlichen und geistigen Verfasstheit, in die man hineingeboren wird. 109 Geborensein ist damit ein uneinholbares »Sich-Gegebensein« 110, weil der absolute Anfang seiner selbst nicht in der eigenen Verfügungsgewalt steht, sodass man mit unverfügbaren Vor106

Vgl. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. A. a. O. S. 78 f. Buber, Martin: Die Frage an den Einzelnen. In: Das dialogische Prinzip. 15. Auflage. Gütersloh 2019. S. 195–263, hier 237. 108 Angehrn: Vom Anfang und Ende. A. a. O. S. 30 f. 109 Vgl. Angehrn: Vom Anfang und Ende. A. a. O. S. 38, 42, 52 f. 110 Vgl. Angehrn: Vom Anfang und Ende. A. a. O. S. 39. 107

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Die Demut im Angesicht des Unverfügbaren

gaben leben muss. 111 In dieser existenziellen »Geworfenheit« 112 ist der Mensch schon mit der Geburt einem Geschehen unverfügbar überantwortet und hat etwas »empfangen« oder auch nicht »empfangen«. Ob man glaubt, dass es einem Gott, der Geschichte, oder dem Zufall entstammt, ist dabei nebensächlich. Das Dasein des Menschen läuft damit nicht nur auf den Tod zu, ist mit Heidegger gesprochen nicht nur »Sein zum Tode«, sondern es ist auch »Sein zum Anfang«. 113 Ob und inwiefern ein Mensch seine Möglichkeiten und sein Potential abrufen kann und will, hängt nicht zuletzt auch von den historischen und sozialen Bedingungen der Verhältnisse ab, in denen er sich als Heranwachsender und darüber hinaus zurechtfinden muss und deren er sich als einzelne Person für seine Vorteile, wie schon Marquard betont hat, nicht nach seinem Belieben bemächtigen kann. Ist es aber auch bei diesen Momenten des Unverfügbaren, die wir als Bereicherung empfangen haben, geboten, demütig zu sein? Mein Vorschlag besteht darin, dass es nur dann nötig ist, wenn wir hochmütig glauben, der aktive Schöpfer des uns eigentlich unwillkürlich Widerfahrenen zu sein, sodass wir zum Beispiel prahlend oder verachtend auf jene herabschauen, die es weniger gut »getroffen« hat. Die Demut ist dann gefragt, wenn wir das Verhältnis von dem, was uns hinsichtlich unseres Vermögens »zugekommen« ist, und dem, was wir tatsächlich eigenständig in der Lage waren zu tun, nicht richtig einsehen. Es bedarf der Demut, wenn wir uns hochmütig als ausschließlicher Schöpfer unseres Lebens begreifen, wenn wir sprichwörtlich glauben, es eigenständig »geschafft« oder zu etwas »gebracht« zu haben, sodass wir uns genötigt fühlen, es anderen »zeigen« zu müssen, wie man es »anpacken« muss. In Demut sollte man dagegen nie aus den Augen verlieren, was uns »getroffen« und »gepackt« hat oder uns »zugekommen« ist. Die Demut greift dort ein, wo der Mensch glaubt, er sei allein der vermeintlich eigene »Schmied« »seines« Glückes, über das er ver111

Vgl. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. A. a. O. S. 76. Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 19. Auflage. Tübingen 2006. S. 135. 113 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit. A. a. O. S. 373; Angehrn: Vom Anfang und Ende. A. a. O. S. 39. 112

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Arten der Demut

fügen könnte, wie es ihm beliebt. Ein Urteil über Recht und Unrecht und das Leben der Benachteiligten geht durch diesen Fehlschluss oftmals leicht von der Hand. Die Demut belebt dagegen ein Verständnis für den Mitmenschen, wenn man ernsthaft begriffen hat, dass der Verlauf des eigenen Lebens nie vollends vorhersehbar oder beeinflussbar ist und dass es jeden in Schicksalsschlägen oder schon hinsichtlich der Umstände seiner Geburt »treffen« kann. Wenn es im Neuen Testament sinngemäß heißt »Richtet nicht!« 114 (I.3.1.1), dann ist damit eine Forderung ausgesprochen, die auch für Nicht-Christen einen Sinn haben kann. Als eine implizite Mahnung und Übertragung dieser Verse für eine nicht-religiöse Haltung kann man die folgenden, provokanten Worte Tolstois verstehen, die er rückblickend an die Mitglieder seines gehobenen »Gesellschaftskreises« richtet: »Die Verhältnisse, in denen sie sich befinden, […] macht es ihnen möglich, zu vergessen, daß der Vorteil ihrer Lage nur ein zufälliger ist, daß es nicht allen möglich ist, tausend Weiber und Schlösser zu besitzen, wie Salomo, daß es aber auf jeden Menschen mit tausend Weibern eintausend unbeweibte Männer gibt und daß auf jedes Schloß tausend Menschen kommen, die es in ihrem Schweiße erbaut haben, und daß jene Zufälligkeit, die mich heute zu Salomo macht, mich morgen zum Sklaven Salomons machen kann.« 115

Eine vorschnelle Verurteilung der Mitmenschen hängt vor allem mit den günstigen Umständen zusammen, aus denen heraus man sein Urteil fällt. Ähnlich ist auch schon bei Homer davon zu hören, wie sehr diese Vorverurteilungen durch die Unbeständigkeit des Lebens in ihr Gegenteil umschlagen können: »Siehe, kein Wesen ist so eitel und unbeständig/ Als der Mensch, von allem, was lebt und webt auf Erden./ Denn solange die Götter ihm Heil und blühende Jugend/ Schenken, trotzt er und wähnt, ihn treffe nimmer ein Unglück./ Aber züchtigen ihn die seligen Götter mit Trübsal,/ Dann erträgt er sein Leiden mit Ungeduld und Verzweiflung./ Denn wie die Tage sich ändern, die Gott vom Himmel uns 114

Für die die vollständige Stelle vgl. Mt 7, 1. Tolstoj, Lew: Meine Beichte. Übers. v. Alexis Markow. 4. Auflage. Berlin 2019. S. 54.

115

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

sendet,/ Ändert sich auch das Herz des erdebewohnenden Menschen.« 116

Die Demut kann das von Odysseus diagnostizierte Selbstverständnis korrigieren, 117 wenn wir auch in Besinnung auf die »glücklichen« Umstände unseres Lebens der eigenen Begrenztheit, Abhängigkeit oder Machtlosigkeit gewahr bleiben. Unsere unverfügbaren Laster gilt es nicht einseitig zu betonen, wie auch unsere unverfügbaren Vorzüge nicht zu verteufeln sind (II.4.3). Vielmehr kommt es darauf an, sie demütig und besonnen in unsere Stellungnahme zur Umgebung einzusetzen (II.4.2.2), ohne uns in Hochmut oder Kleinmut vor unseren Möglichkeiten zu verschließen. Der Mensch kann ein Leben in Demut führen, wenn er sich als ein »Medium und Gefäß« 118 (II.4.2.2) für das Unverfügbare versteht, dem er in Leid und Liebe ausgesetzt bleibt. II.5.4 Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung In der Auseinandersetzung mit der Demut vor dem Unverfügbaren kam zur Klarheit, dass der Mensch oftmals der Versuchung unterliegt, zu glauben, er könnte sein Leben vollständig nach seinen Interessen strukturieren und über seine Umstände verfügen, wie über einen handlichen Gegenstand. Dieses fälschliche Bestreben spiegelt sich auch in der Weltbemächtigung wieder, durch welche der Mensch nicht weniger versucht ist, das Unverfügbare zu beseitigen. In seinem Konzept der »Seinsdemut«, das im Detail

116

Homer: Odyssee. Übers. v. Heinrich Voß. 18. Gesang, Vers 129–136. Heinrich Schmidinger verweist auf die darauffolgenden Verse in der »Odyssee«, weil sie zeigen sollen, dass die Demut auch eine Rolle im Polytheismus gespielt hat. Vgl. Schmidinger, Heinrich: Demut-Humor-Toleranz. Zur christlichen Motivation eines humanistischen Ethos. In: Münchner Theologische Zeitschrift. 55 (2004). S. 101–113, hier 102. Dementsprechend übersetzt Heinrich Voß nicht unproblematisch die Mahnung des Odysseus weiter: »Drum erhebe sich nimmer ein Mann und frevele nimmer,/ Sondern genieße, was ihm die Götter bescheren, in Demut!« 18. Gesang, Vers 140 f. 118 Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 12. 117

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Arten der Demut

erst später wichtig wird, setzt Heinrich Kanz mit seiner Kritik an den Naturwissenschaften bei genau diesem Weltverständnis an: »Die naturwissenschaftlich-technische Begriffswelt faßt ihre Objekte unter dem Gesichtspunkt ihrer Beherrschung. […] Nur ihre Verwendbarkeit und Nützlichkeit interessiert sie. Ihre Theorien wollen helfen, rascher zur Anwendung zu kommen, etwa die Wirkung der Atomkräfte in ihre Hand zu legen.« 119

Der grundsätzliche Vorwurf an die Naturwissenschaft besteht hier darin, dass sie ihre Objekte aus ihrem ursprünglichen Lebensoder Wirkungszusammenhang herausnimmt, um sie für menschliche Interessen mit Blick auf Verwendbarkeit und Nützlichkeit zu beherrschen. Laut Kanz werden die Objekte der Naturwissenschaft in Experimenten »ausgenutzt« und »auseinandergenommen«, um mit Zwang ihre »Geheimnisse herauszunehmen« und sie somit in den »Dienst« des Menschen zu stellen. 120 Diese Weltbemächtigung macht aber erst der Reduktionismus möglich, der das Erleben der Menschen auf Träger von Merkmalen reduziert, die eindeutig intersubjektiv identifizierbar, quantifizierbar und variabel nutzbar sind. 121 Unter diesen Trägern verstand man in der Philosophie zunächst »Ideen«, »Formen« oder »Substanzen« und später in der modernen Naturwissenschaft auch Naturgesetze, Atome oder Moleküle, deren man sich im Rahmen von Experimenten und Statistiken zu bedienen versucht. 122 Im Alltag ist uns dieses Weltverständnis geläufig, wenn 119

Kanz, Heinrich: Über das Wesen der Seinsdemut. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. 64. Jg. (1956). S. 393–405, hier 393. 120 Vgl. ebd. 121 Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 33; Ders.: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 211 f. 122 Vgl. Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 212, 816. Max Scheler sieht einen Ausgangspunkt der Weltbemächtigung unabhängig davon in dem von Kant begründeten Verhältnis von Apriorismus und der Vorstellung eines »formenden« und »gesetzgeberischen« Verstandes verwirklicht: »Diese ›Haltung‹ kann ich nur mit den Worten einer ganz ursprünglichen ›Feindseligkeit‹ zu oder auch ›Mißtrauen‹ in alles ›Gegebene‹ als solches, Angst und Furcht vor ihm als dem ›Chaos‹ bezeichnen – ›die Welt da draußen und die Natur da drinnen‹ –; das ist, auf Worte gebracht, Kants Haltung

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

es um den Hormon- und Kalorienhaushalt der Person oder sogar deren DNA-Struktur 123 geht, die man zugunsten einer gesunden Ernährung oder einer sportlichen Figur ermitteln und, wenn möglich, beeinflussen will. Das Wohlbefinden, die Bedürfnisse und die Ziele einer Person sind dann auf die ihrem Körper inhärenten messbaren Merkmale reduziert, auf deren Grundlage Empfehlungen für die sportliche Betätigung oder den Konsum von Nahrungsmitteln ausgesprochen werden. Für den Phänomenologen Schmitz ist das mit der Weltbemächtigung einhergehende Welt- und Selbstverständnis durch die Philosophie maßgeblich vorbereitet worden. Demnach hat Francis Bacon mit seinem »Novum Organum« (1620) für die »imperialistische Weltbemächtigung« den Ausgangspunkt gebildet. 124 Bei Bacon heißt es: »Der Menschen Herrschaft aber über die Dinge beruht allein auf den Künsten und Wissenschaften. Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam besiegen.« 125 Diese Herrschaft ist auch bei Bacon durch den Reduktionismus möglich, gegen die Welt, und die ›Natur‹ ist das, was zu formen, zu organisieren, was zu ›beherrschen‹ ist, sie ist ›das Feindliche‹, ›das Chaos‹ usw. Also das Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie; d. h. es ist im Grunde nur der die Denkweise der modernen Welt so stark durchziehende Welthaß, die Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in sie, und deren Folge, das grenzenlose Aktionsbedürfnis, daß sie ›organisiert‹, ›beherrscht‹ werde – kulminierend in einem genialen philosophischen Kopfe –, was diese Verbindung von Apriorismus und der Lehre vom ›formenden‹, ›gesetzgeberischen‹ Verstande resp. dem die Triebe in ›Ordnung‹ bringenden ›Vernunftwillen‹ psychologisch veranlaßt hat.« Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. A. a. O. S. 86. 123 Siehe dazu die Werbung des Unternehmens »MyBodyDNA«: »Unsere DNAAuswertung zeigt dir zunächst deine genetischen Stärken und Schwächen auf, sowie du deine Ernährungsgewohnheiten und Fitness optimieren kannst, um ein glücklicheres und gesünderes Leben führen zu können.« »Denn das Erbgut eines jeden Menschen weist ganz individuelle Strukturen auf, wodurch jeder Mensch unterschiedliche Ansprüche an die Ernährung und den täglichen Lebensstil hat.« MyBodyDNA: https://www.mybodydna.de/ [zuletzt abgerufen am 04. 05. 20]. 124 Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 42; Ders.: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissensforschung. Bd. 2. A. a. O. S. 214. 125 Bacon, Francis: Neues Organon. Teilband 1. Lateinisch-Deutsch. Übers. v. Rudolf Hoffmann. Hamburg 1990. S. 271 (Aphorismus 129).

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Arten der Demut

denn alles Geschehen in der Natur vollzieht sich durch das »Allerkleinste« oder »wenigstens durch das, was infolge der Kleinheit die Sinne nicht reizt«. 126 Deshalb kann niemand hoffen, die Natur »leiten« oder »umwandeln« zu können, der nicht die der Natur inhärenten Prozesse »in gebührender Weise begriffen und zur Kenntnis genommen hat«. 127 Später gibt Johann Gottlieb Fichte dem Bestreben der Naturbeherrschung in seiner »Bestimmung des Menschen« (1800) eine Stimme: »So soll uns die Natur immer durchschaubarer, und durchsichtiger werden bis in ihr geheimstes Innere, und die erleuchtete und durch ihre Erfindungen bewaffnete menschliche Kraft soll ohne Mühe dieselbe beherrschen, und die einmal gemachte Eroberung friedlich behaupten.« 128

Wenn die Welt aus eindeutig messbaren Trägern besteht, die sich nach bestimmten Gesetzen bewegen, kann der Mensch durch die Technik zum einen versuchen, ihr Funktionieren aufzudecken, um sie zum anderen im Interesse der Nutzbarkeit für die eigenen Zwecke zu manipulieren. Der Erfolg dieses Vorgehens ist uns in der Moderne selbstverständlich. Wer deshalb das Ausmaß dieser Entwicklung begreifen will, muss in der Geschichte zurückgehen, als der Fortschritt einen merklich sprunghaften Anstieg vollzog. Georg Christoph Lichtenberg befragt auf fiktive Weise »sein« 18. Jahrhundert, was es »geliefert« und »Neues« gesehen habe. 129 Die Antwort lautet: 126

Bacon, Francis: Neues Organon. Teilband 2. Lateinisch-Deutsch. Übers. v. Rudolf Hoffmann. Hamburg 1990. S. 293 (Aphorismus 7). 127 Ebd. 128 Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen. Stuttgart 1974. S. 130. Siehe dazu a.: »Die Natur muß allmählich in die Lage eintreten, daß sich auf ihren gleichmäßigen Schritt sicher rechnen und zählen lasse, und daß ihre Kraft unverrückt ein bestimmtes Verhältnis mit der Macht halte, die bestimmt ist, sie zu beherrschen, – mit der menschlichen.« Fichte: Die Bestimmung des Menschen. A. a. O. S. 129. 129 Hannah Arendt konstatiert in diesem Zusammenhang einen Habitus im Forschergeist, der ähnlich auch in Lichtenbergs Darstellungen wiederkehrt. So ist es »das seltsame Pathos des Neuen, der absoluten Originalität, dieser manchmal fast hysterisch anmutende Anspruch der großen Autoren, Wissenschaftler und Phi-

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

»Ich habe die Gestalt der Erde bestimmt; ich habe den Donner Trotz bieten gelehrt; ich habe den Blitz wie Champagner auf Bouteillen gezogen; […] ich habe einen Kometen wiederkehren sehen […]; ich habe Luft in feste Körper und feste Körper in Luft verwandelt; ich habe Quecksilber geschmiedet; ungeheure Lasten mit Feuer gehoben; mit Wasser geschossen wie mit Schießpulver […] und sieh hier endlich habe ich in meinem 83sten Jahr ein Luftschiff gemacht […].« 130

Dass diese Erfolgsgeschichte auch einen großen Schatten geworfen hat, ist nicht erst seit der Auseinandersetzung mit der »Erderwärmung« oder dem »Klimawandel« bekannt. Bacon beteuerte noch zu seiner Zeit, dass die Wohltaten der Erfinder dem »ganzen Menschengeschlecht« zugute kommen werden, wobei die Erfindungen »beglücken« und wohltun, »ohne jemandem ein Leid zu bereiten«. 131 Dabei verwies er schon selbst nicht nur auf den Buchdruck oder den Kompass, sondern auch auf das Schießpulver als eine einflussreiche Erfindung seiner Zeit. 132 Im 20. Jahrhundert, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, prangert Ludwig Klages offen und schonungslos diese andere Seite der Weltbemächtigung an: »Wir täuschten uns nicht, als wir den ›Fortschritt‹ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ›Nutzen‹, ›wirtschaftlicher Entwicklung‹, ›Kultur‹ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, er rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus […] und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überläßt, gleich dem ›Schlachtvieh‹ zur bloßen Ware […].« 133

losophen seit dem siebzehnten Jahrhundert, Sachen zu sehen, die niemand zuvor gesehen, Gedanken zu denken, die niemand zuvor gedacht hat.« Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. 4. Auflage. München 1985. S. 244. 130 Lichtenberg, Georg: Schriften und Briefe. Bd. 3. Hrsg. v. Wolfgang Promies. München 1972. S. 63 f. Zitiert nach: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente. Stuttgart 2019. S. 20–22, hier 21 f. 131 Vgl. Bacon: Neues Organon. Teilband 1. A. a. O. S. 269 (Aphorismus 129). 132 Vgl. Bacon: Neues Organon. Teilband 1. A. a. O. S. 271 (Aphorismus 129). 133 Klages, Ludwig: Mensch und Erde – Ein Denkanstoß. Berlin 2013. S. 18 f.

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Arten der Demut

Während Bacon und Lichtenberg noch der Fortschrittseuphorie ihrer Zeit verhaftet sind, blickt Klages zurück auf eine noch immer anhaltende Entwicklung, die er maßgeblich vor dem Hintergrund ihrer menschlichen und nicht-menschlichen Opfer begreift. Klages sieht die »gesamte Technik«, die unter der Obhut der Wissenschaft steht, im Dienst des »schrankenlosen Beutehungers« arbeiten. 134 Diese Kritik teilt auch das gänzlich andere politische Lager der linksintellektuellen »Frankfurter Schule«. In ihrer während des Zweiten Weltkriegs entstandenen »Dialektik der Aufklärung« schildern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, wie sehr die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in der Massenvernichtung in ihr Gegenteil umschlugen. 135 Demnach erschien schon im Zuge der aufkommenden Aufklärung alles »verdächtig«, was sich nicht dem »Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit« fügen wollte. 136 Die Verheißung von Wissenschaft und Technik war auch für Horkheimer und Adorno der Motor für eine vermeintlich grenzenlose Weltbemächtigung, die auch vor der Unterwerfung des Menschen nicht Halt machte. Mit Bezug auf Bacon heißt es: »Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.« 137 Ähnlich wie für Schmitz oder Klages bilden auch für Horkheimer und Adorno die Philosophie und die Naturwissenschaft die wesentliche Grundlage für die Zerstörung von Mensch und Natur durch die Technik. Der von Bacon und Lichtenberg geäußerte Fortschrittsoptimismus erscheint damit in einem anderen Licht: Die Errungenschaften der Weltbemächtigung haben zwar einerseits 134

Vgl. Klages: Mensch und Erde – Ein Denkanstoß. A. a. O. S. 19. Neben Nietzsche, Gauguin und George gestehen Adorno und Horkheimer auch Klages zu, die »namenlose Dummheit« als Resultat des Fortschritts erkannt zu haben. Vgl. Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 21. Auflage. Frankfurt am Main 2013. S. 248. Für das Verhältnis der Technik- und Fortschrittskritik bei Klages, Adorno und Horkheimer vgl. Großheim, Michael: Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne. Berlin 1995. S. 97–100. 136 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. A. a. O. S. 12. 137 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. A. a. O. S. 10. 135

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

eine grundsätzliche Wohlstandssteigerung bewirkt, die aber andererseits noch immer Teil eines hochmütigen und rücksichtslosen Projektes ist, dessen Opfer in menschlicher wie auch nichtmenschlicher Hinsicht noch immer zu zählen sind. Der Glaube an den Fortschritt konnte der Demut als dem Anerkennen der eigenen Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit keinen Platz einräumen. Diese Haltung musste vielmehr alles implizieren, was Wissenschaft und Philosophie hinter sich lassen wollten. Dass die Demut aber eine wesentliche Rolle für die »Zügelung des Strebens« im Sinne von Thomas von Aquin (I.3.6) spielen sollte, lässt sich an den hier nur angerissenen Folgen der Weltbemächtigung ablesen. Die Demut kann für diese Bemächtigung entweder ein Korrektiv darstellen, wenn die Katastrophe als Schattenseite des Fortschritts bereits eingetreten ist (II.5.4.1), oder von vornherein eine Grundlage für eine Besinnung liefern, die den Charakter des menschlichen Strebens problematisiert (II.5.4.2). II.5.4.1 Von der Katastrophe in die Demut Das 20. Jahrhundert hat der Menschheit die Schattenseiten der Weltbemächtigung auf grausame Weise vor Augen geführt. Millionen von Menschen wurden durch die vormals als Errungenschaft gefeierte Technik in den Tod geschickt. Für Rudolf Bultmann ist der kollektive Zusammenbruch und die Einsicht in die verheerenden Folgen des menschlichen Bestrebens der Ausgangspunkt für die Demut. Auch er unterstellt, dass unter der »Herrschaft der Naturwissenschaft« nur noch das anerkannt wird, »was dem mathematischen Verständnis erkennbar ist, was nach physikalischen Gesetzen verläuft […]«. 138 Im Vordergrund steht einzig die Verfügungsgewalt und der Nutzen für den Menschen:

138

Bultmann, Rudolf: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. In: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. Tübingen 1952. S. 274–293, hier 281.

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Arten der Demut

»Die mit der Entwicklung der Naturwissenschaft wachsende Entwicklung der Technik unterwirft die Welt – wenigstens scheinbar – immer mehr der Verfügungsgewalt des Menschen, dessen faktische Freiheit […] nun eben in der willkürlichen Beherrschung der Kräfte und Güter der Welt besteht […].« 139

Für Bultmann ist es dringend erforderlich, zu begreifen, dass es sich um eine »vermeintliche« oder »scheinbare« Verfügungsgewalt handelt, die zwar die bedingungslose und willkürliche Freiheit des Menschen suggeriert, aber schlussendlich in die Katastrophe führte. Dieses Scheitern ist durch ein Weltbild gestützt worden, das nahelegte, man könnte sich die Welt aneignen, wie es beliebt, wenn man nur ihr »Geheimnis« durch entsprechende Methoden der Wissenschaften gelüftet hat. Es handelt sich um ein Selbstverständnis mit verheerenden Folgen: »Das Erste ist jedenfalls einfach dieses, daß man sich die Situation klar macht, daß man erkennt: es ist die vermeintliche Selbstmächtigkeit des Menschen, die in die Katastrophe geführt hat, der Wahn, nur das für wirklich zu halten, was dem rationalen, mit den Methoden der mathematisch-physikalischen Wissenschaft arbeitenden Erkennen verfügbar ist […].« 140

Anerkannt wird nur die Autorität, die man sich selbst mit Wissenschaft und Technik errichtet hat und durch die der Mensch seine vermeintliche Selbstmächtigkeit genießt. Dagegen wird laut Bultmann nicht nach der Autorität gefragt, die in der Ordnung selbst waltet und der man zwangsläufig unterworfen ist. 141 Der Mensch wirft nur ein Auge auf das, was er durch Messung erfassen und dadurch beherrschen kann, nicht aber auf dasjenige, was seine Möglichkeiten übersteigt und worauf er als menschliches Wesen bei allem Fortschritt angewiesen bleibt. Für Bultmann besteht dagegen die »primäre Erkenntnis« darin, dass »es echte Freiheit nur in

139

Ebd. Bultmann: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. A. a. O. S. 289. 141 Vgl. ebd. 140

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

der Bindung gibt«. 142 Diese Bindung besteht in der grundlegenden Anerkennung einer Autorität, die das menschliche Handeln und Wissen wesentlich überschreitet, was dem Menschen aber erst dann einleuchtet, wenn er sich auf die »Gegenwart als das Ergebnis der in die Katastrophe führenden Entwicklung« 143 und die Folgen seiner vermeintlich grenzenlosen Selbstmächtigkeit besinnt. Diese Selbstmächtigkeit ist es, die sich jeder Autorität als Grenze des Bestrebens versagt. Dagegen offenbart sich, so Bultmann, »daß die Anerkennung einer echten Autorität die Demut des Menschen voraussetzt, die radikale Offenheit für die von jenseits seiner zu ihm sprechenden Macht, – ja, daß in solcher Demut und Offenheit – und das heißt zugleich in dem radikalen Verzicht auf eigenen Anspruch und eigenes Vermögen – der Sinn des Jenseitigen überhaupt erst recht verstanden wird.« 144

Für den Christen Bultmann drückt sich in der »Sprache der Religion« diese »jenseitige Autorität« aus, die schlussendlich auch den Glauben an »Gott den Schöpfer« begründet. 145 Der Kern dieser Demut ist jedoch auch für ein diesseitiges Verständnis fruchtbar. Die echte Freiheit, die nicht in Machtmissbrauch und Umweltzerstörung umschlagen will, hat nur dann Bestand, wenn der Mensch bereit dazu ist, in Demut und Offenheit eine Grenze anzuerkennen, die sein Machtbestreben bremst. Diese Grenze mag verschwommen und uneindeutig sein, weil der Mensch jede vermeintliche Begrenzung seines Strebens immer erfolgreicher durch die Technik überschreitet. Dass aber die Weltbemächtigung eine Grenze überschritten hat, kommt in jedem Fall dann zur Geltung, wenn die Folgen des außer Kontrolle geratenen technischen Bestrebens Mensch und Umwelt vernichten. Ein gegen dieses Bestreben gerichtetes Freiheitsverständnis legt 142

Bultmann: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. A. a. O. S. 290. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Vgl. Bultmann: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. A. a. O. S. 291.

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Arten der Demut

seinen Wert primär nicht in das Vermögen zur Durchsetzung von Machtinteressen, sondern es gründet sich vielmehr in der Achtung vor dem menschlichen und nicht-menschlichen Leben. Die Bindung, die sich der Mensch damit auferlegt, besteht in der Anerkennung einer Wirklichkeit, die er nicht beherrschen, sondern »sein lassen« will (II.5.4.2). Auch für Karl Barth resultiert die Demut, die er sogar mit dem christlichen Glauben gleichsetzt, aus der Erkenntnis des Scheiterns in der Katastrophe. Der Mensch begreift anhand der Folgen seines Strebens die »Verkehrtheit seines auf der ganzen Linie hochmütigen Tuns, er sieht, daß er das, was er sich bei diesem seinem Tun fort und fort verspricht, nicht erreichen wird«. 146 Barths Deutung der Demut als Grundkonstante des christlichen Glaubens klingt wie ein Kommentar auf das blutige Bestreben der totalitären Staaten im 20. Jahrhundert: »Er [der Mensch; J. P.] sieht, was er sich damit einbrockt: daß am Ende aller seiner selbstherrlichen Wege […] die Enttäuschung wartet, die Lächerlichkeit, die Niederlage, die Sinnlosigkeit, mehr noch: der Unsinn und Widersinn, die Zerstörung, das Nichtige, der Tod.« 147

Laut Barth resultiert aus der Verzweiflung im Angesicht der Katastrophe die Möglichkeit des Glaubens. Der Gläubige ist als ein »gedemütigter Hochmütiger« der »Grenzen seines Hochmuts und eben damit der Grenzen seines ganzen Sein und Tuns, seiner eigenen Grenzen mit schrecklicher Gewißheit gewahr geworden […]«. 148 Aus der sich damit einstellenden Demut folgt für Barth auch die Anerkennung des Jenseitigen im Glauben:

146

Vgl. Barth, Karl: Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Versöhnung IV,1 § 61–63. Jesus Christus der Herr als Knecht. 3. Teil. Studienausgabe Bd. 23. Zürich 1986. S. 691. 147 Ebd. 148 Ebd. Barths Überlegungen erinnern an einen Psalm des Alten Testaments, der das »Gedemütigtsein« als notwendigen Schritt zum Glauben begreift: »Ehe ich gedemütigt wurde, ging mein Weg in die Irre;/ nun aber halte ich mich an deine Verheißung.« Ps 119, 67.

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

»Der Glaube ist ganz und gar Demut […]. Negativ ausgedrückt: im Glauben geschieht es, daß des Menschen Bejahung und Gutheißung seines Hochmuts, sein Wohlsein in ihm, ganz und gar in Wegfall kommt. […] Der Glaube ist des selbstherrlichen Menschen Resignation seiner Selbstherrlichkeit.« 149

Auch der Nichtgläubige kann in die Lage kommen, die Grenzen und Folgen seines hochmütigen Bestrebens zu hinterfragen. Der Anstoß dafür liegt in seinem Scheitern und in der Anerkennung des Unverfügbaren (II.5.3), das nicht mit dem Glauben an einen Gott in Verbindung stehen muss. Das Scheitern und die Einsicht in das Angewiesensein des Menschen resultiert bei Bultmann aus der »Verzweiflung«, dem drohenden »Nichts« und den »Grenzsituationen«, aus denen heraus der »Ruf« der »absoluten Autorität« und die Offenheit für das »Jenseitige« wahrzunehmen ist. 150 Für ein säkulares Verständnis der Demut findet diese Anerkennung im Diesseits statt, wenn sich der Mensch durch die Betroffenheit (II.4.1, II.4.1.1) von Angst, Schuld oder leerer Verzweiflung mit der Einsicht konfrontiert sieht, dass er trotz seiner technischen und kulturellen Errungenschaften seiner Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit verhaftet bleibt. Die oben skizzierten Grenzsituationen (II.5.3, II.5.3.1) können in der Erfahrung des Scheiterns eine Norm stiften (II.4.1.3), durch die der Betroffene in einer Stellungnahme diese Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit anerkennen muss. Diese Einsicht ereignet sich zum Beispiel im Kontrollverlust, wenn der Mensch im Angesicht der Trümmer seines Handelns zu spüren bekommt, dass er der Urheber seiner Katastrophe ist. Die Autorität, die einem Menschen seine Grenzen aufzeigt, liegt dann in einer diesseitigen Erfahrung in der Ergriffenheit von einer Atmosphäre der kollektiven Katastrophe. 151 149

Barth: Die Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Versöhnung IV,1 § 61–63. A. a. O. S. 690. 150 Vgl. Bultmann: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. A. a. O. S. 290 f. 151 Der vielseitigen Atmosphäre des kollektiven Zusammenbruchs im Nachkriegsdeutschland gibt Wolfgang Koeppen in seinem erstmals 1951 veröffentlichten Roman »Tauben im Gras« eine Stimme. Dort liest man z. B. von der verzwei-

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Arten der Demut

Abgesehen von Krieg und Massenvernichtung, auf die sich vor allem Bultmann und Barth bezogen haben, bezeichnet man gegenwärtig eine Autorität für den Menschen, die auch für die Demut von Bedeutung ist, mit dem Schlagwort »Natur«. Mit diesem Wort ist oftmals die Vorstellung verbunden, dass der Mensch in die Ordnung eines globalen Ökosystems (oder einer Umwelt) eingegliedert ist, von der man zunehmend merkt, dass sie sich menschlichen Eingriffen auf lange Sicht entzieht. Der nächste befürchtete Zusammenbruch besteht weniger in einem Weltkrieg als in einer Naturkatastrophe, die aus den Folgen des vom Menschen mit verursachten Klimawandels resultiert. Das Abholzen der Regenwälder, die Verschmutzung von Luft und Meeren oder die Inkaufnahme des Artensterbens haben als Konsequenzen der Weltbemächtigung den menschlichen Wohlstand begründet und im selben Zug die Erderwärmung, das Steigen des Meeresspiegels, Ozonlöcher oder die Rohstoffknappheit bei wachsender Weltfelten Stimmung eines Festes: »Es war ein Fest ohne Stolz und Schönheit. War es ein Fest? Was feierten sie? Feierten sie das Nichts? Sie sagten: ›Wir feiern!‹ Aber sie ließen nur ihre trüben Sinne laufen. Sie tranken Champagner, und sie ließen die Trostlosigkeit leben, sie füllten die Lebensleere mit Geräuschen, sie jagten die Angst mit Mitternachtsmusik und schrillem Lachen. Es war ein scheußliches Fest.« Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Frankfurt am Main 1980. S. 207 f. Aus der Perspektive des Philosophen schildert auch Helmuth Kuhn die »Begegnung mit dem Nichts« in der Nachkriegszeit im Angesicht der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts: »Kurzum, der Apparat der Zivilisation funktionierte noch. Heute funktioniert er nicht mehr. Das Nichts hat sich aus einer entfernten Ankündigung zu einer aufdringlichen Wirklichkeit entwickelt. Ein furchtbarer Krieg gegen Unterdrückung ist geführt und schließlich gewonnen worden, und hat doch zu neuer Unterdrückung geführt. Unterdessen liefert die Wissenschaft von der Materie Waffen zur Zerstörung der materiellen Welt, soweit sie nur dem Menschen erreichbar ist. So ist uns klar gemacht worden, daß selbst wenn der beherrschende Zweck und die unbedingte Hingabe das Denken und Wollen der Menschen nicht mehr lenken und erleuchten, immer noch Märkte sich erweitern, Industrien blühen und Nahrungsmittel in Hülle vorhanden sein können – für eine Weile. Aber diese Weile – die Lebensdauer, die einem entseelten Gesellschaftskörper zugebilligt ist – scheint sich fast dem Ende zuzuneigen. Der Apparat selbst beginnt auseinanderzufallen, und wie das Nichts sich ausdehnt, verkünden die Existentialisten als Propheten des Unheils seinen legitimen Herrschaftsanspruch.« Kuhn, Helmut: Begegnung mit dem Nichts. Ein Versuch über die Existenzphilosophie. Tübingen 1950. S. 10 f.

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

bevölkerung befeuert. Mit Blick auf die noch ausstehenden spürbaren Veränderungen dieser Entwicklung ist man beinahe geneigt, der »Natur« anthropomorphe Züge auszustellen, weil sie ihre »Rache« am Menschen zu unternehmen scheint. Durch die Folgen der Umweltzerstörung ist dem Menschen eine Grenze spürbar aufgezeigt, die er lange Zeit nicht demütig anerkannt, sondern hochmütig durch Wissenschaft, Wirtschaft und Politik überschritten hat. In den Konsequenzen der Weltbemächtigung wird dem Menschen seine vermeintliche Verfügungsgewalt zunichte gemacht. Der »Turmbau zu Babel« ist dafür ein Sinnbild, das noch immer anschauliche Geltungskraft besitzt. Schon Blaise Pascal stellte in seinen 1669 posthum erschienenen »Pensées« fest, dass »wir« vor Sehnsucht »verbrennen«, »einen festen Ort und ein endgültiges Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten und die Erde tut ihre Abgründe auf.« 152 Während Pascal den Turmbau als ein – wenn auch vergebliches – Bestreben versteht, die Unbeständigkeit des Menschen und dessen »metaphysische Unruhe« 153 zu kompensieren, steht er im Alten Testament vor allem für die menschliche Maßlosigkeit und Selbstherrlichkeit, die ihm zum Verhängnis wird. Als der Gott des Alten Testaments den von Menschenhand gebauten Turm, der bis in den Himmel ragte, begutachtete, musste er sich eingestehen: »Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen.« 154 Die Gegenmaßnahme des Gottes bestand in der »Verwirrung« der Sprache, sodass sich der Mensch auf der Erde »zerstreute«. 155 Es bedarf nicht des Glaubens an einen Gott, um den »Turmbau« auch für die Moderne als sinnbildliche Warnung verständlich zu machen. Anhand der Katastrophen und Gräueltaten des 20. Jahrhunderts ist auf traurige Weise Gewissheit geworden, dass der Mensch 152

Pascal, Blaise: Gedanken. Übers. v. Wolfang Rüttenauer. Wiesbaden o. J. S. 152 (Fr. 315). 153 Vgl. Cioran, Emil M.: Auf den Gipfeln der Verzweiflung. Übers. v. Ferdinand Leopold. 4. Auflage. Frankfurt am Main 1997. S. 121. 154 Gen 11, 6. 155 Vgl. Gen 11, 7 ff.

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Arten der Demut

nicht nur für Verwirrung und Zerstreuung, sondern sogar für die Zerstörung des gesamten Planeten ganz allein verantwortlich sein kann, wenn er sich zum Beispiel im Rausch der Weltbemächtigung den »Turm« des Nationalsozialismus oder Stalinismus erschuf, unter dessen Zusammenbrüchen Millionen von Menschen ein Ende fanden. Man befürchtet nun den Zusammenbruch eines »Turmes«, der in der vermeintlichen Herrschaft über die »Natur« errichtet wurde, was nicht zuletzt auch ein Wirtschaftssystem befördert hat, das seinen Sinn nur noch im ungezügelten Wachstum findet. Günther Anders sieht im »Turmbau zu Babel« noch ein »lammfrommes Geschäft« entgegen der »totalen« menschlichen Verweigerung des menschlichen »Soseins« und den Absichten des »Human Engineerings«. 156 Anders macht deutlich, worin das Problem bei der Ermittlung einer Grenze für das menschliche Bestreben und dessen »Produkte« besteht. Denn hinsichtlich der Herstellung von »Dingen« ist der Mensch grundsätzlich frei, weil er über kein absolutes Kriterium für ein Maß seines Bestrebens verfügt – außer, wenn er sich selbst zu diesem Kriterium macht. 157 Das hat zur Konsequenz, dass der Mensch seinen eigenen Grenzpunkt in dem Augenblick erreicht hat, »in dem er ›kleiner als er selbst‹, mit sich selbst ›nicht mehr mitkommt‹, das heißt: seinen Produkten nicht mehr gewachsen ist. Also heute«. 158 Der Mensch kommt »mit sich« und seinen technischen Errungenschaften nicht mehr mit, wenn er die Folgen ihres Einsatzes aus der Hand gibt, weil er sie entweder zu wenig bedenkt oder erst gar nicht erdenken kann. 159 Hinzu kommt die Problematik, dass der 156

Vgl. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. A. a. O. S. 45. Auf die von Anders diagnostizierte »hybride Demut«, die er in der Auseinandersetzung mit dem »Human Engineer« erläutert, gehe ich nicht weiter ein. Vgl. dafür Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. A. a. O. S. 47. 157 Vgl. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. A. a. O. S. 45. 158 Ebd. 159 Diese Situation des Menschen bezeichnet Anders auch als das »prometheische Gefälle«: »Die Tatsache der täglich wachsenden A-synchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktwelt, die Tatsache des von Tag zu Tag breiter werdenden Abstandes, nennen wir das ›prometheische Gefälle‹.« Dieses Gefälle zwischen Machen

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

Mensch erst dann seine Grenzen bemerkt, wenn er bereits »kleiner als er selbst« ist, also dann, wenn es schon reichlich spät für eine Korrektur seines Bestrebens ist, weil dessen unkontrollierbare Folgen bereits Wirklichkeit geworden sind. Deswegen fügt Anders seiner Diagnose eine nachträgliche Datierung hinzu, die zugleich verdeutlicht, wann die Grenzüberschreitung eingetreten ist: »Also heute«. Wenn die Grenze des technischen Bestrebens durch den Menschen selbst bestimmt ist, dann muss er zwangsläufig, weil ihm die Folgen seines Schaffens nie vollends durchsichtig werden können, immer einen Schritt zu spät mit den Konsequenzen seines Handelns leben. Paradox ist es deshalb, dass er auch als aktiver Schöpfer seiner Errungenschaften diesen zugleich auch immer in einem gewissen Maß passiv ausgesetzt bleibt. Bei der Entstehung seiner Überlegungen in den 1950er Jahren hatte Anders zwei Weltkriege und den Abwurf der Atombombe miterlebt. Bis in das 21. Jahrhundert hinein stehen auch die Ereignisse in Tschernobyl und Fukushima oder die Weltwirtschaftsund »Klimakrise« dafür, wie sehr der Mensch im Überschreiten seiner Grenze nicht mehr »mit sich« mitgekommen ist. Die Menschheit hat die Möglichkeit, aus diesen anhaltenden Katastrophen den Wert der Demut zu schöpfen, wenn sie auf Grundlage dieser Erfahrungen (II.4.1) eine Besinnung (II.4.2) auf die notwendigen Grenzen des menschlichen Strebens anstellt. II.5.4.2 Das demütige Annehmen im Seinlassen Damit die Demut nicht erst aus den Erfahrungen einer Katastrophe (II.4.1) entspringt, müssen die Grenzen des menschlichen und Vorstellen, zwischen Tun und Fühlen oder zwischen Wissen und Gewissen im Verbund mit der steigenden menschlichen Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Technik diagnostiziert Anders als fundamentales Problem: »Was uns heute – im Unterschied zu Faust – aufregen müßte, ist jedenfalls nicht, daß wir nicht allmächtig sind oder allwissend; sondern umgekehrt, daß wir im Vergleich mit dem, was wir wissen und herstellen können, zu wenig vorstellen und zu wenig fühlen können. Daß wir fühlend kleiner sind als wir selbst.« Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. A. a. O. S. 29, 299.

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Arten der Demut

Bestrebens zuvor durch eine Selbstverortung (II.4.2) eine Problematisierung finden. Diese Grenzen konkret auszuhandeln, kann aber hier nicht Teil der Überlegungen sein, weil damit der Boden von ethischen Debatten betreten wird, der über die Demut als Haltung hinausgeht. 160 Stattdessen kann die Demut diese Besinnung erst entfachen, indem sie auf die vergessene Beschaffenheit des Menschen verweist und damit auch die Frage nach einem Weltverhältnis stellt, das jenseits des Bemächtigungswillens liegt. Heinrich Kanz teilt, wie oben angeführt, die Kritik an einem naturwissenschaftlichen Weltbild, das einzig an der Herrschaft über die »Dinge« interessiert ist. Um gegen dieses Weltverständnis vorzugehen, greift Kanz nicht die Grundprämissen der Naturwissenschaften als solche an, sondern er plädiert stattdessen für eine erkenntnistheoretische Grundhaltung, die er als »Seinsdemut« versteht. Gegen den »Bemächtigungswillen« möge der Mensch demnach seine »Herrschsucht« zugunsten einer »Seinsoffenheit« oder »Seinsnaivität« ablegen, um der Wirklichkeit gegenüber »demütig offen« zu sein. 161 Das Bestreben in der Seinsdemut folgt nicht einem »geistigen Machtwillen«, sondern lässt ein »demütiges Ergriffensein« von der Wirklichkeit walten. 162 Der »Eros« als »Wille zur Wahrheit« muss dafür »begierdefrei« sein und sich von seiner »zu früh gefaßten Meinung« losmachen und von sich »abstrahieren« können, sodass er im Rahmen einer »inneren Dienstbereitschaft« »jedem Sein erkenntnismäßig das Seine« gibt. 163 Dieses demütige Abstraktionsbestreben als Absehen von sich selbst treibt Kanz aber soweit auf die Spitze, dass er implizit ein Demutsverständnis befördert, welches das »Absterben« des Selbst 160

Damit wird erneut ersichtlich, wie wichtig es ist, neben der Demut noch andere Haltungen oder Werte in seiner persönlichen Situation zuzulassen (II.4.3). Die Demut verweist zwar auf die Abhängigkeit des Menschen, gibt aber als Haltung rein aus sich heraus noch keine entsprechende Handlungsweise hinsichtlich einer Lösung für einen Umgang mit dieser Situation vor. Deshalb ist zum Beispiel ihr Verbund mit der Besonnenheit nicht weniger wichtig (II.4.2.2). 161 Vgl. Kanz, Heinrich: Seinsdemut. Erziehungsphilosophische Aspekte zu einer erzieherischen Grundhaltung. Frankfurt am Main 1986. S. 36, 56 f. 162 Vgl. Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 62. 163 Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 63, 117.

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

zugunsten einer möglichst »reinen« Erkenntnis proklamiert. Diese radikale Verneinung des Eigenwillens sollte im Christentum einen Weg zu Gott ebnen (I.3.4, I.3.7), während diese Selbstverleugnung bei Kanz einen Weg zur Erkenntnis der »reinen Wahrheit« bereiten soll. Der Philosoph muss in diesem Sinne stets demütig von sich weg auf das »Sein« sehen und dessen »Eigenständigkeit« anerkennen, indem er von seiner »Ichverkrampfung« und von seinem Stolz, der einseitig immer nur auf die eigenen Interessen und Vorlieben sieht, ablässt. 164 Statt alles »Sein« unter der eigenen »Brille dieses oder jenes angenommenen Prinzips« zu sehen, »das als Vorurteil schon vor jeder Wirklichkeitsschau« geurteilt hat, ist sich der Seinsdemütige seiner Voreingenommenheit bewusst. 165 Diese Form der »Seinsdemut« als »Bezwinger des Vorurteils« mag noch eine milde und nachvollziehbare Variante dieser Haltung sein. Über das »Bezwingen« der Vorurteile hinaus plädiert Kanz aber auch für eine »Ichentsagung« oder für eine »Entsagung des Personenkerns« 166, die er schließlich zu einem »Sichselbstauslöschenkönnen« und einer »Abtötung des Angenehmen« steigert, womit er den Pfad der traditionellen christlichen Mystik betritt. 167 Erst diese Anstrengung, sich von seiner »Subjektivität« zu »befreien«, führt für Kanz mit dem »Ausbrechen« der eigenen »Ichheit« zum Habitus der »Seinsdemut«. 168 Die »Seinsdemut« nach Kanz erweist sich auf diese Weise selbst als ein hochmütiges Projekt. Sein Vorhaben der Ermöglichung einer möglichst klaren oder »ichfreien« Erkenntnis impliziert die Annahme, man könne sich den »Sachen« oder der »Wirklichkeit« möglichst unabhängig von der eigenen Subjektivität nähern. Was Kanz unter dem »Sein« und der »Wirklichkeit« versteht oder worin die »Ichentsagung« im Detail besteht, ist seinen 164

Vgl. Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 65, 78. Vgl. Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 85. 166 Vgl. Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 66, 117. 167 Vgl. Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 95; Kanz: Über das Wesen der Seinsdemut. A. a. O. S. 403. Siehe dazu z. B. Meister Eckharts Charakterisierung der Demut: »Denn vollkommene Demut zielt auf ein Vernichten seiner selbst […].« Meister Eckehart: Von der Abgeschiedenheit. A. a. O. S. 139. 168 Vgl. Kanz: Seinsdemut. A. a. O. S. 95. 165

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Überlegungen nicht zu entnehmen. 169 Kanz geht davon aus, man könnte seine Subjektivität – die nicht nur die eigenen Vorurteile, sondern auch das spürbare Betroffensein insgesamt umfasst – abstreifen, um dann der Realität, »wie sie wirklich ist«, möglichst nahezukommen. Dass wir aber umgekehrt das, was wir als wirklich verstehen, auch durch spürbare Erfahrungen erschließen, die uns angehen und die ohne ein leibliches Subjekt nicht denkbar sind, schließt Kanz damit kategorisch aus. Damit teilt er den Anspruch der Naturwissenschaften – die er eigentlich kritisieren wollte – wie von Wissenschaft überhaupt, seine Ergebnisse möglichst unabhängig vom persönlichen Belieben oder anderen Einflüssen zu formulieren und seinem »Ich« in dieser Hinsicht zu entsagen. Dieses Vorgehen ist zu Recht für jegliche Wissenschaft erforderlich, die nicht in die Beliebigkeit abrutschen will. Was aber Kanz wie auch die Naturwissenschaften übersehen, ist der Ausgangspunkt des menschlichen und tierischen Lebens, der auf den »subjektiven Tatsachen« fußt. Bei diesen handelt es sich zum Beispiel um die Tatsachen des »affektiven Betroffenseins«, bei denen einer Person etwas spürbar so nahegeht, dass nur sie als Betroffene davon berichten kann. 170 Für das Erschließen und Formulieren der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist es erforderlich, sich weitestgehend von dieser Betroffenheit frei zu machen, was aber nicht zu der Annahme verleiten sollte, dass man grundsätzlich und immer von seiner Subjektivität frei werden könnte. Gegen eine vollkommene »Ichfreiheit« spricht daneben auch, dass eine »Sache« stets nur in einer Perspektive vorkommt, im Licht einer Sprache oder des »geschichtlich geprägten Vorrats an Gesichtspunkten oder Hinsichten«. 171 Auch dies sind Beschaffenheiten des menschlichen Lebens, die man in Demut anerkennen kann, anstatt sie hochmütig auslöschen zu wollen. Der »Herrschaft über die Dinge« trotzen zu wollen, muss nicht 169

Am eingängigsten mag dafür noch Kanz’ Veranschaulichung der Seinsdemut anhand der Kunst sein, bei der es um das »Einfühlen« in das Kunswerk geht. Vgl. Kanz: Über das Wesen der Seinsdemut. A. a. O. S. 393 f. 170 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 6. 171 Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. A. a. O. S. 13.

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

den radikalen Umkehrschluss zur Folge haben, jegliche Stellungnahme des Menschen auszuschalten. Trotzdem ist ein Aspekt aus Kanz’ Überlegungen zur »Seinsdemut« von Bedeutung: Möchte man das einseitige und zerstörerische Bestreben der Weltbemächtigung überwinden, ist es geboten, das »Sein« oder die »Wirklichkeit« insofern walten zu lassen, als dass man nicht dauerhaft bestrebt ist, sie in die eigene Verfügungsgewalt bringen zu wollen. Nicht die bis zum Äußersten getriebene »Ichentsagung«, sondern die demütige Annahme unserer Widerfahrnisse möge ein Korrektiv im Bestreben der Weltbemächtigung darstellen. Dafür ist weniger eine erkenntnistheoretische Grundhaltung nötig, als dass ein Verhältnis zu seiner Umgebung gefragt ist, das in der Besinnung auf das »Netz der Abhängigkeiten des Menschseins« 172 seinen Ausgangspunkt hat (II.4.2.2). Der als Skeptiker bekannte Montaigne sah die »innere Größe« des Menschen nicht darin, »sich möglichst weit nach oben oder nach vorwärts zu recken, sondern darin, sich zu bescheiden und zu beschränken«, weil die Erfüllung in dem liegt, »was genug ist«. 173 Montaigne ist nie müde geworden, die Unbeständigkeit und Bedingtheit des menschlichen Lebens zu betonen, was zugleich ein Korrektiv für die menschliche Lebensführung bildet. Für Montaigne ist die Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes die sicherste Erkenntnis, die uns das Leben lehrt, wobei es die Gewohnheit, aber nicht die Einsicht ist, die einen grenzenlosen Einfluss hat, das Leben zu formen. 174 Dazu gesellt sich eine Unbeständigkeit des menschlichen Lebens, die nicht zuletzt an den Widersprüchen und Inkonsistenzen abzulesen ist, wie sie in den Haltungen der eigenen Person versammelt sind. 175 Der Mensch ist nach diesem Verständnis nicht in Beständigkeit und Absolutheit »fest-zustellen«, sondern, was an ihm am häufigsten 172

Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 9. Montaigne, Michel: Über die Erfahrung. In: Ders.: Die Essais. Hrsg. u. übers. v. Arthur Franz. Leipzig 1953. S. 369–386, hier 385. 174 Vgl. Montaigne: Über die Erfahrung. A. a. O. S. 374 f. 175 Vgl. Montaigne, Michel: Über die Unbeständigkeit unseres Handelns. In: Ders.: Die Essais. Hrsg. u. übers. v. Arthur Franz. Leipzig 1953. S. 165–174, hier 170 f. 173

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Arten der Demut

zur Geltung kommt, ist ein »je nachdem« unter einem wechselhaften Gesichtspunkt. 176 Mir kommt es an dieser Stelle nicht auf die Richtigkeit dieser skeptischen Grundthesen an, sondern auf Montaignes implizite Betonung, dass der Mensch in seinem Streben einer grundsätzlichen Fehlbarkeit und Unbeständigkeit ausgesetzt bleibt, so optimistisch ihn der wissenschaftliche Fortschritt auch stimmen mag. »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt« 177, heißt es in diesem Sinne schon bei »Faust«. Auch im Drama »Der arme Heinrich« von Gerhart Hauptmann heißt es auf ähnliche Weise: »Daß der Mensch ein Sieb ist, […] der, was er faßt, nicht faßt.« 178 Was hier bei Hauptmann noch mehr als bei Goethe zur Geltung kommt, ist die Unverfügbarkeit (II.5.3) im menschlichen Handeln, der man auch als Schöpfer seiner eigenen Errungenschaften ausgesetzt bleibt, was oben auch schon in der Auseinandersetzung mit Anders (II.5.4.1) verdeutlicht wurde. In der Einsicht, dass das menschliche Handeln hintergründig auch immer von Unbeständigkeit und Fehlbarkeit bestimmt ist, schlummert auch jener Ausgangspunkt, der in der Anerkennung der menschlichen Abhängigkeit, Begrenztheit und Machtlosigkeit den Grundstein zur Demut legt. Aus ähnlichen Gründen hat, wie bereits erläutert, auch Descartes die »tugendhafte Demut« bestimmt (I.4.3), deren Definition ich zur Veranschaulichung erneut verkürzt wiedergebe: »Tugendhafte Demut besteht nur darin, daß unser Nachdenken über die Ungefestigtheit unserer Natur und über die Fehler, die wir früher einmal begangen haben können oder zu begehen imstande sind, […] die Ursache ist, daß wir uns gegenüber niemand anderem bevorzugen […].« 179

Hermann-Otto Leng baut die von Montaigne vorgenommene Selbstverortung zu einer »Demut des Annehmens« aus. 180 Diese 176

Vgl. Montaigne: Über die Unbeständigkeit unseres Handelns. A. a. O. S. 171. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil. Berlin 2013. Vers 317 (Prolog im Himmel). 178 Hauptmann: Der arme Heinrich. A. a. O. S. 69 (Vierter Akt, Mitte). 179 Descartes: Die Passionen der Seele. A. a. O. S. 95 (Artikel 155). 180 Wenn Montaigne selbst allerdings konkret von Demut spricht, dann in einem 177

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

Haltung verzichtet auf die »Vorstellung einer Erlösungsbedürftigkeit« oder auf eine fatalistische Idee des Schicksals, weil sie »zurückgehalten« im »empirischen Selbst« verweilt, um die »Komplexität der Ichbildung« weiß und auf »eine Auseinandersetzung mit und ein Aushalten von Widersprüchen angewiesen ist«. 181 Der Bezugsrahmen dieser demütigen Haltung ist die »Gelassenheit«, die ohne die Demut nicht denkbar sein soll. 182 In dieser Gelassenheit bejaht der Demütige die »Tragik des Lebens«, die Leng ebenfalls aus der skeptischen Haltung Montaignes ableitet: Das menschliche Leben ist gekennzeichnet durch die »Auslieferung« an die »Natur«, ohne dabei einen sicheren oder zweifelsfreien Anspruch auf Wahrheit machen zu können, unter der Bedingung, selbst permanent Veränderungen und Abhängigkeiten zu unterliegen. 183 Diese Einsicht und die Erfahrung dieser Umstände ermöglichen für Leng eine »Demut des Annehmens«, welche die »Grenzen« der Natur und die menschliche Endlichkeit anerkennt und sie nicht zu beherrschen oder zu umgehen versucht. 184 Es ist eine Demut, die mit Epikur und Montaigne zur Überzeugung kommt, alles grundlegend anzunehmen, »was uns zukommt«. 185 Die »Demut des Annehmens« verbindet Leng mit einem »Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens«, der auch das ökologische Ton, der das Unbehagen an dieser Haltung groß werden lässt. Für ihn ist sie ein Mittel zum Gehorsam, der die menschliche Unbeständigkeit kompensieren soll: »Noch eins möchte ich sagen: nur Demut und Unterwerfung formt den Menschen recht. Zu erkennen, was Pflicht ist, können wir nicht der Beurteilung jedes einzelnen überlassen; das muß ihm vorgeschrieben werden; es darf ihm nicht überlassen werden, so zu entscheiden wie er sich denkt: sonst würde es, bei der Schwachheit und der unendlichen Vielgestaltigkeit unseres Denkens und Meinens, schließlich so weit kommen, daß wir als Pflicht empfänden, uns gegenseitig aufzufressen. – Das erste Gesetz, das Gott dem Menschen gegeben hat, war ein Gebot des reinen Gehorsams.« Montaigne, Michel: Apologie des Raimond Sebond. In: Die Essais. Hrsg. u. übers. v. Arthur Franz. Leipzig 1953. S. 214–242, hier 217 f. 181 Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 69. 182 Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 17, 82. 183 Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 33, 89. 184 Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 110 f. 185 Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 34, 40.

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Arten der Demut

Selbstverständnis des Menschen betrifft. Die »Natur achtende Demut des Annehmens« oder auch die »ökologische Demut des Annehmens« besteht darin, die uns von der »Natur« gesetzten Schranken und Grenzen anzuerkennen. 186 Gegen den von Leng erhobenen Zweifel an der modernen Lebensführung des Menschen ist nichts auszusetzen. Problematisch ist vielmehr, dass Leng von »Schranken« oder »Grenzen« ausgeht, die von der »Natur« gesetzt sein sollen, aber vielmehr vom Menschen selbst errichtet wurden, wie oben die Auseinandersetzung mit Anders verdeutlicht hat (II.5.4.1). Das Problem zeichnet sich gerade dadurch aus, dass der Mensch über keine Grenze für eine maßvolle Weltbemächtigung verfügt, außer wenn er sich entweder selbst zu deren Kriterium macht oder ihm seine Grenze durch die außer Kontrolle geratene Katastrophe vor Augen geführt wird. Statt diese Grenzen der »Natur« wie selbstverständlich vorauszusetzen, muss der Demütige vehement darauf verweisen, dass ein Annehmen oder »Genug« nötig ist, das auch aus der menschlichen Endlichkeit und seiner begrenzten Fähigkeit resultiert, mit seinen Errungenschaften umgehen zu können. Vielversprechender ist deshalb Lengs Plädoyer dafür, dass der Mensch sich nicht länger in der Position des »selbstherrlichen Machers« sehen, sondern sich stattdessen als ein »Mitlebewesen« begreifen sollte. 187 Im Ringen um einen »ökologisch verträglichen Lebensstil« erkennt der Demütige die menschliche Abhängigkeit seiner naturgegebenen Lebensgrundlagen an. 188 Der Mensch soll sich dafür weder eine »Sonderstellung« als »Krone der Schöpfung« zuschreiben, noch sich als »gefallener Engel« im Sinne des Christentums verstehen. 189 Ein Mitlebewesen, so möchte ich Leng verstehen, zeichnet sich dadurch aus, dass es mit allen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen auskommen will, ohne sie und seine Umwelt als bloße Ressource wahrzunehmen, der es sich einzig zu seinen 186 187 188 189

Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 110. Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 54. Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 66, 172. Vgl. Leng: Die Dimensionen der Demut. A. a. O. S. 106.

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Zwecken bemächtigen darf. Was zählt, ist die Anerkennung alles menschlichen und nicht-menschlichen Lebens, die sich darin ausdrückt, dass man es »sein lässt«. Damit hängt auch die Anerkennung des Angewiesenseins auf seine Umwelt in ökologischer Hinsicht zusammen. Der Mensch benötigt ein funktionierendes ökologisches System, durch das er sich erhalten und lebenswürdig existieren kann. Mit der Demut braucht man dafür keine romantische Sehnsucht nach einem »ursprünglichen« Leben mit der »Natur« zu kultivieren. Demut bedeutet ebenso wenig, rückwärtsgewandt jegliche Errungenschaften der Menschheit zugunsten einer ökologischen Verträglichkeit verbieten zu wollen. Vielmehr kann diese Haltung eine, wie Thomas von Aquin (I.3.6) vorschlägt, »Zügelung des ungeordneten Strebens nach Größe« vornehmen, die sie aus der Erkenntnis entnimmt, »insofern sich jemand nicht höher einschätzt, als er wirklich ist«. 190 Diese Zügelung ist möglich, wenn man beginnt, »mit«, aber nicht über seine Umwelt oder Umgebung hinwegzuleben. Die Demut muss die Notwendigkeit dieses Maßes einfordern, aber kann, wie bereits gesagt, nicht aus sich heraus einen Diskus vorwegnehmen, der über konkrete Formen dieses Maßes entscheidet. Schon vor Leng hat auch Heinrich Schmidinger auf ähnliche Weise mit Rückgriff auf Montaigne die Demut mit der Anerkennung und der Annahme der Beschaffenheit des menschlichen Lebens begründet: »Grundsätzlich ist es das Anerkennen, dass es so ist, dass es (in anderen Worten) den Menschen und damit das, was ihn ausmacht, das Humane, das Menschliche, nur in dieser Form gibt: in der Koinzidenz von Endlichkeit und Größe, von Schwäche und Stärke […] von Tod und Leben. Was jedoch resultiert und erwächst aus dieser Anerkennung, aus diesem Gerechtsein des Menschen mit sich selbst? […] Es ist das, was Hugo Friedrich in seiner Monographie über Montaigne die Bejahung seiner selbst und Romano Guardini die Annahme seiner selbst genannt hat. Diese wiederum ist das bereits angesprochene Stehen zu sich selbst, das alles Menschliche in der Koinzidenz des Widersprüchlichen und Antinomischen im Blick hat.« 191 190 191

S.th. II–II, q. 161, a. 6. Schmidinger: Demut-Humor-Toleranz. A. a. O. S. 111.

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Arten der Demut

Von seinem religiösen Standpunkt aus macht Romano Guardini deutlich, dass es beim »Annehmen seiner selbst« nicht auf einen Stillstand des eigenen Strebens ankommt: »Das bedeutet nicht den Verzicht auf das Streben, aufzusteigen. Das darf ich und soll es; aber auf der Linie des mir Zugewiesenen.« 192 Dabei geht es auch ihm nicht um eine Legitimierung von Unterwürfigkeit und Unmündigkeit, sondern um die »Absage an die Hybris« aus »Treue zur Wirklichkeit«. 193 Das »mir Zugewiesene« und die »Wirklichkeit« besteht für den Christen Guardini in dem, was Gott mit seiner Ordnung »geschenkt« hat. Für den Nicht-Christen kann die »Annahme seiner selbst« im diesseitigen Anerkennen seines endlichen Vermögens bestehen. Dafür ist es notwendig, das Ausmaß seines Handelns und dessen Folgen im persönlichen wie auch kollektiven Streben zu überdenken. Der Hochmütige misst sein Streben nicht an dem, was seinem wirklichen Handlungsvermögen entspricht, während der Demütige, der gemessen an der Wirklichkeit um seine Schwächen weiß, einen maßvollen und seine Umgebung achtenden Umgang anstrebt (II.5.5.2). Erst im Scheitern erkennt der Hochmütige, wie es »eigentlich« oder »wirklich« um seine Position steht, wenn er am Übermaß seiner zu hoch gesteckten Ziele scheitert und die Folgen seines Handelns zu spüren bekommt (II.5.4.1). Wer die »Treue zur Wirklichkeit« als den Versuch einer Selbstverortung im Verhältnis zu seiner Umgebung und seiner Umwelt wahrnimmt, kann auf die Missachtung und Zerstörung seines Lebensraumes aufmerksam werden, die sich zum Beispiel an der Veränderung der klimatischen Lebensbedingungen ablesen lässt. Dass der Mensch der »Wirklichkeit« seines Eingegliedertseins in eine Ordnung nicht gerecht wird, merkt er gerade dann, wenn er den Veränderungen hinsichtlich des Klimas nicht mehr Herr werden kann und den Folgen seines Handelns damit langfristig ausgeliefert ist.

192

Guardini, Romano: Die Annahme seiner selbst. Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß. 12. Auflage. Kevelaer 2020. S. 18. 193 Vgl. Guardini: Die Annahme seiner selbst. A. a. O. S. 22.

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

Günter Virt sieht gerade in der Umweltzerstörung den »handgreiflichsten Ausdruck« der »verlorenen Demut« und eines stattdessen »eingeschlichenen Hochmuts«. 194 Der Mensch legt »Hand an die Fundamente der Wirklichkeit«, wenn er zum einen die »elementaren Bausteine der Materie« in der Atomkraft benutzt und zum anderen die »elementaren Bausteine des Lebens« von Pflanzen, Tieren und seiner Selbst manipuliert, wenn er zum Beispiel Gentechnik zur Anwendung bringt. Dagegen plädiert auch Virt für die Annahme von Grenzen zum Schutz vor der Zerstörung: »Der Mensch wird der Versuchung zur Zerstörung der Erde und seiner Selbst durch Menschenzüchtung nur entrinnen, wenn er rasch lernt, Maß zu halten und die Demut aufzubringen, die Annahme und Grenzen nicht als Beleidigung und Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls zu empfinden.« 195

Maßlos ist in dieser Hinsicht auch das »ständige Mehr« an Konsum und Produktion. 196 Der Drang, mehr besitzen, kaufen, streamen oder konsumieren zu müssen, zeugt von einem grundsätzlichen Ungenügen an der Wirklichkeit. Das moderne Leben unterliegt einer Steigerungslogik, die sich mit einem »Genug« grundsätzlich nicht zufrieden gibt, was nicht zuletzt auch auf entsprechende soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zurückzuführen ist. Die zwanghafte Suche nach einem Nutzen und einem Sinn für steigerungsfähige Zwecke ist aber nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch grundlegend in der Bedürfnisstruktur der persönlichen Situation der Menschen anzutreffen. Das wird dann deutlich, wenn man hinter jeder Aktivität nach einem langfristigen Nutzen fragt. Man macht Abitur, um zu studieren, man studiert, um Geld durch eine Arbeit zu verdienen, man macht Sport und ernährt sich gesund, um gut auszusehen, man geht zum Yoga, um entspannter von der Arbeit und vom Leistungsdruck zu sein usw. Selbst die Demut wird in der Wirtschaft zum »Führungsstil« oder zu einer Managementstrategie degradiert (s. »Der Trend zur 194 195 196

Vgl. Virt: Demut – eine unmoderne Tugend? A. a. O. S. 301. Ebd. Vgl. ebd.

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Arten der Demut

Demut«), um aus ihr einen gewinnbringenden Nutzen zu generieren. Wer aber die Demut für politische oder wirtschaftliche Zwecke missbraucht, verfehlt ihren eigentlichen Sinn ganz entschieden. Denn in Demut kann man sich mit dem Wissen um die eigene Stellung mit seiner persönlichen Situation zufriedengeben, während ein Streben, das diese Haltung zum eigenen Vorteil instrumentalisiert, gerade ein Ungenügen an der Situation artikuliert. Ist die Demut ein Lippenbekenntnis für den gewinnbringenden Nutzen, dann ist sie in der Tat, wie von den Kritikern bemerkt, ein bloßes Mittel zur Heuchelei (I.2.3) oder nichts weiter als ein Modewort (s. »Der Trend zur Demut«). Von der Anerkennung unserer endlichen Möglichkeiten und der Gefahren unseres hochmütigen Strebens, kann der Versuch ausgehen, im Sinne der Demut die menschliche Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Als »Mitlebewesen«, wie es Leng bezeichnet, muss man sein Handeln nicht immer vor dem Hintergrund der Weltbemächtigung verstehen und damit einzig auf den Nutzen und die Maximierung seiner Lebensumstände aus sein. Die demütige »Treue« zur Wirklichkeit bedeutet damit auch, das menschliche und nicht-menschliche Leben in seiner Existenz bestehen zu lassen und zu achten. Im Rahmen seiner Überlegungen verwies Leng auf das Zusammenspiel von Demut und Gelassenheit, das auch für das Seinlassen der »Wirklichkeit« von Relevanz ist. Das Moment des Annehmens oder Seinlassens stellt gerade eine Verbindung zwischen Demut und Gelassenheit her. Wer etwas annimmt, wie es ist, lässt »es« sein. Josef Schmucker denkt die Demut in dieser Hinsicht mit einer »Selbsthingabe« zusammen, die auf das Seinlassen entgegen eines zügellosen Machtwillens abzielt: »Der erste Akt der Selbsthingabe hingegen ist nicht ein ichbezogenes Hin-Zu, sondern ein demütiges Zurück-Von: Er läßt sein.« 197 »Ichbezogen« ist 197

Schmucker, Joseph F.: Wohin steuern wir? – Zur Bedeutung von Mut und Demut in der säkularen Welt. In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 221–227, hier 226.

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Die Demut als Korrektiv der Weltbemächtigung

das Machtbestreben, das nur an der Umsetzung der eigenen Zwecke und Ziele interessiert ist. Die Demut lässt uns dagegen zurücktreten, weil sie zum Beispiel das gelten lässt, was über den eigenen Wert hinausgeht. In der Bewegung des Zurücktretens, das auch durch eine spürbare Erfahrung begründet sein kann (II.4.1), lässt man dasjenige, wovon man zurücktritt, anerkennend bestehen. Auch Kanz hat im Rahmen der »Seinsdemut« für ein Seinlassen im Erkennen in Anlehnung an Hegel plädiert 198, der auch wenige Worte über die Demut verloren hat. Die Demut besteht für Hegel mit Bezug auf das Philosophieren darin, »seiner Subjektivität nichts Besonderes von Eigenschaft und Tun zuzuschreiben«, sodass man dadurch auch vor dem eigenen Hochmut gefeit ist. 199 Es ist offensichtlich, warum gerade Kanz, der sich in der »Seinsdemut« einer möglichst »ichfreien« Erkenntnis verschrieben hat, Anleihen bei Hegel macht, der dafür plädiert, das Bewusstsein als »abstraktes Ich« zu verstehen, das von »aller Partikularität« und anderen Eigenschaften befreit ist. 200 Verwirklicht sieht man diesen Anspruch bei Kanz, der in der Seinsdemut fordert, das »Andere anders sein zu lassen«. 201 Was die Demut in die Nähe der Gelassenheit rückt, sind Hegels abschließende Bemerkungen. Demnach ist man eines demütigen Verhaltens würdig, wenn man dazu fähig ist, das »besondere Meinen und Daführhalten fahrenzulassen und die Sache in sich walten zu lassen«. 202 Lässt man den Kontext von Hegels Werk außer Acht, dann steckt im »walten lassen« und »fahrenlassen« der Demut auch der Anknüpfungspunkt zur Gelassenheit. In der Gelassenheit lässt die Person ihre Umstände un198

Vgl. Kanz: Über das Wesen der Seinsdemut. A. a. O. S. 401. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen. In: Ders.: Werke. Bd. 8. 4. Auflage. Frankfurt am Main 1995. S. 80 (§ 23). 200 Vgl. ebd. 201 Vgl. Kanz: Über das Wesen der Seinsdemut. A. a. O. S. 394. 202 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen. A. a. O. S. 80 (§ 23). 199

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berührt und gibt sich der Situation offen hin, während der Demütige ganz ähnlich in der Anerkennung seiner Abhängigkeit und Machtlosigkeit sich und seine Umgebung »sein lässt«. Das Anerkennen bedeutet in beiden Fällen etwas bestehen, also »sein zu lassen«. Davon ist auch ähnlich bei Martin Heidegger zu lesen, der die Gelassenheit als Haltung gegenüber der Technik begründet: »Wir lassen die technischen Gegenstände in unsere tägliche Welt herein und lassen sie zugleich draußen, d. h. auf sich beruhen als Dinge, die nichts Absolutes sind, sondern selbst auf Höheres angewiesen bleiben. Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort benennen: die Gelassenheit zu den Dingen. 203

Der Gelassene weiß um den unausweichlichen Einfluss der Technik auf sein Leben, den er auf sich bewenden lässt. Dazu gesellt sich aber implizit auch die Demut, wenn man das Angewiesensein der Technik auf etwas, das Heidegger als »Höheres« bezeichnet, mit betont. In der Demut weiß eine Person der Wissenschaft und Technik zum Trotz um die menschliche Begrenztheit und Abhängigkeit, die sich zum Beispiel auch in der Katastrophe offenbart hat, die der technische Fortschritt mittrug. Dieses Wissen spiegelt sich auch in der Gelassenheit wieder, mit der man ein Geschehen insofern walten lässt, als dass man die Situation zwar zulässt, aber nicht als Anlass zu überspannten und hochmütigen Stellungnahmen wahrnimmt, aus denen ein zwanghafter »Ichbezug« spricht. Heideggers Verständnis der Gelassenheit ist seiner Auseinandersetzung mit Meister Eckhart entwachsen, der diesen Begriff 203

Heidegger, Martin: Gelassenheit. Heideggers Meßkircher Rede von 1955. 2. Auflage. Freiburg/München 2015. S. 23. In seinem »Brief über den Humanismus« steht dagegen für Heidegger »alles Werten« des Menschen dafür, dass er das Seiende nicht sein lassen, sondern es lediglich als Objekt seines Tuns gelten lassen will. Der Drang, sich die Dinge durch eine Schätzung oder (Be-)Wertung aneignen zu müssen, steht nach diesem Verständnis in einer Tradition mit der Weltbemächtigung. Vgl. Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 9: Wegmarken. Hrsg. v. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Frankfurt am Main 1976. S. 313–364, hier 349.

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erst in die deutsche Sprache mit eingeführt hat. 204 Ein Anlaufpunkt für Heidegger waren Eckharts »Reden der Unterscheidung« 205. Dort liest man: »Denn, was du nicht begehren willst, das hast du alles übergeben und gelassen – durch Gott.« 206 Und mit einer vorhergehenden Anspielung auf den Kyniker Diogenes von Sinope, »der nackt im Faß saß«, sagt Eckhart: »Der Mensch ist der beste, der das entbehren kann, was ihm nicht not tut. Daher, wer am meisten entbehren und verschmähen kann, der hat am meisten gelassen.« 207 Das Seinlassen ist hier auch eng mit dem christlichen Demutsverständnis verknüpft, nach dem man von seinem Eigenwillen für den Dienst an Gott und dem Nächsten abzulassen hat (I.3). 208 Ohne ein entsprechendes Gottesbild lässt sich diese Gelassenheit mit dem demütigen Seinlassen verbinden: Der Gelassene und der Demütige wissen um den eigenen Stellenwert im Verhältnis zur Umgebung, weshalb sie dazu fähig 204

Für eine kurze Zusammenfassung dieses Befunds in der Forschung vgl. Panzig, Erik: Gelâzenheit und abegescheidenheit. Eine Einführung in das theologische Denken des Meister Eckhart. Leipzig 2005. S. 54 ff. 205 Friedrich-Wilhelm von Herrmann verweist auf die deutlichen Lesespuren, farbigen Anstreichungen und Randbemerkungen in Heideggers erhaltenem Handexemplar der »Reden der Unterscheidung«. Vgl. von Herrmann, FriedrichWilhelm: »Gelassenheit« bei Heidegger und Meister Eckhart. In: From Phenomenology to Thought, Errancy, and Desire. Essays in Honor of William J. Richardson. Hrsg. v. Babette E. Babich. New York 1995. S. 115–127, hier 119. 206 Meister Eckhart: Die Reden der Unterscheidung: In: Ders.: alles lassen – einswerden. Mystische Texte – Reden der Unterscheidung und Predigten. Hrsg., übers. u. kommentiert v. Günter Stachel. München 1992. S. 59–88, hier 64 (3). Zusätzlich in Klammern ist die Nummer der »Rede« angegeben. 207 Meister Eckhart: Die Reden der Unterscheidung. A. a. O. S. 85 (23). 208 Siehe dafür z. B. a. die dritte Rede »Von ungelassenen Leuten, die voll Eigenwillens sind«. Meister Eckhart: Die Reden der Unterscheidung. A. a. O. S. 62 ff. Ebenfalls macht Johannes Tauler an vielen Stellen seiner Predigten auf den Zusammenhang von Demut und Gelassenheit aufmerksam: »Sie [die edlen Menschen; J. P.] lassen Gott ihren Grund bereiten und lassen sich völlig Gott und verlassen das Ihre in allem und behalten in keinen Dingen etwas für sich, weder in Werken noch in Weisen […]. Sie nehmen alle Dinge von Gott in demütiger Furcht und tragen sie ihm wieder hinauf in einer bloßen Armut ihrer selbst, in williger Gelassenheit, und beugen sich demütig unter den göttlichen Willen.« Tauler, Johannes: »Surge, illuminare Jerusalem«. In: Ders.: Predigten. Übers. v. Leopold Naumann. Leipzig 1923. S. 28–33, hier 30.

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sind, von ihrem Streben abzulassen, wenn es zum Beispiel – im modernen Sinne – für hochmütige, zerstörerische oder vergebliche Zwecke zum Einsatz kommen soll. In Demut erkennt man seine unabänderliche Situation durch sein Angewiesensein an und in Gelassenheit gibt man sich einem Geschehen hin oder lässt es bereitwillig fallen, auch um den Preis, von den eigenen Interessen loszulassen. In diesem Verhältnis zu seiner Umgebung gewinnt auch das Wort von Christian Morgenstern einen Sinn: »Der Welt Schlüssel heißt Demut. Ohne ihn ist alles Klopfen, Horchen, Spähen umsonst.« 209 Wer seiner Umgebung nicht einzig vor dem Hintergrund der Weltbemächtigung mit Blick auf einen gewinnbringenden Nutzen begegnen will, kann dagegen mit Demut und Offenheit seiner Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit gewahr bleiben und seinem hochmütigen und zerstörerischen Bestreben einen Riegel vorsetzen. In der Art und Weise, wie wir unserer Umgebung begegnen, wenn wir »horchen« oder »spähen«, bedarf es auch der Bereitschaft, sich in Demut von etwas ergreifen zu lassen, ohne es benutzen zu wollen. Diese Haltung impliziert, so möchte ich hinzufügen, neben einem Verständnis von »lebendiger Vernünftigkeit« 210 auch den »vitalen Stolz« (II.4.2.2), durch den der Mensch lernt, ohne Scham und Übermut sich dem Schicksal seines »Leiblichseins« mit allen »Gebrechen«, aber auch Chancen anzuvertrauen, bestimmt für ein Geschehen, das ihn ergreift und über ihn hinausgeht. 211 In der Ergriffenheit von Gefühlen ist der Mensch zur Auseinandersetzung aufgerufen, wenn er Teil eines Geschehens ist, dem er nicht immer Herr sein kann, wie oben am Beispiel der Liebe und anderer Erfahrungen verdeutlicht wurde (II.4.1, II.5.3). Dieses demütige Weltverhältnis, bei 209

Morgenstern, Christian: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. München 1928. S. 151. Für eine Auseinandersetzung zur Demut bei Morgenstern vgl. Hiebel, Frederick: Die Demut in der Dichtung Morgensterns. In: Germanic Review. 22/1 (1947). S. 55–71. 210 Vgl. Pothast, Ulrich: Lebendige Vernünftigkeit. Exposition eines philosophischen Konzepts. In: Rostocker Phänomenologische Manuskripte. Hrsg. v. Michael Großheim. Heft 4 (2010). S. 3–32. 211 Vgl. Schmitz: Die Liebe. A. a. O. S. 12.

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dem man auch bereit dazu ist, »sich bestimmen zu lassen« 212, sofern es eine besonnene Prüfung zulässt (II.4.2.2), birgt die Hoffnung, dass nicht alles »Horchen« und »Spähen« im Bemächtigungswillen des Menschen untergeht. Im Seinlassen ist damit auch das Loslassen begründet, durch das die Demut auch eine Haltung ist, die sich in der Anerkennung und sogar Bejahung des eigenen Schicksals, dem »Amor fati« ausdrückt: »Das Ja zu allem, was ist, geschieht nur, wo ich lasse, loslasse, was ist.« 213 In seiner Verachtung der christlichen Demut hat Nietzsche (I.2.4) übersehen, dass im »Amor fati« als »Formel für die Grösse am Menschen« auch ein Funke Demut stecken muss, wenn man »nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit« 214. In Nietzsches Worten erklingt wieder, dass er etwas genau so haben will, wobei untergeht, dass man unabhängig vom eigenen Wollen vieles gar nicht anders haben kann. Mit dieser Betonung des eigenen Willens, der sich mit dem Zukünftigen in Freude und Leid verbrüdert, wird verdeckt, wie viel gerade unabhängig von diesem Wollen dem Menschen widerfährt. Nietzsche weiß, dass er nicht der absolute Macher seines Schicksals sein kann, weshalb er den Rest seiner vermeintlichen Willkür in dieser Betonung seines mit allem einverstandenen Willens aufgehen lässt – dann wünscht man sich ohnehin alles so, wie es unausweichlich kommt. Im Akzeptieren seines »Schicksals« steckt aber auch dessen demütige Anerkennung, die bei Nietzsche neben dem Willen auch durch die Liebe verdeckt wird: »Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sein von nun an meine Liebe! […] Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger an-

212

Vgl. Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2002. S. 279–298. 213 Braun, Hans-Jürg: Mut und Demut als Grundthemen religiöser Existenz. In: Engadiner Kollegium: Mut und Demut. Das Bild vom Menschen wie es ist, wie es sein sollte. Hrsg. v. Balthasar Staehelin et. al. Schaffhausen 1983. S. 189–197, hier 197. 214 KSA 6, S. 297.

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Arten der Demut

klagen. […] ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!« 215

Auch der Demütige klagt seine Stellung insofern nicht an, als dass er sie als berechtigt oder unvermeidlich erkannt hat. Selbst Nietzsche, der mit seinem Zarathustra die Schaffenden liebt (II.5.2.2), muss das »Notwendige« in seinem Leben anerkennen, in dem man nicht nur führt, sondern auch einem unverfügbaren Geschehen (II.5.3) ausgesetzt bleibt. Seine Passivität überspielt Nietzsche auch hier dadurch, dass er diesem Ausgesetztsein mit Liebe begegnet. Wenn man schon über das Notwendige oder Unverfügbare nicht verfügen kann, dann kann man seine Situation immerhin noch mit Liebe rechtfertigen, als würde man sich auch das unausweichliche Leid wünschen und nichts anderes wollen. Aber auch in dieser »Liebe« steckt die demütige Annahme und Anerkennung der menschlichen Machtlosigkeit gegenüber dem, was ihm widerfährt und ihn übersteigt. II.5.5 Die Demut im Miteinander Bisher zeichnete sich die Demut anhand ihrer Arten nur implizit als Haltung aus, die sich auch auf den Mitmenschen bezieht. Dass die Demut auch unmittelbar das Miteinander betreffen kann, war jedoch schon ihrem christlichen Ursprung zu entnehmen. Zwar ist Gott immer der abschließende Bezugspunkt der christlichen Demut, doch ist das mit der Haltung eingenommene Verhalten auch immer auf den Nächsten mit bezogen. So war in den paulinischen und katholischen Briefen (I.3.1.2) die Forderung nach Demut immer an das Gemeindeleben gerichtet. Die Aufgabe der christlichen Demut für das Zusammenleben bestand zum Beispiel in der Kultivierung eines Gemeinschaftssinnes, der aus dem Wissen um die gemeinsame Bedingtheit durch Gott resultiert und sich auch durch Werte wie Sanftmut, Geduld, Barmherzigkeit oder auch Mitleid auszeichnen sollte (I.3.1.2, I.3.3, I.3.5, I.3.9). 215

KSA 3, S. 521.

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Die Demut im Miteinander

Für ein säkulares Verständnis dieser Haltung ist es nun notwendig, die Demut unabhängig von einem Gottesverständnis für das Zusammenleben im Miteinander fruchtbar zu machen. II.5.5.1 Die demütige Offenheit in der Kommunikation Was das menschliche Leben auszeichnet, ist die Fähigkeit zur ausgeprägten sprachlichen Kommunikation, mit der sich eine Person über ihre Situation Rechenschaft ablegt, was im gegenseitigen Austausch Orientierung und Sinn stiftet. Karl Jaspers versteht in der »Not« die Kommunikation als den »Grundanspruch« an den Menschen, der auch ein Einfallstor für ein demütiges Miteinander darstellen kann: »Wir begreifen heute in der Not Kommunikation als den Grundanspruch an uns.« 216 Welche Bedeutung kann aber dieser Grundanspruch noch besitzen, wenn wir doch gerade als Menschen des 21. Jahrhunderts mehr denn je und zu jeder Zeit kommunizieren? Weil wir doch beständig in direkten Worten und Taten und vor allem im digitalen Raum kommunizierend in Kontakt treten, kann dieser Grundanspruch nicht die Quantität, sondern die Qualität der Kommunikation meinen. Zur Debatte steht nicht, dass wir immer schon auf irgendeine Weise kommunizieren und darauf beständig angewiesen sind, sondern die Art und Weise, wie wir kommunizierend einander begegnen. Wirft man einen Blick auf die diversen politischen Landschaften und ihre Konflikte, muss sich ein versuchsweise unbefangener Beobachter eingestehen, dass er Teil eines Zeitgeschehens ist, das Peter Sloterdijk schon in den 1980er Jahren treffend konstatiert hat: »Man findet, wenn man sich für einen Augenblick das schwarze Trikot des Schiedsrichters überstreift, ein fest strukturiertes Spielfeld mit bekannten Spielern, festgelegten Spielzügen und typischen Fouls. Jede Partei hat feststehende, fast schon abgekartete Spielzüge der Kritik entwickelt […].« 217 216 217

Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube. 6. Auflage. München 1976. S. 136. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. A. a. O. S. 183.

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Dass das »Spielfeld« in seiner Form »fest strukturiert« ist und deshalb auch die »Spielzüge« und »Fouls« jedem »Zuschauer« eingängig sind, ergibt sich aus der Haltung der »Spieler« beziehungsweise der politischen Akteure. Keiner von ihnen ist bereit, von seiner »Spielweise«, seinen »feststehenden« Standpunkten und der Art seines Umgangs mit dem politischen Gegner abzuweichen. Wer aber nicht abweicht, ist für keinen, außer dem eigenen Standpunkt empfänglich, weshalb sich auch das hintergründige Weltbild der Akteure in den immer gleichen »Spielzügen« des politischen Handelns ausdrückt. Verstärkt wird diese Tendenz durch ein Moralverständnis, das einen massiven Einfluss auf die Art des sozialpolitischen Umgangs entwickelt hat und das Alexander Grau im Anschluss an Arnold Gehlen treffend diagnostiziert: »Der moderne moralische Diskurs kreist vielmehr ausschließlich um sich selbst. Moral wird selbstbegründend.« 218 Auf diese Weise erhält die Moral eine meinungsbildende Monopolstellung, weil auch technische, wissenschaftliche und ökonomische Probleme einer Umdeutung in moralische Fragen ausgesetzt sind. 219 Diese Moralisierung jeglicher Lebensbereiche geht mit einer Emotionalisierung einher, sodass Sachfragen fast ausschließlich im Modus der Erregung und Empörung eine Beurteilung finden. 220 Der Modus der »spätmodernen Massenmediengesellschaft« besteht in der Empörung, die nicht zuletzt durch die permanente Möglichkeit befeuert wird, ihr im Internet Ausdruck zu verleihen. 221 Wer dann die »richtige« moralische Einstellung gegenüber einem Problem vertritt, der bedarf keiner Sachkenntnis, denn was zum Beispiel statt eines Sacharguments zählt, ist die Empathie oder das »große Herz« für die Problematik. 222 Auf diese Weise wird der moralische Diskurs zu einem »Rationalitätsersatz«. 223 Arnold Gehlen, auf dessen Schrift »Moral 218

Grau, Alexander: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. 4. Auflage. München 2019. S. 10. 219 Vgl. ebd. 220 Vgl. Grau: Hypermoral. A. a. O. S. 12. 221 Vgl. Grau: Hypermoral. A. a. O. S. 115. 222 Vgl. Grau: Hypermoral. A. a. O. S. 121, 123. 223 Vgl. Grau: Hypermoral. A. a. O. S. 119.

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und Hypermoral« sich Grau schon dem Titel seines Buches nach bezieht, fasste diese Entwicklung bereits zusammen: »Da wird deutlich, wie die Transformation ins Moralisieren als Erkenntnisersatz nützlich ist.« 224 Allein der Glaube daran, Vertreter des »Guten« zu sein, ersetzt, so Gehlens und Graus Diagnose, den Diskurs und die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern, auf die man nicht ernsthaft eingeht, sondern die man zum Beispiel pathologisiert und zum Opfer ihrer persönlichen und sozialen Prägung macht. 225 Wer glaubt, das »Gute an sich« zu vertreten, der muss seine Position nicht mit Argumenten verteidigen, denn sie ist durch das ihr implizit zugeschriebene unfehlbare Wesen selbstbegründend. Überspitzt gibt Grau dieser Lage einen Ausdruck: »Hier hat man nicht nachzudenken, hier hat man sich zu bekennen.« 226 Diese Befunde für die sozial-politischen Konflikte spitzen sich verstärkt in Diskursen um die sogenannten »Klima-«, »Flüchtlings-« oder »Coronakrisen« zu. Jedes politische Lager beansprucht für sich, die einzig richtige oder »vernünftige« Position bezogen zu haben, nach der es unausweichlich agiert. Hier soll es nicht um eine moralische Bewertung dieser Debatten und ihrer Lager gehen, sondern einzig die Art und Weise ihres politischen Umgangs eine Problematisierung finden. In der Auseinandersetzung mit den politischen Krisen sind mindestens zwei Tendenzen in der Kommunikation auszumachen, die mit den Diagnosen von Sloterdijk, Gehlen und Grau eng in Verbindung stehen. Die eine besteht darin, das »Rechthaben« im Glauben an das »Gute«, »Wahre«, »Vernünftige« zwanghaft und wenn auch nur zum Schein für sich beanspruchen zu wollen, ohne die eigenen Forderungen oder Standpunkte konsequent zu durchdenken. Dieses Verhalten hat schon Bacon ähnlich bei seinen Zeitgenossen beobachten können:

224

Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt am Main/Bonn 1969. S. 163. 225 Vgl. Grau: Hypermoral. A. a. O. S. 14, 46 f. 226 Grau: Hypermoral. A. a. O. S. 11.

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»Manche Leute legen es in der Unterhaltung mehr darauf an, für geistreich angesehen zu werden, indem sie jeden Beweisgrund verfechten können […] als ob es ein Verdienst wäre, immer eine passende Antwort bereit zu haben, nicht aber den auftauchenden Gedanken zu Ende zu denken.« 227

Von Bedeutung ist einzig der eigene politische Standpunkt, der als vermeintlich unanfechtbare Wahrheit nicht so zur Diskussion steht, als dass für das Eingestehen von mangelndem Wissen oder Fehlern ein Raum bleibt. Es zählen primär nicht die konsistenten Ansprüche und Argumente des eigenen Weltbildes, das man gewissenhaft auf Richtigkeit hin geprüft hat, sondern es ist vielmehr wichtig, dass man sich überhaupt äußert. Diese Äußerung besteht aber im Konflikt oftmals nicht in einer gewissenhaften Antwort, sondern zeichnet sich entweder durch Empörung oder gegenwärtig auch durch die Verbreitung von Misstrauen und Verschwörungstheorien aus. Die Beweisgründe, die eine Antwort im Gespräch liefern sollen, entspringen in diesen Fällen nicht einer Argumentation, sondern täuschen nur durch oberflächliches Halbwissen oder ein lautstarkes »Außersichsein« ein Wissen um die Richtigkeit eines Sachverhaltes vor. Eine andere, schon mit angerissene Tendenz im sozial-politischen Umgang ist die von Jaspers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diagnostizierte »Kommunikationsunfähigkeit«, die von einer Intoleranz begleitet ist. Diese Intoleranz besteht in einem »nichts gelten lassen außer den eigenen zu Dogmen gewordenen Aussagen«. 228 Mit den als absolut verstandenen Dog227 Bacon, Francis: Über die Unterhaltung. In: Ders.: Essays. Übers. v. Elisabeth Schücking. Leipzig 1969. S. 102–104, hier 102. Weitere Tendenzen des gesellschaftlichen Umgangs, die in ihrer Zeitlosigkeit nicht weniger relevant sind, fasst Bacon an anderer Stelle zusammen: »Andere glauben Eindruck machen zu können, indem sie das große Wort führen und entschieden auftreten. Wieder andere gebärden sich, als ob sie alles, was außerhalb ihres Bereiches liegt, verächtlich fänden und als ob sie kein Gewicht darauf legten, als unerheblich und abwegig, und suchen auf diese Weise ihre Unwissenheit für Einsicht auszugeben.« Bacon, Francis: Über das Scheinbild der Klugheit. In: Ders.: Essays. Übers. v. Elisabeth Schücking. Leipzig 1969. S. 77–78, hier 78. 228 Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube. A. a. O. S. 71.

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men geht eine »Kommunikationsunfähigkeit« einher, die Jaspers auszeichnet als »nicht hören können auf den anderen, nicht redlich sich in Frage stellen können«. 229 Beide Tendenzen in der Kommunikation stellen die Gesellschaft vor eine Herausforderung, die den Frieden und das gegenseitige Verständnis im Zusammenleben bedroht, wenn die politischen Konfliktparteien nicht den Anspruch verfolgen, ein Problem gemeinsam und langfristig zum Allgemeinwohl zu lösen, sondern vielmehr ein Interesse an der öffentlichkeitswirksamsten Artikulation des Unrechts oder der Verwirklichung der eigenen »Dogmen« (das »Gute an sich«) haben. Der eigene Standpunkt wird für einzig richtig und absolut genommen, wobei für sich aufeinander einlassende Gespräche und demütige Eingeständnisse hinsichtlich Recht und Unrecht kein Platz ist. Die Demut im Miteinander ist kein Mittel, um einen politischen Diskurs vorwegzunehmen, weil sich mit ihr die Kontrahenten bedingungslos vor der Ansicht des »Anderen« demütig »verbeugen« würden, ohne den Konflikt ernsthaft im gemeinsamen Gespräch auszutragen. 230 Die Demut ist vielmehr eine Grundhaltung, die – neben anderen Werten (II.4.3) – für das politische und soziale Miteinander eine zwingende Voraussetzung ist. Als Haltung (II.4.4) verweist sie dafür grundsätzlich auf die Abhängigkeit eines jeden Streitenden von seinem Mitmenschen, die aus der zwangsläufigen Begrenztheit des eigenen Standpunktes resultiert, wobei man dieser Angewiesenheit auf die Gesellschaft machtlos ausgesetzt ist, so sehr das kulturelle Selbstverständnis (II.6) dies auch in den Hintergrund zu rücken droht. Wer dementsprechend mehr will, als seinem politischen »Gegner« die üblichen Parolen entgegenzuhalten, ohne dabei ein Verständnis für die widerstreitende Meinung aufzubringen, der muss dazu fähig sein, von der Absolutheit des eigenen Anspruchs zumindest für einen Augenblick abzulassen, um so überhaupt ein »echtes« Verständnis für 229

Vgl. ebd. Dass die Demut einen »Absolutismus des Anderen« befördern könnte, wie ihn Henning Nörenberg ausführlich herausgearbeitet hat, kann man durch die bereits herausgestellten Mittel (II.4.2.2, II.4.3) unterbinden. Vgl. Nörenberg: Der Absolutismus des Anderen. A. a. O.

230

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das Gegenüber entwickeln zu können. Die Echtheit dieses Anspruches besteht im ernsthaften Interesse einer Person, die den Standpunkt des anderen auch tatsächlich nachvollziehen, aber nicht bloß hören möchte, um sich im eigenen Weltbild bestätigt zu fühlen. Man kann diese demütige Einstellung mit dem Lesen eines Textes vergleichen, dessen Autor mir zum Beispiel wegen seiner politischen Ansichten unsympathisch, aber der konkrete Inhalt seiner Überlegungen unbekannt ist. Als Leser steht man vor der Wahl, entweder eine ernsthafte Lektüre des Textes vorzunehmen, um die Gründe und Motive für die Ansicht des Autors zu begreifen, oder den Inhalt nur so zu erfassen, dass die eigene Antipathie eine Befriedigung findet. In dieser Situation sind »wir grundsätzlich der Möglichkeit offen, daß ein überlieferter Text es besser weiß, als die eigene Vormeinung gelten lassen will«. 231 Diese Einstellung wird aber verunmöglicht, wenn der Leser schon vor jeder Auseinandersetzung glaubt, der Vertreter des »Guten an sich« zu sein, weshalb er der ernsthaften Diskussion vermeintlich nicht bedarf. Dabei gerät ebenfalls aus den Augen, dass es beim Lesen eines Textes, wenn man zunächst nur seinen Sinn erschließen will, zunächst gar nicht um ein moralisches Problem geht, sondern um die Arbeit des Verstehens. Unterstellt man schon im Vorhinein dem Text eine moralische Absicht, findet die von Gehlen und Grau diagnostizierte Moralisierung statt, die jegliche Fragestellung – und sei es nur das Verstehen einer streitbaren Ansicht – zu einem moralischen Anliegen macht. Wer dementsprechend über einen Text hinaus nur insofern bereit ist, seine politischen »Gegner« anzuhören, um sein vorgegriffenes Unbehagen verwirklicht zu sehen, der betreibt keinen Austausch, der auf eine Lösung für das Zusammenleben hinauslaufen kann, sondern der verweilt bei den eigenen, immer schon als einzig richtig unterstellten Standpunkten, ohne sich auf eine andere Meinung, eine andere Lebensweise, eine andere Lebensgeschichte einlassen zu können. Für ein Verständnis der mir widerstreitenden Ansicht ist es entschieden nicht notwendig, sie ebenfalls als richtig zu teilen. Es 231

Gadamer: Wahrheit und Methode. A. a. O. S. 299.

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Die Demut im Miteinander

kommt vielmehr darauf an, mein Gegenüber auch im Konflikt nicht als Feind, sondern als »Partner« eines Lebensvorganges anzusehen und »sei es auch nur in einem Boxkampf«. 232 Für Martin Buber ist es entscheidend, in einem »echten Gespräch« seinen »Partner« anzuerkennen, indem man auch zu seiner Person »Ja« 233 sagt und wenn man ihn auch im Dialog »partnerisch bekämpft« 234. Diese Bejahung betrifft nicht die Richtigkeit der jeweils anderen Ansicht, sondern meint den Menschen, den ich als Person mit seiner Würde anerkenne und nicht bereits vor jedem Gespräch durch sein Weltbild festlege und abwerte. Wer dagegen im Gegenüber nur den politisch andersdenkenden Feind sieht, kann ihn weder anerkennen noch als Person bejahen, weil er nicht auf die Schlichtung des Konflikts, sondern auf die Zerstörung der Weltsicht seines Kontrahenten aus ist. Ohne sich aber in der Bejahung der Person auch nur ansatzweise auf den mir fremden Standpunkt einzulassen, ist jede Möglichkeit der Konfliktschlichtung ausgeschlossen. Buber macht deutlich, worauf es bei der Anerkennung der jeweils anderen Person – auch und gerade im Konflikt – ankommen muss: »Daß die Menschen, mit denen zusammen ich dem öffentlichen Wesen eingetan bin und mit denen ich darin unmittelbar oder mittelbar zu tun bekomme, wesenhaft anders sind als ich, daß der und der nicht bloß ein andres Gemüt, eine andre Denkweise, eine andre Gesinnung und eine andre Haltung, sondern auch eine andre Weltwahrnehmung, eine andre Erkenntnis, eine andre Sinnhaftigkeit, ein anderes Berührtwerden vom Sein her hat: das alles mitten in der harten Konfliktsituation und ohne ihren Wirklichkeitsernst aufzuweichen bejahen, […] dies ist es, wodurch wir in diesem weiten uns mitanvertrauten Bereich als Helfer amten dürfen und von wo allein uns je und je erlaubt ist, in unserem Bedenken an die ›Wahrheit‹ oder ›Unwahrheit‹ […] des Andern, in Demut und redlicher Erforschung zu rühren.« 235 232

Buber, Martin: Elemente des Zwischenmenschlichen. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. 15. Auflage. Gütersloh 2019. S. 267–293, hier 270. 233 Vgl. Buber: Elemente des Zwischenmenschlichen. A. a. O. S. 288. 234 Vgl. Buber: Elemente des Zwischenmenschlichen. A. a. O. S. 279. 235 Buber: Die Frage an den Einzelnen. A. a. O. S. 230 f.

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Buber fordert, in der Auseinandersetzung mit dem anderen stets dessen »Andersheit« mit zu bedenken, wie es eine Besinnung ermöglichen könnte (II.4.2), vor deren Hintergrund man demütig erkennen kann, worin der Anspruch des vom Gesprächspartner als »Wahrheit« ausgesprochenen Standpunktes besteht. Die Demut versetzt eine Person durch das Absehen von den eigenen Ansichten erst in die Möglichkeit, diesen Schritt auf den anderen zuzugehen, wenn man die andere politische Einstellung auch niemals teilen könnte. Durch die Demut setzt eine Person bildlich gesprochen für einen Augenblick ihre »Brille« ab, mit der sie die politische und soziale Welt auf nur eine bestimme Weise sehen und bewerten will. Die Demut kann ein, wenn auch nur kurzes, Abnehmen der Gläser ermöglichen, indem sie einer Person offenbart, dass auch sie nicht unfehlbar ist, weil auch sie nicht im Besitz einer ungeschriebenen Wahrheit ist, die sie von der menschlichen Begrenztheit des eigenen Standpunktes oder Weltbildes befreien könnte. Weil der Demütige um seine Abhängigkeit, Begrenztheit und auch Machtlosigkeit hinsichtlich seines Anspruches auf die absolute Richtigkeit seines Weltbildes weiß, kann er im Umkehrschluss seinem Mitmenschen erst wirklich tolerant und offen begegnen, indem er eine andere Sicht zulässt. In diesem Sinne plädiert Sudbrack auf ähnliche Weise für eine »Demut der Begegnung«: »In Existenz- und Daseinsfragen kann man mit einem Menschen, der anderer Meinung ist, nur ins Gespräch kommen, wenn ein jeder vom anderen ein Stück Wahrheit erwartet, das dem eigenen Standpunkt fehlt.« 236 Die dafür nötige Haltung der Offenheit und Demut besteht in der Bereitschaft, voneinander zu lernen, begleitet von dem Eingeständnis, durch die eigene Beschränktheit nicht abschließend wissen zu können, was richtig ist. 237 Mit dieser Ehrlichkeit und Offenheit zu sich selbst weicht das Verurteilen des anderen dem Bescheid wissen um die eigenen Mängel. 238 236

Vgl. Sudbrack: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. A. a. O. S. 141. 237 Vgl. ebd. 238 Vgl. Sudbrack: »Wer in Demut wandelt, wird nicht betroffen werden«. A. a. O. S. 140.

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Die Demut im Miteinander

Auch in dieser verständnisvollen Offenheit für den anderen gewinnt das demütige Seinlassen (II.5.4.2) einen Sinn. Dies betrifft sowohl das politische Leben als auch den »privaten« Kreis einer Partnerschaft oder Freundschaft. Die Aufforderung »Lass mich sein, wie ich will« strebt oftmals nach der Anerkennung des eigenen Verhaltens oder des eigenen Charakters, die das Gegenüber auch im Unwillen leisten soll. Gefordert wird die im Konflikt bedrohte Würdigung der eigenen Person hinsichtlich ihrer Interessen und Ansichten. Wenn ihm diese Würdigung auch missfallen mag, kann sich der Demütige durch das Wissen um den Mangel des eigenen Weltbildes, das ihn vor einer abschließenden Verurteilung des Gegenübers bewahrt, zu einem Seinlassen des anderen bewegen. Kann man diesen schweren Schritt gehen, der einem als Bürde spürbar nahegehen wird, ist man dazu fähig, die Wirklichkeit und die Werte des Mitmenschen zu ertragen (lat. tolerare). Dieses Seinlassen kann sich aber in der Politik nicht auf Probleme beziehen, deren Folgen das gesamtgesellschaftliche Zusammenleben betreffen oder die durch einen sich zuspitzenden Konflikt zwingend nach einer Lösung verlangen. Die Demut betrifft das Zusammenleben, wenn man zum Beispiel die erkannten Laster des anderen auszuhalten vermag, wobei das Maß (II.4.2.2) dafür jedoch nicht der Demut, sondern einer besonnenen und politisch wirksamen Entscheidung entnommen werden muss. Ein Kriterium für das Seinlassen sollte aber sein, dass sich die Laster des anderen nicht als radikale Kräfte entpuppen, die zum Ziel haben, Menschen grundsätzlich aus einer Gesellschaft aufgrund ihrer Herkunft, Sexualität oder anderer Lebensweisen auszuschließen. Die Demut macht, wie gesagt, weder den politischen Diskurs zugunsten der je eigenen Ohnmacht überflüssig noch ist sie die Grundlage für einen Relativismus, der alle Ansichten und Weltbilder unkommentiert und als gleich erstrebenswert nebeneinander bestehen lässt. 239 Wer in politischer und ethischer Hinsicht für einen Relativismus dieser Art plädiert, würde jede Aus239

Schon Jesus hat als das Vorbild der christlichen Demut nicht auf diese Weise gehandelt (I.3.1.1).

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Arten der Demut

einandersetzung hinsichtlich der Frage nach einem friedlichen und gerechten Zusammenleben überflüssig machen, wenn von Anfang an die relativistische Maxime im Hintergrund stünde, nach der »jeder nur für sich selbst wissen kann, was gut für ihn ist«, sodass man von vornherein zu keiner allgemeingültigen Einigung darüber kommen kann, welche Regeln des Zusammenlebens wünschenswert sind. Dass die Demut keine Haltung des Relativismus ist, wird schon dadurch ersichtlich, dass sie eine Selbstverortung zur Grundlage hat, die nach der Angemessenheit des Verhältnisses zu sich und seiner Umgebung fragt (II.4.2.2). Diese Selbsterprobung sollte in ihrem Resultat nicht der Willkür der Person, sondern einer gewissenhaften Antwort entspringen, denn schon im Christentum war man mit der Demut an der »Wahrheit« interessiert (I.3.5, I.3.6, II.4.2.1). Genauso war die Demut aus der Betroffenheit das Resultat einer von der Person gewissenhaft geprüften Norm, die von einem Gefühl abgenötigt wird (II.4.1.3). Auf Grundlage einer demütigen Besinnung (II.4.2) ist es möglich, mit mehr Offenheit in einen Dialog zu treten, weil man durch die bereitwillige Stellungnahme bezüglich der eigenen Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit die Bereitschaft aufbringt, die Position des anderen ernsthaft verstehen zu wollen. In dieser Hinsicht ist die Demut keine »Stütze des Despotismus« (I.2), sondern eine demokratische Grundkonstante, weil sie auf die Unvollkommenheit eines jeden politischen Akteurs verweist, die nur durch das gemeinsame und miteinander streitende Gespräch kompensierbar ist. Die Demut macht einen demokratischen Streit erst insoweit möglich, als dass man verständnisvoll und einander achtend streitet. Radikale und rein moralisierende Kräfte, die ihr Weltbild für so absolut nehmen, dass sie zu dieser Art des demokratischen Austausches nicht fähig sind, sind deshalb ganz entschieden nicht demütig. Es ist aber wiederum zu einfach, die fehlende Demut einzig den »politischen Rändern« oder vereinzelten Protestgruppen nachzusagen. Deshalb muss die demütige Besinnung auch nicht bei einem anderen Weltbild oder den politischen Gegnern ansetzen, sondern mit der eigenen, persönlichen Situation beginnen, die ich dafür nun beleuchten möchte. 286 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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II.5.5.2 Die persönliche Situation als Ausgangspunkt demütiger Explikation Wer sich für widerstreitende Ansichten nicht offen hält, der glaubt schon immer auf der richtigen Seite zu stehen. Damit macht man sich neben der Intoleranz auch der Unmündigkeit schuldig, auf der man sich ausruht, ohne sich in Frage stellen zu lassen. Diese Unmündigkeit ist in der Moderne auch bedingt durch die sogenannten »Filterblasen« im digitalen Raum. 240 In einer »Filterblase« befindet man sich, wenn man zum Beispiel als Nutzer sozialer Netzwerke stets nur die Informationen konsumiert, die im Rahmen des eigenen Profils auf die Interessen und Vorlieben der eigenen Person zugeschnitten sind. Diese Informationen und Inhalte sind zwar auch willkürlich von den Nutzern gewählt, aber vor allem unwillkürlich durch Algorithmen errechnet und abgestimmt. Die digitale Wirklichkeit und ihre Informationen sind dadurch massiv danach strukturiert, was die jeweiligen Nutzer zum Beispiel hinsichtlich der Politik oder des Konsums als erstrebenswert empfinden. In dieser »Blase« findet man deshalb häufig nur jene Informationen und Ansichten anderer Gleichgesinnter vor, die ohnehin schon den eigenen Interessen und Weltansichten entsprechen. 241 Was dabei zu kurz kommt, sind die vom eigenen Weltbild abweichenden Meinungen. 240

Der Begriff »Filterblase« geht auf Eli Pariser zurück, der die Personalisierung des Informationsflusses von z. B. Nachrichten oder Werbung im Internet problematisiert: »Die neue Generation der Internetfilter schaut sich an, was Sie zu mögen scheinen – wie Sie im Netz aktiv waren oder welche Dinge oder Menschen Ihnen gefallen – und zieht entsprechende Rückschlüsse. Prognosemaschinen entwerfen und verfeinern pausenlos eine Theorie zu Ihrer Persönlichkeit und sagen voraus, was Sie als Nächstes tun und wollen. Zusammen erschaffen diese Maschinen ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns – das, was ich die Filter Bubble nenne – und verändern so auf fundamentale Weise, wie wir an Ideen und Informationen gelangen.« Pariser, Eli: Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden. Übers. v. Ursula Held. München 2012. S. 17. 241 Pariser beschreibt in diesem Sinne eine Gefahr der Personalisierung: »Man meint vielleicht, man steuere sein Schicksal selbst, doch die Personalisierung führt uns in einen Informationsdeterminismus, bei dem jeder getätigte Klick bestimmt, was man als Nächstes zu sehen bekommt – so sind wir gezwungen, unsere Such-

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Geert Keil stellt in seinen kurzen Überlegungen zur »intellektuellen Demut« mit Blick auf die Philosophie fest, dass es gerade dort, wo man mit seinen Aussagen nicht auf leicht erkennbaren Widerstand stößt, einer Tugend bedarf, die den »Genieverdacht« gegen sich unterdrückt. 242 Das bedeutet konkret: »Beim Philosophieren kann man sich keine blutige Nase holen, also muss man eine Nase dafür entwickeln, wann man sich verrannt hat.« 243 Es scheint nicht nur in der Philosophie, sondern auch im eben problematisierten sozial-politischen Umgang notwendig, ein Gespür in der Fassung (I.4.4) dafür zu entwickeln, wann der eigene Anspruch auf Wissen und Können über das eigentliche Vermögen hinausschießt. Dieses Gespür kann man aber nur dann entwickeln, wenn man sich mit widerstreitenden Ansichten konfrontiert und sich nicht auf dem Wissen ausruht, das man ohnehin für richtig hält. Nötig ist dafür eine stetige Erprobung des eigenen Selbst- und Weltbildes. Sokrates hat, so wie Platon ihn in seinen Dialogen auftreten lässt, auf einflussreiche Weise gezeigt, mit welchen Mitteln eine dafür entsprechende »Nase« entwickelt werden kann. Davon liest man zum Beispiel im Dialog »Alkibiades I«. Sokrates stellt dort eingangs fest, dass sein Gesprächspartner Alkibiades ein schöner und bewundernswerter Mann ist, der durch seine Herkunft, sein Aussehen oder seine Fähigkeiten auf keinerlei Rat angewiesen sein soll: »Du meinst, keines Menschen bedürftig zu sein zu nichts, weil das, was du hast, so reichlich ist, daß du nichts brauchst, vom Leibe anfangend bis zur Seele.« 244 Bevor Alkibiades auf der Volksversammlung die Stadt von seinen geschichte ewig zu wiederholen. Wir laufen Gefahr, in einer statischen, immer enger werdenden Ich-Welt gefangen zu werden – einer endlosen Ich-Schleife.« Pariser: Filter Bubble. A. a. O. S. 24. Bei Parisers Worten, nach denen man gezwungen sei, seine »Suchgeschichte ewig zu wiederholen«, ist man beinahe versucht zu behaupten, Nietzsches Postulat der »Ewigen Wiederkehr« verwirkliche sich im Internet des 21. Jahrhunderts. 242 Vgl. Keil, Geert: Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit. 2. Auflage. Stuttgart 2019. S. 73. 243 Vgl. Keil: Wenn ich mich nicht irre. A. a. O. S. 73 f. 244 Platon: Alkibiades I. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Übers. v. Friedrich Schleiermacher. 33. Auflage. Reinbeck 2015. S. 127–179, hier 104a. Im Folgenden abgekürzt mit dem Namen des Dialogs und der Stellenangabe.

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politischen Qualitäten überzeugen will, dass er dementsprechend »solcher Ehre wert« ist, 245 möchte Sokrates ihn hinsichtlich seines Wissens um die Staatsangelegenheiten auf die Probe stellen. Als Sokrates im Verlauf des Gespräches, nach der Auseinandersetzung mit Fragen zu Angelegenheiten des Krieges, des Friedens oder des Gerechten, mehrfach feststellen muss, dass Alkibiades seinem Anspruch nicht gerecht wird, scheut er sich nicht, ihn auf diesen Mangel aufmerksam zu machen: »[W]ofür du dich aber ausgibst, es zu verstehen, und auftrittst, um Rat zu erteilen als ein Wissender, hiernach gefragt du, wie es scheint, nicht zu sagen weißt, willst du dich dessen nicht schämen, oder dünkt es dich nicht schmählich?« 246

Mehrfach verweist Sokrates darauf, wie töricht Alkibiades’ Verhalten ist, etwas lehren zu wollen, was er doch gar nicht weiß, weil ihm dazu die entsprechende Kompetenz fehlt. 247 Schließlich ist auch Alkibiades überzeugt: »Bei den Göttern, o Sokrates, ich weiß auch selbst nicht, was ich sage, und mir unbewußt muß es schon lange schmählich um mich stehen.« 248 Sokrates hat Alkibiades eine Lektion erteilt hinsichtlich seines Wissens und Nichtwissens, indem er mit ihm im Rahmen eines Gespräches eine Selbstverortung vorgenommen hat (II.4.2.2). Weil Alkibiades auf Grundlage dieser Besinnung fähig ist, seine Inkompetenz hinsichtlich seines begrenzten Wissens und gleichzeitig seine Angewiesenheit auf die Kompetenz anderer einzusehen, möchte ich das sokratische Gespräch auch als eine Möglichkeit für eine Einübung in die Demut verstehen. Sokrates hat es vermocht, dass sein Gesprächspartner von seinen als selbstverständlich angenommenen Standpunkten absieht und sich seine Mängel und Fehler eingesteht. Er befördert auf aktive Weise eine »Statusverunsicherung«, durch die er das Selbstbewusstsein seiner Mitmenschen erschüttert und sie an mancher Stelle mit einer Portion Ironie demü-

245 246 247 248

Vgl. Platon: Alkibiades I, 105b. Platon: Alkibiades I, 108e–109a. Vgl. Platon: Alkibiades I, 113c, 118b. Platon: Alkibiades I, 127d.

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tigt. 249 Im Zuge der Aufdeckung seines falschen Selbstbildes muss Alkibiades erkennen, dass auch er nicht allwissend, sondern auf die Sachkompetenz derer angewiesen ist, die mehr wissen als er. 250 Eine Quelle für die Demut, die auch das Miteinander betrifft, ist deshalb die Selbstverortung, die es möglich macht, dass wir uns dem anderen demütig mitteilen können. Bei Thomas von Aquin heißt es: »Jedoch kann jemand im Nächsten etwas Gutes entdecken, das er selber nicht besitzt, oder etwas Schlechtes bei sich selbst, was beim anderen nicht vorhanden ist, und insofern kann er sich ihm in Demut unterwerfen.« 251 Dafür ist ein Gespür im Rahmen der eigenen Fassung (II.4.4) nötig, auf deren Grundlage die Ermittlung des »Guten« und »Schlechten« »in« sich selbst und dem jeweils anderen möglich ist. Die dafür notwendige Selbsterkenntnis kann man in zweierlei Hinsicht unterscheiden: Sie kann zum einen darin bestehen, sich in der Erkenntnis Rechenschaft über die eigene individuelle Persönlichkeit abzulegen oder zum anderen als Versuch gelten, allgemeingültige Erkenntnisse über das Menschsein zu gewinnen. 252 Eine Demut, die sich zum Beispiel auf einen Gott (II.5.1) oder das Unverfügbare (II.5.3) besinnt, zielt auf eine Selbsterkenntnis in der zweiten Hinsicht ab, weil sie nach Eigenschaften fragt, die allen Menschen gleichermaßen zukommen und das Demütigsein nicht bloß temporär, sondern absolut begründet. Sokrates fragt zwar seinen Gesprächspartner Alkibiades über seinen persönlichen Wissensstand aus, um aber darauf aufbauend auch allgemeingültige Erkenntnisse, zum Beispiel über die Seele, zu gewinnen. Die hier skizzierte Demut des Miteinanders ist wesentlich auf die individuelle Person bezogen, sodass die dafür nötige Selbstverortung nicht auf überzeitliche und allgemeingültige Erkenntnisse abzielt, sondern stets auf eine Situation bezogen nach der Angemessenheit der eigenen Haltung fragt. Vor einem Mitmenschen ist es nicht immer und zu 249

Vgl. Guttenberger Ortwein: Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt. A. a. O. S. 55. 250 Vgl. Platon: Alkibiades I, 117c. 251 S.th. II–II, q. 161, a. 3. 252 Vgl. Szaif, Jan: Selbsterkenntnis: Thomas contra Augustinum. In: Theologie und Philosophie. Vierteljahresschrift. 74. Jg. (1999). S. 321–337, hier 321.

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jeder Zeit notwendig, demütig zu sein, sondern vor allem dann, wenn man sich eingesteht, dass man mit falschen Ansprüchen an sich und seine Umgebung herangetreten ist. Die Umstände der Umgebung werden im lebendigen Zusammenleben durchaus variieren, weshalb die Demut des Miteinanders in ihrer Relevanz wesentlich situativer als die anderen hier vorgestellten Arten der Demut ist. Um nachzuvollziehen, inwiefern eine Befragung der persönlichen Situation zugunsten der Demut möglich ist, sind einige Begriffe nötig, die ich Schmitz’ ontologischem Grundbegriff der Situation entnehme. 253 Eine Situation ist demnach erstens durch ihre »Ganzheit« charakterisiert, die sich durch einen »Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen« auszeichnet. 254 Diese Ganzheit beinhaltet ein bestimmtes Thema, wobei die Abgehobenheit und Geschlossenheit darin besteht, dass dieses Thema eine gewisse »abgegrenzte Kompaktheit« besitzt. 255 Dementsprechend unterscheiden sich beispielsweise eine Situation und ihr Thema im Fall eines Familienstreites von einer Seminarsitzung. Daneben liegt zweitens der Situation eine »integrierende Bedeutsamkeit« zugrunde, die »Sachverhalte«, »Programme« und »Probleme« umfasst, die nicht einzeln, sondern im Hintergrund der ganzheitlichen Situation liegen. 256 Ein »Sachverhalt« drückt aus, dass etwas der Fall ist 257, worunter zum Beispiel der Sachverhalt fällt, dass ich etwas am Computer tippe. »Programme« umfassen zum Beispiel Normen, die nahelegen, dass etwas sein soll, oder Wünsche, nach denen etwas sein möge. 258 Dagegen lassen die Pro253

Schmitz versteht die »Situation« als einen »ontologischen Grundbegriff« oder als »Schlüsselbegriff« mit einer »enormen Tragweite«, dem er für sein Werk eine »Schlüsselstellung« zuweist. Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 69; Ders.: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Berlin 1997. S. 24; Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O. S. 73. 254 Vgl. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg/ München 2005. S. 22. 255 Vgl. Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999. S. 47. 256 Vgl. Schmitz: Situationen und Konstellationen. A. a. O. S. 22; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 67. 257 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. A. a. O. S. 47. 258 Vgl. ebd.

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bleme fraglich werden, ob etwas der Fall ist oder nicht. 259 Das dritte Merkmal der Situation versteht Schmitz als »Binnendiffusion« dieser Bedeutsamkeit in der Weise, dass die in ihr enthaltenen Bedeutungen nicht sämtlich einzeln sind. 260 Diese Binnendiffusion bezeichnet Schmitz auch als »chaotische Mannigfaltigkeit«, bei der unentschieden ist, was miteinander identisch oder verschieden ist. 261 Situationen sind deshalb nicht grundsätzlich eindeutig, sondern vielsagend, weil die Bedeutungen nicht schon einzeln klar und übersichtlich vorliegen, sondern erst aus der situativen Ganzheit vereinzelt oder expliziert werden müssen. 262 Diesen Charakter der Situationen kann man sich am anbahnenden Streit eines Paares verdeutlichen. Die Partner spüren in der gemeinsamen Situation, dass etwas dem jeweils anderen unbehaglich ist, bis es zum klärenden Gespräch kommt, in dem zur Sprache gebracht wird, was in der gemeinsamen Situation an Bedeutsamkeit vorliegt, was also zum Beispiel das Problem ist. Dieses Problem liegt schon vor der Aussprache in der Situation, die Partner spürten es am Unbehagen, aber es wurde nur bis zum Streit nicht vereindeutigt beziehungsweise angesprochen. Die lebensweltliche Orientierung ist insgesamt erst dadurch möglich, weil eine Person durch eine »Explikation« oder »Individuation« die Bedeutungen aus der chaotisch-mannigfaltigen Situation durch »satzförmige Rede« »herausholt«. 263 Mit Hilfe der Sprache ist der Mensch sich seiner Situation bewusst und kann sich fragen, was ihm widerfährt oder wie er sich verhalten soll. Der für die Selbstbetrachtung als Verortung der individuellen Persönlichkeit wesentliche Bezug ist die persönliche Situation, an 259

Vgl. ebd. Vgl. Schmitz: Situationen und Konstellationen. A. a. O. S. 22. 261 Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 21; Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O. S. 68. 262 Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O. S. 68. 263 Vgl. ebd.; Schmitz: Situationen und Konstellationen. A. a. O. S. 23. Diese Fähigkeit ist nach Schmitz eine wesentliche Eigenschaft des Menschen, der sich so »über« die Situation stellen kann, ohne sie zu verlassen, indem er sich durch Sprache von ihr distanzieren oder sie analysierend zerlegen kann. Vgl. Ders.: Wozu philosophieren? A. a. O. S. 25 ff. 260

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der auch der Facettenreichtum der situativen Bedeutsamkeit zutage tritt. Die persönliche Situation beherbergt »retrospektive Anteile« der Person, die Schmitz auch als »Kristallisationskerne der Erinnerung« bezeichnet. 264 Expliziert eine Person diese retrospektiven Anteile, wird sie zum Beispiel die sie in ihrer Lebensgeschichte prägenden Momente aufzählen oder aber auch von alltäglichen Ereignissen in der Vergangenheit berichten können. Die »präsentischen Anteile« der persönlichen Situation umfassen die Standpunkte, die Fassung, die Gesinnung, die Gedächtnisse des Wissens und Könnens, habituelle Interessen oder die Art der Lebenstechnik, welche die habituelle Art der Lösung von Problemen in der Lebensführung ausmacht. 265 Zuletzt bestehen die »prospektiven Anteile« der persönlichen Situation in den »Wunsch-, Leitund Schreckensbildern«, die das ausmachen, worauf eine Person hinauswill oder was sie zu vermeiden versucht. 266 Insgesamt machen die Anteile der persönlichen Situation verständlich, vor welchem Hintergrund sich eine Person versteht. Die persönliche Situation umfasst, was eine Person in ihrem Weltbild oder Glauben als »richtig« und »falsch« versteht, mit welcher Lebensweise sie aus welchen Gründen vorliebnimmt oder welche Hoffnungen, Sehnsüchte und Ziele sie umtreiben. Dabei besteht die persönliche Situation nicht rein aus sich und für sich, sondern sie ist immer schon in die gemeinsamen Situationen einer Kultur, einer Familie oder einer Freundschaft eingebettet, deren ungeschriebenen Normen- und Verhaltensmuster oder Traditionen nicht weniger bedeutsam sind, aber hier keine Rolle spielen sollen. 267 Die persönliche Situation ist für die Selbsteinschätzung und das entsprechende Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen maßgeblich. Sie bildet auch den Ursprung für den Hochmut, kann aber nicht weniger der Angelpunkt für die Demut sein. Wer seine Standpunkte, sein Wissen und Können oder auch seine 264

Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 24. Vgl. ebd.; Schmitz: Wie der Mensch zur Welt kommt. A. a. O. S. 107. 266 Vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 24. 267 Für eine weitere Differenzierung von Schmitz’ Situationsbegriff vgl. Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 22 f. 265

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Lebenstechnik überschätzt, weil er fälschlicherweise glaubt, sie seien einzigartig oder jeder Situation gewachsen, hat ein hochmütiges Selbstbild. Der Hochmut entspringt einer falschen oder fehlenden Explikation der persönlichen Situation. Dass man sich überhaupt falsch einschätzen kann, liegt an der oben erklärten binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situation. Die Standpunkte oder von einer Person geteilten Weltbilder liege für diese nicht einfach offen und eindeutig vor, sondern müssen erst nach manchmal mühsamer Explikation vergewissert und auf ihre Schlüssigkeit geprüft werden. Zu dieser Uneindeutigkeit gesellt sich auch der ganzheitliche Eindruck, den man als Beobachter von einer Person gewinnt, während sich die Person selbst diesen Eindruck erst aus einzelnen Erfahrungen mit sich erarbeiten muss. 268 Eine Prüfung der persönlichen Situation und des Eindruckes hat Sokrates im Gespräch mit Alkibiades vorgenommen, wobei Letzterer seiner Selbstüberschätzung überführt wurde. Diese Prüfung geschieht aber zum Beispiel auch dann, wenn eine Person sich im Rahmen einer Sinnkrise ernsthaft fragt, worauf sie eigentlich hinaus will. Der Hochmütige verfehlt aus mangelhafter Explikation seiner Standpunkte und seines Eindruckes, den er auf andere macht, ein seiner Situation angemessenes Verhalten. So platziert Aristoteles neben den Großgesinnten (II.4.3), der sich großer Dinge für wert hält und es auch wirklich ist, den eitlen Menschen: »Die eitlen Menschen andererseits sind dumm und kennen sich selbst nicht, und dies ganz offensichtlich; denn sie versuchen sich an ehrenvollen Dingen, wie wenn sie ihrer wert wären, und werden dann ihrer Unfähigkeit überführt.« 269

Genauso erging es dem Alkibiades, der sich durch die mit Sokrates durchgeführte Selbstbesinnung seiner Eitelkeit bewusst wurde. Bei Descartes 270 neigen diejenigen Menschen zum Hochmut, die sich am wenigsten kennen und auch für Spinoza ist »sehr großer 268 269 270

Vgl. ebd.; Schmitz: Wie der Mensch zur Welt kommt. A. a. O. S. 108. EN 1125a, 25. Vgl. Descartes: Die Passionen der Seele. A. a. O. S. 99 (Artikel 160).

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Hochmut« (lat. maxima superbia) ein Zeichen dafür, dass »man sich selbst sehr wenig kennt«, weil man mehr von sich hält, als recht ist. 271 Der Hochmut und die Abwesenheit von Demut resultieren aus der fehlenden Explikation seiner »präsentischen« und »prospektiven Anteile«, wodurch man sich hinsichtlich seines Wissens oder Könnens mehr zuschreibt, als es der »Wirklichkeit« entspricht. Die Wirklichkeit meint hier schlicht das, was das eigene Vermögen tatsächlich hergeben kann. Für das Zusammenleben hat das entsprechend verheerende Folgen. Der Hochmütige befeuert, wenn er seinen Anspruch in die Tat umsetzen will, den von Jaspers diagnostizierten Dogmatismus, der sich jeder »echten« Kommunikation versagt. Dann lässt man nichts mehr gelten, außer die eigenen verhärteten Standpunkte, die man als unantastbare Dogmen versteht, weshalb man nicht länger bereit dazu ist, sich in Frage stellen zu lassen. 272 Eine ähnliche Situation findet man in den oben kurz charakterisierten Konflikten vor, in denen sich die politischen Lager in Hochmut voreinander verschließen, weil die Schuldigen einerseits und die Opfer andererseits schon so »fest-stehen«, dass niemand ernsthaft im Dialog von seinem Standpunkt abweichen würde. Die verschiedenen politischen Gruppierungen siedeln ihre Standpunkte dann nicht mehr bloß in den individuellen und persönlichen Situationen an, sondern teilen diese in der gemeinsamen Situation ihrer Bewegung. Der Hochmut diverser politischer Lager ruht darin, von sich und dem eigenen Weltbild mehr zu halten, als es eigentlich leisten kann, nämlich das unfehlbare und unanfechtbar richtige Verständnis einer Problemlösung oder einer »guten« Gesellschaft zu besitzen. Wer so denkt, ist auf keine Diskussion angewiesen, in der alle Beteiligten gleichermaßen Gehör finden, der muss nicht gleichberechtigt Opfer und Täter anhören und der erkennt auch die Einschätzung von Sachverständigen jeglichen Fachbereiches nicht länger an. All das ist für den Hochmütigen überflüssig, weil er in seinem Weltbild den einzigen 271

Vgl. Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. A. a. O. Dritter Teil. Definition 28 u. vierter Teil. Lehrsatz 55. 272 Vgl. Jaspers: Der philosophische Glaube. A. a. O. S. 71.

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Arten der Demut

Schlüssel sieht, eine Situation vollkommen eindeutig und richtig beurteilen zu können. Dem Hochmütigen ist die Demut abhandengekommen, mit der er ein Verständnis für andere Standpunkte und Kompetenzen gewinnen könnte, die über sein Wissen und Können hinausgehen. II.5.5.3 Die demütige Besinnung auf das Miteinander Der Pädagoge Frederik Jacobus Johannes Buytendijk macht deutlich, worauf es bei einer demütigen Denkweise ankommt: »Hierbei ist nicht das Begreifen, sondern das Schauen, das Einsehen der bestimmende Seelenakt.« 273 Die Einsicht vollzieht man aber an der persönlichen und gemeinsamen Situation, wozu es keinen Begriff der »Seele« braucht. Das »Ein-sehen« oder Einsicht nehmen in die Situation kultiviert ein der Einsicht volles Handeln, das dem Miteinander zugutekommt. Wer aber ohne Einsicht ist, der verändert nicht die Ausrichtung seines Strebens und gesteht sich keine Fehler ein, 274 denn der Einsichtlose ist besinnungslos, was nicht mit Bewusstlosigkeit zu verwechseln ist: »Der Besinnungslose weiß durchaus von seinem Tun, aber er macht sich die Tragweite seines Tuns nicht klar.« 275 »Sich-besinnen« bedeutet dagegen, sich die Folgen seines Tuns klarzumachen. 276 Wie schon im Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades deutlich wurde, legt die Frage den Grundstein zur Einsicht. Für Gadamer besteht eine hermeneutische Grundbedingung des Verstehens in der Suspension von Vorurteilen, welche die Struktur der Frage besitzt. 277 Die Vorurteile umfassen, wie man nach dem gegenwärtigen Verständnis annehmen könnte, primär nicht diskriminierende Vorverurteilungen, sondern grundlegend jegliche 273

Buytendijk: Erziehung zur Demut. A. a. O. S. 27. Hier gilt wieder das schon mehrfach zitierte Wort Goethes: »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.« Goethe: Maximen und Reflexionen. A. a. O. S. 464. 275 Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. A. a. O. S. 195. 276 Vgl. ebd. 277 Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode. A. a. O. S. 304. 274

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Die Demut im Miteinander

kulturell und historisch gewachsene Vormeinung einer Person, die zum Beispiel auch das Verständnis von Begriffen wie »Freiheit« oder auch »Demut« prägt. Das kulturelle Vorverständnis der Demut fand im ersten Teil der Arbeit eine Explikation (I.). Das »Wesen« der Frage besteht entgegen der festgewachsenen Vormeinungen im »Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten«. 278 Diese Möglichkeiten resultieren aus der Explikation der Vormeinungen, die eine Frage anstößt. Die Frage leitet eine mögliche Revision der persönlichen Ansichten und des damit einhergehenden Selbst- und Weltverständnisses ein. Wie oben dargelegt, verschließt sich der Hochmütige dem »Sich-in-Frage-stellen«, weil er zum Beispiel glaubt, sein Moralverständnis berge das »Gute an sich« (II.5.5.1), für das es keinerlei stichhaltige Rechtfertigung bedarf. Dagegen zeichnet den Demütigen die Bereitschaft aus, sich bereitwillig in Frage stellen zu lassen, um in der Einsichtnahme seine persönliche Situation soweit zu explizieren, dass sowohl die Fehler, Inkonsistenzen oder Widersprüche als auch die konsistenten und triftigen Gründe seiner präsentischen und prospektiven Anteile ans Licht kommen. Durch die Demut im Miteinander ist eine Person offen dafür, durch eine schonungslose Selbstverortung (II.4.2) von ihrem als absolut genommenen Standpunkt abzusehen, um sich zum Beispiel die Mängel einzugestehen, die nur in der Diskussion und im Zusammenleben kompensierbar sind. Entgegen der hochmütigen und intoleranten Kommunikationsverweigerung öffnet die Demut ein Fenster zum Dialog, in dem man seine Mitmenschen als fehlbare Partner versteht, von denen man bei allem Widerstreit lernen kann. Dafür ist das Gespräch nötig, das als gemeinsam angestellte Besinnung eine Selbstverortung vornimmt. Diese Verortung verweist den jeweiligen Gesprächspartner auf die Begrenztheit seiner Ansichten. So heißt es bei Hans Lipps: »Nur in dem freien Verhältnis des einen zum anderen, d. i. in der Begegnung mit dem andern finde ich die Widerstände, an denen sich die maßgebliche Richtigkeit meiner Sicht erproben kann. Das Un-

278

Ebd.

297 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Arten der Demut

vorhergesehene seines Einspruchs weist mich auf die Schranken meiner Auffassung.« 279

Erst im gemeinsamen Besprechen einer Sache ist die »Umsicht« möglich, durch die man von seiner vorgefertigten Ansicht zurücktritt, sodass ersichtlich wird, was von verschiedenen Seiten dafür und dagegen spricht. 280 Schon dem Begriff nach betrachtet der Umsichtige nicht nur sich selbst, sondern auch das, was um ihn herum zum Beispiel in Gestalt von Ansichten, Weltbildern oder Glaubenssätzen vorliegt. Mit dem Wissen um den Ertrag der Demut darf man hinzufügen, dass erst in der umsichtigen Anerkennung der Begrenztheit jeder Ansicht auch die Machtlosigkeit und Abhängigkeit des Einzelnen zum Vorschein kommt, die erst im Miteinander einen Ausgleich findet. Erst im Gespräch, in dem nicht alles schon eindeutig und klar vorliegt, sondern ein Problem zur Diskussion steht, kann man ein Gespür für die eigenen Schwächen und das Anerkennen des mir Widerstreitenden entwickeln. Die Demut im gemeinsamen Gespräch eröffnet ein Verständnis für das im obigen Sinne »echte« (II.5.5.1) Hinhören und voneinander Lernen, wenn man bereit dazu ist, den Anspruch des eigenen Weltbildes auf absolute Richtigkeit zurückzufahren und wenn auch das »Sich-Irren« kein Tabu mehr ist, sondern als menschliche Grundkonstante akzeptiert wird. Auf diese Weise kommt erneut zur Geltung, dass die Demut auch im Miteinander keine Haltung der Ohnmacht oder der Passivität ist (I.2.1). Zu Recht verweist Otto Schaffner darauf, dass vielmehr die Selbstgefälligkeit ein Stehenbleiben bedeutet. 281 Die wirkliche Ohnmacht und Passivität im Miteinander besteht im »Sich-Verschließen« vor der widerstreitenden Ansicht und im selbstgefälligen und hochmütigen Glauben, schon das einzig und absolut richtige Weltbild zu vertreten. Wenn man Schaffners Bildsprache aufnimmt, dann bleibt dagegen der Demütige niemals selbstgefällig stehen, weil er im Wissen um seine Begrenzt279

Lipps, Hans: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1968. S. 35. 280 Vgl. ebd. 281 Vgl. Schaffner: Christliche Demut. A. a. O. S. 196.

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Die Demut im Miteinander

heit und Abhängigkeit die Offenheit für andere Standpunkte aufrechterhält. Die Demut hat als Gesprächsgrundlage einen erdenden Charakter, wenn sie die Diskussionspartner für ihre Fehlbarkeit offen hält, ohne einseitig ihre Laster permanent in den Vordergrund rücken zu müssen (II.4.3). Die Vieldeutigkeit der persönlichen und gemeinsamen Situation begründete auch den situativen Charakter des demütigen Miteinanders, sodass sie als Haltung des Zusammenlebens nicht absolut und nicht immer aus denselben Gründen einzufordern ist (II.5.2.2). Mit ihrem Gespür (II.4.4) für die Angemessenheit der Demut muss die Person im Gespräch deshalb immer nach den Gründen für ihre Haltung fragen (II.4.2.2), um auch die Gefahr der Unmündigkeit auszuschließen. Diesem situativen Charakter zum Trotz, möchte ich einen Vorschlag für einige allgemeine Kriterien unterbreiten, die für eine demütige Explikation im Gespräch leitend sein sollten. Weil, wie herausgestellt, Situationen ihre Uneindeutigkeit niemals vollends einbüßen, können auch diese Kriterien niemals erschöpfend sein, weil die Lebenserfahrung diese eindeutige Abgeschlossenheit nicht wie im Fall einer Rechenaufgabe zulässt. Für die Besinnung (II.4.2), die ich nun als Explikation der persönlichen und gemeinsamen Situation verstehe, rät Bernhard von Clairvaux in seiner Schrift an Papst Eugen III. zu vier leitenden Themen, die bereits kurz beleuchtet wurden (II.4.2.1). Diese Themen sind auch für die Demut im Miteinander von Nutzen, weshalb sie eine erneute Betrachtung verdienen: »Um aber aus der Besinnung Nutzen zu ziehen, rate ich dir vier Themen an, wie sie sich ergeben: dich (selbst), was unter dir, was rund um dich und was über dir ist. Bei dir setze mit deiner Besinnung an […].« 282

Für Bernhard ist es zwar auch wichtig, im Rahmen der Besinnung auf das menschliche Wesen, das über die konkrete Situation hinausreicht, aufmerksam zu werden, aber ihm geht es nicht weniger um die lebensweltlichen Bezüge eines Verhaltens, das im Fall 282

Clairvaux: Über die Besinnung an Papst Eugen. A. a. O. S. 669.

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Arten der Demut

des Papstes die Ausübung des Kirchenamtes betrifft. Die Besinnung bietet für die kirchlichen Ämter zum Beispiel den Schutz vor der Versuchung des Stolzes oder des Machtmissbrauches (II.4.2.1). 283 In der Demut des Miteinanders kommt es auf diese rein irdischen Bezüge an, wenn sie nach dem Verhältnis zur Umgebung und den damit einhergehenden zwischenmenschlichen Beziehungen fragt. Wenn es die Selbstverortung nahelegt, muss die Person dann ihr Streben im Wissen um ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit zurückfahren. Die Bewegung der Besinnung geht in Anlehnung an die von Bernhard vorgeschlagenen Themen von der persönlichen Situation zu deren Eingebettetsein in die jeweiligen gemeinsamen Situationen (Partnerschaft, Freundschaft, Familie, Kultur usw.) und ihren zwischenmenschlichen Beziehungen über. Die Explikation beginnt, wie es Bernhard vorschlägt, bei »dir selbst« beziehungsweise der persönlichen Situation. Wie schon dargelegt (II.5.5.2), ist es hier notwendig, die präsentischen und prospektiven Anteile seiner persönlichen Situation offenzulegen. Der Demütige sucht die eigenen Überzeugungen und Ziele auf und befragt diese nach unhinterfragten Inkonsistenzen, Implikationen und Vormeinungen. Neben der Legitimierung der Überzeugungen sollte auch die Art und Weise der Selbstbehauptung einer Problematisierung unterliegen. Dieses Vorgehen ist umso dringlicher gefragt, wenn es im politischen Diskurs nicht mehr auf die Stichhaltigkeit von Begründungen, sondern auf den Grad der moralischen Empörung ankommt (II.5.5.1). Die Demut ist als Resultat der Besinnung auf die persönliche Situation zum Beispiel dann gefragt, wenn man sich eingestehen muss, dass der eigene Anspruch gemessen an der Wirklichkeit auf hochmütige Weise ins Leere läuft, weil er nicht halten kann, was er öffentlich vorgibt. 283

Vgl. Dreyer, Mechthild: Demut als Selbsterkenntnis. Lehren und Leiten als Dienst an der Kirche nach Bernhard von Clairvaux. In: Religiöse Ordnungsvorstellungen und Frömmigkeitspraxis im Hoch- und Spätmittelalter. Hrsg. v. Jörg Rogge. Korb 2008. S. 63–76, hier 64, 67 ff.; Vgl. dazu a. das kurze Vorwort von Hans Urs von Balthasar in: Clairvaux, Bernhard v.: Was ein Papst erwägen muss (De consideratione ad Eugenium Papam). Übers. v. Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1985. S. 7–11.

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Die Demut im Miteinander

Bernhards Frage nach dem, »was unter dir ist«, verlegt den Ausgangspunkt der Explikation zunehmend von der persönlichen zu den gemeinsamen Situationen, in denen der Mensch lebt. Das, was »unter mir« ist, verweist mich auf meine gehobene soziale Stellung und deren Behauptung im Zusammenleben. Diese Stellung ist mit der Demut ohne Probleme vereinbar, weil sie als Haltung auch andere Werte neben sich tolerieren kann (II.4.3), anhand derer man zu Recht auf die eigenen Verdienste verweist. Die Demut sollte erst dann walten, wenn man das eigene Selbstverständnis – sei es als Elternteil, Lehrer, Unternehmer, Politiker, Pfarrer, Sportler usw. – als unantastbar versteht, weil man glaubt, keine Hilfe oder Belehrung nötig zu haben. Die Konsequenzen dieses Hochmuts reichen im zwischenmenschlichen Verhältnis von mangelnder Achtung und Respektlosigkeit bis hin zur Forderung nach Unterwerfung, durch die man seine Allmachtsphantasien ausleben will. Verloren geht somit das Bewusstsein für das eigene Angewiesensein auf seine Mitmenschen, das aus der zwangsläufigen Begrenztheit des eigenen Wissens und Könnens resultiert. Wer diese Begrenztheit seines Vermögens grundlegend nicht wahrhaben will, der weitet den Anspruch seiner vermeintlichen Unantastbarkeit im schlimmsten Fall auf alle Lebensbereiche aus, sodass er nur noch Menschen »unter sich« sieht, weil es über ihm »nichts« mehr zu geben scheint. Dieses Selbstverständnis hat zum Beispiel der »Einzige« bei Max Stirner, der hier schon als Kritiker der Demut aufgetreten ist (I.2): »Für Mich gibt es keine Wahrheit, denn über Mich geht nichts!« 284 Diesem Irrglauben unterlag auf ähnliche Weise auch Alkibiades, als er fälschlicherweise annahm, »keines Menschen bedürftig zu sein« 285, weil er ein schöner Mann von guter Herkunft war. Auch mit Blick auf das, »was unter mir ist«, bewahrt die Demut vor dem falschen Glauben, dass man den Anspruch seiner Vormachtstellung oder seines Talentes auf jede Situation erweitern könnte. Die Bedingung ist dafür, seine Abhängigkeit und sein Angewiesensein nicht nur dann zu bedenken, wenn man zu jemandem 284 285

Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 399. Platon: Alkibiades I, 104a.

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Arten der Demut

aufsieht (II.5.2), sondern auch dann, wenn man auf jemanden herabschaut. 286 Den zwischenmenschlichen Hochmut zügelt auch die Frage nach dem, »was über dir ist«, die wohl für die Demut am bedeutendsten ist. Dieses »Über-dir« ist für Bernhard und Papst Eugen III. abschließend in Gott gegründet, aber ebenso auf das rein zwischenmenschliche Leben übertragbar. Dabei ist der »über mir« stehende Mensch kein Gott, sondern zum Beispiel eine Person, die mehr Sachkompetenz, mehr Wissen oder mehr Können in welcher Hinsicht auch immer besitzt. In dieser stets variierenden Hinsicht und der dadurch bedingten Demut offenbart sich erneut der situative Gehalt dieser Haltung. Sokrates machte Alkibiades im Verlauf seines Gespräches immer wieder darauf aufmerksam, dass es darauf ankommt, demjenigen, der auf seinem Sach- und Fachgebiet am fähigsten ist, die entsprechende Handlungsgewalt zuzusprechen. 287 Die Legitimation dafür hat nichts mit »äußerlichen« Faktoren wie Reichtum oder Ansehen gemein, sondern ist einzig dadurch bestimmt, auf seinem »Gebiet« ein kompetenter Ratgeber zu sein: 286

Auch in einem »Gespräch« des Konfuzius wird zu einem Verhalten geraten, das sich auch aus den hier vorgetragenen Überlegungen ergeben könnte: »Zeng-zi sprach: ›Früher hatte ich einen Freund, der so handelte: Er hatte große Fähigkeiten, fragte aber auch die, die weniger konnten. Er wußte viel, lernte aber auch bei denen, die weniger wußten. Er war sich stets seiner Grenzen bewußt. Voll von Wissen, hielt er sich dennoch für leer. Wurde er beleidigt, so störte ihn das wenig.‹« Konfuzius: Gespräche (Lun-Yu). Übers. u. hrsg. v. Ralf Moritz. Stuttgart 2014. S. 46 f. (VIII,5). Diese Stelle veranschaulicht ebenfalls einleuchtend, wie die Demut und die Großgesinntheit (II.4.3) in einer Person harmonieren können, wenn der mit großen Fähigkeiten Ausgestattete trotz seines Vermögens darum weiß, dass auch er unabdinglich auf seine Mitmenschen angewiesen bleibt. In der Übersetzung von Richard Wilhelm ist die eben angegebene Stelle aus den »Gesprächen« des Konfuzius sogar mit »Demut« überschrieben worden. Vgl. Kungfutse: Gespräche. Lun Yü. Übers. u. hrsg. v. Richard Wilhelm. Köln 1982. S. 92. 287 Diesen Sinn hat auch die folgende Frage: »Und wenn du zu Schiffe führest, würdest du dir eine Meinung darüber machen, ob man das Steuerruder wohl müsse nach sich halten oder von sich, und, weil du es nicht recht wüßtest, schwanken, oder würdest du das dem Steuermann überlassen und dich ganz ruhig halten?« Platon: Alkibiades I, 117c–118d.

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Die Demut im Miteinander

»Denn von dem Wissenden, denke ich, kommt guter Rat in jeder Sache, nicht von dem Reichen. […] Ob also der, welcher ihnen zuspricht, arm ist oder reich, das wird den Athenern nichts verschlagen, wenn sie wegen der Bewohner der Stadt ratschlagen, wie sich diese wohl gesund erhalten können; sondern sie werden nur suchen, daß der Ratgeber ein Arzt sei.« 288

Hinter diesem Anspruch verbirgt sich keine Banalität, sondern ein echtes Problem, das es Sokrates immer wieder wert war, anzusprechen. 289 Es sollte nicht von Bedeutung sein, dass man zu einem Sachverhalt besonders viele oder eindrucksvolle Worte findet, sondern was zählt, ist die Kompetenz einer Person, die durch Mehrheitsentscheide oder Ansehen nicht aufzuwiegen ist. Ebenso wenig spielt es für Sokrates eine Rolle, ob der Wissende »klein«, »groß«, »schön« oder »hässlich« ist, 290 wenn es doch auf seine Fähigkeiten ankommt, die er als »Arzt« zur Lösung eines Problems auf seinem Fachgebiet besitzen muss. Sokrates führt Alkibiades somit zu der Einsicht, dass es nicht auf seine Schönheit, seinen 288

Platon: Alkibiades I, 107b–107c. Wie sehr dieses Problem auch im 21. Jahrhundert noch relevant ist, zeigt z. B. Carlo Strenger in seinem Buch »Zivilisierte Verachtung«. Im Angesicht von Debattenkulturen, die sich durch eine zunehmende Emotionalisierung, durch Populismus und Relativismus auszeichnen, schlägt er unabhängig von Sokrates den »Ärztetest« für eine »verantwortliche Meinungsbildung« vor. Um zu zeigen, wie sehr in diesem »Test« das sokratische Erbe nachhallt, zitiere ich einen längeren Abschnitt: »Die Tendenz, eher Überzeugungen zu folgen als wohlbegründeten Sachargumenten, ist vollkommen irrational. […] Um genauer bestimmen zu können, wann welche Argumente zählen sollen, möchte ich ein ganz einfaches Prinzip vorschlagen: den Ärztetest. Stellen Sie sich vor, ein geliebtes Familienmitglied ist schwer krank – was erwarten Sie von dem behandelnden Arzt? Was würden Sie sagen, wenn sie oder er die Entscheidung für eine bestimmte Darmkrebstherapie mit seinem Glauben begründet und einschlägige klinische Studien ignoriert? Würden Sie das akzeptieren? […] Überträgt man das Prinzip des Ärztetests auf den Kontext der zivilisierten Verachtung, würde dies bedeuten, dass Menschen moralisch dazu verpflichtet sind, bei schwerwiegenden politischen, rechtlichen oder das Zusammenleben der Kulturen betreffenden Fragen dieselben epistemischen Maßstäbe anzuwenden wie in den Bereichen der Medizin oder persönlicher Finanzen.« Strenger, Carlo: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. 7. Auflage. Berlin 2019. S. 50 f. 290 Vgl. Platon: Alkibiades I, 107b. 289

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Arten der Demut

Reichtum und sein Ansehen ankommt, sondern nur seine Kompetenz gefragt ist, die ihn für seine Angelegenheiten auszeichnet. So vergewissert sich Sokrates: »Wir unternehmen doch nur dann etwas zu tun, wenn wir meinen, das zu verstehen, was wir tun? […] Wenn aber jemand nicht meint, etwas zu verstehen: so überläßt er es den anderen?« 291 Entgegen dieses Selbstverständnisses ist die Unwissenheit jener, die als Nichtwissende glauben, etwas zu wissen, die »Ursache allen Übels« und die »schmähliche Torheit«. 292 Wir können diesen Grundanspruch auf die Kommunikation in den gegenwärtigen politischen Diskursen übertragen. Nicht, wer sich am lautesten empört, wer sein Weltbild schon immer als einzig richtig voraussetzt, wer sich am meisten in der Öffentlichkeit zum »Guten« oder »Vernünftigen« bekennt, bringt zwangsläufig auch einen sinnvollen Vorschlag zur Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Probleme vor. Diese rein »äußerlichen« Praktiken der Selbstbekundung im sozialen und digitalen Raum sagen nichts über die Richtigkeit und die Konsistenz einer Ansicht aus. Worauf es ankommt, ist die Kompetenz und der Wille zur ernsthaften Auseinandersetzung mit einem Problem und der Einsatz für dessen angemessene Lösung, die sich aus einer schlüssigen und transparenten Argumentation ergibt. 293 Die sich dabei 291

Platon: Alkibiades I, 117d–117e. Vgl. Platon: Alkibiades I, 118a. 293 Erneut sei hier Carlo Strenger das Wort gegeben, der mit seinem Prinzip der »zivilisierten Verachtung« auf eine ganz ähnliche Form des gesellschaftspolitischen Umgangs hinauswill: »Ich definiere zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten. Zivilisiert ist diese Verachtung unter zwei Bedingungen: Sie muss erstens auf Argumenten beruhen, die zeigen, dass derjenige, der sie vorbringt, sich ernsthaft darum bemüht hat, den aktuellen Wissensstand in relevanten Disziplinen zu reflektieren; dies ist das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung. Zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen die Menschen, die sie vertreten.« »Eine Kultur der zivilisierten Verachtung beruht somit auf einer intellektuellen Disziplin, die dazu verpflichtet, Informationen zu sammeln und diese sorgfältig abzuwägen; und auf dem Willen, diese 292

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Die Demut im Miteinander

zwangsläufig ergebende Wissenshierarchie ist in den Wissenschaften allseits bekannt. Im alltäglichen, aber auch politischen Umgang gerät sie dagegen oftmals in den Hintergrund. Ein möglicher Bezugspunkt für die Demut im Miteinander ist somit die Kompetenz einer Person, die dadurch im Bereich ihres Könnens – ungeachtet der Höhe des Status oder Einkommens – »über mir« steht. Diese Kompetenz vermittelt mir zugleich mein gesellschaftlich bedingtes Angewiesensein und meine Abhängigkeit von meinem Mitmenschen. Dass diese demütige Anerkennung nicht auf Macht, Reichtum, Einfluss oder Charisma fußen sollte, die allesamt mit der jeweiligen Kompetenz nicht im Geringsten zusammenfallen müssen, ist nur ratsam, wenn man die Demut nicht zu einer unreflektierten Haltung der Unterwerfung verkommen lassen will (I.2). Ist man stattdessen bereit, seine in der persönlichen Situation eingebetteten Kompetenzen zu explizieren, wird man anerkennen müssen, in wie vielen Bereichen des Zusammenlebens ein »Über-mir« anzutreffen sein wird, das mir mein Angewiesensein als Nichtwissender und Nichtkönnender vor Augen führt. Das vergleichsweise fehlende Wissen oder die mangelnde Kompetenz jeder Person ist grundsätzlich kein beschämender Mangel, durch den man sich schuldig machen würde. Stattdessen ist ganz nüchtern zu konstatieren, dass unsere Aufnahmefähigkeit und unser Vermögen hinsichtlich unseres Wissens und Könnens schlichtweg begrenzt sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße. In der Demut des Miteinanders wird die daraus resultierende Machtlosigkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit im Zusammenleben anerkannt, aber nicht bis ins Maßlose betont (II.4.3). Die Kompetenzen, hinter denen jeder ausgehend von sich in Demut zurückbleiben muss, sind vielseitig. So drückt sich schon in jedem Handwerk für einen Laien – und sei er anderDisziplin konsequent aufzubringen – genau darin besteht nämlich das Prinzip der verantwortlichen Meinungsbildung. Zivilisierte Verachtung ist dann angebracht, wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen, weil sie es bequemer finden, Tatsachenbehauptungen zu akzeptieren, die zu ihren emotionalen und weltanschaulichen Präferenzen passen, selbst wenn sich leicht Indizien finden lassen, die diesen Behauptungen widersprechen.« Strenger: Zivilisierte Verachtung. A. a. O. S. 21, 51.

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Arten der Demut

weitig noch so gebildet oder wohlhabend – eine Kompetenz aus, vor der er sich bildlich gesprochen in Demut beugen müsste. Nicht ausgenommen sind davon zum Beispiel auch Berufe in der Alten- oder Krankenpflege, wobei diese Liste selbstverständlich zu erweitern ist. Dieser Blick auf seine Mitmenschen, den die Demut ermöglicht, stärkt nicht nur das Wissen um die je eigene Angewiesenheit, sondern stiftet umgekehrt auch ein Band der Solidarität, das es möglich macht, dem anderen mit mehr Achtung, Verständnis und Respekt zu begegnen. Aus rein diesseitigen Gründen durchbricht die Demut damit ein Weltverständnis, das die »großen« und »einflussreichen« Menschen einzig an ihrer Relevanz in der Politik, im Internet oder in der Wirtschaft bemisst. Der Demütige sieht dagegen in jedem Menschen einen Wert, dessen Hilfe oder Kompetenz er nicht nur in Ausnahmesituationen (II.5.3, II.5.3.1), sondern auch bei den alltäglichen Dingen des Lebens bedarf. In einem »Jahr des Protests« 294 ist diese Bereitschaft zur demütigen Anerkennung eines »Über-mir« auch in der politischen Auseinandersetzung wesentlich zu kurz gekommen, weil in der Empörung und Suche nach Schuldigen der Hochmut des eigenen verkürzten Weltbildes oftmals in den Hintergrund rückte (II.5.5.1). Eine demütige »Durch-sicht« der persönlichen und gemeinsamen Situation nimmt den Protest nicht vorweg, kann aber ein Maß kultivieren, auf dessen Grundlage eine demokratische Auseinandersetzung zustande kommt, die an einer ernsthaften und gemeinsamen Lösung des Problems interessiert ist.

294

Vgl. dazu den Titel der SPIEGEL Chronik 2019: »Triumphe, Krisen, Aufstände – Das Jahr des Protests«. Erschienen am 04. 12. 19. https://www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/a-1299327.html [Zuletzt abgerufen am 15. 01. 20].

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II.6 Zur Zukunft der Demut

Rudolf Bultmann (II.5.4.1) zeichnete in seinem Aufsatz »Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur« die »primäre Erkenntnis« als die Einsicht aus, »daß es echte Freiheit nur in der Bindung gibt. Es gilt den Versuch, diejenigen Bindungen wieder zu finden, die wir als die uns befreienden erfassen und bejahen«. 1 Die hier vollzogenen philosophischen Annäherungen an eine Theorie der Demut haben, so hoffe ich, einen Beitrag dazu geleistet, diese Erkenntnis für die Moderne zu bestärken und zwar auf eine Weise, die der traditionell christlichen Verhaftung (I.3) dieser Haltung verpflichtet ist, aber in ihrer Legitimation ihre eigenen Wege ging. Die von Bultmann angestrebte »echte Freiheit« ist mit dem hier entwickelten Begriff der Demut nur aus einer negativen Perspektive heraus zu bestimmen, die nur nahelegen kann, was Freiheit nicht bedeuten sollte. Die Demut ist laut der in II.4.5 formulierten Bestimmung eine Haltung in der Fassung, durch die eine Person bereit ist, sich ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit einzugestehen, sofern es ihr eine Erfahrung (II.4.1) oder Besinnung (II.4.2) nahelegt. »Echte« Freiheit sollte sich daher im Umkehrschluss mindestens dadurch auszeichnen, dass sich der Mensch nicht in jeglicher Hinsicht seiner Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit versagt, sodass er sich als vollkommen unabhängig, allmächtig und unbegrenzt versteht. Dass diese Feststellung in mancherlei Hinsicht trivial erscheinen mag, sei einem vorschnellen Urteil zugestanden, wie wesentlich aber die Demut dazu beiträgt, 1

Bultmann: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. A. a. O. S. 290.

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Zur Zukunft der Demut

dass der Mensch dieses Selbstverständnis tatsächlich zurückgewinnen kann und auch muss, war rückblickend eine grundsätzliche Absicht der hier vorgetragenen Überlegungen. Das in der philosophischen Tradition gewachsene Unbehagen an der christlichen Demut schlug sich im Wesentlichen in drei Kritikpunkten nieder, die das christliche Welt- und Menschenbild insgesamt hinterfragten. Dass die Demut eine Stütze für die Bereitschaft zur bedingungslosen Ohnmacht und Selbstversklavung bildet (I.2.1), dass sie dazu die freiwillige und maßlos unternommene Unterdrückung der Begierden einer Person bestärkt (I.2.2) oder dass mit ihr ein eigentlich hochmütiges Bestreben zur Erhöhung des sozialen Status (I.2.3) Erfolge feiert, ist in den traditionellen christlichen Ausdeutungen dieser Haltung nur teilweise bestätigt worden (I.3.9). Richtig war dagegen auch, dass die philosophische Kritik einen grundlegenden Anspruch dieser Haltung verschwiegen hat, nämlich das Selbstverständnis des Menschen insoweit zu korrigieren, als dass er aufgrund seiner absoluten Bedingtheit im Vergleich zum vollkommenen Gott sein Verhältnis zu sich und seiner Umgebung wesentlich hinterfragen muss. Aus der gemeinsam geteilten Abhängigkeit von und der Begrenztheit durch Gott war den Christen die Aufforderung wesentlich, sich vor keinem Mitmenschen einen Vorrang einzuräumen, weil sich niemand außer Gott eine absolute Vormachtstellung attestieren kann und auch der persönliche Vorzug nicht aus dem Eigenverdienst, sondern aus der göttlichen Gnade stammt (I.3.9, II.5.1). Neben den daraus geschlussfolgerten Akten der Buße und Askese war die christliche Demut auch bestimmt durch einen Akt der Solidarität, wenn sich die Menschen als Einheit einer Gemeinde in Sanftmut, Mitleid und Verständnis begegnen sollten. Inwiefern diese zweite Seite der christlichen Demut, die wesentlich mit einem Prozess der Selbsterkenntnis verknüpft war, auch für ein modernes und rein weltliches Verständnis dieser Haltung eine Bereicherung ist, sollte der zweite Teil der Überlegungen verdeutlichen. Was sowohl die philosophische Kritik als auch die christliche Tradition gemein haben, ist, dass sie die Demut als Tugend schlichtweg voraussetzen, ohne nach den Quellen zu fragen, die 308 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

Zur Zukunft der Demut

sie als Haltung erst zu einem solchen Stellenwert im menschlichen Leben erheben. Die ursprüngliche Quelle stellt dafür die Betroffenheit als spürbare Erfahrung in der Lebenswelt dar (II.4.1). Der nahende Tod, die überströmende Liebe oder der Anblick eines Naturschauspiels (II.4.1.1) waren Beispiele für »übergroße« Erfahrungen, welche die Betroffenen dazu nötigen, ihre Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit in einer Stellungnahme anzuerkennen und die Ausrichtung ihres Lebens grundlegend zu hinterfragen. Mit den von der Neuen Phänomenologie zur Verfügung gestellten Begriffen konnte die aus den Erfahrungen nachhaltig waltende Autorität als Gefühlsmacht ausgezeichnet werden, der eine Norm mit der Autorität des unbedingten Ernstes inhärent ist (II.4.1.3). Damit ist der Ausgangspunkt der Demut nicht nur in die weltliche Dimension der Lebenserfahrung zurückverlagert worden, sondern es ist auch überhaupt die Bedingung für diese Haltung, die in der Geltungskraft eines Gefühls besteht, nicht länger auf ein religiöses Weltbild angewiesen. Diese Demut aus der Betroffenheit ist insoweit »ursprünglich«, als dass sie nicht nur der menschlichen Lebenserfahrung am nächsten kommt, sondern auch erst den Anstoß für die zweite Quelle in der Besinnung (II.4.2) bilden kann, aber nicht muss. Schon im Christentum war die Demut wesentlich mit einem Akt der Selbstverortung verbunden, der einflussreiche Kirchenväter wie Augustinus diese Tugend sogar mit der Selbsterkenntnis gleichsetzen ließ (II.4.2.1). Dieser Erkenntnisprozess, der für die Demut einen Grundstein bildet, hat damit eine ganz ähnliche Aufgabe wie die delphische Formel am Tempel des Apollon, wenn der Mensch seine Stellung im Vergleich zum vollkommenen Gott nie aus den Augen verlieren möge (I.3.5, I.3.6, II.4.2.1). Die Norm für die Demut ist auch auf säkulare Weise durch die prüfende Kritikfähigkeit der Besonnenheit zu ermitteln (II.4.2.2), wenn die willkürliche Selbstbetrachtung der persönlichen Situation (II.5.5.2) in ihrem Ergebnis auch weniger Geltungskraft beanspruchen dürfte, als eine den Menschen heimsuchende spürbare Erfahrung. Neben der Besonnenheit gewährleistet auch die Großgesinntheit (II.4.3), dass der Demütige in seiner persönlichen Situation einen Selbstwert verankert, der die Person auf ihre berechtigten 309 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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Vorzüge verweist, sodass sich das philosophische Unbehagen an der Demut nicht bewahrheiten muss. Die Bemühungen, die Demut als eine Tugend auszuzeichnen, mögen ihrem traditionellen Verständnis durchaus verpflichtet sein, jedoch führt diese Verortung erneut dazu, dass die Aufgabe dieser Haltung in der konkreten Lebenserfahrung keine ausreichende Berücksichtigung findet. Wenn die Demut stattdessen ihren Weg von einer Erfahrung oder einer Besinnung über eine konkrete Situation hinaus zu einer dauerhaften Stellungnahme der Person gefunden hat, ist ihr Wert als Grundhaltung in die Fassung des Menschen eingegangen (II.4.4). Das Gespür in der Fassung ist nicht nur für die Empfänglichkeit des Atmosphärischen ausschlaggebend, das für die Demut aus der Betroffenheit zentral ist, sondern auch tragend für die Ermittlung der Angemessenheit dieser Haltung in der jeweiligen Situation. Nicht zuletzt garantiert auch die Fassung, dass die Demut nicht zur Heuchelei entartet oder in die Maßlosigkeit entgleitet. Dass die Demut ein negatives Freiheitsverständnis bestärkt, nach dem »echte« Freiheit nicht in der bedingungslosen und absoluten menschlichen Machtfülle und Uneingeschränktheit bestehen sollte, vermitteln am eindrücklichsten die Arten (II.5) dieser Haltung. Diese Arten bilden einen Vorschlag, der moderne Bezugspunkte für die Demut als für sie relevante Besinnungsanstöße und Erfahrungsmomente erarbeitet hat. Implizit waren die Arten der Demut auch Teil einer kulturkritischen Perspektive auf das menschliche Bestreben, das diese Haltung gerade vermissen ließ. Mit Blick auf das obige Zitat von Bultmann stellen die Arten der Demut deshalb rückblickend auch ein Plädoyer dafür dar, dass »echte« Freiheit nur in der Anerkennung von »Bindung« einen Ausdruck finden sollte. In der Demut vor einem Ideal findet der Mensch zur Anerkennung eines Wertes, hinter dem er hinsichtlich seiner persönlichen Bedeutung und seines Vermögens »unendlich« zurückbleiben muss, wobei dieses Verhältnis trotzdem eine Grundlage dafür bilden kann, dass sich der Demütige in Opferbereitschaft seinem Ideal in der Nachfolge verschreibt (II.5.2). Das Unverfügbare (II.5.3) verweist den Menschen in Grenzsituationen auf sein Scheitern, das seine vermeintliche Allmacht vor eine Wand stoßen 310 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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lässt, wenn es zum Beispiel im Fall der Krankheit (II.5.3.1) keinen anderen Ausweg gibt, als sich im Wissen um seine Begrenztheit einander dienend dem »Übergroßen« entgegenzustellen. Die Demut kommt aber nicht nur in solchen Situationen zur Anwendung, in denen die Person durch eine Übermacht von der Vernichtung bedroht ist, sondern auch dann, wenn es angesichts der uns im bereichernden Sinne »geschenkten« Unverfügbarkeiten eines Korrektivs in der Selbstbeurteilung bedarf (II.5.3.2). Die vermeintlich uneingeschränkte Freiheit in der Weltbemächtigung (II.5.4) des Menschen hat ihn vor allem im 20. Jahrhundert in Katastrophen von ungeahntem Ausmaß verstrickt und somit auch einen Anlass für die Demut geboten (II.5.4.1). In den Konflikten der sogenannten »Klima-« oder »Wirtschaftskrisen« hat diese Haltung noch immer nichts an Bedeutung eingebüßt. Weil der Mensch zum einen über kein sinnvolles Kriterium für ein Maß des technischen Fortschritts verfügt und zum anderen seine Fähigkeit beschränkt ist, mit seinen technischen Errungenschaften und der daraus resultierenden Verantwortung umzugehen, bleibt er auch als Urheber seines Wohlstandes der erfolgreich vorangetriebenen Weltbemächtigung passiv ausgesetzt. Hier war ein weiteres Einfallstor für die Demut aufzuspüren, die in der Auseinandersetzung mit der menschlichen Machtlosigkeit – etwas gegen die selbst herbeigeführte Katastrophe ausrichten zu können – und der somit offensichtlichen Begrenztheit – mit seinem eigenen Streben fertig zu werden – den Grundstein für eine Haltung des demütigen »Seinlassens« legte, das dem ungebremsten Machtwillen konträr gegenübersteht und auch dem nicht-menschlichen Leben seine Rechte einräumt (II.5.4.2). Dass Freiheit zuletzt nicht bedeuten darf, sein Weltbild schon immer vor aller Unterredung als absolut und einzig richtig auszuzeichnen, legte die Demut im Miteinander nahe, die auf die gesellschaftspolitischen Krisen der Gegenwart reagiert (II.5.5). Die Besinnung auf die persönliche wie auch gemeinsame Situation (II.5.5.2) verweist den Hochmütigen nicht nur auf die Begrenztheit seines zu einem intoleranten Dogma verkommenen Weltbildes (II.5.5.1), sondern auch auf seine daraus resultierende Abhängigkeit in der Angewiesenheit auf die Kompetenz des anderen (II.5.5.3). Die Demut 311 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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eröffnet damit auch ein Wissen davon, dass nur in der Gemeinschaft die Unfähigkeit des einen durch die Fähigkeit des anderen kompensierbar ist, sodass die nötigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen in einen einander achtenden und demokratischen Diskurs münden können. Neben diesem negativen Freiheitsverständnis bilden diese Arten auch intern für die Philosophie ab, wie facettenreich die Demut auch für weitere Auseinandersetzungen in den verschiedensten Disziplinen relevant bleibt. Abgesehen von dem offensichtlichen Profit, den die Religionsphilosophie (I.2, I.3, II.4.1.2) oder die Tugendethik aus weiteren Analysen ziehen könnten, ist auch die Phänomenologie hinsichtlich der Quellen der Demut dazu angehalten, dem längst nicht erschöpften Erfahrungsreichtum dieser Haltung weiter auf die Spur zu kommen. Die Ethik oder auch Ästhetik finden ihre Bezüge in einer Analyse der Demut vor einem Ideal (II.5.2), das die Moral, die Kunst oder in der Moderne auch die Musik und den Sport betreffen kann. Mit der Demut vor dem Unverfügbaren sind außerdem in der Auseinandersetzung mit der Geworfenheit des Menschen (II.5.3.2) und den Grenzsituationen (II.5.3, II.5.3.1) existenzphilosophische Schwerpunkte zur Sprache gekommen, wogegen die Demut im Rahmen der Weltbemächtigung (II.5.4) und des Miteinanders (II.5.5) relevante Fragen an die Angewandte Ethik, die politische Philosophie oder die Philosophie der Lebenskunst stellt. In welcher Hinsicht man auch immer die Demut ausgestalten wird – sei es als traditionell religiöse Haltung, sei es als eine der hier vorgeschlagenen Arten –, sie wird wohl trotz allem in der Moderne eine Randerscheinung bleiben. Denn dass die Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit der Person als charakteristische Momente der Demut im modernen Menschen ein Unbehagen hervorrufen mögen, muss nicht nur mit der dargelegten philosophischen Kritik (I.2) im Zusammenhang stehen, sondern geht auch aus dem modernen kulturellen Selbstverständnis hervor. Eine in Teilen kulturkritische Würdigung erfuhr in dieser Hinsicht schon die menschliche Selbstverortung im Angesicht des Unverfügbaren, im Streben der Weltbemächtigung und im gesellschaftspolitischen Umgang. Die Auswirkungen der modernen 312 https://doi.org/10.5771/9783495825570 .

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kulturellen Lebensweise reichen jedoch noch viel tiefer, wenn das moderne Subjekt auch in der individuellen Lebensführung eine Haltung einnimmt, die sich grundsätzlich jeder Abhängigkeit und Begrenztheit bestenfalls widersetzen will. Dieses Selbstverständnis sei hier als ausblickendes Kontrastprogramm zur Demut nur angerissen, um damit weitere Überlegungen anzuregen. Auf Grundlage seiner philosophiegeschichtlichen Analysen des deutschen Idealismus, der Frühromantik und der Folgen dieser ideengeschichtlichen Entwicklung deutet Schmitz die Moderne im Licht der »ironistischen Verfehlung des abendländischen Geistes«, die aus einer von den Philosophen mitgetragenen »Krise des Selbstbewusstseins« resultiert. 2 Die dafür einflussreiche romantische Ironie äußert sich in ihrer lebensweltlichen Ausgestaltung im »Spielen« des Menschen mit seinen Standpunkten, auf die er sich nicht länger verbindlich festlegen will, weil er vielmehr »über« allen Tatsachen »schwebt« und sich deshalb seine Perspektiven aneignen und fallenlassen kann, wie es ihm beliebt. 3 Eine Folge dieses Verhaltens ist die totale Unverbindlichkeit im Relativismus und Nihilismus, was Stirner im »Ich hab’ mein’ Sach’ auf nichts gestellt« schonungslos ausspricht oder im »Anything goes« des Paul Feyerabend widerklingt. 4 Der Mensch lässt sich in der Gestaltung seines Lebens von nichts mehr ernsthaft spürbar so angehen, dass er sich zu etwas dauerhaft verpflichtet oder gewissenhaft aufgerufen fühlt, weshalb ihm jene vollkommen bindungslose Freiheit am liebsten sein muss, gegen die sich Bultmann 5 mit kritischen Bedenken wendet. Das »Spielen« mit den 2 Vgl. Schmitz: Wozu philosophieren? A. a. O. S. 77. Für eine kurze Darstellung der »ironistischen Verfehlung« vgl. Ders.: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O. S. 64–70. Die ausführlichen philosophiegeschichtlichen Untersuchungen dazu unternahm Schmitz in: Ders.: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel. Bonn 1992; Ders.: Selbstdarstellung als Philosophie. A. a. O. 3 Vgl. Schmitz: Wozu philosophieren? A. a. O. S. 78 f. 4 Vgl. Schmitz: Wozu philosophieren? A. a. O. S. 79 f.; Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 3, 412. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. 14. Auflage. Frankfurt am Main 2016. S. 32. Für Schmitz’ ältere, von dieser Deutung abweichende Auseinandersetzung mit dem Nihilismus vgl. Ders.: Nihilismus als Schicksal? Bonn 1972. S. 6–21. 5 Auch Bultmann zieht in seiner Auseinandersetzung mit der Demut eine kriti-

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Standpunkten sieht Schmitz gegenwärtig zum Beispiel durch die Technik und den mit ihr einhergehenden Möglichkeiten in der Kommunikation verwirklicht, 6 wenn der Mensch ein »Ironiker des Gebrauchs von Maschinen« ist, »die ihm für beliebiges Wählen eine unübersehbare Fülle von Angeboten vorlegen […]« 7. Was Schmitz vordergründig aus seiner ideengeschichtlichen Perspektive herleitet und mit recht abstrakten Beispielen untermauert, schildert Richard Sennett unabhängig davon als Soziologe ganz konkret aus der sozialen Praxis in der Arbeitswelt. Dort ist die »Psyche« des Menschen in »einem Zustand endlosen Werdens« als »ein Selbst, das sich nie vollendet«, weil die entsprechenden Arbeitsbedingungen verbindlichere Handlungsweisen in der Lebensführung nicht länger zulassen. 8 Verloren geht damit eine »zusammenhängende Lebensgeschichte«, an deren Stelle ein »nachgiebiges Ich« und eine sich ständig wandelnde »Collage aus Fragmenten« treten, die sich mit kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrungen und nicht weniger flexiblen Institutionen konfrontiert sehen. 9 In der Konsequenz ist schon das »Versäumen eines Wechsels« ein Misserfolg und jede Form von Stabilität erscheint grundsätzlich als »Lähmung«: »Da will niemand zurückbleiben. Wer sich nicht bewegt, ist draußen.« 10 Diese gesellschaftlichen Entwicklungen treiben den Menschen dazu, sich in romantisch-ironischer Manier »Masken der Kooperation« oder ein »ironisches Selbstbild« anzulegen 11, das den Flexibilitätsdruck der Arbeit im stetigen Wechseln der Ansprüche und der damit einhergehenden Erwartungen erträglich macht. An die Stelle der Demut im Miteinander (II.5.5) tritt hier der »Ichbezug« zum Generieren des eigenen Erfolgs, sodass die Angewiesenheit auf den sche Bilanz gegenüber dem aus der Romantik entwachsenen historischen Relativismus und Nihilismus. Vgl. Bultmann: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. A. a. O. S. 281 f. 6 Vgl. Schmitz: Wozu philosophieren? A. a. O. S. 79. 7 Schmitz, Hermann: Jenseits des Naturalismus. Freiburg/München 2010. S. 126. 8 Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. 2. Auflage. Berlin 2006. S. 182. 9 Vgl. ebd. 10 Sennett: Der flexible Mensch. A. a. O. S. 115. 11 Vgl. Sennett: Der flexible Mensch. A. a. O. S. 150 f., 155.

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anderen eine Nebensächlichkeit oder sogar ein Hindernis darstellt. Wer nicht zurückbleiben will, muss deshalb auch ein Interesse daran haben, dass er als tätiges Individuum genügend Aufmerksamkeit findet, um nicht »unterzugehen«. Über die Arbeitswelt hinaus ist man mit dieser Lebensausrichtung auch Teil der von Byung-Chul Han diagnostizierten »Performancegesellschaft«, die sich im »Gottesdienst des Selbst« vor allem der individuellen Authentizität verschrieben hat. 12 Mit der dafür erforderlichen Lebenshaltung sind die grundlegenden Identitätsfragen von der Gemeinschaft in den Selbstbezug und von der Gesellschaft in die individuelle Persönlichkeit verlagert worden, was eine »Atomisierung« oder Vereinzelung des Zusammenlebens zur Folge hat. 13 Bereits lange vor Han hat zum Beispiel Charles Taylor auf diese Entwicklung in der Moderne aufmerksam gemacht. Mit dem Ideal der »Authentizität« hat in der Neuzeit eine »subjektive Wende« eingesetzt, die eine Atomisierung des Zusammenlebens befördert hat, der keine Gemeinschaftsbande mehr zulässt, weil stattdessen gilt: »Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, die ganz eigentlich mir selbst gehört.« 14

Weil Freiheit damit wesentlich durch Selbstbestimmung ausgezeichnet ist, die so wenig äußere Einflüsse wie möglich für sich 12

Vgl. Han, Byung-Chul: Vom Verschwinden der Rituale. Topologie der Gegenwart. Berlin 2019. S. 25. 13 Vgl. Han: Vom Verschwinden der Rituale. A. a. O. S. 15, 26. 14 Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. A. a. O. S. 34 f., 39. Ähnlich wie oben für Schmitz und unten noch folgend für Reckwitz ist auch laut Taylor diese Entwicklung ein »Kind der Romantik«, aber auch maßgeblich von Denkern wie Jean-Jacques Rousseau begründet worden. Vgl. Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. A. a. O. S. 34–39. Diese »Wende zum Expressivismus« hat Taylor aus seiner ideengeschichtlichen Perspektive in seinem opus magnum »Quellen des Selbst« untersucht. Vgl. Ders.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Individualität. Übers. v. Joachim Schulte. 10. Auflage. Frankfurt am Main 2018. S. 639–679.

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gelten lassen will, 15 verlagert der dem entwachsene »Authentizitätszwang« jegliches Interesse ins Subjektive, sodass gemeinsam geteilte Bezugspunkte, welche die Ausrichtung des Lebens über das Interesse der einzelnen Person hinaus bestimmen könnten, eine Seltenheit sind, wie Han am Beispiel des Verlustes von Ritualen exemplifiziert. 16 Als Teilnehmer eines Rituals muss der Mensch dazu fähig sein, von seinen eigenen Interessen abzusehen, um sich auf ein Geschehen einzulassen, das die Relevanz seiner Person und deren Belieben zumindest für den Augenblick übersteigt; die Demut vor einem Ideal (II.5.2) würde hier mit der Demut vor einem Ritual zusammenfallen. Wenn aber stattdessen das Individuum in möglichst allen Lebensbereichen seinen individuellen Lebensentwurf als die moralisch erstrebenswerteste Ausrichtung seines Strebens versteht, dann werden, wie Han feststellt, »objektive Formen« wie die eines Rituals zugunsten »subjektiver Zustände« verworfen. 17 Am ausführlichsten stellt der Soziologe Andreas Reckwitz alle hier zusammenlaufenden Entwicklungen anhand der von ihm untersuchten »Gesellschaft der Singularitäten« heraus. Reckwitz’ These besagt grundlegend, dass die Gesellschaft nicht nur in Wirtschaft und Politik auf einer Makroebene ein Interesse daran hat, sich selbst als möglichst besonders zu verkaufen, sondern das »spätmoderne Subjekt« auch auf der individuellen Mikroebene bestrebt ist, seinen persönlichen Lebensstil einzigartig zu gestalten und entsprechend darzustellen. 18 Im Rahmen dieser »sozialen Lo15

Vgl. Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. A. a. O. S. 37. Vgl. Han: Vom Verschwinden der Rituale. A. a. O. S. 32. 17 Vgl. Han: Vom Verschwinden der Rituale. A. a. O. S. 15. Han vollzieht diese Entwicklung auch am Umgang mit Orten nach, die zu bloßen Sehenswürdigkeiten herabgewürdigt werden: »Auch Orte werden zu Sehenswürdigkeiten profaniert. Gesehen zu haben ist die Konsumformel von relegere. […] An Sehenswürdigkeiten geht man vorbei. Sie lassen kein Verweilen, keinen Aufenthalt zu.« Ders.: Vom Verschwinden der Rituale. A. a. O. S. 57. Man betritt damit nicht länger einen Ort um seiner selbst willen, sondern um zu zeigen, dass man als Besucher selbst anwesend war. Der Bezug zum Gesehenen verlagert sich von der »Heiligkeit« des Ortes zum individuellen Interesse der Person und ihrer Selbstdarstellung. 18 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 6. Auflage. Berlin 2018. S. 292. 16

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gik des Besonderen« 19 ist jedes Individuum versucht, das »Besondere«, »Außergewöhnliche«, »Einzelne«, »Einzigartige«, »Originelle« oder »Individuelle« 20 als »sozialkulturell fabrizierte Einzigartigkeit« 21 für sich auch in alltäglichen Praktiken 22 geltend zu machen. Mit Bezug auf das Arbeiten, Essen, Reisen oder Wohnen will sich das Subjekt eine »kompositorische Singularität« nach eigenem Belieben erstellen, wenn es sich im Rahmen einer »kuratorischen Leistung« kulturelle Praktiken oder Objekte zusammenstellt, aneignet und schließlich als »Singularitätsperformance« vor einem sozialen Publikum im Rahmen eines »Kampfes um Sichtbarkeit« »performed«. 23 In dieser, wie Reckwitz sie auch nennt, »Kultur des Authentischen« 24 ist damit in der Lebensführung nicht dasjenige ausschlaggebend, wovon ich als einzelnes Individuum abhängig bin oder wohinter ich hinsichtlich meiner persönlichen Beschaffenheit zurückbleiben muss, sondern von Bedeutung ist das meinerseits aktive »Zuschreiben von Wert« als Akt der »Valorisierung«, durch den eine »singuläre Entität« ihren Status, »wertvoll«, »besonders« oder »unvergleichbar« zu sein, erst durch mich erhält. 25 Auf kultureller Ebene erfährt neben dem von Schmitz kritisch beäugten Bestreben der Frühromantiker 26 19

Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 47. Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 48. 21 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 51. 22 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 289, 292. 23 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 9, 72, 294 f. 24 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 10, 99, 247, 293. 25 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 16, 66 f., 355. Die Beobachtung dieses Bestrebens hat Taylor bereits vorweggenommen, wenn es bei ihm heißt: »Aus der Vorstellung, wonach jeder von uns seine eigene originelle Weise des Menschseins besitzt, ergibt sich, daß jeder ausfindig machen muß, was es heißt, er selbst zu sein. […] Welche Daseinsmöglichkeiten in uns angelegt sind, ermitteln wir, indem wir diese Lebensweise annehmen und in unserem Sprechen und Handeln dem, was an Originellem in uns steckt, Ausdruck verleihen.« »Von sich aus hätten die Dinge keine Bedeutung, sondern diese komme ihnen zu, weil sie ihnen von den Menschen zugesprochen werde – als wären die Menschen imstande zu bestimmen, was bedeutungsvoll ist, sei es durch Entscheidung oder womöglich unbewußt und unbeabsichtigt durch schlichte Gefühlsvorlieben.« Vgl. Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. A. a. O. S. 46, 72. 26 Dementsprechend weiß auch Reckwitz: »Es waren die Romantiker, die Singu20

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auch Nietzsches erkenntnistheoretisches Weltbild 27 in den Praktiken der »Singularisierung« oder »Entsingularisierung« eine Wiederkehr, nach dem der Mensch als Ausstatter der Welt sich nach seinem Belieben Werte schaffen oder wieder »entwerten« kann. Ganz offen problematisiert Reckwitz auch die Folgen dieser Entwicklung: »Auch die Krise der Selbstverwirklichung lässt sich als eine Folge des ›Verlusts des Allgemeinen‹ interpretieren; verlorengegangen scheint hier die Allgemeinheit der Kultur. […] In der spätmodernen Kultur der Selbstverwirklichung verwandelt sich das System der Kultur […] in ein Ensemble kultureller Ressourcen, das von den Individuen zum Zwecke ihrer eigenen Besonderung flexibel herangezogen wird. Die beruhigende (aber auch einschränkende) Verbindlichkeit der allgemeingültigen Singularitäten der Kultur wird durch die mobile und daher unberechenbare Kuratierung der Hyperkultur durch das Individuum ersetzt.« 28

Auch der Auseinandersetzung mit den unverfügbaren Grenzen des Menschseins (II.5.3), an denen sich das »Projekt einer subjektiven Selbstentgrenzung und -optimierung« stoßen muss, widmet sich das spätmoderne Subjekt deshalb auf ganz eigene Weise, laritäten auf allen Ebenen zuerst ›entdeckt‹ haben und zugleich fördern wollten […].« Ders.: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 19. Vgl. für diesen Zusammenhang a. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 96– 100, 104–106, 285–290; Ders.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Göttingen 2006. S. 204– 242. 27 Bei Nietzsche heißt es z. B. dementsprechend: »Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben« KSA 11, S. 139. »[E]in Sinn muß immer erst hineingelegt werden damit es einen Thatbestand geben könne. Das ›was ist das?‹ ist eine Sinn-Setzung von etwas anderem aus gesehen. […] Zu Grunde liegt immer ›was ist das für mich?‹« KSA 12, 140. »Unsere Begriffe sind von unserer Bedürftigkeit inspirirt […] Unsere Werthe sind in die Dinge hineininterpretirt« KSA 12, S. 97. »Daß der Werth der Welt in unserer Interpretation liegt […] daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind […] dies geht durch meine Schriften« KSA 12, S. 114. Die Welt ist damit stets »anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ›Perspektivismus‹«. KSA 12, S. 315. Vgl. dafür a. KSA 11, S. 167, 498. 28 Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 436.

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denn »[k]ulturelle Muster wie Gelassenheit oder gar Demut erscheinen in der Spätmoderne überholt […]«. 29 Im Druck der Singularisierung ist sogar das »biografische Scheitern« am Unvermeidlichen in die Selbstverantwortung des einzelnen Individuums verlagert, 30 das sich demnach als schuldig für die eigene Situation verantworten muss. Wenn diese schlussendlich recht einheitlichen Diagnosen für das (spät-)moderne Leben ihre Berechtigung haben – und das möchte ich hier unterstellen –, dann hat es den Anschein, als hätte sich in der kulturellen Lebensführung des 21. Jahrhunderts Stirners Maxime des »Einzigen« ein Stück weit bewahrheitet, wenn er sagt: »Mir geht nichts über Mich!« 31 Wenn die individuelle und eigenmächtige Selbstgestaltung der Person gemessen an ihrer Beliebigkeit die Lebensführung grundsätzlich auszeichnet, dann kann in diesem Prozess der »Selbstverwirklichung« die menschliche Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Begrenztheit nur als ein zu überwindendes Hindernis gelten. Stirner hat diese Konsequenzen für die Demut auf radikale Weise ausgesprochen: »Ich demütige Mich vor keiner Macht mehr und erkenne, daß alle Mächte nur meine Macht sind, die Ich sogleich zu unterwerfen habe, wenn sie eine Macht gegen oder über Mich zu werden drohen […].« 32 Wenn sich, wie Heidegger bereits treffend konstatiert hat, der Mensch damit selbst als die »Maßgabe für alle Maßstäbe« begründet, dann liegt es wiederum an ihm, sich das Verbindliche nach seinen Interessen zu »setzen«. 33 In der Konsequenz 34 stellen 29

Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. A. a. O. S. 348. Vgl. ebd. 31 Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 5. 32 Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. A. a. O. S. 357. Auf noch abschreckendere Weise heißt es auch bei Stirner: »Ich Meinerseits gebrauche ihn als Beispiel dafür, daß meine Befriedigung über mein Verhältnis zu den Menschen entscheidet, und daß Ich auch der Macht über Leben und Tod aus keiner Anwandlung von Demut entsage.« Ebd. 33 Vgl. Heidegger, Martin: Die Zeit des Weltbildes. In: Ders: Holzwege. Gesamtausgabe Bd. 5. Hrsg. v. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. 9. Auflage. Frankfurt a. M. 2015. S. 75–113, hier 107, 110. 34 Man könnte meinen, dass es sich hierbei um eine vornehmlich konservative Kulturkritik handelt, aber der Befund, dass spätestens mit der Aufklärung ein 30

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nicht nur die religiösen, sondern auch die nicht-religiösen Bezüge der Demut nur vermeintliche »Mächte« dar, die sich vielmehr umgekehrt dem Interesse des einzelnen Individuums zu beugen haben. Die Besinnung auf das Unverfügbare (II.5.3) ist dann ein notwendiges Übel, das man besser verschweigt, und vor einem Ideal (II.5.2) demütig zu sein ist nur insoweit nützlich, als dass es der Selbstgestaltung 35 dienlich ist. Auf ähnliche Weise ist dementsprechend auch das Miteinander kein Ort des demütigen Angewiesenseins (II.5.5), sondern eine Ressource zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Schlussendlich ist somit die Selbst- und Weltbemächtigung (II.5.4) keine korrekturbedürftige Entwicklung mehr, sondern nur die konsequente Schlussfolgerung aus dieser vermeintlich uneingeschränkten Lebensführung. Die Demut hat in religiöser wie auch nicht-religiöser Hinsicht einen schweren Stand in der Moderne. Die Zukunft der Demut wird sich daran zu bewähren haben, inwiefern der Mensch entgegen der modernen Lebensführung wieder eine Bereitschaft dafür entwickeln kann, sich von einem »Übergroßen« (Rilke) ergreifen und seine Situation einer demütigen Besinnung unterziehen zu lassen.

Prozess der »Abschaffung alles von sich aus Verbindlichen« in Gang gebracht wurde, ist auch formuliert worden von: Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. A. a. O. S. 100. 35 Dasselbe Schicksal widerfährt der Demut, wenn man sie sich als ein Modewort aneignet (s. »Der Trend zur Demut«).

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 250, 320 Anders, Günther 231, 258–259 Antonius 157 Aquin, Thomas von 98–103, 108, 112, 116–119, 155, 162, 167–168, 173, 182–185, 197, 251, 267, 290 Arendt, Hannah 70, 248 Aristoteles 101–102, 167–168, 182, 184, 189, 294 Augustinus 45, 64, 84, 102, 158, 178 Bacon, Francis 247, 249–250, 279 Barth, Karl 112, 254, 256 Barthes, Roland 207 Bingen, Hildegard von 84 Bollnow, Otto Friedrich 153–154, 188, 212, 296 Bonhoeffer, Dietrich 65, 112 Buber, Martin 242, 283–284 Buddha 225 Bultmann, Rudolf 251–253, 255– 256, 307, 313 Calvin, Johannes 155 Camus, Albert 216 Cassian 83–90, 93–94, 97, 99, 114– 116, 225 Cathrein, Viktor 110 Cioran, Emil M. 223, 257 Clairvaux, Bernhard von 95–99, 103–104, 108, 112, 117–119, 155,

158–160, 171, 173, 177, 184–185, 190, 207, 227, 299–302 Clemens I. 80–83, 108, 114 Descartes, René 187–188, 264, 294 Čechov, Anton 216–217 Epiktet 30, 66, 86, 91, 233 Epikur 265 Eulenspiegel, Till 52 Feuerbach, Ludwig 48–50, 59 Feyerabend, Paul 313 Fichte, Johann Gottlieb 189, 248 Frisch, Max 224 Gadamer, Hans-Georg 63, 282, 296 Gehlen, Arnold 278–279, 282 Geulincx, Arnold 103–104, 173 Goethe, Johann Wolfgang von 169– 171, 175, 189–190, 199, 205–206, 210, 264 Gogh, Vincent van 134, 136, 147– 148, 211, 213, 217, 220–221 Gogol, Nikolai 239 Gracian, Balthasar 167–168 Gregor der Große 160 Han, Byung-Chul 315–316 Hartmann, Nicolai 188, 190, 206, 209, 212–213, 216 Hauptmann, Gerhart 51, 264 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 271

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Personenregister

Heidegger, Martin 243, 272, 319 Heine, Heinrich 41–42, 44–46, 61, 89 Hildebrand, Dietrich von 85 Hillesum, Etty 210, 233 Hiob 203 Hirt des Hermas 82–83, 85, 108, 114 Homer 244 Horkheimer, Max 25, 250, 320 Hume, David 38–41 James, William 131, 150, 203 Jaspers, Karl 222, 225, 277, 280–281, 295 Jesus 54, 58, 64–73, 79, 81, 88, 90– 91, 93, 95, 106, 111, 113–115, 154, 156, 203, 219, 285 Joas, Hans 193 Kafka, Franz 238–239 Kant, Immanuel 207–209, 212, 246 Kempen, Thomas von 104–108, 115, 173, 178 Kierkegaard, Sören 50–51, 59, 68 Klages, Ludwig 249–250 Koeppen, Wolfgang 255 Konfuzius 302 Kundera, Milan 240 Lenin, Wladimir Iljitsch 36–37, 55 Lichtenberg, Georg Christoph 248, 250 Lipps, Hans 297 Luther, Martin 31, 51, 70, 108, 161, 207 Marquard, Odo 228, 240–241 Marx, Karl 35–37, 42, 55 Meister Eckhart 156, 272–273 Mill, John Stuart 37, 42 Montaigne, Michel 263–265 Morgenstern, Christian 274

Nietzsche, Friedrich 33, 53–62, 68, 89, 109, 154, 164, 214–217, 219, 221, 275–276, 318 Nursia, Benedikt von 90–91, 94, 115–116, 195, 220 Origenes 157–158 Otto, Rudolf 138–140, 142–143, 150, 201 Pachom 87 Pascal, Blaise 257 Paulus 58, 72–79, 81, 83, 85, 87–88, 93, 97, 99, 102, 112, 114, 116, 119, 149, 154, 157, 203 Pieper, Josef 162, 184 Platon 165–166, 168, 172, 288 Reckwitz, Andreas 316–318 Rilke, Rainer Maria 132–133, 135, 141, 143, 147, 149–150, 200 Rosa, Hartmut 230, 235 Sappho 238 Savonarola 100 Schadewaldt, Wolfgang 153–154, 160 Scheler, Max 109–110, 206, 246 Schleiermacher, Friedrich 136–139 Schmitz, Hermann 25, 44–47, 61, 89, 142–143, 145, 148, 150–151, 171–176, 183, 192, 196, 247, 250, 291–292, 313, 317 Schopenhauer, Arthur 51 Sennett, Richard 314 Shakespeare, William 220 Silesius, Angelus 84, 204 Sinner, Franz 111–112 Sloterdijk, Peter 156, 207, 277 Sokrates 288–290, 294, 296, 303– 304 Sophokles 222–223 Spinoza, Baruch de 37–38, 118, 188, 294

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Personenregister

Stadler, Ernst 149 Stirner, Max 33–35, 42–44, 46, 61, 89, 301, 313, 319 Tauler, Johannes 273 Taylor, Charles 25, 315, 317 Thukydides 176

Tolstoi, Leo 244 Tucholsky, Kurt 49 Wittgenstein, Ludwig 152, 178–182, 195 Zutt, Jörg 196

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