185 56 19MB
German Pages 325 [328] Year 1994
Thorsten Roelcke Dramatische Kommunikation
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger
107 (231)
W G DE
Walter de Gruyter • Berlin • New York
1994
Dramatische Kommunikation Modell und Reflexion bei Dürrenmatt, Handke, Weiss
von
Thorsten Roelcke
W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1994
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Etnheitsaufnahme
Roelcke, Thorsten: Dramatische Kommunikation : Modell und Reflexion bei Dürrenmatt, Handke, Weiss / von Thorsten Roelcke. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F., 107 = 231) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014246-5 NE: GT
ISSN 0481-3596 © Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
fur Nicole
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 1993 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen. Sie liegt hier in einer leicht geänderten Fassung vor. Mein aufrichtiger Dank gilt Oskar Reichmann, der meine Arbeit stets mit großem Interesse und wissenschaftlicher Anteilnahme begleitet hat. Des weiteren danke ich Dieter Borchmeyer und Herbert Ernst Wiegand für hilfreiche Anregungen. Ebenfalls verpflichtet bin ich Karena Lindner und Klaus Richter, welche mir bei technischen Problemen behilflich waren.
Heidelberg, im Februar 1994
Thorsten Roelcke
Inhalt
Einleitung
1
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
5
1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 3.3
Kommunikation Kommunikation als semiotische Interaktion Grundelemente der Kommunikation Funktionen der Kommunikation Literarische Kommunikation Textualität Ästhetizität Dramatische Kommunikation Inszenierungstext und Textinszenierung Künstler und Publikum Sprache
7 7 10 17 24 24 27 35 35 40 46
Reflexion dramatischer Kommunikation bei Friedrich Dürrenmatt
51
1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
53 53 59 62 67 67 67 69 72 75 78 80
Text und Inszenierung Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung Der Dramentext als Partitur Die Aussage eines Dramas Künstler und Publikum Autor Auslösende Momente für das dramatische Schaffen Berücksichtigung der allgemeinen Auffuhrungsbedingungen Berücksichtigung der Schauspieler Berücksichtigung des Publikums Bearbeitungen des Dramentextes Dürrenmatts Spätphase
X 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 3. 3.1 3.2 3.3 3.4
Inhalt Theater Die Wiedergabe des Dramentextes auf der Bühne Die Textwiedergabe durch den Schauspieler Aufgabe und Funktion der Regie Publikum Die Rezeptionsbedingungen des Publikums Der Rezeptionsverlauf. Sprache Dramenspezifischer Sprachgebrauch Die Charakterisierung von Figuren Monologe und Dialoge Rhetorik und Versmaß
83 83 85 88 90 90 92 94 94 97 100 102
Reflexion dramatischer Kommunikation bei Peter Handke
105
1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 3. 3.1 3.2
107 107 113 120 126 126 129 129 131 136 136 138 143 143 147
Text und Inszenierung Die metakommunikative Dramengestaltung Die Aussage und Funktion des Dramas Historische Bezüge und Abgrenzungsversuche Handkes Künstler und Publikum Autor Theater Die Textwiedergabe durch den Schauspieler Die Sprechweise des Schauspielers Publikum Die Rezeptionsbedingungen des Publikums Der Rezeptionsverlauf. Sprache Monologe und Dialoge Literarischer und nichtliterarischer Sprachgebrauch
Reflexion dramatischer Kommunikation bei Peter Weiss
153
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1
155 155 159 168 174 179 179
Text und Inszenierung Die Auswahl des dokumentarischen Materials Die Bearbeitung des dokumentarischen Materials Die Aussage und Funktion des Dokumentarstücks Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung Künstler und Publikum Autor
Inhalt 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 3. 3.1 3.2
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen Bearbeitungen des Dramentextes Theater Die Voraussetzungen der Textwiedergabe Die Wiedergabe des Textes auf der Bühne Die Inszenierungskritik von Peter Weiss Die Textwiedergabe durch den Schauspieler Publikum Die Rezeptionsbedingungen des Publikums Der Rezeptionsverlauf. Sprache Die Charakterisierung von Figuren Die Gestaltung der Dialoge und Monologe
XI 179 180 183 185 185 187 188 191 193 193 194 197 197 199
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
201
1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 3. 3.1 3.2 3.3 4.
203 203 210 214 217 217 217 219 222 223 223 226 229 229 231 233 233 235 236 239
Text und Inszenierung Gesamtgestaltung des Dramas Aussage und Funktion des Dramas Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung Künstler und Publikum Autor Auslösende Momente für das dramatische Schaffen Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen Bearbeitungen des Dramentextes Theater Die Textreproduktion im allgemeinen Die Textreproduktion durch den Schauspieler Publikum Die Rezeptionsbedingungen des Publikums Rezeptionsverlauf und Reaktion des Publikums Sprache Dramenspezifischer Sprachgebrauch Die Charakterisierung von Figuren Monologe und Dialoge Autorenmodelle dramatischer Kommunikation
Schluß
255
Inhalt
X I I
Literaturverzeichnis
259
1.
Quellen
259
2.
Sekundärliteratur
266
Abbildungsverzeichnis
311
Tabellenverzeichnis
313
Einleitung Der Untersuchungsbereich Sprache und Literatur stellt eines der anregendsten und gleichzeitig eines der am heftigsten diskutierten Forschungsgebiete der neueren Sprach- und Literaturwissenschaft, aber auch der Semiotik oder Kommunikationswissenschaft dar. Hiervon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die seit Beginn dieses Jahrhunderts und insbesondere seit den sechziger Jahren unter solchen Titeln wie "Poetik und Linguistik" oder ähnlichen Überschriften erschienen sind und sich damit programmatisch einer Bestimmung und Beschreibung von literarischem Sprachgebrauch mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden verschreiben. 1 Ein Ende dieser Bemühungen ist nicht abzusehen, und so werden Sprache und Literatur wohl so lange, wie es literarische Sprache überhaupt gibt, Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion sein. Sprache und Literatur sind jedoch seit jeher nicht allein Gegenstand der Reflexion von Seiten der Wissenschaft (sei es nun der Sprach- oder Literaturwissenschaft, der Rhetorik oder der philosophischen Ästhetik), sondern auch von Seiten der Literatur bzw. der Schriftsteller selbst. Es kann dabei aus historischer Perspektive durchaus festgestellt werden, daß in der neuzeitlichen Diskussion seit dem Barock bis in das neunzehnte Jahrhundert eine mehr oder weniger enge Verflechtung zwischen einer eher literarischen und einer eher wissenschaftlichen Reflexion von Literatursprache herrscht (nicht zuletzt auch aufgrund der häufigen Personalunion von Dichter und Denker sowie des normativen Anspruches vieler wissenschaftlicher Arbeiten dieser Zeit). Im zwanzigsten Jahrhundert ist dagegen unter allen Vorbehalten, die mit solch stark verallgemeinernden Feststellungen verbunden werden müssen, ein zunehmendes Auseinanderklaffen von eher literarischer und eher wissenschaftlicher Literatursprachreflexion zu beobachten, das sich in einer tendenziellen Verselbständigung insbesondere der sprach- und kommunikationswissenschaftlich (weniger der genuin literaturwissenschaftlich 2 ) orientierten Forschung gegenüber der Das
bekannteste
Beispiel
hierfür ist sicher Roman
Jakobsons
Aufsatz mit
dem
Originaltitel "Linguistics and Poetics" aus dem Jahre 1960. Zahlreiche weitere Beispiele finden sich im Literaturverzeichnis. Vgl. etwa K. Schuhmann (1979); U. Trojahn (1980); W. Weiss (1954).
2
Einleitung
Sprachreflexion seitens der Literatur zeigt.3 Dies mag durch den erheblichen Zuwachs an Theorien und Methoden in diesen Wissenschaftsbereichen bedingt sein, die oftmals zunächst unabhängig von der Betrachtung literarischen Sprachgebrauchs entwickelt und erst im Anschluß daran auf diesen Sprachgebrauch selbst mehr oder weniger erfolgreich appliziert wurden. Im Zuge dieser Entwicklung geriet jedoch nicht allein die literarische Reflexion literarischen Sprachgebrauchs selbst immer stärker in den Hintergrund sprachwissenschaftlich oder kommunikationstheoretisch orientierter Arbeiten, sondern es erwies sich auch der umgekehrte Versuch, deren Ergebnisse in die Gestaltung literarischer Werke einzubringen, als zunehmend problematisch. Darüber hinaus ist aber auch eine zumehmende Verselbständigung der Sprach- und Kommunikationsreflexion seitens der Literatur gegenüber derjenigen seitens der Forschung festzustellen. Diese Verselbständigung betrifft sowohl die inhaltlichen Schwerpunkte als auch die Art und Weise dieser Reflexion selbst, welche sich von den Grundsätzen wissenschaftlicher Argumentation zunehmend entfernt und einer eher allgemein- bzw. bildungssprachlichen Darstellungsweise angenähert hat. Ein Leitmotiv der vorliegenden Erörterungen ist es daher, einen Beitrag dazu zu leisten, die entstandene Kluft zwischen sprachwissenschaftlicher und kommunikationstheoretischer Betrachtung von literarischem Sprachgebrauch auf der einen Seite und der literarischen Literatursprachreflexion auf der anderen Seite zu überbrücken sowie theoretische und methodische Grundlagen hierfür bereitzustellen. Zu diesem Zweck soll hier von dem sprach- bzw. kommunikationsreflexiven Denken einiger Schriftsteller selbst ausgegangen und dieses vor dem Hintergrund sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Grundlagen aufgearbeitet und interpretiert werden. Hierzu erscheint wiederum eine Betrachtung der Reflexion moderner Dramenautoren als besonders gut geeignet, da sich der Bereich von Drama und Theater im Vergleich zu anderen Literaturgattungen sowohl unter sprachwissenschaftlichen und semiotischen als auch unter kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten als besonders komplex und aufschlußreich erweist. Die Wahl der Autoren Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke und Peter Weiss erfüllt mindestens drei Kriterien, die im Rahmen eines derartigen Vorhabens entscheidend sind.4 Bei dem ersten handelt es sich um ein Dies bestätigt etwa eine Durchsicht der Arbeiten von G. Heibig ( 6 1983) und (1986); W. Nöth (1985), S.467-507; H. Wiegmann (1977). Vgl. zum folgenden neben den bekannten deutschen Literatur- und Dramengeschichten auch die folgenden Gesamtdarstellungen zu Dürrenmatt, Handke und Weiss.
Ginleitung
3
dramengeschichtliches Kriterium: Die drei Autoren dürfen (durchaus in Übereinstimmung mit neueren Darstellungen zur deutschen Literatur- und Dramengeschichte) mit als bedeutendste Vertreter des deutschsprachigen Dramas der Nachkriegszeit gelten. Das zweite Auswahlkriterium gilt der dramaturgischen Differenz zwischen den Autoren: Die Komödien Dürrenmatts, die Sprechstücke und die späteren Szenarien Handkes sowie die dokumentarischen Dramen von Weiss unterscheiden sich hinsichtlich ihrer formalen Gestaltung und kommunikativen Funktion erheblich voneinander, da ihnen jeweils sehr verschiedenartige dramaturgische Konzeptionen zugrunde liegen. Als drittes Kriterium ist schließlich die Sprach- bzw. Kommunikationsreflexion der Dramenautoren selbst entscheidend: Jeder der drei Autoren hat sich (auch im Verhältnis zu anderen Autoren der Nachkriegszeit) sowohl aus quantitativer als auch aus qualitativer Sicht in besonders ausgeprägter Weise zu dramatischer Sprache und Kommunikation geäußert, so daß diese Äußerungen jeweils ein hinreichend differenziertes Bild von dem Sprach- und Kommunikationsdenken des betreffenden Autors ergeben. Die Aufarbeitung und Interpretation dieser Reflexion dramatischer Kommunikation und Sprache bei Dürrenmatt, Handke und Weiss erfolgt hier in drei Schritten: Der erste Schritt besteht in der Einfuhrung der hierzu erforderlichen kommunikationstheoretischen und sprachwissenschaftlichen Grundlagen sowie in der Entwicklung eines Gattungsmodells dramatischer Kommunikation im allgemeinen. Diese Einfuhrung theoretischer Grundlagen und deren Zusammenfassung in einem Modell hat hier zunächst allein die Funktion, die einzelnen Überlegungen der Autoren zur dramatischen Kommunikation und Sprache hinsichtlich ihrer Stellung im Gesamtkomplex dramatischer Kommunikation einordnen zu können. Es muß daher an dieser Stelle explizit daraufhingewiesen werden, daß diese Grundlagendiskussion nicht den (ohnehin fraglichen) Anspruch erhebt, das Phänomen sprachlicher und insbesondere dramatischer Kommunikation etwa vollständig darzuZu Dürrenmatt: A. Arnold ("1979); M. Balkanyi (1986); H. Banziger (1987); E. BrockSulzer (1986); M. Durzak (1972); H. Goertz (1987); Chr.M. Jauslin ( 1 9 6 4 ) ; U. Jenny ( 5 1 9 7 3 ) ; G.P. Knapp (1980); J. Knopf ("1988); U. Profitlich (1973); K.S. Whitton (1990). Zu Handke: M. Durzak (1982a); A. Haslinger (1992); G. Heintz ( 2 1 9 7 6 ) ; N. Hern ( 1 9 7 1 ) ; H. König (1978); M. Mixner (1977); P. Pütz (1982); R.G. Renner (1985); U. Schultz (1973). Zu Weiss: B . Barton (1987); O.F. Best (1971); A. Blumer (1977); R. Cohen (1992); M. Durzak (1972); J. Garbers (1990); M. Haiduk (1977); J. Hilton (1970); K.H. Hilzinger ( 1 9 7 6 ) ; H. Rischbieter (1967); J. Schmitz (1981); J. Vogt (1987); H. V o r n w e g (1981).
4
Einleitung
stellen und zu erläutern; ihr Differenzierungsgrad ist auf die Erfordernisse der Aufarbeitung der Autorenreflexion und der sich daran anschließenden Interpretation ausgerichtet und soll dabei einen weiteren, hierauf wiederum aufbauenden interpretativen Zugriff auf diese Reflexion aus verschiedenen Forschungsbereichen heraus gestatten. Der zweite Schritt besteht nun in der Aufarbeitung der Reflexion dramatischer Kommunikation bei den Autoren Dürrenmatt, Handke und Weiss selbst. Dabei werden jeweils folgende thematische Schwerpunkte der Autorenreflexion berücksichtigt: Erstens Überlegungen der Autoren zu Text und Inszenierung, insbesondere zur Gesamtgestaltung des Dramas, zu dessen Aussage und Funktion sowie zum Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung; zweitens solche zur Dramenproduktion von Autor und Ensemble selbst sowie zu deren Rezeptidn durch das Publikum; und drittens schließlich die Autorenreflexion zum dramatischen Sprachgebrauch, insbesondere zu dessen Besonderheiten gegenüber demjenigen anderer Literaturgattungen, zur sprachlichen Charakterisierung von Figuren sowie zur Gestaltung von Monologen und Dialogen. Mit dem dritten Schritt schließlich werden die Ergebnisse der Aufarbeitung der Autorenreflexion dramatischer Kommunikation bei Dürrenmatt, Handke und Weiss in Anlehnung an die genannten thematischen Schwerpunkte sowie unter Rückgriff auf die eingangs entwickelten kommunikationstheoretischen und sprachwissenschaftlichen Grundlagen zusammengefaßt und interpretiert. Auf diese Zusammenfassung und Interpretation erfolgt eine synoptische Gegenüberstellung der einzelnen Ergebnisse. Vor deren Hintergrund wird abschließend jeweils ein Autorenmodell dramatischer Kommunikation nach Dürrenmatt, Handke bzw. Weiss entwickelt; dabei werden diese einzelnen Modelle, um deren Vergleichbarkeit zu gewährleisten, auf der Grundlage des ebenfalls eingangs entwickelten Gattungsmodells dramatischer Kommunikation entworfen.
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
1. Kommunikation 1.1 Kommunikation als semiotische Interaktion Die Versuche, Kommunikation zu definieren und deren Grundelemente sowie Funktionen zu bestimmen, sind annähernd so zahlreich und verschiedenartig wie die Versuche, sich mit diesem Bereich wissenschaftlich auseinanderzusetzen, selbst. So lassen sich nach Fachbereichen beispielsweise informationstheoretische, soziologische, psychologische, medienwissenschaftliche und andere Ansätze 1 unterscheiden, die zum Teil gemeinsame, aber auch verschiedenartige Definitionskriterien ansetzen 2 . All diese Definitionsversuche haben sich in ihrem wissenschaftlichen Kontext und hinsichtlich der Fragestellungen, die mit ihnen verbunden werden, mehr oder weniger bewährt, so daß es wenig erfolgversprechend erscheint, sie an dieser Stelle einer metametakommunikativen Kritik unterziehen zu wollen. Es steht in diesem Zusammenhang vielmehr zu Gebote, selbst (unter Rückgriff auf bestehende Vorschläge) eine wenn auch vereinfachende, so doch gerade darum möglichst breit akzeptierbare Definition von Kommunikation aufzustellen, die dem Ziel dieser Untersuchung, der Aufarbeitung und Beurteilung der nicht oder allenfalls eher sekundär kommunikations- bzw. sprachwissenschaftlich fundierten Reflexion dramatischer Kommunikation bei modernen Dramenautoren, als theoretische Grundlage dienen kann und diese nicht durch unentschiedene Grundsatzdiskussionen verstellt. So bietet es sich hier an, Kommunikation im folgenden als eine bestimmte Art der Interaktion von Lebewesen, insbesondere auch von Um jeweils nur zwei klassische Beispiele zu nennen: W. Meyer-Eppler (1959) und C. Shannon/W. Weaver (1949) im Bereich der Informationstheorie; D. Hymes (1972) und J. Habermas (1971) in den Sozialwissenschaften; G. Bateson (1956) und P. Watzlawick u.a. (1967; dt. 4 1974) aus der Psychiatrie heraus; G. Bentele (1981) und R. Kroepsch (1976) zum Problemkreis der Massenmedien. So unterscheidet und klassifiziert etwa K. Merten schon 1977 über 150 verschiedene Definitionen von Kommunikation (Merten 1977, S. 11-89), und es kann davon ausgegangen werden, daß sich diese Zahl seither erheblich erhöht haben wird. Vgl. zur Kurzübersicht auch W. Nöth (1985), S.121-137.
8
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
Menschen zu interpretieren. Unter einer Interaktion ist dabei eine wechselseitige Handlung zu verstehen, an der mindestens zwei Partner beteiligt sind und ihr Handeln auf welche Weise auch immer aufeinander beziehen, so wie dies beispielsweise bei der Jagd oder bei einem Fußballspiel der Fall ist. Mit dem Ansatz einer solcherart verstandenen Interaktion als genus proximum des Definiens von Kommunikation werden hier einige weitergefaßte Konzeptionen von Kommunikation ausgeschlossen, die kommunikatives Handeln bereits lediglich an einen einzelnen Handlungsträger binden und wie Werner Meyer-Eppler etwa als "Aufnahme und Verarbeitung von physikalisch, chemisch oder biologisch nachweisbaren Signalen durch ein Lebewesen" 3 definieren. Kommunikation im hier verstandenen Sinne selbst zeichnet sich nun gegenüber anderen Arten der Interaktion durch einen gemeinsamen und funktional wie auch immer näher bestimmten Gebrauch von (sprachlichen oder nichtsprachlichen) Zeichen dieser Handlungsbeteiligten aus4. Unter einem Zeichen soll dabei ein Verständigungsmittel einer Verständigungshandlung verstanden werden, womit die klassische Definition des aliquid stat pro aliquo also um das per interactionem der Zeichenverwender ergänzt wird. 5 Beispiele für eine solche semiotische Interaktion 6 sind nun etwa die Werbung eines Unternehmens für sein Produkt beim potentiellen Verbraucher durch Plakate oder eine fachliche Aussprache zwischen Wissenschaftlern. Durch das Merkmal der Zeichenverwendung ist Kommunikation von anderen, nichtsemiotischen Interaktionsarten zu unterscheiden, die im Gegensatz zum hier vorgeschlagenen Sprachgebrauch zum Teil ebenfalls als Kommunikation interpretiert werden. 7 Ein Beispiel für eine solche nichtsemiotische Interaktion stellt etwa ein Autounfall durch ein riskantes 3
W. Meyer-Eppler (1959), S . l . Nach Eppler ist es dabei zunächst unerheblich, ob die entsprechenden Signale von einem belebten oder von einem unbelebten Objekt stammen (vgl. auch Ch. Morris 1971, S.366). Terminologisch wird hier in Bezug auf deren Rezeption zwischen Diagnose (von Signalen belebter Objekte) und Beobachtung (von Signalen unbelebter Objekte) unterschieden.
4
Eine solche Position findet sich beispielseise auch bei C. Cherry (1957/61 und 1980). Vgl. zu handlungsorientierten kommunikationstheoretischen Ansätzen u.a. auch H. Buddemeier (1973); R. Burkart (1983); K. Ehlich (1986); A. Eschbach (1979), S.35102; G. Meggle (1981). Zu den Theorien sprachlichen Handelns, insbesondere diejenigen von J.L. Austin ( 2 1978) oder J.R. Searle (1969) und (1971); vgl. zusammenfassend z.B. K. Bayer ( 2 1984); G. Harras (1983); S.C. Levinson (1990).
5
Zum Zeichenbegriff im allgemeinen vgl. etwa die Arbeiten von Umberto Eco (1968, dt. 1972), (1973, dt. 1977), (1984, dt. 1985), S.30-76; zur Übersicht auch W. Nöth (1985), S.87-120. - Vgl. auch Anm.4. W. Nöth (1985), S.125-127. Vgl. dazu H. Kalkofen (1983).
6 7
Kommunikation
9
Überholmanöver dar, bei dem die beteiligten Fahrer zwar durchaus gemeinsam, wenn auch unabsichtlich sowie gegeneinander und nicht miteinander, agieren, ohne sich jedoch (notwendigerweise) durch den Gebrauch von Zeichen zu verständigen. Zu einer weiteren Unterteilung semiotischer Interaktion bieten sich zahlreiche verschiedenartige Kriterien an, die hinsichtlich der Betrachtung dramatischer Kommunikation von Interesse sind und in den folgenden Abschnitten sukzessive eingeführt werden. An dieser Stelle sei jedoch bereits ein Kriterium genannt, das zwar nicht als unproblematisch gelten kann, sich jedoch im Rahmen einer Untersuchung, die dramatische Kommunikation zum Thema hat, als hilfreich erweisen mag. Es ist dies das Kriterium der Intentionalität. Unter der Intention einer semiotischen Interaktion ist die Kommunikationsabsicht eines der Handlungsbeteiligten zu verstehen, welcher bewußt ein Zeichen an einen anderen Handlungsbeteiligten richtet 8 , der wiederum diese Kommunikationsabsicht seinereits erkennt und akzeptiert 9 . Eine solche intentionale semiotische Interktion stellt gewissermaßen den Kernbereich, eine nichtintentionale dagegen den Randbereich des hier zugrunde gelegten Kommunikationsbegriffes dar. Der Terminus Kommunikation wird hier also entsprechend polysem, genauer: hyperosem 10 verwendet. Dies mag Abbildung 1 veranschaulichen:
Abb. 1: Interaktion und Kommunikation 8
9 10
Dazu etwa G. Mounin (1981) oder L. Prieto (1966); zur Kritik am Intentionalitätskriterium H. Kalkofen (1983), S.149-154. Zusammenfassend Th. Lewandowski ( s 1990), S.469-477. Vgl. W. Koch (1971). Vgl. Th. Roelcke (1991) und (1992a).
10
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
1.2 Grundelemente der Kommunikation Ausgehend von dem vorgestellten Kommunikationskonzept können nun die Grundelemente solcher (intentionaler) semiotischer Interaktionen bestimmt werden. Eines der prominentesten Modelle, auf die bei der Diskussion kommunikativer Grundelemente immer wieder zurückgegriffen wird, ist das bereits 1949 vorgestellte informationstheoretische bzw. nachrichtentechnische Kommunikationsmodell von Claude Shannon und Warren Weaver". In diesem Modell werden folgende Elemente unterschieden, die hier der Übersicht halber in zwei Gruppen eingeteilt und für den weiteren Verlauf der Diskussion uminterpretiert werden sollen: Es handelt sich dabei erstens um Sender (transmitter) und Informationsquelle (source) sowie Empfänger (receiver) und Informationsziel (destination); und zweitens um Kanal (Channel), Störquelle (noise) und Signal (signal). In der ersten Gruppe sind diejenigen Elemente zusammengefaßt, zwischen denen eine Informationsübertragung stattfindet. Es sind dies zum einen diejenige Einheit, die eine Information an eine andere übermittelt, sowie diejenige, die diese Information erhält. Diese beiden Einheiten werden jeweils noch einmal untergliedert in einen informationsverarbeitenden Teil (Informationsquelle bzw. Informationsziel) und in einen Teil, der die materiellen Informationsträger lediglich aussendet bzw. empfängt. Übertragen auf die menschliche Kommunikation entsprechen dabei Informationsquelle und Informationsziel jeweils dem Gehirn der Kommunikationspartner, sowie Sender und Empfanger deren Artikulationsund Rezeptionsorganen. 12 Bei Kanal, Störquelle und Signal als den Einheiten der zweiten Gruppe handelt es sich um die Elemente der Informationsübertragung selbst. Unter Signal ist dabei der materielle Informationsträger (im Falle mündlicher Kommunikation beispielsweise Schallwellen) und unter Kanal das Medium der Informationsübertragung (hier etwa die Luft) 13 zu verstehen. Als Störquelle werden solche Faktoren zusammengefaßt, die die materielle Informationsübertragung behindern (so etwa hier ein Hintergrundrauschen, das die informationstragenden Schallwellen überdeckt und damit unkennt-
11 12
13
C. Shannon/W. Weaver (1949). Diese Unterscheidung findet sich auch in W. Meyer-Epplers Modell der Diagnosekette (W. Meyer-Eppler 1959, S.2). Zur Klassifikation der Kommunikationskanäle vgl. etwa K. Scherer (1970); Th. Sebeok (1976), S.48; H . W u l f f (1979).
11
Kommunikation
lieh macht). Diese Grundelemente der Kommunikation nach Claude Shannon und Warren Weaver können nun in dem folgenden, allgemein bekannten Schema zusammengefaßt werden (Abb.2):
Abb.2:
Informationstheoretisches Kommunikationsmodell nach C. Shannon und W. Weaver (1949)
Dieses informationstheoretische Kommunikationsmodell erfaßt jedoch die Grundelemente semiotischer Interaktion nur unzulänglich, da es sowohl hinsichtlich der Interaktion der Kommunikationsbeteiligten als auch in Bezug auf die Zeichenverwendung unvollständig bleibt; es muß daher unter beiden Gesichtspunkten erweitert und uminterpretiert werden. Daneben erscheint es jedoch zunächst sinnvoll, aus praktischen Gründen zwei Vereinfachungen dieses Modells vorzunehmen. Die erste Vereinfachung besteht darin, die informationstheoretisch sicherlich begründete Trennung von Sender und Informationsquelle auf der einen Seite sowie Empfänger und Informationsziel auf der anderen Seite aufzugeben und stattdessen lediglich zwischen einem Kommunikationsbeteiligten, der bestimmte Signale an einen anderen Kommunikationsbeteiligten richtet, und einem solchen, den diese Signale erreichen, zu unterscheiden; der erste soll im folgenden Produzent, der zweite Rezipient genannt werden. Die zweite, rein praktische Vereinfachung besteht in der Vernachlässigung der sog. Störquelle, womit jedoch nicht suggeriert werden soll, daß eine semiotische Interaktion nicht auch gewissen Störungen unterliegen kann. Abbildung 2 ist hiernach entsprechend folgendermaßen zu ändern (Abb.3):
Produzent Abb.3:
Signal
Kanal
Signal
Rezipient
Vereinfachtes informationstheoretisches Kommunikationsmodell
Hinsichtlich der Zeichenverwendung berücksichtigt dieses Modell lediglich sog. Signale, d.h. die materiellen Informationsträger der konkreten Informationsvermittlung. Dabei bleibt prinzipiell offen, ob es sich bei
12
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
diesen Signalen lediglich um Symptome, d.h. um kausal mit einem Gegenstand oder Sachverhalt verbundene Anzeichen, oder um Zeichen (in einem engeren Sinne) selbst, die mit dem entsprechenden Gegenstand oder Sachverhalt in keinem ursächlichen Zusammenhang stehen 14 , handelt. Betrachtet man nun Kommunikation als semiotische Interaktion, so müssen solche Zeichen explizit als Grundelemente des entsprechenden Kommunikationsmodells berücksichtigt werden; dabei ist es wichtig, sowohl den abstrakten Zeichenvorrat bzw. das Zeichensystem 15 als auch den konkreten Zeichengebrauch miteinzubeziehen. In Anlehnung an das Modell von Shannon und Weaver wurde hierzu etwa von Abraham Moles ein bekannter Vorschlag gemacht, in dem sowohl für den Produzenten als auch für den Rezipienten ein abstrakter Zeichenvorrat angesetzt, und die Schnittmenge dieser beiden als der gemeinsame Zeichenvorrat für die konkrete Zeichenverwendung ausgewiesen wird. 16 Vorausblickend auf die Behandlung literarischer, insbesondere dramatischer Kommunikation ist es hier bereits sinnvoll, darauf hinzuweisen, daß die Zeichenverwendung in diesen Fällen nicht im Gebrauch jeweils einzelner, isolierter Zeichen, sondern im Gebrauch von mehr oder weniger umfänglichen Zeichenkomplexen besteht. Da diese Zeichenkomplexe als Spezialfälle der sog. Signale entweder auf einem oder aber auch auf mehreren verschiedenen Kanälen übermittelt werden können, bietet es sich hier allein der Übersichtlichkeit des Modelles halber an, die Unterscheidung zwischen Signal und Kanal aufzugeben und stattdessen ein einzelnes Grundelement anzusetzen; dieses Grundelement soll im folgenden als Text 17 bezeichnet werden. Die genannten Erweiterungen bzw. Uminterpretationen des Modells lassen sich nun wie folgt veranschaulichen (Abb.4):
Zum Zeichenbegriff vgl. zusammenfassend W. Nöth (1985), S.87-120. Es sei darauf hingewiesen, daß ein solcher Zeichenvorrat (terminologisch auch als Repertoire oder Kode bezeichnet) nicht notwendigerweise strukturiert sein muß und damit ein Zeichensystem
bildet; unter Zeichensystem
ist hier also hyponym
strukturierter Zeichenvorrat zu verstehen. A. M o l e s (1958), S.22. - Vgl. etwa auch W. Meyer-Eppler (1959), S.2. Zur näheren Bestimmung von Text und Textualität vgl. Kap.2.1.
ein
Kommunikation
13
Abb.4: Zeichentheoretisch erweitertes Kommunikationsmodell (ZS = Zeichensystem)
Da das informationstheoretische Kommunikationsmodell lediglich eine monodirektionale Informationsübermittlung von einem Kommunikationsbeteiligten zum anderen berücksichtigt, müssen hier auch Änderungen bzw. Erweiterungen in Bezug auf die Interaktion, die eingangs bereits als übergeordnetes Merkmal des für diese Untersuchung vertretenen Kommunikationskonzeptes angesetzt wurde, vorgenommen werden. Diese Erweiterungen bestehen zum einen in der Bidirektionalität der Kommunikation und zum anderen in der Berücksichtigung von sog. Rückkoppelungsprozessen bei der Textproduktion und Textrezeption. Ein Modell bidirektionaler Kommunikation findet sich etwa schon in Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale. 18 Überträgt man dieses Modell, auf dessen einzelne Grundelemente in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden muß, auf den bis hierher entwickelten Stand der Argumentation, so werden dort zwei monodirektionale Kommunikationsverläufe so miteinander kombiniert, daß beide Kommunikationsbeteiligten jeweils einmal als Textproduzent und einmal als Textrezipient eingesetzt werden und somit abwechselnd beide kommunikativen Rollen übernehmen. Bei einer solchen bidirektionalen Kommunikation müssen dann dementsprechend auch zwei verschiedene Texte unterschieden werden, zum einen derjenige, der von dem ersten Kommunikationsbeteiligten an den zweiten gerichtet wird, und zum anderen derjenige, der genau umgekehrt von dem zweiten Beteiligten an den ersten gerichtet wird. Diese beiden Texte können nun ihrerseits, wie etwa im Falle einer Frage und der darauffolgenden Antwort, als Teiltexte einer größeren Texteinheit betrachtet werden. 19 Graphisch läßt sich dies etwa folgendermaßen darstellen (Abb.5):
18 19
F. de Saussure (1916; Ausgabe 1985), S.28. Eine Erweiterung dieses Modells um eine Mehrzahl von Kommunikationsbeteiligten und Teiltexten ist prinzipiell möglich.
14
G a t t u n g s m o d e l l dramatischer K o m m u n i k a t i o n
Abb.5:
Bidirektionales K o m m u n i k a t i o n s m o d e l l
Aber auch mit diesem Modell ist das Kriterium der Interaktion bei Kommunikation nur unzulänglich erfaßt, da es sich hier lediglich um eine Aneinanderreihung monodirektionaler Kommunikationsvorgänge im Sinne einer Informationsübermittlung von einem Textproduzenten zu einem Textrezipienten handelt, in der weder der Kommunikationsbeitrag des Rezipienten noch die Kontrolle des Produzenten hinsichtlich der Produktion und Rezeption des Textes selbst berücksichtigt werden. Es wurde bereits in zahlreichen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, daß dem Textrezipienten beim Kommunikationsprozeß keine passive, sondern vielmehr eine aktive Rolle zukommt 20 , indem der Rezipient die mit dem Text übermittelten Informationen nicht einfach übernimmt, sondern diese selbst erst aus dem Zeichenkomplex herauslösen und verarbeiten muß. Je komplexer und umfangreicher der entsprechende Text dabei ist, desto höher ist dessen kommunikativer Anspruch hinsichtlich dieser interpretativen Leistung des Rezipienten, und desto größer ist die mögliche Variabilität des von dem einzelnen Rezipienten jeweils für sich selbst ermittelten Informationsgehaltes des Textes. Graphisch vereinfacht soll dieser äußerst komplexe Vorgang hier lediglich durch einen Verweis vom Rezipienten des Textes auf den Text selbst angedeutet werden (vgl. Abb.6). Auf der Seite des Textproduzenten schließlich muß das Modell um dessen Wahrnehmung und Kontrolle der eigenen Textproduktion und der Textrezeption des oder der anderen Kommunikationsbeteiligten ergänzt werden. Man kann dabei zwischen verschiedenen Typen solcher sog.
20
Vgl. W . A . K o c h (1971), S.122; E . W . B . Hess-Lüttich (1981) u.a.
Kommunikation
15
Rückkoppelungsprozesse unterscheiden 21 . Der erste Typ besteht in der unmittelbaren Reaktion des Textproduzenten auf seine Textproduktion, indem dieser als sein eigener Rezipient, gegebenenfalls unter Antizipation eines anderen Rezipienten, den Verlauf der Textproduktion selbst überwacht und gegebenenfalls korrigiert. Der zweite Typ besteht in der mittelbaren Reaktion des Textproduzenten auf seine Textproduktion, indem er die Reaktion des oder der anderen Kommunikationsbeteiligten auf seinen Text selbst wiederum verarbeitet und dann bei der darauf folgenden bzw. fortsetzenden Textproduktion auf welche Weise auch immer berücksichtigt. In der graphischen Darstellung soll der erste Typ mit einem Verweis von dem Text auf den Textproduzenten selbst angedeutet werden; der zweite Typ soll dagegen als Spezialfall eines mehrfach wechselnden Kommunikationsverlaufes zwischen mindestens zwei Kommunikationsbeteiligten in der graphischen Darstellung nicht besonders berücksichtigt werden. Diese hat danach nunmehr folgende Gestalt (Abb.6):
Abb.6:
Modell der Kommunikation als semiotischer Interaktion
Dieses Modell bildet nun allein die semiotische Interaktion selbst ab, vernachlässigt dabei aber noch die Tatsache, daß eine solche Interaktion jeweils in einem bestimmten Rahmen, d.h. unter sehr komplexen und verschiedenartigen Bedingungen, in denen die Kommunikationsbeteiligten stehen, stattfindet. Hierbei können zum einen semiotische und zum anderen nichtsemiotische Faktoren unterschieden werden. Unter den nichtsemiotischen Faktoren wären beispielsweise sowohl die sozialen, kulturellen oder ökonomischen Bedingungen, unter denen sich die Kommunikationsbeteiligten jeweils befinden, im allgemeinen als auch die konkrete, räumVgl. hierzu beispielsweise schon W. Meyer-Eppler (1959), S.4; A.G. Smith (1966); W. Nöth (1977).
16
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
lieh, zeitlich, psychisch 22 oder durch das Sozialverhältnis der Beteiligten 23 bestimmte Situation, in der die Kommunikation stattfindet, im besonderen zu nennen; diese nichtsemiotischen Kommunikationsbedingungen sollen im folgenden unter dem Terminus Kontext zusammengefaßt werden. Hinsichtlich der semiotischen Kommunikationsbedingungen müssen im Rahmen dieser Untersuchung neben den wie bereits angedeutet quantitativ und qualitativ verschiedenartigen Zeichensystemen der Kommunikationsbeteiligten insbesondere auch die Kenntnis jeweils weiterer Texte sowohl beim Textproduzenten als auch beim Textrezipienten berücksichtigt werden; diese den Kommunikationsbeteiligten jeweils bereits bekannten Texte sollen hier in freier Anlehnung an die angelsächsische Terminologie 24 als deren Kotextmenge bezeichnet werden. Dabei bleibt darüber hinaus festzuhalten, daß sich weder der Kontext noch die Menge der Kotexte der Kommunikationsbeteiligten jeweils vollständig decken, sondern sich lediglich mehr oder weniger stark überschneiden. Ihre Berücksichtigung in der graphischen Darstellung fuhrt zu folgendem Bild (Abb.7):
Kontext A
Kotext A
Kotext B 4
Kontext B
Produzent A
TextA
Rezipient B
Rezipient A
TextB
Produzent B
ZSA
Abb.7:
gemeins. Kotext
ZSG
ZSB
Modell der Kommunikation als semiotischer Interaktion unter Berücksichtigung von Kontext 2 5 und Kotextmenge
Vgl. etwa schon H. Frank (1964). Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson (1967); D. Hymes (1962) und (1979). Hier wird nach J.C. Catford (1965) oder auch Y. Bar-Hillel (1970) der Kotext als der sprachliche Kontext vom außersprachlichen Kontext unterschieden. Auf die explizite Kennzeichnung des gemeinsamen Kontextes der Kommunikationsbeteiligten wird hier aus darstellungstechnischen Gründen verzichtet.
Kommunikation
17
Diese Darstellung enthält nun lediglich die Grundelemente semiotischer Interaktion. Auf eine weitere Spezifikation dieser Elemente und auf einen Ausbau dieses Modells, der prinzipiell an jeder der hier angesetzten Positionen möglich und in anderem Zusammenhang theoretisch erforderlich wäre 26 , soll jedoch, wie oben bereits erläutert, verzichtet werden, um die Darstellung und Interpretation der Kommunikationsreflexion moderner Dramenautoren nicht durch einen zu eng umrissenen wissenschaftlichen Diskurs zu verstellen oder zumindest zu behindern.
1.3 Funktionen der Kommunikation Auf der Basis der in diesem Modell vereinfacht dargestellten Grundelemente semiotischer Interaktion können nun in einem weiteren Schritt ebenso aufrißartig - deren spezifische kommunikative Funktionen bestimmt werden. Unter einer Funktion wird im allgemeinsprachlichen Sinne semantisch vage so etwas wie eine Leistung oder eine Aufgabe, die von einem Gegenstand erfüllt wird, verstanden. Im wissenschaftlichen Bereich wird der Terminus ähnlich wie derjenige der Kommunikation semantisch geradezu inflationär verwandt. 27 So ist aus der Mathematik und der Logik eine mengentheoretisch begründete, formalistische Konzeption bekannt, nach der unter einer Funktion eine Zuordnungsvorschrift zwischen zwei oder mehreren Elementen verschiedener Mengen verstanden wird 28 . Demgegenüber herrscht etwa in den Sozial- und Geisteswissenschaften sowie in der Psychologie eine andere Konzeption vor, der zufolge Funktionen bestimmte "Strukturen, die eine Aufgabe zur Erhaltung eines Systems erfüllen" 29 , sind; nach dieser sog. funktionalistischen Auffassung besteht eine Funktion also in der Zweckdienlichkeit, die dem Funktionsträger hinsichtlich einer bestimmten, komplexen Bezugsgröße zukommt. In der modernen Sprachwissenschaft finden sich diese beiden Funktionsbegriffe jeweils in den verschiedenartigsten Ausprägungen 30 . Eine
Beispiele für solche Gesamtmodelle sind etwa R. Burkart (1983), S.92; E.W.B. HessLüttich (1981), Bd.l, S.352-353; W. Nöth (1977), S.83ff.; S.J. Schmidt ( 2 1 9 7 6 ) , S.109; (1981), S.256-257. Vgl. W. Nöth (1985); S. 153-161; H. Ortner (1992); G. Richter (1981); Ch. Thiel (1974). Dazu beispielsweise A. Menne ("1986); H.-D. Ebbinghaus ( 2 1979). W. Nöth (1985), S.154. Vgl auch W. Stegmüller (1969). Hierzu etwa W. Busse (1975); B. Gröschel (1983); G. Heibig (1969), ( 6 1 9 8 3 ) und (1986); A. Martinet (1955).
18
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
Applikation der mengentheoretischen Konzeption findet sich etwa in demjenigen Bereich der lexikalischen Semantik, der sich mit der Theorie und der Beschreibung lexikalischer Bedeutungsrelationen befaßt und dabei eine solche Bedeutungsrelation als Menge geordneter Paare von Bedeutungen oder Bedeutungsbeschreibungen interpretiert. 31 Ein zweckorientierter Funktionsbegriff wird dagegen unter anderem auch in dem Bereich der Phonologie vertreten, wenn dessen Untersuchungsgegenstand, das Phonem, als kleinste bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheit betrachtet wird und ihm damit eine bestimmte Aufgabe hinsichtlich des Sprachsystems beigemessen wird. 32 Eine Beschäftigung mit literarischer bzw. dramatischer Kommunikation und Sprache legt es nun sowohl aus sachlichen als auch, wie sich zeigen wird, aus forschungsgeschichtlichen Gründen nahe, sich für eine funktionalistische Grundlegung des Funktionsbegriffes zu entscheiden. Danach soll hier unter einer kommunikativen Funktion der Beitrag eines entsprechenden kommunikativen Grundelementes für eine semiotische Interaktion verstanden werden. Die prominentesten und folgenreichsten Vorschläge, in denen an bestimmte kommunikative Grundelemente entsprechende kommunikative Funktionen angebunden werden, stammen sicherlich von Karl Bühler und Roman Jakobson; beide sind auch hier für die weitere Diskussion hilfreich. Bühlers Organonmodell des sprachlichen Zeichens 33 enthält vier Grundelemente: Das Zeichen selbst (organum), den Sender, den Empfänger sowie Gegenstände und Sachverhalte (der außersprachlichen Wirklichkeit). Dabei wird das Zeichen gleichermaßen in das Zentrum der drei anderen Elemente gesetzt und hinsichtlich dieser jeweils funktional bestimmt. Das Zeichen ist danach "Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert [,..]"34. Bühler unterscheidet hier drei funktionale Aspekte des sprachlichen Zeichens, die er aus drei Bezugsgrößen der Zeichenverwendung ableitet. Die entsprechenden Funktionen selbst bezeichnet er als "Ausdruck, Appell
31
Vgl. beispielsweise J. Lyons (1968); D.A. Cruse (1986); Th. Roelcke (1992a) und (1992b).
32
Diese Definition geht zurück auf Arbeiten etwa von N. Trubetzkoy ( 1 9 3 9 ) oder A. Martinet (1955). Vgl. dazu beispielsweise auch G. Heike ( 2 1 9 8 2 ) ; E. Ternes (1987).
33
K. Bühler (1934), S.24-33.
34
K. Bühler (1934), S.28.
Kommunikation
19
und Darstellung"35; dabei besteht die Darstellungsfunktion des Zeichens als Symbol in dessen Referenz auf außersprachliche Gegenstände oder Sachverhalte, seine Ausdrucksfunktion als Symptom in der Kennzeichnung der psychischen (in einer weiteren Auslegung der Theorie auch sozialen, kulturellen, ökonomischen o.ä.) Disposition des Senders und seine Appellfunktion als Signal in der wie auch immer gearteten Wirkung auf den Empfanger. Diese drei kommunikativen Funktionen lassen sich nun in abgewandelter Form und unter Vernachlässigung der spezifischen theoretischen Antizipationen Bühlers in die oben entwickelte Konzeption der Kommunikation als semiotischer Interaktion integrieren. Ergänzend zu Bühler sollen hier jedoch nicht allein die funktionalen Aspekte der verwandten Zeichen bzw. des Textes, sondern vielmehr auch umgekehrt die diesen entsprechenden Funktionen der Grundelemente hinsichtlich der interaktiven Zeichenverwendung selbst bestimmt werden. Bühlers Sender entspricht in diesem Zusammenhang der Textproduzent. Dessen Beitrag zur semiotischen Interaktion besteht - auch wenn diese Feststellung zunächst banal anmuten mag - darin, den Text als deren zentralen Gegenstand überhaupt erst einmal für einen bestimmten oder auch nur einen möglichen Rezipienten zu schaffen; diese Textproduktion ist dabei jeweils von der psychischen, sozialen, kulturellen oder anderen Disposition (sowie der Intention) des Individuums abhängig und verleiht somit - was durch Bühlers allein zeichen- bzw. textorientierte und nicht auch an den anderen Elementen der semiotischen Interaktion ansetzenden Funktionsbestimmung nicht explizit berücksichtigt wird - dem Text erst symptomatischen Charakter. Dem Empfanger entspricht hier der Textrezipient; seine Funktion besteht in der Aufnahme und in der Verarbeitung des ihm vom Textproduzenten übermittelten Textes sowie in der wie auch immer gearteten Reaktion, die von diesem auf die Rezeption erfolgt und damit dem Text selbst einen im weitesten Sinne appellativen Charakter verleiht. Die Gegenstände und Sachverhalte schließlich sind Elemente des (außersprachlichen) Kontextes; ihr Beitrag zur semiotischen Interaktion besteht darin, daß sie sowohl die Bedingungen der Kommunikation konstituieren als auch als Referenzobjekt der Zeichenverwendung, insofern diese eine darstellende Funktion erfüllt, dienen. Hiermit sind die kommunikativen Funktionen der Grundelemente Produzent, Rezipient und Kontext zusammen mit den ihnen jeweils entsprechenden funktionalen Aspekten des Textes als der (komplexen) Menge der
35
Ebd.
20
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
verwandten Zeichen selbst bestimmt. Dabei bleiben jedoch einige wichtige kommunikative Grundelemente und Funktionen unberücksichtigt. Daher wurde etwa von Roman Jakobson ein Modell vorgeschlagen 36 , in dem nicht drei, sondern sechs verschiedene Funktionen sprachlicher Kommunikation in Abhängigkeit von entsprechenden kommunikativen Grundelementen unterschieden werden 37 . Es handelt sich dabei um die Elemente Sender (addresser), Empfanger (addressee), Kontext (context), Mitteilung (message), Kontakt (contact) und Kode (code); diese werden von Jakobson in folgendem Schema zusammengefaßt 38 (Abb.8): Kontext Mitteilung Sender
Empfänger Kontakt Kode
Abb.8:
Kommunikationsmodell nach R. Jakobson (1960)
Die Entsprechungen dieses Modells zu demjenigen von Bühler sind offensichtlich: Es finden sich auch hier Sender und Empfanger sowie (als Kontext bezeichnet) die Gegenstände und Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit. Unterschiede bestehen hinsichtlich des Zeichens, indem hier zwischen Mitteilung, Kontakt und Kode unterschieden wird; dabei ist unter der Mitteilung die sprachliche Äußerung, d.h. der Text, unter dem Kode das Sprachzeichensystem und unter dem Kontakt die Verbindung zwischen Sender und Empfanger zu verstehen. In den Worten Jakobsons: Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer andern, etwas mehrdeutigen Nomenklatur), erfaßbar für den Empfänger und verbal oder verbalisierbar; erforderlich ist ferner der KODE, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger (oder m.a.W. dem Kodierer und dem Dekodierer der Mitteilung) gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTS, eines 36
37 38
Zur Adaption des Organonmodells im Prager Strukturalismus, insbesondere bei R. Jakobson vgl. E. Holenstein (1979), S.10-15. R.Jakobson (1960; dt. 1979). R. Jakobson (1960), S.353; (dt. 1979), S.88.
21
Kommunikation
physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung zwischen Sender und Empfänger, der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten oder zu bleiben. 3 9
An diese sechs kommunikativen Grundelemente bindet Jakobson nun entsprechende "sprachliche Funktionen" 40 ; wie bei Bühler handelt es sich auch hier um verschiedene Funktionen der sog. Mitteilung bzw. des Textes hinsichtlich dieser Grundelemente und nicht um Funktionen der entsprechenden Elemente selbst. Dabei entsprechen die emotive (bzgl. Sender), die konative (bzgl. Empfänger) und die referentielle (bzgl. Kontext) Sprachfunktion bei Jakobson weitegehend der Symptom-, Signal- und Symbolfunktion bei Bühler. Hinzu kommen die phatische Funktion (bzgl. Kontakt), die in der Aufrechterhaltung der Verbindung von Sender und Hörer durch die Zeichenverwendung besteht, die metasprachliche Funktion (bzgl. Kode) im Falle einer Thematisierung des Sprachzeichensystems durch Sender und Empfanger selbst, sowie die poetische Funktion der Selbstbezüglichkeit des Textes bzw. der Mitteilung. Analog zum Modell der kommunikativen Grundelemente stellt Jakobson diese Funktionen folgendermaßen zusammen 41 (Abb.9): referentiell poetisch emotiv
konativ phatisch metasprachlich
Abb.9:
Modell der Sprachfunktionen nach R. Jakobson (1960)
Die drei Sprachzeichenfunktionen, die Jakobson über das Modell Bühlers hinausgehend ansetzt, können nun ebenfalls in das oben entwikkelte Kommunikationskonzept integriert und wiederum um die entsprechenden kommunikativen Funktionen der Grundelemente selbst ergänzt werden. So besteht der Beitrag des (gemeinsamen) Kodes bzw. Zeichensystems für die semiotische Interaktion in der Bereitstellung eines Inventars von Zeichen und von (syntaktischen wie pragmatischen) Regeln zu deren Verknüpfung, auf deren Grundlage konrete Äußerungen erfolgen, d.h. Texte generiert werden können; umgekehrt besteht die Funktion des Textes 39 40 41
Ebd. Ebd. R. Jakobson (1960), S.353; (dt. 1979), S.94.
22
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
hinsichtlich des Zeichensystems im dem (partiellen) Beitrag des Textes, den dieser zusammen mit den anderen Texten einer Kommunikationsgemeinschaft zur Konstituierung eines konventionalisierten Sprach- bzw. Zeichensystems leistet42. Der Kontakt von Produzent und Rezipient, der hier im folgenden ähnlich dem Kanal bei Shannon und Weaver lediglich implizit vorausgesetzt werden soll, wird durch das entsprechende Kommunikationsmedium und die gemeinsame Zeichenverwendung der Kommunikationsbeteiligten konstituiert und ist damit zugleich Teilergebnis und Bedingung semiotischer Interaktion. Diese fünf kommunikativen Funktionen des Textes werden schließlich um eine sechste, die poetische Funktion ergänzt; diese besteht in der sog. Autonomie des Textes, welche dieser als konkreter Gegenstand unabhängig von seinen pragmatischen Funktionen hinsichtlich der semiotischen Interaktion und deren Elemente aufweist. 43 In dem oben entworfenen Modell semiotischer Interaktion ist neben Produzent, Rezipient, Text, Kontext und Zeichensystem ein weiteres Grundelement enthalten, das weder im Modell Bühlers, noch im Modell Jakobsons berücksichtigt wird. Es handelt sich um die Kotextmenge, der hinsichtlich der literarischen und dramatischen Kommunikation insofern eine besondere funktionale Bedeutung zukommt, als bei der Textproduktion in diesem Bereich oftmals vielfaltige Bezüge insbesondere zu dem entsprechenden literarischen, aber auch zu dem nichtliterarischen Kotext des Produzenten hergestellt werden, welche wiederum bei der Rezeption des Dramas berücksichtigt werden müssen. Der Text seinerseits stellt darauf selbst wieder ein mögliches Kotextelement für die auf ihn folgenden literarischen bzw. dramatischen Texte dar. All diese kommunikativen Funktionen treten nun nicht isoliert auf, sondern sind jeder kommunikativen Interaktion inhärent; dies gilt sowohl für diejenigen des Textes als auch für diejenigen der anderen Grundelemente. Eine gewisse Variabilität besteht hier lediglich hinsichtlich der Dominanz, die der einen oder anderen Funktion in einer konkreten Kommunikation zukommt. 44 Die hier in Anlehnung an Bühler und Jakobson genannten kommunikativen Grundelemente sowie die ihnen jeweils entsprechenden Zeichen-
Die metasprachliche Funktion Jakobsons stellt also nur einen Teil dieser systemkonstituierenden Funktion des Textes dar. Zur poetischen Funktion bei Jakobson vgl. Kap.2.2. Hinsichtlich der Sprachzeichenfunktion weisen hierauf sowohl Bühler als auch Jakobson hin. Vgl. Bühler (1934), S.30-33; Jakobson (1960), S.353; (dt. 1979), S.88. Entsprechend beispielsweise ebenfalls Mukarowsky (1970), S. 120-121. - Vgl. auch H. Jachnow (1981).
23
Kommunikation
bzw. Textfunktionen und deren Funktionen in der semiotischen Interaktion selbst lassen sich in folgender Matrixdarstellung synoptisch zusammenfassen, wobei allerdings keine Identität der einzelnen Positionen suggeriert, sondern lediglich deren Vergleichbarkeit verdeutlicht werden soll (Tab.l).
B J R B J R B J R B J R B J
kommunikatives Grundelement Sender Sender Produzent Empfanger Empfänger Rezipient Gegenstand/ Sachverhalt Kontext
Zeichen- bzw. Textfunktion Symptom emotive Funktion Symptom Signal konative Funktion Appell Symbol
Kontext
referentielle Funktion Referenz
Kontakt
phatische Funktion
Kode
metasprachliche Funktion Systemkonstituierung
R
Zeichensystem
B J R B J R
organum/Zeichen Mitteilung Text
Kotextmenge
Tab. 1:
poetische Funktion Autonomie
Kotextkonstituierung
Funktion des kommunikat. Elements
Produktion
Rezeption
Objekt, Rahmen
Textgenerierung
Autonomie
Textkonstituierung
Synoptische Darstellung der kommunikativen Grundelemente und deren entsprechenden Funktionen (B = Terminologie nach Bühler; J = Terminologie nach Jakobson; R = Terminologie nach Roelcke)
2. Literarische Kommunikation 2.1 Textualität In dem vorangehenden Kapitel ist das Zeichen als der informationsübermittelnde Gegenstand der semiotischen Interaktion bereits der Deutlichkeit und Vereinfachung halber durch den Text als einem mehr oder weniger stark strukturierten Zeichenkomplex ersetzt worden. Dies hat vor allem darstellungspraktische Gründe, da man es gerade in der literarischen bzw. dramatischen Kommunikation nicht mit singulären Zeichen, sondern vielmehr mit ausgesprochen reich strukturierten Zeichengebilden zu tun hat. Im folgenden soll nun der als Grundlage dieser Untersuchung vorgeschlagene Textbegriff ein wenig genauer beleuchtet werden; hierzu ist es sinnvoll, zunächst dessen Extension und Intension definitorisch zu klären und dann darauf aufbauend weitere textuelle Eigenschaften zu erläutern. Folgt man der Forschung, so sind grob und neben anderen mindestens drei Textbegriffe zu unterscheiden, die in einem Inklusionsverhältnis zueinander stehen. Der engsten Auffassung zufolge ist ein Text eine sprachliche Äußerung, die schriftlich vorliegt und dementsprechend von einer gesprochenen Äußerung unterschieden werden muß 45 . Einer weiteren Auffassung nach können unter einem Text sowohl schrift- als auch sprechsprachliche Äußerungen subsumiert werden. Der Text bleibt dabei jedoch auch hier auf sprachliche Äußerungen begrenzt, so daß beide Positionen vom Untersuchungsgegenstand her als genuin linguistisch charakterisiert werden können; der erste Textbegriff ist danach einer Textlinguistik im engeren Sinne und der zweite einer solchen im weiteren Sinne zuzuordnen. Die dritte Auffassung schließlich erweitert den Textbegriff über sprachliche Äußerungen hinaus und betrachtet sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Äußerungen wie auch Kombinationen hiervon als Texte 46 . Der Gegenstandsbereich dieser letzten Auffassung geht über denjenigen der Textlinguistik hinaus und soll daher als textsemiotisch charakterisiert werden.
45
So beispielsweise bei Greimas/Court6s (1979).
46
Vgl. P. Bouissac (1971); W.A. Koch (1971); W. Nöth (1972); J. Petöfi (1986).
Literarische Kommunikation
25
Die genannten Inklusionsverhältnisse lassen sich in folgender Abbildung zusammenfassen (Abb. 10):
Abb. 10: Gegenstandsbereich von Textsemiotik und Textlinguistik
Die Unterschiede zwischen diesen drei Forschungsansätzen und Textauffassungen bestehen also hinsichtlich des Zeichentyps (sprachlich bzw. nichtsprachlich) und hinsichtlich des sog. Mediums (schriftlich bzw. mündlich). Für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung erscheint es nun sinnvoll, einen möglichst weit gefaßten, semiotischen Textbegriff anzusetzen, der sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Zeichenkomplexe verschiedenartiger Medien umfaßt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Drameninszenierung wichtig, als zwar der schriftlich fixierte Dramentext dem Untersuchungsgegenstand der Textlinguistik im engeren Sinne entspricht, seine Inszenierung auf der Bühne jedoch auch im modernen Drama (von möglichen Sonderformen zunächst einmal abgesehen) zum einen überwiegend gesprochen und zum anderen durch den Gebrauch nichtsprachlicher Zeichen erfolgt. 47 Als gemeinsames Merkmal der drei genannten Positionen kann angenommen werden, daß sie als ihren Gegenstandsbereich jeweils solche Äußerungen, die aus mehr oder weniger komplexen Zeichen bestehen, ansetzen. Unter einem solchen komplexen Zeichen soll hier eine Mehrzahl singulärer Zeichen verstanden werden, die, auf welche Weise auch immer, miteinander verbunden sind und damit ein Zeichen höherer Ordnung bilden, d.h. als Ganzes für die Kommunikationsbeteiligten eine spezifische kommunikative Funktion erfüllen 48 . In der Textlinguistik werden hierbei
Zum dramenspezifischen Zeichengebrauch vgl. Kap.3.1. Diese Auffassung begegnet einem nahezu in der gesamten textlinguistischen wie textsemiotischen Literatur; um einige altere wie neuere Beispiele zu nennen, etwa bei de Beaugrande/Dressler (1981); K. Brinker ( 2 1988), S.10-19; Heinemann/Viehweger (1991); E.W.B. Hess-Lüttich (1981), Bd.I; J.M. Lotman ( 3 1989), S.40; S. Maser (1977); Posner/Reinecke (1977), S.47-106; T A. van Dijk (1980); H. Vater (1992).
26
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
traditionellerweise zwei Typen einer solchen Verbindung singulärer sprachlicher Zeichen unterschieden: Zum einen die Kohäsion, d.h. die grammatikalische Verbindung sprachlicher Einheiten (beispielsweise durch Rektion, durch Numeruskongruenz oder durch Pronominalkonstruktionen), und zum anderen die Kohärenz, d.h. deren semantische Verbindung (etwa durch Thema-Rhema-Strukturen). 49 Neben diesen beiden Typen der Verbindung sprachlicher Zeichen zu Sprachzeichenkomplexen findet sich in der textlinguistischen Diskussion eine Reihe weiterer Kriterien der Textualität sprachlicher Zeichen, die hier jedoch als sekundär zur Kohärenz und Kohäsion betrachtet werden sollen, da sie sich entweder aus diesen ableiten lassen oder nicht textspezifisch (weil auch für singulare Zeichen gültig) sind. So sind beispielsweise die Textkriterien der Ganzheit oder der Intertextualität allein aufgrund bestimmter Kohärenz- und Kohäsionsstrukturen, die den Zusammenhang und damit die Einheit eines Zeichenkomplexes selbst bzw. entsprechende Bezüge zwischen verschiedenen Zeichenkomplexen konstituieren, überhaupt erst denkbar, während die Kriterien Situationalität, Akzeptabilität und Informativität nicht als textspezifisch, sondern vielmehr als zeichenspezifisch im allgemeinen gelten können. 50 Die Textualitätskriterien der Kohärenz und der Kohäsion, die hier ausgehend von der Textlinguistik zunächst für sprachliche Zeichenkomplexe eingeführt wurden, lassen sich nun auch auf nichtsprachliche Zeichenkomplexe und auf solche, in denen sprachliche und nichtsprachliche Zeichen miteinander formal und funktional kombiniert werden, übertragen; dies wird im Bereich nichtsprachlicher Zeichenkomplexe etwa angesichts von Bauten der mittelalterlichen Sakralarchitektur oder den symphonischen Dichtungen der Romantik, im Bereich der kombinierten Zeichenkomplexe insbesondere an Werbeplakaten, Comics oder Dokumentarfilmen deutlich. Auch Drameninszenierungen können somit genauso wie ihre schriftlichen Fassungen als Texte im Sinne kohärenter und kohäsiver Zeichenkomplexe betrachtet werden. Die dem folgenden nunmehr zugrunde gelegte Textdefinition lautet also dementsprechend und zusammenfassend:
49
50
Zu den Kriterien der Kohärenz und der Kohäsion vgl. zusammenfassend beispielsweise de Beaugrande/Dressler (1981), S.50-117; K. Brinker ( 2 1988), S.26-59; Halliday/Hasan (1976); H. Vater (1992), S.32-49. Diese Textualitätskriterien gehen zurück auf de Beaugrande/Dressler (1981), S.3-14 und S.l 18-215, welche diese zusammen mit den Kriterien der Kohärenz und der Kohäsion im Gegensatz zu jüngeren Arbeiten als textkonstitutiv betrachten; vgl. dazu zusammenfassend die Darstellung in Heinemann/Viehweger (1991) oder H. Vater (1992).
Literarische Kommunikation
27
Ein Text ist ein durch Kohärenz und Kohäsion ausgezeichneter Komplex von (sprachlichen oder nichtsprachlichen) Zeichen.
2.2 Ästhetizität Dramen werden im allgemeinen als sprachliche oder nichtsprachliche Kunstwerke aufgefaßt und damit von nichtkünstlerischen Zeichenkomplexen unterschieden. Das entsprechende Unterscheidungskriterium kann dabei terminologisch als die Ästhetizität des Dramas charakterisiert werden. Die Termini Literarizität und Poetizität, die oftmals, allerdings nicht ausschließlich dazu verwendet werden, um den künstlerischen Charakter dieser wie auch anderer Textgattungen, etwa der Lyrik oder der Prosa, zu bezeichnen, erscheinen in diesem Falle als zu eng, da sie traditionellerweise allein auf sprachliche Zeichenkomplexe angewandt werden und dabei solche aus sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen, wie sie etwa bei der Inszenierung des zumeist schriftsprachlich vorliegenden Dramentextes auf der Bühne entstehen, ausschließen 51 . Im Folgenden sollen nun einige Konzeptionen der Ästhetizität von sprachlichen wie auch nichtsprachlichen Zeichenkomplexen diskutiert werden. Es handelt sich dabei um die Thesen der Autonomie, der Ikonizität, der Fiktionalität, der Konnotation, der Rekurrenz, der Konvergenz, der Deviation sowie der Akzeptabilität. 52 Neben diesen finden sich in der umfangreichen Diskussion der neueren Ästhetik zahlreiche weitere Ästhetizitäts- bzw. Poetizitätsthesen, die jedoch unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation als verhältnismäßig wenig produktiv gelten können und daher in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben sollen. Der sog. Autonomiethese zufolge besteht die Ästhetizität eines Zeichenkomplexes in dessen Autoreflexivität, d.h. in dessen Funktion, auf sich selbst als Zeichenkomplex zu verweisen, wobei andere kommunikative Funktionen wie Symptom-, Appell- oder Referenzfunktion zwar nicht ausgeschaltet, aber dennoch verlagert (zurückgedrängt oder verstärkt) werden. Die Referenz des Zeichenkomplexes bezieht sich danach also nicht oder
Zur Frage der Terminologie vgl. beispielsweise J. Culler (1975); M. Hardt (1976). Übersichten über diese wie auch andere Ästhetizitätskriterien, insbesondere aus semiotischer, linguistischer oder kommunikationswissenschaftlicher Sicht, gestatten B. Abend (1985), S.16-98; T. Eagleton (1983, dt. 1988); A. Eschbach (1979), S.103-141; M. Hardt (1980); G. Harras (1979); R. Kloepfer (1975), S.35-135; W A. Koch (1981), S.26-105; W. Nöth (1985), örtl.; H. Pausch (1987); G. Scholz (1980); K. Stierle (1982); J. Trabant (1980); U. Trojahn (1988); P.V. Zima (1991).
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
nicht allein auf Gegenstände oder Sachverhalte der außersprachlichen bzw. außersemiotischen Wirklichkeit, sondern vielmehr auf den Kunstgegenstand bzw. dessen formale Ausgestaltung und dessen hiermit verbundene Funktionalität selbst.53 Auch die Appellfunktion verlagert sich hierbei, indem die Rezeption des Zeichenkomplexes primär um der Rezeption selbst willen erfolgt und nicht oder nur sekundär mit darüber hinausweisenden Handlungszielen verbunden ist. Diese Ästhetizitätsthese der Autonomie des Kunstwerkes hat nun in der neuzeitlichen Ästhetikdiskussion eine lange Tradition, die mindestens bis auf Immanuel Kants berühmte Formel der "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" aus der Kritik der Urteilskraft zurückreicht54; sie findet sich im 20. Jahrhundert etwa fortgesetzt in der sog. l'art pour l'art Ästhetik und erfahrt eine wissenschaftliche Untermauerung in den Arbeiten des Prager Strukturalistenkreises. So findet sich die Autonomiethese bei Roman Jakobson etwa in folgender Formulierung: "Die Einstellung auf die Botschaft [d.h. die Mitteilung bzw. den Text - Th.R.] als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die poetische Funktion der Sprache dar."55 Ähnliche Konzeptionen sind auch in der neueren semiotischen und kommunikationswissenschaftlichen Ästhetikdiskussion bis heute wirksam. So beispielsweise insbesondere in den früheren Arbeiten von Umberto Eco: "Die Signifikanten verweisen auch wenngleich nicht vor allem - auf sich selbst. Die Botschaft erscheint als autoreflexiv" 56 ; aber auch in anderen, etwa literaturwissenschaftlichen Darstellungen, wie (um ein nicht allein kommunikationswissenschaftlich oder semiotisch argumentierendes Beispiel zu nennen) bei Joseph Strelka: Die (symbolischen) Sprachzeichen des literarischen Textes drücken ihren Sinn dadurch aus, daß sie ihn geistig zur Anschauung bringen. Sie weisen nicht direkt über sich hinaus auf Dinge, sondern das Ausdrückende fällt mit dem darstellend Ausgedrückten in eins zusammen, im gesamten Zeichengewebe der literarischen Sprache, das nicht allein aus Worten besteht. 57
Im Bereich der kommunikationswissenschaftlich orientierten Dramentheorie schließlich wäre hier etwa Manfred Pfister zu nennen; dieser 53 54 55
56 57
Vgl. E. Coseriu ( 2 1981), S. 109-111. Vgl. dazu beispielsweise R. Wiehl (1983) oder P.V. Zima (1991), insbes. S. 17-22. R. Jakobson (1960, dt. 1979), S.92. Und bei Jan Mukarovsky beispielsweise: "Die dichterische Sprache hat eine andere Funktion als die kommunikative Sprache: Die kommunikative Sprache lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was ausgedrückt wird, die dichterische Sprache lenkt sie auf das Wie des Ausdrucks." (J. Mukarovsky 1971, zit. nach P.V. Zima 1991, S.188). - Vgl. hierzu etwa auch B. Abend (1985), S. 17-41; W.A. Koch (1980), S.30-36; W. Nöth (1985), S.384-386; Th.G. Winner (1979); P.V. Zima (1991), S. 173-214. U. Eco ( 2 1967, dt. 1973), S.73. - Dazu auch P.V. Zima(1991), S.264-314. J.P. Strelka (1989), S.3.
Literarische Kommunikation
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betrachtet "die Ästhetizität als dominante Kommunikationsfunktion. Unter Ästhetizität verstehen wir dabei die Summe der folgenden Merkmale: Selbstbezogenheit der Zeichen im Sinne von Roman Jakobsons "poetischer Funktion" [...], Polyfunktionalität der Vertextung und Fiktionalität." 58 Nach der These von der Ikonizität des Kunstwerks ist dessen Ästhetizität durch die möglichst optimale Abbildung des außersprachlichen bzw. außersemiotischen Referenzgegenstandes bestimmt; die Ästhetizität besteht hiernach also in einer möglichst stark ausgeprägten Ähnlichkeit oder Isomorphie zwischen dem betreffenden Zeichenkomplex und dem entsprechenden außersemiotischen Gegenstand oder Sachverhalt. Diese These findet sich bereits in den verschiedenartigen Mimesis-Theorien der Antike (Piaton, Aristoteles, Horaz) oder der Neuzeit (Lessing) 59 ; aber auch in der wissenschaftlichen Ästhetikdiskussion des 20. Jahrhunderts spielt sie eine gewichtige Rolle. So erfährt sie insbesondere durch die Arbeiten von Charles William Morris (wiederum in Anlehnung an Charles Sanders Peirce) 60 eine erhebliche semiotische Differenzierung und Präzisierung, wie auch etwa durch Jurij Lotman 61 folgenreiche textwissenschaftliche Applikationen. - Die Ikonizitätsthese und die Autonomiethese scheinen sich nun zunächst zu widersprechen, als die erste zwischen Referenzgegenstand und (möglichst ähnlichem) Zeichenkomplex unterscheidet, während die zweite als Referenzgegenstand lediglich den Zeichenkomplex selbst ansetzt. Dennoch lassen sich beide Thesen miteinander verbinden, indem man verschiedene Grade der Ähnlichkeit zwischen Referenzgegenstand und Zeichenkomplex annimmt und die größtmögliche Ähnlichkeit eines Zeichens als diejenige zu sich selbst interpretiert. Dies tut etwa Winfried Nöth: "Seit Morris unterscheidet die Semiotik bekanntlich verschiedene Grade der Ikonizität, je nach Grad der Übereinstimmung der Merkmale von Zeichen und Objekt. Danach wären Zeichen mit höchster Ikonizität solche, deren Merkmale in völliger Kongruenz mit den Merkmalen des Objekts stehen, was nur bei Identität von Zeichen und Objekt erreicht werden kann. Optimale Ikonizität bedeutet somit Autoreflexivität des Zeichens." 62 Die Fiktionalitätsthese, der zufolge ein ästhetischer Zeichenkomplex keinen oder allenfalls sekundär einen konkreten Referenzgegenstand be-
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61 62
M. Pfister ( 5 1988), S.30. - Vgl. auch (in Auseinandersetzung mit J. Mukarovsky) die Arbeiten von E. Fischer-Lichte (1981) und ( 2 1988). Vgl. M.H. Abrams (1953); H. Wiegmann (1977). Ch. Morris (1971); Morris/Hamilton (1965). - Vgl. u.a. auch M. Nadin (1981) oder K.D. Dutz (1983). J.M. Lotman ( 3 1992). Vgl. R. Kloepfer (1975), S.l 12-124. W. Nöth (1985), S.388.
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
sitzt, findet sich in den verschiedenartigsten Ausprägungen; sei es beispielsweise, daß der Aussage eines solchen Kunstwerkes kein Wahrheitswert im Sinne der modernen Logik zugesprochen wird63, oder das Kunstwerk etwa als referentiell polyfunktionaler Zeichenkomplex mit einer Mehrzahl verschiedener möglicher Bedeutungen interpretiert wird. So heißt es etwa bei Umberto Eco: In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt. 6 4
Dieser und all den anderen Varianten ist gemeinsam, daß hiernach der Referenzgegenstand des Zeichenkomplexes nicht oder nicht eindeutig bestimmbar ist, sondern bei dessen Rezeption gleichsam erst erschaffen wird. Dabei wird der Rezipient wiederum auf das Kunstwerk selbst (ohne unmittelbaren semiotischen Bezug auf einen außersemiotischen Gegenstand) gelenkt, um aus diesem Kunstwerk dessen allein fiktionale (und somit nicht außersemiotisch überprüfbare) Bedeutung für sich selbst konstituieren zu können. An dieser Stelle wird deutlich, daß auch die Fiktionalitätsthese mit der Autonomiethese verwandt ist, und anstatt von Fiktionalität auch von kontextautonomer Referenz eines Kunstwerkes gesprochen werden kann. Der Konnotationsthese nach besteht die Ästhetizität eines Textes bzw. eines Zeichenkomplexes in einer sekundären Funktion, die der Komplex über diejenige des nichtkünstlerischen Zeichengebrauchs hinaus erfüllt. Dies läßt sich in Anlehnung an Roland Barthes mit der (auf einem bilateralen Zeichenbegriff aufbauenden) Formel ((aRb)Rb') ausdrücken, wobei a für einen Ausdruck, b für dessen Bedeutung (oder besser Funktion) und R als Relationszeichen stehen. Danach hat ein bestimmtes Zeichen eine bestimmte kommunikative Funktion, symbolisiert durch (aRb), und wird als Ganzes durch eine weitere Funktion oder Bedeutung konnotiert bzw. ästhetisiert, ((aRb)Rb1).65 Entsprechend der fiktionalen Bedeutung muß nun
63 64
65
Vgl. T.A. van Dijk (1972). U. Eco ( 2 1967, dt. 1973), S.30. - Ähnlich interpretiert auch Siegfried J. Schmidt Ästhetizität nicht als Eigenschaft des Kunstwerkes selbst, sondern als Funktion die dieses innerhalb des Kommunikationsprozesses einnimmt, und stellt dabei der Polyfunktionalität der Textproduktion die (entsprechende) Polyvalenz der Textrezeption gegenüber (Schmidt 1971; vgl. S.J. Schmidt 1974). Dazu u.a. auch B. Abend (1985), S.64-98; G. Gabriel (1975); J. Landwehr (1975). Vgl. R. Barthes (1964) und (1970). Als weitere Vertreter der Konnotationsthese, die jeweils sehr verschiedene, wenn auch hier nicht weiter zu diskutierende Konzeptionen
Literarische Kommunikation
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auch die konnotative Bedeutung des Zeichenkomplexes vom Rezipienten aus der spezifischen (formalen wie funktionalen) Struktur dieses Komplexes als (Teil-)Ganzem erschlossen werden, so daß der Rezipient auch hier wiederum auf den Zeichenkomplex selbst verwiesen wird. Unter diesem Aspekt erscheinen die Fiktionalitäts- und die Konnotationsthese zwar nicht als kompatibel, jedoch aus kommunikationsästhetischer Sicht als miteinander verwandt; beide können hierbei als spezifische Ausprägungen der Autonomiethese interpretiert werden. Der Rekurrenzthese zufolge ist die Ästhetizität eines (literarischen) Kunstwerkes durch Wiederholungsstrukturen bestimmter (textueller) Einheiten bedingt. Unter Rekurrenz wird dabei also die syntagmatische Reihung paradigmatisch wie auch immer vergleichbarer Elemente im Text verstanden, gleich, ob es sich hierbei um formale Wiederholungen (wie Alliterationen, Reime usw.) oder um semantische Wiederholungen 66 (wie bei Synonymien oder Hyperonymien) handelt. Diese These vertritt u.a. auch Roman Jakobson in der vielzitierten Formulierung: "Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination." 67 Es wird bereits aus dieser Stelle deutlich, daß die Rekurrenzthese im Gegensatz zu den bereits genannten Thesen keine funktionale Erklärung von Ästhetizität leistet, sondern vielmehr lediglich eine bestimmte Technik des Einsatzes textueller Einheiten umreißt, die den betreffenden Text als künstlerisch erscheinen lassen. Diese Technik erfüllt dabei die kommunikative Funktion, die Textrezeption auf den Text bzw. auf dessen Struktur selbst zu lenken, und kann daher (durchaus in Übereinstimmung mit Jakobson) funktional als Autonomisierungstechnik charakterisiert werden: Semantische Rekurrenz behindert den textuellen Informationsfortschritt, phonetische Rekurrenz lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Ausdrucksform und läßt dadurch die Inhaltsseite in den Hintergrund treten. Jakobson [...] leitet deshalb aus seiner Äquivalenzthese [Rekurrenzthese] die These von der Aufhebung der referentiellen Sprachfunktion [Autonomiethese] ab. 68
Entsprechend verhält es sich mit dem Ästhetizitätskriterium der Konvergenz. Unter Konvergenz ist hier eine Isomorphie zwischen Form und kommunikativer Funktion des entsprechenden Kunstwerkes zu verstehen. dieser These vertreten, sind etwa zu nennen: J.M. Lotman ( 3 1992); A. Martinet (1967); T. Todorov (1967). Vgl. auch die zum Teil kritischen Darstellungen von M. Arriv6 (1982); C. Kerbrat-Orecchioni (1977); R. Kloepfer (1975), S.88-100; SchulteSasse/Wemer (1977), S.90-109; K.H. Spinner (1980). 66 67 68
So beispielsweise auch W.A. Koch (1966). R. Jakobson (1960 dt. 1979), S.94. - Vgl. auch J.M. Lotman ( 3 1989), S.158-202. W. Nöth (1985), S.481.
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
Dies läßt sich in Anlehnung an Algirdas-Julien Greimas anhand der sog. Homologisierungsformel verdeutlichen: A:B::A':B' 69 ; hier symbolisieren A und B bzw. A' und B' jeweils zwei Zeichenelemente, die in einer bestimmten Relation zueinander stehen, A:B und A':B', und sich darüberhinaus auch in zwei weiteren (der ersten übergeordneten) Relationen befinden, A:A' und B:B', die zu einer isomorphen Struktur dieser Elemente fuhren, A:B::A':B' (auf der Grundlage eines bilateralen Zeichenbegriffs wären dies beispielsweise Ausdruck und Bedeutung zweier Wörter, die einander reimen sowie partiell synonym sind und damit zwei parallel verlaufende Rekurrenzen bilden 70 ). Auch dies ist ein Verfahren, die Rezeption des entsprechenden Zeichenkomplexes auf diesen Komplex bzw. dessen Struktur selbst zu lenken und stellt damit als Weiterentwicklung der Rekurrenztechnik genauso wie diese ein Autonomisierungsverfahren dar. Ähnlich verhält es sich nun auch mit der sog. Deviationsthese. Mit dieser wird ebenfalls keine funktionale Erklärung des Ästhetischen geleistet, sondern lediglich ein Verfahren benannt, wie diese Funktion durch einen entsprechenden Einsatz von Zeichen erzielt werden kann. Dieses Verfahren der semiotischen, dabei insbesondere der sprachlichen Deviation besteht in einer Abweichung von einem konventionalisierten Zeichengebrauch innerhalb des betreffenden künstlerischen Zeichenkomplexes, wodurch die Rezeption dieses Komplexes wiederum auf die Art und Weise seiner Gestaltung selbst gelenkt wird 71 . Dabei sind prinzipiell zwei Deviationsmöglichkeiten zu unterscheiden; zum einen die Abweichung von der Konvention des nichtästhetischen Zeichengebrauchs, und zum anderen die Abweichung von der sich durch Wiederholung der entsprechenden Deviationstechniken wiederum etablierten Konvention des ästhetischen Zeichengebrauchs selbst. Am Beispiel des dramatischen Sprachgebrauchs macht beispielsweise auch Manfred Pfister auf diese Unterscheidung aufmerksam: "Dramatische Rede situiert sich also immer im Spannungsfeld von mindestens zwei Abweichungsdimensionen, wobei eine Reduktion der Abweichung von der Normalsprache oft eine Verstärkung der Abweichung von etablierten Konventionen der Bühnensprache implizieren kann und umgekehrt." 72 Aufgrund der Rezeptionslenkung auf die Gestaltung des 69
Vgl. A.-J. Greimas (1972); eine Ausweitung erfährt dieses Modell durch J.-C. Coquet (1973). Dazu auch R. Kloepfer (1975), S.100-112; Schulte-Sasse/Werner (1977), S.7389 und S. 124-136; J. Trabant (1977).
70
Zur Isomorphie von phonetischen und semantischen Rekurrenzen vgl. insbesondere auch R. Jakobson (1960, dt. 1979); J.M. Lotman ( 3 1989), S.179. Zur Deviationsthese vgl. etwa M. Geier (1983), S.25-27; W A. Koch (1983); R. Posner (1980); M. Riffaterre (1978); J. Striedter (1969). M. Pfister ( s 1988), S. 151. - Zur dramensprachlichen Deviation vgl. auch Kap. 3.3.
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Literarische K o m m u n i k a t i o n
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Kunstwerkes selbst kann die Deviation schließlich ebenfalls als Autonomisierungsverfahren interpretiert werden. Zurückblickend auf die hier abrißartig dargestellten Ästhetizitätsthesen kann nun festgehalten werden, daß die Autonomiethese, welche die Ästhetizität eines Kunstwerkes in dessen Autoreflexivität für den Rezipienten interpretiert, in der neuzeitlichen Ästhetikdiskussion eine zentrale Position einnimmt, da andere prominente Ästhetizitätsthesen entweder lediglich verschiedene funktionale Ausprägungen dieser Autonomie oder diverse formale Verfahren zur Lenkung der Rezeption auf das Kunstwerk bzw. dessen Gestaltung selbst zum Gegenstand haben. Dies läßt sich graphisch folgendermaßen zusammenfassen ( A b b . l 1):
A b b . 1 1 : Funktionale A u s p r ä g u n g e n ästhetischer A u t o n o m i e und formale Autonomisierungsverfahren
Es wurde bereits wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß die ästhetische Autonomie sowie deren verschiedene Ausprägungen nicht dem Kunstwerk per se eigen sind, sondern vielmehr erst durch dessen Rezipienten konstituiert werden, indem seine Rezeption durch verschiedenartige Verfahren der Rezeptionslenkung auf den Kunstgegenstand selbst gerichtet wird. Eine wichtige Bedingung hierzu ist diejenige, daß der betreffende Rezipient die von dem entsprechenden Produzenten angewandten Autonomisierungsverfahren bzw. die durch deren Anwendung entstandenen Strukturen als solche erkennt und anerkennt sowie den Zeichenkomplex folglich als autonom und damit als ästhetisch interpretiert. Diese wichtige Bedingung, mit der die Autonomie als Funktion des ästhetischen Zeichenkom-
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
plexes selbst um den entsprechenden funktionalen Aspekt der Rezeption dieses Komplexes ergänzt wird, kann im Rahmen dieser Erörterung entsprechend als Autonomieakzeptabilitätsthese charakterisiert werden. 73
Zur Akzeptanz von Ästhetizität beim Rezipienten vgl. auch R. Jakobson (1936, dt. 1979); W.A. Koch (1981); G. Kurz (1979); Ch. Morris (1971); R. Posner (1980).
3. Dramatische Kommunikation 3.1 Inszenierungstext und Textinszenierung Auf der Grundlage der oben eingeführten Grundelemente und Funktionen 74 semiotischer Interaktion im allgemeinen können nun die Grundelemente und Funktionen dramatischer Kommunikation im besonderen entwickelt werden. Dabei wird das Drama selbst als eine Spezialform ästhetischer Texte 75 interpretiert. Über die spezifischen Eigenschaften, die diese Textgattung von anderen Gattungen unterscheidet, herrscht in der wissenschaftlichen Diskussion keine Einigkeit; als Kriterien werden etwa genannt: Absolutheit (das Fehlen einer textvermittelnden Kommunikationsgröße), Performativität (die Inszenierbarkeit des Textes auf der Bühne), Multimedialität (der Einsatz verschiedenartiger Zeichensysteme bei der Inszenierung) oder Kollektivität (der Rezeption durch das Theaterpublikum) 76 . All diese Eigenschaften müssen in der folgenden Konzeptionierung und Modellierung dramatischer Kommunikation berücksichtigt werden. Dabei erscheint jedoch das Kriterium der Performativität bzw. Inszenierbarkeit als bestimmend, da sich hieraus die diversen anderen Eigenschaften ableiten lassen. Die Inszenierbarkeit eines Dramas besteht darin, daß dieses im Gegensatz zu Texten anderer Literaturgattungen in der Regel 77 sowohl als schriftsprachlicher Text als auch in einer Reihe konkreter Theateraufführungen vorliegt. Dabei ist der schriftsprachliche Text auf die Inszenierung hin gestaltet, während die Inszenierung umgekehrt diesen Text in ein konkretes Bühnengeschehen umsetzt. Insofern bedingen sich hier Text und Inszenierung gegenseitig, so daß beim Drama in diesem Fall zwei
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Vgl. Kap. 1. Vgl. Kap.2. W. Pfister( s 1988),S.18-33. Von der Diskussion anderer Fälle kann hier angesichts der drei zu behandelnden Dramenautoren DUrrenmatt, Handke und Weiss abgesehen werden.
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
Typen von Zeichenkomplexen unterschieden werden können; zum einen der Inszenierungstext und zum anderen die Textinszenierung. 78 Zwischen dem Dramentext und der Drameninszenierung herrscht also eine enge Beziehung, die durch die textuelle Transformation und die entsprechende textuelle Isomorphie zwischen den beiden bedingt ist. In Anlehnung an Roman Ingardens Unterscheidung zwischen dramatischem Haupttext und Nebentext 79 besteht diese textuelle Isomorphie stark vereinfacht in der Entsprechung von den schriftlich festgehaltenen Dialogpassagen des Haupttextes und den gesprochenen Passagen der Inszenierung sowie in derjenigen zwischen dem Nebentext und dem nichtsprachlichen sowie paralinguistischen Zeichengebrauch in Kulisse, Kostümierung oder Schauspielerverhalten. Damit erweist sich die Inszenierung gegenüber dem allein schriftlich vorliegenden Text als isomorpher und dabei multimedialer sowie multidimensionaler Zeichenkomplex, zu dessen Konstituierung eine Vielzahl von Kunstgattungen beiträgt80. Trotz dieser textuellen Isomorphie zwischen dem schriftlichen Dramentext und der entsprechenden multimedialen Inszenierung besteht jedoch zwischen den beiden keine l:l-Entsprechung 81 . Hierfür sind unter textsemiotischem Gesichtspunkt mindestens zwei Gründe anzuführen. Erstens
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79 80
81
Zum Transformationsverhältnis von Inszenierungstext und Textinszenierung vgl. J. Alter (1981); K. Elam (1980), S.3-19; E.W.B. Hess-Lüttich (1985), Bd.ll, S.18-40; P. Pavis (1982), S.131-161; M. Prochazka (1984); G. Wienold (1972), S.123-124. Vgl. auch die Literaturangaben in Anm.81. Sowohl der Inszenierungstext als auch die Textinszenierung können als Texte im semiotischen Sinne verstanden werden (vgl. Kap.3.1.). Der Vereinfachung halber wird jedoch im folgenden örtlich der Terminus Text hyposem allein für die Schriftfassung und der Terminus Inszenierung für die konkrete Aufführung des Dramas verwendet. Vgl. R. Ingarden ( 4 1972), S.220-222. Eine Übersicht über die sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichentypen des Theaters gestatten beispielsweise E. Fischer-Lichte ( z 1988), B d . l ; W. Pfister ( 5 1988), S.25-29. Vgl. auch U. Bayer (1980); J.R. Brown (1966) und (1972); U. Eco (1972); K. Elam (1980), S. 19-31 und S.49-87; A. Eschbach (1979), S.142-180; A. Helbo (1975); E.W.B. Hess-Lüttich (1982) und (1985), Bd.II, S.48-60; J. Honzl (1938) und (1940); T. Kowzan (1968) und (1975); T. de Lauretis (1979); P. Pavis (1976) und (1982); D. Pladott (1982); D. Roventa-Frumusani (1984); S. Skwarczynska (1974); J.L. Styan (1960) und (1975); J. Veltrusky (1964); B. Wuttke (1973). - Die theoretische Grundlage dieser wie auch anderer Untersuchungen bilden vor allem die Arbeiten von C.S. Peirce sowie C.W. Morris; vgl. etwa W. Köller (1979). Vgl. auch K. Elam (1980), S.208-210; B. Erbe (1983); E. Ertel (1977), S.131-144; A. Helbo (1975b); M. Pfister ( 5 1988), S.34-41. Vgl. auch die Angaben in Anm.78.
Dramatische Kommunikation
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besteht zwischen den wie auch immer bestimmten Elementen des Textes 82 und denjenigen der Inszenierung oftmals keine Funktionsidentität; so entsteht etwa bei der Inszenierung aufgrund der Konkretisierung des Textes gegenüber diesem ein schriftlich nicht fixierbarer Informationsüberschuß 83 (beispielsweise durch die variable Intonation bei der gesprochenen Wiedergabe des Haupttextes oder die bühnenspezifische Ausgestaltung der Kulisse). Zweitens ergibt sich darüberhinaus aus diesen funktional differierenden Zeichenelementen der Inszenierung ein neuartiger Zeichenkomplex, der sich gegenüber dem schriftlichen Text nicht allein durch Multimedialität und erhöhte Informativität, sondern vor allem auch durch eine (potentiell) andere Struktur und damit eine andere Funktion unterscheidet. Das hiermit grob skizzierte Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung läßt sich unter Rückgriff auf das Kommunikationsmodell nach (Abb.7) graphisch wie auf der folgenden Seite (Abb. 12) gezeigt veranschaulichen. Anhand dieses Modells können nun die einzelnen Grundelemente der dramatischen Kommunikation sowie deren Funktionen im Inszenierungstext und in der Textinszenierung erläutert werden. Die Elemente von Text und Inszenierung stehen dabei wie gezeigt in einem Verhältnis der partiellen Isomorphie, so daß sie hier durch Indices (t für Textelemente und i für Elemente der Inszenierung) markiert werden. Als Produzent und als Rezipient sind in beiden Fällen die Figuren des Dramas eingesetzt; dabei wird hier die Figurenmenge aus Gründen der Übersichtlichkeit auf zwei Figuren, die jeweils sowohl als Produzent als auch als Rezipient auftreten und dabei die entsprechende kommunikative Funktion übernehmen, beschränkt. Es ist hierbei des weiteren zu berücksichtigen, daß diese Figuren lediglich durch den Künstler geschaffene Beteiligte an einer ebenso nur geschaffenen semiotischen (und daneben auch nichtsemiotischen) Interaktion sind, deren Persönlichkeit oder Charakter jeweils nicht objektiv gegeben ist, sondern vielmehr vom Rezipienten des Dramas allein aus ihrem Handlungsanteil am Drama selbst erschlossen werden muß 84 ; aufgrund der Konkretisierung des Textes auf der Bühne und der damit verbundenen zusätzlichen Information ist dieser dramentextuelle Zur Segmentation dramatischer Texte sh. z.B. B. Asmuth ( 3 1990), S.37-50; E. Ertel (1977), S.134-139; E. Fischer-Lichte ( 2 1988), Bd.3, S.76-85; P. Pavis (1976), S.8-10; M. Pfister ( s 1988), S.307-326; A. Serpieri [et al.] (1981): C. Tindemans (1984). Zu diesem Überschuß an Information bei der Inszenierung gegenüber dem Text vgl. schon F. Gottschalk (1952); R. Ingarden ( 4 1972); F.V. Vodicka (1975). Zur (sprachlichen) Figurencharakterisierung vgl. Kap.3.3.
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
INSZENIERUNGSTEXT
Nebentext At
Hauptkotext At
Figur als Produzent At Figur als Rezipient At
w
> ZSAt
gemeins. Hauptkotext
Hauptkotext Bt
Nebentext Bt
Text At
Figur als Rezipient _
Text Bt
Figur als Produzent • Bt
ZSGt
ZSBt
TEXTINSZENIERUNG
Abb. 12: Inszenierungstext und Textinszenierung
Dramatische Kommunikation
39
Charakter der Inszenierungsfiguren Ai bzw. Bi in der Regel ausgeprägter als derjenige der Textfiguren At bzw. Bt. Bei den Texten, die von der Produktionsfigur an die entsprechende Rezeptionsfigur gerichtet werden, handelt es sich in der traditionellen Form des Dramas um genuin sprechsprachliche Texte, d.h. um Monologe oder Dialogrepliken; daneben bestehen jedoch auch andere Textformen schriftsprachlicher oder gar nonverbaler Art (etwa Briefe oder Gebärden). 85 Diese sprechsprachlichen Texte sind im Dramenhaupttext schriftlich fixiert (Text At bzw. Text B t ) und werden in der Inszenierung sprechsprachlich konkretisiert (Text Ai bzw. Text Bi). Dabei erfolgt nach Einsatz des Dramas jeder Monolog und jede Dialogreplik einer Figur vor dem Hintergrund bereits erfolgter Monologe oder Repliken dieser Figur selbst oder anderer Figuren; diese seit Dramenbeginn bereits erfolgten Monologe und Repliken konstituieren den Dramenkotext der entsprechenden Figur. Im Inszenierungstext ist dieser Kotext im vorausgehenden Haupttext schriftlich fixiert, er kann in diesem Zusammenhang als Hauptkotext charakterisiert werden; in der Textinszenierung konstituiert sich der entsprechende Kotext aus den gesprochenen Teilen der einzelnen Szenen und soll daher als Szenenkotext bezeichnet werden. Entsprechend verhält es sich mit dem außersprachlichen oder außersemiotischen Kontext. Im Inszenierungstext wird dieser schriftsprachlich im Nebentext geschildert; in der Textinszenierung wird er durch Bühnenbild, Maske und Schauspielerverhalten erzeugt. Terminologisch soll daher der Kontext der Inszenierung als Szenenkontext bezeichnet werden. Das sprachliche und nichtsprachliche Zeichensystem der vom Künstler geschaffenen Figuren schließlich wird von diesem auf der Grundlage seines eigenen erworbenen Kodes antizipiert. Im Falle des Inszenierungstextes handelt es sich dabei allein um das Zeichensystem des Dramenautors, im Falle der Inszenierung treten diejenigen der an der Bühnenrealisierung des Dramas beteiligten Künstler wie Schauspieler oder Maskenbildner hinzu. Dieses Inklusionsverhältnis der Zeichensysteme wird in der graphischen Modellierung aus technischen Gründen nicht dargestellt.
Die wie auch immer geartete Wendung der Figuren an das Publikum soll hier zunächst außer acht gelassen werden.
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Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
3.2 Künstler und Publikum Mit Rolf Fieguth lassen sich bei narrativen Texten mindestens fünf verschiedene "Kommunikationsniveaus", d.h. durch verschiedene Typen von Textproduzent und Textrezipient definierte Ebenen der literarischen Kommunikation, unterscheiden: das Niveau N 1 mit den erzählten "sendenden" (S 1) und "empfangenden" (E 1) Personen; das Niveau N 2 mit dem "sendenden" fiktiven Erzähler S 2 und seinem Zuhörer E 2 sowie das Niveau N 3 mit dem Subjekt des Werkganzen S 3 und dem impliziten Empfänger des Werkganzen E 3. Auf den beiden "außertextlichen" Kommunikationsniveaus N 4 und N 5 figurieren der Autor in seiner Rolle als Produzent dieses Werks S 4 und sein Adressat E 4 sowie Autor S 5 und Leser E 5 jeweils ohne literarische Spezifikation ihrer Lebensrollen. 8 6
Der Vereinfachung halber lassen sich diese fünf Kommunikationsebenen in diesem Zusammenhang auf drei Ebenen reduzieren: Erstens die Ebene der semiotisch interagierenden Personen des entsprechenden Textes selbst (Niveau N 1); zweitens die Ebene des fiktiven Erzählers, der die Figuren des Textes und deren Handlungen an einen fiktiven Leser erklärend und interpretierend vermittelt (Niveau N 2); und drittens schließlich die Ebene von Autor und Leser des Gesamttextes (Niveau N 4). Als Merkmal dramatischer Kommunikation kann nun in Anlehnung an diese Konzeption ein Fehlen dieser zweiten Kommunikationsebene von fiktivem Textproduzenten und fiktivem Textrezipienten angenommen werden, d.h. daß bei "dramatischen Texten [...] das vermittelnde Kommunikationssystem also ausfällt" 87 . Danach sind im Bereich der dramatischen Kommunikation lediglich zwei Kommunikationsebenen anzusetzen, diejenige der Figuren und diejenige von Künstler und Publikum. Hinsichtlich der Figurenebene selbst sind jedoch wiederum, wie oben bereits gezeigt, nicht nur eine, sondern vielmehr zwei Kommunikationsebenen zu unterscheiden, diejenige des Inszenierungstextes sowie diejenige der Textinszenierung. Für diese beiden Ebenen muß nun jeweils auch wiederum eine eigene kommunikative Ebene von Künstler und Publikum bzw. von Dramentextproduzent und Dramentextrezipient angesetzt werden 88 ; im Falle des Inszenierungstextes handelt es sich dabei um die Ebene von Autor und
86 87 88
R. Fieguth (1973), S. 186. M. Pfister( 5 1988),S,21. Walter Koch unterscheidet entsprechend zwischen einer inneren und einer äußeren Kommunikationssituation des Dramas; vgl. W.A. Koch (1985). Vgl. auch schon R. Ingarden ( 4 I972), S.403-425.
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Dramatische Kommunikation
Leser, im Falle der Textinszenierung um diejenige von Theaterensemble und Publikum. Die Ebene von Autor und Leser läßt sich nun ebenfalls unter Rückgriff auf das Kommunikationsmodell nach (Abb.7) graphisch wie folgt veranschaulichen (Abb. 13):
Kontext A
gemeins. Kotext
Kotext A
Kontext L
Kotext L
Text
Autor Rezipient der Kritik
• ZSA
Leser
Kritik
ZSG
•
Kritiker
ZSL
Abb. 13: Kommunikationsebene von Autor und Leser des Dramas
Dieses Modell berücksichtigt sämtliche kommunikativen Grundelemente des oben entwickelten allgemeinen Kommunikationsmodells; es gelten hier die genannten kommunikativen Funktionen unter Berücksichtigung der Literarizität und Ästhetizität des Dramentextes. Die Benennung der einzelnen Grundelemente erfolgt hier entsprechend der kommunikativen Spezifika dieser Ebene und weicht daher von derjenigen des allgemeinen Modells ab. So werden der Produzent A und der Rezipient B durch den Autor bzw. durch den Leser des Dramas 89 ersetzt; das Drama selbst wird als Text (d.h. Inszenierungstext) bezeichnet. Produzent B und Rezipient A erscheinen hier terminologisch zusammengefaßt als Kritiker (im weitesten Zur literarischen Kommunikation, insbesondere unter Berücksichtigung der literarischen Rezeption vgl. etwa U. Eco (1990, dt. 1992); G. Harras (1979); D. Harth (1980), (1981) und (1982); W.A. Koch (1971); K. Nyholm (1988); D. Roventa-Frumusani (1984); C. Tindemans (1984). Zur literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung u.a. S. Fish (1970); D. Freundlieb (1980); D. Harth (1984); R. Ingarden (1968); W. Iser (1972); D. Janik (1980); H.R. Jauß (1970) und (1982); H. Link ( 2 1980); G. Säße (1978); E. Tan (1982); F. Vodicka (1975); R. Warning ( 3 1988).
42
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
Sinne) und Rezipient der Kritik; die Kritik selbst ersetzt den Text B90. Der außersprachliche Kontext sowie der sprachliche Kotext der beiden bleibt bestehen (Kontext A, Kontext L sowie Kotext A, Kotext L); es ist dabei zu beachten, daß der Kotext extensional sowohl dramatische als auch nichtdramatische Texte beinhaltet. Auch das Zeichensystem der beiden wird jeweils übernommen (ZSA, ZSL und ZSG); dabei handelt es sich extensional überwiegend um das (schrift)sprachliche System. Die Ebene von Theaterensemble und Publikum läßt sich folgendermaßen darstellen (Abb. 14):
Kontext E
Ensemble
gemeins. Kotext
Kotext E 4= = = = w
Rezipient ^ der Kritik = = = = 0 ZSE
Kontext P
Kotext P
Inszenierung
^w Publikum *
^
Kritik
ZSG
= =
=
=
=•
Kritiker
ZSP
Abb. 14: Kommunikationsebene von Ensemble und Publikum
Analog zu dem Modell der Kommunikationsebene von Autor und Leser werden auch in diesem Modell sämtliche kommunikativen Grundelemente des oben entwickelten allgemeinen Kommunikationsmodells berücksichtigt; auch hier gelten die genannten kommunikativen Funktionen unter Berücksichtigung der Literarizität, Ästhetizität sowie Multimedialität der Drameninszenierung. Änderungen ergeben sich wiederum hinsichtlich einiger Spezifika der Elemente innerhalb der dramatischen Kommunikation. Der TextA ist hier durch die Inszenierung ersetzt, der Textproduzent A durch das Ensemble, und der Textrezipient B durch das Publikum.
90
Textkritiken an die Adresse Dritter bleiben hier w i e bei der Kommunikationsebene v o n Ensemble und Publikum unberücksichtigt.
43
Dramatische Kommunikation
Dabei ist zu beachten, daß es sich sowohl beim Ensemble 9 1 als auch beim Publikum im Regelfalle um Gruppen handelt, die die Inszenierung jeweils gemeinsam auf die Bühne bringen bzw. gemeinsam im Theater rezipieren 92 . Dies gilt gleichermaßen für die unmittelbaren und vom Ensemble wiederum rezipierten Reaktionen des Publikums auf die Inszenierung sowie für Teile der Kritik 9 3 . In dem Modell sind daher die Pfeile, welche die Textproduktion, Textrezeption, Rückkoppelung sowie Interpretation symbolisieren, doppelt eingezeichnet. Der Kontext sowie der Kotext des Ensembles ist unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls zu spezifizieren; es handelt sich hierbei nicht mehr um den Kontext oder Kotext eines einzelnen Textproduzenten, sondern um eine der Mitgliederzahl des Ensembles entsprechende Menge an Kontexten und Kotexten, die sich jeweils mehr oder weniger überschneiden. Entsprechendes gilt für Kontext und Kotext des Publikums sowie für das (verbale und nonverbale) Zeichensystem von Ensemble und Publikum. Die beiden Kommunikationsebenen von Autor und Leser sowie von Ensemble und Publikum stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Zum einen aufgrund der partiellen Isomorphie von Inszenierungstext und Textinszenierung, zum anderen aber auch dadurch, daß Autor und Leser selbst an der Kommunikation auf der Ebene von Ensemble und Publikum beteiligt sein können. 9 4 So kann der Autor eines Dramas sowohl als Mitglied des Ensembles bei der Inszenierung mitwirken als auch diese Inszenierung als Mitglied des Publikums rezipieren 95 . Darüberhinaus verfaßt der Autor den Inszenierungstext im Regelfalle als Vorlage für eine solche Inszenierung, so daß er auch unabhängig von einer solchen direkten Mitwirkung an der Inszenierung selbst an deren Produktion mit beteiligt ist; diese Textbeteiligung des Autors an der Inszenierung wird im Gattungsmodell dramatischer Kommunikation durch einen Pfeil vom Autor zur Inszenierung und
91
Eine
Übersicht
Uber
die
verschiedenen
Mitglieder
des
Ensembles
Produktionsprozeß gewährt M. Hürlimann (1966), S.347. Zur
und
deren
Inszenierungsarbeit,
insbesondere des Schauspielers vgl. B . Asmuth ( 3 1 9 9 0 ) , S . 1 8 3 - 2 0 0 ; M. Dreier (1984); N. Gutenberg (1990); K.S. Stanislawski (1958); M. Thiele (1990). 92
Zur Kollektivität und Unmittelbarkeit der Inszenierungsrezeption durch das Publikum vgl. auch M. Pfister ( s 1 9 8 8 ) , S . 6 2 - 6 6 ; P. Schaeffer (1975); K. Elam (1980), S.87-97.
93
Dies widerspricht der These Georges Mounins von der Akommunikativität des Theaters; vgl. G. Mounin (1970). Die Bidirektionalität des Theaters wird insbes. beim sog. Happening deutlich; dazu etwa W. Nöth (1972). Vgl. auch Balcerzan/Osinski (1974); A. Helbo (1975a) und (1981).
94
B . Asmuth ( 3 1 9 9 0 ) , S . 5 8 - 6 1 ; L.A. Davey (1984).
95
Die Rezeption des Inszenierungstextes durch dessen Autor ist hier bereits durch die Rückkoppelung bei der Textproduktion berücksichtigt.
44
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
weiter zum Publikum 96 symbolisiert. Der Leser seinerseits kann ebenfalls entweder Mitglied des Ensembles sein (der Schauspieler etwa, der den Text gelernt hat), oder als Mitglied des Publikums die Bühnenrealisierung des ihm bereits bekannten Textes rezipieren 97 ; im Gattungsmodell dramatischer Kommunikation (Abb. 15) werden diese verschiedenen Beteiligungsmöglichkeiten von Autor und Leser an der Inszenierung durch unterbrochene Linien symbolisiert. Abschließend muß in dem hier konzipierten Modell die sog. Wendung der Figuren an das Publikum selbst berücksichtigt werden, mit welcher diese aus der Kommunikationsebene der Figuren ausbrechen und ihre Worte direkt an den Rezipienten des Dramas richten. Aus darstellungstechnischen Gründen wird diese Wendung hier lediglich durch einen Pfeil von der Text- bzw. Inszenierungsfigur B an den Leser bzw. an das Publikum symbolisiert. Das Gattungsmodell dramatischer Kommunikation, das hiermit den historisch bedingten Regelfall solcher Kommunikation darstellt, hat danach folgende Gestalt 98 (Abb. 15):
Vgl. etwa E.W.B. Hess-Lüttich (1991). - Nicht gesondert hervorgehoben wird die Inszenierungskritik, die sich nicht an das Ensemble, sondern an den Autor selbst richtet. Im Falle der Inszenierungsrezeption durch den Autor oder durch den Leser kann der Inszenierungstext als Teil des j e w e i l s entsprechenden Kotextes interpretiert werden. Andere, sich hiervon aufgrund verschiedenartiger Darstellungsinteressen
unterschei-
dende Gattungsmodelle liegen beispielsweise vor bei: K. Elam (1980), S.39; E.W.B. Hess-Lüttich (1985), Bd.II, S.40, und (1991); H. Schoenmakers (1982), S.l 15.
45
Dramatische K o m m u n i k a t i o n
Kontext Kotext A
Autor
gemeins. Hauptkotext
Hauptkotext At
Nebentext At
Figur als Produzent At Figur als Rezipient At
«
Text At
• ZSAt
Rezipient der Kritik
Kontext Kotext F, E
Ensemble
•
Text Bt
ZSGt
Leser
Nebentext Bt
4
Figur als Rezipient Bt Figur als Produzent Bt
ZSBt
ZSG
Kritiker
ZSL
I Kotcxt Kontext P P
gemeinsamer Kotext Szenenkontext Ai
Szenen-1 kotext I Ai
gemeins. I SzenenSzenen- | kotcxt kotext Bi
Figur als Produzent _
Text Ai
Figur als Rezipient Ai
Text Bi
ZSAi Rczipient der Kritik
Hauptkotext Bt
Textkritik ZSA
If
I Kotcxt Kontext L L
gemeinsamer Kotext
ZSGi
ZSG
«= =
Publikum !
Figur als Rczipient Bi Figur als Produzent Bi ZSBi Kritiker
Inszenierungskritik ZSE
Szenenkontext Bi
ZSP
A b b . 1 5 : G a t t u n g s m o d e l l dramatischer K o m m u n i k a t i o n
46
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
3.3 Sprache Ein wichtiger Reflexionsgegenstand der Dramenautoren Dürrenmatt, Handke und Weiss stellt neben der dramatischen Kommunikation überhaupt der dramatische Sprachgebrauch dar. Als wichtige Gesichtspunkte dieser Reflexion erweisen sich die Deviation der Dramensprache 99 , die sprachliche Charakterisierung der Bühnenfiguren sowie die Gestaltung und Funktion von Monologen und Dialogen. Hinsichtlich dieser Reflexionen ist die Unterscheidung zwischen dem sog. inneren und äußeren Kommunikationssystem sowohl beim Text als auch bei der Inszenierung, d.h. also jeweils der Figurenebene und der Ebene von Künstler und Publikum, von entscheidender Bedeutung 100 . Die Sprachverwendung auf der Figurenebene, d.h. innerhalb des Textes oder der Inszenierung selbst, konstituiert, gleich wie sie auch immer gestaltet ist, eine text- bzw. inszenierungsimmanente Norm, die durch das "Moment der situativen Gebundenheit an das hic et nunc der Gesprächsteilnehmer 1 " 01 des Haupttextes (daneben aber auch durch die Kohäsion und Kohärenz des Nebentextes) ermöglicht wird. Eine Deviation des dramatischen Sprachgebrauchs ist daher allein gegenüber dem nichtliterarischen bzw. nichtdramatischen Sprachgebrauch oder gegenüber demjenigen in anderen Dramen, d.h. gegenüber dem literarischen Kotext des Dramenganzen, denkbar. Solche Abweichungen gegenüber dem nichtdramatischen Sprachgebrauch können im Bereich der Lexik etwa in der Verwendung von Neuschöpfungen, Entlehnungen oder Archaismen bestehen, sowie im Bereich der Syntax durch den Einsatz rhetorischer Mittel, durch Rhythmisierung oder Verifizierung u.a.m. des Textes erfolgen 102 . Abweichungen gegenüber dem konventionalisierten Sprachgebrauch in anderen Dramen können entweder mit einer bewußten Annäherung an den nichtdramatischen Sprachgebrauch der Allgemeinsprache oder einer anderen Sprachvarietät (etwa eines Dialekts oder einer Fachsprache) oder mit der Schaffung neuartiger, bis dahin unbekannter Deviationsmerkmale erzielt werden; die erste Möglichkeit kann hier kurz als Realismusprinzip, die zweite als (ästhetisches) Innovationsprinzip charakterisiert werden. Dies läßt sich graphisch wie folgt veranschaulichen (Abb. 16):
99 100 101
102
Vgl. dazu schon Kap.2.2. Vgl. hierzu bereits R. Ingarden ( 4 1972), S.403-425; dazu auch W.A. Koch (1985). M. Pfister ( s 1988), S.149. - Vgl. dazu auch R. Blank (1969); A. Hillach (1970/71); A.K. Kennedy (1975), S.237-243: P. Larthomas (1972). Vgl. hierzu auch E.W.B. Hess-Lüttich (1977); S.J. Schmidt (1968).
Dramatische Kommunikation
47
Abb. 16: Typen dramensprachlicher Deviation
Die Charakterisierung einer Dramenfigur kann auf vielfaltige Art und Weise erfolgen 103 . Dabei ist zu beachten, daß eine solche Charakterisierung jeweils von einem charakterisierenden Künstler, d.h. dem Autor oder den entsprechenden Mitgliedern des Ensembles, vorgenommen wird und sich in den charakterisierenden Merkmalen des Dramenganzen erschöpft 104 . Selbst eine grobe kommunikationswissenschafitlich-semiotisch ausgerichtete Systematisierung dieser Möglichkeiten muß jedoch mindestens folgende Unterscheidungsparameter berücksichtigen: Erstens die Unterscheidung zwischen Inszenierungstext und Textinszenierung; dabei ist zu beachten, daß die Charakterisierung im Inszenierungstext, sei es in dessen Hauptoder in dessen Nebentext, allein schriftsprachlich fixiert wird, während diejenige in der Textinszenierung sowohl (vor allem Sprech-) sprachlich als auch nichtsprachlich (durch Gestik, Kostümierung etc.105) erfolgt, wobei die Figur in der Regel bis zu einem bestimmten Grade konkretisiert, d.h. deren Charakterisierung gegenüber derjenigen des Inszenierungstextes ausgebaut wird. Zweitens die Unterscheidung zwischen jeweils impliziter oder expliziter Eigen- oder Fremdcharakterisierung der Figuren; je nachdem, ob die entsprechende Figur bestimmte Charakterzüge auf der Figurenebene
103
104
105
Zu den Techniken der Figurencharakterisierung vgl. zusammenfassend beispielsweise W. Pfister ( 5 1988), S.250-264, oder B. Asmuth ( 3 1990); S.85-101. Vgl. J.M. Lotman ( 3 1989), S.340-347. Dazu auch die Arbeiten von M. Dinu, z.B. (1968), (1972) oder (1984). Hierzu J.L. Styan (1975), S.37-47.
48
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
intentional oder nichtintentional selbst offenbart, oder ob auf solche Charakterzüge durch andere Figuren oder Szenenelemente intentional bzw. nichtintentional hingewiesen wird (sprachlich etwa durch eine Selbst- bzw. Fremderklärung der Figur oder durch den Gebrauch bestimmter Situationsregister). Und drittens schließlich die Unterscheidung zwischen figurenebenenimmanenter Rezeption (durch die Figuren selbst) und figurenebenentranszendenter Rezeption (durch den Leser bzw. durch das Publikum) der entsprechenden Charakterisierung; hierbei ist zu beachten, daß ein und dieselbe Charakterisierung j e nach Vorwissen der betreffenden Figuren bzw. des Publikums in Bezug auf ihre Funktion fiir die entsprechende Rezipientengruppe differieren kann. Diese diversen Parameter gestatten nun die Unterscheidung von 32 Möglichkeiten der Figurencharakterisierung, die sich tabellarisch wie auf der gegenüberliegenden Seite gezeigt (Tab.2) zusammenfassen lassen. Der dritte Bereich dramensprachlicher Reflexion bei den Autoren Dürrenmatt, Handke und Weiss ist derjenige der Dialoge und Monologe. Diese sollen hier als Sonderformen semiotischer Interaktion verstanden werden, die sich durch den Gebrauch sprachlicher Zeichen von anderen Formen semiotischer Interaktion unterscheiden. Dabei soll unter einem Dialog eine bi- bzw. polydirektionale und unter einem Monolog eine monodirektionale sprachliche Interaktion verstanden werden. 106 Im Bereich der dramatischen Kommunikation müssen hier wiederum die Kommunikationsebenen der Figuren, von Künstler und Publikum sowie darüberhinaus von Figuren und Publikum berücksichtigt werden. Auf der Figurenebene sind sowohl monodirektionale als auch bi- bzw. polydirektionale sprachliche Interaktionen möglich; dabei ist zu beachten, daß diese Interaktionen im Inszenierungstext schriftsprachlich fixiert und in der Textinszenierung sprechsprachlich konkretisiert werden. Die sprachliche Interaktion zwischen Künstler und Publikum verläuft zunächst monodirektional, da sie allein in der Übermittlung des Textes oder der Inszenierung an den Leser oder das Theaterpublikum besteht; auch hier ist 106
Eine Übersicht über die linguistische Gesprächsanalyse gestatten beispielsweise Brinker/Sager (1989); Henne/Rehbock ( 2 1982); Schank/Schoenthal ( 2 1983), S.61-103. Zum dramatischen Dialog und Monolog vgl. u.a.: H.C. Angermeyer (1971), S.l 18-126; B. Asmuth ( 3 1990), S.62-84; H. Brinkmann (1965); D. Burton (1980); R. Cohn (1971); K. Elam (1980), S.135-207; E. Fischer-Lichte (1984); S. Grosse (1972); K. Hamburger (1968); G. Harras (1978); R. Harweg (1971); E.W.B. Hess-Lüttich (1981), Bd.I, (1986a) und (1986b); R. Ingarden (1960), S.403-425; A.K. Kennedy (1983); T. Klammer (1973); G. Lerchner (1982); J. Mukarowsky (1967), S.108-153; W.G. Müller (1982); M. Pfister ( 5 1988), S.180-219; H S. Scherer (1984), S.14-180; R. Schmachtenberg (1982); G. Wienold (1986).
Dramatische Kommunikation
Inszenierungstext
impliziter Eigenkommentar (immanent) impliziter Eigenkommentar (transzendent) expliziter Eigenkommentar (immanent) expliziter Eigenkommentar (transzendent) impliziter Fremdkommentar (immanent) impliziter Fremdkommentar (transzendent) expliziter Fremdkommentar (immanent) expliziter Fremdkommentar (transzendent) Tab.2:
49
Textinszenierung
Haupttext
Nebentext
sprachliche Elemente
nichtsprachl. Elemente
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Möglichkeiten der Figurencharakterisierung
zu beachten, daß die Interaktion von Autor und Leser allein schriftsprachlich, diejenige von Ensemble (mittelbar damit auch von Autor) und Publikum hingegen (sprech)sprachlich wie auch nichtsprachlich erfolgt. Auf diese Übermittlung des Textes bzw. der Inszenierung sind jedoch, wie oben bereits gezeigt, durchaus Reaktionen von Leser oder Theaterpublikum
50
Gattungsmodell dramatischer Kommunikation
möglich; beim Leser wird eine solche Reaktion im Regelfalle versetzt durch eine wie auch immer geartete (sprachliche oder auch nichtsprachliche) Kritik an den Autor erfolgen, beim Theaterpublikum entweder ebenfalls versetzt oder durch unmittelbare Äußerungen während der Inszenierung. Eine sprachliche Interaktion zwischen Figur und Publikum erfolgt allein monodirektional, indem die Figur aus der Figurenebene des Textes oder der Inszenierung ausbricht und sich direkt an den Dramenrezipienten wendet; da dies durch den Autor bzw. dessen Text vorgegeben geschieht, ist hier eine Reaktion des Rezipienten allein gegenüber dem betreffenden Künstler, nicht aber gegenüber der Figur selbst denkbar. Dies läßt sich nun abschließend durch folgendes Schema veranschaulichen (Abb. 17):
Abb. 17: Dramatischer Monolog und dramatischer Dialog
Reflexion dramatischer Kommunikation bei Friedrich Dürrenmatt
1. Text und Inszenierung 1.1 Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung Dürrenmatts Reflexion des Entsprechungsverhältnisses von schriftlichem Dramentext und dessen Inszenierung auf der Bühne umfaßt sowohl Überlegungen allgemeinen Charakters als auch davon abzuleitende, vor allem gattungstypologische Erwägungen. - Der Interpretation des Dramentextes als Bühnenpartitur, die sich ebenfalls aus Dürrenmatts Konzeption des Verhältnisses von Text und Inszenierung ableitet, ist das nachfolgende Kapitel gewidmet. Dürrenmatts allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Text und Inszenierung weisen eher auf das Unterscheidende als auf das Gemeinsame der beiden hin. So äußert er etwa in den "Sätzen über das Theater", daß "Aufführung und Stück nie identisch" seien: "Die Aufführung ist ein auf der Bühne mehr oder weniger realisiertes Stück, das Stück die mehr oder weniger genaue Vorlage für eine Auffuhrung" 1 . Dabei geht es hier nicht allein um die prinzipielle Ersetzung des schriftlichen Haupttextes durch gesprochene Passagen und die bühnen- sowie schauspieltechnische Ausgestaltung des Nebentextes durch nonverbale Mittel selbst2, sondern vor allem um die hiermit verbundene formale und funktionale Variabilität einer Inszenierung gegenüber dem Text. Diese Variabilität ist durch die jeweils spezifischen Bedingungen der Textreproduktion bestimmt und besteht darin, daß sowohl der Text als auch die entsprechende Inszenierung eigene verbale bzw. nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten besitzen, die sich nicht in einem 1:1-Verhältnis entsprechen, sondern jeweils formal wie funktional eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Damit weist Dürrenmatt der Textreproduktion nicht die Rolle einer isomorphen Wiedergabe, sondern einer kreativen Weiterentwicklung des Textes mit anderen Ausdrucksmitteln zu. Er selbst räumt hierbei den Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne sowohl produktions- als auch wirkungsästhetisch Vorrang vor denjenigen der
F. Dürrenmatt: "Sätze über das Theater" (1970) [WA (= Werkausgabe) Bd.24, S.190]. Zu den Regieanweisungen in Dürrenmatts Komödien vgl. z.B. G. Westphal (1964).
54
Friedrich Dürrenmatt
Schriftfassung ein, da er ihnen eine größere kommunikative Leistungsfähigkeit beimißt: Die Bühne ist immer die Lehrmeisterin des Autors, von ihr kann er immer lernen. Vor allem das Schwierigste: die Unterscheidung, was des Schriftstellers und was des Theaters ist. Wie oft müht sich der Autor am Schreibtisch mit einer Szene ab, die sich dann, kommt sie auf die Bühne, als so nebensächlich erweist, daß sie gestrichen werden kann. Ferner weist jedes Stück Möglichkeiten auf, die erst auf der Bühne sichtbar werden, Wirkungen, an die man nicht im Traume dachte. Anderes dagegen, von dem sich der Autor viel versprach, bleibt wirkungslos. 3
Ein konkretes Beispiel für diese größere kommunikative Leistungsfähigkeit der (in diesem Falle nonverbalen) Ausdrucksmittel der Bühne gegenüber denen des Textes gibt Dürrenmatt in seinem Nachwort zum "Mitmacher" selbst. Es heißt dort zu einer Szene des ersten Teils 4 : "Die Szene enthält mehr Komik, als der Text vermuten läßt, der nicht auf Komik ausgeht: Während Jim etwa die Kiste der Rampe entlang in Richtung Kühlraum rollt, dessen Tür Doc zuvorkommend öffnet, folgt Boss Jim, von dumpfen Ahnungen bewegt, so daß der Eindruck eines Leichenzugs entsteht."5 Ein weiteres wesentliches Merkmal einer Inszenierung besteht für Dürrenmatt neben den ihr eigenen Ausdrucksmitteln in der Unmittelbarkeit und Einmaligkeit, die sie zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Theater und vor einem bestimmten Publikum aufweist. Diese Unmittelbarkeit unterscheidet die Inszenierung vor allem hinsichtlich der Rezeptionsbedingungen vom schriftlichen Text, bei dem diese jederzeit unterbrochen und wiederholt werden kann. "Ein Buch kannst du zweimal lesen, du kannst zurückblättern, bei der Bühne ist alles Gegenwart" 6 meint Dürrenmatt noch 1985 und wiederholt damit schlagwortartig, was er schon 1954 in den "Theaterproblemen" zur Unmittelbarkeit der Bühne ausgeführt hatte: [...] wie ein Theater ohne Publikum nicht möglich ist, so ist es auch sinnlos, ein Theaterstück als eine Art Ode mit verteilten Rollen im luftleeren Raum anzusehen und zu behandeln. Ein Theaterstück wird durch das Theater, in dem man es spielt, etwas Sichtbares, Hörbares, Greifbares, damit aber auch Unmittelbares. Diese seine Unmittelbarkeit ist eine seiner wichtigsten Bestimmungen, eine Tatsache, die in jenen heiligen Hallen, in denen ein Theaterstück von Hofmannsthal mehr gilt als eines von Nestroy und
3 4 s
6
F. Dürrenmatt: "Schriftstellerei und Bühne" (1951) [WA Bd.24, S.18], F. Dürrenmatt: "Der Mitmacher" (1976) [WA Bd.14, S.32f.]. F. Dürrenmatt: Nachwort zu "Der Mitmacher" (1976) [WA Bd.14, S.128], - Vgl. zu Dürrenmatts Reflexion der verbalen Ausdrucksmittel und deren Funktion Kap.3. F. Dürrenmatt zu Ch. Kerr im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" (1985) ["Rollenspiele" (1986), S.46], - Entsprechend die Anmerkung in "Die Frist" (1978), daß die "Bühne [...] - im Gegensatz zum geschriebenen Text - keine Korrektur mehr möglich macht" [WA Bd. 15, S.lSf.].
Text und Inszenierung
55
ein Richard Strauß mehr denn ein Offenbach, oft übersehen wird. Ein Theaterstück ereignet sich. 7
Eine rezeptionsästhetische Differenzierung, wie durch solche Stücke ein solch unmittelbares Erlebnis beim Zuschauer überhaupt hervorgerufen wird, und wie der entsprechende Rezeptionsprozeß durch den Zuschauer selbst mitbestimmt werden kann, erfolgt in diesem Zusammenhang jedoch nicht 8 . Aus den genannten spezifischen Merkmalen, die eine Inszenierung gegenüber der schriftlichen Fassung eines Dramas kennzeichnen, leitet sich für Dürrenmatt eine wichtige Forderung ab. Aufgrund der erheblichen Variationsbreite einzelner Inszenierungen ist es die zentrale Aufgabe der Dramaturgie, von spezifischen Theaterstilen (etwa von denjenigen des epischen oder des absurden Theaters) abzusehen und die allgemeinen Kommunikationsbedingungen der Bühne überhaupt zu beschreiben. Schon 1954 schreibt Dürrenmatt: "Von einer Dramaturgie wäre zu reden, welche die Möglichkeiten nicht einer bestimmten Bühne, sondern der Bühne untersuchen müßte, von einer Dramaturgie des Experiments." 9 Dürrenmatts dramentheoretische Position von den fünfziger bis etwa in die Mitte der siebziger Jahre ist also bezüglich des Entsprechungsverhältnisses von Dramentext und dessen Inszenierung erstens durch die Betonung der formalen und funktionalen Unterschiede zwischen beiden sowie durch den Vorzug, der der Inszenierung gegenüber dem schriftlichen Text hinsichtlich ihrer kommunikativen Möglichkeiten eingeräumt wird, gekennzeichnet. Jan Knopf bewertet dies verhältnismäßig scharf als eine "radikale Absage an die 'Literatur', an den fixierten, unantastbaren Text (die Philologen werden endgültig ausgeschlossen) und die Betonung des Theaters, der Bühne als des einzig 'rechtmäßigen' Orts für die Stücke. [...] Der Text hat ohne die Auffuhrung keine Existenzberechtigung mehr." 10 Einige Jahre darauf ändert sich jedoch Dürrenmatts Position. Enttäuscht durch mißlungene Aufführungen späterer Stücke, hält er nun die prinzipielle Vorrangstellung der Inszenierung gegenüber dem Text nicht mehr aufrecht, sondern relativiert deren Verhältnis zueinander. Dies zeigt sich in Äußerungen, in denen er die Inszenierung beispielsweise als eine "auf einen bestimmten Zeitablauf und auf ganz bestimmte - personelle, lokale, sprachliche - Voraussetzungen reduzierte Realisierung des litera-
7 8 9 10
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WABd.24, S.37], Vgl. dazu Kap.2.1.4. sowie K.ap.2.3.2. Ebd., S.42. J. Knopf ("1988), S.133f. - Vgl. M. Durzak (1972), S.350.
56
Friedrich Dürrenmatt
rischen Textes"" beschreibt. Zwar werden hierbei die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne nicht geleugnet, deren kommunikative Möglichkeiten hinsichtlich der Reproduktion und Vermittlung des literarischen Textes innerhalb einzelner Inszenierungen jedoch erheblich eingeschränkt 12 .An Dürrenmatts frühere allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Text und Inszenierung sowie zu deren jeweils spezifischen Darstellungsmitteln und Wirkungsweisen lassen sich, wie eingangs angedeutet, einige gattungstypologische Überlegungen des Autors anschließen. Dabei sind vor allem seine Auseinandersetzung mit Otto Rommel und seine Überlegungen zum Verhältnis von Tragödie und Komödie, von Drama und Film sowie zu demjenigen von Drama und Prosa von Interesse. Kurz nach Erscheinen von Otto Rommels "Alt-Wiener Volkskomödie" 1 3 Anfang der fünfziger Jahre setzt sich Dürrenmatt als Bühnenautor mit diesem Werk auseinander. Dürrenmatts Ressentiments gegenüber Literaturwissenschaft und Literaturkritik sind bekannt, doch lobt in diesem Falle der Bühnenpragmatiker den theoretisch und historisch orientierten Verfasser, "gleich mit der mehr praktisch als theoretisch brauchbaren Unterscheidung zwischen 'Literaturdrama' und 'Spielstück' zu beginnen" 14 . Diese Unterscheidung ist für Dürrenmatt durch die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Text und Inszenierung motiviert. In einem "Spielstück" werden in stärkerem Maße diejenigen angewandt, die der Inszenierung eigen sind, wobei durchaus aus literaturkritischer Sicht nachteilige Wirkungen auf die Gestalt des Schrifttextes in Kauf genommen werden; in einem "Literaturdrama" werden dagegen eher die für den schriftlichen Text spezifischen Möglichkeiten ausgenutzt, wobei dessen Qualität auch an seiner Umsetzbarkeit in eine Inszenierung, d.h. an seiner Eignung als Spielvorlage, gemessen wird. Dürrenmatt selbst sympathisiert mit dem Spielstück, einer "Gattung also, die durchaus der Bühne bedarf und durchaus für die Bühne geschrieben ist (was freilich das Literaturdrama auch sollte)" 15 . Die Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie ist für Dürrenmatt weniger ein gattungstypologisches, als vielmehr ein produktionsästhetisches
"
F. D ü r r e n m a t t in e i n e m G e s p r ä c h mit P. A. Bloch: Bloch (1980), S.13.
12
Z u D ü r r e n m a t t s S p ä t p h a s e vgl. auch Kap.2.1.6.
13
O. R o m m e l (1952). Z u m Volksstück im allgemeinen und zur W i e n e r V o l k s k o m ö d i e im besonderen vgl. Aust/Haida/Hein (1989).
14
F. Dürrenmatt: "Die alte W i e n e r V o l k s k o m ö d i e " (1953) [ W A Bd.24, S.26],
15
Ebd. - Diese Ideologie scheint in den ersten Stücken ( m a n g e l s B ü h n e n e r f a h r u n g ) noch nicht verwirklicht. Vgl. zu "Es steht geschrieben" etwa H. G o e r t z (1987), S.27.
Text und Inszenierung
57
Problem, das nicht allein anhand des schriftlichen Dramentextes gelöst werden kann. Das Tragische und das Komische sind danach zwei mögliche Wirkungen dramatischer Darstellungsmittel auf der Bühne, die in jeder Textvorlage mehr oder weniger stark fixiert und in jeder Inszenierung mehr oder weniger stark umgesetzt bzw. angewandt werden können. Auch hier sind Dürrenmatts Überlegungen also eher bühnenpragmatischer als dramentheoretischer Natur. So liest man etwa: "Die literarische Unterscheidung zwischen der Tragödie und der Komödie wird von der Bühne, vom Schauspieler her bedeutungslos. Der Dramatiker kann heute nicht mehr von der Bühne abstrahiert werden [...]; das Komödiantische ist das Medium, in welchem er sich bewegen muß, aus welchem er, das ist ein Gesetz, sowohl das Tragische wie auch das Komische zu erzielen hat." 16 Dürrenmatt unterscheidet des weiteren zwischen Theater und Film als verschiedenen Medien: "Theater ist ein großes Fresko, das einen immer wieder lockt - Fernsehen und Hörspiel sind heute die anderen Medien" 17 . Diese unterscheiden sich zwar in ihren jeweils spezifischen Ausdrucksmitteln, besitzen aber, und das ist fiir Dürrenmatt das entscheidendere, eine wichtige Gemeinsamkeit, nämlich die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung, die durch die zeitliche Einheit der Inszenierung bzw. Vorführung bedingt ist: "Im allgemeinen meint man, das Medium eines Bühnenstücks sei das Wort und das Medium eines Films sei das Bild, jenes der Musik die Töne oder der Rhythmus, aber das eigentliche Medium ist die Zeit. Musik, Theater, Film sind Zeitkünste, die Zeit erlebst du unmittelbar, eine Sinfonie, eine Komödie, einen Film erlebst du als Geschehen [...], die Spieldauer ist deine Erlebnisdauer [...]." 18 Die Unmittelbarkeit der Wirkung, die die Inszenierung eines Dramas von dessen schriftlichem Text unterscheidet, wird hier also als gemeinsames Merkmal von Inszenierung und Film, daneben auch Hörspiel und Musik, interpretiert. - Bedauerlicherweise erläutert Dürrenmatt seinen an dieser Stelle vertretenen Zeitbegriff nicht selbst. Es darf jedoch vermutet werden, daß hier unter Zeit sowohl die Dauer als auch der konkrete Verlauf einer Drameninszenierung oder einer Filmvorführung zu verstehen ist, welche die Rezeption nicht unwesentlich mitbestimmen, da der Zuschauer nur wenig Einflußmöglichkeiten auf diese besitzt. An diesen
16
F. Dürrenmatt: "Der Rest ist D a n k " (1960) [WA Bd.26, S.l 11]. - Z u m P h ä n o m e n des K o m i s c h e n , das in Dürrenmatts Dramaturgie eine w i c h t i g e Stelle e i n n i m m t , innerhalb seiner Reflexion dramatischer K o m m u n i k a t i o n keinen selbständigen Bereich ausfüllt, vgl. n e b e n vielen anderen beispielsweise H. Gertner (1984).
17 18
F. D ü r r e n m a t t in e i n e m G e s p r ä c h mit A. Joseph: Joseph (1969), S.26. F. D ü r r e n m a t t zu C h . Kerr im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" ( 1 9 8 5 ) ["Rollenspiele" (1986), S.63],
58
Friedrich Dürrenmatt
konkreten Inszenierungsverlauf seitens des Theaters und die damit verbundene zeitlich eingeschränkte Beeinflußbarkeit des Rezeptionsprozesses seitens des Zuschauers bindet Dürrenmatt nun die Unmittelbarkeit der Wirkung einer Inszenierung auf den Zuschauer. Dürrenmatts Argumentation gerät an dieser Stelle allerdings zu kurz, da hier die für die Unmittelbarkeit der Theaterezeption mindestens ebenso entscheidenden spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne zumindest nicht explizit berücksichtigt sind; diese dürfen und müssen hier wie an anderen Stellen der dramaturgischen Reflexionen Dürrenmatts jedoch mitgedacht werden. Zur Unterscheidung von Drama und Prosa schließlich werden sowohl das Kriterium der zeitlich-rezeptiven Unmittelbarkeit als auch dasjenige der dramen- und damit letztenendes auffuhrungsspezifischen Darstellungsmittel herangezogen. In der Prosa wie im Drama können Tempowechsel und Zeitsprünge in der Darstellung des Geschehens vorgenommen werden; im Drama wird der Zeitverlauf nach Dürrenmatt wie bereits erläutert jedoch im Gegensatz zur Prosa insofern unmittelbar, als daß er auf der Bühne in einem konkreten Ablauf vorgeführt wird, der vom Rezipienten nicht oder nur bedingt gesteuert werden kann: "Im Roman haben Sie die reflektierte Zeit, im Theaterstück lassen Sie die Zeit geschehen." 19 Bezüglich der spezifischen Ausdrucksmittel unterscheidet sich die Prosa nach Dürrenmatt zum einen von der Drameninszenierung. Beim Vergleich seiner Novelle "Die Panne" und deren Komödienfassung weist Dürrenmatt auf Ausdrucksmittel der Inszenierung hin, über die ein geschriebener Text, der nur lesend oder vorgelesen rezipiert wird, nicht verfügt: "War die Novelle nur Sprache, das heißt nichts als die Sprache und die Assoziationen, die sie heraufbeschwört - auch hier nie ganz objektivierbar -, so ist die Transposition auf das Theater Sprache plus Schauspieler plus Bühne: das Inkommensurable nimmt zu."20. Zum anderen unterscheiden sich aber auch die Ausdrucksmittel des schriftlichen Dramentextes von denen der Prosa, da dieser, anders als eine Novelle oder ein Roman, auf eine Textreproduktion durch Schauspieler und Bühne hin angelegt ist, und damit deren spezifische Ausdrucksmöglichkeiten mehr oder weniger berücksichtigt. In dem schon oben herangezogenen Gespräch mit Arthur Joseph erläutert Dürrenmatt dies folgendermaßen: Im Roman kommt alles an die Oberfläche, man kann beschreiben - die Person, die Stimmung, alle möglichen Vorgänge. Sie machen Dialoge und sind als Autor gleichzeitig der Leiter des Geschehens. Sie walten darin völlig souverän. B e i m Drama dagegen ist der Vorgang ganz anders - bei mir wenigstens. [...] Das Wichtigste schreibt man überhaupt
19
F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.18.
20
F. Dürrenmatt: "Die Panne" (1979) [WA Bd.16, S.64],
59
Text und Inszenierung
nicht. Sie schreiben nur ganz bestimmte Resultate einer Denkarbeit, die eben in der Aufführung geleistet werden muß. Die schreiben Sie j a nicht auf. Das heißt:
Sie
arrangieren eine Szene. 2 1
1.2 Der Dramentext als Partitur Dürrenmatt unterscheidet schon sehr früh zwei verschiedene Typen von Dramenautoren. Der erste Typ ist hiernach dadurch charakterisiert, daß er während des Schreibens sehr genaue Vorstellungen davon entwickelt, wie die Inszenierung seines Dramas auf der Bühne im Einzelnen beschaffen sein sollte; der zweite Typ zeichnet sich dadurch aus, daß er solche konkreten Vorstellungen von der Inszenierung seines Stückes nicht entwickelt, sondern offen gegenüber verschiedenartigen Auffiihrungsmöglichkeiten bleibt: Doch, glaube ich, wird es immer zwei Sorten von Theaterautoren geben. [...] Jene, die danach trachten, möglichst genaue Partituren zu liefern, genaue
Szenenanweisungen,
genaue Tempibezeichnungen, Autoren, denen einzig mögliche Aufführungen, Modellaufführungen vorschweben. [...] Die anderen dagegen sehen in ihren Texten eine Substanz, die j e d e s Theater, j e d e Truppe auf eine immer andere Weise zum Erscheinen, zum Leuchten bringen muß [...], wenn es gelingt (und es gelingt nicht immer). Es gibt für sie viele mögliche Aufführungen. 2 2
Diese Unterscheidung zweier Autorentypen impliziert auch ein jeweils anderes Verhältnis von Dramentext und Inszenierung, das von diesen beiden vertreten wird. Der erste Typ strebt danach die Produktion einer möglichst genauen Vorlage an, deren Reproduktion nur wenig Variabilität zuläßt, der zweite ist um eine möglichst offene Textvorlage bemüht, die der Reproduktion auf der Bühne ein verhältnismäßig hohes Maß an Freiheit einräumt. Autoren des ersten Typs versuchen demgemäß, die bühnenspezifischen Ausdrucksmittel schon in der Schriftfassung des Dramas zu fixieren, solche des anderen lassen diese offen und "zweifeln, ob sich die Bühne überhaupt beherrschen lasse, begnügen sich, Theater zu ermöglichen". 23 Dem Vorzug entsprechend, den Dürrenmatt dem Spielstück gegenüber dem Literaturdrama einräumt, sympatisiert er hier mit dem zweiten Typ von Autoren: "Ich zähle mich zu den letzteren - wenn auch mit F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.17f. - Ein oft genannter Unterschied zwischen Drama und Prosa besteht auch im Fehlen einer Erzählperson im Drama; vgl. dazu F. Dürrenmatt: "Aspekte des dramaturgischen Denkens" ( 1 9 6 4 ) [WA
Bd.24,
S. 105]; Gespräch mit A. Joseph (1969), S.16f. F. DUrrenmatt: "Gedanken vor einer neuen Aufführung" (1957) [WA Bd.24, S.74], F. Dürrenmatt: "Schriftstellerei und Bühne" (1951) [WA Bd.24, S.16f.].
60
Friedrich Dürrenmatt
gewissen Einschränkungen. Entscheidend ist für mich der immanente Stil, nicht der äußere.
Es
ist auszudrücken,
was der Autor will, was
ihm
vorschwebt, man hat seine Tonart zu treffen. W i e man das macht, kann verschieden sein, dem Regisseur soll Freiheit, aber keine Willkür gewährt werden." 2 4 Die Art und W e i s e des Einsatzes der schriftlich nur schwer fixierbaren bühnenspezifischen Darstellungsmittel ist danach zwar in das freie Ermessen der j e w e i l i g e n Bühne gestellt, wird aber gleichzeitig durch deren
Angemessenheit
hinsichtlich
der
Intention
des
Autors
in
der
T e x t v o r l a g e eingeschränkt. Um ein tieferes Verständnis von Dürrenmatts Konzeption des Verhältnisses zwischen Dramentext und Inszenierung zu erhalten, ist es sinnvoll, seine zahlreichen Vergleiche, die er zwischen dem Dramentext und einer musikalischen Partitur zieht, näher zu betrachten. S c h o n 1947 vergleicht Dürrenmatt
seinen
Dramentext
mit
den
Noten
einer
Partitur.
Im
einleitenden T e x t zum ersten Wiedertäuferdrama " E s steht g e s c h r i e b e n " schränkt Dürrenmatt die Verbindlichkeit der T e x t v o r l a g e für die Inszenierung ein, "wie denn auch während des ganzen Spiels der Regisseur und die Schauspieler sich viele Einfälle erlauben dürfen, denn wir geben nicht mehr als einige dürftige Noten und Farben zu einer kunterbunten Welt, die gestern genau so war wie heute und morgen." 2 5 Später, so zum Beispiel 1 9 6 8 in den begleitenden B e m e r k u n g e n zu der Shakespeare-Umarbeitung " K ö n i g J o h a n n " , wird der Vergleich deutlicher: " D e r T e x t eines Theaterstückes ist eine Partitur, die a u f der B ü h n e in ein Spiel umgesetzt werden muß. Dieses Umsetzen nennen wir Theaterarbeit." 2 6 Der Dramentext wird hier explizit als Partitur bezeichnet; dessen Inszenierung darf danach als Entsprechung zu der musikalischen Darbietung angesehen werden.
Man
kann ein Musikstück als ein Kunstwerk betrachten, dessen M e d i u m verschiedenartig erzeugte T ö n e sind, die durch die Notierung auf Notenpapier zwar reproduzierbar g e m a c h t werden, deren Qualität und Z u s a m m e n k l a n g j e d o c h nicht unmittelbar aus dem Notenbild der Partitur erschlossen werden kann, sondern
der konkreten,
interpretierenden
Realisierung
der
Töne
bedarf. Überträgt man dies nun mit Dürrenmatt a u f den Dramentext und seine Inszenierung, dann interpretiert man ein inszeniertes D r a m a als ein Kunstwerk, dessen Medium gesprochene Worte und andere, nonverbale Ausdrucksmittel sind, die zwar in einer schriftsprachlichen Form wie auch immer festgehalten werden können und damit reproduzierbar sind, deren F. Dürrenmatt: " G e d a n k e n vor einer neuen Aufführung" ( 1 9 5 7 ) [ W A B d . 2 4 , S . 7 5 ] , F. Dürrenmatt: " E s steht g e s c h r i e b e n " ( 1 9 4 7 ) [ W A B d . l , S . 1 3 ] , F. Dürrenmatt:
"Theaterarbeit. Änderungen" ( 1 9 6 8 )
[WA
B d . l 1, S . 2 0 4 ] ;
Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph [Joseph ( 1 9 6 9 ) , S . 2 0 ] sowie A n m . 2 2 .
- Vgl.
F.
61
Text und Inszenierung
Bedeutung oder Funktion jedoch nur aus dem konkreten Vor-Spiel heraus interpretiert und vermittelt werden kann. Diese Vermutung, daß der Dramentext als Partitur noch einer Interpretation durch die spezifischen sprechsprachlichen und nonverbalen Ausdrucksmittel der ihn inszenierenden Bühne bedarf, wird von Dürrenmatt selbst in der "Anmerkung II" zu "Die Ehe des Herrn Mississippi" bestätigt: "Eine Regiearbeit vermag nur unvollkommen durch die Sprache allein ausgedrückt zu werden, das Buch ist eine unvollkommene Partitur und nur eine Partitur, noch nicht Interpretation. Regie geschieht auf der Bühne. Sie ist ein Interpretieren auf der Bühne mit Schauspielern: sie wird denn auch immer wieder von der Bühne und von den Schauspielern her korrigiert." 27 Entsprechend der Einschränkungen, die Dürrenmatt Mitte der siebziger Jahre hinsichtlich der Textreproduktion und -Vermittlung auf der Bühne zu treffen beginnt, ändern sich in dieser Zeit auch seine Vergleiche zwischen Dramentext und Partitur. Sie sind nunmehr durch eine zunehmende Skepsis geprägt, durch den schriftlichen Text überhaupt eine adäquate Reproduktionsvorlage für eine Drameninszenierung im Sinne des Autors schaffen zu können. So heißt es etwa im "Nachwort" zu "Der Mitmacher": Irgend j e m a n d b e m e r k t e einmal, meine N a c h w o r t e w ü r d e n immer länger. Ich habe vor, das längste zu schreiben, das ich j e schrieb, nicht etwa, u m irgend j e m a n d e m recht zu geben, sondern aus der Einsicht heraus, es sei eigentlich u n m ö g l i c h , eine
halbwegs
b r a u c h b a r e Theaterpartitur herzustellen. Das Wesentliche, was ein T h e a t e r s t ü c k ausmacht, kann doch nicht a u f g e z e i c h n e t werden: der Text ist ein Resultat innerer V o r g ä n g e , nicht mehr, der erbärmliche Klavierauszug einer Partitur. Werktreue ist eine Utopie.
Die
M e i n u n g , auf der B ü h n e m ü s s e nur gespielt werden, w a s geschrieben w o r d e n sei, so e i n f a c h sei die Sache, geht schnell verloren, versucht m a n , sich nach ihr zu richten. Als o b m a n ü b e r h a u p t schreiben könne, w a s man gespielt sehen m ö c h t e ; es ist doch schon unsinnig, m e h r als einige Hinweise für das B ü h n e n b i l d geben zu w o l l e n . 2 8
Die Unzulänglichkeit eines Dramentextes, die sprechsprachlichen und nonverbalen Ausdrucksmittel einer Inszenierung schriftlich festzulegen und vorzuschreiben, die zuvor mit derjenigen einer Partitur, Tonqualität und Klangbild etwa einer Sinfonie festzuhalten, verglichen wurde, wird nun mit derjenigen eines Klavierauszugs, der selbst wiederum eine Reduktion der Partitur darstellt, gleichgesetzt. Im "Nachwort zum Nachwort" ist Dürrenmatts Skepsis noch ausgeprägter, indem er feststellt, "daß es doch eigentlich keine Bühnenpartitur gebe" 29 . Die überlangen Erläuterungen Dürrenmatts
F. Durrenmatt: " A n m e r k u n g II" (1970) [WA Bd.3, S.209f.]; zu den A n s a t z p u n k t e n der Textinterpretation durch die B ü h n e n vgl. die f o l g e n d e n Kapitel. F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der M i t m a c h e r " ) [WA Bd.14, S.97], F. Dürrenmatt: "Nachwort zum N a c h w o r t " (1976; zu "Der M i t m a c h e r " ) [WA Bd. 14, S.323.)
62
Friedrich Dürrenmatt
zum "Mitmacher" haben daher zunächst die "bühnenpraktische" Funktion einer "Ergänzung der Textpartitur" 30 , um auf diesem Wege eine den Vorstellungen des Autors entsprechende Reproduzierbarkeit des Dramentextes auf der Bühne doch noch zu gewährleisten. Doch auch dieser Versuch mißglückt: "Was als Kommentar gedacht war", stellt Dürrenmatt resignierend fest, "als Ergänzung einer Partitur, als Hinweis für Schauspieler, hat sich selbständig gemacht." 31 Der an dieser Stelle nicht näher zu erläuternde Bruch zwischen Dürrenmatts dramatischem Schaffen und der Bühne, der sich in seinem letzten Stück "Achterloo" fortsetzt, wird hier auch in seiner theoretischen Reflexion der Kommunikationsverhältnisse auf bemerkenswerte Art deutlich.
1.3 Die Aussage eines Dramas Dürrenmatts Äußerungen zu Aussage und Funktion eines Dramas (sowohl als Text wie auch als Inszenierung) sind sehr heterogen. Es finden sich mindestens drei verschiedene Konzeptionen einer dramatischen Aussage, die zeitlich weitgehend parallel vertreten werden, und denen gemeinsam ist, daß sich der Autor Dürrenmatt selbst als nicht zuständig fiir den Aussagegehalt seiner Stücke erklärt32. Die erste Konzeption verlagert die Aussage daher auf eine nicht näher bestimmte Ebene außerhalb des Dramas, die zweite charakterisiert sie als nicht resümierbare Gesamtaussage des Stückganzen, während die dritte schließlich die Möglichkeit einer Dramenaussage überhaupt abstreitet. An die ersten beiden Konzeptionen lassen sich weitere dramentheoretische Überlegungen Dürrenmatts anschließen. "Gefragt nach dem Sinn meiner Stücke, antworte ich meistens, daß, wenn ich den Sinn meiner Geschichten wüßte, ich nur den Sinn hinschreiben würde, nur die Aussage, und mir den Rest ersparen könnte." 33 So erklärt Dürrenmatt 1959 anläßlich einer Lesung in München und fährt fort: "Der Sinn eines Kunstwerkes ist außerhalb desselben angesiedelt, auf einer anderen Ebene, und mit einem ganz bestimmten Recht darf ein Schrift-
F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der Mitmacher") [WA Bd.14, S.99]. F. Dürrenmatt: "Nachwort zum Nachwort" (1976; zu "Der Mitmacher") [WA Bd.14, S.225], Die frühen Stücke seien hiervon ausgenommen; vgl. F. Dürrenmatt: "Zum Tode Ernst Ginsbergs" ( 1 9 6 5 ) [WA Bd.24, S.134], F. Dürrenmatt: "Vom Schreiben" ( 1 9 5 9 ) [WA Bd.26, "Literatur nicht aus Literatur" (1962) [WA Bd.24,88f.].
S.77]; vgl.
F.
Dürrenmatt:
Text und Inszenierung
63
steller behaupten, daß ihn der Sinn, die Aussage dessen, was er geschrieben habe, nicht interessiere, mit dem Recht des Schöpfers nämlich." 34 Dürrenmatt spricht seinen Dramen hiermit eine vom Autor resümierbare Aussage ab, ohne damit jedoch behaupten zu wollen, daß ein Drama überhaupt keine Aussage hätte. Das Problem, das sich hier abzeichnet, löst Dürrenmatt dadurch, daß er die Aussage eines Dramas "auf einer anderen Ebene" ansiedelt. Unter einer solchen Aussage versteht Dürrenmatt nun eine allgemeine Einsicht, die sich aus der exemplarischen Darstellung eines Vorganges oder einer Handlung im Drama gewinnen läßt: "Der Sinn der Behauptung, daß ein Theaterstück eine Aussage besitzen soll, liegt darin, daß aus etwas Speziellem, Besonderem, das ja jede Handlung eines Theaterstücks darstellt, etwas Allgemeines herausspringen soll, eine allgemeine Erkenntnis, ein Resultat." 35 Inwiefern diese Art von Aussage jedoch einer "anderen Ebene" angehört, bleibt dabei unverständlich. Darüberhinaus ist Dürrenmatt zufolge die Qualität einer solchen Aussage selbst auf Grund der äußerst komplexen Rezeptionsbedingungen problematisch; er macht dies anhand des antiken Theaters deutlich: "Untersuchen wir nun aber daraufhin ein Werk, etwa die Antigone des Sophokles, so bemerken wir mit Leichtigkeit, daß das Allgemeine dieses Theaterstücks nicht in einem bestimmten Satz zu finden ist [...]. Die Aussage des Sophokles ist für uns nur zum Teil unmittelbar zu verstehen." 36 Als mögliche Aussage der "Antigone" nennt Dürrenmatt etwa ein bestimmtes Weltbild der griechischen Antike, das vom heutigen Zuschauer nur schwer nachzuvollziehen sei, und bindet damit die Dramenaussage an bestimmte sozial- und kulturgeschichtliche Verhältnisse 37 . Neben der These, daß die Aussage eines Dramas außerhalb des Stückes selbst liege, bietet Dürrenmatt einen weiteren Lösungsvorschlag für das Problem einer nicht resümierbaren Dramenaussage an. Dieser Lösungsvorschlag besteht darin, die Aussage eines Dramas an das Stückganze zu binden und zu behaupten, daß diese Gesamtaussage wenn überhaupt, dann 34
35
36 37
Ebd., S.77f; vgl. F. Dürrenmatt: "Literatur nicht aus Literatur" (1962) [WA Bd.24, S.89f.]. Ebd., S.78f. Zum (hier nicht näher zu behandelnden) Problemfeld des Verhältnisses von Darstellung und Aussage zur außerdramatischen Wirklichkeit vgl. H. Badertscher (1979), insbes. S.69f.; N. Baensch (1980), insbes. S.93f.; J. Knopf (1981) sowie ( 4 1988), S.162; H. Kurzenberger (1980); N. Pawlowa (1966); A. Scholl (1976). Ebd., S.79. Zur Variabilität der Dramenaussage in Abhängigkeit von den Rezeptionsbedingungen vgl. auch F. Dürrenmatt: "Vom Schreiben" (1959) [WA Bd.26, S.79f.]; "Standortbestimmung" (1960) [WA Bd.6, S.158]; sowie "Sätze über das Theater" (1970) [WA Bd.24, S.185],
64
Friedrich Dürrenmatt
nur sehr unvollkommen paraphrasiert werden könne und sich damit einem Resümee entziehe: "Ein Theaterstück kann heute eine Eigenwelt darstellen, eine in sich geschlossene Fiktion, deren Sinn nur im Ganzen liegt. Wer das nicht weiß, kann auch keine Partitur lesen. Die Aussagen [...] des Dramatikers sind nicht Sätze, nicht Moral oder Tiefsinn, der Dramatiker sagt Stücke aus, sagt etwas aus, was nicht anders gesagt werden kann als durch das Stück." 38 Diese Auffassung findet sich bei Dürrenmatt schon sehr früh; so schreibt er beispielsweise 1947 über das erste Wiedertäuferdrama: Es wurde gefragt, was ich mit Es steht geschrieben hätte sagen wollen, der Satz wurde verlangt, der das ganze Schauspiel umschreiben müßte als dessen Sinn, das Wort, welches alles, was dargestellt wird, noch einmal wie ein Spiegel wiedergeben sollte, und zum letztenmal verdichtet. Es kann hier nur gesagt werden, daß es diesen Satz nicht gibt und daß es dieses Wort nicht geben kann. Es ist nicht so, daß Es steht geschrieben sinnlos wäre, weil kein Satz und kein Wort den Sinn des Schauspiels wiedergeben kann. Diesen Sinn kann eben nur das Schauspiel selbst enthalten, und das ist der Grund, warum es überhaupt geschrieben wurde. 3 9
Halten die beiden vorgestellten Lösungsversuche Dürrenmatts, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, noch an der Behauptung fest, daß es so etwas wie eine Dramenaussage (wie diese auch immer beschaffen sei) gebe, so wird eine solche Aussage in Dürrenmatts drittem Ansatz endgültig geleugnet. Im "Nachwort" zum "Mitmacher" heißt es beispielsweise: [...] man kann sich fragen, ob es überhaupt einen Sinn habe, nach dem Sinn eines Theaterstücks zu suchen, insofern nämlich, als angenommen werden darf, daß ein Theaterstück, bei dem man erst nachträglich einen Sinn findet, an sich schon mißraten sei, geht doch die Dramaturgie davon aus, das Dramatische beruhe auf Spannung. Dies einmal angenommen, genügt auch die Spannung; ist die Spannung nicht vorhanden, nützt auch der hinter dem Drama versteckte Sinn nichts. 40
Als Funktion des Dramas wird hier eine unmittelbare Wirkung, erzeugt durch die Spannung des Dramenverlaufs, angesetzt; eine Aussage über diese unmittelbare Wirkung hinaus wird dem Drama dabei abgesprochen. Die Erzeugung einer solchen Spannung, ohne daß damit eine Aussage verbunden wird, erfolgt nach Dürrenmatt allein durch die Darstellung einer bestimmten Wirklichkeit und nicht durch deren wie auch immer geartete Interpretation. "Es geht um die Frage 'Was stellt der Autor dar?' und nicht um die Frage, was der Autor beabsichtigte" 41 erläutert Dürrenmatt, man "schreibt Dinge und nicht über Dinge, belästigt die Welt weder mit
39 40 41
I-. Dürrenmatt: "Plauderei Uber Kritik vor der Presse" (1966) [WA Bd.25, S.95f.]; vgl. "Dramaturgische Überlegungen zu den 'Wiedertäufern'" (1967) [WA Bd.10, S.135], F. Dürrenmatt: Anmerkung I zu 'Es steht geschrieben' (1947) [WA B d . l , S.247], F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der Mitmacher") [WA Bd.14, S.99]. F. Dürrenmatt: "Zwanzig Punkte zum 'Meteor' (1966) [WA Bd.9, S.159],
65
Text und Inszenierung
Weltanschauung noch mit Innenleben" 42 . Die Erzeugung dramatischer Spannung durch das Theater bedarf hier keiner Erläuterung; daß der Hauptgegenstand einer solchen Darstellung Menschen und deren Handlungen sind, macht Dürrenmatt anläßlich seiner Komödie "Der Besuch der alten Dame" selbst deutlich: "Ich beschreibe Menschen, nicht Marionetten, eine Handlung, nicht eine Allegorie, stelle eine Welt auf, keine Moral, wie man mir bisweilen andichtet, j a ich suche nicht einmal mein Stück mit der Welt zu konfrontieren, weil sich all dies natürlicherweise von selbst einstellt, solange zum Theater auch das Publikum gehört." 43 Dabei mißt Dürrenmatt der Spezifik des Sprachgebrauchs bei der Darstellung eines Stoffes im jeweiligen Drama eine große Bedeutung bei; so etwa in den "Notizen zu 'Titus Andronicus'": "Ändert sich die Sprache, ändert sich der Stoff. Der Stoff eines Stücks wird durch die Handlung dargestellt. Ändert sich die Sprache, ändert sich damit auch die Handlung. Dieser Satz ist freilich nicht beweisbar, er ist mein dramaturgisches Credo". 44 Dürrenmatts erste und zweite Konzeption einer Dramenaussage spiegeln sich auch in dessen Konzeption einer "Dramaturgie vom Stoffe her" 45 wieder. Diese Konzeption basiert auf der Annahme, daß es so etwas wie eine Dramenaussage gibt, die aus der Dramendarstellung mehr oder weniger deutlich erschlossen werden kann. Dabei bleibt offen, ob der Produktionsprozeß des Dramas von der Aussage ausgeht, so daß die Darstellung diese Aussage illustriert, oder ob er von dem Stoff der Darstellung ausgeht, aus dessen Verarbeitung dann erst eine Aussage entsteht. Im Gespräch mit Joachim Preuß äußert Dürrenmatt: "Selbstverständlich gibt es ein Drama, das von der These her existiert, das ist klar. Und selbstverständlich gibt es gewisse Dramatiker, die das machen. Ich bin nie ein solcher Dramatiker gewesen. Ich gehe immer von der Geschichte aus, die ich dann durchdenke. Die These kommt dann mit der Geschichte." 46 Nach Dürrenmatt ist hier zwar eine Dramaturgie, die die Dramendarstellung abhängig von der Dramenaussage macht, möglich, er erachtet sie jedoch als problematisch. Diese Problematik liegt darin, daß die Darstellung eines Stoffes in einem Drama eine Vielzahl von Aussagen möglich machen kann, so daß deren Vieldeutigkeit durch den Autor
42
F. Dürrenmatt: "Hörspielerisches (1958) [WA Bd.17, S. 157]; vgl.
F.
Dürrenmatt:
"Abschied v o m Theater" (1991), S.6. 43
F. Dürrenmatt: Anmerkung I (1956; zu "Der Besuch der alten Dame") [WA Bd.5, SW.141f.].
44
F. Dürrenmatt: "Notizen zu Titus Andronicus'" ( 1 9 7 0 / 7 2 ) [WA Bd.l 1, S.209],
45
F. Dürrenmatt: "Aspekte des dramaturgischen Denkens" ( 1 9 6 4 ) [WA Bd.24, S.l 18].
46
F. Dürrenmatt: "Wie ein Drama entsteht" (1969) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.15].
66
Friedrich Dürrenmatt
eingeschränkt werden muß: "Die Schwierigkeit, von der Aussage her zu schreiben, liegt darin, daß man sich in einem ständigen Kampfe mit dem Stoffe befindet. [...] Ein Stoff ist nie eindeutig, eine Aussage will es sein. Diese Dramatik muß daher darauf zielen, die Mehrdeutigkeit zu überwinden. Sie muß den Stoff zur Illustration einer These machen." 47 Dürrenmatt selbst bekennt sich zu der umgekehrten Vorgehensweise, von einem Stoff auszugehen und die Dramenaussage von dessen Darstellung abhängig zu machen. Diese Methode bezeichnet er nun als "Dramaturgie vom Stoffe her" und charakterisiert sie als eine "praktische Dramaturgie, meistens instinktiv angewandt beim Schreiben eines Theaterstücks" 48 , die entsprechend ihrer pragmatischen Ausrichtung nicht aus dramentheoretischen Grundsätzen, sondern aus einer "Zusammenstellung der Regeln und Kunstgriffe, die ein Handwerk ausmachen" 49 , besteht. Die drei vorgestellten Konzeptionen einer Dramenaussage, die sich bei Dürrenmatt etwa gleichzeitig finden und nicht auf eine dramentheoretische Entwicklung des Autors zurückgeführt werden können, sind nicht oder nur unter unverantwortbar hohem interpretativen Aufwand in Übereinstimmung zu bringen. Es muß daher festgehalten werden, daß in Dürrenmatts dramentheoretischen Überlegungen das Phänomen einer Dramenaussage als solches zwar problematisiert und auch in dramaturgiegeschichtlichem Zusammenhang diskutiert wird, diese Problematisierung jedoch in keinem abschließenden oder befriedigenden Lösungsvorschlag mündet.
47 48 49
F. Dürrenmatt: "Literatur nicht aus Literatur" (1962) [WA Bd.24, S.90]. F. Dürrenmatt: "Aspekte des dramaturgischen Denkens" (1964) [WA Bd.24, S.l 18f.]. Ebd., S. 119.
2. Künstler und Publikum 2.1 Autor 2.1.1
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen
Als auslösende Momente seiner dramatischen Arbeit nennt Dürrenmatt vor allem ein entsprechendes literarisches Ausdrucksbedürfhis sowie die Faszination, die für ihn in den Bühnenbedingungen im allgemeinen und in der gesprochenen Bühnensprache und dem Schauspielerensemble im besonderen als literarischem Ausdrucksmittel liegen. Das spezifische Ausdrucksbedürftiis eines Dramatikers thematisiert Dürrenmatt anläßlich des Gesprächs mit J.W. Preuß: "Die Dramen entstehen ja beim Schriftsteller nicht eigentlich mit dem Wunsch Publikum zu haben, sondern zunächst einmal ganz einfach aus dem Drang sich auszudrücken." 50 Daß für Dürrenmatt hierbei tatsächlich die spezifische Art des schriftstellerischen bzw. dramatischen Schaffens entscheidend ist, wird bereits in seiner Abhandlung "Vom Schreiben" deutlich: "Dieser Akt des Schreibens nun, behaupte ich, ist etwas anderes als der Akt des Philosophierens oder der Akt der Empörung über Mißstände, Dummheiten, Bigotterien; [...]" sl . Worin diese spezifische Art des dramatischen Schreibens besteht, wird in diesem Zusammenhang jedoch nicht erläutert; ihre Existenz begründet Dürrenmatt mit ihrer Eigenschaft, bestimmte Stoffe besser darstellen zu können als diejenige anderer literarischer Gattungen: "Die Stoffe, die ich damals hatte, ließen sich am besten dramatisch darstellen." 52
50
F. Dürrenmatt: "Wie ein Drama entsteht" (1969) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.10]; vgl.
F. Dürrenmatt im Gespräch
mit P.A.
Bloch
und R. Bussmann
(1972)
[in:
Bloch/Hubacher (1972), S.36], 51
F. Dürrenmatt: "Vom Schreiben" ( 1 9 5 9 ) [WA Bd.26, S.80]; vgl. F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph: Joseph (1969), S.17.
52
F. Dürrenmatt: "Wie ein Drama entsteht" ( 1 9 6 9 ) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.10]; vgl. H L. Arnold (1980), S.18.
68
Friedrich Dürrenmatt
In dem als "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" veröffentlichten Gespräch mit Charlotte Kerr erinnert sich Dürrenmatt an seine dramatischen Anfange und die Entdeckung einer eigenen Verwendung von Sprache zurück: K: Wann, w i e bist du darauf gekommen, fürs Theater zu schreiben? D: Ehrlich gesagt, ich war ganz unvorbereitet fürs Theater. Ich ging sehr w e n i g ins Theater. Es war die Lösung irgendwie meines Dilemmas zwischen Malen und Schreiben. Es war eine Sprachexplosion [...], ich mußte mich erstmal 'aussingen', ich fand eine Bühnensprache. 5 3
Das Interesse Dürrenmatts gilt dabei vor allem der auf der Bühne gesprochenen Sprache; es sind die "Abenteuer [...], die im gesprochenen Worte liegen"54, welche für den Autor Anlaß sind, Dramen zu schreiben. Eine solche "Sprachexplosion", wie Dürrenmatt seine Entdeckung der geprochenen Bühnensprache nennt, stellt für den Prozeß des literarischen Schreibens insofern ein Risiko dar, als sie diesen unkontrollierbar macht, zum Selbstzweck wird und damit eine sprachlich und formal adäquate Gestaltung des Stoffes in dem betreffenden Stück nicht mehr gewährleistet. Dürrenmatt erkennt dies jedoch schon früh und hält fest: "Die Sprache kann verfuhren. Die Freude, mit einem Mal schreiben zu können, Sprache zu besitzen, wie sie mich etwa während der Arbeit am Blinden überfiel, kann den Autor überreden, gleichsam vom Gegenstand weg in die Sprache zu flüchten." 55 An anderer Stelle ist es für Dürrenmatt weniger die Bühnensprache als die Bühne selbst, die ihn zur Dramenproduktion veranlaßt. "Ich mußte Schriftsteller werden, nicht nur weil mein Denken als Stoff, sondern auch weil ich einen neuen Ausgangspunkt gefunden hatte, von dem aus ich in die Schriftstellerei starten konnte: die Bühne." 56 Danach ist es also der gesamte Bühnenapparat, d.h. nicht nur dessen spezifische verbale, sondern auch dessen nonverbale Ausdrucksmittel, der Dürrenmatt schriftstellerische Impulse verleiht. Er selbst bezeichnet die Bühne dabei als Medium: "Die Bühne wird bei mir zu einem theatralischen Medium, nicht zu einem literarischen Podium" 57 . Unter Medium versteht Dürrenmatt hier die Gesamtheit der Ausdrucksmittel der Bühne als Gegenstand eigener künstlerischer Auseinandersetzung und nicht als unhinterfragtes Instrument In: "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" ( 1 9 8 5 ) ["Rollenspiele" (1986), S.86], F. Dürrenmatt: "Etwas Uber die Kunst, Theaterstücke zu schreiben" (1951) [WA Bd.24, S.12], F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.54], F. Dürrenmatt: "Turmbau" (1990), S.230; vgl. F. Dürrenmatt: "Dramaturgie des Publikums" ( 1 9 7 0 ) [WA Bd.24, S.165], F. DUrrenmatt: "Nachwortzu 'Porträteines Planeten'" (1971) [WA Bd.12, S.197].
Künstler und Publikum
69
der Darstellung bzw. Aussage. Dies wird in den "Theaterproblemen" deutlicher: "Die Bühne stellt für mich nicht ein Feld für Theorien, Weltanschauungen und Aussagen, sondern ein Instrument dar, dessen Möglichkeiten ich zu kennen versuche, indem ich damit spiele." 58 - Einen wesentlichen Faktor des Theaters entdeckt Dürrenmatt nun in dem Schauspieler. "Um ein Stück fertigzuschreiben, fügte F. D. bei, brauche er zweierlei: Schauspieler und eine Bühne." S9 Und so stellt auch der Schauspieler neben der Bühnensprache ein weiteres Spezifikum des Theaters dar, das Dürrenmatt als auslösendes Moment für sein dramatisches Schaffen betrachtet: "Ich schreibe, weil es Schauspieler gibt, weil die Schauspieler meine Möglichkeit sind, mich auszudrücken." 60 In einem Gespräch mit A. Joseph nennt Dürrenmatt ein weiteres Moment, das ihn zu dramatischer Arbeit veranlaßt. Dies sind bereits geschriebene oder in der Ausarbeitung befindliche Stücke, die eine eigene literarische Entgegnung erforderlich werden: "Ich würde sagen, jedes Stück, das man schreibt, erzwingt fast ein Gegenstück. Das ist ein innerer dialektischer Vorgang". Als Beispiele werden an dieser Stelle "Die Ehe des Herrn Mississippi" und "Romulus der Große" genannt. 61
2.1.2
Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen
Die Berücksichtigung der allgemeinen Auffuhrungsbedingungen eines Stückes auf der Bühne spielt in Dürrenmatts dramatischem Schaffensprozeß eine wichtige Rolle. Dies wird sowohl aus seinen dramaturgischen Äußerungen als auch aus seinen Komödien selbst deutlich. Wichtige Faktoren sind dabei Schauspieler und Publikum; diesen sind die beiden folgenden Kapitel gewidmet. Die Tatsache, daß Dürrenmatt hinsichtlich des Entsprechungsverhältnisses von Text und Inszenierung weniger auf deren Gemeinsamkeiten als 58
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1945) [WA Bd.24, S.32]; vgl. G.P. Knapp (1980), S.46. - Später ändert sich bekanntlich Dürrenmatts Verhältnis zum Medium Theater: '"Achterloo IV' ist mein Abschied von der Bühne, v o m Theater. Nicht daß ich diesem Medium keine Zukunft gebe. Theater wird immer gespielt werden. Aber es ist nicht mehr mein Medium." (F. Dürrenmatt: "Abschied v o m Theater" 1991, S.5).
59 60
F. Dürrenmatt: "Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D." ( 1 9 8 0 ) [WA Bd.25, S.160]. F. Dürrenmatt in einem Brief an Marie Becker (1967) [WA Bd.24, S.141]; vgl. F. Dürrenmatt: "Friedrich Dürrenmatt interviewt F. D." (1980) [WA Bd.25, S. 164].
61
F. Dürrenmatt: "Wie ein Drama entsteht" (1969) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.14], - Ob diese Autorenthese werkgeschichtlich haltbar ist, muß einer weitergehenden Untersuchung vorbehalten bleiben.
70
Friedrich Dürrenmatt
auf deren jeweils eigene Ausdrucksmöglichkeiten hinweist und dabei der Inszenierung Vorrang gegenüber dem schriftlichen Text einräumt, spiegelt sich auch in produktionsästhetischen Reflexionen des Autors wieder: "Die Aufführung ist ein auf der Bühne mehr oder weniger realisiertes Stück, das Stück die mehr oder weniger genaue Vorlage für eine Aufführung. Doch müssen die drei Faktoren Bühne, Stoff und Form schon beim Schreiben eines Stückes wirksam sein f...]."62 Das heißt, daß nach Dürrenmatt neben dramatischem "Stoff und Form" auch die Aufführungsbedingungen eines Stückes auf der Bühne schon vor der praktischen Theaterarbeit während der schriftlichen Ausarbeitung des Dramentextes berücksichtigt werden müssen. Diese Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen besteht vor allem darin, daß die Angaben des Nebentextes 63 sowie sprachliche Ausdrucksweise und Struktur des Haupttextes so gestaltet werden, daß sie ein möglichst hohes Maß an Spielbarkeit gewährleisten, d.h. den Einsatz der spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne bei der Textwiedergabe gestatten: Früher schrieb ich die Stücke eigentlich, ohne die Bühne zu sehen. Ich dachte, das macht ein Regisseur. Aber je älter ich werde, desto mehr werden für mich die Bühne und das Schreiben eine Einheit. Das bedeutet z.B., daß ich schon zu Beginn des Schreibens ein Bühnenmodell brauche. Man muß eine klare Vorstellung haben, wie ein Auftritt aussieht und wie ein Abgang. Man muß wissen: Wieviel Zeit brauche ich dafür überhaupt. Kurzum, man muß die Bühnenform kennen, wenn man schreibt. Denn davon hängt die Form des Stückes mit ab. 6 4
Dürrenmatt geht an anderer Stelle noch einen Schritt weiter und stellt fest, daß diese spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne nicht in jedem Falle schriftlich fixiert werden können und müssen, so daß die Textvorlage hinsichtlich ihrer Wiedergabe bis zu einem bestimmten Grad offen bleibt. Dies muß vom Autor während des Schreibens berücksichtigt werden: "Der Autor verfertigt sein Stück am Schreibtisch, stellt sich, während er schreibt, die Bühne immer wieder vor, doch stets droht ihm auch der Fehler, dort mit dem Wort fechten zu wollen, wo es des Wortes gar nicht bedarf." 65 In dieser Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen besteht nun für Dürrenmatt die "Kunst, Theaterstücke zu schreiben" 66 . Dabei gibt es aufgrund der Komplexität und Variabilität der bühnenspezifischen Ausdrucksmittel keine dramaturgischen Patentrezepte, sondern es muß vom Autor in jedem Einzelfall eine dem entsprechenden Stoff F. Dürrenmatt: Vgl. Anm.2. F. DUrrenmatt: F. Dürrenmatt: F. Dürrenmatt:
"Sätze Uber das Theater (1970) [WA Bd.24, S.190]; vgl. Kap. 1.1.1. "Wie ein Drama entsteht" (1969) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.lOfj. "Gedanken vor einer neuen Aufführung" (1957) [WA Bd.24, S.76]. "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.55],
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jeweils angemessene und für die Wiedergabe auf der Bühne geeignete Textvorlage geschaffen werden. "Es gibt kein dramatisches Handwerk, es gibt nur die Bewältigung des Stoffs durch die Sprache und durch die Bühne: eine Überwältigung, um es genauer zu sagen, denn jedes Schreiben ist ein Waffengang mit Siegen, Niederlagen und unentschiedenen Gefechten." 67 Der Dramenautor darf also nicht von der Bühne und ihren Möglichkeiten abstrahieren, sondern er muß sie beim Schreiben seines Stückes jederzeit kreativ miteinbeziehen. Hierauf macht Dürrenmatt wiederholt aufmerksam und beruft sich dabei unter anderem auf die berühmte Formulierung aus dem Tagebuch der Jahre 1946-49 von Max Frisch: "Wer auf die Bühne tritt und die Bühne nicht braucht, hat sie gegen sich. Brauchen würde heißen: nicht auf, sondern mit der Bühne -" 68 So schreibt Dürrenmatt beispielsweise 1951: "Ich möchte hier nur mit allem Nachdruck bemerken, daß die Kunst, Theaterstücke zu schreiben, nicht unbedingt mit der Planung eines bestimmten Kindes anfängt, sondern entscheidend von der Möglichkeit entflammt wird, mit der Bühne zu dichten." 69 In einer anderen Formulierung, mit der Dürrenmatt wiederholt die Berücksichtigung der allgemeinen Auffuhrungsbedingungen unterstreicht, wird die Arbeit am schriftlichen Dramentext mit der praktischen Theaterarbeit der Regie selbst verglichen. "Schreiben ist auch schon Regiefuhren" 70 notiert er beispielsweise schon Ende der vierziger Jahre und verleiht damit seinem produktionsästhetischen Anspruch, Autor von "Spielstücken" zu sein, deutlich Nachdruck. Betrachtet man nun Dürrenmatts Stücke selbst71, so scheinen diese tatsächlich den Anspruch auf Spielbarkeit durch bewußte Berücksichtigung der allgemeinen Auffuhrungsbedingungen in der schriftlichen Textvorlage zu erfüllen. Hans Badertscher macht beispielsweise unter Verweis auf den "Besuch der alten Dame" darauf aufmerksam, daß die Dramatik Dürrenmatts selbst durch einen "Experimentcharakter mit innerhalb der Bühnen-
67
Ebd.
68
M. Frisch: "Tagebuch 1946-49" (1958), S.261; vgl. auch S.265. Hierzu bereits E. Diller (1966).
69
F. Dürrenmatt: "Etwas über die Kunst, Theaterstücke zu schreiben" ( 1 9 5 1 ) [ W A Bd.24, S.12], Oder: "Entscheidend dabei ist, daß mit der Bühne gedichtet wird, um Max Frisch zu zitieren, eine Möglichkeit, die mich seit jeher beschäftigt und die einer der Gründe, w e n n nicht der Hauptgrund ist, warum ich Theaterstücke schreibe" ("Theaterprobleme" 1954 [ W A Bd.24, S.45]).
70
F. DUrrenmatt: "Hingeschriebenes" ( 1 9 4 7 / 4 8 ) [WA Bd.27, S . l 1]; vgl. "Zum Tode Ernst Ginsbergs" ( 1 9 6 5 ) [WA Bd.24, S . l 3 3 ] ,
71
Vgl. T. Tiusanen (1977), S.21.
72
Friedrich Dürrenmatt
möglichkeiten variablem Handlungsverlauf' 72 gekennzeichnet sei. Nach Christian Jauslin kann die Berücksichtigung der Auffuhrungsbedingungen sogar gezielt ins Parodistische gesteigert sein. Anhand einer Analyse der Komödie "Die Ehe des Herrn Mississippi" kommt er zu der Feststellung: Die Mittel des Theaters (Prolog, Erzähler, Trennung von Darsteller und dargestellter Figur, Erläuterung der rein bühnentechnischen Mittel, wie Beleuchtung und Bühnenbild usw.) werden nicht nur angewendet, sondern sie werden so sehr bewußt eingesetzt und als Mittel bloßgelegt, daß man auch hier von Parodie sprechen muß. Genau wie die einzelnen Figuren nur noch Parodien einer Idee vertreten, werden auch die Realisationsmittel in die Parodie verzerrt. 73
In Dürrenmatts Spätphase verselbständigt sich jedoch die Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen, verliert damit die Orientierung an der realen Bühne und fuhrt zu zunehmenden Problemen hinsichtlich der Auffuhrbarkeit der Komödien.
2.1.3
Berücksichtigung der Schauspieler
Ein wichtiger Faktor der Berücksichtigung der Auffuhrungsbedingungen bei der Erarbeitung des Dramentextes ist für Dürrenmatt der Schauspieler. Seine Äußerungen hierzu sind zahlreich und reichen von allgemeinen Reflexionen über das Verhältnis des Dramatikers zum Schauspieler bis zu konkreten Würdigungen einzelner Schauspieler oder Ensembles. Dürrenmatt betrachtet Schauspieler und Autor als gleichberechtigte Partner bei der Erschaffung eines Dramas. In einem Brief an Maria Becker stellt Dürrenmatt grundsätzlich fest: Der "Schauspieler spielt Rollen und der Dramatiker schreibt Rollen, der Schauspieler stellt vermittels des Dramatikers und der Dramatiker vermittels des Schauspielers die Welt dar"74. Diese Äußerung wird vor dem Hintergrund der Vorrangstellung, die Dürrenmatt der Inszenierung gegenüber dem schriftlichen Text einräumt, verständlich. Denn wird der geschriebene Text lediglich als Vorlage, als Bühnenpartitur verstanden, die erst mit der Inszenierung ihre volle ästhetische Funktion entfaltet, so bedarf der Autor des Schauspielers, der die schriftlich fixierte dramatische Rolle in konkretes Spiel auf der Bühne umsetzt. "Es herrscht ein Arbeitsverhältnis zwischen uns und den Schauspielern [...]. Der Schriftsteller mag vorgehen, wie er will, sein Text wird durch die Persönlichkeit des Schauspielers ergänzt." 75 72 73 74 75
H. Badertscher (1979), S.46. C.M. Jauslin (1964), S.72; vgl. auch B. Allemann (1977), S.67f. F. Dürrenmatt in einem Brief an M. Becker (1967) [WA Bd.24, S.140], F. Dürrenmatt: "Zum Tode Ernst Ginsbergs" (1965) [WA Bd.24, S.133],
Künstler und Publikum
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Entsprechend dieser Gleichberechtigung bzw. Arbeitsteilung zwischen Autor und Schauspieler bei der Dramenproduktion fordert Dürrenmatt nun eine Berücksichtigung des Schauspielers im schriftlichen Dramentext. So schreibt er etwa: Ein Schauspieler ist mehr als ein Rollenträger, er ist ein Mensch auf der Bühne. Für diesen Menschen auf der Bühne kann ich nicht mehr 'rein Sprachliches' liefern [...]; für den Menschen auf der Bühne vermag ich nur 'Stichworte' zu schreiben [...]; und der Schauspieler 'ergänzt' diese Stichworte mit seinem Sein, mit seiner Bühnenexistenz und mit seiner Interpretation zum Menschlichen hin. Die Bühne ist durch den Schauspieler mehr als Literatur. 76
Die Berücksichtigung des Schauspielers besteht danach also darin, daß im schriftlichen Text bereits gezielt Ansatzpunkte für den kreativen Einsatz der spezifischen sprechsprachlichen und nonverbalen Ausdrucksmittel des Schauspielers gegeben werden. Der Autor erstellt danach mit dem Text bewußt nur eine reduzierte Fassung des Dramas, die auf die darauf aufbauende darstellerische Leistung des Schauspielers hin angelegt ist. Aus der Sicht des Autors schildert Dürrenmatt diese beiden aufeinander aufbauenden Schritte der Dramenrealisierung wie folgt: "Man schreibt Texte für Schauspieler [...]. Ich verfertige für die Bühne eine Partitur vom Wort her. Das Theater ist da, um das Wort aus einer zweiten Natur erscheinen zu lassen [...]. Dieses Verwandeln, das Spielen, ist ein besonderes Erlebnis - das Erlebnis für den Autor nämlich, daß die Partitur aufgeht, daß der Text sich umsetzt wie eine Partitur in Töne." 77 Eine der signifikantesten Formulierungen der Berücksichtigung des Schauspielers bei der Arbeit des Autors am Dramentext findet sich im Nachwort zu einem der "Übungsstücke für Schauspieler": "Ich schreibe meine Theaterstücke nicht mehr für Schauspieler, ich komponiere sie mit ihnen. Ich gebe die Literatur zugunsten des Theaters auf, Literatur machen heute die Kritiker." 78 Der schriftliche Text tritt hier ganz hinter die Aufführung zurück, d.h. die Arbeit des Autors wird eingeschränkt auf die Produktion einer schriftlichen Theatervorlage ohne eigene ästhetische Funktion. Aufgrund ihrer provozierenden Pointiertheit kann diese Formulierung jedoch nicht als repräsentativ für Dürrenmatts produktionsästhetische Position gelten. Dürrenmatt ist sich seiner eigenen Position durchaus auch dramaturgiegeschichtlich bewußt. So unterscheidet er selbst zwischen einer Dramaturgie, die, wie diejenige der Antike etwa79, dem Schauspieler allein die F. Dürrenmatt in einem Brief an M. Becker (1967) [WA Bd.24, S. 142]. F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.20. F. Dürrenmatt: Nachwort zu "Porträt eines Planeten" (1971) [WA Bd.12, S. 197]; vgl. "Friedrich Dürrenmatt interviewt F.D." (1980) [WA Bd.25, S.159]. Vgl. zur Funktion des Schauspielers in der Antike z.B. H.-D. Blume (1984), S.77-106.
74
Friedrich D ü r r e n m a t t
Funktion der Rezitation zuweist, und einer Dramaturgie, die ihm die persönliche Ausgestaltung einer Rolle ermöglicht. Dürrenmatt selbst stellt sich in die zweite Tradition, als deren Protagonisten er an dieser Stelle beispielsweise Molière, Shakespeare und Nestroy 80 betrachtet. Indem der Schauspieler seine M a s k e fallen ließ, w u r d e er aus e i n e m Vorträger v o n Rollen ein Darsteller v o n Rollen, die Dialektik der B ü h n e , die z w i s c h e n Schauspieler u n d Rolle, änderte sich. Die Rolle w u r d e wichtiger als das Stück, H a m l e t und Lear wichtiger als die Fabel, die Stücke leben v o n den Rollen, nicht v o n der H a n d l u n g . Die Zeit des S c h a u spielertheaters. Ich k o m m e von ihm. So wichtig mir stets die H a n d l u n g war, ich schrieb sie nur, w e n n ich sie als Theaterstück sah, als M ö g l i c h k e i t für Schauspieler. 8 1
Dürrenmatts eigene dramaturgische Entwicklung bis zu diesem Punkt verlief nach eigener Aussage analog. Im Gegensatz zu den Stücken der mittleren und der späteren Phase streben die frühen Dramen wie etwa "Der Blinde" noch einen in sich geschlossenen Dramentext an, der auf der Bühne durch den Schauspieler lediglich sprechsprachlich vorzutragen ist. "Als ich für das Theater zu schreiben begann, war für mich der Schauspieler ein 'Rollenträger'. Er hatte meinen Text aufzusagen, der Text war alles und der Mensch ein Wesen, das durch die Sprache restlos darzustellen war." 82 Unter Sprache ist hier sowohl die schriftliche Fassung des Dramentextes als auch seine ihm genau entsprechende sprechsprachliche und nonverbale Aufführung auf der Bühne zu verstehen. Anlaß für die Abkehr von dieser früheren Position ist nach Dürrenmatt die spätere Einsicht, daß ein menschliches Wesen nicht allein sprachlich darzustellen ist: "Der Mensch ist mehr als seine Sprache, sein Schweigen mächtiger als sein Reden, sonst wäre er kein Geheimnis." 83 Für diese hier nicht weiter erläuterte Einsicht sind zumindest einige Schauspieler, mit denen Dünenmatt bis dahin zusammengearbeitet hatte, mitverantwortlich: "Ich verdanke den Schauspielern mehr als den Regisseuren. Wenn man auf die Spieler eingeht, vorausgesetzt, sie wissen, worum es geht und sie sind in der Rolle drin, dann bringen sie einem sehr viel bei. Darum habe ich auch immer mit ganz bestimmten Vorstellungen für Schauspieler geschrieben." 84 Noch 1988 erinnert sich Dürrenmatt: "Und 80
Vgl. F. D ü r r e n m a t t . "Wie ein D r a m a entsteht" (1969) [in: S i m m e r d i n g / S c h m i d ( 1 9 7 2 ) , S. 11 ] - D a n e b e n w e r d e n anderenorts auch Brecht W e d e k i n d , N e s t r o y und a n d e r e genannt; z.B. in " A n m e r k u n g zur K o m ö d i e " (1952) [ W A Bd.24, S . 2 0 - 2 5 ] o d e r "Sätze über das T h e a t e r " ( 1 9 7 0 ) [WA Bd.24, S.192] etc. - Vgl. E. Brock-Sulzer (1962); C . M . Jauslin (1964), S . 1 2 5 - 1 2 8 ; G. K n a p p (1980), S.44.
81
F. Dürrenmatt: "Abschied v o m Theater" (1991), S.20; vgl. auch C. Kerr im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" (1986) [in: "Rollenspiele" (1986), S.80f.].
82
F. D ü r r e n m a t t im Brief an M . Becker ( 1 9 6 7 ) [WA Bd.24, S.141f.]; vgl. N . B a e n s c h (1980), S.95-97.
83
Ebd.
84
F. D ü r r e n m a t t im G e s p r ä c h mit A. Joseph (1969), S.21.
Künstler und Publikum
75
so denke ich an viele Schauspieler zurück, die zu meiner Palette gehörten, für die ich schreiben konnte, die mein Schreiben ergänzten f...]" 85 ; zu nennen wären hier beispielsweise Kurt Horwitz, Ernst Ginsberg, Therese Giehse, Maria Becker und andere.
2.1.4
Berücksichtigung des Publikums
Hinsichtlich der Berücksichtigung des Publikums während des Schreibens finden sich bei Dürrenmatt widersprüchliche Aussagen. Er behauptet sowohl, daß das Publikum von ihm bei der Dramenproduktion berücksichtigt werde, als auch genau umgekehrt, daß dies nicht der Fall sei. Dabei werden in seiner Dramatik wie in seiner Dramaturgie sehr wohl Techniken der Berücksichtigung der Rezeptionsbedingungen angewandt bzw. beschrieben. Der Widerspruch, der hierin offenbar wird, läßt sich jedoch durch die Unterscheidung zweier Publikumsbegriffe lösen. Die Berücksichtigung des Publikums, d.h. dessen Rezeptionsbedingungen bei der Aufführung, spielt für Dürrenmatt im Gegensatz zur Berücksichtigung der Reproduktionsbedingungen auf der Bühne während des Verfassens eines Dramas nach eigenen Angaben zunächst keine oder nur eine geringe Rolle: "Ich würde sagen, die Bühne ist fiir mich sehr wichtig geworden. Das Publikum ist j a etwas, was sich nachträglich einstellt. Das ist ein überraschendes soziologisches Moment, das aber in der Zeit des Arbeitens gar keine Rolle spielt. Aber die Bühne ist wichtig geworden, d.h. die Bühne als Instrument." 86 Das Publikum wird demzufolge erst nach Vollendung des Textes und nach Abschluß der Probenarbeit relevant und hat damit keinen Einfluß auf die Produktion und Reproduktion des Dramas. Einen solchen Einfluß eines antizipierten Publikums auf den literarischen Schaffensprozeß versucht der Autor Dürrenmatt bewußt zu vermeiden, um sich die Freiheit der individuellen Textgestaltung zu bewahren: Wenn ich schreibe, denke ich nicht an die Leserschaft. Ich denke an die Leserschaft, wenn ich geschrieben habe, das ist etwas anderes. [...] Das Schreiben zwingt einen, Gedanken zu äußern durch die immanente Logik des Schreibens. In dem Moment, wo ich an die Leserschaft denken würde, würde ich diesen unwillkürlichen, instinktiven Prozeß der Gedankenentstehung und auch der Entstehung der Kritik unterbinden und mich vorzeitig
85 86
F. Dürrenmatt: "Abschied vom Theater" (1991), S.21. F. Dürrenmatt: "Wie ein Drama entsteht" (1969) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.10]; vgl. auch F. Dürrenmatt im Gespräch mit H L. Arnold (1976), S.45.
76
Friedrich Dürrenmatt lenken, vorzeitig bestimmen, vorzeitig beeinflussen lassen. Ich halte es darum für wichtig, daß der Schriftsteller im Akt des Schreibens an keine Leserschaft denkt. 8 7
Allenfalls nachträgliche Textbearbeitungen dürfen und können sich aus der Berücksichtigung des Publikiums ergeben. Doch hierbei handelt es sich dann nicht um Änderungen auf der Basis einer möglichen Kritik eines vom Autor selbst antizipierten Publikums, sondern um solche Bearbeitungen, die aufgrund tatsächlicher Kritiken und Reaktionen auf das fertige Werk, sei es als Text oder als Inszenierung, vorgenommen werden 88 . Dürrenmatt räumt durchaus ein, daß nicht nur die Gestalt des Textes oder der Inszenierung, sondern auch das Wertungsverhältnis vom Autor zum Text bzw. zur Inszenierung durch die Aufnahme durch das Publikum ex post negativ wie positiv beeinflußt werden können. Über einen negativen Einfluß äußert sich Dürrenmatt im Gespräch mit Arthur Joseph: "Ich muß allerdings sagen, daß beim Theater das Publikum für mich der größte Störfaktor ist. Für mich ist ein Theaterstück schön bis zu dem Tag der Premiere. Ich möchte sagen, es hört eigentlich schon mit der Generalprobe auf. Sobald Publikum drin ist, bedeutet das für mich einen riesigen Schock." 89 Gegenüber Heinz Ludwig Arnold klingt Dürrenmatt freundlicher: "Das Publikum spielt keine Rolle, wenn man schreibt. Dabei bin ich ein Freund des Publikums, ich komme auch mit dem Publikum aus, und das Publikum ist auch sehr freundlich zu mir." 90 - Entsprechendes äußert Dürrenmatt auch zur Berücksichtigung des lesenden Publikums: "Es gibt immer zwei Standpunkte: den des Autors und den des Publikums. Wenn du schreibst, denkst du nicht an die Leser. Wenn du fertig bist, denkst du an sie."91 In anderen dramaturgischen Überlegungen gibt Dürrenmatt die Berücksichtigung eines antizipierten Publikums bei der Erarbeitung des Dramentextes zu, fordert sie sogar: "Wenn ich das Publikum als einen Faktor eingeführt habe, so mag das viele befremden; doch wie ein Theater ohne Publikum nicht möglich ist, so ist es auch sinnlos, ein Theaterstück als eine Art Ode mit verteilten Rollen im luftleeren Raum anzusehen und zu
8
88 89 90 91
F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Bloch und R. Bussmann [in: Bloch/Hubacher (1972), S.37]; das hier zur "Leserschaft" Gesagte kann auf das Publikum einer Inszenierung übertragen werden (vgl. ebd., S.38). Vgl. dazu Kap.2.1.5. F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.26. F. DUrrenmatt im Gespräch mit H.L. Arnold (1976), S.45. F. Dürrenmatt zu Ch. Kerr im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" (1985) ["Rollenspiele" (1986), S.52].
Künstler und Publikum
77
behandeln." 92 In dieser und in ähnlichen Textstellen bleiben einzelne Rezeptionsbedingungen und die entsprechenden formalen Techniken ihrer Berücksichtigung jedoch ungenannt; so auch hier: "Um nun auf die Form zurückzukommen, so ist schon darum hier schwer eine Forderung zu stellen, weil es offenbar nicht allein die Ästhetik ist, die eine Form schafft; das Publikum spielt darin eine ebenso große Rolle."93 Und so gibt es tatsächlich eine ganze Reihe solcher dramatischen Techniken, mit denen Dürrenmatt in der formalen Anlage seiner Stücke auf die Rezeptionsbedingungen des Publikums reagiert, und die er in seinen dramaturgischen Überlegungen selbst reflektiert. Eine dieser Techniken ist beispielsweise diejenige der "Mausefalle", welche darin besteht, daß vom Handlungsverlauf her der grundsätzlichen Identifikationsbereitschaft des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen zunächst bis zu einem gewissen Grad Genüge getan wird, um danach eine Umwertung dieses Geschehens anzuschließen und den Zuschauer damit zu überrumpeln: "Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, verfuhrt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde. Die Komödie ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch geraten wird." 94 - Eine andere Dramentechnik Dürrenmatts, die ebenfalls die grundsätzliche Identifikationsbereitschaft des Publikums berücksichtigt, besteht darin, daß der Zuschauer durch die Verwendung komischer bzw. paradoxer Elemente an einer vollständigen Identifikation mit dem Bühnengeschehen wiederum gehindert werden soll95: Der Sinn der paradoxen Handlung 'mit der schlimmstmöglichen Wendung': Er liegt nicht darin, Schrecken auf Schrecken zu häufen, sondern darin, dem Zuschauer das Geschehen bewußt zu machen, ihn vor das Geschehen zu stellen. Der Verfremdungseffekt liegt liegt nicht in der Regie, sondern im Stoff selbst. Die Komödie der Handlung ist das verfremdete Theater an sich (und braucht gerade deshalb nicht verfremdet gespielt zu werden, es kann es sich leisten, darauf zu verzichten). 9 6
92
93
94
95 96
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.37], - Vgl. H. Badertscher (1979), S.50-53. F. Dürrenmatt: "Etwas über die Kunst, Theaterstücke zu schreiben" (1951) [WA Bd.24, S.14f.]. Vgl. auch F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.25; "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.42f.]. F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.64], - Zur dramatischen Technik der "Mausefalle" vgl. E M. Ellestad (1976); H. Badertscher (1979), S.86-90 Zur Rezeption vgl. Kap.2.3.2. F. Dürrenmatt: "Dramaturgische Überlegungen zu den 'Wiedertäufern'" (1967) [WA Bd.10, S. 133]. - Vgl. zur Komik als Mittel zur Distanzierung des Zuschauers beispielsweise H C. Angermeyer (1971), S.99-106; H. Gertner (1984), S.19-23.
78
Friedrich Dürrenmatt
Zur Auflösung des Widerspruchs zwischen der ersten Position, nach der Dürrenmatt den Zuschauer bei der Dramenproduktion nicht berücksichtigt, und der zweiten, der zufolge er dies doch tut, können zwei verschiedene Publikumsbegriffe unterschieden werden. Im zweiten Fall wäre unter Publikum die abstrakte Zuschauerschaft als rezeptionsästhetische Größe, im ersten dagegen die konkrete, sozial- und kulturgeschichtlich bestimmte Zuschauermenge zu verstehen. Diese These wird von Dürrenmatt selbst etwa im Gespräch mit A. Joseph gestützt: "Das Publikum ist zwar etwas Neutrales, und ich stelle mir unter Publikum nie etwas Bestimmtes vor. Es setzt sich aus allen möglichen Leuten zusammen, [...]. Aber im allgemeinen glaube ich doch, daß das Publikum immer gleich aufnahmebereit ist."97 Im Gegensatz zu den verschiedenen Konzeptionen einer Dramenaussage läßt sich hier zwar ein Selbstwiderspruch Dürrenmatts aufheben, es muß aber dennoch auch in diesem Falle ein mangelnder Durchdringungsgrad im dramentheoretischen Denken des Autors, der sich nicht zuletzt auch in einem uneinheitlichen Sprachgebrauch manifestiert, festgestellt werden.
2.1.5
Bearbeitungen des Dramentextes
Die Berücksichtigung der Bühnen- und der Rezeptionsbedingungen macht bei Dürrenmatt häufige Änderungen bzw. Bearbeitungen des schriftlichen Dramentextes notwendig, da die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne aufgrund ihrer Komplexität und Variabilität letztendlich nicht berechenbar sind und der Text jedoch als Spielvorlage diesen Bühnenbedingungen angepaßt werden muß. Vom Zeitpunkt der Textbearbeitung her werden zwei Möglichkeiten unterschieden. Die erste Möglichkeit besteht darin, daß der Autor die Erfahrungen einiger Auffuhrungen zunächst sammelt und dann in den Text einarbeitet, die zweite darin, daß die Bearbeitung des Textes bereits während der praktischen Theaterarbeit, d.h. während der Proben erfolgt. Die nachträgliche Textbearbeitung wird beispielsweise in den "Gedanken vor einer neuen Auffuhrung" thematisiert: Sind am Autor mehrere Aufführungen eines Stücks vorübergegangen, denen er teils erfreut, teils gequält oder gar erheitert beiwohnte, kann er sich mit der Zeit der Aufgabe kaum entziehen, Erfahrungen, die ihm die Bühne lieferte, nun auch zu realisieren. Neufassungen entstehen. Eine Handlung muß deutlicher, genauer erfaßt, Szenen müssen umgestellt oder gar gestrichen werden, j a ganze Partien entstehen neu. 9 8
F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.25f. F. Dürrenmatt: "Gedanken vor einer neuen Aufführung" (1957) [WA Bd.24, S.74],
Künstler und Publikum
79
Es deutet sich hier an, daß Diirrenmatt solche Textbearbeitungen letztenendes unter Berücksichtigung von tatsächlichen Zuschauerreaktionen und Kritiken des betreffenden Stücks, die auf dessen von den Bühnenbedingungen abhängigen Inszenierungen erfolgen, vornimmt. Entspricht die vom Autor angestrebte Wirkung des Stücks nicht der tatsächlichen Reaktion des Publikums und der Kritik, so müssen von seiner Seite Änderungen im Text (oder in der Inszenierung) vorgenommen werden: [...] auf der Bühne ist das Publikum etwas Nachträgliches. Es kann jedoch ein korrigierendes Moment sein. Wenn ich zum Beispiel sehe, daß das Publikum eine Stelle kabarettistisch auffaßt, ohne daß ich diesen Effekt gewollt habe, dann muß an dieser Szene etwas Falsches liegen. Ich kann sie ändern, aber das geschieht nachträglich aufgrund der Wirkung. Im Moment des Schreibens kann ich das nicht wissen. Darum ist es sehr wichtig, daß man beobachtet, wie das Publikum reagiert, und dann versucht, die falschen Meinungen, die im Publikum entstehen, nachträglich so zu lenken, wie man sie haben möchte."
Anläßlich des Erscheinens seiner Komödie "Die Ehe des Herrn Mississippi" in der Werkausgabe erläutert Dürrenmatt 1980 die Entstehung von deren verschiedenen Fassungen (1950, 1957, 1961, 1969, 1980): Von den vier Fassungen, die von der Ehe des Herrn Mississippi vorliegen und von denen eine jede das Resultat einer praktischen Regiearbeit darstellt - das heißt bestimmte Umstände zu berücksichtigen hatte -, bildet die vorliegende Fassung eine Art Synthese: Es galt, Kühnheiten wiederaufzunehmen, die ich nur in der ersten Fassung wagte, und Erfahrungen beizubehalten, die nach und nach kamen. Im großen und ganzen ist der Erste Teil der zweiten und der Zweite Teil der dritten Fassung nachgebildet; in meiner vierten Fassung, die ich 1969 für Basel konzipierte und die dann 1970 das Thalia-Theater Hamburg spielte, sprach Übelohe seinen Schlußmonolog auf dem Pendel der Standuhr reitend und schwang dabei über den anderen Schauspielern hin und her: Auch dieser Schluß ist zu überlegen. 1 0 0
Die in der Werkausgabe selbst erschienene Fassung der Komödie ist jedoch nicht allein nach bühnenpraktischen Überlegungen entstanden; es haben darin auch andere ästhetische Erwägungen Eingang gefunden, so daß diese Fassung durchaus auch als Lesefassung angesehen werden darf: "Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe
100
F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Bloch und R. Bussmann [in: Bloch/Hubacher (1972), S.38], F. Dürrenmatt: "Anmerkung III" (1980; zu "Die Ehe des Herrn Mississippi) [WA Bd.3, S.210]. Vgl. zu den Bearbeitungen G.P. Knapp (1980), S.50-54. - Neben anderen Stücken wurde auch "Romulus der Große" mehrfach bearbeitet. Vgl. zu den verschiedenen Fassungen (1948, 1956, 1961, 1963, 1980) beispielsweise C.M. Jauslin (1964), S.48-52; G. Scholdt (1978); G.P. Knapp (1980), S.47-50.
80
Friedrich Dürrenmatt
nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen." 101 Dürrenmatt hat selbst oft an der praktischen Theaterarbeit an seinen Stücken teilgenommen und auch während dieser Arbeit Änderungen in der Textvorlage vorgenommen. In einer solchen Bearbeitung des Textes bereits während der Proben erblickt Dürrenmatt vor allem arbeitspraktische Vorteile. Diese bestehen in der direkten Auseinandersetzung mit den konkreten Bühnenbedingungen und in einer erheblichen Zeitersparnis: Im Augenblick mache ich eine Bearbeitung und das geschieht so, daß ich gleichzeitig schreibe, und gleichzeitig wird geprobt. Das ist arbeitstechnisch ein abgekürztes Verfahren. Es erspart mir viel Arbeit, weil ich die Texte direkt mit den Schauspielern bearbeiten kann und sehe, was fehlt. Man sieht auch, da muß rhythmisch noch ein Satz hin, da braucht's eine Verzögerung, hier braucht's noch ein paar Sätze, hier kann man weglassen. Das ist ein Verfahren, das mich sicher die Hälfte weniger Zeit kostet, als wenn ich nur am Schreibtisch arbeiten würde. 1 0 2
Besonders betroffen von den Textänderungen während der Bühnenarbeit ist nach Dürrenmatt das Stückende: "Fast alle meine Stücke sind so entstanden, daß der Schluß erst während der Proben gefunden wurde. Ich muß es zuerst sehen, dann finde ich den Schluß."103 Zu erklären ist dies daraus, daß Dürrenmatts Komödien wie bei anderen Autoren ebenfalls durchaus üblich auf das Ende hin konzipiert sind, so daß hier der Wirksamheit der bühnenspezifischen Ausdrucksmittel eine größere Bedeutung beigemessen wird, als zu Beginn des Dramas.
2.1.6
Dürrenmatts Spätphase
Es wurde bisher mehrfach darauf hingewiesen, daß sich Dürrenmatts Verhältnis zur Bühne als Dramenautor etwa Mitte der siebziger Jahre wandelt. Diese Wandlung, die letztenendes in einem dramaturgischen Solipsismus gipfelt, wird in seinen Schriften vor allem in produktionsästhetischen Reflexionen offenkundig, so daß darauf an dieser Stelle ein besonderes Augenmerk gerichtet werden soll. Das Bestreben, lediglich eine Textvorlage für die Inszenierung zu schaffen, die durch den Schauspieler und die Bühne durch ihre spezifischen 101
102
103
F. Dürrenmatt: "Allgemeine Anmerkung zu der Endfassung 1980 meiner Komödien" [WA Bd.3, S.8], Vgl. dazu etwa J. Knopf ( 4 1988), S.177f. - Zu den "gestrichenen", d.h. kondensierten Textfassungen vgl. Kap.2.1.6. F. Dürrenmatt: "Wie ein Drama entsteht" (1969) [in: Simmerding/Schmid (1972), S.9]; vgl. "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" (1986) [in: "Rollenspiele" (1986), S. 127]. F. Dürrenmatt im Gespräch mit H L. Arnold (1976), S.85.
Künstler und Publikum
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Ausdrucksmöglichkeiten ergänzt wird, hat nach Dürrenmatt vor allem eine Kondensation des schriftlichen Dramentextes zur Folge. Diese besteht darin, daß im Nebentext kaum Anweisungen zu Bühnenbild und Regie enthalten sind, und der Haupttext auf die dialogische Kernstruktur reduziert wird104. In der Spätphase von Dürrenmatts dramatischem Schaffen, also seit Mitte der siebziger Jahre, nimmt diese Reduktion des Dramentextes deutlich zu und fuhrt zu erheblichen Problemen in der konkreten Theaterpraxis, da die Textvorlage nun anscheinend zu wenig Anweisungen und Ansatzpunkte für ihre Reproduktion auf der Bühne aufweist. Im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold versucht Dürrenmatt selbst die Aufftihrungsmisere seiner Komödie "Der Mitmacher" zu ergründen: Ich weiß, mein letztes Stück ist eine große Niederlage, das ist mir vollständig egal, es ist sicher ästhetisch berechtigt, ich habe etwas versucht, das nicht möglich ist, ich habe mich, aus einem theaterpraktischen Grund so zurückgenommen, ich habe mich so verknappt, daß die Leute gar nicht mehr erkennen können, was los ist, aber das ist eine andere Sache: Das ist ein Theaterstil, ein Theaterbegriff, eine Regieidee -; [...]. 1 0 5
In der "Dramaturgie eines Durchfalls" führt Dürrenmatt im selben Jahr die Schwierigkeiten, die die Textvorlage 1973 dem polnischen Regisseur Andrzej Wajda während der Proben zur Uraufführung bereitet hatte, auf deren starke Ausrichtung auf seine eigene bühnenpragmatische Theaterideologie und die damit verbundene Textkondensation zurück: Einerseits war ich auf eine subjektive Bühnenidee hin fixiert, auf einen subjektiven Theaterstil, den ich mir für mich erarbeitet hatte, der nicht vorher festzulegen war, da er j a in einer unmittelbaren Arbeit mit den Schauspielern bestand, in einer Kollision meiner Ansichten mit jener der Schauspieler, mit der Absicht, eine Synthese zu erreichen. Andererseits hatte ich einen Text geschrieben, um die zukünftige Arbeit eines Regisseurs nicht zu stören, eines Regisseurs, der wieder nicht ich sein sollte. Ich stand mir selbst und dem Regisseur im W e g e . ' 0 6
Es wird an dieser Stelle deutlich, daß die zunehmende Kondensation des Dramentextes beim späten Dürrenmatt nicht, wie dies zu erwarten wäre, mit einer weiterreichenden Liberalisierung der Auffuhrungsmöglichkeiten durch die jeweilige Bühne einhergeht. Die Inszenierung wird vielmehr im Gegenteil auf bestimmte Auffuhrungstechniken, einen "subjektiven Theaterstil" eingegrenzt, den der Autor selbst als idealtypisch für seine Komödien und damit als verbindlich für deren Auffuhrungen ansieht. "Ich war absorbiert von einer dialektischen Auseinandersetzung mit der Bühne
104
Vgl. zur Kondensation des Dramentextes etwa H.P. Madler (1981), S.l 19f. und S.139f. (zu "Der Besuch der alten Dame").
105
F. Dürrenmatt im Gespräch mit H L. Arnold (1976), S.42f.
106
F. Dürrenmatt: "Dramaturgie eines Durchfalls" (1976) [WA Bd.24, S.237],
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Friedrich D ü r r e n m a t t
als einer Möglichkeit des Schreibens und des Darstellens, die nur mir einleuchtete, die mich auf mich selber zurückwarf [...].'" 07 Die Problematik des späten Dürrenmatt ergibt sich nun aus der Diskrepanz zwischen diesen idealtypischen Aufführungstechniken und deren mangelhafter Erschließbarkeit aus der schriftlichen Textvorlage. Dieser durch die extrem zunehmende Textkondensation bedingte Mangel an Erschließbarkeit der idealtypischen Auffiihrungstechniken ist nach Dürrenmatt wiederum auf die eingeschränkte schriftliche Fixierbarkeit dieser Aufführungstechniken überhaupt zurückzuführen, womit Dürrenmatt seine an der Bühnenpraxis orientierte dramentheoretische Position letztendlich derart übersteigert, daß sie genau hinsichtlich dieser Bühnenpraxis zu scheitern droht. Daran konnten im Falle des "Mitmachers" auch die umfangreichen Erläuterungsteile, die Dürrenmatt dem Dramentext 1976 hinzufugt, nichts ändern. Dürrenmatt selbst resigniert darauf angesichts der aufführungspraktischen Probleme seiner Stücke und gibt die enge, durch Bühnenpragmatik geprägte Verbindung, die er zwischen dem Dramentext und seiner Inszenierung angesetzt hatte, auf: W e n n ich m i c h j e t z t so gegenübergestellt sehe - nach all den Jahren aktiver B ü h n e n a r b e i t dann bin ich erschüttert über die viele Zeit, die ich v e r p l ä m p e r t habe, indem ich D i n g e änderte, b l o ß weil sie n i e m a n d darzustellen v e r m o c h t e . Es ist wirklich j ä m m e r l i c h . Im G r u n d e hat k a u m j e m a n d verwirklicht, was ich eigentlich wollte. Z w i s c h e n d e m Schreiben und der A u f f ü h r u n g liegt eine weite E t a p p e . 1 0 8
Die Konsequenz, die Dürrenmatt aus dieser Situation zieht, besteht daher seiner Resignation entsprechend nicht etwa in einer Rückbesinnung auf weniger kondensierte Textvorlagen, wie er sie noch in den sechziger Jahren produzierte, sondern in einem bewußten Rückzug von der Bühne: "Man schreibt Texte, und die andern sollen dann daraus machen, was sie können." 109 Doch ganz konsequent ist Dürrenmatt in seinem Rückzug nicht. Auch wenn er nicht mehr gewillt ist, seine Dramentexte auf die Aufführungsbedingungen konkreter Bühnen hin zu gestalten, so bleibt er doch weiter mit dramatischer Arbeit beschäftigt, berücksichtigt dabei jedoch ausschließlich diejenigen Bedingungen, die er als idealtypisch für seinen persönlichen Theaterstil betrachtet. Die Schriftfassung eines solchen Dramas wie "Achterloo" behält dementsprechend den Status einer Textvorlage, aller-
107
Ebd., S.235f.
108
F. D ü r r e n m a t t im G e s p r ä c h mit P.A. Bloch. In: Bloch (1980), S.16f.
109
Ebd., S.17. - B e z e i c h n e n d e r w e i s e erschienen zwei noch 1988 und 1990 e n t s t a n d e n e Essays unter d e m Titel "Abschied v o m Theater" (F. D ü r r e n m a t t (1991).
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dings nur für eine "fiktive Inszenierung"" 0 : "Daß freilich mein Theater wieder Regisseure und Schauspieler und nicht Stilisten voraussetzt, ist eine andere Sache. Leider haben gerade diese mir das Theater verleidet, so daß ich wohl immer mehr - und für immer - für eine imaginäre Bühne zu schreiben beginne: für das Theater meiner Einbildungskraft." 1 " Die produktionsästhetische Liberalität des Autors Dürrenmatt mündet hier, bedingt durch Enttäuschung und Resignation, in einen bühnenpragmatischen Solipsismus.
2.2 Theater 2.2.1
Die Wiedergabe des Dramentextes auf der Bühne
Bezüglich des Entsprechungsverhältnisses von Dramentext und Inszenierung ist Dürrenmatts Dramaturgie, wie anfangs gezeigt, bis etwa Mitte der siebziger Jahre durch die Betonung von deren formalen wie funktionalen Unterschieden sowie durch den Vorzug, der der Inszenierung produktionswie wirkungsästhetisch gegenüber dem Text eingeräumt wird, gekennzeichnet. So ist es kaum verwunderlich, daß Dürrenmatt auch die Eigenständigkeit des Theaters bei der Reproduktion des Dramentextes selbst unterstreicht. Dies gilt sowohl für die Bühne im allgemeinen als auch für Schauspieler und Regie im besonderen. Dabei wird wiederum den spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne, die sich im Spiel und in der Darstellung von Menschen manifestieren, eine besondere Bedeutung beigemessen: Aber die Theorie vergißt allzu leicht, daß auf der Bühne Dichtung nur möglich wird, wenn sie sich durch den Schauspieler ereignet [...]. Theater ist nicht reine Literatur, sondern Dichtung vermittels der Schauspielerei. Die Kunst des Dramas ist Menschendarstellung durch das Medium des Schauspielers. Nur durch die Schauspielkunst wird das dramatische Wort elementar und unmittelbar. Auf dem Theater wird die Dichtung durch das Theater ausgedrückt. Man postuliert nicht, man interpretiert, indem man s p i e l t . " 2
Ein solches Spielen setzt jedoch für Dürrenmatt jeweils eine intensive Auseinandersetzung der entsprechenden Bühne mit dem Dramentext voraus. Entsprechend ist in einer seiner Theaterkritiken zu lesen: "Die 110
111
112
So im Titel der Aufzeichnung des Gesprächs mit Charlotte Kerr "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" (1986) [in: "Rollenspiele" (1986), S.7-153], F. Dürrenmatt: "Die Frist" (1978; Neufassung 1980) [WA Bd.15, S.13f.]. - Dürrenmatts kritikvolle Auseinandersetzung mit dem sog. Regietheater, die an dieser Textstelle offenbar wird, soll hier nicht weiter verfolgt werden. F. Dürrenmatt: "Teo Otto" (1964) [WA Bd.24, S.97f.].
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Bühne ist nicht von Anfang an da, als Schauplatz, sie wird im Verlaufe der Handlungen, Gespräche, Erscheinungen, sie füllt sich, verwandelt sich [...]." , n Und in der Würdigung des Bühnenmalers Teo Otto wird die praktische Theaterarbeit entsprechend geschildert: "Man diskutierte. Man wich den Fragen nicht aus, die das Theater unerbittlich stellt. Wie sieht die Bühne dieses Stückes aus? Was entspricht dieser Sprache, jenem Dichter? Wie stellt man diese Szene dar, wie ist diese Verwandlung zu lösen?"114 Die Reproduktion des Dramentextes besteht danach nicht in einer bloßen Nachbildung der Textvorlage, sondern in einer selbständigen, kreativen Auseinandersetzung der Bühne mit dem Text. Deren Ergebnis stellt dann eine möglichst kongeniale Aufführung dar, in der der Text während des Spiels um die Darstellungsideen der Schauspieler und der anderen Theatermitarbeiter ergänzt wird. Da nun die Aufführungsbedingungen der diversen Bühnen sowie die Darstellungsideen ihrer Mitarbeiter jeweils unterschiedlich sind, fallen auch die Nachschöpfungen des Dramentextes jeweils verschieden aus. Dies macht Dürrenmatt beispielsweise schon 1951 in "Schriftstellerei und Bühne" deutlich. So nennt er dort einige äußere Faktoren, die für die Diversität verschiedener Theaterinstitutionen verantwortlich sind: Aber auch die Theater sind verschieden. Es ist nicht gleichgültig, ob der Schriftsteller einer kleinen Bühne oder einer großen, einem Repertoire- oder einem Ensuitetheater gegenübersteht, ob er mit einer Institution rechnen muß, die finanziell gesichert ist, oder mit einer, die Gefahr läuft, bei j e d e m Fehlschlag zu verschwinden, ob das Theater, an das er sich wendet, von der Willkür des Publikums abhängig ist oder ob es Uber dem Publikum steht [...]. 1 , s
Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht noch entscheidender sind jedoch die verschiedenartigen Impulse, die von den Theatermitarbeitern, die an der Auffuhrung beteiligt sind, selbst ausgehen: "Ein Theater muß sich über seine Fähigkeiten im klaren sein, seine Truppe berücksichtigen, politische und religiöse Rücksichten nehmen, an diesen und jenen Star denken, und schließlich hat der Intendant oder Dramaturg seine Vorurteile." 116 Aus der Einzigartigkeit und Eigenständigkeit, die Dürrenmatt jeder Bühne beimißt, folgt unter anderem auch, daß nicht jeder Dramentext auf jeder beliebigen Bühne reproduzierbar ist, da die Bedingungen der Aufführung oft nicht den Erfordernissen des Stückes entsprechen. Diese Einsicht findet sich vor allem wieder beim späten Dürrenmatt, so etwa im Nachwort zum "Mit113
F. Dürrenmatt: "Gespenstersonate. Kammerspiel von Stindberg" (1952) [WA Bd.25,
114
F. Dürrenmatt: "Teo Otto" (1964) [WA Bd.24, S.96],
115
F. Dürrenmatt: "Schriftstellerei und Bühne" (1951) [WA Bd.24, S.17],
116
Ebd., S.17f.
S.84],
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macher": "Das Komische liegt darin, daß die meisten Bücher in der falschen Bibliothek gelesen werden, besonders die philosophischen; doch auch die meisten Theaterstücke. Sie werden gleichsam auf falschen Bühnen falsch aufgeführt und falsch verstanden."" 7
2.2.2
Die Textwiedergabe durch den Schauspieler
Einen ganz entscheidenden Anteil an der Reproduktion des Dramentextes auf der Bühne hat nach Dürrenmatt der Schauspieler: "Der Schauspieler ist für mich nicht mehr ein Träger, an dem man literarische Gedanken aufhängt, sondern jemand, durch den, mit dem Literatur passiert."" 8 Dementsprechend lassen sich auch in seinen dramaturgischen Schriften zahlreiche Äußerungen zu Aufgabe und Funktion des Schauspielers finden. Dürrenmatt betrachtet die Schauspielerei vor allem unter dem Aspekt der Menschendarstellung. Dies macht er beispielsweise anhand der Komödie "Romulus der Große" deutlich: "Meine Figuren sind nur von der Gestalt her darzustellen. Dies gilt für den Schauspieler und für den Regisseur [...]. Menschlichkeit ist vom Schauspieler hinter jeder meiner Gestalten zu entdecken, sonst lassen sie sich gar nicht spielen. Dies gilt für alle meine Stücke."" 9 Danach besteht eine wichtige Aufgabe des Schauspielers darin, die Textvorlage nicht nur sprechsprachlich und nonverbal wiederzugeben, sondern um eine individualisierende Komponente selbständig zu ergänzen120 und damit den Handlungsverlauf des Dramas auf der Bühne und den Charakter der einzelnen Figuren unmittelbar begreiflich zu machen. Gerade hierin erblickt Dürrenmatt die Schwierigkeit und zugleich die Kunst der Schauspielerei. Er erläutert dies am Beispiel des Romulus: Eine besondere, zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich noch für den Darsteller des R o m u l u s selber. Ich m e i n e die Schwierigkeit, die darin liegt, d a ß er d e m P u b l i k u m nicht allzu schnell s y m p a t h i s c h erscheinen darf. Das ist leicht gesagt und vielleicht fast nicht zu erreichen, doch als Taktik im A u g e zu behalten. Das W e s e n des Kaisers darf sich erst im dritten A k t enthüllen. Im ersten A k t m u ß der Ausspruch des Präfekten: " R o m hat einen s c h ä n d l i c h e n Kaiser", im zweiten j e n e r Amilians: "Der Kaiser m u ß weg", begreiflich sein. Hält im dritten A k t R o m u l u s Gericht über die Welt, hält im vierten die W e l t Gericht über R o m u l u s . M a n sehe g e n a u hin, w a s f ü r einen M e n s c h e n ich gezeichnet habe, witzig, 117
F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der M i t m a c h e r " ) [ W A Bd. 14, S.206f.].
118
F. D ü r r e n m a t t im G e s p r ä c h mit A. Bloch und R. B u s s m a n n [in: B l o c h / H u b a c h e r (1972),
1,9
F. Dürrenmatt: " A n m e r k u n g I" (1957; zu " R o m u l u s der G r o ß e " ) [ W A Bd.2, S.119f.]. -
S.38], Als m ö g l i c h e s Vorbild wird der C l o w n genannt; v g l . F. Dürrenmatt: "Aspekte des d r a m a t u r g i s c h e n D e n k e n s " (1964) [WA Bd.24, S. 115]. 120
Vgl. F. Dürrenmatt: " Z u m T o d e Ernst Ginsbergs" (1965) [WA Bd.24, S.133],
86
Friedrich Dürrenmatt gelöst, human, gewiß, doch im letzten ein Mensch, der mit äußerster Härte und Rücksichtslosigkeit vorgeht und nicht davor zurückschreckt, auch von andern Absolutheit zu verlangen [...]. 121
Entsprechend einer solchen Schauspielkonzeption, deren wesentliches Element in einer individualisierenden und zugleich charakterisierenden Darstellung von Menschen besteht, fordert Dürrenmatt vom Schauspieler eine hohe Darstellungsbefahigung, um eine eigenständige, kongeniale Reproduktion des Dramentextes zu gewährleisten. Diese Darstellungsbefahigung kann dabei qualitativ sehr verschieden sein und tendenziell beispielsweise eher in Körperbeherrschung oder in (sprech)sprachlicher Virtuosität bestehen: "Es gibt statische Schauspieler, Schauspieler mit Körpersprache, Stimmschauspieler, Artisten der Sprache, des Klangs [.,.]."122 In seinem Sinne beispielhafte Schauspielbefähigungen entdeckte Dürrenmatt etwa bei Willy Birgel oder Maria Becker. Über die Proben mit Birgel zum "Mitmacher" berichtet er zum Beispiel: Ich erklärte dem Schwerhörigen die Rolle des Jack, erläuterte ihm, vorstelle. Er hörte mir aufmerksam zu - wie bei allen Schwerhörigen war man verstanden worden war. Er fragte, ob er die Rolle vorspielen begriffen, was ich wolle. Ich nickte, und er spielte den Jack mit Souveränität und Sicherheit, daß wir wie erstarrt dasaßen. 123
wie ich sie mir man unsicher, ob könne, er habe einer derartigen
Eine außerordentliche Schauspielbefähigung besaß auch Ernst Ginsberg. Dürrenmatt streicht vor allem dessen Sprachbeherrschung hervor: "Er verfugte über ein nie versagendes Gedächtnis und über eine perfekte Technik des Sprechens [...]. Ernst Ginsberg war jeder Partitur, jedem Stil gewachsen." 124 Eine solche sprachliche Virtuosität des Schauspielers darf jedoch nach Dürrenmatt nicht zur Selbstdarstellung werden, sondern muß stets im Dienste einer adäquaten, d.h. der Intention des Autors entsprechenden Reproduktion des Dramentextes stehen. Im Gespräch mit Arthur Joseph macht er diese Forderung explizit: "[...] heute liegt der Sinn nicht darin, Rhetorik zu machen, sondern die Gestalten zu charakterisieren. Das Wort ist nur das letzte Resultat einer Figur. Und darum verlange ich vom Schauspieler, der das darstellt, genauso, daß er überlegt, weshalb er etwas spricht.'" 25
121 122
123
124 125
Ebd., S.120. F. Dürrenmatt im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" [in: "Rollenspiele" (1986), S.82f.]. F. Dürrenmatt: "Dramaturgie eines Durchfalls" (1976) [WA Bd.24, S.247], - Vgl. "Brief an Maria Becker" (1967) [WA Bd.24, S.I42], F. Dürrenmatt: "Zum Tode Ernst Ginsbergs" (1965) [WA Bd.24, S.126f.]. F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.19; vgl. ebd., S.2I.
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In der inzwischen berühmt gewordenen "Anmerkung I" zum "Besuch der alten Dame" findet sich eine theoretische Erläuterung zu dieser Forderung. Darin stellt Dürrenmatt zunächst fest, daß für ihn der schriftliche Dramentext lediglich eine auf die notwendigen Dialogbestandteile und Spielanweisungen reduzierte Vorlage für den Schauspieler sei: "Der Schauspieler braucht nur wenig, einen Menschen darzustellen, nur die äußerste Haut, Text eben, der freilich stimmen muß. Ich meine: So wie sich ein Organismus abschließt, indem er eine Haut bildet, ein Äußerstes, schließt sich ein Theaterstück durch die Sprache ab. Der Theaterschriftsteller gibt nur sie. Die Sprache ist sein Resultat."126 Dann fährt er fort, daß die praktische Arbeit des Schauspielers nicht an der bloßen Wiedergabe der Gestalt des Haupttextes anzusetzen hat, da diese durch den Autor (in kondensierender Form) bereits festgelegt ist. Sie bestehe vielmehr darin, die dialogische Rohvorlage des Textes durch die nonverbale und sprechsprachliche Darstellung der Figur selbst nachvollziehbar zu machen, d.h. den Verlauf und die Struktur des Dialoges durch deren Individualisierung und gleichzeitiger Charakterisierung konsistent erscheinen zu lassen: "Darum kann man auch nicht an der Sprache an sich arbeiten, sondern nur an dem, was Sprache macht, am Gedanken, an der Handlung etwa; an der Sprache an sich, am Stil an sich arbeiten nur Dilettanten. Die Aufgabe des Schauspielers besteht darin, glaube ich, dieses Resultat aufs neue zu erzielen; was Kunst ist, muß nun als Natur erscheinen." 127 Dürrenmatt stellt damit die Darstellung einer Figur durch den Schauspieler in den Dienst des Dramas und weist dem Schauspieler somit die Funktion eines Re-Produzenten zu, der zwar selbständig, jedoch nicht über die Intention und den Rahmen der Textvorlage hinaus auf der Bühne zu handeln hat. Die Menschendarstellung auf der Bühne besteht danach in sprachlichem wie nichtsprachlichem Handeln, dessen Verlauf durch die Textvorlage in seinen Grundzügen bestimmt wird und in Zusammenarbeit von dem gesamten Schauspielerensemble in eine konkrete, in sich konsistente Aktion umgesetzt werden muß. Dürrenmatt bezeichnet dies als ein "mechanistisches Prinzip" des Theaters: "Der Schauspieler handelt auf der Bühne, die Wirkung, die sein Handeln auslöst, haben seine Partner zu spielen, und er wiederum hat auf deren Handeln zu reagieren." 128 126
F. Dürrenmatt: Anmerkung I (1956; zu "Der Besuch der alten Dame") [WA Bd.5, S. 142].
127
Ebd. - Vgl. dazu auch Dürrenmatts Kritik zu Horwitz' Inszenierung von Mol ¡¿res
128
F. Dürrenmatt: "Zum Tode Emst Ginsbergs" ( 1 9 6 5 ) [WA Bd.24, S.130]; vgl. "Sätze
"Tartuffe" (1951) [WA Bd.25, S.56] sowie das Gespräch mit A. Joseph (1969), S.21. Uber das Theater" (1970) [WA Bd.24, S.177f.].
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Ein weiterer wesentlicher Faktor der Schauspielerei besteht nach Dürrenmatt in der Berücksichtigung des Publikums. Nicht nur der Dramenautor gestaltet den Text hinsichtlich der Rezeptionsbedingungen des Lesers bzw. Zuschauers, sondern auch der Schauspieler ist dazu aufgerufen, die Reproduktion des Dramentextes einer Zuschauermenge verständlich erscheinen zu lassen. Das bedeutet, daß seine Textreproduktion auf der Bühne nicht nur in einer produktionsadäquaten, sondern auch in einer rezeptionsadäquaten Weise erfolgen muß. "Zum Theater gehört das Bewußtsein der Spieler, nicht für sich, sondern für ein Publikum zu spielen" schreibt Dürrenmatt beispielsweise in den "Sätzen über das Theater" 129 , läßt dabei jedoch die spezifischen Techniken der Zuschauerberücksichtigung durch den Schauspieler ungeklärt.
2.2.3 Aufgabe und Funktion der Regie Neben den zahlreichen Äußerungen Dürrenmatts zu Aufgabe und Funktion des Schauspielers finden sich in seinen dramaturgischen Schriften auch einige Reflexionen zur Theaterregie. Diese entsprechen bezüglich der sprachlichen Arbeit am Haupttext und der Produktionsadäquatheit der Textreproduktion weitgehend denjenigen zur Schauspielerei. Dabei ordnet Dürrenmatt jedoch die Regie als mittelbaren Textreproduzenten dem Schauspieler als unmittelbaren Reproduzenten unter und weist ihr lediglich eine Unterstützungsfunktion für den Schauspieler während der Probenarbeit zu. Dies wird in den "Richtlinien der Regie" zu "Frank der Fünfte" deutlich: "Schauspielerei ist Menschendarstellung, Regie die unmerkliche Hilfeleistung, damit der Schauspieler nicht von diesem Ziele abrücke und, ohne den Menschen, den er spielen soll, auch dargestellt zu haben, gleich in die Aussage sause."130 Da es bei der Schauspielerei vor allem um Menschendarstellung geht, besteht diese Hilfeleistung für Dürrenmatt vor allem in einer gemeinsamen psychologischen Reflexion mit dem Schauspieler, die den sprachlichen wie nichtsprachlichen Handlungsverlauf des Stückes aus der Textvorlage herauszuarbeiten helfen soll: "Du mußt alles aus der Psychologie entwickeln, der des Stückes [des Dramentextes] und der der Schau-
,29
F. Dürrenmatt: "Sätze über das Theater (1970) [WA Bd.24, S.177],
130
F. Dürrenmatt: "Die Richtlinien der Regie" (1964; zu "Frank der Fünfte") [WA Bd.6, S.153f.].
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spieler".131 Im günstigsten Fall ist hierzu aber erst gar keine Regie notwendig: "Für mich ist das Ideale, wenn der Regisseur verschwindet.'" 32 Ähnlich wie Dürrenmatt keine Arbeit des Schauspielers an der Sprache bzw. am Haupttext des Stückes zuläßt, lehnt er auch eine solche durch die Regie ab. Hierin ist mit ein Grund für das Zerwürfnis zwischen dem Autor und dem Regisseur während der Proben zu der Uraufführung des "Mitmachers" zu suchen. Dürrenmatt schildert dies folgendermaßen: Er mußte nach Polen für drei Tage, er bat mich, mit den Schauspielern 'sprachlich' zu arbeiten [...]. Ich wandte ein, daß es für mich ein sprachliches Arbeiten nicht gäbe, ich wüßte nicht, was ich mir darunter vorstellen solle, ich sei bereit, Uber das Wochenende mit den Schauspielern zu arbeiten, aber auf die Interpretation hin, was aber dann in verschiedenen Fällen eine Änderung der Regie bedeute. Er lehnte es ab. Ich hätte es auch abgelehnt. 1 3 3
Eine Verselbständigung des Regisseurs gegenüber der Intention des Dramenautors lehnt Dürrenmatt ebenfalls ab. Entsprechend dem Schauspieler gesteht er der Regie zwar eine gewisse Selbständigkeit zu, doch darf diese nur der verdeutlichenden Darstellung der Textvorlage auf der Bühne und nicht einer über diese selbst hinausreichende Interpretation dienen. "Ich fürchte Regisseure, die nicht interpretieren, sondern ständig etwas erfinden wollen, die die Partitur nur zum Ausgangspunkt eines individuellen Weiterdichtens haben wollen. Ich glaube, Regie wird heutzutage sehr überschätzt. Sie sollte im Idealfall etwas sein, das man gar nicht merkt, man geht ja ins Theater, um Schauspieler zu erleben." 134 Also besteht nach Dürrenmatt auch für die Regie wie für die Schauspielerei die Forderung nach einer produktionsadäquaten Textreproduktion im Sinne des Autors; über deren Rezeptionsadäquatheit hinsichtlich des Theaterpublikums finden sich allerdings keine Bemerkungen. Dürrenmatt polemisiert oft gegen die Verselbständigung der Regie gegen die dramatische Textvorlage. Als Kostprobe dieser Polemiken mag folgende noch 1988 entstandene und inzwischen nicht allein theatergeschichtlich überholte Passage aus dem "Abschied vom Theater" dienen: Zum Glück brauchen die Zuschauer dank des zu verkaufenden Programmbuches nicht zu erraten, welches Stück der Regisseur inszeniert hat, sie können darin auch lesen, was der Regisseur vorgibt, bei seiner Inszenierung gedacht zu haben, und sogar was ein Dramaturg dachte, was der Regisseur auch noch gedacht haben könnte, und endlich kann er auch noch lesen, was der Autor hätte denken müssen, als er das Stück schrieb, statt Karl Marx
132 133 134
F. Dürrenmatt im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" [in: "Rollenspiele" (1986), S.83], Ebd. F. Dürrenmatt: "Dramaturgie eines Durchfalls (1976) [WA Bd.24, S.242], F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.22.
90
Friedrich Dürrenmatt zu lesen, weshalb der Regisseur das Stück nicht so hätte inszenieren können, wie es der Autor geschrieben habe, sondern so, wie es der Autor hätte schreiben müssen, wenn er Karl Marx gelesen hätte - der Grund, weshalb so viele Regisseure aus der DDR stammen: Sie können hier so tun, als hätten sie Karl Marx gelesen, weil sie sicher sind, daß in der BRD niemand Karl Marx gelesen hat, was zwar in der DDR auch der Fall ist, wo aber eine offizielle Meinung darüber herrscht, was Karl Marx geschrieben hätte, würde ihn jemand lesen. 1 3 5
2.3 Publikum 2.3.1
Die Rezeptionsbedingungen des Publikums
Das Theaterpublikum ist für Dürrenmatt ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung. Daher fordert er nicht allein dessen Berücksichtigung bei der Dramenproduktion und -reproduktion, sondern leitet daraus auch bestimmte Ansprüche des Zuschauers gegenüber der Bühne ab und ruft zu einer bewußten Reflexion der Rezeptionsbedingüngen und des Rezeptionsverlaufes während der Aufführung selbst auf: "[...]; es geht mir hier allein um die Frage nach der Funktion des Publikums im Theater. Nicht die Frage, was das Theater vom Publikum, sondern die Frage, was das Publikum vom Theater zu fordern habe, soll uns hier beschäftigen, die Frage, um ein Schlagwort zu gebrauchen, ob es eine 'Dramaturgie des Publikums' gebe." 136 Als wesentliche Bedingungen der Rezeption gibt Dürrenmatt eine allgemeine Rezeptionsbereitschaft, Phantasie sowie die Kenntnis der Kommunikationsbedingungen des Theaters an. Zu den Bedingungen des Lesens finden sich kaum Angaben. Dürrenmatt unterscheidet das Theaterpublikum als Rezipienten der Textreproduktion vom Lesepublikum als Rezipienten der Textvorlage. Ein wesentliches Merkmal der Rezeption als Theaterzuschauer gegenüber derjenigen als Leser besteht danach in der Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Rezeption des Dramas, die die Unmittelbarkeit des Kunsterlebnisses gewährleistet: "Die Unmittelbarkeit, die jedes Theaterstück anstrebt, die Sichtbarkeit, in die es sich verwandeln will, setzt das Publikum, das Theater, die Bühne voraus." 137 Um diese Unmittelbarkeit zu erzielen, bedarf es jedoch nicht nur des Vorspiels durch das Schauspielerensemble und der gleichzeitigen Anwesenheit des Publikums, sondern es muß dabei auch 135 136 137
F. Dürrenmatt: "Abschied vom Theater" (1991), S.9f. F. Dürrenmatt: "Dramaturgie des Publikums" (1970) [WA Bd.24, S.166], F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.38J.
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dessen prinzipielle Aufnahme- bzw. Rezeptionsbereitschaft vorausgesetzt werden. So erläutert Dürrenmatt: "Diese unmittelbare Wirkung ist jedoch nur möglich, wenn wir beim Publikum eine gewisse Naivität grundsätzlich voraussetzen. Ein Theaterstück ereignet sich auf der Bühne, rollt vor den Augen des Publikums ab, ist so unmittelbares Geschehen; ein Publikum ist im Momente des Zuschauens notgedrungen naiv, bereit mitzugehen, sich fuhren zu lassen, mitzuspielen [,..]."138 Doch genügt auch nach Dürrenmatt diese prinzipielle Bereitschaft zur Rezeption des Dramas noch immer nicht, die Unmittelbarkeit seiner Inszenierung zustande kommen zu lassen. Es ist darüberhinaus eine "Übereinstimmung" zwischen dem (Re)Produzenten und dem Publikum erforderlich, damit überhaupt eine Rezeption des Stückes erfolgen kann. So fährt Dürrenmatt fort: "Doch setzt nun die natürliche Naivität des Publikums auch eine Übereinstimmung zwischen ihm und dem Autor voraus, soll die Unmittelbarkeit Zustandekommen." 139 Worin diese "Übereinstimmung" nun besteht, wird von Dürrenmatt selbst jedoch nicht erläutert. Man darf aber davon ausgehen, daß darunter so etwas wie eine gemeinsame Kenntnis der Kommunikationssituation des Theaters sowie der bühnenspezifischen verbalen wie nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten und nicht zuletzt die Beherrschung der selben Sprache gemeint ist. Diese These läßt sich beispielsweise anhand der folgenden Passage aus Dürrenmatts Gespräch mit Arthur Joseph erhärten: Filmarbeit schürft unser Wissen, daß Theater eben Theater ist, umgesetzte Wirklichkleit, stilisierte, gespielte. Dieses Wissen setzt ein Publikum voraus, das weiß, was Theater ist. Das erzeugt die neuen Bedingungen des neuen Theaters [...]. Nicht, daß man sinnieren muß: Was will der Autor jetzt sagen? Aber die bewußte Freude am Zuschauen, die neue Kennerschaft, müssen wir v o m Publikum heute verlangen. 1 4 0
Neben solchen Kenntnissen der Kommunikationsbedingungen des Theaters gehört zu den Rezeptionsbedingungen einer Inszenierung aber auch ein Vermögen des Zuschauers, die Symbolik der Bühne kreativ in eigene Vorstellungen umzusetzen. Dürrenmatt bezeichnet dies kurz als Phantasie: "Ein Wort, wir sind in Venedig, ein Wort, wir sind im Tower. Die Phantasie des Zuschauers braucht nur leichte Unterstützung. Das Bühnenbild will andeuten, bedeuten, verdichten, nicht schildern." 141
138
F. Dürrenmatt: "Friedrich Schiller" (1959) [WA Bd.26, S.89f.].
139
Ebd.
140
F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.25.
141
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.44],
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Friedrich Dürrenmatt
2.3.2
Der Rezeptionsverlauf
In Bezug auf den Rezeptionsverlauf thematisiert Diirrenmatt vor allem die rezeptive Einheit des Publikums während und die Reaktion desselben auf die Inszenierung eines Dramas. Dürrenmatt erklärt die Tatsache, daß die Zuschauermenge während der Inszenierung eines Stückes eine Rezeptionseinheit bildet, durch das allen gemeinsame Theatererlebnis, das darin besteht, daß jeder einzelne Zuschauer das Stück auf eine individuell zwar jeweils verschiedene, aufgrund der einander zumindest in Grundzügen entsprechenden Rezeptionsbedingungen aber vergleichbare Weise rezipiert. Als auslösendes Moment für eine solche einheitliche Rezeption eines Stückes durch die Zuschauermenge ist nach Dürrenmatt ein dramaturgischer Einfall nötig, der eine entsprechende Identifikation jedes Einzelnen mit dem Bühnengeschehen ermöglicht: "Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, verfuhrt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die es sich sonst nicht so leicht anhören würde." 142 Neben der gemeinsamen Identifikation mit dem Bühnengeschehen nennt Dürrenmatt ein weiteres Moment, das eine Rezeptionseinheit der Zuschauer hervorrufen kann, nämlich Anspielungen auf bestehende soziale, wirtschaftliche oder politische, d.h. zumindest die Großzahl der Zuschauer auch außerhalb des Theaters gemeinsam betreffende Verhältnisse. So schreibt er zum Beispiel 1970 in der "Dramaturgie des Publikums" über Theaterauffuhrungen in Polen oder in der Tschechoslowakei: "Ein Publikum unter politischem Druck wird eine Einheit, die einheitlich reagiert [...]; die verschlüsseltste Anspielung gegen die herrschenden Zustände wird vom Publikum unmittelbar entschlüsselt und durch den Beifall in Protest verwandelt." 143 Als mögliche Reaktion des Zuschauers auf die Inszenierung muß nach Dürrenmatt zwischen dem unmittelbaren Erlebnis des Theatergeschehens und dessen darauf folgender Reflexion unterschieden werden. "Auf der Bühne wirkt nur, was der Zuschauer unmittelbar begreift" 144 läßt Dürren-
142
F. DUrrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.64], - Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu Dürrenmatts sog. "Technik der Mausefalle" (Kap. 2.1.4 ).
143
F. Dürrenmatt: "Dramaturgie des Publikums" (1970) [WA Bd.24, S.169], Dabei erachtet Dürrenmatt den politischen Druck als wichtig, denn: "Im Gegensatz zu einem Publikum, das durch einen politischen Druck eine Einheit wird, wird ein Publikum, das keinem politischen Druck ausgesetzt ist, eine Vielheit." (ebd.).
144
F. Dürrenmatt: "Frank der Fünfte" (1960; Neufassung 1980) [WA Bd.6, S.36],
Künstler und Publikum
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matt den Böckmann in "Frank der Fünfte" zum Publikum sprechen, wobei hier unter "begreifen" nicht allein das diskursive Verständnis eines dargestellten Problems, sondern auch der Nachvollzug des Bühnengeschehens selbst verstanden werden muß. Hierauf kann dann die eigentliche Reflexion des Stückes durch den Zuschauer aufbauen: "Die Kunst des Dramatikers besteht darin, das Publikum erst nachträglich zum Nachdenken zu bringen." 145 Dürrenmatt problematisiert selbst die Beeinflußbarkeit der Reaktion des Publikums und damit dessen Berücksichtigung bei der Dramenproduktion 146 . Für solche Probleme macht er zum einen die Komplexität und Unberechenbarkeit der Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne, zum anderen aber auch die Eigengesetzlichkeit der Rezeptionsbedingungen des Publikums selbst verantwortlich: Der "Zuschauer gehorcht nur seinem Gesetz [...]. Das Publikum läßt sich nichts vorschreiben, um diese oft bittere Erfahrung kommt kein Theater, kein Schauspieler herum." 147 Dies bedeutet jedoch nicht, daß sich das Publikum einer Beeinflußbarkeit gänzlich entzieht. So stellt Dürrenmatt in der "Dramaturgie des Publikums" ebenfalls fest: "Das Publikum läßt sich nichts vorschreiben"; fahrt dann aber fort: "Das Publikum läßt sich nur bezwingen, indem man es überlistet" 148 Diese List besteht etwa in der Anwendung der erwähnten Mausefallentechnik. Dürrenmatt wertet die Eigengesetzlichkeit der Rezeptionsbedingungen nicht nur als einen Faktor, mit dem sich Autor und Bühne bei der Dramenproduktion abzufinden und den sie gleichwie zu berücksichtigen haben, sondern erkennt sie als legitim an, indem er das Publikum als gleichberechtigten Partner des künstlerischen Kommunikationsprozesses betrachtet: "Dazu kommt, und das möchte ich betonen, die Möglichkeit des Zuschauers oder Lesers, ein Bild auf seine Art, also anders, zu verstehen. Das ist sein Recht, das Recht des andern, des Partners." 149 Bedauerlicherweise konkretisiert Dürrenmatt seine Überlegungen zum Verlauf und zu den Bedingungen der Dramenrezeption kaum, so daß diese ähnlich wie die produktionsästhetischen Reflexionen des Autors zur Berücksichtigung des Publikums bei der Dramenproduktion bzw. -reproduktion unbefriedigend bleiben.
145
F. Dürrenmatt: "Friedrich Schiller" ( 1 9 5 9 ) [WA Bd.26, S.89],
146
Vgl. dazu Kap.2.1.4.
147
F. Dürrenmatt: "Zum Tode Ernst Ginsbergs (1965) [WA Bd.24, S.128],
148
F. Dürrenmatt: "Dramaturgie des Publikums" (1970) [WA Bd.24, S.173],
149
F. Dürrenmatt im Gespräch mit P.A. Bloch (1980), S.15.
3. Sprache 3.1 Dramenspezifischer Sprachgebrauch Mit ein Anlaß für Dürrenmatts dramatisches Schaffen ist die Entdeckung einer eigenen Sprache: "Es war eine Sprachexplosion" heißt es im "Protokoll einer fiktiven Inszenierung", "ich fand eine Bühnensprache" 150 . Man kann diese Formulierung als ein Indiz dafür betrachten, daß Dürrenmatt selbst so etwas wie einen bühnenspezifischen Sprachgebrauch kennt. Dabei ist auffällig, daß er von "Bühnensprache" und nicht etwa von Literatur- oder Dramensprache spricht. Dies mag mit der Priorität, die er der Inszenierung gegenüber dem Dramentext einräumt, zusammenhängen, wobei dann die sprachlichen Besonderheiten des Textes in Abhängigkeit von ihrer nonverbalen wie sprechsprachlichen Wiedergabe auf der Bühne betrachtet werden müssen. Und tatsächlich reflektiert Dürrenmatt auch die sprachlichen Besonderheiten seiner Dramen vor dem Hintergrund ihrer Reproduktion und Rezeption im Theater. Die sprachlichen Besonderheiten des Dramentextes bestehen für Dürrenmatt funktional dementsprechend vor allem darin, daß sie eine möglichst gute nonverbale und sprechsprachliche Wiedergabe der Textvorlage gestatten; dies gilt vor allem für die Komödie. Dürrenmatt schreibt: "Komödianten [...] sind nicht Literaten [...]. Sie prüfen die Sprache auf ihre Echtheit: auf ihre Spielbarkeit nämlich, das Kriterium einer jeden großen Theatersprache." 151 Zu dieser Reproduzierbarkeit der Dramensprache auf 150
F. Dürrenmatt in "Protokoll einer fiktiven Inszenierung" [in: "Rollenspiele" (1986), S.86], Vgl. auch "Bekenntnisse eines Plagiators" (1952; zu "Die Ehe des Herrn Mississippi") [WA Bd.3, S.216f.]. - Die Spezifik der Bühnensprache Dürrenmatts selbst soll hier, wo es um dessen Sprachreflexion geht, nicht untersucht werden. Vgl. dazu neben den bekannten Monographien von beispielsweise A. Arnold ( 4 1979); E. Brock-Sulzer ( 4 1973); H. Goertz (1987); G.P. Knapp (1980) oder J. Knopf ("1988) die partiell Analysen zum Sprachgebrauch Dürrenmatts insbesondere in einzelnen Dramen enthalten, vor allem auch R. Bussmann (1971); R. Girard (1979); S. Groseclose (1975), S.67; J. Knopf (1981) und (1986); H.P. Madler (1981). - Literaturverweise zur Figurencharakterisierung und Dialoggestaltung bei F. Dürrenmatt finden sich eingangs der Kap. 1.3.2. und 1.3.3.
151
F. Dürrenmatt: "Teo Otto" (1964) [WA Bd.24, S.98],
Sprache
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der Bühne gehört dann analog auch deren unmittelbare Rezipierbarkeit durch das Theaterpublikum während des aktuellen Theatergeschehens, dessen zeitlicher Ablauf vom Zuschauer nicht gesteuert werden kann: "Die Bühnensprache muß man aber so unmittelbar verstehen wie eine Rede. Die Bühne ist ein Ereignis. Ein Buch liest man und kann zurückblättern. Im Drama kann ich den Menschen nur als sprechenden zeigen." 152 Als formale Besonderheiten des dramatischen Sprachgebrauchs, die die Reproduktion und Rezeption des Dramas auf der Bühne gewährleisten, nennt Dürrenmatt vor allem Übertreibung und Verknappung. Die sprachliche Verknappung besteht in einer Kondensation der Textvorlage, mit der die Regieanweisungen und ähnliches des Nebentextes auf ein Minimum beschränkt und der Haupttext auf die dialogische Kernstruktur reduziert wird, um eine möglichst freie Ausschöpfung der Bühnenmöglichkeiten bei der Textreproduktion zu gewährleisten 153 . Die sprachliche Übertreibung hat dagegen die Funktion, die Vorstellungskraft des Zuschauers zu unterstützen: Doch muß ein sprachliches Moment hinzutreten, will man auf der Bühne erzählen. Die Bühnenerzählung kommt nicht ohne Übertreibung aus. Man achte, wie Shakespeare den Bericht des Plutarch von der Barke der (Cleopatra übertreibt. Dieses Übertreiben ist nicht nur ein Merkmal des barocken Stils, sondern ein Mittel, die Barke der (Cleopatra gleichsam auf die Bühne zu stellen, sichtbar zu machen. Keine Theatersprache kommt ohne Übertreibung aus, freilich ist es nötig, zu wissen, w o man übertreiben muß und vor allem: wie.154
Übertreibung und Verknappung als Besonderheiten eines bühnensspezifischen Sprachgebrauchs scheinen sich prinzipiell zu widersprechen, da sie jeweils von der nicht näher spezifizierten Norm der sprachlich-künstlerischen Darstellung in diametral entgegengesetzter Richtung abweichen. Doch dieser Widerspruch erweist sich in der Tat als lediglich scheinbar, da die Anwendung beider Techniken vor dem Hintergrund der Textwiedergabe auf der Bühne verständlich gemacht werden kann. Die Textverknappung läßt eine Ergänzung der Textvorlage durch Schauspieler und Bühne während der Inszenierung zu und erleichtert somit die Vermittlung des Dramengeschehens an das Publikum; die sprachliche und im Dramentext angelegte Übertreibung hilft dort, wo dies bühnentechnisch nicht oder nur unter größeren Schwierigkeiten möglich ist. Insofern stellen Verknappung und Übertreibung zwei Pole der (hinsichtlich der Sprache) dramaturgischen 152
F. Dürrenmatt in: Bloch (1971), S.56. - Vgl. F. Dürrenmatt: "Dramaturgie
eines
Durchfalls" (1976) [WA Bd.24, S.243], 153
Vgl. dazu Kap.2.1.6.
154
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" ( 1 9 5 4 ) [WA Bd.24, S.53], - Zur Übertreibung bei F. Dürrenmatt beispielsweise H.P. Madler (1981), S.136-138.
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Friedrich Dürrenmatt
Grundfrage Dürrenmatts dar: "Was ist die stärkere sprachliche Form im Sinne des Theaters?"'5S Worin nun die Techniken seines dramatischen Sprachgebrauchs im einzelnen bestehen, läßt Dürrenmatt weitgehend offen; eine Konkretisierung erfolgt in seiner Sprachreflexion kaum. Eines der spärlichen Beispiele für eine solche Konkretisierung findet sich in dem Gespräch Dürrenmatts mit Peter André Bloch und Rudolf Bussmann über den "Schriftsteller und sein Verhältnis zur Sprache". Hier äußert er sich über das Problem der Tempuswahl und die wirkungsästhetische Funktion der Satzklammer: Mir scheint, daß die Zeiten gerade beim Drama die größte Rolle spielen [...]. Diese Sprachmöglichkeit [der Wahl zwischen Präsens und Präteritum] wendet man im Theater außerordentlich gerne an. So kommt es oft vor, daß ich einen Satz verzögern will oder umgekehrt. Nehmen wir ein Beispiel aus Play Strindberg: (Szene "Hausmusik") Alice sitzt am Klavier und spielt einen Chopin. Ans Klavier lehnt sich Kurt; Edgar kommt, hängt die Mütze und den Säbel an den Kleiderständer. Edgar zündet sich eine Zigarre an, lehnt sich rechts ans Klavier. Alice spielt zu Ende. Nun sagt Edgar: "Was habt ihr getrieben?" Wenn er da sagen würde, "was triebt ihr?", dann wäre das aggressiver. Antwort: "Wir haben die Insel besichtigt." In dieser Frage ist für mich das Perfekt - im Gegensatz zum Präteritum - weniger aggressiv, ruhiger, alltäglicher. Ich brauche sprachliche Steigerungen im Drama; dabei ist für mich das Perfekt eher das naturalistische Element. - Es folgt: "Wir haben die Insel besichtigt. Eine miese Insel. Ein interessanter Hafen. - Und was hast du getrieben?" "Ich habe in der Stadt gewaltig gegessen." Stellen Sie sich jetzt vor, er würde sagen: "Ich aß in der Stadt gewaltig" - dann wäre die Verzögerung der Aussage und damit die Überraschung, daß dieser kranke Mann in der Stadt gewaltig gegessen hat, verloren. 1 5 6
Anhand des spezifischen Sprachgebrauchs grenzt Dürrenmatt nun das Drama von verwandten Literaturgattungen wie Hörspiel oder Film ab157. So heißt es etwa: "Der Vorteil des Theaters gegenüber dem Hörspiel, aber auch der Vorteil des Films oder des Fernsehens liegt gerade darin, daß in ihnen die Sprache nicht als das unmittelbare Medium, sondern als der eigentliche Höhepunkt erreicht wird."158 Dies ist dadurch möglich, daß die Sprache beim Drama oder Film im Gegensatz etwa zur Prosa zwar lediglich ein Ausdruckmittel neben anderen, nonverbalen Ausdrucksmitteln darstellt, diesem aber eine exklusive Stellung gegenüber den anderen eingeräumt wird. Einen wichtigen Bereich nonverbaler Ausdrucksmittel stellen mit Sicherheit visuelle Mittel dar, welche im Film etwa durch Schnitt,
155 156 157 158
F. Dürrenmatt in: Bloch (1971), S.57. - Vgl. R. Girard (1979), S.231. Ebd., S.48. - Vgl. dazu R. Bussmann (1971). Vgl. auch Kap. 1.1.1. zur Abgrenzung gegenüber anderen Literaturgattungen. F. Dürrenmatt: "Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit" (1956) [WA Bd.26, S.65f.]; vgl. auch "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.47],
Sprache
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Überblendung und die Wahl geeigneter Ausschnitte noch gezielter eingesetzt werden können, als dies im Theater möglich ist, wo durch die Bühnentechnik und die feste Position des Zuschauers hier deutliche Grenzen gesetzt werden. Auch hier kommt dem Einsatz von Sprache nach Dürrenmatt wieder eine wichtige rezeptionsunterstützende Funktion zu, da durch das Sprechen auf der Bühne auch der Sichtverlauf des Zuschauers gesteuert wird. Dies erläutert Dürrenmatt anhand seiner Auseinandersetzung mit Andrzej Wajda: "Als Filmregisseur, dozierte er, vermöge er die Optik des Zuschauers durch die Kamera zu lenken, auf der Bühne sei ihm das unmöglich [...]. Daß diese Funktion auf der Bühne die Sprache übernimmt, entging ihm. Ein Mensch, der redet, zieht die Blicke der Zuschauer auf sich."159 Das Sprachhandeln der Bühnenfiguren spielt nun eine wichtige Rolle in Dürrenmatts dramaturgischen und sprachreflexiven Denken. Hierbei stehen zum einen die sprachliche Charakterisierung der Bühnenfiguren und zum anderen deren Dialoge und Monologe im Mittelpunkt.
3.2 Die Charakterisierung von Figuren Ein wesentlicher Aspekt des Theaters besteht für Dürrenmatt in der Darstellung von Menschen auf der Bühne: "Theater ist nicht Sprache an sich, sondern Menschendarstellung durch die Sprache und durch den Schauspieler." 160 Dabei werden von Dürrenmatt zwar lediglich bestimmte menschliche Typen dargestellt, indem von deren Individualität abstrahiert und ihr Handeln stilisiert wird. Doch muß trotz dieser Stilisierung der Figur deren Rezipierbarkeit durch ein gewisses Maß an individualisierenden Zügen gesichert bleiben. Eine Technik dieser Typenindividualisierung besteht nun darin, im Text für jede Figur einen charakterisierenden Sprachgebrauch festzulegen. "Je mehr ich stilisiere," erläutert Dürrenmatt im Gespräch mit Peter André Bloch und Rudolf Bussmann, "umso wichtiger wird der Schauspieler, der die Figur wieder realisiert. Dabei muß ich ihm aber helfen, eben durch die charakterisierende Sprache." 161 In einer 159 160
161
F. Dürrenmatt: "Dramaturgie eines Durchfalls (1976) [WA Bd.24, S.243], F. Dürrenmatt: "Zum Tode Ernst Ginsbergs" (1965) [WA Bd.24, S.132f.]. - Zur Figurengestaltung Dürrenmatts im allgemeinen (ohne besondere Berücksichtigung ihrer Sprache) vgl. etwa H.A. Pausch (1976). F. Dürrenmatt im Gespräch mit P.A. Bloch und R. Bussmann (1971), S.56. - Vgl. dazu auch H. Badertscher (1979), S.115f. und S.l 19-124. In literaturwissenschaftlichen Arbeiten der 1960er Jahre wird dagegen oft eher das Typisierende als das Individualisie-
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Friedrich DUrrenmatt
Passage desselben Gespräches legt er sogar nahe, die Figurencharakterisierung als wesentliches Merkmal der Dramensprache anzusehen, indem er behauptet, daß die "dramatische Sprache [...] eine charakterisierende Sprache" 162 sei. Anhand der Ciaire Zachanassian aus "Der Besuch der alten Dame" macht Dürrenmatt dies deutlich: "Was ist Ciaire Zachanassian? Sie ist ja nur noch Prothese, sie ist fast nur eine Maschine, sie hat auch fast nur noch eine Kunstsprache." 163 Bestimmt Dürrenmatt hier lediglich ein allgemeines Merkmal des Idioms der alten Dame, so nennt er an anderer Stelle ein mögliches Spezifikum dieser Sprache: "[...]; es kommt ganz darauf an, was für Menschen Sie schildern. Die alte Dame, glaube ich, spricht eher im Präteritum, während die andern Leute, das einfache Volk, mehr im Perfekt sprechen." 164 Weitergehende Erläuterungen hierzu bietet Dürrenmatt selbst nicht. Dürrenmatts Figurencharakterisierung ist durchaus nicht statisch. Im Gegenteil: Er fordert nicht nur eine Entwicklung der Figur im Verlauf des Stückes selbst, sondern auch eine entsprechende Veränderung in deren Sprachgebrauch, durch die diese Entwicklung manifestiert wird. So bemerkt er beispielsweise über den Schlußteil von "Der Besuch der alten Dame": "Zwar werden die Leute hier feierlicher, als es in der Wirklichkeit natürlich wäre, etwas mehr in der Richtung dessen hin, was als Dichtung bezeichnet wird, als schöne Sprache, doch nur, weil die Güllener nun eben reich geworden sind und als Arrivierte auch gewählter reden." 165 Entsprechend schildert Dürrenmatt die Veränderungen im Sprachgebrauch des Engels im Verlauf des Stücks "Ein Engel kommt nach Babylon": "Wie die Personen auf der Bühne, kann auch ihre Sprache ein Schicksal erleiden: Der Engel etwa, der nach Babylon kommt, wird von Akt zu Akt über die Schönheit der Erde begeisterter, seine Sprache muß diese steigende Begeisterung ausdrücken und sich bis zum Hymnus steigern." 166 rende der Figurendarstellung Dürrenmatts hervorgehoben. So stellt G. Westphal beispielsweise die These auf, daß eine solche sprachliche Charakterisierung von Dürrenmatt eher bei Nebenfiguren als bei Hauptfiguren vorgenommen wird (G. Westphal 1964, S.87); ein Nachweis hierfür anhand der Dramentexte erfolgt nicht. Vgl. auch C.M. Jauslin (1964), S.122. 162 163 164 165
166
Ebd., S.53. E b d , S.52. Ebd., S.51. - Vgl. dazu R. Bussmann (1971), S.220f. F. DUrrenmatt: "Anmerkung I" (1956; zu "Der Besuch der alten Dame") [WA Bd.5, S.141]. - Zur sprachlichen Entwicklung der Güllener auch E.K. Neuse (1975), S.226; zur sprachlichen Gestaltung des Dramas allgemein R. Girard (1979). F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.53]. - Zur Sprachgestaltung des Engels vgl. z.B. auch E. Brock-Sulzer ( 4 1973), S.78; S. Melchinger (1977), S.29. Zu derjenigen des Romulus etwa H.-J. Syberberg (1965), S.82f.
Sprache
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Ihren Höhepunkt erreicht eine solche Figurencharakterisierung in denjenigen Situationen des Stücks, in denen die sprachlichen Äußerungen der Figur ihren Typ deutlich aus der individuellen Konkretisierung heraus erkennen lassen. Dies zeigt Dürrenmatt wiederum am Beispiel der frühen Komödie "Ein Engel kommt nach Babylon": Der Bettler Akki [...] erzählt sein Leben in Makamenform, in einer Prosa, die Reime enthält und aus dem Arabischen kommt. Damit versuche ich, das Arabische dieser Gestalt, die Freude am Fabulieren, am Wortgefecht, am Wortspiel auszudrücken, ohne jedoch in eine andere Form, etwa ins Chanson, zu fallen. Die Makamen des Akki sind nichts anderes als die äußerste Möglichkeit seiner Sprache und somit eine Verdichtung seiner Gestalt. Akki wird in ihnen ganz Sprache, ist in ihnen Sprache geworden, und das hat ein Bühnenschriftsteller immer anzustreben: daß es in seinem Theater Momente gibt, in denen die Gestalten, die er schreibt, Sprache werden und nichts anderes. 1 6 7
Die sprachliche Charakterisierung einer Figur und deren Entwicklung gewinnt nach Dürrenmatt während des Schreibens eine gewisse Eigendynamik. Diese besteht darin, daß die konkrete Ausgestaltung der Sprechweise einer Figur die Wahl weiterer sprachlicher Spezifika einschränkt bzw. den Einsatz ganz bestimmter sprachlicher Mittel erforderlich macht, um ihre Charakterisierung homogen zu erhalten. Die Schaffung eines charakteristischen Figurenidioms konstituiert danach also eine eigene sprachliche Norm, an die der Schriftsteller selbst bis zu einem gewissen Grad gebunden ist. Dürrenmatt erläutert dies anhand seiner Erfahrungen bei der Produktion von Hörspielen: Sicher gibt es die Freude an der Sprache, das Vergnügen, zu spüren, daß ein Wort, ein Satz, eine Periode, eine Passage oder gar ein Gedanke nur so sein kann und nicht anders; die Lust an der Raffinesse, am Detail, an der Unterscheidung und so weiter; doch zählt dies alles nichts, war man einmal dabei, wie eine Gestalt zu leben beginnt, Eigengesetzlichkeit erlangt, zu reden anfängt, die Sprache diktiert, selber ihr Schicksal formt: diesem Erlebnis gegenüber wird alles andere gleichgültig, zweitrangig. 1 6 8
Man darf davon ausgehen, daß Dürrenmatt bei der Ausarbeitung einiger seiner Dramenfiguren eine ähnliche Faszination empfand.
167
168
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.54f.]. - Jan Knopf bemerkt hierzu zurecht, daß dies noch einen "Widerspruch zum Primat der Bühne" darstelle, und stellt einen Wandel der sprachlichen Figurencharakterisierung in den späteren Stücken Dürrenmatts fest (J. Knopf "1988, S.88f.). F. Dürrenmatt: "Hörspielerisches" (1958) [WA Bd.17, S. 156]; vgl. auch F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1922), S.22.
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Friedrich Dürrenmatt
3.3 Monologe und Dialoge Entsprechend der Einsicht, daß "gerade Gespräche Handlungen sind"169, stellen die Funktion und die Gestaltung von Dialogen wie Monologen einen wichtigen Bereich in Dürrenmatts dramaturgischer Sprachreflexion dar, wobei dem Verhältnis von dem sprachlichen Handeln der Figuren und dem gesamten Handlungsverlauf des Stückes selbst ein besonderes Gewicht beigemessen wird170. "Der Mensch des Dramas ist ein redender Mensch", heißt es in den "Theaterproblemen" in der Auseinandersetzung mit dramatischen Dialogen, "und die Handlung ist dazu da, den Menschen zu einer besonderen Rede zu zwingen. Die Handlung ist der Tiegel, in welchem der Mensch Wort wird, Wort werden muß. Das heißt nun aber, daß ich den Menschen im Drama in Situationen zu bringen habe, die ihn zum Reden zwingen." 171 Von einem dramatischen Dialog fordert Dürrenmatt hier also eine gewisse Situationsund Handlungsangemessenheit. Diese besteht zum einen darin, daß ein Dialog aus einem bestimmten verbalen oder nonverbalen Kontext der dramatischen Handlung heraus erforderlich wird, und zum anderen, daß er die Handlung weiterfuhrt, d.h. in eine neue Situation mündet: "Muß der Dialog aus einer Situation entstehen, so muß er in eine Situation fuhren, in eine andere freilich. Der dramatische Dialog bewirkt: ein Handeln, ein Erleiden, eine neue Situation, aus der ein neuer Dialog entsteht usw." 172 Dabei ist die Spannung, die sich aus dem Verhältnis von Dialog und Handlung ergibt, von besonderer Bedeutung: "Ohne den Zusatz einer besonderen Spannung, einer besonderen Situation gibt es keinen dramatischen Dialog." 173 Als Beispiel nennt er in diesem Zusammenhang ein Gespräch zweier Personen, die jeweils eine von ihrem Gegenüber heimlich vergiftete Tasse Kaffee trinken; ohne diese Situation und ihren Kontext wäre die Konversation der beiden, und sei sie noch so tiefsinnig, von der Dramatik her uninteressant bzw. unwirksam 174 . Der Grund hierfür liegt in
169 170
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F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der Mitmacher") [WA Bd.14, S. 180]. Vgl. auch F. Dürrenmatt: "Aspekte des dramaturgischen Denkens" (1964) [WA Bd.24, S.117f.] - Zur Diologgestaltung in einzelnen Dramen Dürrenmatts vgl. neben den bekannten Monographien beispielsweise K. Arnvig (1983); A. Betten (1981); E.K. Neuse (1975); S.S. Wolfe (1982); H.-J. Syberberg (1965), S.20-37 und S.85-87. F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.51], Ebd., S.51 f. Ebd., S.51. In einem solchen Gespräch entstehen verschiedene horizontale Bedeutungsschichten für die Bühnenfiguren und für das Theaterpublikum, die aufgrund ihrer Inkongruenz in
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der Unmittelbarkeit der Wirkung, auf die der dramatische Dialog wegen der spezifischen Rezeptionsbedingungen des Theaters angewiesen ist: "Ein Theaterdialog ist etwas vollständig anderes als der Schriftdialog eines Epikers, der nicht so unmittelbar direkt wirken muß."' 75 In den "Theaterproblemen" wird auch hinsichtlich des dramatischen Monologs eine gewisse Situations- und Handlungsangemessenheit gefordert. Doch besteht diese Angemessenheit hier nicht in der wechselseitigen Bedingtheit von sprachlicher Äußerung und Situation bzw. Handlung, sondern in einer adäquaten Selbsterklärung einer Figur gegenüber dem Theaterpublikum, um diesem die unmittelbare Rezeption des Bühnengeschehens zu erleichtern: "Nun ist der Mensch ja nicht nur ein redender Mensch. Die Tatsache, daß er denkt oder doch denken sollte, daß er fühlt, vor allem fühlt, und daß er dies Denken, dies Fühlen anderen nicht immer offenbaren will, hat dazu gefuhrt, das Kunstmittel des Monologs anzuwenden."176 Dabei wird implizit vorausgesetzt, daß der entsprechende Monolog genau in den Handlungsverlauf des Stückes integriert wird. Beim späten Dürrenmatt wird diese Voraussetzung aufgegeben und der Monolog als selbständige Texteinheit neben die Handlung des Stückes gestellt, ja sogar als Bedingung für dessen weiteren Verlauf eingesetzt. Dies erläutert Dürrenmatt anhand seiner zahlreichen und umfänglichen Monologe im "Mitmacher": Die Analyse des Mitmachers zeigt, daß seine Monologe auf einer anderen Ebene als auf jener der Handlung stattfinden, daß sie nicht im Spiel aufgehen, und wenn sie aufzugehen scheinen, so nur, um eine vergangene Zeit herzustellen, daß sie dagegen die Handlung ermöglichen, indem sie aus dem Zeitlosen immer wieder in die Handlung einbrechen, sie bedingen oder vorwärtstreiben, so sehr, daß die reale Handlung nicht unbedingt zeitlich folgerichtig abzulaufen braucht. 177
Die Selbsterklärung der Bühnenfigur ist beim Monolog nicht direkt an ein Publikum gerichtet, sondern hat lediglich den Charakter eines über die
175 176 177
einem horizontalen Spannungsverhältnis zueinander stehen; vgl. K. Arnvig (1983), insbes. S.295 und S.315. H.-J. Syberberg (1965, S.20-37 und S.85-87.) stellt dagegen bei der Analyse der Dramenpraxis Dürrenmatts fest, "daß die für die künstlerische Gestaltung des Dramas wesentlichen Dialogformen des Nebeneinander- und des An-einandervorbei-redens für den Fortgang der Handlung keinen entscheidenden Impuls tragen" (ebd., S.37), und problematisiert damit Dürrenmatts dramaturgische Position, daß Dialog und Handlung einander bedingen sollen. - Vgl. daneben auch H. Badertscher (1979), S.73-75; H.P. Madler (1981), S.128-132; E.K.Neuse (1975), S.226f. F. Dürrenmatt im Gespräch mit P.A. Bloch und R. Bussmann (1971), S.50. F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.52], F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der Mitmacher") [WA Bd.14, S.121f.]; zu den einzelnen Monologen vgl. zusammenfassend ebd., S.122f. sowie Dürrenmatts Einzelkommentare im "Nachwort".
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Figurenebene nicht hinausweisenden Selbstgespräches, mit dem der Zuschauer durch den Autor lediglich mittelbar angesprochen wird. Die unmittelbare Ansprache einer Figur an ein Publikum, sei es beim Drama nun an eines der Figurenebene oder (über die Figurenebene hinausweisend) an das Theaterpublikum, wird von Dürrenmatt explizit vom Monolog unterschieden: "Doch ist nicht alles Monolog, was sich wie ein Monolog anhört. Der Sinn des Dialogs ist es nicht nur, den Menschen dahin zu bringen, wo er handeln oder erleiden muß, sondern bisweilen auch in die große Rede zu münden, in die Erklärung seines Standpunktes." 178 Und diese Erklärung nun setzt ein Publikum voraus: "Eine Rede ist ein Ansprechen eines Publikums und das Darlegen eines Standpunktes." 179
3.4 Rhetorik und Versmaß Den traditionellen Eigenheiten dramatischen und anderen literarischen Sprachgebrauchs wie den Mitteln der Rhetorik oder dem Einsatz eines Versmaßes steht Dürrenmatt eher skeptisch gegenüber. Sofern solche Mittel hinsichtlich der Inszenierung nicht funktional bestimmt, und das heißt: reproduktions- und rezeptionsästhetisch begründet sind, sondern lediglich um ihrer selbst Willen eingesetzt werden, lehnt Dürrenmatt deren Gebrauch ab: "Der Fehler vieler Stücke liegt in ihrer dichterischen Sprache." 180 schreibt Dürrenmatt schon Ende der 40er Jahre. Und in den "Aspekten des dramaturgischen Denkens" fuhrt er später aus: "Auch viele Schriftsteller kommen vor lauter Stil nicht mehr zum Schreiben. Der Inhalt der Sprache sind Gedanken, man arbeitet nicht an der Sprache, sondern am Gedanken, am Gedanken arbeitet man durch die Sprache. Große Sprache ist durch ihren Inhalt präzis, nicht durch sich selbst."181 Und das bedeutet für sprachliche Experimente: "Wer in sprachliches Neuland vorstoßen will (was heute fast jeder erklärt), muß nicht auf Sprachliches ausgehen, sondern auf neue Inhalte: auf neue Zusammenhänge, auf neue Konflikte, Probleme, auf Neu-Gedachtes." 182 Diese grundsätzliche Skepsis gegenüber Rhetorik und Stil verstärkt sich bei Dürrenmatt noch im Laufe der kommenden Jahre183. 178
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" (1954) [WA Bd.24, S.52],
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F. Dürrenmatt im Gespräch mit P.A. Bloch und R. Bussmann (1971), S.55f.
180
F. Dürrenmatt: "Hingeschriebenes" (1947/48) [WA Bd.27, S.l 1],
181
F. Dürrenmatt: "Aspekte des dramaturgischen Denkens" (1964) [WA Bd.24, S . l 18].
182
Ebd.
183
Vgl. etwa F. Dürrenmatt: "Nachwort zu 'Porträt eines Planeten'" (1971) [WA Bd.12, S.197],
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103
In Anbetracht der genannten Funktionen der Bühnensprache, insbesondere der Figurencharakterisierung und der Durch- bzw. Weiterfuhrung des Handlungsverlaufes, mißt Dürrenmatt nun dem Einsatz rhetorischer Mittel und der Verwendung eines Versmaßes bei der Dramenproduktion eine eher untergeordnete Rolle bei, da ihm zu deren Erfüllung andere Techniken, etwa die Kondensation des Dramentextes, geeigneter erscheinen: Jeder Satz steht in einer Spannung zu einem andern Satz. Wir haben heute nicht mehr das Rhetorische, darum haben wir auch nicht mehr den Vers. Der Vers war das Mittel einer fließenden Kunstsprache. Heute haben wir die Prosa mit all ihren Möglichkeiten - mit den Möglichkeiten der Verknappung, der Verkürzung, der Charakterisierung. Wichtig ist, daß aus einer ganz bestimmten Konzeption und aus einer Handlung heraus geschrieben wird. 1 8 4
Bezüglich der Verwendung eines Vermaßes bedeutet dies jedoch nicht, daß hierdurch die Bühnenwirksamkeit eines Dramas notwendigerweise eingeschränkt werden würde. Der Vers ist für Dürrenmatt lediglich antiquiert, und er selbst nennt auch einige Beispiele für einen bühnenwirksamen Versgebrauch' 85 , so daß die Entscheidung für oder gegen die Verwendung eines Versmaßes für ihn nicht abschließend zu treffen ist: "Meine Antwort besteht einfach darin, daß ich in Prosa schreibe, ohne die Frage entscheiden zu wollen.'" 86 Daß Dürrenmatt sich in seinen Komödien kaum des Verses bedient, mag damit zusammenhängen, daß ihm die ungebundene Schreibweise doch zumindest eine etwas freiere Wahl des sprachlichen Ausdrucks hinsichtlich dessen Reproduktionsbedingungen auf der Bühne gestattet. Eines der wohl bekanntesten und eigenwilligsten Beispiele, in denen sich bei Dürrenmatt dennoch ein hochgradig stilisierter Sprachgebrauch findet, stellen einige Passagen seiner Komödien "Ein Engel kommt nach Babylon" (1954) und "Der Mitmacher" (1976) dar, in denen er sich der Form der arabischen Makame bedient. Hat diese Form in der frühen Komödie die Funktion einer bloßen Figurencharakterisierung 187 , wird sie in dem Spätwerk dem Song des Brechtschen Theaters entsprechend eingesetzt und hat eine verfremdende Funktion, durch die der soziale und politische Hintergrund des Stückes verdeutlicht werden soll: "Erst durch die Makame aber ist der komödiantische Hintergrund gegeben, die Welt der totalen Korruption, erst durch die Makame wird dieser Hintergrund auf dem
184
F. Dürrenmatt im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.19f.
185
Vgl. F. Dürrenmatt. "Friedrich Schiller" (1959), S.90.
186
F. Dürrenmatt: "Theaterprobleme" ( 1 9 5 4 ) [WA Bd.24, S.64f.].
187
Vgl. Kap.3.2.
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Friedrich Dürrenmatt
Theater Wirklichkeit: durch Sprache." 188 Hier bedient sich Dürrenmatt also ganz bewußt stilistischer Mittel und gibt eine explizite Begründung für deren Gebrauch. In dieser Begründung wird ungeachtet der bekannten Problematisierungen in Dürrenmatts späteren Stücken noch einmal der bühnenpragmatische Ausgangspunkt seiner dramaturgischen und sprachbzw. kommunikationsreflexiven Überlegungen deutlich, indem er den Gebrauch solcher Mittel als eine durch den schriftlichen Text vorgegebene Unterstützung fiir die bühnentechnisch kaum realisierbare Vermittlung der Bedingungen des Dramengeschehens an den Zuschauer interpretiert.
188
F. Dürrenmatt: "Nachwort" (1976; zu "Der Mitmacher") [WA Bd.14, S.217], - Zur Verwendung der Makamenform bei Dürrenmatt vgl. beispielsweise M. Durzak (1972), S.88-90.
Reflexion dramatischer Kommunikation bei Peter Handke
1. Text und Inszenierung 1.1 Die metakommunikative Dramengestaltung Ein zentrales Merkmal des literarischen Schaffens von Peter Handke besteht in der Absicht, menschliche Handlungsweisen und deren Normbzw. Schablonenhaftigkeit darzustellen und zu verdeutlichen; dabei werden insbesondere sprachlich-kommunikative Handlungsweisen berücksichigt. In Handkes Dramen lassen sich nun mindestens drei Verfahren unterscheiden, derer sich der Autor zur Vorführung und Verdeutlichung solcher kommunikativen Handlungsweisen bedient. Das erste dieser metakommunikativen Verfahren besteht darin, die Bühnenfiguren nicht miteinander kommunizieren, sondern sich direkt an das Publikum wenden zu lassen, so z.B. verwirklicht in der "Publikumsbeschimpfung" (1966). Im zweiten Verfahren läßt der Autor von den Figuren sprachliche Zeichen ohne unmittelbare kommunikative Funktion überhaupt (weder untereinander, noch zum Publikum hin) verwenden; dieses Verfahren, die Bühnenfiguren akommunikativ sprechen zu lassen, findet sich in den Sprechstücken "Weissagung" (1966), "Selbstbezichtigung" (1966) und "Hilferufe" (1967). Das dritte Verfahren schließlich besteht in einer wie auch immer gearteten Hervorhebung sprachlicher Handlungsweisen im Rahmen einer direkten Kommunikation zwischen den Figuren des Dramas selbst, d.h. in der Verdeutlichung kommunikativer Normen für den Zuschauer während der Vorführung kommunikativen Handelns auf der Figurenebene; dies findet sich beispielsweise - wenn auch jeweils auf unterschiedliche Weise verwirklicht - im "Kaspar" (1966) und in "Der Ritt über den Bodensee" (1970)'. Die ersten beiden dieser drei Verfahren widersprechen den Kommunikationsbedingungen des traditionellen Theaters, da in den entsprechenden Stücken dem Publikum keine verbale oder nonverbale Handlung auf der Bühne (mit welcher Absicht auch immer) vorgeführt wird. Das dritte Verfahren übernimmt dagegen diese traditionellen Kommunikationsbedingungen und besteht im Gegensatz zu diesen beiden lediglich in einer ModiZur Werkgeschichte und Handkes Dramentheorie vgl. die Literaturangaben der Einleitung, Anm.4.
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Peter Handke
fikation des auf der Bühne Vorgeführten selbst. Erwartungsgemäß sind daher die dramaturgisch-kommunikationsreflexiven Äußerungen Handkes zu den ersten beiden Verfahren sowohl zahlreicher als auch aufschlußreicher als diejenigen, die das dritte Verfahren betreffen. 2 Mit "Die Unvernünftigen sterben aus" (1973) scheinen Handkes Dramen schließlich ihren metakommunikativen Charakter weitgehend einzubüßen. Die Anlage und Dramaturgie dieser Stücke kann im Prinzip als traditionalistisch interpretiert werden und wird daher im folgenden nicht berücksichtigt. Die meisten Erläuterungen Handkes zu dem ersten Verfahren, nach dem die Bühnenfiguren nicht miteinander kommunizieren, sondern sich direkt an das Publikum wenden, finden sich innerhalb des Stückes "Publikumsbeschimpfung" selbst, wobei diese der Konzeption des Autors nach jeweils von einem von vier "Sprechern" des Stückes innerhalb einer Inszenierung dem betreffenden Publikum vorgesprochen werden sollen. So heißt es dort etwa im Haupt- bzw. Sprechertext: "Wir äußern uns durch nichts als durch Worte. Wir sprechen nur. Wir äußern. Wir äußern nicht uns, sondern die Meinung des Autors. Wir äußern uns, indem wir sprechen. Unser Sprechen ist unser Handeln. Indem wir sprechen, werden wir theatralisch. Wir sind theatralisch, weil wir in einem Theater sprechen." 3 Die Figuren des Stücks "sprechen nur", d.h. sie handeln allein durch die Verwendung sprachlicher Zeichen. Dabei erfolgt dieser Gebrauch von Sprache in dem ersten Teil des Stücks mit dem Ziel der Meinungsäußerung des Autors 4 . Diese Meinungsäußerung erfolgt hier jedoch nicht etwa in einem Essay, einem Vortrag oder einer ähnlichen Textsorte, deren Funktion die direkte Äußerung des Textproduzenten gegenüber einem bestimmten Publikum ist, sondern sie erfolgt mittelbar in einem Theaterstück durch Personen auf einer Bühne, die diesen Text anstelle des Autors äußern bzw. vortragen; dabei handelt es sich inhaltlich, wie die Textstelle bereits zeigt, um dramentheoretische Reflexionen des Autors. Das Besondere der Konzeption Handkes besteht nun gerade in dieser Kommunikationssituation, in der solche Äußerungen der Autorenmeinung erstens in einem Theater, und damit unter dessen Handkes Äußerungen zu Sprache und Kommunikation, w i e sie etwa im "Kaspar", der ebenfalls der dritten Gruppe zuzurechnen ist, thematisiert werden, sind dagegen qualitativ und quantitativ sehr ergiebig und waren daher bereits oft Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion (vgl. dazu auch Kap. 1.2.). Doch betreffen diese Reflexionen nicht die dramatische Kommunikation, sondern andere Typen und Aspekte sprachlichkommunikativen Handelns, so daß in diesem Zusammenhang auf deren Erörterung verzichtet werden muß. P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.33]; vgl. ebd., S.40f. Im zweiten Teil des Stücks werden dann Schimpftiraden an das Publikum gerichtet; vgl. dazu unten.
Text und Inszenierung
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spezifischen kommunikativen Voraussetzungen, und zweitens über diese kommunikativen Voraussetzungen und die Kommunikationssituation im Theater selbst erfolgen. Hiermit wird in diesem Sprechstück die Handlungsund Kommunikationsebene der Figuren selbst aufgelöst, da die Figuren des Dramas nicht miteinander kommunizieren, sondern als Personen auf der Bühne metatheaterkommunikative Überlegungen des Autors direkt gegenüber dem Theaterpublikum äußern 5 . Das zweite Verfahren Handkes, kommunikative Verhaltensweisen im Drama darzustellen und dabei zu verdeutlichen, charakterisiert der Autor zum Beispiel folgendermaßen: Die Methode meiner ersten Stücke ist [...] eine Beschränkung der theatralischen Handlungen auf Wörter gewesen, deren widersprüchliche Bedeutung eine Handlung und eine individuelle Geschichte verhinderten. Die Methode bestand darin, daß kein Bild mehr von der Wirklichkeit gegeben wurde, daß nicht mehr die Wirklichkeit gespielt und vorgespielt wurde, sondern daß mit Wörtern und Sätzen der Wirklichkeit gespielt wurde. 6
Handke charakterisiert diese "Beschränkung der theatralischen Handlungen auf Wörter" als Spiel mit sprachlichen Zeichen. Dieses Spiel besteht in einem Gebrauch solcher Zeichen, ohne damit eine unmittelbare kommunikative Funktion zu verbinden. Dabei betrachtet Handke offensichtlich die Darstellung von "Handlungen", "individuellen Geschichten" oder von "Wirklichkeit" durch eine Inszenierung für ein Publikum als die wesentliche kommunikative Funktion des traditionellen Theaters; andere Funktionen erwähnt der Autor in diesem Zusammenhang nicht. Es wird danach also in diesen Stücken Sprache allein um des Vorganges des Sprechens willen verwendet und dem Publikum "kein Bild mehr von der Wirklichkeit gegeben". Damit wird die Kommunikationssituation des Theaters auf sich selbst zurückgeführt, da dessen genuine Funktion, die Handke zufolge in der Vorführung und schließlich in der Rezeption menschlichen Handelns besteht, nicht erfüllt wird, und diese Darstellung auch nicht durch epische oder, wie in der "Publikumsbeschimpfung", durch reflexive Texteinheiten ersetzt wird. Aus dieser bewußten Zurückfuhrung der Kommunikationssituation des Theaters auf sich selbst kann nun eine mittelbare Funktion der Sprechstücke abgeleitet werden, indem der Zuschauer hierdurch sowohl auf die Sprache und das Sprechen als Dabei werden die Figuren von Handke spielerisch bereits in der Textvorlage durch die Verwendung des Pronomens der ersten Person als Subjekte der sprachlichen Äußerungen eingesetzt. - Vgl. zur Kommunikationssituation bei der Inszenierung der "Publikumsbeschimpfung" auch G. Fuchs (1989), S.99f. P. Handke: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1967) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.27]; vgl. "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stucke 1, S.201],
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Kommunikationsmittel selbst als auch auf die spezifischen Kommunikationsbedingungen des Theaters aufmerksam gemacht werden kann 7 . Der Gebrauch sprachlicher Zeichen ohne unmittelbare kommunikative Funktion erfolgt in den verschiedenen Sprechstücken nach jeweils einem anderem Muster. So besteht die "Weissagung" etwa aus einer Reihe von tautologischen Sätzen, die in einfachen Variationen etwa dem Schema "x wird sein wie x" gehorchen und von vier Schauspielern in freier Folge zu sprechen sind. Durch diese Aneinanderreihung von Tautologien wird ein Gebrauch sprachlicher Zeichen erreicht, der nach Handke aufgrund des fehlenden Aussagegehalts der Sätze frei von jeglicher Darstellung ist und auch sonst einer weiteren unmittelbaren kommunikativen Funktion entbehrt: "In der Weissagung ist schon jeder Satz für sich sinnlos; der Sinn braucht nicht erst durch einen anderen Satz aufgehoben werden [...]. Die Weissagung ist kein Sinnspiel, sondern ein Sprachspiel." 8 Trotz der hier offenbar werdenden und vermutlich nicht unbeabsichtigten Übereinstimmung von Handkes Sprachgebrauch mit demjenigen Ludwig Wittgensteins muß der experimentell-akommunikative Gebrauch sprachlicher Zeichen in Handkes Sprechstücken von der Sprachspielkonzeption Wittgensteins, die den Gebrauch sprachlicher Zeichen an bestimmte und unmittelbare kommunikative Ziele bindet, unterschieden werden. 9 In dem Stück "Selbstbezichtigung" wird diese angestrebte Sinn- bzw. Funktionslosigkeit der gesprochenen Sätze nicht durch Tautologien, sondern durch künstlich erzeugte Widersprüche hergestellt. Handke schildert dieses Verfahren in Abgrenzung von demjenigen der "Weissagung" etwa wie folgt: "Die Weissagung ist von den drei Sprechstücken das rein formalistische. Nicht ein Satz gibt, wie in der Selbstbezichtigung, einen Sinn vor, dem der Sinn eines anderen Satzes dann widerspricht." 10 Die Muster, nach denen Handke in den Sprechstücken sprachliche Zeichen ohne unmittelbare kommunikative Funktion verwendet, entspre7 8
Zur Funktion der Sprechstücke vgl. Kap.1.2. P. Handke: "Über das Stück 'Weissagung'" ( 1 9 7 2 ) [Stücke 1, S.204], Vgl. dazu etwa G. Sergooris (1979), S.90-95.
9
Vgl. beispielsweise Wittgenstein (1977), S.178. - Zu Wittgenstein selbst vgl. etwa A. Kenny ( 1 9 7 3 ) und Wuchterl/HUbner (1979). Zu Handkes (nicht immer glücklicher, oft vermutlich überschätzter) Rezeption der Sprachphilosophie Wittgensteins vgl. u.a. N. Hern (1971), S.72f.; M. Blanke (1972), S.285-289; J. Zeller (1972), S.223-231; R. Gilman (1974), S.267f.; G. Heintz ( 2 1976), S.73f. und S.82f.; M. Mixner (1977), örtl.; H. König (1978), örtl. und insbes. S.18-44; R. Hayman (1979), S.95-123; R. Bauer (1980); C. N o b l e (1981), S.49-58. - Hierzu auch P. Handke selbst im Gespräch mit Chr. Lindner 1974, S.39).
10
P. Handke: "Über das Stück 'Weissagung'" ( 1 9 7 2 ) [Stücke 1, S.204]; vgl. auch "Über das Stück 'Selbstbezichtigung'" ( 1 9 7 2 ) [Stücke 1, S.205].
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chen nach Angaben des Autors tradierten Sprechweisen bzw. Textsorten vor allem der mündlichen Kommunikation. So heißt es etwa 1966 in Handkes "Bemerkung zu meinen Sprechstücken": "Die Sprechstücke sind theatralisch insofern, als sie sich natürlicher Formen der Äußerung in der Wirklichkeit bedienen. Sie bedienen sich nur solcher Formen, die auch in der Wirklichkeit naturgemäß Äußerungen sein müssen, das heißt, sie bedienen sich der Sprachformen, die in der Wirklichkeit mündlich geäußert werden."" Handke "bedient" sich hier jedoch lediglich dieser Sprechweisen als formaler Muster sprachlicher Kommunikation; sie werden hier nicht in ihrer spezifischen kommunikativen Funktion gebraucht, sondern werden unter Beibehaltung der Regeln des sog. Sprachsystems12 "spielerisch" so transformiert, daß die entsprechenden sprachlichen Äußerungen inhaltsleer bzw. funktionslos bleiben. Handke erläutert dies etwa am Beispiel der " Selbstbezichtigung": Ein Widerspruch liegt schon in der Form. Das Stück hat die Form einer katholischen Beichte und trägt die Bezeichnung jener öffentlichen Selbstanklagen, wie sie unter totalitären Regimen üblich sind. Obwohl die Assoziation zu beiden Formen möglich ist, ist das Stück nicht wirklich eine Beichte oder Selbstbezichtigung, sondern nur das formale Plagiat dieser Formen. 1 3
Der Autor selbst nennt folgende Sprechweisen oder Textsorten der mündlichen Kommunikation, die er den Formexperimenten seiner Sprechstücke zugrunde legt: Sie "bedienen sich der natürlichen Äußerungsform der Beschimpfung, der Selbstbezichtigung, der Beichte, der Aussage, der Frage, der Rechtfertigung, der Ausrede, der Weissagung, der Hilferufe"14. Mitte der siebziger Jahre distanziert sich Handke von solchen formalistischen Vorgehensweisen, mit denen er in den Sprechstücken und auch in einigen Prosaarbeiten der sechziger Jahre experimentiert hatte. So gesteht der Autor etwa 1976 in einem Gespräch mit H.L. Arnold: Schlimmer ist es bei Sachen, die einfach zu glatt sind, die von Anfang bis Ende nur formal sind, wo nichts zuwiderläuft, wo ein formales Modell eben als formales Modell erscheint und als nichts anderes. Und da habe ich bei dem Roman "Der Hausierer" das Gefühl, daß ich den lieber anders geschrieben hätte, auch Stücke wie "Weissagung" und "Hilferufe" wenn diese drei Stücke aus meinen Arbeiten raus wären, dann wäre mehr Freiheit darin. 15
In demselben Gespräch deutet Handke auch seine persönliche Alternative hierzu an:
11 12 13 14 15
P. Handke: "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stücke 1, S.201], Vgl. dazu etwa C. Bartmann (1984), S.56. P. Handke: "Über das Stück 'Selbstbezichtigung'" (1972) [Stücke 1, S.205]. P. Handke: "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stücke 1, S.201], P. Handke im Gespräch mit H.L. Arnold (1976), S.25.
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Nicht, daß ich ein unpersönlicher Hersteller wäre von literarischen Uhrwerken, was ja noch am Anfang der Fall ist: in den Stücken, in den Sprechstücken; sondern es kommt alles aus dem Durcheinander, aus dem Verworrenen, Undefinierbaren des eigenen Lebens, sowohl die Stücke als auch das, was man Roman oder Erzählung nennt. 1 6
Damit fordert der Autor explizit eine Abkehr von der formalistischen, auf der Figurenebene akommunikativen Vorgehensweise seiner früheren Sprechstücke, die er in einem 1986 geführten Gespräch mit H. Gamper auch einmal als "Montagestücke" bezeichnet 17 , und fordert damit implizit eine Hinwendung zu einer durch die Individualität des Autors bestimmten Darstellung bzw. Vorführung von menschlichen Handlungen auf der Bühne: "Aber es kommt alles aus derselben Biographie. Es muß bekräftigt werden durch den, der schreibt."18 Aber auch in diesen späteren Stücken, in denen dem Theaterpublikum auf der Figurenebene menschliches Handeln vorgeführt wird, hält der Autor an seinem früheren Thema, kommunikative Handlungsmuster darzustellen und zu verdeutlichen, fest und bedient sich dabei nun einer dritten Verfahrensweise. Diese besteht in der Hervorhebung von sprachlichen Handlungsweisen in einer Kommunikation zwischen den dramatischen Figuren selbst, indem die entsprechenden Sprechweisen oder Textsorten der mündlichen Kommunikation hier nicht als formale Muster gebraucht, sondern in ihrer jeweils genuinen Funktion auf der Bühne vorgeführt werden, wobei dem Zuschauer deren Form und Funktion verdeutlicht werden soll. So ist es Handke selbst zufolge das Ziel seines Dramas "Der Ritt über den Bodensee" (1970), "die in dieser Gesellschaft vorherrschenden menschlichen Umgangsformen darzustellen durch genaues Beobachten 1) der anscheinend im freien Spiel der Kräfte formlos funktionierenden täglichen Lebensäußerungen bei Liebe, Arbeit, Kauf und Verkauf, und 2) ihrer üblichen Darstellungsformen im Theater" 19 . Zu dem bereits 1969 erschienen Stück "Quodlibet" stellt Handke eine ganze Liste solcher kommunikativer "Umgangsformen" oder "Sprechfiguren", die in dem Stück gezeigt werden, auf: Im Quodlibet
sind zum Beispiel folgende Sprechfiguren vorhanden: Frage und Antwort
als Konversation, Auskunft, Frage-und-Antwort-Spiel; Mißverständnisse; Anspielungen; Erzählungen; Zitieren; Meinungen und Gegenmeinungen; Witzerzählen; Erzählungen als BEISPIELE ftlr etwas, worauf dann der j e w e i l i g e Zuhörer selber ein anderes BEISPIEL dafür erzählt (Beispiele für Angst, Dummheit, Rassenunterschiede etc.); M o n o l o g e , die als Antwort nur bestätigendes Schweigen erwarten; Monologe, die eigentlich "entschlüpft"
16
Ebd., S.27.
17
P. Handke im Gespräch mit H. Gamper (1987), S.124; vgl. ebd., S. 124-126.
18
P. Handke im Gespräch mit H.L. Arnold (1976), S.27.
19
P. Handke: "Der Ritt über den Bodensee" (1970) [Stücke 2, S.57],
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sind, die niemand hören sollte; Widersprechen; Halbschlafgespräche; Narzißmus des Sprechens, Sprechen, um die eigene Stimme zu hören; Sprechen-SPIELEN: die Zuhörer sind Spielpartner, die über ausgesparte Wörter in Sätzen Bescheid wissen und mitspielen, indem sie selbst solche Sätze bilden; Euphemismus; Wortspiele... 20
Diese Liste ist hinsichtlich der in dem Stück gezeigten kommunikativen Handlungsmuster sicherlich noch unvollständig, zeigt aber dabei dennoch, welch hohen Grad an Differenzierung Handkes Reflexion solcher Muster erreicht.
1.2 Die Aussage und Funktion des Dramas Die ersten beiden der drei oben beschriebenen Verfahren laufen den traditionellen Kommunikationsbedingungen des Theaters zuwider. Weder mit der direkten und theoretisierenden bzw. beschimpfenden Wendung der Bühnenfiguren an das Publikum, noch mit dem auf der Figurenebene akommunikativen Sprechen wird dem Publikum eine Handlung oder Fabel vorgeführt: "Es kann in den Sprechstücken keine Handlung geben, weil jede Handlung auf der Bühne nur das Bild von einer anderen Handlung wäre: die Sprechstücke beschränken sich, indem sie ihrer naturgegebenen Form gehorchen, auf Worte und geben keine Bilder [...]."21 Zum Sprechstück "Selbstbezichtigung", das auf ein akommunikatives Sprechen zweier Figuren angelegt ist, schreibt Handke beispielsweise: "Selbstbezichtigung ist ein Stück ohne Fabel. In ihr geht keine Geschichte vor sich, jedenfalls nicht die besondere Geschichte eines besonderen Menschen. Das 'Ich' der Selbstbezichtigung ist nicht das 'Ich' einer Erzählung, sondern nur das 'Ich' der Grammatik." 22 Und in der "Publikumsbeschimpfung" heißt es im Sprechertext, von den Figuren an das Publikum gesprochen: "Dadurch, daß wir nicht spielen und nicht spielend handeln, ist dieses Stück halb so komisch und halb so tragisch. Dadurch, daß wir nur sprechen und nicht aus der Zeit herausfallen, können wir Ihnen nichts ausmalen und nichts vorfuhren." 23 Damit gibt es in der "Publikumsbeschimpfung" keine verschiedenen Ebenen der Handlung und der Kommunikation, sondern allein P. Handke: "Zur Aufführung von 'Quodlibet'" [Stücke 2, S.157f.]. Auch das Stück "Kaspar" (1967) kann zu diesem Typ gerechnet werden; vgl. Kap. 1.2. sowie W. Klein (1975), S.305-308. P. Handke: "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stücke 1, S.201]; vgl. P. Handke im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.27 und S.35. P. Handke: "Über das Stück 'Selbstbezichtigung'" (1972) [Stücke 1, S.205]; vgl. ebd., S.205f. P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.33]; vgl. ebd., S.41.
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die unmittelbare Ansprache der Figuren an den Zuschauer: "Dadurch, daß wir nichts spielen, kann es hier nicht zwei oder mehrere Ebenen und auch kein Spiel im Spiel geben." 24 Handke verbindet mit der Darstellung einer Handlung auf der Bühne auch eine entsprechende Aussage des Dramas, die aus dieser Darstellung selbst abzuleiten ist. Dies wird in der "Publikumsbeschimpfung" von der Bühne aus deutlich gemacht: Hier wurde gespielt. Hier wurde Sinn gespielt. Die Spiele hier hatten einen Hintergrund und einen Untergrund [...]. Immer lauerte etwas zwischen Worten, Gesten und Requisiten und wollte Ihnen etwas bedeuten. Immer war etwas zweideutig und mehrdeutig [...]. Alles war gemeint. Alles sagte aus. Auch was vorgab, nichts auszusagen, sagte aus, weil etwas, das auf dem Theater vor sich geht, etwas aussagt. Alles Gespielte sagte etwas Wirkliches aus. Es wurde nicht um des Spiels, sondern um der Wirklichkeit willen gespielt. 25
Mit dem Fehlen einer Handlung auf der Ebene der Figuren nun weisen die Sprechstücke Handke zufolge dementsprechend auch keine aus einer solchen Handlung abzuleitende Aussage auf. Im ersten Punkt seines "Manifests" erhebt Handke diesen Mangel an Aussage zur programmatischen Forderung seiner Dramatik: "Jede Aussage verweigern" 26 heißt es dort, und es finden sich zahlreiche Äußerungen des Autors, die die Einlösung dieser Forderung in den Sprechstücken theoretisch zu bestätigen versuchen. So heißt es zum Beispiel zu der fehlenden Aussage bzw. zum mangelnden Sinn der Tautologien in der "Weissagung": "Die Weissagung hat keinen Sinn, weder einen tieferen noch einen anderen. Sie hat keinen Sinn, weil ihr Sinn nicht bestimmbar ist. Es wird mit ihr nichts ausgesagt, auch nicht etwa, wie absurd Weissagungen in Wirklichkeit seien."27 Im Gegensatz zur "Weissagung" hat nun jedoch die "Publikumsbeschimpfung" durchaus eine Aussage; diese besteht in den dramentheoretischen und metatheaterkommunikativen Reflexionen, die der Autor dem Publikum, vorgetragen durch den Schaupieler, mitteilt. Und so läßt Handke in der "Publikumsbeschimpfung" auch beispielsweise die folgende Erläuterung zur Aussage des Stücks sprechen: "Dadurch, daß wir nur sprechen und dadurch, daß wir von nichts Erfundenem sprechen, können wir nicht zweideutig und vieldeutig sein."28 Handke versteht hier unter Zwei- bzw. Vieldeutigkeit keine semantische Vagheit oder Polysemie beim Gebrauch sprachlicher Zeichen innerhalb einer bestimmten kommunikativen Ebene, sondern ver24 25 26 27 28
Ebd. P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.38f ] P. Handke: "Manifest" [Stücke 1, S.202], P. Handke: "Über das Stück 'Weissagung'" (1972) [Stücke 1, S.204], P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.33], - Vgl. u.a. P. Pütz (1982), S.16.
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schiedene Interpretations- oder Verständnisebenen für diese sprachlichen Zeichen, die sich aus den diversen Kommunikationsebenen der Inszenierung eines Stückes des traditionellen Theaters bei der Vorführung von menschlichen Handlungen bzw. bei der Vermittlung einer Fabel ergeben. Da nun die Sprechstücke also weder eine Handlung, noch eine Aussage aufweisen, entsteht bei ihrer Inszenierung nach Handke "unmittelbares Theater". Diese Unmittelbarkeit besteht dem Autor zufolge darin, daß die Vermittlung einer Handlung seitens der Schauspieler und die Interpretation dieses Geschehens durch das Publikum entfallen, während jedoch die kommunikativen Bedingungen des Theaters selbst über die Dauer der Aufführung bestehen bleiben. So heißt es im Sprechertext der "Publikumsbeschimpfung": "Wir und Sie bilden eine Einheit, indem wir ununterbrochen und unmittelbar zu Ihnen sprechen." 29 Entsprechend behauptet Handke in seinem "Manifest", die "Publikumsbeschimpfung" sei "ein Stück gegen das Theater, wie es ist, nur insofern, als es keine Geschichte zum Vorwand braucht, Theater zu machen. Es braucht nicht die Vermittlung einer Geschichte, damit Theater entsteht, es ist unmittelbares Theater" 30 . Und zur "Selbstbezichtigung" heißt es analog: "Das Stück ist kein mittelbares, vermitteltes, sondern unmittelbares Theater. Der Zuhörer und Zuschauer ist der Zuhörer und Zuschauer seiner selbst. Er braucht nicht erst mitzuspielen, weil das Stück ja schon von ihm spielt."31 Dabei "spielt" das Stück nicht "vom Zuschauer" als Individuum oder als Mitglied einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, sondern allein als Rezipient der Inszenierung, dem durch das Fehlen einer vorgeführten Handlung bzw. durch die direkte Erläuterung der Kommunikationssituation im Theater seine eigene Rolle hierin verdeutlicht bzw. bewußt gemacht wird. 32 Diese Verdeutlichung bzw. Herausarbeitung der Kommunikationssituation des Theaters, der Grundgrößen der dramatischen Kommunikation und deren Verlauf, erachtet der Autor selbst als die wesentliche Funktion seiner Stücke. Es geht Handke mit bzw. in seinen Stücken darum
29 30
31 32
P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.33], P. Handke: "Manifest" [Stücke 1, S.203], Hierbei kommt der impersonalen Beschimpfung am Ende des Stücks eine besondere Bedeutung zu, da hierdurch diese Unmittelbarkeit des Theaters für den Zuschauer weniger nachzuvollziehen als eher nachzuempfinden ist: "Sie werden beschimpft werden, weil auch das Beschimpfen eine Art ist, mit Ihnen zu reden. Indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar werden. Wir können einen Funken überspringen lassen." (P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" 1966 [Stücke 1, S.44]). P. Handke: "Über das Stück 'Selbstbezichtigung'" (1972) [Stücke 1, S.206]. Vgl. P. Handke im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.28 sowie Kap. 2.3.2.
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festzustellen, "ob denn nicht das Theater selber eine Methode sei"", und worin diese Methode eigentlich bestehe. Der Autor strebt somit also eine metakommunikative Grundlagenreflexion des Theaters im Theater durch das Stück selbst an. "Diese Dramaturgie besteht im Bewußtmachen der Theaterwelt. Nicht von Außenwelt, nicht von der Welt außerhalb des Theaters. Es geht in jedem Augenblick eine Theaterwirklichkeit vor sich."34 Während dabei der Zuschauer in den Sprechstücken des zweiten Typs durch das auf der Figurenebene akommunikative Sprechen der (in ihrem genuinen Zweck nicht erfüllten) Kommunikationssituation des Theaters und seiner Rolle als Rezipient bewußt werden soll, wird der Zuschauer in der "Publikumsbeschimpfung" hingegen mit einer explizit vorgetragenen Reflexion dieser Kommunikationssituation im Drama selbst konfrontiert. In seinem noch vor der "Publikumsbeschimpfung" fertiggestellten Elfenbeinturm-Essay (1967) erläutert Handke dies selbst folgendermaßen: "Die Methode meines ersten Stücks bestand darin, daß alle Methoden bisher verneint wurden. Die Methode des nächsten Stücks wird darin bestehen, daß die bisherigen Methoden durchreflektiert und für das Theater ausgenützt werden." 35 Aufgrund dieser explizit metatheaterkommunikativen Funktion bezeichnet der Autor seine Sprechstücke nun als "Vorreden", die dem Publikum die Bedingungen des traditionellen Theaters und seine Funktionsweise selbst grundlagenreflexiv und damit gleichermaßen vorab erläutern bzw. verdeutlichen sollen: "Sprechstücke sind verselbständigte Vorreden der alten Stücke. Sie wollen nicht revolutionieren, sondern aufmerksam machen." 36 Dies gilt insbesondere für das Stück "Publikumsbeschimpfung", in dem die metakommunikativen Reflexionen des Autors durch Schauspieler vor einem Theaterpublikum geäußert werden, und dieses gleich zu Beginn als "Vorrede" 37 bezeichnet wird. Und auch später heißt es in der "Publikumsbeschimpfung" beispielsweise: "Dieses Stück ist eine Vorrede. Es ist nicht die Vorrede zu einem andern Stück, sondern die Vorrede zu dem, was Sie getan haben, was Sie tun und was Sie tun werden. Sie sind das Thema. Dieses Stück ist die Vorrede zum Thema [...]. Es ist auch die Vorrede zu Ihren künftigen Theaterbesuchen." 38 In dieser "Vorrede" sollen also 33
34 35
36 37 38
P. Handke: "Für das Straßentheater gegen die Straßentheater" (1968) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.60], P. Handke im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.34. P. Handke: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1967) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.27], P. Handke: "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stücke 1, S.201]. P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.19], Ebd., S.42.
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theaterkommunikative Grundfragen unabhängig von einzelnen Theaterstilen oder gar einzelnen Dramen erörtert werden, um die "Methode" des Theaters und seine Darstellungsmittel überhaupt für den Zuschauer transparent zu machen und diesen in die Lage zu versetzen, seine eigene Rolle darin selbst nachzuvollziehen. Diese Charakteristik des Stücks als eine metatheaterkommunikative Vorrede faßt Handke an verschiedenen Stellen des Dramas in spielerische Formulierungen, wie etwa die folgende: "Sie werden hören, was Sie sonst gesehen haben. Sie werden hören, was Sie hier sonst nicht gesehen haben." 39 Formulierungen wie diese sind allein vor dem Hintergrund dieses metatheaterkommunikativen Charakters des Stücks überhaupt verständlich: In diesem Falle wird im ersten Satz die Rezeption einer vorgesprochenen Erläuterung derjenigen kommunikativen Bedingungen angekündigt, unter denen traditionellerweise die Darstellung einer Handlung auf der Bühne stattfindet und vom Zuschauer "sehend" (und hörend) rezipiert wird; im zweiten Satz wird die Rezeption derselben Erläuterung angekündigt, im Unterschied zum ersten Satz bezieht sich "sehen" hier jedoch nicht auf die Rezeption der dargebotenen Handlungen, sondern auf die Wahrnehmung bzw. Reflexion dieser kommunikativen Bedingungen selbst. Ähnlich verhält es sich mit den folgenden beiden Sätzen aus der "Publikumsbeschimpfung": "Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben [...]. Sie werden hier nichts von dem hören, was Sie hier immer gehört haben." 40 Wie oben das Verb "sehen", wird hier das Verb "hören" unter der Bedeutung 'rezipieren' gebraucht und bezieht sich im Nebensatz des ersten Satzes auf die spezifischen Bedingungen einer solchen Rezeption im traditionellen Theater und in dem des zweiten Satzes auf die Darstellung einer Handlung auf der Bühne einer solchen traditionellen Inszenierung selbst. Auch in denjenigen Dramen, die zeitlich auf die "Publikumsbeschimpfung" und die anderen Sprechstücke folgen, verfolgt Handke das Ziel, die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne sowie die Bedingungen und den Ablauf der Kommunikation im Theater herauszuarbeiten. Dies geschieht hier wie bereits gezeigt dadurch, daß kommunikative Verhaltensmuster der Figurenebene auf der Bühne innerhalb einer rudimentären Figurenhandlung selbst vorgeführt werden 41 . Handke nennt hier vor allem 39 40 41
Ebd., S.19. Ebd. Der Zweck dieser Reduktion der Handlung besteht dabei darin, daß die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht durch den Verlauf und die Spannung der Handlung selbst von dem (metatheaterkommunikativen) Gegenstand des Stückes abgelenkt wird.
118
Peter Handke
die Stücke "Das Mündel will Vormund sein" und "Quodlibet", "in denen Theaterformen so von den sie sonst unkenntlich machenden Geschichten isoliert erschienen, daß die Formen zu POSEN wurden" 42 , wobei er unter solchen "Posen" Muster sowohl sprachlichen 43 als auch nichtsprachlichen 44 menschlichen Handelns versteht. An eine solche Vorführung menschlicher Verhaltensweisen als Theaterposen knüpft der Autor nun eine weitere Funktion dieser Stücke, insbesondere auch von "Der Ritt über den Bodensee", an: Die "Darstellung der Theaterposen war unter anderem ein Versuch, auch die täglichen Umgangsformen als Posen vorzuführen" 45 . Damit erhält die Vorführung verbaler und nonverbaler menschlicher Handlungsmuster im Theater nicht allein die Funktion, die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne herauszuarbeiten, sondern diese darüber hinaus auch als Muster menschlichen und hierbei insbesondere sprachlichen Verhaltens überhaupt auszuweisen und zu verdeutlichen. Handke schreibt: Der Ritt über den Bodensee ist weder Tragödie noch Farce noch Lehrstück noch Lustspiel noch VolksstUck, es ist Darstellung der gesellschaftlichen Entsprechungen dieser Theaterformen, verdeutlicht und undeutlich gemacht durch die Verletzlichkeit, Schmerzlichkeit, Grobheit und Unbekümmertheit der Personen, die die Akteure des Stücks sind, das wiederum ihr Akteur ist. 46
Ein weiteres Beispiel für die Verdeutlichung menschlicher und insbesondere sprachlicher Verhaltensweisen überhaupt auf der Bühne stellt das Stück "Kaspar" dar, in dem anhand von sechzehn unterscheidbaren Phasen die Bedingungen menschlicher Kommunikation und deren Bedeutung für das Individuum entwickelt werden: "Das Stück 'Kaspar' zeigt nicht, wie ES WIRKLICH IST oder WIRKLICH WAR mit Kaspar Hauser. Es zeigt, was MÖGLICH IST mit jemandem. Es zeigt, wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann. Das Stück könnte auch 'Sprechfolterung' heißen." 47 . Das Stück selbst gehört wie "Der Ritt über den Bodensee" unter 42 43
44
45
46
47
P. Handke: "Der Ritt über den Bodensee" (1970) [Stücke 2, S.57], Vgl. etwa Handkes Aufzählung der in "Quodlibet" enthaltenen Sprechfiguren; P. Handke: "Zur Aufführung von 'Quodlibet'" [Stücke 2, S.157f.]; dazu auch Kap. 1.1. So enthält das Stück "Das Mündel will Vormund sein" keine gesprochenen Passagen, sondern thematisiert allein nonverbale Verhaltensmuster. P. Handke: "Der Ritt über den Bodensee" (1970) [Stücke 2, S.57], - Zu "Quodlibet" vgl. etwa "Zur Aufführung von 'Quodlibet'" [Stücke 2, S.158f.]. Ebd., S.58f. - Vgl. dazu neben den bekannten Monographien etwa E. Meier (1971), S.52-57; G. Fuchs (1989), S.109-111. P. Handke: "Kaspar" [Stücke 1, S. 103]; vgl. dazu auch P. Handke: "Kaspars sechzehn Phasen" [ebd., S.207f.] sowie P. Handke im Gespräch mit Joseph (1969), S.35-39. Zum "Spracherwerb" Kaspars und Handkes Sprachskeptizismus, der bei dessen Gestaltung im Drama deutlich wird, vgl. zum Beispiel: H L. Arnold (1971);
119
Text und Inszenierung
theaterkommunikativen Gesichtspunkten zu der dritten Gruppe der Stücke Handkes, in denen (vor allem sprachlich-kommunikative) Handlungsweisen auf der Figurenebene des Dramas herausgearbeitet werden. 48 - Eine (wie auch immer geartete) Gesellschaftskritik verbindet Handke mit diesem Stück wie auch mit seinen anderen Dramen jedoch nicht: "Kein konkretes gesellschaftliches Modell wird in Kaspar kritisiert, weder das kapitalistische noch auch das sozialistische, sondern es werden, im Abstrahieren der Sprechweisen auf ihre grammatischen Grundelemente, die Formen der sprachlichen Entfremdung, hier und jetzt, deutlich gemacht." 49 Die Darstellung kommunikativer Handlungsmuster im allgemeinen und diejenige der Kommunikationsbedingungen des Theaters im besonderen stellen also den Aussagen des Autors selbst zufolge die wesentlichen Funktionen der Dramen Handkes dar50. Daneben nennt er verschiedentlich eine weitere Funktion seiner Stücke. Diese Funktion besteht im Erreichen einer bestimmten äußeren Form, die die Kohärenz des Stückganzen, die durch das Fehlen eines Handlungsstranges auf der Bühne zumindest eingeschränkt wird, gewährleisten soll. Dabei spielt der Bereich der Laute, die durch das Vorsprechen der Stücke erzeugt werden, für Handke eine wichtige Rolle51. So heißt es etwa zur "Weissagung": "Die Weissagung ist kein Sinnspiel, sondern ein Sprachspiel. Was erreicht werden soll, ist eine größtmögliche akustische Dichte, die einen größtmöglichen akustischen
Gießler/Valiaparampil
(1971),
S.106-122;
Buddecke/Fuhrmann
(1981),
S.411-421
[weitgehend identisch mit Buddecke/Hienger (1971)]; P. Horn (1971); M.
Blanke
(1972), S.257-269; E. Meier (1972), S.44-52; L. Herbrandt (1975) [unter B e z u g auf die Grammatik Leo Weisgerbers; vgl. dazu auch G. Heintz ( 2 1976), S.73]; L. M. Hill (1976), S. 164-194; L. M. Hill (1977); M. Mixner (1977), S.56-76; G. Säße (1977), S . 1 5 9 - 1 7 4 ; H. König (1978), S.74-86; A. von Kotze (1979); G. Sergooris (1979), S.95120; M. Durzak (1982), S.100-105; R. Nägele (1982); P. Bekes (1984); J. Herrick (1984); E. Fischer-Lichte (1989); G. Fuchs (1989), S.102-107; B.A. (1989);
B.L.
Knapp
(1990).
Diese
Darstellungen
weisen
Soestwohner
verschiedene
sprach-
philosophische und sprachtheoretische Bezüge des Dramas nach; eine kritische Sichtung und Beurteilung dieser Nachweise steht noch aus. 48 49
Vgl. dazu Buddecke/Fuhrmann (1981), S.411. P. Handke im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.38f.; vgl. auch ebd., S.28f. sowie P. Handke im Gespräch mit R. Litten ( 1 9 7 0 ) [in: M. Scharang (1972), S.157]. Zum Problemkreis "Sprache und "Gesellschaft" bei P. Handke vgl. G. Sergooris (1979), S.1832.
50
Zu diesen beiden Funktionen vgl. neben den Monographien auch P. Pütz (1982), S. 15-
51
Dies wird neben den Dramen auch besonders in Handkes lautexperimentellen Hör-
17; C. Bartmann (1984), S.41-58; R.G. Renner (1985), S.34-52. spielen deutlich; vgl. P. Handke: "Wind und Meer" (1970).
120
Peter Handke
Reiz erzeugt." 52 In der Einleitung zum Stück "Hilferufe" gibt Handke genaue Anweisungen zu dessen akustischer Gestaltung, durch die auf der Bühne mit dem Sprechen der Schauspieler ganz bestimmte Klangstrukturen erzeugt werden sollen: auf dem w e g zu dem wort hilfe geraten die Sprecher immer wieder in die bedeutungsnähe oder auch nur in die akustische nähe des gesuchten wortes: je nach dieser nähe ändert sich auch die jeweilige nein-antwort, die auf jeden versuch folgt: die formale Spannung des sprechens wird größer; sie ist in ihrem ablauf etwa der geräuschkurve bei einem fußballspiel ähnlich: j e näher die Stürmer dem tor des gegners kommen, desto mehr schwillt das massengeräusch, stirbt dann aber jeweils nach einem mißlungenen oder vereitelten versuch wieder ab, schwillt von neuem an usw., bis das wort hilfe in einem letzten ansturm gefunden ist: dann herrscht eitel freude und sonnenschein unter den Sprechern. 53
Auch die "Publikumsbeschimpfung" ist Handke zufolge auf bestimmte, die Kohärenz des Stückganzen unterstützende Klangstrukturen hin angelegt. Dort heißt es ebenfalls in der Einleitung: "Nach einer gewissen klanglichen Einheitlichkeit ist zu streben. Außer dem Klangbild soll sich aber kein anderes Bild ergeben." 54 Dieses "Klangbild" hat dabei neben der Kohärenzsicherung die Aufgabe, die Aufmerksamkeit des Zuschauers während der Inszenierung aufrechtzuerhalten bzw. zu verstärken. Dies macht der Autor etwa im Gespräch mit A. Joseph deutlich. "Diese Verkünstlichung durch Rhythmen sollte eine Art von Transportmittel für die Wörter darstellen. Sie sollte die Wörter an den Zuschauer heranbringen. Wenn ich in einem natürlichen Fluß gesprochen hätte, wäre nur eine Art Dauerkonvention entstanden." 55
1.3 Historische Bezüge und Abgrenzungsversuche Handkes Peter Handke setzt sich zu verschiedenen Gelegenheiten mit den literarischen Theorien und Erzeugnissen anderer Schriftsteller auseinander. Einige von diesen Auseinandersetzungen sind auch unter kommunikationsreflexiven Gesichtspunkten von Interesse; dies gilt insbesondere für Handkes Interpretation und Beurteilung der Dramentheorien des Aristoteles,
P. Handke: "Über das Stück 'Weissagung'" (1972) [Stücke 1, S.204]. - Vgl. H. Müller (1969). P. Handke: "Hilferufe" (1967) [Stücke 1, S.91]. - Zur "Selbstbezichtigung" vgl. ebd. [Stücke 1, S.68]. P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S. 19]; vgl. auch P. Handke im Gespräch mit P.A. Bloch und A.J. Schneller (1971), S.170. P. H a n d k e im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.32.
121
T e x t und Inszenierung
Brechts oder der sog. realistischen Literatur56 sowie seine Schilderungen des "Bread and Puppet Theatre" in New York oder der Straßentheater der sechziger Jahre. Eine Auseinandersetzung mit Aristoteles findet sich im Zusammenhang mit Handkes Überlegung, es handle sich bei der Inszenierung seiner Sprechstücke um unmittelbares Theater. So heißt es etwa im Sprechertext der "Publikumsbeschimpfung": "Wir und Sie bilden eine Einheit, indem wir ununterbrochen und unmittelbar zu Ihnen sprechen." 57 Diese Unmittelbarkeit seiner Sprechstücke, die in der Aufrechterhaltung der Kommunikationsbedingungen des Theaters während des Sprechens der Schauspieler besteht, vergleicht der Autor darauf mit der Einheit von Raum, Zeit und Handlung der aristotelischen Dramentheorie. Handke beginnt mit der Einheit der Handlung: "Das bedeutet Einheit der Handlung. Die Bühne hier oben und der Zuschauerraum bilden eine Einheit, indem sie nicht mehr zwei Ebenen bilden." 58 Verstand Aristoteles unter Einheit der Handlung eine geschlossene Handlung auf der Figurenebene, die einem Publikum im Theater von Schauspielern vorgeführt wird, so interpretiert Handke, in dessen Sprechstücken die Unterscheidung bzw. Trennung zwischen der Figurenebene und der Ebene von Schauspielern und Publikum durch das Fehlen einer Handlung auf der Figurenebene aufgehoben wird, die Inszenierungssituation während des Sprechens der Figuren selbst als eine Handlungseinheit, an der Schauspieler und Publikum genau über die Dauer der Inszenierung gleichermaßen beteiligt sind. Zu der Einheit des Raums erläutert Handke: "Es gibt hier nicht zwei Orte. Hier gibt es nur einen Ort. Das bedeutet die Einheit des Ortes." 59 Diese Argumentation leitet sich aus derjenigen, die Handke bezüglich der Einheit der Handlung vertritt, ab: Aufgrund des Fehlens einer Handlung auf der Figurenebene besteht hier auch kein Handlungsraum (bilde er nun eine Einheit oder nicht); es existiert allein der geschlossene Raum des Theaters selbst, in dem dem Publikum der Sprechertext von Schauspielern vorgetragen wird. Entsprechend argumentiert der Autor auch hinsichtlich der Einheit der Zeit und kommt zu dem die aristotelische Poetik bewußt verkehrenden Schluß, daß seine Sprechstücke durch das Fehlen der Handlungs- bzw. Kommunikationsebene der Figuren
Zu
Handkes
hiervon
zu
unterscheidender
Auseinandersetzung
mit
dem
sprach-
p h i l o s p h i s c h e n u n d literaturtheoretischen Realismus vgl. G. Heintz ( 2 1 9 7 6 ) , S.73-90; G. Sergooris (1979), S.6-18. 57
P. H a n d k e : " P u b l i k u m s b e s c h i m p f u n g " ( 1 9 6 6 ) [Stücke 1, S.33], - Vgl. Kap.1.2.
58
Ebd.
59
Ebd.
122
Peter Handke
unter Beibehaltung der Ebene von Schauspielern und Publikum dem klassischen Ideal der Einheit von Raum, Zeit und Handlung entsprechen: Ihre Zeit, die Zeit der Zuschauer und Zuhörer, und unsere Zeit, die Zeit der Sprecher, bilden eine Einheit, indem hier keine andere Zeit als die Ihre abläuft. Hier gibt es nicht die Zweiteilung in eine gespielte Zeit und in eine Spielzeit. Hier wird die Zeit nicht gespielt. Hier gibt es nur die wirkliche Zeit. Hier gibt es nur die Zeit, die wir, wir und Sie, am eigenen Leibe erfahren. Hier gibt es nur e i n e Zeit. Das bedeutet die Einheit der Zeit. A l l e drei erwähnten Umstände zusammen bedeuten die Einheit von Zeit, Ort und Handlung. D i e s e s Stück ist also klassisch. 6 0
Handkes Auseinandersetzung mit der Dramentheorie Brechts ist vor allem durch deren Ablehnung gekennzeichnet. Dabei sind für Handke mindestens zwei Aspekte entscheidend. Der erste besteht darin, daß Brechts Dramaturgie ungeachtet der verschiedenen Verfremdungstechniken und der offenen Struktur der Stücke an der traditionellen Unterscheidung zwischen einer Kommunikationsebene der Figuren und einer Kommunikationsebene von Theaterensemble und Publikum festhält, wobei diese hier lediglich durch gezielte Wendungen der Figuren an das Publikum durchbrochen werden, um eine Identifikation des Publikums mit dem Bühnengeschehen zu verhindern. Da nun die Sprechstücke selbst keine Handlungsebene aufweisen, sind sie nach Handke auch erst gar nicht auf solche Verfremdungstechniken, die die Kommunikationsebenen durchbrechen und damit den Zuschauer desillusionieren, angewiesen. Im Sprechertext der "Publikumsbeschimpfung" heißt es entsprechend: "Wir treten aus keinem Spiel heraus, um uns an Sie zu wenden. Wir haben keine Illusion nötig, um Sie desillusionieren zu können." 61 Der zweite Gesichtspunkt, unter dem Handke die Dramaturgie Brechts ablehnt, ist der aufklärerische, oft belehrend anmutende Sprachgebrauch in dessen Stücken, der nach der Ansicht des Autors nicht den geringsten Anklang einer Skepsis gegenüber dem eigenen Sprachgebrauch erkennen läßt. Und so fuhrt er in seinem kurzen Essay über "Horväth und Brecht" (1968) entsprechend aus: Meine Welt ist nicht mehr in satzweisen Weisheiten klarstellbar, nicht mehr in Slogans von der Freundlichkeit, nicht mehr in der Lüge seiner Stücke, die Illusionen immer wieder nötig haben, um Desillusionen zu ermöglichen, und diese Desillusionen als die große Illusion benutzen: die Desillusion ist eine einzige Illusion, und gefährlicher noch als die naive Illusion! 6 2
Gerade aber durch eine solche Sprachskepsis, welche die Möglichkeit einer sprachlich-kommunikativen Darstellung und Bewältigung des mensch60
Ebd.; vgl. auch ebd., S.28-30.
61
Ebd., S.21; vgl. auch Kap.3.1.
62
P. Handke: "Horväth und Brecht" ( 1 9 6 8 ) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.63].
Text und Inszenierung
123
liehen Zusammenlebens überhaupt in Frage stellt, ist die Dramatik Handkes entscheidend geprägt. Der Autor selbst entdeckt diese etwa in den Dramen Horväths und räumt diesen daher gegenüber denjenigen Brechts eine weitaus größere Bedeutung bei: "Ich ziehe Ödön von Horväth und seine Unordnung und unstilisierte Sentimentalität vor. Die verwirrten Sätze seiner Personen erschrecken mich, die Modelle der Bösartigkeit, der Hilflosigkeit, der Verwirrung in einer bestimmten Gesellschaft werden bei Horväth viel deutlicher." 63 Dabei weisen Horväths Dramen selbst durchaus eine Figurenebene im Sinne des traditionellen Theaters auf, auf der solche Muster und Probleme gesellschaftlichen und kommunikativen Verhaltens dargestellt werden; die Dramatik Horväths ist damit sicherlich als ein wichtiges Vorbild für die späteren Stücke Handkes, in denen ebenfalls kommunikative Verhaltensweisen auf einer Figurenebene vorgeführt werden, anzusehen. 64 Als weiteres Vorbild für Handkes spätere Stücke ist daneben das New Yorker "Bread and Puppet Theatre", das der Autor in Paris besuchte, anzusehen. Auch hier ist es die Methode des "unmittelbaren Vorfuhrens von Handlungen" 65 , die Handke nachhaltig beeindruckt. Er schreibt dazu 1968 im Essay über "Theater und Film": "Die herkömmliche Theaterdramaturgie, die nur Handlungen und Wörter kennt, die einer Geschichte dienen, wird reduziert auf Handlungen und Wörter, Geräusche und Klänge selber: sie werden Vorgänge, die nichts anderes zeigen, sondern sich selber vorzeigen als theatralische Vorgänge [,..]."66 Handkes Auseinandersetzung mit der sog. realistischen Literatur ist unter zwei kommunikationsreflexiven Gesichtspunkten von Interesse; in beiden Fällen wendet sich der Autor gegen das Realismusprinzip, die Wirklichkeit oder Teile davon, möglichst naturgetreu, wenn auch durch die wie auch immer geartete Vermittlungsintention des Kunstschaffenden bis zu einem gewissen Grade formal wie inhaltlich beeinflußt, darzustellen. In dem ersten Fall wendet sich Handke gegen die angestrebte Authentizität der 63
Ebd., S.64; vgl. P. Handke: "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.95]. - Interessanterweise entdeckt Handke ähnliche Phänomene in der Behandlung sprachlicher Kommunikation auch in anderen Werken, die im weiten Sinne dem sog. Volksstück zuzurechnen sind, so etwa bei Karl Valentin oder in den sog. Heimatfilmen; vgl. P. Handke: "Vorläufige Bemerkungen zu Landkinos und Heimatfilmen" (1968) [ebd., S.150f.].
64
Zu Handkes Auseinandersetzung mit Horväth und Brecht vgl. auch C. Bartmann (1984), S.37-41; J. Hofmann (1980, zur Auseinandersetzung mit Brecht); E. Meier (1971, zu der mit Horväth). P. Handke: "Theater und Film: Das Elend des Vergleichens" (1968) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.76]. Ebd.
65
66
124
Peter Handke
Sprache in der realistischen Literatur. Nach Handke gibt es "in der Literatur kein natürliches Sprechen"67, da dessen Darstellung oder Wiedergabe innerhalb eines Kunstwerkes eine andere kommunikative Funktion erfüllt als sie der entsprechende Sprechakt unabhängig von diesem erfüllen würde bzw. erfüllt hat; und sei es, daß diese andere kommunikative Funktion allein in der Darstellung oder Wiedergabe des Sprechakts gegenüber einem Publikum besteht: Es gibt in der Literatur kein natürliches Sprechen: jedes natürliche Sprechen, das zugleich Handeln ist, muß, wenn es auch völlig unverändert in die Literatur übernommen wird, künstlich und formal werden: das natürliche Sprechen wird dann eben zur Form der Literatur. Noch deutlicher ist das, wenn der Verfasser das natürliche Sprechen schriftlich in Zeilen gliedert oder gar 'unmerklich' rhythmisiert. 68
Im zweiten Fall wendet sich Handke gegen die Darstellungsmethode der realistischen Literatur überhaupt. Er wirft ihr vor, sich verbraucht und damit ihrer Wirksamkeit gegenüber dem Publikum selbst benommen zu haben; dies betrifft dem Autor zufolge vor allem das realistische Drama, weniger die Prosa: Die realistische Literatur hat wie das realistische Theater eine automatisierte Dramaturgie; während aber die Dramaturgie des Realismus auf dem Theater, die Vortäuschung von Wirklichkeit durch Bilder, immer mehr Zuschauern bewußt wird, so daß sie die erlogene Natur auf der Bühne nicht mehr aushalten, ist die genauer erlogene Dramaturgie der realistischen Literatur, die nicht durch Bilder, sondern durch Sätze die Wirklichkeit vortäuscht, in ihrem Automatismus und in ihrer angewöhnten Natürlichkeit bis jetzt erst wenigen bewußt geworden. 6 9
Eine ähnlich motivierte Ablehnung von Handke erfahren die Straßentheater der sechziger Jahre. Auch diesen wirft der Autor vor, herkömmlichen Darstellungsmethoden verhaftet zu bleiben und durch das Versäumnis methodischer Neuentwicklungen an Publikumswirksamkeit einzubüßen. So heißt es in dem Essay, in dem Handke sich "für das Straßentheater" überhaupt, aber "gegen die Straßentheater", wie sie zu dieser Zeit praktiziert wurden, ausspricht: Indem die Straßentheaterensembles nur in alten Bedeutungen spielen, weil j a wohl die Wiederholung von einstigen Errungenschaften das bequemste ist, und indem sie in der Folge das Publikum nur mit Vergangenem und also nicht mehr Möglichem vergleichen
6
68 69
P. Handke: "Die Literatur ist romantisch" (1966) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.48], Ebd. P. Handke: "Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit" (1968) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.48].
Text und Inszenierung
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lassen, bringen sie sich selber sowohl um den Sinn als auch um die Sinnfälligkeit ihrer Darbietungen. 7 0
Im Essay zu "Theater und Film" holt Handke schließlich zu einer allgemeinen Kritik eines Theaters, das zwischen einer Handlungs- und Kommunikationsebene der Figuren und einer solchen von Ensemble und Publikum unterscheidet, aus und stellt damit programmatisch die gesamte abendländische Theatertradition in Frage. Er schreibt: "Das Theater [...] ist nichts als ein leerlaufendes, allmählich auch auslaufendes Zeremoniell. Die Gefechte, die auf ihm in der Form von Dialogen, Konflikten, Bühnengelächter, bebenden Stimmen, lastendem Schweigen und wirklichen Gefechten ausgetragen werden, sind - das ist das Paradox - in Wirklichkeit Scheingefechte, [...]."71 Es finden sich hier zwei Argumente, mit denen der Autor unter theaterkommunikativem Gesichtspunkt Kritik an der traditionellen Dramaturgie übt, und derer er sich anderenorts in der Auseinandersetzung mit einzelnen Dramaturgien ebenfalls bedient. Zum einen erachtet der Autor die Vorführungen von sprachlichen wie nichtsprachlichen Handlungen auf einer Figurenebene selbst als "Sc/ze/ngefechte" und damit als methodisch fragwürdig (so etwa auch bei Brecht); zum anderen betrachtet er diese Dramaturgie darüberhinaus als ein "auslaufendes Zeremoniell", d.h. als methodisch überholt (beispielsweise beim Drama des Realismus). 72 Handkes Alternative hierzu besteht nun wie bereits erläutert in der Darstellung und Verdeutlichung menschlicher Handlungsweisen im allgemeinen und solcher der sprachlichen Kommunikation und des Theaters im besonderen, ohne dabei eine Handlung selbst vorzuführen. So heißt es dazu auch in dem Essay: "Aber es gibt Beispiele für die Möglichkeit des Theaters (unmittelbar, nicht reproduziert, jetzt) Bewegungen, Wörter, Handlungen vorzuzeigen, die nur deswegen wirken, weil sie gerade jetzt, nicht reproduziert, vor sich gehen: [...]."73
P. Handke: "Für das Straßentheater gegen die Straßentheater" (1968) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.48]; vgl. ebd., S.58. P. Handke: "Theater und Film: Das Elend des Vergleichens" (1968) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.76]. Zu Handkes Kritik am traditionellen Theater vgl. neben den zahlreichen
Handke-
Monographien beispielsweise auch W. Emrich (1974); G. Heintz ( 2 1976), S.37-46; J.M. Valentin (1976), S.127-131; R. Nägele (1981); N. Honsza (1982); H. Motekat (1982); M. Schenkel (1984), S.31-45. P. Handke: "Theater und Film: Das Elend des Vergleichens" ( 1 9 6 8 ) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.76].
2. Künstler und Publikum 2.1 Autor Explizite Äußerungen Handkes zu seiner eigenen Dramenarbeit sind ausgesprochen selten und lassen sich nicht systematisierend zusammenfassen. Es finden sich einige Passagen, in denen der Autor auslösende Momente für seine Dramenproduktion nennt, und andere, die Bemerkungen zum Prozeß des Schreibens selbst oder zu Textänderungen enthalten. Handke gibt verschiedene Gründe an, die ihn zur Produktion von Dramen veranlaßt haben. In einem 1970 geführten Gespräch mit R. Litten nennt der Autor etwa eine wirkungsästhetische Motivation. Diese besteht darin, das Publikum mit dem Stück befremden zu wollen: "Für mich kommt es immer darauf an, wenn man überhaupt schon Theater macht, irgendetwas zu machen, was das Schauen und das Zuhören der Leute irgendwie befremdet [...]. Daß also nicht alles so abläuft wie man es schon kennt, sondern daß eine Verstörung oder Verwirrung eintritt."74 Diesen wirkungsästhetischen Absichten scheint nach Handke das Theater als künstlerisches Medium in ganz besonderem Maße entgegenzukommen. Und so nennt Handke im Gespräch mit P.A. Bloch und A.J. Schneller dieses Medium Theater und dessen spezifische kommunikative Möglichkeiten selbst als ein wesentliches auslösendes Moment für seine Dramenproduktion. Dieses Moment besteht danach vor allem - der Ablehnung metasprachlicher Reflexion entsprechend 75 - in der Möglichkeit, auf der Bühne menschliche Verhaltensweisen überhaupt und insbesondere solche, die dem Bereich sprachlicher Kommunikation zuzurechnen sind, nicht selbst wiederum sprachlich beschreiben zu müssen, sondern diese als solche vorführen zu können: Theaterstücke schreibt man [...], wenn man irgendeine Geste sieht, irgendein Wort hört und eine Konstellation zwischen Menschen feststellt, die einen befremdet oder die einem fremd vorkommt. Man denkt dann, man müßte eigentlich einmal andern zeigen, w i e
74
P. Handke im Gespräch mit R. Litten (1970) [in: M. Scharang (1972), S.156f.].
75
Vgl. Kap.3.2.
Künstler und Publikum
127
fremd das sein kann. Dann sucht man das Medium, wo man das zeigen könnte. Das Theater ist ein richtiges Zeigemedium. 7 6
Danach können also als auslösende Momente der Dramenproduktion Handkes die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne, vor allem aber die Kommunikationssituation des Theaters, in der einem Publikum etwas vorgeführt werden kann, das in anderen Literaturgattungen einer sprachlichen Beschreibung bedarf, angesehen werden. Dabei erachtete der Autor Drama und Theater zunächst nicht als literarische Gattungen, die für seine Darstellungsintentionen geeignet seien. So heißt es etwa im Elfenbeinturm-Essay: "Ich hätte [...] nie gedacht, daß ich jemals Stücke schreiben würde. Das Theater, wie es war, war für mich ein Relikt aus einer vergangenen Zeit." 77 Die Hinwendung zum Theater war erst möglich, als Handke Methoden entdeckte, die es ihm gestatteten, auf die Vorführung einer Bühnenhandlung völlig zu verzichten und die ihn interessierenden menschlichen und dabei insbesondere sprachlichen Verhaltensweisen davon unabhängig auf die Bühne zu bringen. Im Gespräch mit H.L. Arnold nennt Handke 1976 einen weiteren Grund, Dramen zu schreiben: "Daß ich z.B. nicht nur Prosa schreiben mag [...], hängt auch damit zusammen, daß ich die Gefahr sehe, durch das Erzählen einer Geschichte einfach zu sehr in mir selber zu versinken. Ein Theaterstück ist dann immer das Mittel, zu versuchen, zumindest eine Fiktion von Objektivierung herzustellen [...]."78 Danach stellt die Dramenproduktion für Handke ein Regulativ dar, das ihn daran hindert, in seinem literarischen Schaffen einem allzu großen und damit die Rezeption seiner Werke behindernden Subjektivismus zu verfallen 79 . Der Autor begründet dies damit, daß die Ausarbeitung eines Dramentextes, der für die Inszenierung auf einer Bühne bestimmt ist, einer weitaus größeren Berücksichtigung äußerer Faktoren, wie Bühne, Ensemble oder Publikum bedarf, als dies bei der Produktion von Prosa der Fall ist. In demselben Gespräch erachtet Handke diese Argumentation jedoch selbst als konstruiert und behauptet, ehrlicherweise keine tiefergehende Begründung für sein Dramenschaffen angeben zu können als die, daß ihn das Schreiben eines Stückes hinsichtlich der darauffolgenden Umsetzung des Textes in eine Inszenierung schlicht fasziniert oder zumindest Freude bereitet: 76 77
78 79
P. Handke im Gespräch mit P.A. Bloch und A.J. Schneller (1971), S.170. P. Handke: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1967) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.27]. P. Handke im Gespräch mit H.L. Arnold (1976), S.27. Vgl. ebd., S.26.
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Peter Handke
Schauen Sie, ich schreibe Theaterstücke, weil ich auch einmal angefangen habe damit; warum soll ich jetzt aufhören? Durch das Schreiben der Theaterstücke habe ich Schauspieler, Regisseure gesehen, habe gesehen, wie die leben, wie sie sich geben, was sie denken usw. Und ich habe dadurch einfach Lust, für die Leute, die ich kenne, Theaterstücke zu schreiben, weil ich denke, ja: so könnten die und die da spielen, wenn ich so und so schreibe. 8 0
Trotz dieser hier eingestandenen Faszination, Textvorlagen für die Bühne zu schaffen, hat der Autor bis zu diesem Zeitpunkt nicht selbst an der Probenarbeit an seinen Stücken teilgenommen. "Entweder soll ein Autor von Anfang bis Ende dabeisein oder überhaupt nicht, finde ich."81 Handke war - ohne weitere Begründung - bis dahin nicht dabei. Änderungen seiner Dramentexte nimmt Handke nicht vor; und zu der Möglichkeit solcher Textänderungen in den Sprechstücken heißt es in der Vorbemerkung zu "Stücke 1" lediglich: Ich glaube nicht, daß ich an den Stücken, wie sie hier vorliegen, etwas ändern würde; ich würde höchstens ganz andere Stücke schreiben. Nur ab und zu fällt mir ein Satz auf, den ich dann gern irgendwo einfügen möchte, zum Beispiel 'Der Affe wird auf dem Schleifstein hocken wie der Affe auf dem Schleifstein' in die 'Weissagung' - das aber eher aus Spaß. 8 2
Die Möglichkeit von Änderungen im Dramentext (in diesem Falle im Haupttext des Dramas) spielt für Handke also weder in der theoretischen Reflexion, noch hinsichtlich seiner eigenen Stücke eine wesentliche Rolle. Dagegen läßt der Autor durchaus eine gewisse Variabilität bei der Inszenierung seiner Stücke zu83, fordert sogar an dieser Stelle explizit zu einer Änderung der bisherigen Aufführungspraxis seiner Stücke auf. So heißt es in der Vorbemerkung weiter: Wichtiger wäre es, neue Aufführungsmöglichkeiten für die Stücke zu beschreiben: Publikumsbeschimpfung wirklich nur als ruhige, vernünftige Anrede an das Publikum, nicht mehr Körpersprache als nötig; Selbstbezichtigung nur mit einem Schauspieler, ohne Lautsprecher, ohne rhythmische Formalisierung; und Kaspar, wie ich es auch schon damals beschrieben habe, eben nicht als Clownsfigur, sondern wirklich als überlebensgroßes Frankenstein-Monster, die Einsager auf einen oder zwei reduziert, die auch nicht mehr alle Arten von 'Sprechen spielen', sondern bei einem vernünftelnden, beruhigenden Tonfall bleiben... 84
80 81 82 83
84
Ebd. Ebd., S.28. P. Handke: "Vorbemerkung" (1972) [Stücke 1, S.7], So sollen beispielsweise die Figuren in "Der Ritt Uber den Bodensee" jeweils den Namen der sie verkörpernden Schauspieler tragen; vgl. P. Handke: "Der Ritt über den Bodensee" (1970) [Stücke 2, S.56], P. Handke: "Vorbemerkung" (1972) [Stücke 1, S.7]; vgl. auch P. Handke im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.32; P. Handke im Gespräch mit H.L. Arnold (1976), S.28.
Künstler und Publikum
129
Die Änderungen der Inszenierungspraxis, die Handke an dieser Stelle vorschlägt, hätten durchaus Anlaß zu entsprechenden Änderungen im Nebentext seiner Dramen sein können. Der Autor hat hierauf jedoch ebenfalls verzichtet. Denn er erachtet solche Änderungen in den bestehenden schriftlichen Dramenfassungen nicht als erforderlich, da sie ihm durchaus auch in der ursprünglichen Gestalt als Textvorlagen für solche andersartigen Inszenierungen geeignet erscheinen: "Das meiste davon ist ohnedies in den Stücken schon festgelegt, ich erinnere nur noch einmal daran." 85 Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung, in dessen Zusammenhang die Variabilität der Inszenierung gegenüber dem Text zu behandeln wäre, wird von Handke kaum zum Gegenstand seiner dramentheoretischen bzw. kommunikationsreflexiven Überlegungen gemacht; es wird diesem hier darum auch nicht eigens ein Kapitel gewidmet. In einem Gespräch mit H. von Cramer macht Handke am Beispiel seines Hörspiels "Wind und Meer" jedoch deutlich, daß seiner Auffassung nach rezeptionsästhetische Erwägungen gegenüber allein reproduktionsästhetischen bei dessen Inszenierung Vorrang genießen sollten. So erläutert er: Der Text des Hörspiels ist "insofern bindend, als ein Eindruck erzeugt werden soll, bei dem, der ihn hört, ein Eindruck von einem imaginären Hörspiel. Bindend ist er nur, was den literarischen Text betrifft, daß der Eindruck möglichst präzise übermittelt wird. Aber wenn man das dann verwirklicht, darf man sich nicht so an die ziffernmäßigen Einzelheiten halten." 86
2.2 Theater 2.2.1
Die Textwiedergabe durch den Schauspieler
Im Sprechertext der Publikumsbeschimpfung wird die Funktion der Schauspieler folgendermaßen charakterisiert: "Wir sind keine Darsteller. Wir stellen nichts dar. Wir stellen nichts vor. Wir tragen keine Decknamen [...]. Wir haben keine Rollen. Wir sind wir. Wir sind das Sprachrohr des Autors [...]. Unsere Meinung braucht sich mit der des Autors nicht zu decken." 87 Damit enthebt Handke den Schauspieler der Funktion, in diesem Drama eine Rolle zu verkörpern, eine andere Person zu spielen und deren Handeln darzustellen. Der Schauspieler hat allein die Funktion, als "Sprachrohr des 85 86 87
Ebd. P. Handke im Gespräch mit H. von Cramer [in: Simmerding/Schmid 1972, S.29], P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.22f.].
130
Peter Handke
Autors" zu dienen und den Text vorzutragen, den der Autor geschrieben hat. Damit hat der Schauspieler hier allein eine lokutive Funktion, die in diesem Falle darin besteht, den schriftlich verfaßten Text des Autors sprechsprachlich zu äußern. Eine gleichwie geartete Interpretation des Inhalts dieses Textes durch den Schauspieler und deren Weitervermittlung an das Theaterpublikum ist in diesem und in den anderen Sprechstücken von Handke nicht vorgesehen; der Autor fordert lediglich eine der Struktur des Textes entsprechende Sprechweise 88 . In der Filmerzählung "Falsche Bewegung" läßt Handke die Schauspielerin Therese mit folgendem Part zu Wort kommen, in dem sie das Nachsprechen bzw. die Reproduktion von Texten ihr selbst fremder Dramenfiguren beklagt: Es ist so künstlich, sich immer mit den Sätzen von anderen ausdrücken zu müssen. Nur wenn ich mich ganz lange erinnere, wird manchmal so ein Text selbstverständlich, weil mir dann einfällt, daß ich Ähnliches doch schon erlebt habe [...]. Aber immer öfter k o m m e ich Uberhaupt nicht mehr zum Erinnern und spiele dann w i e eine Maschine. Bei der letzten Vorstellung konnte ich einmal nicht mehr weitersprechen, obwohl ich den Text genau im Kopf hatte und auch die Souffleuse ihn mir vorsagte. Das nachzusprechen ist doch eine einzige Erniedrigung, habe ich gedacht. 8 9
Die Schauspielerin Therese macht hier auf eine potentielle Diskrepanz zwischen der Bühnenfigur und dem Schauspieler, der diese Figur auf der Bühne zu spielen hat, hinsichtlich deren Weltanschauung sowie Sprachverhalten aufmerksam. Interpretiert man dies als Handkes eigene dramentheoretische oder besser: dramenethische Position, so wird hier wiederum eine Kritik an der traditionellen Dramaturgie und deren Unterscheidung zwischen einer Figurenebene und einer Ebene von Schauspielern und Publikum offenbar. Diese Kritik ist dabei jedoch weniger formaler als eher - aufgrund der durch diese Dramaturgie geforderten Persönlichkeitsspaltung des Schauspielers auch gegen dessen Willen - inhaltlicher Natur, selbst wenn diese Schauspielerschizophrenie im Sinne Handkes letztenendes doch nur durch die Unterscheidung bzw. Trennung verschiedener Kommunikationsebenen im herkömmlichen Theater möglich ist. Denn Handke selbst bietet in den Worten Thereses mit folgender Forderung an den fiktiven Dramenautor eine dieser Dramaturgie formal durchaus entsprechende Lösung des Problems an: "Schreib etwas, das auch ich sprechen kann oder das wir alle hier spielen könnten, ohne daß wir dabei immer [...] fühlen müssen, daß die Person in dem Text oder Spiel nicht wir selber sind." 90
88
Zur Sprechweise des Schauspielers vgl. Kap.2.2.2. und Kap.3.1.
89
P. Handke: "Falsche Bewegung" (1975), S.69f.
90
Ebd., S.37.
Künstler und Publikum
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Neben den zahlreichen Überlegungen des Autors zur Sprechweise der Schauspieler 91 sind darüberhinaus kaum weitere Reflexionen zur Wiedergabe des Dramentextes durch den Schauspieler zu finden. Doch ist in der "Geschichte des Bleistifts" eine kurze Bemerkung Handkes enthalten, die hier zumindest eine Erwähnung verdient. Dort heißt es: "Die Schauspieler müssen die Helfer sein"92. Eine hilfreiche Erläuterung findet sich hierzu bedauerlicherweise nicht, so daß an dieser Stelle lediglich vermutet werden kann, daß Handke hier die Arbeit des Schauspielers in den Dienst einer der Intention des Autors entsprechenden Textreproduktion auf der Bühne stellt und damit derjenigen des Autors unterordnet.
2.2.2
Die Sprechweise des Schauspielers
Da die gesprochene Wiedergabe des Dramentextes durch den Schauspieler vor allem bei Handkes Sprechstücken, aber auch bei seinen späteren Dramen von großer Bedeutung ist, verwundert es kaum, daß sich der Autor hierzu bei zahlreichen Gelegenheiten äußert. Dabei befaßt er sich zumeist mit der Frage, ob der Schauspieler eine möglichst natürliche oder bis zu einem gewissen Grad verfremdende Sprechweise anstreben soll; die Beantwortung dieser grundsätzlichen Frage fällt - je nach Gesichtspunkt und Argumentationszusammenhang - verschieden aus. Die Funktion des Schauspielers in Handkes Stück "Publikumsbeschimpfung" besteht allein in der sprechsprachlichen Lokution der schriftlichen Textvorlage; "Wir sprechen nur" heißt es wiederholt im Sprechertext 93 . Handkes Vortragsideal der "Publikumsbeschimpfung" besteht hier dementsprechend in einer möglichst natürlichen und nicht verfremdenden oder wie auch immer künstlich wirkenden Sprechweise, so daß die Inszenierung den Charakter "einer ruhigen, vernünftigen Anrede ans Publikum" 94 erhält. Der Zuschauer soll aus der Sprechweise der Schauspieler keine zusätzlichen Informationen, die die Aussage des geschriebenen Dramentextes interpretierend ergänzen, entnehmen; da dies jedoch durch eine verfremdende und damit markierte Vortragsweise nahegelegt würde, fordert Handke also eine möglichst natürliche, unmarkierte und damit uninterpretierbare Sprechweise. Darüber hinaus versucht der Autor explizit, das Publikum von einer 91
Vgl. dazu Kap.2.2.2.
92
P. Handke: "Die Geschichte des Bleistifts" ( 1 9 8 2 [1985]), S.371.
93
P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.21 oder S.33]; vgl. auch Kap.3.1.
94
P. Handke: "Vorbemerkung" ( 1 9 7 2 ) [Stücke 1, S.7],
132
Peter Handke
solchen Interpretation des Sprecherverhaltens abzuhalten. So heißt es etwa im Sprechertext zu möglichen Sprechpausen: Hier gibt es keine Pausen. Hier sind die Pausen zwischen den Worten ohne Bedeutung [...]. Das Schweigen sagt nichts aus. Es gibt keine schreiende Stille. Es gibt keine stille Stille [...]. Hier wird durch das Sprechen kein Schweigen erzeugt. In dem Stück steht keine Anweisung, die uns zu schweigen heißt. Wir machen keine Kunstpausen. Unsere Pausen sind natürliche Pausen. 9 5
Und analog dazu heißt es im Sprechertext zu möglichen Fehlern während des Vortrags der Schauspieler: "Auch Versprecher, die Sie erheitern, sind unbeabsichtigt. Wenn wir stottern, stottern wir ohne unsere Absicht." 96 In diesem Zusammenhang schwierig einzuordnen sind Handkes "Regeln für die Schauspieler", die der Autor der "Publikumsbeschimpfung" voranstellt. In diesen Regeln werden die Schauspieler aufgefordert, bestimmte menschliche Handlungen zu beobachten; an verbalen Handlungen werden genannt: "Litaneien in den katholischen Kirchen", "die Anfeuerungsrufe und die Schimpfchöre auf den Fußballplätzen", "Sprechchöre bei Aufläufen", "das Inswortfallen bei Debatten", "Simultansprecher bei den Vereinten Nationen" sowie ein bestimmter Dialog eines Gangsterfilms 97 . Es handelt sich hierbei also um keine Regeln für das Verhalten der Schaupieler auf der Bühne, sondern allenfalls um solche der Vorbereitung auf die Inszenierung des Stücks. Doch auch dies scheint fragwürdig, stellen doch die genannten sprachlichen Handlungen und deren entsprechende sprachliche Verhaltensweisen keine Vorbilder, sondern eher Gegenbeispiele für die "ruhige, vernünftige" Vortragsweise des Textes während der Aufführung dar. Es erscheint daher ratsam, den "Regeln für die Schauspieler", die ohnehin eher experimentell-provozierende Züge tragen, unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationsreflexion keine größere Bedeutung beizumessen. Neben der Funktion, kommunikative Handlungsmuster im allgemeinen und solche des Theaters im besonderen hervorhebend darzustellen, nennt Handke mit der Erzeugung einer bestimmten Klangstruktur, die die Kohärenz des Stückganzen gewährleisten soll, eine weitere Funktion seiner Sprechstücke 98 . An der Erzeugung einer solchen akustischen Ordnung hat der Schauspieler, der den schriftlichen Dramentext sprechend vorträgt, einen entscheidenden Anteil, selbst wenn diese Ordnung durch die Struktur
95 96 97 98
Ebd., S.26. Ebd., S.23. P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.13]. Vgl. dazu Kap. 1.2.
Künstler und Publikum
133
des Textes bereits schriftlich vorgegeben ist. Dies wird in Handkes Einleitung zur "Selbstbezichtigung" deutlich: Dieses Stück ist ein Sprechstück für einen Sprecher und eine Sprecherin. Es gibt keine Rollen. Sprecherin und Sprecher, deren Stimmen aufeinander abgestimmt sind, wechseln einander ab oder sprechen gemeinsam, leise und laut, mit sehr harten Übergängen, so daß sich eine akustische Ordnung ergibt."
Diese Vortragsweise des Stückes entspricht keiner natürlichen Sprechweise, wie sie von Handke etwa bei der Inszenierung der "Publikumsbeschimpfung" gefordert wird; denn durch die Erzeugung einer solchen Klangstruktur wird eine künstliche, die natürliche Sprechweise verfremdende Ordnung hergestellt. Da die beiden Schauspieler hier nach Handkes eigenen Angaben dazu mit "Mikrofonen und Lautsprechern" 100 arbeiten (sollen), wird deren Sprechweise darüber hinaus auch noch einer technischen Verfremdung unterzogen. Neben der Herstellung der Kohärenz des Stücks während der Inszenierung erfüllt diese strukturelle wie auch technische Verfremdung der Sprechweise hier darüber hinaus mindestens zwei weitere Funktionen, die die primäre Darstellungsintention des Autors unterstützen; zum einen dient sie der Hervorhebung bestimmter sprachlicher Verhaltensmuster gegenüber der konkreten sprachlichen Äußerung (das ist hier die vom Inhalt unabhängige Form der Selbstanklage oder Selbstbezichtigung), zum anderen wird damit der allein lokutive Charakter des Vortrags der Schauspieler gegenüber dem Publikum betont. Bemerkenswerterweise fordert Handke jedoch wenige Jahre später in der Vorbemerkung zu "Stücke 1", dieses Sprechstück "nur mit einem Schauspieler, ohne Lautsprecher, ohne rhythmische Formalisierung" 101 zu inszenieren; man darf vermuten, daß die zuvor geforderten Verfremdungen die Erwartungen Handkes in Bezug auf die von ihm selbst angestrebte Wirkung auf das Publikum nicht erfüllt haben. Hinsichtlich der Inszenierung von "Quodlibet", einem der späteren Dramen Handkes, die nicht mehr den Sprechstücken zuzurechnen sind, fordert der Autor ebenfalls die Erzeugung einer akustischen Ordnung bei der Wiedergabe des Dramentextes durch die Schauspieler: Die Phasen des Stücks entwickeln sich nicht hintereinander, sondern sind oft ineinander verschoben, gehen manchmal vielleicht sogar gleichzeitig vor sich. Es wäre falsch, jede Sprechfigur einzeln nacheinander vorzuführen. A u f diese Weise bekäme das Stück eine Nummernform, die es keinesfalls haben darf. Es zeigt sich vielmehr dem Zuschauer und
99
P. Handke: "Selbstbezichtigung" ( 1 9 6 6 ) [Stücke 1, S.68],
100
Ebd.
101
P. Handke. "Vorbemerkung" (1972) [Stücke 1, S.7],
134
Peter Handke
Zuhörer als eine organische, verschlungene, trotzdem ganz klar strukturierte A b f o l g e von Sprache und B e w e g u n g e n . 1 0 2
Der Autor begründet hier die Notwendigkeit einer solchen akustischen Ordnung wiederum mit dem Argument, daß die im Text bereits mit der formalen Verschränkung verschiedener und durch bestimmte Sprachhandlungsmuster charakterisierter Teiltexte schwach angelegte Kohärenz des Stückganzen während der Inszenierung durch eine dieser Verschränkung nicht entsprechenden Vortragsweise aufgehoben werden kann und daher durch eine ihr gemäße Vortragsweise bewußt erhalten werden muß. Dies ist in diesem Stück insbesondere auch daher erforderlich, als die Vorführung von sprachlichen Verhaltensweisen bzw. Sprachverwendungsmustern auf der Figurenebene (anders als etwa im "Kaspar") hier nicht durch eine entsprechende Handlung dieser Figuren selbst zusammengehalten wird. In dem Drama "Kaspar" sind zahlreiche Angaben des Autors zur Sprechweise sowohl der Titelfigur selbst als auch der sog. "Einsager" enthalten. Diese Anweisungen sind jedoch nur zu einem geringen Teil hinsichtlich des theaterkommunikativen Denkens Handkes von Interesse; die anderen lassen dagegen lediglich Rückschlüsse auf Handkes allgemeine Konzeption sprachlicher Handlungsmuster, d.h. unabhängig vom Theater, zu und sollen darum in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden. Diejenigen Textstellen, die für das Verständnis von Handkes metatheaterkommunikativer Reflexion hilfreich sind, betreffen nun nahezu ausschließlich die Sprechweise der Einsager, die Kaspar "durch Sprechen zum Sprechen bringen" 103 , d.h. durch die Verwendung von Sprache die Verwendung von Sprache insinuieren sollen. So heißt es dazu: Die Einsager, etwa drei Personen, nicht sichtbar (ihre Stimmen kommen vielleicht v o m Band) sprechen ohne Unter- und Übertöne, das heißt, sie sprechen weder mit den üblichen Ausdrucksmitteln der Ironie, des Humors, der Hilfsbereitschaft, der menschlichen Wärme noch mit den üblichen Ausdrucksmitteln des Unheimlichen, des nicht Geheuren, des Übersinnlichen, des Übernatürlichen; sie sprechen verständlich. Sie sprechen, Uber eine gute Raumanlage, einen Text, der nicht der ihre ist. Sie sprechen nicht mit den üblichen Mitteln einen S i n n , sie s p i e l e n
S p r e c h e n , und das mit größter Anspannung der
Stimmen, auch wenn sie leise sind. 1 0 4
Die Sprechweise der Einsager wird danach, ähnlich wie diejenige der Sprecher in der "Selbstbezichtigung", in zweifacher Weise verfremdet. Die erste Verfremdung erfogt dadurch, daß sich die Einsager allein um die Verständlichkeit des durch sie gesprochen vorgetragenen Textes, "der nicht der ihre ist", bemühen und dabei auf den Gebrauch der "üblichen 102
P. Handke: "Zur Aufführung von 'Quodlibet'" [Stücke 2, S. 158],
103
P. Handke: "Kaspar" (1967) [Stücke 1, S.l 11],
104
Ebd., S . l l l f .
Künstler und Publikum
135
Ausdrucksmittel" der gesprochenen Rede verzichten (sollen); die zweite Verfremdung wird durch technische Instrumente erzielt, sei es, daß die Stimmen der Schauspieler direkt über "eine gute Raumanlage" ausgestrahlt oder, nachdem sie zuvor aufgenommen wurden, "vom Band" abgespielt werden. Das Ergebnis dieser zweifachen Verfremdung ist eine ausgesprochen unpersönliche, vielleicht auch unmenschlich anmutende Sprechweise, mit der Kaspar selbst zum Sprechen gebracht wird105. Zu Beginn des Dramentextes nennt Handke Beispiele für andere Sprachverwendungsweisen, "bei denen auch in der Wirklichkeit ein technisches Medium zwischengeschaltet ist: Telefonstimmen, Radio- und Fernsehansagerstimmen, die Stimme der Zeitansage im Telefon, die automatischen Antworttonbänder [...], die Sprechweisen von Fußballkommentatoren, von Stadionsprechern [...], von Ansagern der Zugankünfte und -abfahrten" 106 und andere 107 . Alle diese Sprachverwendungsweisen zeichnen sich ebenfalls, wenn auch vor allem durch die technische Verfremdung bedingt, durch einen unpersönlichen Charakter aus und dienen als Vorbild für die natürlich-künstliche Sprechweise der Einsager und deren technische Wiedergabe, auch wenn dabei im einzelnen nicht zu erkennen sein muß, "welche Sprechweise gerade angewendet wird"108. Ein weiterer wichtiger Aspekt, unter dem Handke die natürliche oder verfremdende Wiedergabe des Dramentextes durch den Schauspieler diskutiert, ist das Verhältnis von Sprechweise und nonverbalem Spielverhalten auf der Bühne. Während Gestik und Bewegung der Schauspieler in den Sprechstücken, in denen dem Publikum auf der Bühne lediglich ein schriftlich fixierter Text gesprochen vorgetragen wird, kaum von Bedeutung sind, so ändert sich dies in denjenigen Dramen, welche auf die Sprechstücke folgen. Denn hier wird dem Publikum auf der Figurenebene zwar keine zusammenhängende und fortlaufende Handlung, doch aber eine Situation gezeigt, in der bestimmte menschliche Verhaltensweisen in konkreto vorgeführt werden, so daß der Schauspieler sowohl verbale als auch nonverbale Darstellungsprobleme zu lösen hat. Dabei ordnet Handke nun die Darstellung nonverbaler Verhaltensweisen explizit derjenigen
105
A u f eine Interpretation dieser unpersönlichen Sprechweise der Einsager hinsichtlich des Dramas selbst muß und kann hier verzichtet werden; festzuhalten bleibt jedoch, daß Kaspar wiederholt - wenn auch erfolglos - den Versuch unternimmt, dieser sprachlichen Insinuierung Widerstand zu leisten; vgl. z.B. ebd., S. 103.
106
Ebd., S. 103.
107
Zu Handkes Aversion gegen die "gepflegten Rundfunkstimmen" vgl. auch P. Handke im Gespräch mit H. von Cramer [in: Simmerding/Schmid 1972, S.30].
108
Ebd.
136
Peter Handke
verbaler Verhaltensweisen unter. So fuhrt er beispielsweise zur Auffuhrung von "Quodlibet" aus: Die Redefiguren, welche die Figuren bilden, bestimmen die Bewegungsfiguren, nicht umgekehrt. Es sollte also nicht von vornherein ein Ornament oder Arrangement auskalkuliert werden; vielmehr sollte in Zusammenarbeit zwischen
Regisseur und
Schauspielern
erforscht werden, welches Bewegungs- oder Stand-Bild durch eine bestimmte Sprechsituation auch in der Wirklichkeit hervorgerufen wird. 1 0 9
Danach kommt also der Darstellung nonverbalen Verhaltens durch den Schauspieler in diesem Stück allein eine unterstützende Funktion für dessen Darstellung der entsprechenden sprachlichen Verhaltensweisen zu. Diese radikale Position des Autors ist weder dramen- noch kommunikationstheoretisch befriedigend zu erklären, sondern allein vor dessen metakommunikativer Darstellungsintention, sprachliche Verhaltensweisen aufzudecken, zu verdeutlichen und damit letztenendes beherrschbar zu machen, verständlich" 0 .
2.3 Publikum 2.3.1
Die Rezeptionsbedingungen des Publikums
Handke nennt als Rezeptionsbedingung seiner Stücke erstens die Anwesenheit des Zuschauers während der Inszenierung selbst. Diese Anwesenheit ist für den Autor zunächst einmal eine Bedingung, der Umsetzung des schriftlichen Dramentextes durch die Schauspieler in ein konkretes Spiel überhaupt den Charakter eines Vor-Spiels und damit einer Aufführung zu verleihen. So schreibt Handke in der Bemerkung zu seinen Sprechstücken: "Sie bedürfen also eines Gegenübers, zumindest einer Person, die zuhört, sonst wären sie keine natürlichen Äußerungen, sondern vom Autor erzwungen. Insofern sind Sprechstücke Theaterstücke." 111 Danach bedürfen also die Sprechstücke dem Autor zufolge eines Publikums, da auch das rein lokutive Sprechen der Schauspieler ohne einen Zuhörer, der den so geäußerten Text des Autors rezipiert, gegen den Grundsatz, daß an einer sprachlichen oder nichtsprachlichen Kommuni109
P. Handke: "Zur Aufführung von 'Quodlibet'" [Stücke 2, S.157],
110
So beweist Handke hinsichtlich der Stücke anderer Autoren durchaus eine liberalere Position; vgl. dazu etwa die zahlreichen Inszenierungenkritiken in "Die Arbeit des Zuschauers" (1969), Teil I (Berliner Theatertreffen) und II (experimenta 3) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.88-111],
111
P. Handke: "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stücke 1 . S . 2 0 1 ] ,
Künstler und Publikum
137
kation mindestens zwei Kommunikationspartner beteiligt sein müssen, verstößt. Und entsprechend heißt es etwa im Sprechertext der "Publikumsbeschimpfung", an die Zuschauer gewandt: "Sie sind für uns lebenswichtig, weil Sie anwesend sind. Wir sprechen gerade um Ihrer Anwesenheit willen. Ohne Ihre Anwesenheit würden wir ins Leere sprechen. Sie sind nicht stillschweigend vorausgesetzt."' 1 2 Mit dem letzten Hinweis, daß die Anwesenheit des Publikums bei der Inszenierung dieses Stücks nicht "stillschweigend vorausgesetzt" wird, zeichnet sich nun in Handkes bis dahin eher lapidar anmutender Argumentation ein weiterer und interessanterer Gesichtspunkt ab. Dieser wird im Sprechertext nur wenig später deutlicher: "Ihre Anwesenheit ist offen in jedem Augenblick in unseren Worten inbegriffen. Sie wird behandelt, von einem Atemzug zum andern, von einem Augenblick zum andern, von einem Wort zum andern [...]. Sie sind das Thema. Sie sind die Spielmacher. Sie sind unsere Gegenspieler. Es wird auf Sie abgezielt." 113 Danach wird die Anwesenheit eines Publikums während der Inszenierung des Stücks nicht allein um der Vollständigkeit der Kommunikationssituation willen gefordert, sondern auch um das Publikum und mit diesem für dieses die Kommunikationssituation des Theaters selbst zum Gegenstand der Inszenierung und der darin vorgetragenen metatheaterkommunikativen Reflexion zu machen. Die zweite Bedingung, die Handke für die Rezeption seiner Dramen nennt, ist die Rezeptionsbereitschaft des Publikums. Zu dieser Rezeptionsbereitschaft gehören sowohl bestimmte äußere Vorkehrungen, die zum Theaterbesuch getroffen werden, als auch der Aufbau einer bestimmten Erwartungshaltung gegenüber demjenigen, was im Theater geschehen wird. Und so heißt es dazu wiederum im Sprechertext der "Publikumsbeschimpfung": "Sie sind mit gewissen Vorstellungen hierhergekommen. Sie sind ins Theater gegangen. Sie haben sich darauf vorbereitet, ins Theater zu gehen. Sie haben gewisse Erwartungen gehabt." 114 Worin nun diese Erwartungen jedoch im einzelnen bestehen, erläutert Handke nicht, sondern hält dies bewußt offen: "Jedenfalls haben Sie sich etwas erwartet. Allenfalls haben Sie sich das erwartet, was sie hier hören. Aber auch in diesem Fall haben Sie sich etwas anderes erwartet." 115 Darüber hinaus finden sich bemerkenswerterweise ebenfalls so gut wie keine Erläuterungen des Autors zu der erforderlichen Rezeptionskompetenz 112
P. Handke: "Pubükumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.25]; vgl. auch ebd., S.35.
113
Ebd., S.26; vgl. ebd., S.24.
114
Ebd., S.35; vgl. ebd., S.36, und zur der Erwartungshaltung des Zuschauers in herkömmlichen Theater S.37f.
115
Ebd., S. 19.
138
Peter Handke
des Zuschauers, sei es nun dessen Beherrschen der auf der Bühne verwendeten Sprache oder seine Kenntnis der spezifischen Kommunikationssituation des Theaters selbst. Eine der spärlichen Ausnahmen stellt hier Handkes Auseinandersetzung mit dem Filmschaffen J.-L. Godards dar. Handke schreibt hier: "Godards Zuschauer könnte im Idealfall jenem 'Sprecherhörer' des Linguisten Noam Chomsky entsprechen: er wäre in konkreten Sprachsituationen - und das sind auch die Bildsituationen - sich immer der Strukturen bewußt, mit denen er Bilder sieht und Töne hört."" 6 Es muß zunächst festgestellt werden, daß hier in Handkes Interpretation von Chomskys idealem "Sprecher-Hörer" ein Mißverständnis vorliegt, da diesem nach Chomskys Syntax-Theorie 117 die Regeln der Generation und Transformation von Sätzen durchaus nicht "bewußt" sind, gleichwohl er sie erfolgreich gebraucht. Jedoch auch unabhängig davon erscheint diese Textstelle kaum dazu geeignet, zu einem tieferen Verständnis von Handkes metatheaterkommunikativen Denken beizutragen. Denn auch Handke selbst interpretiert einen solchen Rezipienten, der über sämtliche verbalen wie nonverbalen kommunikativen Codes gleichermaßen wie der Autor bzw. der Regisseur verfugt und sich dieser bewußt bedient, ebenfalls als "Idealfall" und stellt dabei keinerlei Bezug zu seiner eigenen Dramaturgie her. In der "Publikumsbeschimpfung" diskutiert der Autor des weiteren noch physische Rezeptionsbedingungen. Danach zieht Handke eine Rezeption des Stücks im Sitzen einer Rezeption im Stehen vor, da ihm die erforderliche Konzentration des Zuschauers auf das Bühnengeschehen während des bequemeren Sitzens eher möglich erscheint als während des unbequemeren Stehens. "Sie wären weniger starr. Sie ließen sich weniger bannen. Sie ließen sich weniger vormachen. Sie würden sich mit Ihrer Eigenschaft als bloßer Zuschauer nicht abfinden. Sie könnten zwiespältiger sein. Sie könnten mit Ihren Gedanken an zwei Orten zugleich sein."" 8
2.3.2
Der Rezeptionsverlauf
Ein wichtiger Gesichtspunkt, unter dem Handke den Verlauf der Rezeption betrachtet, ist derjenige der Rezeptionseinheit, die das Publikum während der Inszenierung bildet. Diese Einheit besteht Handke zufolge darin, daß 116
117 118
P. Handke: "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.117], N . C h o m s k y (1965). P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.32]; vgl. P. Handke: "Zur 'Publikumsbeschimpfung'" [Stücke 1, S.203],
Künstler u n d P u b l i k u m
139
sich die Zuschauer während der Rezeption des Bühnengeschehens hinsichtlich ihres Kommunikationsverhaltens weitgehend ähneln; sie ergibt sich daraus, daß sich jeder einzelne Zuschauer in der gleichen, weitgehend durch eigene Passivität gegenüber dem Bühnengeschehen selbst geprägten Kommunikationssituation befindet 119 und dabei die kommunikative Rolle eines Theaterbesuchers einnimmt. Im Sprechertext der "Publikumsbeschimpfung" erläutert Handke dies folgendermaßen: "Sie verlieren Ihre Eigenschaften. Sie verlieren die Merkmale, die Sie voneinander unterscheiden. Sie werden eine Einheit. Sie werden ein Muster. Sie werden eins. Sie verlieren Ihr Selbstbewußtsein. Sie werden Zuschauer. Sie werden Zuhörer. Sie werden apathisch. Sie werden Augen und Ohren." 120 Bei der Annahme seiner theaterkommunikativen Rolle übernimmt der Zuschauer demzufolge als Mitglied der Rezeptionseinheit bestimmte, für diese Kommunikationssituation typische Verhaltensweisen. Und gerade diese sind es nun, die der Autor in seinem Stück selbst zum Gegenstand machen möchte: Sie sind T h e a t e r b e s u c h e r . Sie interessieren nicht w e g e n Ihrer E i g e n s c h a f t e n . Sie interessieren in Ihrer E i g e n s c h a f t als T h e a t e r b e s u c h e r . Sie bilden hier als T h e a t e r b e s u c h e r ein Muster. Sie sind keine Persönlichkeiten. Sie sind keine Einzahl. Sie sind eine M e h r z a h l von Personen. Ihre Gesichter zeigen in eine R i c h t u n g . Sie sind ausgerichtet. Ihre O h r e n hören dasselbe. Sie sind ein Ereignis. Sie sind das Ereignis. 1 2 1
An anderer Stelle geht der Autor noch einen Schritt weiter und entwickelt das Konzept einer gemeinsamen Kommunikationseinheit von Ensemble und Publikum. Diese Kommunikationseinheit besteht in der gleichzeitigen Textreproduktion und deren Rezeption während der Inszenierung, in der jedes einzelne Individuum eine bestimmte kommunikative Rolle, sei es nun als Schauspieler oder als Zuschauer, und damit ganz bestimmte kommunikative Verhaltensweisen, entweder der Reproduktion oder der Rezeption, annimmt: "Sie schauen an und Sie werden angeschaut. Auf diese Weise bilden wir und Sie allmählich eine Einheit. Statt Sie könnten wir unter gewissen Voraussetzungen auch wir sagen. Wir befinden uns unter einem Dach. Wir sind eine geschlossene Gesellschaft." 122 Der zweite wichtige Aspekt, unter dem Handke den Rezeptionsverlauf eines Dramas diskutiert, ist derjenige möglicher Zuschauerreaktionen auf das Stück. Dabei werden von Handke im wesentlichen zwei verschiedene Reaktionsmöglichkeiten unterschieden, die beide der metatheaterkommunikativen Anlage insbesondere der Sprechstücke entsprechen. Die erste 1,9
Vgl. P. H a n d k e : " P u b l i k u m s b e s c h i m p f u n g " (1966) [Stücke 1, S.26J.
120
Ebd., S.32.
121
Ebd., S.24.
122
Ebd., S.20.
140
Peter Handke
besteht darin, daß dem Zuschauer durch das unmittelbare Erleben der Inszenierung die Kommunikationssituation des Theaters, in der er sich selbst befindet, wie auch die Rolle, die er darin einnimmt, bewußt wird. "Es sollte erreicht werden, daß die Zuschauer im Parkett auf sich zurückgewiesen werden." 123 Am Beispiel der "Publikumsbeschimpfung" erläutert Handke dies folgendermaßen: Das Stück kann dazu dienen, dem Zuschauer seine Anwesenheit, gemütlich oder ungemütlich, bewußt zu machen, ihn seiner selbst bewußt zu machen. Es kann ihm bewußt machen, daß er da ist, daß er anwesend ist, daß er existiert. Im besten Fall kann es ihn nicht treffen, sondern betreffen. Es kann ihn aufmerksam, hellhörig, hellsichtig machen, nicht nur als Theaterbesucher. 1 2 4
Ein persönliches Betroffensein über dieses kommunikative Situationsbzw. Rollenbewußtsein hinaus soll jedoch nach Handkes eigenen Angaben mit diesem Drama oder einem anderen der Sprechstücke nicht erzielt werden. Dies macht der Autor anhand des zweiten Teils der "Publikumsbeschimpfung", der aufgrund seines nichtreflexiven Charakters eher den anderen Sprechstücken verwandt ist, deutlich; es heißt im Sprechertext in der Überleitung vom ersten zum zweiten Teil: "Wir werden aber nicht Sie beschimpfen, wir werden nun Schimpfwörter gebrauchen, die Sie gebrauchen: Wir werden uns in den Schimpfwörtern widersprechen. Wir werden niemanden meinen. Wir werden nur ein Klangbild bilden. Sie brauchen sich nicht betroffen zu fühlen." 125 Die zweite Reaktionsmöglichkeit des Zuschauers auf die Sprechstücke besteht nach Handke in einer Reflexion von menschlicher Kommunikation und der daran beteiligten Größen im allgemeinen und derjenigen des Theaters im besonderen. Das Erreichen einer solchen kommunikationsreflektierenden Zuschauerreaktion erhebt der Autor in "Die Arbeit des Zuschauers" zum allgemeinen literarischen bzw. ästhetischen Programm. So schreibt er dort zur rezeptionsästhetischen Funktion von Kunst oder Literatur im allgemeinen: "Nur die Ästhetik kann den Wahrnehmungsapparat so genau machen, daß die Natur in dieser Gesellschaft als gemacht, als manipuliert erkennbar wird [,..]."126 Und zur rezeptionsästhetischen Funktion des Theaters im besonderen heißt es entsprechend: "Die Zuschauer müßten lernen, Natur als Dramaturgie zu durchschauen, als Dramaturgie des herrschenden Systems, nicht nur im Theater, auch sonst. 123
P. Handke im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.28.
124
P. Handke: "Zur 'Publikumsbeschimpfung'" [Stücke 1, S.203]; vgl. P. Handke: "Publi-
125
P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.44],
kumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.34], 126
P. Handke: "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.99],
Künstler und Publikum
141
Aber im Theater sollten sie das lernen, sollten sie mit dem fremden Blick anfangen."127 Eine solche kommunikationsreflektierende Reaktion des Zuschauers erwartet der Autor nun zum Beispiel wiederum gerade auf die "Publikumsbeschimpfung", in der dem Publikum ein kommunikationsreflektierender Text vorgetragen wird: "Die Publikumsbeschimpfung ist kein Stück gegen den Zuschauer. Oder es ist nur deswegen ein Stück gegen den Zuschauer, damit es ein Stück für den Zuschauer werden kann. Der Zuschauer wird befremdet, damit er zum Überlegen kommt." 128 Diese Reflexion des Zuschauers wird im Sprechertext des Stücks zuweilen selbst aufgegriffen und diskutiert, wobei diese Diskussionen, obwohl argumentativ folgerichtig aufgebaut, sachlich eher verdunkelnden als erhellenden Charakter haben. Es sei folgendes Beispiel angeführt: Sie haben sich bereits Ihre eigenen Gedanken gemacht. Sie haben erkannt, daß wir etwas verneinen. Sie haben erkannt, daß wir uns wiederholen. Sie haben erkannt, daß wir uns widersprechen. Sie haben erkannt, daß dieses Stück eine Auseinandersetzung mit dem Theater ist. Sie haben die dialektische Struktur dieses Stückes erkannt. Sie haben einen gewissen Widerspruchsgeist erkannt. Sie sind sich klar geworden über die Absicht der Stuckes. Sie haben erkannt, daß wir vornehmlich verneinen. Sie haben erkannt, daß wir uns wiederholen. Sie erkennen. Sie durchschauen. Sie haben sich noch keine Gedanken gemacht. Sie haben die dialektische Struktur dieses Stückes noch nicht durchschaut. Jetzt durchschauen Sie. Ihre Gedanken sind um einen Gedanken zu langsam gewesen. Jetzt haben Sie Hintergedanken.' 2 9
Der pädagogische Hintergrund dieser und ähnlicher Verwirrspiele in der Publikumsbeschimpfung bleibt unklar; man darf dahinter am ehesten eine ausgeprägte Sprachspielleidenschaft des Autors vermuten. Eine dritte Möglichkeit der Zuschauerreaktion schildert Handke am Beispiel des Sprechstücks "Hilferufe": "die Zuschauer und zuhörer erkennen bald, um was es den Sprechern geht, wenn sie freilich, wie beim kasperlspiel die kinder, den Spielern zurufen wollen, um w a s es geht: HILFE" 1 3 0
Die Zuschauerreaktion besteht hier ebenfalls in einer bestimmten Art von Erkenntnis. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um die Erkenntnis allgemeiner Kommunikationsbedingungen oder solcher des Theaters, sondern 127 128
129 130
Ebd. P. Handke. "Zur 'Publikumsbeschimpfung'" [Stücke 1, S.203]. - Als Gegenbeispiel, das jedoch eher den Charakter einer Ausnahme trägt, ist hier etwa Handkes Hörspiel "Wind und Meer" (1970) zu nennen; der Autor erläutert dazu: "Bei Wind und Meer zum Beispiel gibt es nichts zu verstehen. Es ist an sich die Beschreibung einer Wunschvorstellung, die man hat, einer Wunschvorstellung, welche Geräusche man gern hört, eine Welt von Geräuschen, die einem lieb sind." (P. Handke im Gespräch mit H. von Cramer 1972, S.36). P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.27]; vgl. auch ebd., S.20. P. Handke: "Hilferufe" (1967) [Stücke 1, S.91f.].
142
Peter Handke
lediglich um eine solche der formalen Anlage des Stücks, die Suche nach dem Wort Hilfe (während derer sich Handkes Dramaturgie zufolge der Zuschauer unter Umständen seiner gegenwärtigen kommunikativen Situation im Theater bewußt werden kann). Eine Identifikation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen hingegen ist nach Handke bereits durch die Anlage der Sprechstücke ausgeschlossen: "Wir machen keine Geschichten. Sie verfolgen kein Geschehen. Sie spielen nicht mit. Hier wird Ihnen mitgespielt." 131 Dies trifft in abgeschwächter Form auch auf die späteren Dramen des Autors zu, da diese nur eine Situation und keine Handlung auf der Figurenebene zeigen, so daß eine Identifikation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen im Vergleich zu herkömmlichen Stücken zumindest erschwert wird; vom Autor intendiert ist diese aber auch hier nicht. Darüber hinaus verurteilt Handke schließlich eine mögliche Reaktion des Publikums in Form von Zwischenrufen oder ähnlichen Störungen des Bühnengeschehens. Dies gilt sowohl für seine Sprechstücke wie die "Publikumsbeschimpfung" 132 als auch für Dramen anderer Autoren 133 .
131 132 133
P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.21]. Vgl. ebd., S.32. Vgl. P. Handke: "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.104],
3. Sprache 3.1 Monologe und Dialoge Monologisches und dialogisches Sprechen erfüllen in den drei verschiedenen Dramentypen, die bei Handke hinsichtlich des Darstellungsverfahrens menschlicher und dabei insbesondere sprachlich kommunikativer Handlungsweisen unterschieden werden können, jeweils eine eigene Funktion. Im ersten Typ wenden sich die Bühnenfiguren direkt und monologisierend an das Publikum; ein Dialog auf der Figurenebene findet nicht statt. Der zweite Typ ist durch ein akommunikatives Sprechen der Bühnenfiguren gekennzeichnet; aufgrund dieser Akommunikativität ist die Verwendung sprachlicher Zeichen hier weder als dialogisch noch als monologisch zu interpretieren. Der dritte Dramentyp Handkes zeichnet sich durch die hervorhebende Darstellung sprachlicher Handlungsweisen auf der Figurenebene aus, wobei die entsprechenden Dialoge und Monologe selbst lediglich in einen rudimentären Sprachhandlungszusammenhang gestellt werden. Im Folgenden soll Handkes Reflexion der Theaterkommunikation und des sprachlichen Handelns auf der Bühne hinsichtlich der jeweils typeigenen Problematik von Monologizität bzw. Dialogizität betrachtet werden. Die direkte Wendung der Bühnenfiguren an das Theaterpublikum in der "Publikumsbeschimpfung" ist ein zentraler Gegenstand der dramentheoretischen Reflexionen des Autors. Dabei ist Handke vor allem darum bemüht, diese Wendung von anderen Typen dramatischer Monologe oder Dialoge abzugrenzen, da im Gegensatz zu herkömmlichen Dramen dem Publikum in der "Publiklumsbeschimpfung" kein sprachlich-kommunikatives Handeln auf einer Figurenebene vorgespielt wird, aus der diese Figuren dann ausbrechen müssen, um sich an das Publikum sprachlich direkt wenden zu können. So heißt es etwa im Sprechertext des Dramas: "Sie werden hier nicht mehr als eine Zuschauerschaft behandelt, an die wir uns zwischendurch wenden können. Das ist kein Spiel. Hier gibt es kein Zwischendurch [...]. Wir treten aus keinem Spiel heraus, um uns an Sie zu
144
Peter Handke
wenden." 134 Dementsprechend erfolgt die erste Abgrenzung, die Handke vornimmt, gegenüber stückimmanenten Dialogen auf der Figurenebene. Im Sprechertext des Stücks lautet es hierzu: "Kein Dialog bahnt sich an. Wir stehen nicht im Dialog."135 Oder an anderer Stelle, in expliziter Abgrenzung vom traditionellen Theaterdialog: "Unsere Gespräche gehen nicht mehr im rechten Winkel zu Ihren Blicken. Unsere Gespräche werden von Ihren Blicken nicht mehr geschnitten. Unsere Worte und Ihre Blicke bilden keinen Winkel mehr miteinander. Sie werden nicht mißachtet.'" 36 Die zweite Abgrenzung der Wendung der Figuren an das Publikum in der "Publikumsbeschimpfung" nimmt Handke gegenüber einem Dialog bzw. Monolog der Bühnenfiguren mit bzw. gegenüber dem Publikum vor: "Wir stehen auch nicht im Dialog mit Ihnen. Wir wollen mit Ihnen in keinen Dialog treten."137 Danach schließt Handke also in der "Publikumsbeschimpfung" ein wechselseitiges Sprachhandeln zwischen Bühne und Zuschauerraum in zweifacher Weise aus; erstens, indem keine (sprachliche) Handlung auf der Bühne vorgeführt wird, die vom Publikum zu interpretieren ist, und auf die das Publikum in einer bestimmten Weise reagiert, und zweitens, indem die Figuren bzw. Sprecher selbst während des Vortrages des Sprechertextes ebenfalls nicht in eine unmittelbare Kommunikation mit dem Publikum treten. Dieser Verzicht auf einen Dialog zwischen Figurenebene und Publikum bedeutet eine radikale Absage auch an die Verfremdungstheorie des epischen Theater Brechts, in der von einer Handlung und einer Kommunikation auf der Figurenebene ausgegangen wird, an deren Identifikation der Zuschauer jedoch durch verschiedene Techniken, darunter auch diejenige der Wendung der Figuren an das Publikum, gehindert werden soll. Und so fährt der Sprechertext genau im Anschluß an diese Stelle fort: "Wir haben keine Illusionen nötig, um Sie desillusionieren zu können." 138 Die alternative Konzeption, die Handke im ersten Teil der "Publikumsbeschimpfung" zu den traditionellen Theatermonologen und -dialogen aufstellt, besteht nun in einer akommunikativen Wendung der Bühnenfiguren an das Publikum: "Das ist kein Tatsachenbericht. Das ist keine Dokumentation [...]. Wir erzählen Ihnen nichts [...]. Wir stellen nichts dar [...]. Wir sprechen nur. Wir spielen, indem wir Sie ansprechen." 139 Diese 134
P. Handke: "Publikumsbeschimpfung" (1966) [Stücke 1, S.20f.].
135
Ebd., S.26.
136
Ebd., S.20.
137
Ebd., S.26; vgl. auch ebd., S.20.
138
Ebd., S.21; vgl. dazu auch Kap.l .3.
139
Ebd., S.21.
145
Sprache
Sätze Uberraschen zunächst, erfüllt doch eine solche Erläuterung, wie sie sich hier im Sprechertext findet, durchaus eine kommunikative Funktion, und sei es allein diejenige, das Publikum mit der Dramaturgie des Autors vertraut zu machen. Der Widerspruch, der also in diesen Sätzen des Sprechertextes angesichts deren eigener Funktion offenbar wird, läßt sich beheben, indem das Sprechen der Schauspieler hier wie bereits gezeigt allein als Lokution des vom Autor geschriebenen metatheaterkommunikativen Textes interpretiert wird. Ein solcher metatheaterkommunikativer Text stellt dann insofern keine "Dokumentation" im Sinne eines "Tatsachenberichts" dar, als daß mit ihm keine Gegenstände oder Sachverhalte der Wirklichkeit selbst beschrieben werden, sondern allein deren formale Möglichkeit theoretisch erläutert wird. Diese Erläuterung stellt dabei diejenige der metatheaterkommunikativen Theorie des Autors dar, die dieser mittelbar durch das Medium eines durch Schauspieler gesprochenen Textes äußert, so daß das Vorsprechen dieses Textes durch die Schauspieler selbst nicht als deren eigene Erläuterung, sondern allein als Lokution der Erläuterung des Autors Handke aufzufassen ist. Eine weitere Bestätigung dieser Interpretation ist jedoch aus dem Kontext, in dem diese Sätze der "Publikumsbeschimpfung" stehen, nicht möglich. Die Sprechstücke "Weissagung", "Selbstbezichtigung" und "Hilferufe" sind weder auf eine Kommunikation auf der Figurenebene noch auf eine solche zwischen Bühne und Zuschauerraum hin angelegt; Handke greift darin lediglich auf sprachliche Verhaltensweisen bzw. bestimmte dialogische oder monologische Strukturen zurück und füllt diese mit sprachlichen Zeichen, ohne damit eine unmittelbare kommunikative Funktion zu verbinden. Diese Stücke "bedienen sich der natürlichen Äußerungsform der Beschimpfung, der Selbstbezichtigung, der Beichte, der Aussage, der Frage, der Rechtfertigung, der Ausrede, der Weissagung, der Hilferufe" 140 , verwenden diese jedoch nur als "das formale Plagiat dieser Formen" 141 . Sie könnten daher also unter dem Gesichtspunkt der Monologizität und Dialogizität nicht allein als akommunikativ sondern darüberhinaus als formal monologisch und dabei nichtfunktional monologisch bzw. als formal dialogisch und dabei nichtfunktional dialogisch charakterisiert werden. In denjenigen Stücken, in denen Handke sprachliche Verhaltensweisen auf der Bühne vorführt, um "die in dieser Gesellschaft vorherrschenden menschlichen Umgangsformen darzustellen" 142 , sind ungleich mehr Sprech140
P. Handke: "Bemerkung zu meinen Sprechstücken" (1966) [Stücke 1, S.201],
141
P. Handke:
"Über das Stück 'Selbstbezichtigung'"
(1972)
[Stücke
Kap. 1.1. 142
P. Handke: "Der Ritt über den Bodensee" (1970) [Stücke 2, S.57],
1, S.205];
vgl.
146
Peter Handke
figuren bzw. monologische bzw. dialogische Strukturen enthalten als in den früheren Sprechstücken; Handke zählt diese wie bereits gezeigt in recht umfangreichen Listen auf 4 3 . In solchen Stücken wie etwa "Quodlibet" oder "Der Ritt über den Bodensee" werden diese Strukturen nunmehr nicht allein formal, sondern auch funktional gebraucht und in eine kommunikative Situation auf der Figurenebene eingebettet. In dieser kommunikativen Situation der Stücke findet jedoch jeweils keine oder allenfalls eine rudimentäre Handlung zwischen den Figuren statt144; die Situation auf der Bühne wird durch die sprachliche Kommunikation der Figuren nicht verändert. Daher können diese Stücke zwar als formal und zugleich funktional monologisch bzw. dialogisch interpretiert werden, dabei jedoch nur als nichtresultativ und nicht als resultativ. Ende der siebziger Jahre zeichnet sich ein weiterer Wandel in Handkes Dramaturgie ab. Der Autor entwirft nun das Ideal eines Dramendialogs, in dem die Sprechpartner erfolgreich miteinander kommunizieren und beispielsweise einen intensiven Gedanken- oder Erfahrungsaustausch erzielen. Handke notiert in der "Geschichte des Bleistifts": "Drama: Jeder muß eingehen auf das, was der andere sagt - und darf doch nie direkt, dialoghaft, technisch darauf antworten ([...] Wechselreden statt Dialoge)" 145 . Diese terminologische Unterscheidung zwischen "Dialog" und "Wechselrede" wird in Handkes "Geschichte des Bleistifts" wiederholt getroffen. Dabei versteht der Autor unter "Dialog" (negativ konnotiert) lediglich eine der formalen Struktur entsprechende und hinsichtlich ihres Resultats funktional unbestimmte sprachliche Interaktion verschiedener Individuen und unter "Wechselrede" (positiv konnotiert) die erfolgreiche Kommunikation zwischen diesen, unabhängig von solchen formalen Gesprächskonventionen: "Im dramatischen Gedicht müßten sich die Personen aneinander wenden können, so wie einst die Helden an die Götter: das wäre die natürliche Dramaturgie, ohne die Dialog- und Handlungstricks des eingebürgerten Theaters" 146 . Auffallig ist hier, daß Handke die Literatur der Antike als Vorbild heranzieht; doch auch dies ist in der "Geschichte des Bleistifts" und in anderen späteren Texten des Autors des öfteren der Fall. So heißt es etwa exemplarisch zur "Wechselrede" in der "Geschichte": "Eine 'Überredung' ist bei Aischylos ein sehr langes, ein angemessen langes Hin-und-Her (siehe
143
Vgl. P. Handke: "Zur Aufführung von 'Quodlibet'" [Stücke 2, S . 1 5 7 f ] und dazu Kap.1.1.
144
Eine Ausnahme bildet hier der auf sechzehn Entwicklunsphasen hin angelegte "Kaspar".
145
P. Handke: "Die Geschichte des Bleistifts" ( 1 9 8 2 [1985]), S.366.
146
Ebd., S.358; vgl. auch ebd., S.349.
Sprache
147
'Wechselrede')" 147 . Und zum "Dialog" findet sich etwa im Text der jungen Schauspielerin in "Das Spiel vom Fragen" die folgende Passage, in der sie feststellt, daß "es aber nun hohe Zeit ist, [...] das ausstehende Drama des Fragens zu spielen, das [...] keineswegs das Vorausgewußte eines Lehrstücks oder die Hereinlege-Fragerei eines sokratischen Dialogs haben dürfe - keine Denkfragen, kein Fragen als Fallenstellen!" 148 Unter dem Gesichtspunkt der Dialogizität können nun diese Reflexionen Handkes einer vierten Phase seiner Dramen- und Kommunikationsreflexion sowie seiner Dramatik selbst zugeordnet werden, da hier sowohl eine formal als auch funktional dialogische und dabei (wenn auch gegenüber den tradierten Kommunikationstechniken nach wie vor durch Skepsis geprägte) kommunikativ resultative Dramatik auf der Figurenebene postuliert wird.149
3.2 Literarischer und nichtliterarischer Sprachgebrauch Handkes Reflexion zum Problemkreis literarischer und nichtliterarischer Sprache im Drama wurde hier bereits verschiedentlich behandelt. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal auf seine Erörterungen zur Verwendung sprachlich-kommunikativer Verhaltensweisen sowohl in den Sprechstücken als auch in den darauf folgenden Dramen 150 sowie auf seine Auseinandersetzung mit dem sog. literarischen Realismus hingewiesen 151 . In beiden Fällen wird deutlich, daß Handke einen nichtliterarischen Sprachgebrauch innerhalb eines Dramas aus prinzipiellen Erwägungen heraus für unmöglich erachtet, da jeder Gebrauch von Sprache innerhalb eines literarischen Werkes, und erfolgt dieser darin auch noch so naturalistisch, durch die Funktion des literarischen Kunstwerkes selbst mitbestimmt ist und damit in jedem Fall dessen quasi-nichtliterarische Funktion um eine literarisch bestimmte Funktion ergänzt wird; dies gilt insbesondere auch für den hervorhebenden Gebrauch von Sprachverwendungsweisen innerhalb der Sprechstücke und der darauffolgenden Dramen. 147
Ebd., S.357; vgl. auch P. Handke im Gespräch mit H. Gamper (1987), S.193-196. - Zu Aischylos vgl. auch P. Handke zur Übersetzung von "Prometheus, gefesselt" ( 1 9 8 6 ) [in: "Langsam im Schatten" (1992), S.l 13-114],
148
P. Handke: "Das Spiel v o m Fragen" (1989), S.29f.
149
Es sei in diesem Zusammenhang lediglich daraufhingewiesen, daß in Handkes vorläufig letztem Stück, "Die Stunde da wir nichts voneinander wußten" ( 1 9 9 2 ) wiederum gänzlich auf die Darstellung sprachlicher Kommunikation verzichtet wird; vgl. dazu auch Handkes Stück "Das Mündel will Vormund sein" (1969).
150
Vgl. Kap. 1.1. sowie Kap. 3.1.
151
Vgl. Kap. 1.3.
148
Peter Handke
- Neben solchen Reflexionen finden sich bei Handke aber auch verstreut einige Bemerkungen zum Gebrauch sozialer und regionaler Varietäten in Dramen anderer Autoren sowie einige knappe Erläuterungen zu dem Bestreben, Sprache in der Literatur Wirklichkeit werden zu lassen. So fordert Handke bereits in seinem "Manifest": "Nicht von der Sprache sprechen" 152 . Der Autor begründet diese Forderung an anderer Stelle mit dem bekannten Argument, daß eine metasprachliche Reflexion sich selbst wiederum der Sprache bediene und somit sprachlichen Verwendungsweisen und kommunikativen Verhaltensweisen verhaftet bleibe. Und so heißt es im Zusammenhang mit einer Erörterung des Filmschaffens Jean-Luc Godards: Godard hat nun gegenüber den Linguisten den Vorteil, daß er das Medium, dessen Methoden er die Zuschauer lehren möchte, sich selber vorstellen läßt, indem er es zitiert. (Die Linguisten aber sprachen über die Syntax mit eben dieser Syntax, ohne daß diese sich selber mitkommentiert; die allgemeine Syntax ist noch nicht so weit abstrahiert, daß sie völlig in die mathematischen Zeichen der Logistik und der Deontik, der NormenAlgebra, überführt werden kann.) Die Bilder und Töne, die Godard zeigt, sind zugleich auch, wie er sagt, deren Bild-Widersprüche und Ton-Widersprüche.' 5 3
Da Handke an dieser Stelle also einer metasprachlichen Reflexion kritisch gegenübersteht, aber dennoch die sprachliche Kommunikation literarisch thematisieren möchte, fordert er im "Manifest": "Nicht die Wirklichkeit Sprache, sondern die Sprache Wirklichkeit werden lassen."154 Der Autor erreicht dieses Wirklichkeitwerden von Sprache ohne Sprachewerden von Wirklichkeit durch die akommunikative Vorführung sprachlicher Verhaltensweisen auf der Bühne, ohne daß diese in eine Handlung auf der Figurenebene eingebettet werden und somit auf sich selbst verweisen. Ende der siebziger Jahre ändert sich, den Äußerungen des Autors zur Dialogizität im Drama entsprechend, Handkes Position auch unter diesem Gesichtspunkt. In der "Geschichte des Bleistifts" heißt es etwa: "Was Sprache ist, kann ich nicht erfahren, indem ich darüber nachdenke, sondern ich muß sie schreibend praktizieren" 155 . Handke lehnt an dieser Stelle ebenfalls eine metasprachliche Reflexion ab; die Alternative, sprachliches Handeln dennoch zu thematisieren, besteht nun jedoch nicht mehr in einer akommunikativen Darstellung sprachlicher Verhaltensweisen, sondern vielmehr in der Vorführung erfolgreicher, resultativer Kommunikation selbst, mit der die Sprache und deren kommunikative Möglichkeiten in konkreto nachgewiesen und für den Zuschauer (bzw. vor allem für den Leser der 152 153
154 155
P. Handke: P. Handke: beinturms" P. Handke: P. Handke:
"Manifest" [Stücke 1, S.202], "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfen(1972), S.l 15], - Zu J.-L. Godard vgl. kurz J. Monaco (1980), S.362-372. "Manifest" [Stücke 1, S.202], "Die Geschichte des Bleistifts" (1982 [1985]), S.293.
Sprache
149
späteren Prosawerke des Autors) erfahrbar gemacht werden. "Noch einmal: Meide das SprachAtnktn, bleib bei den Dingen und ihrem Schein. So wird die wirkliche Sprache, so wird die Sprache wirklich." 156 Handkes Bemerkungen zum Gebrauch sozialer und regionaler Varietäten in Dramen anderer Autoren sind hier insofern von Interesse, als sie zwar keinen weiteren Beitrag zum Verständnis von dessen dramaturgischer Sprach- oder Kommunikationsreflexion leisten157, jedoch im Gegensatz zu diesen einen gesellschaftlichen Bezug in Handkes Sprachdenken erkennen lassen. So wendet sich der Autor etwa gegen die sprachliche Figurencharakterisierung in Tankred Dorsts Drama "Toller" (1969): "In dem Stück Toller [...] kommen 'große' und 'kleine' Leute vor, offizielle Personen und inoffizielle Personen. Offizielle Personen: [...]: Deren Sprechweisen in dem Stück nimmt der Autor ernst, er läßt sie sich selber dokumentieren, während er die Sprechweisen der 'kleinen' Leute karikiert." 158 Diese sprachlichen Karikaturen derjenigen Dramenfiguren, die eher niedrigstehenden gesellschaftlichen Gruppen zuzurechnen sind, lehnt Handke aus ideologischen Gründen ab: "Wie widerwärtig das ist, die Sprache der kleinen Leute entfremdet zu nehmen, das Sprechen der großen Leute aber als selbstverständlich von der kapitalistischen Dramaturgie zu übernehmen." 159 Handke kritisiert, daß hier in der sprachlichen Charakterisierung der gesellschaftlich höherstehenden Figuren keine Verfremdungen vorgenommen werden, welche etwa die spezifischen Merkmale von deren Sprachgebrauch aufzudekken helfen könnten: "Die kleinen Leute zeigen also ihre Sprechweisen als fremde Sprechweisen vor, die Dialoge der offiziellen Personen werden aber nicht als Dialoge klar, sondern gebärden sich als eigen, als echt, Natur -"16° Zu dem von Handke sehr bewunderten Drama "Kasimir und Karoline" (1932) von Horväth bemerkt der Autor: "Kasimir und Karoline reden im Briefdeutsch [...], und je mehr sie so reden, desto mehr entfernen sie sich voneinander, als ob sie wirklich von ganz weit weg einander Briefe schreiben." 161 Handke macht hier in Anlehnung an Horväths Stück die Verwendung der überregional als Vorbild anerkannten und zu einer 156 157
158
159 160 161
Ebd., S.319. Dies gilt auch für Handkes Erläuterungen zum Gebrauch von Perfekt und Präteritum in seinen Dramen im Gespräch mit P.A. Bloch und A.J. Schneller (1971); vgl. dazu auch A.J. Schneller (1971). P. Handke: "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.96], Ebd., S.97. Ebd., S.96; zu Handkes Gebrauch des Terminus "Dialog" vgl. Kap.3.1. P. Handke: "Die Arbeit des Zuschauers" (1969) [in: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" (1972), S.96].
150
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gewissen Formelhaftigkeit erstarrten Standardsprache anstelle der regionalen und von den Sprechpartnern beherrschten Varietät dafür verantwortlich, daß eine erfolgreiche Kommunikation zwischen diesen Partnern verhindert und damit die genuine Funktion von Sprache als Mittel der gegenseitigen Verständigung ad absurdum geführt wird. An anderer Stelle macht Handke ebenfalls auf die dramatische Gestaltung dieser vor allem sprachsoziologischen Problematik aufmerksam; dabei handelt es sich um die Stücke "Magic Afiternoon" (1968) von Wolfgang Bauer und "Der Herr Karl" (1962) von Helmut Qualtinger: Der Ernst des L e b e n s wird in Bauers Stück auch nur in H o c h d e u t s c h erwähnt, w ä h r e n d das übliche Stück in leicht österreichischem Dialekt vor sich geht [...]. A u c h Qualtingers 'Herr Karl', w e n n er vorgibt, e r n s t h a f t zu w e r d e n , spricht in allgemeinen r e i c h s d e u t s c h e n W e n d u n g e n , w ä h r e n d er doch nur ernsthaft und ehrlich ist (ehrlich hinterhältig), w e n n er im Dialekt r e d e t . 1 6 2
Über den individuellen Sprachgebrauch der Figuren in seinen eigenen Dramen bzw. über die sprachliche Charakterisierung dieser Figuren macht Handke - abgesehen von Angaben im Nebentext der späteren Stücke - nur wenige Aussagen. Man darf dies als Indiz dafür werten, daß Handke in den auf der Figurenebene akommunikativen Sprechstücken bestimmte Sprachhandlungsmuster unabhängig von bestimmten Individuen oder Gruppen behandelt und auch in den späteren Stücken, in denen eine Kommunikation auf der Figurenebene (wenn auch lediglich nichtresultativ) erfolgt, der Charakterisierung seiner Figuren allenfalls eine geringe, allenfalls typisierende, nicht jedoch individualisierende, Bedeutung beimißt. In Handkes 1972 erschienenen Erzählung "Der kurze Brief zum langen Abschied" findet sich jedoch eine Passage, die in diesem Zusammenhang Beachtung verdient: "Es fällt m i r schwer, Rollen zu schreiben", antwortete ich. " W e n n ich j e m a n d e n charakterisiere, k o m m t es mir vor, als o b ich ihn d a m i t entwürdige. A u s allem B e s o n d e r e n an einer Figur wird dann ein Tick. Ich spüre, d a ß ich anderen nicht so g e r e c h t w e r d e n kann w i e mir selber. W e n n ich Leute auf der B ü h n e reden lasse, s c h n a p p e n sie mir schon n a c h den ersten Sätzen zu und sind für immer auf einen Begriff gebracht [...], und ich kann die Figuren nicht m e h r w e i t e r d e n k e n . " 1 6 3
Hier schildert der Ich-Erzähler seine Vorgehensweise bei der sprachlichen Gestaltung von Dramenfiguren. Dabei verlangt die Wahl bestimmter Ausdrucksweisen für diese Figur im weiteren Verlauf des Stückes die Wahl stilistisch entsprechender Ausdrucksweisen, um diese Figur in ihrer indivi162
P. H a n d k e : "Zu W o l f g a n g Bauer, ' M a g i c A f t e r n o o n ' " [in: "Ich bin ein B e w o h n e r des E l f e n b e i n t u r m s " (1972), S. 196]; zu W . B a u e r und H. Q u a l t i n g e r vgl. A u s t / H a i d a / H e i n (1989).
163
P. H a n d k e : "Der kurze Brief z u m langen A b s c h i e d " (1972), S.150f.
Sprache
151
duellen Charakteristik homogen zu erhalten. Das Problem des Ich-Erzählers besteht nun darin, daß dieser Einsatz figurentypischer sprachlicher Ausdrucksweisen die Gefahr mit sich bringt, zu formalisieren und damit nicht mehr der Individualität der Figur gerecht zu werden. Man darf vermuten, daß die Argumentation des Ich-Erzählers der dramentheoretischen Position des Autors selbst entspricht, und sie darum mit als Grund fiir das Fehlen entsprechender Figurencharakterisierungen in Handkes Stücken bis zu Beginn der siebziger Jahre ansehen.
Reflexion dramatischer Kommunikation bei Peter Weiss
1. Text und Inszenierung 1.1 Die Auswahl des dokumentarischen Materials Seit den zwanziger und vor allem dann in den sechziger Jahren wurde von diversen Autoren wie beispielsweise Heinar Kipphardt, Rolf Hochhuth und auch Peter Weiss eine Dramaturgie entwickelt, die im allgemeinen unter dem Namen Dokumentarisches Theater zusammengefaßt wird, da ein wesentliches Merkmal dieser Dramaturgie in der Verarbeitung historischen Textmaterials in den entsprechenden Dramen selbst besteht. Diese Dramaturgie des Dokumentarischen Theaters stellt jedoch keine einheitliche Theorie einer solchen Verarbeitung dokumentarischen Materials im Dramentext und auf der Bühne dar; es sind vielmehr bedeutende Unterschiede in den verschiedenen Positionen der einzelnen Autoren festzustellen 1 . Aus diesem Grunde hat eine Untersuchung der Reflexion von Sprache und Kommunikation des dokumentarischen Theaters bei Peter Weiss zunächst an dessen eigener, in der zweiten Phase seines dramatischen Schaffens entworfenen und etwa mit den Stücken "Die Ermittlung" (1965) und "Viet Nam Diskurs" (1967) verwirklichten Konzeption solcher Dokumentarstücke anzusetzen 2 . Eingangs der "Notizen zum dokumentarischen Theater" unterscheidet Weiss verschiedene Typen eines "realistischen Zeittheaters" und faßt darunter das Agitpropstück, die Experimentalbühne Erwin Piscators, Brechts Lehrstücke und viele andere, politisch engagierte Theaterkonzeptionen zusammen. Auch das dokumentarische Theater gehört danach zu dieser Gruppe: "Ausgehend von der Schwierigkeit, eine Klassifizierung zu finden für die unterschiedlichen Ausdrucksweisen dieser Dramatik, wird hier der Versuch unternommen, eine ihrer Spielarten zu behandeln, diejenige die sich ausschließlich mit der Dokumentation eines Stoffes .befaßt, und deshalb Dokumentarisches Theater genannt werden kann." 3 Das Ziel einer solchen
Vgl. dazu B. Barton (1987), insbes. S.94-116; N. Miller (1982), S.3-98 und S.259-283. Zur Werkgeschichte und Theorie der Dokumentär!iteratur im allgemeinen und bei Weiss im besonderen vgl. die Literaturangaben der Einleitung, Anm.4. P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S.91].
156
Peter Weiss
"Dokumentation" ist hierbei Weiss zufolge eine Objektivität beanspruchende Darstellung von politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen oder Vorgängen. Für die strenge Form des dokumentarischen Theaters bei Peter Weiss ist dabei entscheidend, daß hierdurch tatsächlich Sachverhalte oder Vorgänge geschildert werden und nicht etwa das Schicksal einzelner Personen 4 . Dabei ist diese objektive Darstellung oder "Berichterstattung", wie es im folgenden Absatz heißt, jedoch im Sinne des Autors durch das Weltbild des Sozialismus geprägt, worin für Weiss aufgrund des Alleinerklärungsanspruches der sozialistischen Ideologie trotz aller kritischen Auseinandersetzung und der Suche nach einer eigenen Position auf den ersten Blick kein Widerspruch zu bestehen scheint 5 . - Hinsichtlich der spezifischen dramatischen Darstellungsweise der Dokumentarstücke fährt der Autor nun eingangs der "Notizen zum dokumentarischen Theater" fort: Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es Ubernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder. Im Unterschied zum ungeordneten Charakter des Nachrichtenmaterials, das täglich von allen Seiten auf uns eindringt, wird auf der Bühne eine Auswahl gezeigt, die sich auf ein bestimmtes, zumeist soziales oder politisches Thema konzentriert. Diese kritische Auswahl, und das Prinzip, nach dem die Ausschnitte der Realität montiert werden, ergeben die Qualität der dokumentarischen Dramatik. 6
Die Methode der Darstellung eines bestimmten historischen Sachverhaltes oder Vorganges besteht danach prinzipiell also in der Übernahme "authentischen Materials", d.h. in der Auswahl und in der Bearbeitung von Textausschnitten historischer Dokumente, die im Zusammenhang mit diesem Sachverhalt oder Vorgang stehen. Zur Auswahl solcher historischen Dokumente selbst greift Weiss nun auf sehr verschiedene Textgattungen zurück. In den "Notizen" nennt er "ProtoVgl. dazu Kap. 1.2. - Peter Weiss bedient sich in seinen späteren Stücken nicht mehr der strengen Form des dokumentarischen Theaters. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er sich von dieser Dramenform als solcher kritisch distanziert, sondern daß er sie lediglich für die ihn nunmehr interessierenden Personenschicksale etwa Hölderlins oder Trotzkis nicht als darstellungsadäquat empfindet: "Wie ich schon sagte," äußert sich Weiss 1974, "finde ich die Form des rein dokumentarischen Theaters weiterhin außerordentlich nützlich und in vieler Beziehung als einzige Möglichkeit angebracht. Es gibt auch heute einen Überfluß an Stoffen, die nach einer direkten, durch Dokumente belegten Aussageform verlangen." (P. Weiss im Gespräch mit M. Haiduk, 1974 [Peter Weiss im Gespräch, S.214]). Vgl. dazu aber Kap.1.3. - Auf eine umfassendere Darstellung der politisch-ideologischen Entwicklung des Autors Peter Weiss muß und kann an dieser Stelle verzichtet werden. Wenn im folgenden dennoch örtlich auf das politisch-ideologische Denken von Weiss hingewiesen wird, so ist dies allein dadurch begründet, daß dessen Dramaturgie nicht ohne diesen Hintergrund verstanden werden kann. P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S.91f.].
T e x t u n d Inszenierung
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kolle, Akten, Briefe, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Abschlußberichte von Bankunternehmen und Industriegesellschaften, Regierungserklärungen, Ansprachen, Interviews, Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, Zeitungs- und Rundfunkreportagen, Fotos, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart" 7 . In der Forschung wurden bislang insbesondere die von Weiss als Quellen verwandten Dokumente zum Drama "Die Ermittlung" (1965) untersucht. Hier sind vor allem die eigenen Aufzeichnungen des Autors zum Frankfurter Auschwitz-Prozeß, an dem er selbst teilnahm, die Prozeßberichte Bernd Naumanns in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die 1965 in Buchform zusammengefaßt erschienen 8 , sowie eine Reihe anderer Quellen, die erst 1982 von R. Krause in befriedigender Form auf der Grundlage der Angaben des Autors zusammengestellt und beurteilt wurden 9 , zu nennen. Weiss selbst äußert sich Mitte der sechziger Jahre zu der Bedeutung der genannten Quellen folgendermaßen: D a v o m Frankfurter A u s c h w i t z - P r o z e ß keine eigentlichen Gerichtsprotokolle
vorlagen
(wie e t w a im Fall O p p e n h e i m e r ) , w a r ich bei m e i n e r Arbeit, n e b e n m e i n e n eigenen Notizen, auf das S t u d i u m der Zeitungsberichte angewiesen. Vorbildlich w u r d e der Prozeß von der F A Z überwacht, w o Bernd N a u m a n n und seine Mitarbeiter ausführlich über j e d e n der V e r h a n d l u n g s t a g e , o f t bis in die Einzelheiten des Dialogs, Rapport ablegten. D a B N s B u c h in diesen Tagen erscheint, m ö c h t e ich noch einmal d a r a u f h i n w e i s e n , welch g r o ß e n W e r t dessen Material für m e i n Stück bedeutete. Ich spreche B N m e i n e n D a n k aus und m a c h e das L e s e p u b l i k u m auf dieses wichtige Z e i t d o k u m e n t a u f m e r k s a m , in d e m der Prozeß, der in m e i n e m Oratorium als Konzentrat aufklingt, in der Reichhaltigkeit der alltäglichen V e r h a n d l u n g e n beschrieben w i r d . 1 0
Es wird deutlich, daß Weiss ein möglichst hohes Maß an historischer Authentizität seiner Quellen fordert, um eine möglichst große Nähe zu dem zu beschreibenden Vorgang, in diesem Falle dem diskursiven Verlauf des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, zu erzielen. Doch gerade dieses Authentizitätsstreben in der Quellenauswahl überhaupt erscheint angesichts der darauffolgenden Auswahl bestimmter Textstellen aus diesem Quellenmaterial und deren Verarbeitung zum Dramentext nur bedingt verständlich, da das dokumentarische Material durch diese Verarbeitung seitens des Autors zu einem neuen Text verändert und damit der Authentizität, die dem Quellenganzen als historischem Dokument eigen ist, beraubt wird. 7
Ebd., S.91. - Vgl. N . H o n s z a (1973), insbes. S.834.
8
B. N a u m a n n (1965).
9
R. K r a u s e (1982), S . 6 5 7 - 6 6 2 (vgl. auch S.676-682). - D a n e b e n die f r ü h e r e n Darstell u n g e n v o n H. M o t e k a t (1977), S.79; M . Haiduk (1977), S.133f.; E. Salloch (1972), S.87-89.
10
P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.390f.
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Peter Weiss
Weiss verarbeitet nach eigenen Angaben auch in denjenigen Stücken historisches Quellenmaterial, die nicht dem dokumentarischen Theater im strengen Sinne zuzurechnen sind, da in ihnen keine historischen Sachverhalte oder Vorgänge, sondern historische Einzelschicksale geschildert werden. Zum "Marat/Sade" (1964), dem wohl bedeutendsten Stück des Autors vor der "Ermittlung", heißt es dazu etwa: "Die Äußerungen Marats im Lauf der Handlung entsprechen ihrem Inhalt nach, oft fast wortgetreu, seinen hinterlassenen Schriften." 11 Entsprechendes gilt auch in weiten Teilen für die Dramen, die auf die Dokumentarstücke zeitlich folgen. Dies bestätigt Weiss selbst, unter anderem auch für den "Hölderlin" (1971): Ja, es ist alles drin, wie z.B. das Treffen mit Goethe, als Hölderlin noch nicht wußte, wer das war. Dieser Vorfall wird in einem Brief an Neuffer erwähnt. Im Stück findet sich auch Schillers Kritik an Hölderlin; und Goethe klagt in einem Brief an Schiller über die langhaarigen, ungepflegten Umstürzler, die wild rumglotzen würden [...]. Die Figur Fichtes habe ich anhand seiner Reden und Vorlesungen, die j a auch Hölderlin besuchte, entwickelt. Hölderlin schrieb, daß er von ihnen mitgerissen wurde. 1 2
Äußerungen des späten Hölderlin sind aufgrund seiner psychischen Erkrankung naturgemäß in nur geringerer Anzahl überliefert. "Es sind die kurzen Episteln, die er sich abzwingt, zumeist an die Mutter [...]. Und da sind die erhaltenen Gedichte." 13 Die Bedeutung dieser Gedichte setzt Weiss sehr hoch an: "Sie sind nicht, wie die Forschung vormals vermeinte, bloßes Echo des einstigen Sprachvermögens, sondern Stenogramme aus einem Zustand, der unter gänzlich andern Vorzeichen steht als die Periode eines wiedererkennbaren Schaffens." 14 Die Bedeutung dieser Texte besteht danach darin, daß sie Weiss als sehr bewußt formulierte Äußerungen Hölderlins betrachtet und daher in diesen auch eine bis zu einem gewissen Grad dokumentationswürdige Wiederspiegelung des psychischen Zustandes der Person Hölderlin zu erkennen glaubt. Diese Einschätzung muß jedoch, ebenso wie die gesamte Hölderlinrezeption und -interpretation von Peter Weiss, die im Wesentlichen durch Pierre Bertaux bestimmt ist15, angesichts der Forschung bis heute als stark umstritten gelten. Es kann an dieser Stelle also festgehalten werden, daß Peter Weiss sowohl in seinen Dokumentarstücken als auch in seinen anderen Dramen um die wörtliche oder auch nur sinngemäße Verarbeitung von zuvor sorg11
12 13 14 15
P. Weiss: "Anmerkungen zum geschichtlichen Hintergrund unseres Stücks" (1963) [W (= Werkausgabe in sechs Bänden) Bd.4, S.269], P. Weiss im Gespräch mit D. Hastad (1972) [Peter Weiss im Gespräch, S.197f.]. P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980" S.802. Ebd. P. Bertaux (1969) und (1978); vgl. dazu etwa P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980" S.797f.
Text und Inszenierung
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fältig aus verschiedenen Textgattungen zusammengestellten und möglichst authentischen historischen Quellenmaterial bemüht ist, um durch dessen Authentizität nun eine möglichst objektive Darstellung der entsprechenden historischen Sachverhalte oder Vorgänge zu gewährleisten. Von der Problematik der Authentizität einzelner Quellen abgesehen, erweist sich dieses Bestreben in der Auswahl des dokumentarischen Materials jedoch selbst in den Dokumentarstücken wie "Die Ermittlung" oder der "Viet Nam Diskurs" auch aus prinzipiellen Gründen als problematisch bzw. inadäquat, da diese historische Authentizität durch die Verarbeitung des dokumentarischen Materials seitens des Autors verringert oder gar aufgehoben zu werden droht. Die beiden folgenden Kapitel sind entsprechend zunächst den Reflexionen des Autors zur Verarbeitung der Quellentexte und darauf denjenigen zu Aussage und Funktion des Dokumentarstücks gewidmet.
1.2 Die Bearbeitung des dokumentarischen Materials im oben bereits angeführten Abschnitt 1 der "Notizen zum dokumentarischen Theater" deutet Weiss neben der Auswahl des dokumentarischen Materials zwei grundlegende Bearbeitungsschritte für dieses Material an: "Diese kritische Auswahl, und das Prinzip, nach dem die Ausschnitte der Realität montiert werden, ergeben die Qualität der dokumentarischen Dramatik." 16 Der erste Bearbeitungsschritt besteht danach darin, daß zunächst aus dem dokumentarischen Material bestimmte Teile herausgeschnitten werden, d.h. daß nicht jeweils der gesamte historische Quellentext, sondern nur Textteile bzw. "Ausschnitte" von diesem verwendet werden. Der zweite Schritt besteht dann darin, daß diese Textteile miteinander durch bestimmte "Montage"-Techniken zu einem neuen Textganzen, dem Dramentext, verbunden werden. Dabei stellt sich (bevor diese beiden Bearbeitungsschritte selbst zu betrachten sein werden) zunächst das Problem, inwieweit diese montierten Textteile innerhalb des Dramentextes durch nichtdokumentarische, d.h. fiktionale Textteile aus der Hand des Autors zu ergänzen sind, und hierdurch der auf der Authentizität des historischen Materials beruhende Charakter der Dokumentation verändert werden kann bzw. darf. In den "Notizen" heißt es dazu: "Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt
16
P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S.92],
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Peter Weiss
unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder." 17 In Bezug auf Teile des Dramentextes aus des Autors eigener Hand legt diese Äußerung den Schluß nahe, daß Weiss in seinen Dokumentarstücken, wenn überhaupt, dann allenfalls ein Minimum an fiktionalen Textergänzungen zum verwendeten dokumentarischen Material zuläßt". Dies läßt sich anhand eines Gesprächs von Weiss mit S. Axelsson im Jahr 1967 für die Stücke "Gesang vom Lusitanischen Popanz", "Die Ermittlung" und "Viet Nam Diskurs" bestätigen: Im Angola-Stück, im Auschwitz-Stück und nun auch im Vietnam-Stück wollte ich meine Phantasie gewissermaßen herunterschrauben; ich wollte nicht mit meiner eigenen Phantasie, sondern mit Material aus der Wirklichkeit arbeiten. Ich wollte nichts hinzufügen, ich wollte kein Kunstwerk herstellen, sondern ich habe eine möglichst effektive Form und einen Inhalt gesucht, der sich allein auf die Wirklichkeit gründet. Im Marat/Sade war es noch ganz und gar eine Phantasiewelt, aber bei all den anderen Sachen ist das anders. 1 9
Weiss strebt also in den Dokumentarstücken eine möglichst ausschließliche Verarbeitung historisch authentischer Textteile zu einem neuen Textganzen an und lehnt dabei fiktionale Textteile aus der Hand des Autors selbst weitgehend ab. Dies wird nun von dem Autor in dem früheren Marat/Sade-Drama zwar noch nicht intendiert, ist dort aber bereits ebenfalls der Authentizität der Äußerungen der einzelnen Figuren halber durch die Verwendung historisch belegter Äußerungen der betreffenden Personen bereits in Ansätzen angelegt. So erläutert Weiss etwa im Gespräch mit D. Ster seine Gestaltung der Marat-Figur: "Die Figur des Marat entspricht weitgehend dem Original. Die meisten Aussprüche Marats sind seinen Schriften, teilweise sogar wörtlich, entnommen." 20 Die Figurengestaltung des Marquis de Sade erfolgte dagegen weniger durch belegte Äußerungen, sondern vielmehr durch (sinngemäße) fiktionale Textteile: "Sade ist dagegen viel freier behandelt, obgleich er inhaltsmäßig nichts aussagt, was nicht seinem philosophischen Denken entspricht." 21 In denjenigen Dramen, die den Dokumentarstücken im strengen Sinne zeitlich folgen, behält Weiss die Arbeit mit historisch authentischem Textmaterial mehr oder weniger bei. Dies gilt etwa wie gezeigt für den 17 18
19 20 21
Ebd., S.91f. Zum Problem, inwiefern die Montage historischer Textteile selbst zur Konstitution eines nichtauthentischen Wirklichkeitsbildes beiträgt bzw. der Entwicklung einer eigenen Phantasiewelt des Autors dienen kann, vgl. Kap. 1.3. - Es sei in diesem Zusammenhang beispielsweise bereits auf das Gespräch zwischen P. Weiss und J. Reinert (1973) [Peter Weiss im Gespräch, S.203] verwiesen. - Dazu auch I. Schmitz (1981), S.35f. P. Weiss im Gespräch mit S. Axelsson (1967) [Peter Weiss im Gespräch, S.l 19f.]. P. Weiss im Gespräch mit D. Ster (1964) [Peter Weiss im Gespräch, S.45.]. Ebd.
Text und Inszenierung
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"Hölderlin", aber auch für das Drama "Trotzki im Exil". Im Anschluß an diese beiden Stücke unternimmt Weiss zweimal den Versuch, Kafkas Roman "Der Prozeß" zu dramatisieren. Diese beiden Versuche, "Der Prozeß" (1974) und "Der neue Prozeß" (1982), sind in diesem Zusammenhang insofern von besonderem Interesse, als auch hier in jeweils qualitativ wie quantitativ sehr verschiedener Weise aus bereits vorhandenem Textmaterial ein neuer (Dramen)Text entwickelt wird. Bei dem Textmaterial handelt es sich jedoch in diesem Fall, anders als bei den Dokumentarstücken, nahezu ausschließlich um Teile eines einzelnen literarischen Prosatextes, die um wenige andere Textteile aus weiteren Werken seines Autors Kafka ergänzt werden. Dies gilt vor allem für "Der Prozeß", wie Weiss eingangs seiner Vorbemerkung zu diesem Stück deutlich macht: Der Ausgangspunkt meiner Dramatisierung war der Versuch, mich so nah wie möglich an den Originaltext zu halten [...]. Der Dramatiker stellt sich ganz hinter die Schöpfung Kafkas und sucht nur nach szenischen Mitteln, die dem Inhalt des Buchs gerecht werden können. Textliche Hinzufügungen, wenn solche für den Handlungsverlauf notwendig waren, wurden Kafkas Tagebüchern, Briefen und kurzen Prosastücken entnommen. Die einzige Erweiterung des Themas, die ich unternahm, war die Einordnung der Geschehnisse in einen besonderen historischen Rahmen, auch diese nur in äußerst sparsamer Anwendung, und begründet in Kafkas eigener Biographie. 22
In "Der neue Prozeß" verfährt Weiss anders. Im Gegensatz zur früheren Dramatisierung des Romans übernimmt er hier daraus keine Textpassagen, sondern schreibt einen nahezu vollständig neuen Dramentext, in den er allenfalls den Titel und einige Personenbezeichnungen übernimmt. So erläutert er zu "Der neue Prozeß": Als ich vor 8 Jahren den Versuch unternahm, Kafkas Roman Der Prozeß zu dramatisieren, hielt ich mich so nah wie möglich an den Originaltext [...]. Der neue Prozeß beschreitet einen völlig anderen Weg. Übernommen sind nur: der Anklang an den Prozeß im Titel, die Namen der Figuren und - als Grundmuster - einige der Spielplätze. Diese werden als Zitat benutzt, oder als eine 'Referenz' Kafka gegenüber. 23
Es kann an dieser Stelle also festgehalten werden, daß die Konzeption des dokumentarischen Dramas bei Peter Weiss eine nahezu ausschließliche Verarbeitung von Textteilen historisch überlieferter Texte fordert, welche kaum eine Ergänzung durch fiktionale Textteile im Dramentext zuläßt. Anklänge dieser Methode, Teile von authentischem Textmaterial (neben fiktionalen Passagen) in einem Dramentext zu verarbeiten, finden sich mehr 22
23
P. Weiss: "Vorbemerkung zur Dramatisierung des Buchs Der Prozeß von Kafka" (1974) [W Bd.6, S.264], P. Weiss: "Der neue Prozeß" (1982) [W Bd.6, S.424], - Im Gespräch mit H.L. Arnold bewertet Weiss das Drama darum auch als "ein ganz und gar eigenes Stück, das mit dem Roman von Kafka [...] nichts zu tun hat" [Stephan (1983), S.56f.].
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Peter Weiss
oder weniger stark ausgeprägt auch in den früheren und späteren Stücken des Autors, die nicht dem dokumentarischen Theater im strengen Sinne zuzurechnen sind. Im folgenden sollen nun die methodischen Vorstellungen von Peter Weiss zu der Verarbeitung des dokumentarischen Materials selbst (unabhängig von dessen Ergänzung durch fiktionale Textpassagen) betrachtet werden. Der erste Schritt dieser Verarbeitung erfolgt wie angedeutet mit der Auswahl und Bildung von Teiltexten aus dem zuvor zusammengestellten dokumentarischen Material. Das wesentliche Kriterium für diese Teiltextauswahl besteht darin, solche Textteile, die für die Darstellung des historischen Vorgangs besonders signifikant erscheinen, von solchen, die diesbezüglich eher als redundant einzuschätzen sind, zu trennen und damit einer gezielten Weiterbearbeitung zugänglich zu machen. In den "Notizen zum dokumentarischen Theater" heißt es dazu etwa: "Alles Unwesentliche, alle Abschweifungen können weggeschnitten werden zugunsten der eigentlichen Problemstellung. Verloren gehen die Überraschungsmomente, das Lokalkolorit, das Sensationelle, gewonnen wird das Allgemeingültige." 24 Am Beispiel des "Viet Nam Diskurs" beschreibt Weiss die Funktion dieser Vorgehensweise etwa folgendermaßen: "Die bewußte Zerlegung einer Rede, zum Beispiel von Eisenhower, denunziert deren Inhalt. Werden Sätze durch bestimmte Zäsuren zerteilt, so wird die verhüllte Absicht offensichtlich." 25 Die Bildung von Textteilen erzeugt danach entweder einzelne, voneinander unterschiedene Textausschnitte des Quellentextes oder lediglich eine Zäsurierung eines zusammenhängenden Textausschnitts. Sie verfolgt damit das Ziel, typische oder signifikante Aussagen und verdeckte Argumentationsstrukturen des Quellentextes zu fokussieren und damit einer entsprechenden Interpretation zugänglich zu machen. Ein schwerwiegendes methodisches Problem dieser Vorgehensweise besteht nun darin, daß die Bildung von Teiltexten wiederum nur aufgrund einer Interpretation des Quellentextes durch den Autor Weiss selbst möglich ist, und damit ein nicht unwesentliches subjektives Moment in die Objektivität anstrebende Dokumentation Eingang findet. Daß Weiss sich mit seinen Dramen über diese Problematik faktisch hinwegsetzt, ist allein durch dessen sowohl Erklärungsangemessenheit als auch Objektivität beanspruchende Weltanschauung zu erklären. Dies gilt entsprechend auch für die Weiterverarbeitung und Zusammenlegung solcher Textteile zum Text des Dokumentarstücks. In den 1968 entstandenen "Notizen zum dokumentarischen Theater" gibt Weiss nun P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S. 100]. P. Weiss in einem Spiegel-Gespräch ( 1 9 6 8 ) [Peter Weiss im Gespräch, S.146],
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163
exemplarisch einige Techniken dieser Bearbeitung von ausgewählten Textteilen verschiedener und historisch authentischer Texte im Dramentext an und teilt diese in vier Gruppen ein. Die erste Gruppe besteht aus Techniken der Anordnung der Quellentextteile zu mehr oder weniger strukturierten Teiltextkomplexen. Schon 1965 erläutert Weiss zur Verarbeitung des dokumentarischen Materials in der "Ermittlung": "Ich habe das Lager besucht und studiert und dieses Material gesammelt, es zu ganz bestimmten Komplexen geordnet." 26 In den "Notizen" heißt es nun dazu: Meldungen und Teile von Meldungen, in zeitlich genau bemessenen Abschnitten, rhythmisch geordnet. Kurze Momente, nur aus einer Tatsache, einem Ausruf bestehend, werden abgelöst durch längere, komplizierte Einheiten. Auf ein Zitat folgt die Darstellung einer Situation. In schnellem Bruch verändert sich die Situation zu einer anderen, gegensätzlichen. Einzelsprecher stehen einer Mehrzahl von Sprechern gegenüber. Die Komposition besteht aus antithetischen Stücken, aus Reihen gleichartiger Beispiele, aus kontrastierenden Formen, aus wechselnden Größenverhältnissen. Variationen eines Themas. Steigerung eines Verlaufs. Einfügung von Störungen, Dissonanzen. 2 7
Peter Weiss scheint hier zwei Typen von Teiltextkomplexen zu unterscheiden. Zum einen in sich homogene Komplexe, die keine Brüche aufweisen ("Reihen gleichartiger Beispiele", "Steigerungen eines Verlaufs"), zum anderen heterogene Komplexe, die sich durch gezielte Brüche, eine "Komposition [...] aus antithetischen Stücken" auszeichnen. Den zweiten wird in dieser Stelle ein besonderes Gewicht beigemessen. Dabei fällt auf, daß Weiss hier ohne zu unterscheiden inhaltliche und formale Brüche gleichermaßen behandelt. Unter den formalen Brüchen kann zwischen quantitativen und qualitativen Brüchen unterschieden werden. Quantitative Brüche bestehen in "wechselnden Größenverhältnissen", d.h. in einem gezielten Wechsel von zeitlich eher kurzen mit zeitlich eher längeren und dabei formal verschiedenen, "komplizierteren" Textpassagen. Qualitative Brüche werden dagegen durch "kontrastierende Formen" erzeugt; genannt werden der Wechsel von "Zitaten" und (fiktionalen?) "Darstellungen" sowie der Wechsel von Textpassagen einer einzelnen Figur, eines "Einzelsprechers", mit solchen, an denen mehrere verschiedene Figuren, eine "Mehrzahl von Sprechern", beteiligt sind. Als inhaltliche Brüche dagegen müssen solche Erscheinungen wie der Wechsel "gegensätzlicher [...] Situationen" oder die "Einfügung durch Störungen, Dissonanzen" interpretiert werden.
P. Weiss im Gespräch mit W. Girnus und W. Mittenzwei (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.74.]. P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S.101].
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Peter Weiss
In der zweiten Gruppe der Bearbeitungstechniken ausgewählter historisch belegter Textteile im Dramentext werden solche, durch die nach Weiss das "Faktenmaterial [...] sprachlich bearbeitet" wird, zusammengefaßt: Das Faktenmaterial wird sprachlich bearbeitet. In den Zitaten wird das Typische hervorgehoben. Figuren werden karikiert, Situationen drastisch vereinfacht. Referate, Kommentare, Zusammenfassungen
werden
von
Songs
übernommen.
Einführung
von
Chor
und
Pantomime. Gestisches Ausspielen der Handlung, Parodien, Benutzung von Masken und dekorativen Attributen. Instrumentalbegleitung. Geräuschseffekte. 2 8
Es fallt zunächst auf, daß hier weniger von genuin sprachlichen Bearbeitungstechniken ftir das dokumentarische Material die Rede ist, sondern vielmehr solche Bearbeitungstechniken genannt werden, die eine sprechsprachliche und nonverbale Aufführung des Materials unter den zeitlich, räumlich und technisch begrenzten Aufführungsbedingungen des Theaters erlauben oder zumindest unterstützen. Als Techniken einer nonverbalen Ergänzung des dokumentarischen Materials auf der Bühne werden sowohl schauspielerische Handlungen wie "Pantomime", "gestisches Ausspielen der Handlung" oder "Parodien", als auch die Verwendung bestimmter Requisiten wie "Masken und dekorative Attribute" oder andere Hinzufügungen wie "Instrumentalbegleitung" oder "Geräuschseffekte" angegeben; es darf davon ausgegangen werden, daß dem Autor, der Ende der sechziger Jahre durchaus über bühnenpraktische Erfahrungen verfügte, die Unvollständigkeit dieser Aufzählung bewußt gewesen sein mag. Neben diesen nonverbalen Bearbeitungstechniken finden sich zu Beginn dieser Gruppe auch solche wie der Einsatz typischer Zitate, die Karikatur von Figuren oder die Vereinfachung von Situationen, die hinsichtlich der Unterscheidung zwischen verbaler oder nonverbaler Bearbeitung indifferent erscheinen und als Beispiele für verschiedene Techniken einer Hervorhebung bestimmter Aspekte des vorgeführten dokumentarischen Materials zusammenfaßbar sind. Des weiteren werden von Weiss in dieser Textstelle "Referate, Kommentare, Zusammenfassungen" in Form von "Songs" angeführt. Diese können als informierende oder wertende Textkondensate aus dem (zum Teil sehr umfangreichen) dokumentarischen Quellenmaterial interpretiert werden, die der Bewältigung der historischen Stoffülle auf der Bühne dienen; ungeachtet der konkreten Präsentation auf der Bühne ist das Erstellen solch informationsraffender Textkondensate als eine primär sprachliche Bearbeitungsmethode anzusehen. In der dritten Gruppe werden folgende Bearbeitungstechniken zusammengefaßt: 28
Ebd., S . l O l f .
Text und Inszenierung
165
Unterbrechungen in der Berichterstattung. Einblendung einer Reflexion, eines Monologs, eines Traums, eines Rückblicks, eines widersprüchlichen Verhaltens. Diese Brüche im Handlungsverlauf, die Unsicherheit erzeugen, die von der Wirkung eines Schocks sein können, zeigen, wie ein Einzelner oder eine Gruppe von den Ereignissen getroffen wird. Schilderung innerer Realität als Antwort auf äußere Vorgänge. Doch sollen solche heftigen Verschiebungen nicht Verwirrung herbeiführen, sondern aufmerksam machen auf die Vielschichtigkeit des Ereignisses; die verwendeten Mittel nie Selbstzweck, sondern belegbare Erfahrung sein. 2 9
Unter "Unterbrechungen in der Berichterstattung" müssen hier Zäsuren in der eigentlichen Dokumentation der betreffenden historischen Verhältnisse verstanden werden. Diese Zäsuren werden durch Einblendung anderer Teiltexte, die nicht die historischen Verhältnisse selbst, sondern die Reaktion bestimmter Einzelpersonen darauf dokumentieren, gesetzt. Die Berichterstattung wird also mit der "Schilderung innerer Realität als Antwort auf äußere Vorgänge" bewußt Brechungen unterworfen. Diese Brechungen erinnern an die in der ersten Gruppe genannten Techniken der Anordnung der Teiltexte zu (heterogenen) Teiltextkomplexen, wobei diese Brüche hier sowohl formal als auch inhaltlich diskutiert werden. Formal bestehen die Brüche im steten Wechsel der Textsorte Bericht mit anderen Textsorten wie "Reflexion" oder "Monolog", inhaltlich im Wechsel von Schilderungen historischer Verhältnisse mit Darstellungen individueller Reaktionen hierauf. Bemerkenswert, angesichts der Konzeption des dokumentarischen Theaters von Peter Weiss jedoch nicht überraschend, ist hierbei die Priorität, die der Textsorte Bericht und der inhaltlichen Schilderung historischer Vorgänge vor anderen Textsorten bzw. Darstellungen eingeräumt wird. Daneben verdient hier auch ein anderer Punkt Beachtung. Im Gegensatz zu der Beschreibung der Teiltextbearbeitungstechniken in den ersten beiden Gruppen, die allein produktionsästhetisch orientiert ist, wird deren Beschreibung in dieser Gruppe um rezeptionsästhetische Erwägungen ergänzt, indem die Funktion dieser Technik mit der Aufgabe angegeben wird, keine "Verwirrung" beim Rezipienten herbeizuführen, sondern ihm die "Vielschichtigkeit des Ereignisses" im Spiegel des Individuums als "belegbare Erfahrung" deutlich zu machen. In der vierten Gruppe schließlich wird die Anordnung von historischen Teiltexten zu unstrukturierten Teiltextkomplexen als eine weitere Technik der Bearbeitung des dokumentarischen Materials angegeben: Auflösung der Struktur. Kein berechneter Rhythmus, sondern Rohmaterial, kompakt oder in ungebundenem Strom, bei der Darstellung von sozialen Kämpfen, bei der Schilderung einer revolutionären Situation, der Berichterstattung von einem Kriegsschauplatz. Vermittlung der Gewaltsamkeit im Zusammenstoß der Kräfte. Doch auch hier darf der 29
Ebd., S. 102.
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Peter W e i s s
A u f r u h r auf der Bühne, der A u s d r u c k v o n Schrecken und E m p ö r u n g , nicht unerklärt und u n g e l ö s t bleiben. Je b e d r ä n g e n d e r das Material ist, desto n o t w e n d i g e r ist das Erreichen eines Überblicks, einer S y n t h e s e . 3 0
Solche unstrukturierten Teiltextkomplexe, in denen "kein berechneter Rhythmus" angestrebt wird, stehen in einem Gegensatz zu den strukturierten Komplexen, wie sie in der dritten und vor allem in der ersten Gruppe geschildert werden. Weiss begründet diese Form durch deren Funktion, die Darstellung selbst unstrukturierter bzw. verworrener historischer Verhältnisse oder Vorgänge etwa einer Revolution oder eines Krieges zu unterstützen. Durch diese Darstellung sollen jedoch die betreffenden historischen Verhältnisse oder Vorgänge durchschaubar (und damit gesellschaftspolitisch interpretierbar) gemacht werden, so daß durch diese Technik zwar keine Strukturierung der entsprechenden historischen Teiltextkomplexe, dennoch aber jeweils eine dokumentarische Einheit, die dem "Erreichen eines Überblicks" dient, erzielt werden soll. Wie dies wiederum geleistet wird, bleibt hier offen, so daß der rezeptionsästhetisch formulierte Anspruch an solche unstrukturierten Teiltextkomplexe mit der hier vorgenommenen Erläuterung ihrer Erzeugung noch nicht hinreichend gesichert erscheint. Die von Peter Weiss in den "Notizen" genannten und erläuterten Techniken der Bearbeitung von historischen Teiltexten im dokumentarischen Drama lassen sich nun in folgender Übersicht zusammenfassen: 1.
A n o r d n u n g zu strukturierten T e i l t e x t k o m p l e x e n
1.1
Homogene Teiltextkomplexe
1.2
Heterogene Teiltextkomplexe
1.2.1
T e i l t e x t k o m p l e x e mit formalen B r ü c h e n
1.2.1.1
T e i l t e x t k o m p l e x e mit quantitativen B r ü c h e n
1.2.1.2
T e i l t e x t k o m p l e x e mit qualitativen B r ü c h e n
1.2.2
T e i l t e x t k o m p l e x e mit inhaltlichen B r ü c h e n
2.
A u f f u h r u n g s t e c h n i s c h e B e a r b e i t u n g von Teiltexten
2.1
N o n v e r b a l e E r g ä n z u n g e n des d o k u m e n t a r i s c h e n Materials
2.1.1
Schauspielerische H a n d l u n g e n
2.1.2 2.1.3
Requisite M u s i k und G e r ä u s c h e f f e k t e
2.2
( V e r b a l e und n o n v e r b a l e ) H e r v o r h e b u n g e n
2.3
I n f o r m a t i o n s r a f f e n d e T e x t k o n d e n s i e r u n g (verbal)
3.
D o k u m e n t a t i o n s b r ü c h e (vgl. 1.2.)
4.
A n o r d n u n g zu unstrukturierten T e i l t e x t k o m p l e x e n
Es wird aus dieser Übersicht deutlich, daß Peter Weiss in den "Notizen" weder eine systematische, noch eine vollständige Darstellung solcher 30
Ebd.
Text und Inszenierung
167
Bearbeitungstechniken für die zuvor gewonnenen historischen Teiltexte anstrebt. Dennoch darf vermutet werden, daß die hier angeführten Techniken für das dramatische Schaffen des Autors von besonderer Relevanz sind und daher eine entsprechende Anwendung in seinen Dokumentarstücken selbst erfahren. 31 Die Bearbeitung von Teiltexten historischen Quellenmaterials in seinen Dramen bereitet Weiss terminologische Probleme, seine Stücke tatsächlich einem "dokumentarischen" Theater zuordnen zu können. Dies macht er in einem Gespräch mit M. Müller und W. Schütte 1968 deutlich: Das reine dokumentarische Theater ist j a doch nur ein Theater, das direkt aufbaut auf dem Dokument, auf dem authentischen Material. Ganz rein und eindeutig kann man vom dokumentarischen Theater weder bei Hochhuth noch bei Kipphardt noch bei mir sprechen, sondern es sind alles dramatische Zwischenformen, die natürlich Elemente davon haben, aber eben doch den Stoff verändern, umformen und sehr stark bearbeiten. 3 2
Die terminologische Schwierigkeit des Autors besteht darin, daß Weiss unter dem Wort Dokumentation hier allgemeinsprachlich eine möglichst objektive und unverfälschte Darstellung bestimmter Ereignisse (unter Verwendung von authentischem Material) versteht, diese Objektivität jedoch durch die Bearbeitung der Subjektivität des Autors unterworfen wird, und die unverfälschte Darstellung einer verfremdenden Interpretation weicht. Diese Problematik der Bearbeitung historischen Materials bei gleichzeitigem Anspruch auf Authentizität der Dramenaussage findet sich wie bereits angedeutet in den dramentheoretischen Reflexionen des Autors unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder, obgleich oder gerade weil sich der Autor mit dem formulierten Anspruch seiner Dramen darüber hinwegsetzt und damit in einen nur schwer zu lösenden Widerspruch zu sich selbst gerät. 33 Weiss fährt an der zitierten Stelle des Gespräches mit M. Müller und W. Schütte unmittelbar fort: Hochhuths großes Interesse gilt Bühnenfiguren, die Persönlichkeiten entsprechen und eine Entwicklung durchmachen. Mir kommt es in meinen Stücken im Gegensatz dazu nicht auf diese persönliche, private Problematik der Einzelcharaktere an. Bei mir sind diese Figuren Repräsentanten von gesellschaftlichen Kräften, Repräsentanten einer Klasse oder einer
Vgl. dazu beispielsweise die Analysen der einzelnen Dramen in M. Haiduk (1977), K.H. Hilzinger (1976), S.51-64; 1. Schmitz (1981); J. Vogt (1987), H. V o r n w e g (1981). Zu "Die Ermittlung" sei etwa auf R.D. Krause (1982), S.676-682, und E. Salloch (1972), S.87-126, verwiesen. P. Weiss im Gespräch mit M. Müller und W. Schutte (1968) [Peter Weiss im Gespräch, S. 136]. Zur Problematik der Authentizität der Aussage eines Dokumentarstücks vgl. Kap. 1.3.
168
Peter Weiss
bestimmten Interessengruppe; Figuren, die wirklichen Gestalten oder Kräften der Geschichte entsprechen. 3 4
Die hier skizzierte Funktion der Dramenfiguren kann als charakteristisches Merkmal des dokumentarischen Theaters bei Peter Weiss angesehen werden. Diese dramentheoretische Konzeption, die der Gestaltung der Dramenfiguren eine sozialrepräsentative und keine individualisierende Funktion zuschreibt, hat bei Weiss auch Konsequenzen für die Bearbeitung des dokumentarischen Materials. Im Zusammenhang von deren Reflexion bei Weiss selbst verdient hierbei die Behandlung der Aussagen und der Namen derjenigen Angeklagten und Zeugen des Auschwitz-Prozesses, die der Autor in der "Ermittlung" als Figuren des Dramas auftreten läßt, eine besondere Beachtung. Die Angeklagten stellen in der "Ermittlung" laut Weiss "authentische Personen" dar, die Zeugen dagegen "abwechselnd die verschiedensten anonymen Zeugen" 35 , so daß die Äußerungen der Zeugen im Dramentext im Gegensatz zu denen der Angeklagten jeweils aus dokumentierten Äußerungen verschiedener Zeugen des tatsächlichen Prozesses zusammengesetzt sind. Dies findet eine Entsprechung in der Übernahme der authentischen Namen, "die aus dem wirklichen Prozeß übernommen sind", bei den Angeklagten, und der Anonymisierung der Zeugen, die Weiss als "bloße Sprachrohre" 36 konzipiert: "Ich habe es so gemacht, daß die Zeugen keinen Namen haben, weil sie im Lager auch keinen hatten, nur Nummern waren, und habe diese Zeugen aus zahlreichen anonymen Stimmen zusammengesetzt. Die Angeklagten waren im Lager sehr stark an ihrem Namen haftend, und deshalb haben sie ihn auch heute noch." 37
1.3 Die Aussage und Funktion des Dokumentarstücks Mit der Verarbeitung von historisch authentischem Quellenmaterial zu geordneten Teiltextkomplexen verspricht sich Weiss eine informationsverdichtete und von falscher Information berichtigte Darstellung der entsprechenden historischen Verhältnisse oder Vorgänge und verfolgt damit
34
P. Weiss im Gespräch mit M. Müller und W. Schütte ( 1 9 6 8 ) [Peter Weiss im Gespräch, S. 136]. - P. Weiss wendet sich wiederholt gegen ein "Theater der Individualkonflikte"; vgl. dazu etwa auch: P. Weiss im Gespräch mit A. Joseph (1969), S.64f.
35
P. Weiss: "Die Ermittlung" (1965) [W Bd.5, S.8],
36
Ebd., S.9.
37
P. Weiss im Gespräch mit E. Schumacher (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.82], Vgl. auch R. Cohen (1992), S.149-152, sowie Kap.3.2.
Text und Inszenierung
169
das Ziel, "zu einem in Form und Inhalt konzentrierten Wirklichkeitsbild" 38 hinzuführen. Der Autor betrachtet dabei das Drama als einen eigenständigen Text, der sich von dem historischen Textmaterial zum einen durch eine konzentriertere und zum anderen aber auch durch eine neuartige Gesamtaussage unterscheidet. Diese Vorgehensweise, aus Teilen von historisch authentischem Textmaterial einen neuen Text mit einer neuen Textaussage zu montieren, begründet Peter Weiss mit der Komplexität und Undurchsichtigkeit des historischen Materials. Denn diese Komplexität behindert nach Weiss ein den historischen Vorgängen angemessenes Verständnis und eine (im Sinne des politischen Weltbildes des Autors) Objektivität beanspruchende Interpretation der historischen Dokumente, die daher einer ihre historische Aussagekraft verdeutlichenden Bearbeitung bedürfen: "Je bedrängender das Material ist, desto notwendiger ist das Erreichen eines Überblicks, einer Synthese." 39 Formal muß diese Bearbeitung nun - unabhängig von den bereits genannten Bearbeitungstechniken - zu einem in sich abgeschlossenen Gesamttext fuhren: "Ich muß das Material bearbeiten und ihm eine größere geschlossene Form geben" 40 erläutert Weiss im Gespräch mit S. Axelsson und weist damit dem Ergebnis der Bearbeitung historischer Textteile selbst wiederum den Status eines eigenen Textes zu. Über den Aussagegehalt dieses neuartigen Gesamttextes des Dramas im Vergleich zu dem der historischen Dokumente selbst finden sich nun bei Weiss verschiedene, zum Teil widersprüchliche Angaben, die von einer Konzentration des Aussagegehalts über dessen Authentizität bis zur Neuartigkeit reichen. So schreibt Weiss in seiner Anmerkung zur "Ermittlung": Hunderte von Zeugen traten vor dem Gericht auf. Die Gegenüberstellung von Zeugen und Angeklagten, sowie die Reden und Gegenreden, waren von emotionalen Kräften überladen. Von all dem kann auf der Bühne nur ein Konzentrat der Aussage übrig bleiben. Dieses Konzentrat soll nichts anderes enthalten als Fakten, wie sie bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache kamen. Die persönlichen Erlebnisse und Konfrontationen müssen einer Anonymität weichen. 4 1
Die Konzentration der Aussage eines solchen Dokumentarstücks gegenüber dem dokumentarischen Material besteht hier in der Übernahme von solchen faktischen Aussagen, die eine möglichst tatsachenorientierte Rekonstruktion des entsprechenden Sachverhalts oder Vorgangs gestatten, und in der 38 39 40 41
P. P. P. P.
Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.779. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S.102], Weiss im Gespräch mit S. Axelsson (1967) [Peter Weiss im Gespräch, S. 121]. Weiss: Anmerkung zu "Die Ermittlung" (1965) [W Bd.5, S.9],
170
Peter Weiss
Ausblendung solcher Passagen, die diese Rekonstruktion behindern könnten. Im Falle der "Ermittlung" werden vor allem Aussagen von Zeugen oder Angeklagten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses gewählt, die zumindest eine gewisse Rekonstruktion der Lagerverhältnisse gewähren. Diese Aussagen wurden während einer langen Verhandlungsdauer von verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten gemacht und sind dabei zu einem hohen Maße mit emotionalen Äußerungen versehen. Diese große Streuung und Emotionalisierung der Aussagen sind nach Weiss dafür verantwortlich, daß sich die Prozeßaussagen einer direkten Begutachtung durch einen Rezipienten entziehen. Sie werden daher nun in dem Dokumentarstück geordnet und zusammengestellt, um eine entsprechende Rezeption zu erleichtern und eine dem Gegenstand angemessene Interpretation zu ermöglichen. Der Aussagegehalt eines Dokumentarstücks wie "Die Ermittlung" ist dementsprechend geringer als derjenige der in ihm verwendeten Dokumente, da bestimmte Teile dieser Dokumente und deren Inhalte zugunsten anderer Textteile gestrichen werden. Dennoch behauptet Weiss, daß die Gesamtaussage des Dokumentarstücks hierdurch nicht gegenüber derjenigen der verwendeten Dokumente verringert wird, da mit einer solchen Auswahl historischer Teiltexte und deren Ordnung im Drama eine Fokussierung der zentralen Aussagen der historischen Texte vorgenommen wird. Deren Rezeption wird damit lediglich genau auf diese zentralen Aussagen gelenkt und damit nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil optimiert: "Alles Unwesentliche, alle Abschweifungen können weggeschnitten werden zugunsten der eigentlichen Problemstellung. Verloren gehen die Überraschungsmomente, das Lokalkolorit, das Sensationelle, gewonnen wird das Allgemeingültige." 42 Diese Optimierung der Textrezeption, die durch die Kondensation des Dramentextes und die Konzentration der Dramenaussage erreicht wird, verändert also nach Weiss die historische Authentizität der Dramenaussage gegenüber derjenigen des dokumentarischen Materials nicht: Trotz aller Kürzungen und Bearbeitungen der dokumentarischen Quellen bleibt deren "grundlegende Aussage [...] authentisch" 43 . Im Ergebnis besteht diese grundlegende Aussage in einem Objektivität beanspruchenden Modell der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit: "Die Stärke des dokumentarischen Theaters liegt darin, daß es aus den Fragmenten der Wirklichkeit ein verwendbares Muster, ein Modell der aktuellen Vorgänge, zusammenzustellen vermag." 44 42
P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S. 100].
43
P. Weiss im Gespräch mit C. Sturm (1968) [Peter Weiss im Gespräch, S.150],
44
Ebd., S.97. Vgl. E. Salloch (1972), S.20.
171
T e x t und Inszenierung
Wenn Peter Weiss also den Aussagegehalt des Dokumentarstücks gegenüber demjenigen des darin verwendeten dokumentarischen Materials sowohl als konzentriert wie auch als authentisch betrachtet, so stellt dies angesiphts der Optimierung der Darstellung und Rezeption historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse oder Vorgänge keinen oder nur einen geringen Widerspruch dar. Schwieriger verhält es sich diesbezüglich mit solchen Äußerungen des Autors, die die Dramenaussage als neuartig interpretieren. So schreibt Weiss etwa in den "Notizen zum dokumentarischen Theater": Das d o k u m e n t a r i s c h e Theater kann die Form eines Tribunals a n n e h m e n . A u c h hier hat es nicht A n s p r u c h darauf, der Authentizität eines G e r i c h t s h o f s v o n N ü r n b e r g , eines A u s c h witzprozesses in Frankfurt, eines V e r h ö r s im amerikanischen Senat, einer Sitzung des Russell-Tribunals n a h e z u k o m m e n , doch kann es die im wirklichen V e r h a n d l u n g s r a u m zur S p r a c h e g e k o m m e n e n Fragen und A n g r i f f s p u n k t e zu einer neuartigen A u s s a g e bringen. Es kann, durch den A b s t a n d , den es g e w o n n e n hat, die A u s e i n a n d e r s e t z u n g von G e s i c h t s p u n k t e n her nachvollziehen, die sich im ursprünglichen Fall nicht stellten. 4 5
Dieser Erläuterung zufolge strebt Weiss nun keine Authentizität seiner Dokumentarstücke an; deren Aussagegehalt unterscheidet sich von dem des dokumentarischen Materials. Dies ist durch die Interpretation bedingt, die der Autor selbst bei der Auswahl und Bearbeitung der Quellentexte vornimmt und damit als "Gesichtspunkte [...], die sich im ursprünglichen Fall nicht stellten", der konzentrierten Textaussage hinzufügt. Damit dient die Kondensation und Bearbeitung historischen Textmaterials durch das Dokumentarstück nicht mehr dessen möglichst authentischer und dabei rezeptionsoptimierter Dokumentation, sondern einer Interpretation des Materials unter bestimmten (gesellschaftsideologischen) Aspekten. Für den Autor Peter Weiss selbst stellt jedoch eine solche Interpretation keine Verfälschung des authentischen Textmaterials und dessen historischer Aussage dar. Denn als Grundlage seiner Interpretation dient ihm die Gesellschaftsideologie des Sozialismus, deren Objektivitätsanspruch er selbst anerkennt, so daß eine solche Interpretation der Quellentexte zusammen mit deren Auswahl und Bearbeitung dem Autor zufolge nicht nur zu einer Optimierung von deren Rezipierbarkeit, sondern auch zu einer Verdeutlichung von deren historisch gültigem und ideologisch gewissermaßen "objektiv interpretierbarem" Aussagegehalt fuhren soll 46 . P. Weiss: "Notizen z u m d o k u m e n t a r i s c h e n Theater" (1968) [Rapporte 2, S. 100]; vgl. ebd., S.95. Eine ¿olche ästhetische Konzeption, die der Interpretation und B e a r b e i t u n g zeitgeschichtlich b e d e u t s a m e r Texte durch einen einzelnen Autor einen i d e o l o g i e a b h ä n g i g e n O b j e k t i v i t ä t s a n s p r u c h einräumt, m u ß t e selbstverständlich heftigen W i d e r s p r u c h
von
Seiten der Literatur, W i s s e n s c h a f t , Politik und G e s e l l s c h a f t hervorrufen, so daß sich Peter
Weiss
sowohl
methodisch
als auch
ideologisch
wie
hinsichtlich
einzelner
Peter W e i s s
172
Es kann damit an dieser Stelle festgehalten werden, daß sich Weiss zwar der Tatsache bewußt war, daß die Auswahl und Bearbeitung von Teilen historischer Quellentexte nur auf der Grundlage einer Interpretation dieser Texte durch den Autor möglich ist und selbst wiederum die Aussage dieser Textteile im Dramenganzen entsprechend dieser Interpretation verändert. Die Reflexionen des Autors hierüber erweisen sich jedoch als uneinheitlich und lassen zum Teil eine eher nur oberflächliche und ideologisch bestimmte Durchdringung dieses für die gesamte Dokumentarliteratur ausgesprochen wichtigen Problemkreises erkennen 47 . Die authentische bzw. interpretierende Darstellung zeitgeschichtlich oder historisch bedeutsamer Verhältnisse oder Vorgänge kann also - unabhängig von der Darstellungstechnik des dokumentarischen Theaters - als die primäre Funktion des Dramas bei Peter Weiss angesehen werden; es soll "ein adäquates Abbild all der komplizierten Zusammenhänge, die unsere Gesellschaftsordnung ausmachen, auf der Bühne geschaffen werden" 48 . Mit dieser Darstellungsfunktion verbindet Weiss des weiteren die Aufgabe des Dokumentarstücks, als künstlerisches Mittel der politischen Meinungsbildung zu dienen. Dabei kommen der Textkondensation durch die Auswahl und Bearbeitung von Teiltexten und der interpretierenden Konzentration der Aussage als künstlerischen Techniken eine besondere Bedeutung zu. Diese Bedeutung besteht in der gegenüber einer gewöhnlichen Berichterstattung freieren und effizienteren Rezeptionslenkung. So heißt es wiederum in den "Notizen zum dokumentarischen Theater": D e n n ein d o k u m e n t a r i s c h e s Theater, das in erster Hand politisches F o r u m sein will, und auf künstlerische Leistung verzichtet, stellt sich selbst in Frage. In einem solchen Fall w ä r e die praktische politische H a n d l u n g in der A u ß e n w e l t effektiver. Erst w e n n es durch seine sondierende, kontrollierende, kritisierende Tätigkeit erfahrenen Wirklichkeitsstoff z u m künstlerischen Mittel u m f u n k t i o n i e r t hat, kann es volle Gültigkeit in der A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Realität g e w i n n e n . A u f einer solchen B ü h n e kann das d r a m a t i s c h e Werk zu e i n e m Instrument politischer M e i n u n g s b i l d u n g w e r d e n . 4 9
Die Diskussion des Problems, daß das Drama mit einer solchen Konzeption prinzipiell in Gefahr gerät, von einem Mittel der politischen Agitation oder Propaganda zu einem Instrument ideologischer Manipulation
A u s s a g e n z u m Teil h e f t i g e r Kritik ausgesetzt sah. Vgl. hierzu die b e k a n n t e n WeissMonographien. 47
Vgl. hier zur Dokumentarliteratur im allgemeinen e t w a K.L. B e r g h a h n (1980), S.272f. oder N . Miller (1982), S.60-71; zur "Ermittlung" im b e s o n d e r e n M . Durzak (1972), S.285.
48
P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.361. Vgl. auch P. W e i s s im G e s p r ä c h mit E. S c h u m a c h e r (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.85],
49
P. Weiss: "Notizen z u m d o k u m e n t a r i s c h e n Theater" (1968) [Rapporte 2, S.96],
173
Text und Inszenierung
zu verkommen, muß hier nicht noch einmal aufgegriffen werden. Weiss selbst schätzt die Möglichkeiten seiner Dokumentarstücke in dieser Hinsicht außerhalb solcher prinzipiellen oder programmatischen Erwägungen, wie sie etwa die "Notizen zum dokumentarischen Theater" darstellen, zudem eher verhalten ein. So äußert er Anfang der siebziger Jahre, also nach dem Entstehen der Dokumentarstücke im strengen Sinne, in einem Gespräch mit V. Canaris: "Wie wenig wir mit Stücken, mit Büchern erreichen können, das ist mir natürlich bewußt. Aber das Schreiben ist nun einmal mein Handwerk, ich versuche, das Bestmögliche daraus zu machen und neben dem Schreiben, auf andern Frontabschnitten, meine politische Solidarität deutlich darzustellen." 50 Mit der Funktion, als Mittel der politischen Meinungsbildung zu dienen, hängt eine weitere Funktion, die Weiss dem dokomentarischen Theater zuspricht, zusammen. Diese weitere Funktion besteht in der Kritik der institutionalisierten Medienlandschaft. Deren Darstellung und Interpretation zeitgeschichtlicher Ereignisse widerspricht in vielen Punkten dem ideologischen Weltbild und der politischen Überzeugung von Weiss. Dies macht er 1968 in den "Notizen" deutlich: Obgleich die Kommunikationsmittel ein Höchstmaß von Ausbreitung erreicht haben und uns Neuigkeiten aus allen Teilen der Welt zukommen lassen, bleiben uns doch die wichtigsten Ereignisse, die unsere Gegenwart und Zukunft prägen, in ihren Anlässen und Zusammenhängen verborgen. Die Materialien der Verantwortlichen, die uns Aufschluß geben können über Tätigkeiten, von denen wir nur die Ergebnisse sehen, werden uns unzugänglich
gemacht.
künstlichen Dunkel
Das dokumentarische Theater [...] sieht sich zunächst
gegenüber, unter dem die Machthabenden
ihre
dem
Manipulationen
verheimlichen. 5 1
Angesichts dieser Bewertung der Medienlandschaft kommt der reinen Dokumentation zeitgeschichtlicher Ereignisse bei Weiss noch eine berichtigende Funktion gegenüber deren Darstellung in Presse und Publizistik bei. Hinzu kommt die Kritik an den etablierten Medien selbst, um deren Darstellungstechniken, die aus der Sicht des Autors die tatsächlichen historischen Verhältnisse und Vorgänge verschleiern und verfalschen, transparent zu machen. "Das dokumentarische Theater ist Bestandteil des öffentlichen Lebens, wie es uns durch die Massenmedien nahe gebracht wird. Die Arbeit des dokumentarischen Theaters wird hierbei durch eine Kritik verschiedener Grade bestimmt." 52 Weiss unterscheidet drei solche Grade der Medienkritik: erstens die "Kritik an der Verschleierung", d.h. an der Uminterpretation geschichtlicher Fakten durch bestimmte gesellP. Weiss im Gespräch mit V. Canaris ( 1 9 7 1 ) [Peter Weiss im Gespräch, S.189f.]. P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" ( 1 9 6 8 ) [Rapporte 2, S.93f.]. Ebd., S.92. Vgl. N. Honsza (1973), S.834.
174
Peter W e i s s
schaftliche Interessengruppen, "wenn bestimmte soziale Erscheinungen vertuscht, modifiziert, idealisiert werden" 53 ; zweitens die "Kritik an Wirklichkeitsfalschungen", bei denen historische Tatsachen absichtlich geleugnet und uminterpretiert werden, bei denen es also um eine "bewußte Verunstaltung einschneidender und bedeutungsvoller Vorgänge" und um ein "Verbergen der Vergangenheit" 54 geht; und drittens die "Kritik an Lügen", am zielgerichteten "historischen Betrug" 55 . Der Vergleich dieser drei Möglichkeiten der Medienkritik zeigt, daß es sich hierbei lediglich um Graduierungen handelt. Dabei werden jedoch nicht Grade der Kritik selbst, sondern Grade des Gegenstands der Kritik, d.h. der Verschleierung und Verfälschung zeitgeschichtlicher Ereignisse durch die institutionalisierten Medien hinsichtlich ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Auswirkungen, unterschieden. Mögliche Techniken einer solchen Medienkritik im dokumentarischen Theater bleiben hier bemerkens- und bedauerlicherweise unerwähnt.
1.4 Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung Die Äußerungen von Peter Weiss zum Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung sind eher spärlich, so daß hier kaum von der Entwicklung einer eigenen Konzeption des Autors gesprochen werden kann. Entsprechende Anmerkungen finden sich zumeist im Rahmen anderer Erörterungen, so beispielsweise in einer Notiz aus dem Jahr 1976: "Die Zwangslage der Regisseure, sich Texte, am liebsten klassische, herauszusuchen, um sich selbst zur Geltung zu bringen, kann nur behoben werden durch die Bereitschaft, ein wahres Zusammenwirken aller Beteiligten herzustellen, dem Publikum ein Allkunstwerk, wie es das Drama ist, zu demonstrieren." 56 In diesem Fall handelt es sich um eine theaterkritische Äußerung 57 , die auch unter dem Aspekt von Text und Inszenierung interpretiert werden kann. Danach ist ein Drama ein "Allkunstwerk", das durch ein "wahres Zusammenwirken aller Beteiligten" geschaffen werden muß. Ohne Peter Weiss damit überinterpretieren zu wollen, darf dies doch so ausgelegt werden, daß er die Inszenierung als die eigentliche Erscheinungsform des Dramas ansieht. Der schriftliche Dramentext wäre 53
Ebd.
54
Ebd., S.92f.
55
Ebd., S.93.
56
P. Weiss: " N o t i z b ü c h e r 1971-1980", S.531.
57
Zur Theaterkritik von P. W e i s s vgl. unten.
T e x t u n d Inszenierung
175
demnach lediglich als eine Vorlage für die Inszenierung zu interpretieren, die sich vom Text durch verschiedene sprechsprachliche und nonverbale Ausdrucksmittel unterscheidet. Dabei stellt eine solche Inszenierung fiir Weiss offenbar keine isomorphe Wiedergabe des Dramentextes mit lediglich anderen Ausdrucksmitteln dar, sondern erhält einen eigenständigen Status gegenüber dem Text, indem die an der Inszenierung beteiligten Personen wie "Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner, Techniker" 5 8 und andere zu deren Erarbeitung ihren eigenen kreativen Anteil leisten müssen und ihr damit erst die Qualität eines Allkunstwerkes, an dem verschiedene Künstler verschiedener Kunstgattungen beteiligt sind, verleihen 59 . Diese Vermutung über die Interpretation des Verhältnisses von Text und Inszenierung bei Weiss läßt sich nicht nur anhand seiner eigenen Theaterpraxis, sondern auch mit weiteren Äußerungen des Autors belegen. So beschreibt Weiss etwa seine Theaterarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss folgendermaßen: Wir arbeiten schon seit z w a n z i g Jahren z u s a m m e n . G u n i l l a w a r schon bei meinen f r ü h e r e n I n s z e n i e r u n g e n als B u h n e n b i l d n e r i n dabei. Im L a u f e der Jahre aber und nach vielen D i s k u s s i o n e n f a n d e n wir, d a ß es an der Zeit sei, in Text, Bild u n d Regie z u s a m m e n zuarbeiten, einen eigenen Stil zu entwickeln, der u n a b h ä n g i g u n d nicht angewiesen ist a u f Außenstehende.60
Auch hier stellt das Drama für Weiss ein Kunstwerk dar, an dessen Erschaffung mehrere Künstler beteiligt sind, und der Autor nur ein Künstler neben den anderen ist. Dementsprechend ist der Dramentext als das Ergebnis der Arbeit des Autors lediglich als ein Teil des Kunstwerkes neben anderen Teilen, die in seiner Inszenierung verwirklicht werden, anzusehen. Bemerkenswert an dieser Äußerung von Weiss ist die Forderung nach einem eigenen Theaterstil, der sich aus der Kooperation der verschiedenen an der Inszenierung beteiligten Künstler ergibt. Dieser besteht dann in einer bestimmten Inszenierungstypik, d.h. in einer für eine bestimmte Künstlergruppe charakteristischen Verwendungsweise verbaler wie nonverbaler Ausdrucksmittel auf der Bühne. Die bis hier angeführten Äußerungen von Weiss zum Verhältnis von Dramentext und Inszenierung stammen aus den siebziger bzw. aus den achziger Jahren, also aus der Zeit nach den Dokumentarstücken. Es ist angesichts der spärlichen Äußerungen von Weiss zu diesem Thema nicht unproblematisch, die hierin deutlich werdende Sicht des Autors hinsichtlich
58
P. W e i s s : " N o t i z b ü c h e r 1971-1980", S.531.
59
Zum
D r a m e n t e x t als "Spielvorlage"
u n d der Inszenierung als A l l k u n s t w e r k
"totalem Theater" vgl. M. Haiduk (1977), S.249-253. 60
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit I. Lind (1982) [Peter W e i s s im Gespräch, S.327],
bzw.
176
Peter Weiss
dieses Verhältnisses auch auf dessen frühere Schaffensperiode zu übertragen. In einem Gespräch des Autors mit C. Sturm aus dem Jahre 1968 findet sich zum Beispiel folgende Erläuterung zum "VietNam Diskurs": Besteht denn nicht das ganze Theater aus Wörtern? Politisches Theater ist auch nicht anders. Es darf natürlich nicht den Charakter einer leblosen Vorlesung annehmen. Es muß ein Drama bleiben, aber nicht nur in unterhaltender Hinsicht. Deshalb heißt mein neues Stück auch Diskurs,
damit ist nämlich eine politische Diskussion gemeint, ein Stück, das
für ein wissenschaftliches Zeitalter geschaffen ist [...]. Ob man die Ansichten eines Menschen durch Theater überhaupt verändern kann, das w e i ß ich nicht. Man kann ihnen aber eine andere Perspektive vorführen. Das Entscheidende ist und bleibt, daß das Stück v o m Theater, den Schauspielern und der Regie gut inszeniert wird. Geht das Publikum mit dem Eindruck nach Hause, alles, was es gesehen hat, bestünde nur aus Propaganda und Lügen, dann hat das Stück seine Wirkung verfehlt. 6 1
Hier erscheint der vom Autor erarbeitete Text als das wesentliche Element des Dramas und der Inszenierung. Die spezifischen sprechsprachlichen und nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne dienen lediglich der besseren Vermittlung des Dramentextes bzw. seiner Aussage. Dabei bleibt nun offen, ob sich Text und Inszenierung lediglich in der Art der verwandten Ausdrucksmittel jeweils unterscheiden, sich dabei jedoch in deren Funktion weitgehend entsprechen, oder ob den Ausdrucksmitteln der Inszenierung eine neuartige und den Text kreativ ergänzende Funktion zugesprochen wird. Weiss selbst beanwortet diese Frage in seinen dramentheoretischen Reflexionen zum Dokumentarstück nicht; aus anderen Äußerungen des Autors darf jedoch geschlossen werden, daß Weiss zu dieser Zeit - wenn auch gemäßigt - zu der zweiten Alternative tendiert. 62 Eine weitere bemerkenswerte Äußerung des Autors zur Unterscheidung von Text und Inszenierung findet sich in einem Notizbucheintrag Mitte der siebziger Jahre. Hier schreibt Weiss über seine Kafka-Dramatisierung: Das was im Buch als subjektive Welt dargestellt ist, wird auf der Bühne, durch die Praxis der Sichtbarmachung, naturgemäß objektiv. Der Einzelmensch, in dessen Innern die Halluzinationen und Ängste stattfinden, steht hier leiblich vor uns, was wir bei der Lektüre von ihm eingeflüstert bekommen, muß hier ins Handgreifliche übertragen werden. Wir nehmen nicht mehr Traumelemente auf, sondern konfrontieren uns mit Handlungen. 6 3
Danach wird mit der Dramatisierung versucht, die subjektive Weltdarstellung des Prosawerkes "Der Prozeß" in konkretes Handeln zu transformieren und damit für den Rezipienten zu objektivieren, d.h. durch das unmittelbare Erleben eines Bühnengeschehens zu intensivieren. Ob dies Weiss gelungen ist, darf bezweifelt werden. Nichtsdestoweniger mag diese 61
P. Weiss im Gespräch mit C. Sturm (1968) [Peter Weiss im Gespräch, S. 151 f.]; vgl. auch P. Weiss im Gespräch mit M. Müller und W. Schütte (1968) [ebd., S. 137].
62
Vgl. Kap.2.1.2.
63
P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980", S.271.
T e x t und Inszenierung
177
grundlegende Einsicht in einen möglichen rezeptionsästhetischen Unterschied zwischen Prosa und Theater, die hier in der letzten dramatischen Schaffensphase von Peter Weiss zur Sprache kommt, auch schon bereits während der sechziger Jahre der Grund dafür gewesen sein, das dokumentarische Theater der dokumentarischen Prosa vorzuziehen. Erhärten läßt sich diese Vermutung anhand entsprechender Äußerungen des Autors aus seiner dokumentarischen Schaffensphase selbst jedoch nicht64; allenfalls folgende Anmerkung aus einem Gespräch mit H.L. Arnold im Jahr 1983, in der insbesondere auch Bezug auf die Dokumentarstücke genommen wird, mag hier als Bestätigung dienen: Subjektivistisches Theater ist vielleicht möglich und wird auch h e u t e hin und w i e d e r versucht. Aber die dramatische Form, die mir vorschwebte, ist eine F o r m g e w e s e n , in der Figuren im Z u s a m m e n h a n g mit den A u s s a g e n und B e w e g u n g e n von anderen Figuren stehen, eine Form der Konfrontation, und dies wird auf der B ü h n e e b e n sehr h a n d g r e i f l i c h darstellbar, viel handgreiflicher, körperlicher, als das in e i n e m R o m a n m ö g l i c h ist. M a n hat j a auf der B ü h n e die einzigartige Möglichkeit, Dinge direkt auszusprechen und dazu die B e w e g u n g s v e r l ä u f e zu geben, was j a das Theater so stark m a c h t und w a s mich i m m e r w i e d e r zur B ü h n e zieht; denn da bestehen die M ö g l i c h k e i t e n , innere Fragen und vor allen Dingen g e r a d e bei mir die A n t a g o n i s m e n , die G e g e n s ä t z e , rein körperlich in verschiedenen Figuren darzustellen. 6 5
Es sei daraufhingewiesen, daß auch diese Äußerung des Autors nur einen mittelbaren Schluß auf dessen Ansicht über das Verhältnis von Dramentext und Inszenierung zuläßt, da auch hier nur Drama (als Inszenierung) und Prosa (als Roman) einander gegenübergestellt werden. Doch gerade hinsichtlich der funktionalen Unterscheidung von Drama und Prosa finden sich auch Aussagen des Autors, die dieser Argumentation tendenziell zu widersprechen scheinen. So etwa folgende Passage aus einem Gespräch mit M. Haiduk: Auch in die Schilderung v o n politischen Verläufen spielen die E m o t i o n e n hinein. Weil es mir j a nicht d a r u m geht, eine g e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t l i c h e A b h a n d l u n g zu schreiben, s o n d e r n eine E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e v o n M e n s c h e n , die in einer b e s t i m m t e n Zeit stehen, m u ß a u c h die innere Dialektik des P s y c h o l o g i s c h e n mit e i n b e z o g e n w e r d e n . G e r a d e darin h a b e ich j a m e i n e persönliche G r e n z z i e h u n g z u m d o k u m e n t a r i s c h e n T h e a t e r e r k a n n t ; nicht u m diese Form a b z u w e i s e n , s o n d e r n u m nach Mitteln zu suchen, die mir weitere u n d kompliziertere S c h i l d e r u n g e n von M e n s c h e n m ö g l i c h m a c h e n . 6 6
Hier wird die Möglichkeit, komplexe Sachverhalte und Vorgänge darzustellen, in stärkerem Maße der Prosa als dem Theater zugesprochen und zugleich als Grund des Autors für die Abkehr vom Drama und für die Z u r rezeptionsästhetischen U n t e r s c h e i d u n g von T e x t und Inszenierung b e i m d o k u m e n tarischen D r a m a vgl. beispielsweise R.-P. Carl (1971), insbes. S . 1 0 7 und 122. 65
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit H.L. Arnold (1983), S.33.
66
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit M. Haiduk ( 1 9 7 4 ) [Peter Weiss im Gespräch, S.212],
178
Peter Weiss
Hinwendung zur Prosa angegeben. Dabei ist auffällig, daß dieser Einschätzungswandel von Weiss und sein Wechsel der literarischen Gattung mit einer Verschiebung seines Darstellungsinteresses hin zur Psyche des menschlichen Individuums einhergeht; denn waren die Figuren der Dokumentarstücke lediglich Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen, so sind nun die Figuren der "Ästhetik des Widerstands" etwa einzelne Persönlichkeiten, die über eine eigene psychische Wirklichkeit verfügen und aus individuellen Beweggründen heraus handeln. Demzufolge wird also die Darstellbarkeit komplexer Sachverhalte und Vorgänge auf der Bühne nicht generell, sondern lediglich auf solche gesellschaftlicher Gruppen beschränkt und die Darstellung einzelner menschlicher Individuen tendenziell der Prosa zugewiesen. Damit relativiert sich die oben erwähnte Widersprüchlichkeit der Argumentation des Autors; von einer stringenten konzeptionellen Durchdringung und Begründung dieser Funktionsunterscheidung zwischen Drama und Prosa bzw. deren jeweils spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten kann jedoch bei Weiss kaum die Rede sein67.
Es wäre daher wichtig, diese Veränderung der Darstellungsintention und -konzeption anhand einer Analyse der Stücke über Hölderlin und Trotzki
sowie
der Kafka-
Bearbeitungen, die zeitlich zwischen den Dokumentarstücken und der "Ästhetik des Widerstands" entstanden sind, zu überprüfen.
2. Künstler und Publikum 2.1 Autor 2.1.1
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen
Neben dem Bestreben einer politisch-ideologischen Aufklärung werden von Weiss als auslösende Momente für sein dramatisches Schaffen vor allem die Ausnutzung der spezifischen Darstellungsmöglichkeiten des Theaters sowie äußere persönliche Lebensumstände genannt. Das literarische Schaffen von Peter Weiss ist in weiten Teilen durch sein politisches und gesellschaftliches Engagement geprägt. Die Dramen und daneben auch vor allem die späte Prosa der "Ästhetik des Widerstands" besitzen durch die selektierende und interpretierende Darstellung historisch bzw. zeitgeschichtlich bedeutsamer Verhältnisse und Vorgänge eine politisch-ideologisch geprägte Aufklärungsfunktion. Diese Aufklärungsfunktion, die der Autor der Literatur im allgemeinen und dem Drama im besonderen beimißt, ist als ein wesentliches Antriebsmoment für seine literarische Arbeit anzusehen. Dies läßt sich anhand zahlreicher Äußerungen belegen. 68 Als auslösendes Moment der Dramenproduktion betrachtet Weiss darüber hinaus zum einen die spezifischen verbalen wie nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters selbst. Diese scheinen seinen durch das Bestreben politisch-ideologischer Aufklärung bestimmten Darstellungsintentionen zumindest in den sechziger Jahren mehr entgegenzukommen als diejenigen anderer Literaturgattungen. In diesem Sinne äußert sich Weiss etwa 1968 im Gespräch mit C. Sturm: W e n n ich mir von e i n e m anderen M e d i u m m e h r versprochen hätte, hätte ich sicher das gewählt. W e n n ich [...] eine z w e i t a u s e n d j ä h r i g e geschichtliche E n t w i c k l u n g darstellen will, greife ich z u m M e d i u m Theater. Hier gibt es die M ö g l i c h k e i t zu Z u s a m m e n f a s s u n g e n , Überblicken und Analysen, was im Film nicht möglich ist. A u ß e r d e m sehe ich hier u n g e a h n t e neue Möglichkeiten [...]. Überall wird nach neuen W e g e n gesucht, neuen thea-
Vgl. zu A u s s a g e und Funktion des D r a m a s Kap. 1.3.
180
Peter Weiss
tralischen A u s d r u c k s m i t t e l n , die zwar d e m Schauspieler w i e d e m P u b l i k u m sehr viel abverlangen, aber auch unerhört viel bringen k ö n n e n . 6 9
Diese "neuen theatralischen Ausdrucksmittel" nennt Weiss hier nicht im einzelnen. Man darf vermuten, daß in diesem Zusammenhang darunter pauschal zum einen die Techniken der Bearbeitung historischen Textmaterials zum Dramentext und zum anderen deren spezifische Reproduktionsformen auf der Bühne gemeint sind. Neben solchen Spezifika der dramatischen Darstellungsmöglichkeiten auf der Bühne nennt Weiss Mitte der sechziger Jahre selbst ein weiteres auslösendes Moment für seine Dramenproduktion: N u n , vielleicht liegt es an der Art, wie ich lebe - sehr isoliert, zu k e i n e m Land, zu keiner Stadt, zu keiner S p r a c h e gehörig - J e d e n f a l l s brauche ich einen Bereich, w o ich soviel wie m ö g l i c h am L e b e n teilnehmen kann. Den bietet mir das Theater, weil d a alles unmittelbar l e b e n d i g ist. W e n n ich ein B u c h schreibe, sitze ich still in m e i n e m Z i m m e r . Das Schreiben ist dann ein A u s d r u c k m e i n e r Isolation und des G e f ü h l s , n i r g e n d w o h i n zu g e h ö r e n . A b e r sobald ich f ü r die B ü h n e schreibe, lebe ich a u f . 7 0
Hier sind es nicht die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten des Theaters, die den Autor die dramatische Arbeit einer anderen Art der literarischen Produktion vorziehen lassen, sondern die Möglichkeit des Dramenautors, mit anderen Künstlern zusammenzuarbeiten. Dabei ist diese Zusammenarbeit für Weiss zum einen sicherlich künstlerisch motiviert, indem er in Koproduktion mit dem Schauspielerensemble, der Regie und anderen Theaterleuten ein Allkunstwerk, an dem verschiedene Künstler verschiedener Kunstgattungen beteiligt sind, zu schaffen anstrebt. Zum anderen ist diese Zusammenarbeit fiir den Autor aber auch durch seinen Wunsch nach Außeinandersetzung und Diskussion mit anderen Menschen über Fragen des Zeitgeschehens und politische Meinungsbildung im allgemeinen bestimmt. Dies rührt aus den äußeren Lebensumständen des Autors in Schweden her, die er selbst als Isolation empfand und mit der künstlerischen Arbeit zu überbrücken hoffte 71 .
2.1.2
Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen
Das Verhältnis von Peter Weiss zur Bühne ist überwiegend durch das Bestreben nach künstlerischer Zusammenarbeit geprägt. Dieser grundsätz69
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit C. Sturm (1968) [Peter W e i s s im Gespräch, S. 151 ].
70
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit A. Alvarez (1964) [Peter W e i s s im G e s p r ä c h , S.51]; vgl. auch
71
Dazu a u c h P. Weiss: "I C o m e out of m y Hiding Place" (1966); vgl. M. H a i d u k (1977),
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit A . Joseph (1969), S.63f. S.255.
Künstler und Publikum
181
liehen Kooperationsbereitschaft entsprechend konzipiert Weiss die Gestaltung seiner Dramentexte als Produktion von Textvorlagen, auf deren Grundlage dann durch die kreative Mitwirkung aller Beteiligten die Inszenierung erarbeitet werden muß. Diese Vorgehensweise, den schriftlichen Dramentext als Vorlage für die Inszenierung des Dramas auf der Bühne zu gestalten, bedarf der Kenntnis der allgemeinen Bühnenbedingungen. Eine solche Kenntnis konnte Weiss während zahlreicher Inszenierungen seiner Stücke, an denen er mehr oder weniger stark mitgestaltend teilhatte, selbst erwerben, und er betont regelmäßig den Nutzen, den ihm diese Einblicke für die eigene Dramenproduktion brachten. Die ersten Bühnenerfahrungen sammelte Weiss bei den Proben zu "Marat/Sade" unter Swinarski in Berlin; so schreibt Weiss etwa 1966: "Ich nahm an der gesamten Probenarbeit teil, und da dies für mich auch die erste praktische Theatererfahrung war, lernte ich viel vom Regisseur und von dessen Fähigkeit, die geschriebene Vorlage auf der Bühne zu konkretisieren." 72 Einen solchen Kontakt zur Bühne nahm Weiss immer wieder auf und versuchte von der Theaterarbeit auch für die Produktion seiner Dramen zu profitieren; so antwortet er beispielsweise auf eine Frage H.L. Arnolds nach Eigeninszenierungen seiner Dramen: Ich habe das schon einmal gemacht, als damals der Lusitanische Popanz hier herauskam; und ich habe unzählige Male dabeigesessen, wenn Regisseure meine Stücke inszenierten, ich habe da sehr viele Erfahrungen gesammelt. Und es juckte mich in den Fingern, selbst einmal zu versuchen, wie das eigentlich ist, geschriebene Figuren umzusetzen in dargestellte Figuren. 73
Hinsichtlich der Zusammenarbeit von Autor und Regie unterscheidet Weiss zwei extreme Alternativen. Aufgrund der eigenen Erfahrung, daß eine "halbe Mitarbeit nur von Schaden ist, sowohl für den Regisseur als auch für den Autor selbst"74, erhebt Weiss folgende Forderung: "Entweder Arbeitsteilung: Ich liefere den Text, andere übernehmen die Ausführung, oder: Ich nehme total an der Verwirklichung des Textes teil, in nächster Zusammenarbeit mit dem Ensemble." 75 Diese beiden Alternativen der Beteiligung des Autors an der Inszenierung leitet Weiss nicht aus dramentheoretischen Überlegungen, sondern aus Erfahrungen der praktischen Theaterarbeit auf verschiedenen Bühnen ab76. P. Weiss in einem Brief an neue kritik 34 (1966) [zitiert nach Materialien "Marat/Sade" (1967), S.113], P. Weiss im Gespräch mit H.L. Arnold (1983), S.57. P. Weiss im Gespräch mit V. Canaris (1971) [Peter Weiss im Gespräch, S.186], Ebd., S.186f. Dazu etwa auch P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.498f.; "Notizbücher 1971-1980", S.638f. - Vgl. beispielsweise schon H. Rischbieter (1967), S.86-117.
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Peter Weiss
Diese Bühnenerfahrungen haben nun auch Eingang in den Schreibprozeß des Dramenautors Weiss gefunden. Er versucht, bereits in der Textvorlage die allgemeinen Bühnenbedingungen zu berücksichtigen; indem "man ein Stück schreibt führt man ja, während man schreibt, bereits Regie"77. Über die Technik dieses Regiefuhrens während des Schreibens, also über diejenige der Berücksichtigung der Auffiihrungsbedingungen im Dramentext, gibt der Autor Weiss selbst kaum Auskunft. Folgender Eintrag aus dem Notizbuch der Jahre 1966/67 ist in diesem Zusammenhang jedoch aufschlußreich: Dieses Stück (Popanz) wurde ohne Bühnenanweisungen geschrieben. Die Absicht war, in der praktischen Theaterarbeit die Form zu finden, die zu dem Text paßte. Wir wollten mit der Methode brechen, nach der Autor u Regisseur den Schauspielern die fertige Konzeption vorlegen. Statt dessen wollten wir das Spiel in der Zusammenarbeit aller hervorwachsen lassen Die Aufgabe des Regisseurs war es, die Vielfalt der Impulse zu kanalisieren - 7 8
An der Inszenierung eines Dramas sind nach Weiss idealiter verschiedene Künstler unterschiedlicher Kunstgattungen gleichermaßen beteiligt, um jeweils ihre eigene Kreativität in diese als Gesamtkunstwerk konzipierte Aufführung einzubringen. Daher stellt der Dramentext für den Autor Weiss lediglich eine Vorlage dar, die durch Schauspieler, Bühnenbildner und andere erst in eine konkrete Auffuhrung umgesetzt werden muß. Dabei wird diese Vorlage durch verschiedenartige sprechsprachliche und nonverbale Ausdrucksmittel ergänzt. Die Berücksichtigung der Auffiihrungsbedingungen im Dramentext besteht nun in diesem Falle darin, daß der Autor Weiss auf Anweisungen zum Gebrauch solcher bühnenspezifischen Ausdrucksmittel im Nebentext weitgehend verzichtet, um den an der Inszenierung beteiligten Künstlern einen möglichst freien Einsatz ihrer eigenen künstlerischen Mittel zu gestatten. - Doch auch diese dramentheoretischen Überlegungen haben für die Dramenproduktion von Peter Weiss allenfalls tendenziellen Charakter; denn selbst die Druckfassung des "Gesang vom Lusitanischen Popanz" 79 weist genauso wie diejenigen der anderen Dokumentarstücke durchaus entsprechende Anweisungen im Nebentext auf.
P. Weiss im Gespräch mit G. Palmstierna-Weiss und A. Brundahl (1982) ["Der neue Prozeß" (1984), S. 116], P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.527. P. Weiss: "Gesang vom Lusitanischen Popanz" (1967) [W, Bd.5, S.201-265],
Künstler und Publikum
2.1.3
183
Bearbeitungen des Dramentextes
Weiss hat zahlreiche Bearbeitungen seiner Dramen vorgenommen. "Marat/ Sade wurde mindestens zehnmal neu geschrieben" 80 , behauptet der Autor 1977 in einem Gespräch mit J. Michel und deutet damit die relativ hohe Zahl seiner Textänderungen an.81 Diese Textänderungen scheinen oft das Ergebnis von Erfahrungen praktischer Theaterarbeit zu sein und daher mit dem Ziel einer stärkeren Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen des Dramas auf der Bühne zu erfolgen: "Es ist ja immer so bei meinen Stücken: Auf der Bühne erst sieht man es, dann werden gewisse Sachen geändert, es werden Striche gemacht, es kommt Neues hinzu." 82 Weiss nennt im Gegensatz zu den Techniken der Berücksichtigung der Inszenierungsbedingungen während des Verfassens des Dramentextes überhaupt durchaus verschiedene Techniken einer solchen Textbearbeitung, die alle auf entsprechende Bühnenerfahrungen des Autors selbst zurückgeführt werden. Eine Systematik läßt sich allerdings in diesen von Weiss an verschiedenen Orten genannten Techniken nicht erkennen. Die meisten Erläuterungen finden sich hier zum "Marat/Sade"-Drama. Dem dramentheoretischen Ideal entsprechend, nach dem die Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen im schriftlichen Dramentext durch einen möglichst sparsamen Einsatz von Anweisungen in dessen Nebentext erfolgt, besteht nach Weiss eine erste wichtige Bearbeitungstechnik in der Reduktion solcher Anweisungen in der bearbeiteten gegenüber der vorangehenden Textfassung. So erläutert er etwa zu "Marat/Sade": Ich arbeitete während der Proben noch am Text und änderte ihn, je nachdem, welche Einfälle Swinarski und ich hatten bzw. verwarfen. Ich habe den Text der Druckfassung auch noch zwischen den einzelnen Inszenierungen verändert. In Deutschland liegt jetzt die vierte Fassung vor, und es gibt tiefgreifende Unterschiede zwischen dieser Fassung und der, die in Deutschland aufgeführt wurde. Dabei habe ich immer mehr Bühnenanweisun-
80 81
82
P. Weiss in einem Gespräch mit J. Michel (1977) [Peter Weiss im Gespräch, S.225]. Jüngere Untersuchungen unterscheiden 16 Bearbeitungsstufen des "Marat/Sade"Dramas, die sich vier verschiedenen Fassungen unterordnen lassen; vgl. A. Beise und I. Breuer (1992), v.a. S.88-89 (dazu auch J. Herwig 1990, S.91-102). K. Braun unterschied 1967 in dem Materialienband zu "Marat/Sade" lediglich fünf verschiedene Textfassungen des Stücks (vgl. dort, S.29f.); so z.B. auch noch M. Durzak (1972), S.272274; J. Taberner-Prat (1976), S.267-281 oder H. V o r n w e g (1981), S.76f. - Zu den Textbearbeitungen der "Ermittlung" vgl. v.a. R. Krause (1982), S.664-666, S.683-730 (Gegenüberstellung der 1964 entstandenen "Frankfurter Auszüge" und der "Ermittlung") sowie S.731-744 (Variantenverzeichnis). P. Weiss im Gespräch mit H L. Arnold (1983), S.57.
184
Peter Weiss
gen gestrichen, als ich merkte, daß sich die Regisseure freier fühlen und phantasievoller arbeiten, wenn ihnen der Autor nicht immer die Hand führt. 8 3
Eine weitere Technik der Dramentextbearbeitung besteht nach Weiss in einer Änderung der Figurencharakterisierung hinsichtlich deren Wirkung auf der Bühne. Dies macht Weiss im Gespräch mit H.L. Arnold beispielsweise wiederum anhand des Marat/Sade-Dramas deutlich: Ich habe damals nach den ersten Aufführungen gesehen, daß der Sade zu großes Gewicht erhält und zu sehr dominieren kann und auch nach bestimmten ideologischen Vorstellungen hin zu sehr dominierend dargestellt werden kann, während Marat leicht in die Enge getrieben wird und weggespielt werden kann und alle seine Revolutionsgedanken dadurch bagatellisiert werden. Und nach diesen Eindrücken habe ich versucht, die Figur Marats ein bißchen selbständiger werden zu lassen, damit sich Marat trotz der überwältigenden Übermacht de Sades durchsetzt, weil das, was Marat sagt, zumindest genauso wichtig, wenn nicht wichtiger ist, als das was de Sade vertritt. 84
In einem Gespräch mit D. Hastad äußert sich der Autor entsprechend zur Umgestaltung der Figuren Schillers und Goethes in seinem HölderlinDrama: Ich "hatte sie [...] zu rhapsodisch beschrieben. Das zeigte sich in der Berliner Inszenierung, [...]. Hölderlin hatte in der vorigen Version keine würdigen Gegenspieler. Jetzt werden sie als die progressiven Persönlichkeiten dargestellt, die sie trotz allem waren - ich meine dies natürlich auf ihre Zeit bezogen." 85 Ein wesentliches Element der Figurencharakterisierung sowie deren Veränderung in einer Textbearbeitung besteht in der inhaltlichen und formalen Gestaltung von deren Dialogteilen und Monologen. Weiss selbst berichtet sowohl über Hinzufugungen als auch über Teilungen wie Änderungen der Sprechpassagen seiner Dramenfiguren. In einem Interview der Zeitschrift Industria über den "Marat/Sade" heißt es etwa: "Später habe ich [...] einen Epilog hinzugefügt, der nur in Rostock gespielt wurde und deutlich macht, daß für den Autor Marats Standpunkt der richtige ist."86 Hier nennt der Autor eine textuelle Hinzufügung, die im Dramentext für eine bestimmte Inszenierung vorgenommen wurde. In der folgenden Passage aus einem Gespräch mit D. St6r thematisiert Weiss die Zerteilung bzw. Aufteilung von ursprünglich zusammenhängenden und an eine einzelne Figur gebundenen Monologen auf verschiedene Figuren: "Im Verlauf der Arbeit zeigte es sich, daß hier und da noch einzelne Monologe zerteilt oder auf verschiedene
83 84 85
86
P. Weiss in einem Gespräch der "Industria" (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.95], P. Weiss im Gespräch mit H.L. Arnold (1983), S.34f. P. Weiss im Gespräch mit D. Hastad (1972) [Peter Weiss im Gespräch, S.198], - Zur sprachlichen Charakterisierung einzelner Figuren vgl. Kap.3.1. P. Weiss in einem Interview der "Industria" (1965), S.95f.
Künstler und Publikum
185
Stimmen aufgeteilt werden mußten." 87 Eine Änderung eines Monologs schließlich wird von Weiss selbst ebenfalls in diesem Gespräch wiederum anhand des "Marat/Sades" zur Sprache gebracht. Auf die Frage, welchen Einfluß der Regisseur bei der Bearbeitung der letzten beiden Fassungen des Dramas hatte, antwortet Weiss: "Es fielen die Projektionen weg. Es wurden überflüssige pantomimische Illustrationen einzelner Textstellen gestrichen. Hauptsächlich wurde das Finale bearbeitet sowie die große Rede Marats vor dem Konvent durchgearbeitet." 88 Nähere Erläuterungen hierzu finden sich seitens des Autors Weiss nicht.
2.2 Theater 2.2.1
Die Voraussetzungen der Textwiedergabe
Als Voraussetzungen für die Wiedergabe des Dramentextes auf der Bühne nennt Weiss vor allem einen geeigneten Aufführungsort und ein entsprechendes Publikum sowie die intensive Auseinandersetzung des entsprechenden Ensembles mit der Textvorlage. "Mit den Versuchen des dokumentarischen Theaters, eine überzeugende Ausdrucksform zu erhalten, ist die Suche nach einem geeigneten Auffuhrungsort verbunden." 89 Dieser für das Dokumentarstück geeignete Auffuhrungsort ist laut Weiss nicht etwa das traditionell-bürgerliche Theater, sondern es sind Auffiihrungsplätze wie "Fabriken, Schulen, Sportarenen, Versammlungsräume" 90 oder andere. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Aufführung eines Dokumentarstücks im traditionellen Theater nicht diejenigen gesellschaftlichen Gruppen erreicht, die mit diesem Stück hinsichtlich der politischen Agitation erreicht werden sollen. So heißt es etwa in den Notizbüchern über Dramenaufführungen an solchen Stätten außerhalb der herkömmlichen Theater: Aufführungen in Sporthallen, in Schulen, Bibliotheken oder Gefängnissen, bei denen der konventionelle Theaterraum beseitigt und ein neues Publikum gefunden worden war, auch war während des Grubenstreiks in Schweden die Aktion einer Theatergruppe zum schlagkräftigen Instrument geworden, sie trug nicht nur dazu bei, den Stimmen der streikenden Lohnarbeiter Ausdruck zu geben, sondern festigte auch die Solidarität während des im
87
P. Weiss im Gespräch mit D. St6r ( 1 9 6 4 ) [Peter Weiss im Gespräch, S.47].
88
Ebd.
89
P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" ( 1 9 6 8 ) [Rapporte 2, S.103],
90
Ebd.
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Januar 1970 noch andauernden Kampfs gegen die Grubenherrn und die reaktionäre Gewerkschafts führung. 9 1
Die Forderung nach einem geeigneten Aufführungsort entpuppt sich danach also als Forderung nach einem bestimmten Publikum, für das das Drama geschrieben wurde und vor dem es nun auch inszeniert werden soll, um seine vom Autor intendierte Funktion zu erfüllen 92 . Damit gibt Weiss zwar eine wesentliche Voraussetzung für die Inszenierung auch seiner eigenen Dramen an, es muß jedoch festgestellt werden, daß dies ein reproduktionsästhetisches Ideal des Autors darstellt, das - betrachtet man die Aufführungsgeschichte seiner Stücke - nicht im entsprechenden Maße verwirklicht wurde. Neben diesen Voraussetzungen der Wiedergabe des Dramentextes auf der Bühne hinsichtlich Aufführungsort und Publikum formuliert Weiss eine weitere Voraussetzung, die eine adäquate Inszenierung seiner Dokumentarund anderen Stücke gewährleisten soll. Diese besteht darin, daß das Drama sowohl hinsichtlich seiner Form als auch in Bezug auf seinen Inhalt und seine Funktion intensiv von dem entsprechenden Ensemble studiert und im Anschluß daran eine entsprechende Inszenierung systematisch erarbeitet werden muß: "Man sollte [...] versuchen, das Stück zu spielen, so wie es geschrieben ist, sich viel Zeit nehmen, sehr gründlich und wissenschaftlich arbeiten und im Ensemble die notwendige politische Auffassung herstellen."93 Erst die dem Autor entsprechende politische Einstellung und die dem Text und dessen zeitgeschichtlichem Hintergrund entsprechende Einsicht des Ensembles gestatten danach eine adäquate Inszenierung des Dramas. Das macht Weiss in Abgrenzung gegen das sogenannte Regietheater, das er unter dem Vorwurf, die Stücke gegenüber der genuinen Intention des Autors zu verfremden, heftig kritisiert94, deutlich: "Es gibt eine völlig andere Art, sich Stücken zuzuwenden und an ihnen und mit ihnen zu arbeiten. Eine Art, die sich Zeit lassen kann, den Text wissenschaftlich zu analysieren [...], um den Inhalt vom Grund, und nicht von einer Verkleidung her, zum Ausdruck kommen zu lassen."95 Dabei ist sich der Autor Weiss der Schwierigkeiten, die eine derartig intensive Erarbeitung solcher Grundlagen bereiten kann, durchaus bewußt. Er fordert daher idealiter feste Ensembles, deren Mitglieder bei der Erarbeitung dieser Grundlagen einen gemeinsamen
91
P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.711f. Vgl. auch ebd., S.688 sowie "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S.95],
92
Vgl. dazu Kap. 1.3.
93
P. Weiss im Gespräch mit V. Canaris ( 1 9 7 1 ) [Peter Weiss im Gespräch, S.187],
94
Vgl. P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980", S.530f; vgl. ebd., S.529f.
95
P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980", S.530.
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Erfahrungsschatz nutzen können: "Das dokumentarische Theater ist nur möglich, wenn es als feste, politisch und soziologisch geschulte Arbeitsgruppe besteht und, unterstützt von einem reichhaltigen Archiv, zur wissenschaftlichen Untersuchung fähig ist." 96 Dabei betont Weiss an anderer Stelle, daß eine solche wissenschaftliche Auseinandersetzung des Ensembles mit dem Dramentext selbständig (obgleich im politisch-ideologischen Sinne des Autors) erfolgen sollte: "Das beste ist, einen Regisseur und ein Ensemble zu finden, die eine klare politische Einstellung haben und wissenschaftlich arbeiten und denken können, die dem Text gegenüber aber kritisch sind und ihre eigene Konzeption entwickeln." 97
2.2.2
Die Wiedergabe des Textes auf der Bühne
Die Inszenierung selbst soll, wie Weiss bereits zu "Marat/Sade" erklärt, "vor allem auf das Wort gestellt" werden, "ohne auf die Vielfalt theatralischer Mittel zu verzichten" 98 . Danach ist also der schriftliche Dramentext die Grundlage für die Inszenierung, deren spezifische sprechsprachlichen und nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten den im Text durch den Autor bereits angelegten Funktionen des Stücks untergeordnet werden und lediglich zu deren Verdeutlichung dienen. Daher soll die Inszenierung sein: "textgetreu, nüchtern, sachlich, zum Denken anregend (auf die verfluchten Emotionen pfeifend) (und auf die Show), nichts hinzufugend, was nur Außenwerk ist." 99 Mit solchen Äußerungen erhält die Konzeption des Autors Weiss, nach der das Drama als ein Allkunstwerk zu betrachten ist, an dem verschiedene Künstler unterschiedlicher Kunstgattungen kreativ teilhaben, eine gewisse Relativierung. 100 Denn es werden hier zwar den an der Inszenierung beteiligten Künstlern kreative Freiheiten eingeräumt; diese Freiheiten werden jedoch zugleich allein in den Dienst der vom Autor intendierten Dramenfunktion gestellt und damit wieder eingeschränkt. Grundlage der Inszenierung ist also die Autorintention des Dramas: "Es muß natürlich alles wirklich überzeugend herauskommen; das hängt dann wieder vom
96
P. Weiss: "Notizen z u m d o k u m e n t a r i s c h e n Theater" (1968) [Rapporte 2, S.103],
97
P. W e i r s im G e s p r ä c h mit A. Joseph (1969), S.67.
98
P. W e i s s
in e i n e m
Gespräch
der Zeitschrift " D e m o k r a t "
G e s p r ä c h , S . l O l f . ] . - Vgl. M. Haiduk (1977), S.252 und S.257. 99
P. Weiss: " N o t i z b ü c h e r 1960-1971", S.694; vgl. ebd., S.693.
100
Vgl. Kap. 1.4.
(1965)
[Peter W e i s s
im
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Peter Weiss
Theater ab, von den Schauspielern, von der Inszenierung." 101 Und es gilt in der Inszenierung, dieser Autorintention zumindest im Grundsatz gerecht zu werden: "Jeder Regisseur hat das Recht auf seine eigene Interpretation. Allerdings, wenn der politische Aspekt des Stückes weggelassen wird, dann meine ich schon, daß etwas Wesentliches verlorengeht." 102 Der Autor Weiss mißt die Qualität einer Drameninszenierung dementsprechend an der Nähe, die diese in ihrer eigenständigen Reproduktion der Textvorlage zu der Intention, die der Autor mit seinem Stück verfolgt, erreicht. Dies wird vor allem in solchen Fällen deutlich, in denen der Autor Kritik an der Inszenierung eines seiner Stücke übt. So schreibt Weiss zum Beispiel über die Uraufführung des "Trotzki" 1970 in Düsseldorf: Buckwitz hat die Regie wohl ehrenwert geführt - nach seinen Möglichkeiten, mit den zur Verfügung stehenden Schauspielern, der begrenzten Probenzeit - glaube auch, daß die Vorstellung in vielen Szenen dem Drama schon nahekommt - aber ich kann jetzt nur noch die Zerstörung und Verstörung der Aufführung sehen, ohne Möglichkeit einer echten Beurteilung - 1 0 3
Auf die hier angedeuteten entstehungsgeschichtlichen Bedingungen dieser Auffuhrung und der Aufnahme des Stückes durch die Kritik muß in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Vielmehr erscheint es an dieser Stelle für ein tieferes Verständnis der metakommunikativen Reflexion der Drameninszenierung durch den Autor selbst wichtig, seine zahlreichen und kritischen Äußerungen über Inszenierungen seiner Stücke näher zu betrachten.
2.2.3
Die Inszenierungskritik von Peter Weiss
Weiss übt wiederholt Kritik an den Inszenierungen seiner Dramen. Dabei sind hier wie bereits angedeutet vor allem solche Kritiken von Interesse, in denen er der entsprechenden Inszenierung entweder einen Verstoß gegen seine Intentionen als Autor des Stückes oder (im Falle von Auffuhrungen der Dokumentarstücke) eine fehlerhafte Gestaltung hinsichtlich der Dokumentation vorwirft. Im einzelnen lassen sich hierbei folgende Kritikpunkte unterscheiden: Zum ersten kritisiert Weiss den Gebrauch der bühnenspezifischen Ausdrucksmittel um ihrer selbst oder um der (kommerzialisierten) Selbstdar101
102 103
P. Weiss im Gespräch mit M. Müller und W. Schütte (1968) [Peter Weiss im Gespräch, S. 138]. P. Weiss in einem Gespräch der "Industria" (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.94], P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.694.
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Stellung des Theaters bzw. Ensembles willen. So erachtet es der Autor Mitte der siebziger Jahre als ein wesentliches Merkmal der Theaterlandschaft in der Bundesrepublik, "wie geringfügig das Interesse an der Lage des Produzenten ist und wieviel mehr sich die Aufmerksamkeit dem äußeren Apparat, dem Apparat des Vertriebs, zuwendet" 104 , und stellt dabei fest: "Eine eigentliche Arbeit am Grunderzeugnis findet nicht statt. Dieses merkwürdige Gebilde eines dramatischen Textes, kompliziert, vieldeutig, durchläuft zunächst einen Schrumpfungsprozeß." 105 Diese "Schrumpfung" oder Reduktion des Dramas bei solchen Auffuhrungen besteht darin, daß der Text und die darin angelegten Darstellungsintentionen des Autors nicht im Mittelpunkt der Inszenierung stehen, sondern nur als Grundgerüst einer auf Theatereffekte gerichteten Inszenierung dient. Eine solche Reduktion des Dramas beklagt Weiss nun auch bei verschiedenen Inszenierungen seiner eigenen Stücke. So schreibt er etwa über die Inszenierung des "Hölderlin" 1971 in Berlin: "Die opernhafte Auffuhrung richtet sich gegen den Text. Und wo noch Schwächen im Text sind, werden diese durch den äußern Aufwand hervorgehoben." 106 Und zu einem Gespräch mit Stein 1968 über den "Viet Nam Diskurs" heißt es: "Das unheimliche Gefühl: sie finden das Stück eigentlich schlecht, verachten den Autor, können aber einiges aus dem Text verwenden für eigene Absichten. Neuer Ton: neue Haltung: Regietheater das sich völlig über die Arbeit des Stückeschreibers hinwegsetzt. Nur Rohmaterial herausgreift - aber eben: zur Verwirklichung einer neuen Dramaturgie." 107 Eine weitere Kritik übt Weiss an solchen Inszenierungen, die seinem Darstellungs- und Vermittlungsanspruch lediglich aus Gründen mangelhafter Organisation oder unzulänglicher Auffiihrungsbedingungen nicht gerecht werden. So beschreibt er etwa die Düsseldorfer Probenarbeit am "Trotzki" folgendermaßen: Kein lockeres, gemeinsames, wissenschaftliches Erarbeiten einer Problemlösung, kein offnes Gespräch, kein sorgsames Studieren, Analysieren, Ausprobieren, sondern ein Verschleiß von Kräften, eine Akkordleistung, in welcher ein zusammengewürfeltes, aufeinander angewiesenes Team von Fachleuten dazu verurteilt war, weit unter seinen eigentlichen Fähigkeiten, das Bestmöglichste aus einer verfahrenen Situation herauszuschlagen. 1 0 8
Eine kritische Äußerung, die sowohl diesen als auch den ersten Kritikpunkt beinhaltet, trifft die Frankfurter Inszenierung des "Viet Nam Diskurs" 1968: "Es war alles nur halbherzig, voller Kompromisse. Der Zeitdruck, das von 104
P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980", S.528f.
105
Ebd., S.528; vgl. ebd., S.529f.
106
Ebd., S. 16.
107
P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.601f.
108
Ebd., S.701; vgl. ebd., S . 7 0 2 und S.717f.
190
Peter Weiss
Buckwitz gedrillte Ensemble [...]. Vom Inhalt her war nicht durchgearbeitet worden. Wieder nur auf Bühneneffekte abgezielt. Unwissenschaftlich. Kein Versuch, die adäquate Form ftir diesen Text zu finden."109 Eine ganz andere Art der Kritik erhebt Weiss im Zusammenhang mit einem Abbruch der Probenarbeiten zum "Trotzki" in Göteborg: "Hinter diesem ehrlich erscheinenden Beschluß liegt zunächst eine mißglückte Regiekonzeption, anstatt das Stück zu spielen wie es geschrieben worden ist, sollte das dokumentarische Element hervorgehoben und durch eine Anzahl historischer Hinweise ergänzt werden." 110 Hier wurde versucht, das Trotzki-Stück durch Quellenangaben zu ergänzen und ihm somit den Charakter einer möglichst authentischen Dokumentation zu verleihen. Unabhängig von der Vergeblichkeit dieses Bemühens tritt hier ein Mißverständnis der Dramatik von Weiss zutage, indem der synthetische Charakter des Dramas als ein eigenständiger Gesamttext verkannt wird. Diesen synthetischen Charakter betont Weiss bereits hinsichtlich seiner Dokumentarstücke 1 "; er ist umso mehr den nachfolgenden Stücken wie auch dem "Trotzki" eigen, die "nur im begrenzten Sinn dokumentarisch"" 2 sind. Die erheblichen Schwierigkeiten und heftigen Reaktionen, denen Peter Weiss bei den Inszenierungen seines Trotzki-Stückes begegnete, ließen bei dem Autor Selbstzweifel aufkommen. So räumt dieser ein, daß seine Textvorlage in diesem Falle möglicherweise auch nicht dazu geeignet sei, eine Inszenierung im Sinne der Darstellungs- und Vermittlungsintentionen des Autors vorzunehmen: So gesehn, als Gedankenkomplex, als Reflexion, manchmal starke Form gewinnend, manchmal fast verfließend, verwehend, fast untergehend, dann wieder sich assoziativ erweiternd, voll von konzentriertem Lauschen, manchmal welkend, modernd, wieder aufflammend, schließlich jäh ausgelöscht, so könnte es sich darstellen als das, was der Autor während des Schreibens vor sich sah, fraglich ist nur, und dies eben aus Gründen der Zerstörung, die über das Stück hergefallen war und zur Zeit nicht wegzudenken ist, ob die Textmasse nicht doch zu schwach, zu sehr aus Andeutungen anstatt aus Konkretionen zusammengesetzt war, als daß sie dem Schritt in die Außenwelt hätte standhalten k ö n n e n . " 3
Worin diese hier angedeutete Inszenierbarkeitsschwäche der Textvorlage im einzelnen besteht, reflektiert der Autor selbst nicht. Er vermutet lediglich, daß der Text selbst so gestaltet ist, daß eine den Darstellungsintentionen des Autors entsprechende Inszenierbarkeit und damit letztenendes auch Rezipierbarkeit nicht hinreichend gewährleistet erscheint. 109
Ebd., S.617.
110
Ebd., S.803f.
111
Vgl. dazu Kap. 1.
112
P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.804.
113
Ebd., S.718.
Künstler u n d P u b l i k u m
2.2.4
191
Die Textwiedergabe durch den Schauspieler
Unter den Äußerungen von Weiss über die Wiedergabe des Textes auf der Bühne finden sich zahlreiche Bemerkungen zu der Funktion der Schauspieler. In den Dokumentarstücken stellen die Dramenfiguren zumeist keine Individuen dar, sondern sind Repräsentanten bzw. Sprecher bestimmter gesellschaftlicher Positionen; historisch verbürgte Persönlichkeiten werden typisiert. Dies geschieht durch die Auswahl und Bearbeitung entsprechender Quellentexte, deren Ergebnis auf eine bestimmte Zahl von Figuren und Schauspielern aufgeteilt wird; so etwa im "Viet Nam Diskurs": "Jeder Spieler in diesem Stück stellt eine Vielzahl von Figuren dar, deren Aussagen und Verhaltensweisen in ihrer Gesamtheit einen bestimmten historischen Prozeß verdeutlichen. Die auftretenden Figuren geben sowohl individuellen Erfahrungen als auch allgemeinen Erscheinungen Ausdruck."" 4 Werden also durch die Figuren eines Dokumentarstücks bestimmte gesellschaftliche Positionen vertreten bzw. dargestellt, so ist es nach Weiss nun die Aufgabe des Schauspielers, bei der Wiedergabe der entsprechenden Textstelle diese Position durch die Zuhilfenahme sprechsprachlicher und nonverbaler Ausdrucksmittel zu verdeutlichen und damit dem Zuschauer verständlich zu machen. Diese spezifische und insbesondere für die Dokumentarstücke von Weiss spezifische Spielweise des Schauspielers erläutert der Autor selbst folgendermaßen: "Der Schauspieler schafft hier nicht etwa einen Charakter im herkömmlichen Sinn mit psychologischen Konflikten. Er hat eine Figur zu prägen, die in wirklichem Zusammenhang mit seiner Klasse steht oder mit gesellschaftlichen Kräften. Er spielt eben nicht individuelle, sondern gesellschaftliche Konflikte."" 5 Und auf die Frage, wie dieser diskursive Charakter des Dokumentarstücks auf der Bühne konkret durch die Spielweise des Schauspielers versinnlicht werden könne, antwortet Weiss am Beispiel des "Viet Nam Diskurs": Durch das Gestische, dadurch, daß diese Figuren nicht nur dastehen als Sprachrohre u n d etwas zitieren, sondern d a ß sie auch das, was sie sagen, darstellen. Der Schauspieler m u ß hier einen W e g finden, lebendig und ausdrucksvoll zu sein, das T y p i s c h e zu gestalten u n d gleichzeitig nie d e m Privaten und Individuellen verhaftet zu bleiben. Der Schauspieler im V i e t n a m - S t ü c k wird o h n e h i n niemals einer Rolle verfallen k ö n n e n , da er i m m e r nur g a n z kurze T e x t e zu sprechen hat. Als Repräsentant einer Z e i t e r s c h e i n u n g m u ß er kurz, deutlich u n d k o n k r e t deren T y p i s c h e s darstellen. Und danach sofort eine neue Rolle spielen können."6
114
P. Weiss: "Viet N a m Diskurs" (1968) [W, Bd.5, S.269],
115
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit A. Joseph (1969), S.67; vgl. auch ebd., S.68f.
116
P. W e i s s im G e s p r ä c h mit M. M ü l l e r und W . Schütte (1968) [Peter W e i s s im G e s p r ä c h , S.137],
192
Peter Weiss
Danach ist es also die Aufgabe des Schauspielers, die Darstellungs- und Vermittlungsintention, die der Autor mit dem Dramentext verbindet, durch den Einsatz seiner spezifischen Ausdrucksmittel zu unterstützen. Im Falle der Dokumentarstücke besteht diese Unterstützungsaufgabe in der gestischen und sprechsprachlichen Verdeutlichung einer bestimmten Position eines gesellschaftlichen Diskurses; programmatisch formuliert: "Schauspieler soll Publikum zeigen was Denken ist"" 7 . Dabei spielen individuelle Charakterisierungen der Figuren eine untergeordnete Rolle. Dies gilt, betrachtet man die Dramen selbst, nicht allein für den "Vit Nam Diskurs", sondern tendenziell auch für die Figuren der anderen Dramen des Autors, etwa im "Marat/Sade" 118 oder im "Trotzki"119. Die wesentlichen Schauspieltechniken der darstellenden Unterstützung des im Dokumentarstück thematisierten Diskurses bestehen für Weiss zum einen in der räumlichen Verteilung der Schauspieler sowie in deren Gestik und spezifischer Sprechweise und zum anderen in einem schlichten Bühnenbild und einer einfachen Kostümierung. So heißt es etwa in der Vorbemerkung zum "VietNam Diskurs": Die hier formulierten Bühnenanweisungen wollen vor allem deutlich machen, daß bei der Aufführung des Stücks größte Einfachheit gelten soll. Der Verzicht auf Kostümierung und die Beschränktung auf sparsamste dekorative Einzelheiten weisen darauf hin, daß die Spieler Wort, Gestik und Gruppierung zum zentralen Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung machen müssen. 1 2 0
Dabei besteht nach Weiss die Technik, wie durch "Wort, Gestik und Gruppierung" der Schauspieler die diskursive Struktur des Dokumentarstückes hervorgehoben werden kann, nun darin, die Grenzen zwischen den einzelnen Textteilen, d.h. die im Drama angelegten Brüche kenntlich zu machen: "In ihrer Wiedergabe des Textes haben die Schauspieler sehr genau auf die Zäsuren zu achten."121 Dies geschieht "vor allem durch den Austausch des Standorts, durch Umgruppierung oder durch andere Tonlage und Gestik"122, d.h. durch eine von Textteil zu Textteil wechselnde Qualität der spezifischen sprechsprachlichen und nonverbalen Ausdrucksmittel des Ensembles.
117 118
119 120 121 122
P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.566. Vgl. P. Weiss: "Anmerkungen zum geschichtlichen Hintergrund unseres Stückes" (1963) [W Bd.4, S.267]; P. Weiss im Gespräch mit J. Tailleur (1966) [Peter Weiss im Gespräch, S.114], Vgl. P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.804. P. Weiss: "VietNam Diskurs" (1968) [W Bd.5, S.271], Ebd. Ebd., S.269.
Künstler und Publikum
193
Eine Sprechweise, die eine Figur des Dokumentarstücks individualisiert bzw. charakterisiert, schließt der Autor dabei jedoch entsprechend seiner Konzeption typisierter Bühnenfiguren aus. Dies erläutert Weiss etwa im Zusammenhang mit der "Ermittlung": "Die Figuren auf der Bühne selbst sprechen scheinbar frei von Emotionen, sie machen nur ihre Aussagen, die direkt dem Wort entnommen sind, dem faktischen Wort, das in diesem Prozeß geäußert wurde. Aber der Inhalt dieser Worte ist so stark und enthält so viele gefühlsmäßige Werte, daß sich die natürlich auf den Zuhörer verpflanzen." 123 Diese Emotionslosigkeit der Sprechweise soll eine Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur verhindern und damit eine sachliche Abwägung und Bewertung der verschiedenen Positionen des dargestellten Diskurses gewährleisten: "Theater, in dem die Figuren auf der Bühne so sein müssen, daß der Zuhörer sich mit ihnen identifiziert, ist für mich fremd. Ich glaube, daß es viel stärker ist, wenn man die Figur, wie's Brecht beschrieben hat, auf der Bühne darstellt als Figur, die eine ganz bestimmte Aussage tut, und daß der Zuhörer diese Aussage entgegennimmt, bewertet, auch kritisiert."124
2.3 Publikum 2.3.1
Die Rezeptionsbedingungen des Publikums
Die Bedingungen der Dramenrezeption werden von Weiss kaum reflektiert. Es finden sich Äußerungen zum Unterschied zwischen dem Lesen eines Textes und der Rezeption einer Inszenierung. Diese betreffen jedoch weder unmittelbar die Dokumentarstücke noch Rezeptionsunterschiede zwischen Dramentext und Inszenierung, sondern allein diejenigen von Kafkas Roman "Der Prozeß" und dessen Umsetzung in eine dramatische Form. In seiner Vorbemerkung zu diesem Stück schreibt Weiss: Bei der Übersetzung des Traums in die Sprache der äußeren Wirklichkeit (und für den Zuschauer entspricht die Bühne immer einer äußeren Wirklichkeit) entstehen sofort Abhängigkeitsverhältnisse zur Zeitdimension. Die Bühne verlangt nach einer Logik. Auch in der äußersten Absurdität noch ist jeder vollzogene Schritt auf einem vorgegangenen Schritt basiert. Beim Lesen verschwindet der Anspruch auf eine solche Folgerichtigkeit. Der gegenwärtige Augenblick wird immer wieder neu geschaffen. Lücken in der Zeit werden Uberbrückt durch eigenes Nachsinnen. Es gibt keine Trennung zwischen dem Ausgesagten und dem Erlauschten. 123 124
P. Weiss im Gespräch mir E. Schumacher (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.86]. Ebd.
194
Peter Weiss
Beim Vorspielen des Inhalts tritt indessen ein Abstand auf. Etwas entrollt sich vor uns, etwas Typisches, Wichtiges, etwas, das einmal erlebt wurde und jetzt nachvollzogen wird. Etwas Vergangenes wird wiederbelebt und in seinem Ablauf demonstriert. A u f der Bühne wird festgestellt, wie K, der als Schriftfigur völlig auf sich selbst gestellt war, und sich selbst genügte, auf andere wirkt. 1 2 5
Weiss setzt hier den Unterschied zwischen der Rezeption des Prosatextes und derjenigen der Inszenierung vor allem in der zeitlichen Unmittelbarkeit und verhältnismäßig geringen Beeinflußbarkeit des Rezeptionsvorganges während der Inszenierung gegenüber dem Text; zwischen der Intensität des subjektiven Erlebens des Rezipienten beim Lesen und derjenigen im Theater wird an dieser Stelle nicht unterschieden, allerdings wird dieser dabei jeweils eine andere Qualität zugesprochen. Da der Rezeptionsvorgang beim Lesen darüberhinaus freier gestaltet und in höherem Maße "durch eigenes Nachsinnen" ergänzt werden kann, ist hierbei der Anspruch auf Folgerichtigkeit, d.h. Kohärenz und Kohäsion des rezipierten Textes, geringer als bei der Rezeption einer Inszenierung; bei dieser wird hingegen der Rezeptionsvorgang durch das äußere Geschehen auf der Bühne und im Theater determiniert und objektiviert 126 , so daß hier eine höhere Folgerichtigkeit des Dargestellten angesetzt werden muß. Neben diesen Unterschieden zwischen der Rezeption eines Prosatextes und derjenigen einer Inszenierung thematisiert Weiss gelegentlich die hierzu erforderlichen zeitgeschichtlichen Vorkenntnisse der Rezipienten. Dies geschieht meist, indem sich der Autor mit Vorwürfen seitens der Kritik auseinandersetzt, daß seine Dramen ein zu großes zeitgeschichtliches Vorwissen voraussetzten, um von einem breiteren Publikum überhaupt adäquat aufgenommen zu werden. 127
2.3.2
Der Rezeptionsverlauf
Ähnlich wie die Reflexionen von Weiss zu den Rezeptionsbedingungen erweisen sich auch diejenigen zum Rezeptionsverlauf als nicht eben zahlreich und lassen sich kaum systematisieren. Weiss strebt eine möglichst intensive Beschäftigung des Publikums mit dem Drama an. Dabei geht es dem Autor insbesondere in den Dokumentarstücken jedoch nicht um eine Identifikation des Publikums mit dem 125
P. Weiss: "Vorbemerkungen zur Dramatisierung des Buchs 'Der Prozeß' von Kafka"
126
Vgl. zur Umsetzung der subjektiven Erlebniswelt des Romans in konkrete Buhnenaktion
( 1 9 7 4 ) [W Bd.6, S.265], ebd., S.264. 127
Vgl. etwa P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.804.
Künstler und Publikum
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Bühnengeschehen, sondern um die aktive und kritische Auseinandersetzung mit den Positionen des durch das Stück dargestellten Diskurses. Er schreibt in den "Notizen zum dokumentarischen Theater": Auch kann das dokumentarische Theater das Publikum in die Verhandlungen einbeziehen, wie es im wirklichen Prozeßsaal nicht möglich ist, es kann das Publikum gleichsetzen mit den Angeklagten oder den Anklägern, es kann es zu Teilnehmern einer Untersuchungskommission machen, es kann zur Erkenntnis eines Komplexes beitragen oder eine widerstrebende Haltung aufs äußerste provozieren. 1 2 8
Dieser Einbezug des Publikums besteht also in einem Mitdenken des Publikums und einer entsprechenden Rückkoppelung zum Bühnengeschehen während der Auffuhrung. Eine Unterbrechung des Stückes durch eventuelle Diskussionseinlagen oder ähnliches gestattet Weiss jedoch prinzipiell nicht. 129 Weiss ist sich der Tatsache durchaus bewußt, daß ein solcher Rezeptionsverlauf, wie er ihn hier schildert, mehr ein Ideal darstellt als daß er der tatsächlichen Rezeption entspricht. So sah sich doch der Autor oftmals heftiger Kritik und Ablehnung seiner Stücke schon während der Inszenierung ausgesetzt: "Auseinanderklaffen zwischen Bühne und Zuschauerraum, nichts vorhanden von Austausch, Gegenseitigkeit, kein Lebenspuls, nur das Abrollen einer programmierten Maschinerie, kreischend, knirschend, jeglichen Sinnes bar, ihr gegenüber tobendes Meer, kollektive Zerstörungswut" 130 . Selbst für den Fall, in dem der Rezeptionsverlauf dem geschilderten Ideal entspricht, schätzt Weiss die Konsequenzen der Rezeption für das gesellschaftliche und politische Verhalten der Zuschauerschaft eher gering ein. Dies mag daran liegen, daß auch Weiss erkannt hat, daß die Kenntnis verschiedener Argumente oder Positionen die politische, soziale oder auch moralische Überzeugung eines Menschen nicht notgedrungen zu ändern vermag. "Das Theater selbst kann die Gesellschaft nicht verändern. Das ist unmöglich. Die beste Wirkung, die ich erhoffen kann, ist, daß ein Stück Anlaß gibt zum Weiterdenken." 131 Daß ein solches Weiterdenken des Zuschauers schließlich dann doch auch Anlaß sein möge für gesellschaftliches Engagement und soziale Veränderungen, bleibt - bei aller eigenen
128 129 130 131
P. Weiss: "Notizen zum dokumentarischen Theater" (1968) [Rapporte 2, S. 100f.]. Vgl. P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.703 und S.709. Ebd., S.705. P. Weiss in einem Interview der Zeitschrift "Der Spiegel" (1968) [Peter Weiss im Gespräch, S.145], - Vgl. I. Schmitz (1981), S.39-41.
196
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Skepsis gegenüber der Wirkungskraft seiner Stücke - der unausgesprochene Traum des Autors. 132
132
So träumt der gesellschaftlich engagierte Dramatiker Weiss daneben auch von einer entsprechend geänderten "gesellschaftlichen Situation", in der "das Publikum, aus eigenem Willen, aus Vergnügen am Theater, sich mit der Darbietung konfrontiert" ("Notizbücher 1960-1971", S.712).
3. Sprache 3.1 Die Charakterisierung von Figuren Eine sprachliche Charakterisierung der Bühnenfiguren durch die Entwicklung eines figurentypischen Idioms nimmt Weiss in den Dokumentarstücken nicht oder nur sehr eingeschränkt vor. So erläutert Weiss im Gespräch mit E. Schumacher 1965 die sprachliche Gestaltung der einzelnen Figuren in seinen Dokumentarstücken etwa folgendermaßen: Die Figuren "brauchen auch gar keine individuell ausgeformten zu sein, sondern sie können Sprachrohre sein für bestimmte Anschauungen" 133 . Und im Gespräch mit S. Axelsson formuliert Weiss 1967 zum "Viet Nam Diskurs": "Dort versuche ich, das weiterzuentwickeln, womit ich im Auschwitz-Stück begonnen habe: durchgehend anonyme Figuren, die Erfahrungen wiedergeben, die viele Menschen gemacht haben. Sie sind Sprachrohr für viele Menschen. Ihr Persönlichkeitsbild ist widersprüchlich, denn sie haben keine abgeschlossene Persönlichkeit." 134 Statt der Charkterisierung einer einzelnen Person strebt der Autor in den Dokumentarstücken die Darstellung bestimmter Positionen eines sozialgeschichtlichen Diskurses an. Die Sprechpassagen der einzelnen Figuren, die im Stück diese Positionen vertreten, sind dabei weitgehend aus verschiedenen bearbeiteten Textteilen historischer Quellen zusammengesetzt. Dabei wird auf die Entwicklung eines figurentypischen Idioms verzichtet, um die Darstellung der diskursiven Position nicht zu verfälschen und nicht von dem dargebotenen Argument abzulenken 135 . Entsprechend entwickelt der Autor sogar die Idee eines Dramas, in dem gar keine Figuren auftreten, sondern nur Figurengruppen: "Ich kann mir auch ein Drama denken, in dem nur Ideen zur Sprache kommen und nur Kräfte gegeneinander stehen als Gruppen und Chöre. Es 133 134 135
P. Weiss im Gespräch mit E. Schumacher (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.91], P. Weiss im Gespräch mit S, Axelsson (1967) [Peter Weiss im Gespräch, S.125]. Vgl. dazu u.a.: E. Salloch (1972), S.139; F. Müller (1973), S.72-78; M. Haiduk (1977), S. 144-147 und S. 180; I. Schmitz (1988), S.41. Einige Autoren weisen auf individualisierende Züge in der sprachlichen Gestaltung der Figuren in der "Ermittlung" hin, so zum Beispiel R.C. Perry (1969), S.834f.; K.H. Hilzinger (1976), S.94f.; H. Motekat (1977), S.81.
198
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braucht ja nicht alles immer ein naturalistisch-individualisierendes Theater zu sein."136 Ein solches Drama schließt eine individualisierende sprachliche Charakterisierung von Figuren aus. Dabei bleibt offen, ob hierin zwar nicht einzelne Figuren, so doch aber die verschiedenen diskursiven Positionen jeweils eine sprachliche Charakterisierung durch den Autor erhalten können. In denjenigen Dramen, die den Dokumentarstücken zeitlich zuvorgehen oder folgen, nimmt Weiss im Unterschied zu diesen durchaus sprachliche Charakterisierungen von Figuren vor, damit "sie nicht alle die gleiche Sprache sprechen, nämlich die Sprache des Schreibers" 137 . Dies gilt auch oder gerade dann, wenn er sich bei der Gestaltung einer Figur überlieferter Äußerungen der entsprechenden historischen Persönlichkeit bedient. Die sprachlichen Charakteristiken seiner verschiedenen Dramenfiguren erläutert Weiss selbst lediglich unsystematisch und unvollständig anhand jeweils verschiedener sprachlicher Besonderheiten. So nennt er beispielsweise phonetisch-phonologische Merkmale in der Sprechweise während der Inszenierung (etwa bei Marat 138 ), orthographische Besonderheiten im schriftlichen Dramentext (Hölderlin 139 ), dialektale Merkmale (Hölderlin 140 oder Lenin 141 ), soziolektale Besonderheiten (Stalin142 oder Lenin 143 ) oder stilistische Besonderheiten im allgemeinen (beispielsweise bei de Sade144, Roux145 oder Hegel 146 ). Explizite Angaben zur Syntax oder zum Wortschatz der Figuren finden sich nicht. Solche Stilelemente, die traditionellerweise dem literarischen Sprachgebrauch zugeschrieben werden, vermeidet Weiss eigenen Angaben zufolge: "Ich versuche, alle Poesie, alle schönen Worte, alle Metaphern, alle Symbole wegzulassen, um die Sprache selbst so einfach wie möglich zu machen." 147 Diese Vereinfachung der Sprache, so etwa in der "Ermittlung", wird oft auf die Bearbeitungstechnik des Autors, möglichst typische Aussagen aus den dem Dokumentarstück zugrunde gelegten Quellentexten 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147
P. Weiss im Gespräch mit E. Schumacher (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.92], P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.258. Ebd., S.l 18 und S.211. P. Weiss im Gespräch mit P. Roos (1978) [Peter Weiss im Gespräch, S.229], Ebd., S.229. P. Weiss: "Notizbücher 1971-1980", S.605. Ebd., S.374. Ebd., S.605. P. Weiss: "Notizbücher 1960-1971", S.l 18. Ebd., S . l 2 4 und S.l29. P. Weiss: "Nachbemerkung" (1971) zu "Hölderlin" [W Bd.6, S.416], P. Weiss im Gespräch mit S. Axelsson (1967) [Peter Weiss im Gespräch, S.121]; vgl. "Notizbücher 1960-1971", S.255. - Vgl. neben den bekannten Weiss-Monographien z.B. P. Demetz (1970), S.155; H. Motekat (1977), S.81.
Sprache
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herauszuarbeiten, zurückgeführt 148 . Als ein wesentliches Merkmal dieser Vereinfachung wird von verschiedenen Autoren die Tendenz zu einem parataktischen Satzbau angegeben 149 . Auf Rhythmisierungen und Versifizierungen sowohl in den früheren und späteren Dramen als auch in den Dokumentarstücken des Autors wird im Zusammenhang mit deren sprachlichen Merkmalen jedoch ebenfalls verschiedentlich hingewiesen 150 . - Es zeigt sich also, daß die von Weiss angestrebte Vereinfachung der Sprache in den Dokumentarstücken vor allem in einer Entidiomatisierung der Figuren und einer Tendenz zur Parataxe besteht. Diese Vereinfachung der Dramensprache auf der Ebene der Syntax und im Bereich des Stils ist insofern bemerkenswert, als ihr jedoch mit der Verarbeitung des dokumentarischen Materials auf der Ebene des Textes und der damit verbundenen Rhythmisierung und Versifizierung durchaus komplexe sprachliche Strukturen entgegengestellt werden. Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Sprachkonzeption des Autors wider. Während die genannten (Teil-)Textkomplexe von Weiss zu verschiedenen Gelegenheiten Gegenstand seiner Erörterungen sind und dabei intensiv wie auch mehr oder weniger systematisch durchdacht werden, finden sich dagegen zu solchen sprachlichen Vereinfachungen kaum Äußerungen des Autors, die ein tieferes Verständnis ermöglichen.
3.2 Die Gestaltung der Dialoge und Monologe Das dokumentarische Theater hat nach Weiss wie bereits erläutert die Aufgabe, zeitgeschichtliche Ereignisse und deren Diskurse bzw. argumentative Positionen darzustellen und dabei zu verdeutlichen. Entsprechend konzipiert der Autor die Funktion der Dialoge eines Dokumentarstücks als diskursive Gegenüberstellung, d.h. als argumentatives Wechselspiel solcher Positionen 151 . Dies erläutert der Autor beispielsweise anhand der "Ermittlung": "Hier ist die Szenenfassung völlig auf das Wort gestellt und fast statisch; alles liegt nur im Dialog, und das Wort muß so stark wirken, daß 148
Vgl. etwa R.Perry (1969), S.836.
149
Vgl. E. Sali och (1972), S.135f.; K. Braun (1977), S.88.
150
Vgl. etwa zu "Ermittlung" neben den bekannten Monographien R. Perry (1969), S.834836; E. Salloch (1972), S.133f.; K. Braun (1977), S.93.
151
E. Salloch vertritt die Auffassung, daß der Austausch solcher Positionen
in der
"Ermittlung" keine dialogische Struktur aufweise, da die "gegnerischen Seiten nie zueinander sprechen"; vgl. E. Salloch (1972), S. 130. - Zur Gestaltung der Dialoge oder Darlegungen verschiedener Positionen in der "Ermittlung" vgl. z.B. auch M Haiduk (1977), S.144 und S.166; K. Braun (1977), S.93.
200
Peter Weiss
im Zusammenprall von Worten, von Frage und Antwort, die ganze Dramatik liegen muß.'" 52 Weiterführende Erläuterungen des Autors finden sich hierzu nicht. Ein solches Wechselspiel von Argumenten, wie es also innerhalb der Dokumentarstücke angestrebt wird, versucht Weiss bereits im Marat/SadeDrama zu erzielen. Dort treten Marat und de Sade als argumentative und dialogische Gegenspieler auf 5 3 , und Weiss läßt de Sade zum Ende des Dramas hin behaupten: Es war unsre Absicht in den Dialogen Antithesen auszuproben und diese immer wieder gegeneinander zu stellen um die ständigen Zweifel zu erhellen Jedoch finde ich wie ichs auch dreh und wende in unserm Drama zu keinem Ende 1 5 4
Ein interessanter Aspekt tritt dabei in der Auseinandersetzung von Weiss mit der dramentheoretischen Position de Sades auf. Weiss erkennt hierin ebenfalls das Bestreben, gegensätzliche Positionen einander gegenüberzustellen; im Falle de Sades handelt es sich hierbei jedoch nach Weiss nicht allein um die Gegenüberstellung argumentativer Antithesen, sondern auch um die Konfrontation von Begrifflichkeit und Sinnlichkeit, d.h. um eine Dramaturgie, "in der analysierende und philosophische Dialoge gegen Szenerien körperlicher Exzesse gestellt werden."155
152
153
154 155
P. Weiss im Gespräch mit W. Girnus und W. Mittenzwei (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.74]; vgl. P. Weiss im Gespräch mit E. Schumacher (1965) [Peter Weiss im Gespräch, S.89], Es wurde Weiss wiederholt vorgeworfen, sowohl mit der sprachlichen Gestaltung der Figuren selbst als auch durch deren dialogische Position, in der de Sade die Rolle des Spielleiters eines Stückes über Marat einnimmt, der Figur de Sades ein stärkeres Gewicht zu geben als der Marats. Dies hat dann Weiss wie oben in Kap.2.1.3. gezeigt zu einigen Textänderungen des Dramas veranlaßt. Vgl. dazu etwa P. Schneider (1964), S. 131 f. und S.135; K. Braun (1967), S.140; M. Durzak (1972), S.269-272; F. Müller (1973), S.22-31; R. Nägele (1975), S.151-153; M. Haiduk (1977), S.83-88 und S.102; R. Cohen (1992), S.125-133. - Auch in diesem Drama scheint (wie in der "Ermittlung") die Gegenüberstellung der Positionen verschiedener Figuren nicht dialoghaft zu erfolgen, da es zu keinem Meinungsaustausch zwischen Marat und de Sade in Form einer Wechselrede kommt; vgl. L. Lamberechts (1968), S.143-151. P. Weiss: "Marat/Sade" (1964) [W Bd.4, S.253], P. Weiss: "Anmerkungen zum geschichtlichen Hintergrund unseres Stücks" 1963 [W Bd.4, S.267],
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
1. Text und Inszenierung 1.1 Gesamtgestaltung des Dramas Die Komödien Friedrich Dürrenmatts, die Sprech- sowie die anderen Stücke Peter Handkes und die dokumentarischen Dramen von Peter Weiss unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Gestaltung sowohl unter kommunikationstheoretischen als auch unter gattungstypologischen Gesichtspunkten erheblich. Diese Unterschiede lassen sich anhand der Kriterien des Bestehens oder Nichtbestehens einer Figurenhandlung und der quellenfreien oder quellenverarbeitenden Textproduktion festmachen. So stellen die Dramen Dürrenmatts im Vergleich zu denen der beiden anderen Autoren diejenigen dar, welche der tradierten dramatischen Norm am ehesten entsprechen; denn sie weisen jeweils auf der Ebene des Textes bzw. der Inszenierung eine mehr oder weniger abgeschlossene Handlung von Figuren auf, deren Verlauf vom Autor mehr oder weniger frei erfunden und (weitgehend) ohne Verarbeitung historischer Quellentexte im Dramentext selbst gestaltet wurde. Im Gegensatz hierzu weisen die Sprechstücke sowie die auf diese folgenden Szenarien Handkes auf der Text- bzw. Inszenierungsebene keine oder allenfalls eine rudimentäre Handlung auf; auch hier sind keine oder lediglich ansatzweise Quellentexte verarbeitet. Die Dokumentarstücke von Peter Weiss hingegen zeichnen sich zwar durch eine solche Handlung von Figuren aus; diese Handlung ist jedoch vom Autor nicht frei erfunden und gestaltet, sondern stellt das Ergebnis einer Verarbeitung von überliefertem Quellenmaterial aus der Sicht des Autors zeitgeschichtlich relevanter Ereignisse im Text des Dramas selbst dar; dies gilt mit Einschränkungen auch für diejenigen Dramen des Autors, die den eigentlichen Dokumentarstücken vorangehen bzw. auf diese folgen. Dies läßt sich nun mit der folgenden synoptischen Darstellung veranschaulichen:
204
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Dürrenmatt
Handke
Weiss
besteht
besteht nicht
besteht
quellenfrei
quellenfrei
quellen-
Figurenhandlung im Drama Textproduktion hinsichtlich historischer
verarbeitend
Quellen Tab.3:
Dramencharakteristika bei Dürrenmatt, Handke und Weiss
Mit dieser groben Charakterisierung sind die möglichen Differenzierungen zwischen den Dramen dieser drei Autoren selbstverständlich nur unzulänglich erfaßt. Und dennoch spielen gerade die Kriterien der Figurenhandlung und der Textproduktion hinsichtlich der Verarbeitung historischen Quellenmaterials, die hier zunächst allein zur Abgrenzung der drei dramaturgischen Positionen herangezogen wurden, bei der metakommunikativen Dramenreflexion der Autoren selbst eine entscheidende Rolle. Denn es ist auffallig, daß Weiss insbesondere die Auswahl und die Verarbeitung von dokumentarischem Material diskutiert, und Handke eine Alternative zum Fehlen einer Figurenhandlung theoretisch entwickelt. Dürrenmatt hingegen schweigt zu diesen beiden Punkten bzw. erläutert örtlich nur Einzelfalle, die in diesem Zusammenhang nur wenig ergiebig sind. Dies läßt sich unter anderem durch die Annahme erklären, daß jeder der drei Autoren über ein mehr oder weniger ausgeprägtes Normbewußtsein hinsichtlich der Gestaltung eines Dramentextes verfügt und gerade an denjenigen Teilen seiner Dramaturgie Erläuterungsbedarf erkennt, die von dieser Norm tendenziell abweichen. Demzufolge kann also eine quellenfreie bzw. quellenarme Ausarbeitung eines Dramentextes mit Figurenhandlung (Dürrenmatt) wie bereits angedeutet gerade auch aus der Sicht der Autoren als historische Dramennorm, dagegen eine quellenfreie Gestaltung ohne Figurenhandlung (Handke) oder eine quellenverarbeitende Textkonstitution mit Figurenhandlung (Weiss) als Abweichung von dieser Norm und somit als (historisch bestimmte) Textgattungsdeviation interpretiert werden. Handkes Reflexion der dramatischen Gesamttextgestaltung erfolgt sowohl negativ als auch assertiv 1 . Der Autor weist zum einen wiederholt darauf hin, daß seine Dramen von der angenommenen Norm der Dramentextgestaltung abweichen, da in diesen Dramen keine Handlungen zwischen den Figuren des Stückes dargestellt werden. Zum anderen erläutert er
Vgl. S.107-113.
Text und Inszenierung
205
ausgiebig seine AItemativkonzeption, die in der Darstellung und Verdeutlichung menschlicher, insbesondere sprachlich-kommunikativer Handlungsweisen besteht. Es lassen sich bei Handke drei Typen einer solchen metakommunikativen Dramengestaltung unterscheiden, die alle vom Autor mehr oder weniger intensiv diskutiert werden. Das erste Verfahren ("Publikumsbeschimpfung") besteht in der direkten Wendung der Figuren, der sogenannten Sprecher, an das Publikum. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen Monolog oder ein zwischenzeitliches Beiseitesprechen aus einer Handlung heraus, so wie dies etwa aus dem epischen Theater Brechts bekannt ist, sondern vielmehr um einen Vortrag, der unmittelbar an das Publikum gerichtet ist und aus keiner Figurenhandlung heraus entspringt. Dies kann nun in Anlehnung an das Gattungsmodell der dramatischen Textinszenierung 2 nach Abb. 12 und Abb. 14 in einem Modell graphisch veranschaulicht werden. Dabei ist zu beachten, daß die Kommunikationsebene von Ensemble und Publikum unverändert bleibt, während auf der Ebene der Textinszenierung folgende Änderungen vorgenommen werden: Erstens entfällt die Kommunikation zwischen Figur A und Figur B, da zwischen diesen und weiteren Figuren des Stücks weder eine semiotische, noch eine nichtsemiotische Interaktion überhaupt stattfindet; zweitens werden die Figuren allein als Textproduzenten angesetzt, die den Text direkt an das Publikum richten (Rückkoppelungen der Sprecher werden von Handke in der "Publikumsbeschimpfung" explizit gemacht); drittens werden die Interpretation des Sprechertextes durch das Publikum sowie das gemeinsame Zeichensystem von Figuren und Publikum dem allgemeinen Gattungsmodell dramatischer Kommunikation entsprechend auf der Ebene von Ensemble (das die allein lokutiv agierenden Sprecher stellt) und Publikum berücksichtigt, womit die Textinterpretation und das Zeichensystem auf der Figurenebene selbst entfallen. Das Modell hat danach folgende Gestalt (Abb. 18):
Vgl. S.35-45. Eine Modellierung der Publikumsbeschimpfung auf der Kommunikationsebene von Autor und Leser ist, auch wenn Handke der Inszenierung des Sprech-Stückes eine größere Bedeutung beimißt als dem Text, prinzipiell ebenfalls möglich. Allein aus Praktikabilitätsgriinden wird hier wie auch in dem folgenden Fall zunächst darauf verzichtet.
206
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Kontext Kotext | E E
Kotext P
gemeisamer Kotext
Ensemble
Kontext P
Publikum Szenenkontext
Szenenkotext
Sprechergruppe
Rezipient der Kritik
metatheaterkommunikativer Sprechertext
Inszenierungskritik
7.SE
ZSG
Kritiker
ZSP
A b b . 18: E r s t e r T y p m e t a k o m m u n i k a t i v e r D r a m e n g e s t a l t u n g b e i H a n d k e (Publikumsbeschimpfung)
Da der Vortrag des metatheaterkommunikativen Sprechertextes nun nicht auf einer akademischen Veranstaltung stattfindet, sondern im Rahmen einer Theaterauffuhrung, deren Norm einer Handlungsdarstellung auf der Bühne hiermit eine erhebliche Abweichung erfährt, wird die Kommunikationssituation des Theaters, die in der Rezeption eines Bühnengeschehens durch ein Publikum besteht, auf sich selbst reduziert bzw. zurückgeführt. Bemerkenswerterweise thematisiert nun der Sprechertext gerade diese kommunikativen Verhältnisse des Theaterereignisses selbst und verleiht dem Stück damit nicht allein implizit, sondern darüber hinaus auch explizit metatheaterkommunikativen Charakter; die zahlreichsten und differenziertesten Überlegungen des Autors zu diesem Verfahren stammen denn auch aus dem Stück "Publikumsbeschimpfung" selbst. Das zweite Verfahren metakommunikativer Dramengestaltung bei Handke besteht in einer Verwendung von Zeichen durch die Figuren ohne eine unmittelbare kommunikative Funktion, weder auf der Figurenebene, noch als Wendung zum Publikum. Erreicht wird diese Akommunikativität des Gebrauchs (sprachlicher) Zeichen etwa durch eine Reihung tautologischer Sätze (Weissagung) oder durch künstlich erzeugte Widersprüche (Selbstbezichtigung). Diese in den sogenannten Sprechstücken vorgeführten bzw.
Text und Inszenierung
207
spielerisch transformierten Sprachhandlungsmuster entsprechen in der Regel tradierten Wendungen oder Textsorten insbesondere der sprechsprachlichen Alltagskommunikation. Auch bei diesen Sprechstücken liegt nun aufgrund der unmittelbaren Akommunikativität der Sprachverwendung eine extreme Deviation hinsichtlich der Norm dramatischer Textgestaltung vor, welche die Rezeption des entsprechenden Stücks durch das Publikum auf dessen Gestaltung bzw. auf die Kommunikationsbedingungen, unter denen dieses rezipiert wird, selbst lenkt. Graphisch läßt sich dies im Vergleich zu Abb. 18 dadurch darstellen, daß auf den Pfeil, der vom Sprechertext zum rezipierenden Publikum weist, verzichtet wird, da es sich hier um keinen Zeichengebrauch mit einer unmittelbar erkennbaren Handlungsintention (wie etwa der Erläuterung der Kommunikationssituation im Theater) handelt (Abb. 19):
ZSE
ZSG
ZSP
Abb.19: Zweiter Typ metakommunikativer Dramengestaltung bei Handke (Sprechstücke)
Handkes drittes und in den auf die Sprechstücke folgenden Dramen angewandtes Verfahren metakommunikativer Dramengestaltung schließlich besteht in der Hervorhebung sprachlich-kommunikativer Handlungsweisen innerhalb einer Szenerie bzw. einer rudimentären Handlung auf der Figurenebene selbst. Hierbei werden diese sprachlich-kommunikativen Handlungsmuster in ihrer genuinen Funktionalität vorgeführt, jedoch ohne in eine darüber hinausreichende Dramenhandlung eingebettet zu sein. Dieses Verfahren nun entzieht sich einer Darstellung in Analogie zu dem
208
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
mit Abb. 18 und Abb. 19 skizzierten Modellen; dies hat seinen Grund in der Gestaltung des Gattungsmodells dramatischer Kommunikation selbst, in dem die semiotische Interaktion auf der Ebene der Figuren mit einer bidirektionalen Kommunikation durch zwei Repliken nur stark vereinfacht und verkürzt dargestellt wird und daher keine Differenzierungen hinsichtlich der Quantität und Qualität der semiotischen Interaktion erlaubt. Handkes eigene dramentheoretische Reflexionen zu dieser Verfahrensweise sind insbesondere unter quantitativem, aber auch unter qualitativem Gesichtspunkt als eher spärlich einzuschätzen. Die Dramengestaltung der sogenannten Dokumentarstücke von Peter Weiss 3 ist insbesondere durch die Verarbeitung historischen Textmaterials gekennzeichnet. Der Autor selbst unterscheidet hierbei zunächst zwischen der Auswahl des geeigneten Textmaterials und der darauf folgenden Bearbeitung dieses Materials im Dramentext. Als Kriterium für die Textauswahl wird vom Autor die historische Authentizität des Materials angegeben. Eine Erläuterung, worin diese Authentizität besteht und wie diese bestimmt werden kann, bleibt jedoch aus; eine Begründung hierfür kann allenfalls aus dem politisch-ideologischen Hintergrund des Autors abgeleitet werden. Hinsichtlich der Bearbeitung des Textmaterials können in Anlehnung an Weiss zwei Bearbeitungsschritte unterschieden werden. Der erste besteht in der Bildung von Teiltexten; als Kriterium gilt hier die Allgemeingültigkeit und historische Signifikanz der entsprechenden Teiltexte, die mit diesem Schritt aus ihrem wiederum aus der Sicht des Autors redundanten Kotext herausgelöst werden. Der zweite Bearbeitungsschritt besteht nun in der Zusammenftigung der gewonnenen Teiltexte zu einem neuen Gesamttext, dem Drama selbst; der Autor unterscheidet hierbei wiederum verschiedene Techniken, welche die Gestaltung eines verhältnismäßig stark strukturierten und stark funktionalisierten Dramentextes ermöglichen. Der Autor weist in diesem Zusammenhang selbst auf das Problem hin, daß angesichts dieser starken Eingriffe in das historische Textmaterial terminologisch nur schwer von einer Dokumentation, d.h. von einer Objektivität beanspruchenden Präsentation einer Textauswahl, gesprochen werden kann; auch hier bleibt der Autor eine befriedigende Erklärung schuldig und verweist wiederum lediglich auf den ideologischen Hintergrund seiner Arbeit. - Die graphische Darstellung dieser Bearbeitung historischen Textmaterials durch den Autor im Dokumentarstück selbst macht nun eine Erweiterung des Gattungsmodells dramatischer Kommunikation
Vgl. S . 1 5 5 - 1 6 8 .
T e x t u n d Inszenierung
209
im Bereich des Kotextes von Autor und Rezipient erforderlich 4 . Diese Erweiterung besteht zum einen darin, innerhalb des Kotextes des Autors, des Kotextes des Lesers sowie innerhalb von deren gemeinsamen Kotext jeweils explizit einen entsprechenden Teilkotext historischen Textmaterials (historischer Teilkotext) anzusetzen; darüber hinaus wird hier die Textbearbeitung des historischen Teilkotextes des Autors, deren Ergebnis der Dramentext selbst darstellt, eingefugt. Hieraus ergibt sich dann folgende Darstellung (Abb.20): Kontext A
gemeinsamer Kotext
Kotcxt A historischer Teilkotext A
T
Autor
gemeinsamer historischer Teilkotext
1
r
J
L
[Textbearbeitung]
Hauptkotext At
Nebentext At
Figur als Produzent At
Kotext L
4
gemeins. llauptkotext
Text At
Figur als Rezipient At
• ZSAt
Rezipient der Kritik
^
ZSG
Ncbcnlcxt Bt
Leser
Figur als Rezipient Bt
•
Figur als Produzent Bt
ZSBt Kritiker
Textkritik ZSA
L
historischer Teilkotext L
Hauptkotext Bt
Text Bt
ZSGt
Kontext
ZSL
A b b . 2 0 : D o k u m e n t a r i s c h e D r a m e n g e s t a l t u n g bei W e i s s
Der Ansatz dreier Verfahren metakommunikativer Textgestaltung bei Handke sowie die Unterscheidung verschiedener Schritte der Bearbeitung historischen Quellenmaterials in der dokumentarischen Dramengestaltung bei Weiss lassen sich nun unter dem Gesichtspunkt der Abweichung von 4
A u f die Darstellung der K o m m u n i k a t i o n s e b e n e v o n E n s e m b l e u n d P u b l i k u m wird hier z u n ä c h s t verzichtet.
210
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
der tradierten Norm der Dramengestaltung in folgender Tabelle zusammenfassen (Tab.4):
Normabweichung
Dürrenmatt
Handke
Weiss
[keine (hinsichtlich
Verfahren meta-
Textbearbeitungs-
in der Gestaltung
Figurenhandlung
kommunikativer
schritte d o k u m e n -
des dramatischen
und Quellenbe-
Textgestaltung:
tarischer Dramen-
Gesamttextes
arbeitung)]
1. W e n d u n g an das
gestaltung:
Publikum
1.
A u s w a h l des
(Publikums-
historischen
beschimpfung)
Teilkotextes
2. akommunikativer Zeichengebrauch (Sprechstücke) 3. Hervorhebung
2.1 Bildung v o n Teiltexten 2.2 Zusammenfüg u n g der Teiltexte z u m
kommunikativer
dramatischen
Handlungswei-
Gesamttext
sen (Szenarien) Tab.4:
Reflexion der Gesamttextgestaltung
1.2 Aussage und Funktion des Dramas Die Erörterungen von Dürrenmatt, Handke und Weiss zu Aussage oder Funktion ihrer Dramen sind in zweifacher Hinsicht heterogen. Zum einen, und dies gilt insbesondere für Dürrenmatt und Weiss, finden sich bei den Autoren selbst verschiedenartige, einander widersprechende Konzeptionen; zum anderen sind diese Konzeptionen zwischen den Autoren aufgrund der spezifischen Unterschiede ihrer entsprechenden Dramaturgien nur bedingt vergleichbar. Auch hier kommt den oben genannten Dramenspezifika der drei Autoren eine besondere Bedeutung zu. Aus Dürrenmatts sehr verstreuten und unsystematischen Überlegungen zur Aussage seiner Dramen lassen sich mindestens drei verschiedene, werkgeschichtlich nicht differenzierbare Positionen erschließen. 5 All diesen Positionen ist gemeinsam, daß sie keine unmittelbare, sondern allenfalls eine mittelbare Aussage des Dramas ansetzen. Nach Dürrenmatts erster Position liegt die Dramenaussage auf einer (nicht näher bestimmten) Ebene
Vgl. S.62-66.
Text und Inszenierung
211
außerhalb des Dramas selbst und besteht in einer wie auch immer gearteten allgemeinen Einsicht, die aus der exemplarischen Darstellung eines Ausschnittes einer möglichen Welt in dem betreffenden Stück abgeleitet werden kann. Dürrenmatts Angaben hierzu sind ausgesprochen vage; seinen Beispielen zufolge ist dieser Typ von dramatischer Aussage oder Funktion nicht im Sinne einer Konnotation des Gesamtwerkes, sondern vielmehr als signifikante Manifestation des entsprechenden soziokulturellen Diskurses (etwa der antiken Komödie) zu interpretieren. Dürrenmatts zweite Position kommt der These, daß die Aussage eines Dramas in einer Konnotation des dramatischen Gesamtwerkes bestehe, näher; doch ist auch dieser Position zufolge die Dramenaussage nicht unmittelbar bestimmbar, sondern entzieht sich vielmehr einem wie auch immer gearteten sprachlichen Resümee. Der dritten Position Dürrenmatts nach weist ein Drama schließlich gar keine Aussage (weder im Sinne einer Diskursexemplifizierung noch als unbestimmbare Konnotation) auf; seine Funktion besteht danach lediglich in der Darstellung eines Ausschnittes einer möglichen Welt, d.h. eines sogenannten Stoffes, wobei für den Autor insbesondere menschliche Handlungen von Interesse sind. Im ganzen läßt sich hinsichtlich Dürrenmatts Überlegungen zu Aussage und Funktion seiner Dramen festhalten, daß diese kaum eine Systematisierung und nur einen geringen theoretischen Durchdringungsgrad aufweisen. Anders verhält es sich diesbezüglich bei Handke, der das Problem der Dramenaussage und -funktion zu verschiedenen Gelegenheiten intensiv diskutiert und dabei den drei zu unterscheidenden Dramengestaltungstypen eine gemeinsame Funktion zuweist. 6 Diese besteht wie bereits erläutert jeweils in der Darstellung und Verdeutlichung menschlicher, insbesondere sprachlicher Handlungsweisen; dabei behauptet der Autor selbst, daß seine Dramen keine Aussage (im Sinne einer über das Drama hinausweisenden, konnotativen Bedeutung) besitzen. Diese metakommunikative Funktion der Dramen, die von Handke durch den Einsatz von mindestens drei verschiedenartigen dramatischen Gestaltungsweisen erreicht wird, läßt sich (durchaus im Sinne des Autors) dahingehend differenzieren, daß hier sowohl eine metatheaterkommunikative als auch eine metasprachkommunikative Teilfunktion der Stücke unterschieden wird. Die metatheaterkommunikative Teilfunktion wird durch die Verdeutlichung der Kommunikationssituation des Theaters mit dem Fehlen einer dramatischen Handlung und entweder durch einen metatheaterkommunikativen Vortrag (Publikumsbeschimpfung), durch einen akommunikativen Sprachgebrauch (Sprechstücke) oder 6
Vgl. S.113-120. Zu Handkes historischer Abgrenzung gegenüber anderen Arten der Dramengestaltung und -funktion vgl. S.120-125.
212
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
durch kommunikative Szenarien (spätere Stücke 7 ) der Figuren auf der Bühne erzielt. Die metasprachkommunikative Teilfunktion der Stücke ergibt sich aus der Darstellung von nicht allein für die Theaterkommunikation typischen sprachlichen Verhaltensweisen, sei es durch den Vortrag von bestimmten Mustern sprachlicher Wendungen (Sprechstücke) oder durch die Vorführung von sprachlichen Verhaltensweisen innerhalb eines darüber hinaus keine weitere Handlung zeigenden Szenariums (spätere Stücke). Handke weist explizit darauf hin, daß mit dieser metasprachkommunikativen Funktion seiner Stücke keine Gesellschaftskritik verbunden sein soll. Neben diesen beiden metakommunikativen Teilfunktionen setzt Handke bisweilen, insbesondere hinsichtlich der Sprechstücke, eine weitere Funktion seiner Dramen an. Diese besteht in der Erzeugung von Klangstrukturen, der wiederum die Aufgabe einer Kohärenzsicherung 8 des betreffenden (akommunikativen Sprech-) Stückes beigemessen wird. Auch Peter Weiss diskutiert das Problem von Aussage und Funktion seiner Dramen, insbesondere seiner Dokumentarstücke, sehr intensiv. 9 Im Gegensatz zu Handke wird diese Diskussion jedoch nicht zu einem Ende geführt; es können hier mindestens zwei verschiedene Positionen des Autors unterschieden werden. Die Problematik, um die die Überlegungen von Weiss dabei kreisen, besteht in dem methodischen Dilemma zwischen historischem Authentizitätsstreben in der Darstellung historischer Ereignisse auf der einen und zum Teil erheblichen Veränderungen des entsprechenden historischen Textmaterials bei der dokumentarischen Dramengestaltung auf der anderen Seite.10 Zur Auflösung dieses Dilemmas bieten sich, folgt man Weiss, zwei Wege an. Der erste besteht in der Annahme, daß die Bearbeitung des historischen Textmaterials dessen authentischen Aussagegehalt nicht verändere, sondern allein auf das Wesentliche konzentriere und inhaltliche Redundanzen aufhebe; die Funktion des Dokumentarstücks
Einige der späteren Stücke Handkes weisen auch andere, vom Autor nur wenig reflektierte Funktionen und Gestaltungsmuster auf, die sich tendenziell wieder an die dramatische Gestaltungsnorm anlehnen, und auf deren Diskussion daher verzichtet wird. Der Terminus Kohärenz wird hier hyperonym zu Kohäsion (im Sinne eins grammatischen Textzusammenhangs) und hyperosem zu Kohärenz (im Sinne eines semantischen bzw. thematischen Zusammenhangs) verwendet. Eine solche Klangstruktur kann - sieht man von dem Kriterium der Grammatikalität ab und betrachtet die formale Gestaltung des Werks im allgemeinen - auch als Mittel der Kohäsion in einem dazwischen liegenden Sinne interpretiert werden. Vgl. S.168-174. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Anlage der Dokumentarstücke nach dem Vorbild argumentativer Diskurse als (vom Autor selbst erkanntes) Spezifikum gegenüber Dokumentarstücken anderer Autoren hingewiesen.
T e x t und Inszenierung
213
besteht danach darin, eine authentische und dabei für den Rezipienten optimierte, da konzentrierte Gesamtaussage über das mit dem Drama thematisierte historische Ereignis zu gewährleisten. Angesichts der hohen interpretativen Leistung, die hier vom Dramenautor erbracht werden muß, erscheint diese Lösung jedoch aus kommunikations- und insbesondere aus rezeptionstheoretischer Sicht als wenig überzeugend. Der zweite Weg, der Weiss zufolge aus dem methodischen Dilemma der dokumentarischen Dramengestaltung fuhrt, besteht in der Annahme, daß die Bearbeitung des Quellenmaterials zwar dessen Aussagegehalt verändere, diese Bearbeitung bzw. Veränderung jedoch solchen Prinzipien folge, die eine historische Objektivität dieser Interpretation des Textmaterials durch den Autor dennoch gewähren; diese Prinzipien gewinnt Weiss aus seiner sozialistischen Weltanschauung. Aus kommunikationstheoretischer Sicht erscheint dieser Weg gangbar, aus geschichtsphilosophischer Sicht jedoch als problematisch, aus geschichtsphilosophiegeschichtlicher Sicht bereits als überholt. Peter Weiss scheint sich der Problematik beider Ansätze bewußt gewesen zu sein; zu einer Klärung des die gesamte Dokumentarliteratur betreffenden Problems konnte er wie gezeigt nicht beitragen. - Aus dem Streben nach Authentizität bzw. Objektivität der Dramenaussage lassen sich nun weitere, sekundäre Funktionen der Dokumentarstücke ableiten; der Autor selbst nennt etwa diejenige der politisch-historischen Aufklärung und Meinungsbildung (im Sinne der von ihm selbst vertretenen Ideologie) oder diejenige einer Kritik an der institutionalisierten (und diese Ideologie bekämpfenden) Medienlandschaft. Eine synoptische Zusammenfassung der Autorenreflexion von Dürrenmatt, Handke und Weiss zu Aussage und Funktion des Dramas führt nun zu folgender Tabelle (Tab.5):
214
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Aussage und Funktion des Dramas
Dürrenmatt
Handke
Weiss
Drei einander widersprechende Konzeptionen:
1. Ansatz von zwei metakommunikativen
1.
1. Aussage als Diskursexemplifizierung 2. Aussage als unbestimmbare Konnotation
Funktionen 1.1 metatheaterkommunikative Teilfunktion 1.2 metasprachkommunikative Teilfunktion 2. Erzeugung von Klangstruk-
3. Stoffdarstellung ohne Aussage
turen
Tab.5:
Unterscheidung zweier einander ausschließender Dramen-
funktionen: 1.1 konzentrierte, authentische Aussage 1.2 neuartige, objektive Aussage 2. Abgeleitete Funktionen: 2.1 Bildung 2.2 Medienkritik 3. Diskursive Anlage der Dokumentarstücke
Reflexion von Aussage und Funktion des Dramas
1.3 Das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung Hinsichtlich des Entsprechungsverhältnisses von Inszenierungstext und Textinszenierung differieren die Überlegungen von Dürrenmatt, Handke und Weiss sowohl quantitativ als auch qualitativ erheblich. Die ausfuhrlichsten und differenziertesten Angaben hierzu finden sich bei Friedrich Dürrenmatt. 11 Dieser weist wiederholt auf die Unterschiede von Text und Inszenierung hin und macht sowohl auf den Einsatz jeweils spezifischer Ausdrucksmittel bzw. Zeichentypen als auch auf die formale wie funktionale Variabilität der Inszenierung gegenüber dem Text aufmerksam. Dabei räumt der Autor der Inszenierung Vorrang gegenüber dem Text ein, da die Inszenierung als (einmalige) Konkretisierung der schriftlichen Fassung des Dramas auf der Bühne ein höheres Maß an Informativität und kommunikativer Leistungsfähigkeit gegenüber dem Rezipienten aufweist. Dieses Verhältnis zwischen der Inszenierung, die somit funktional als die primäre Erscheinungsform des Dramas interpretiert wird, und dem Text, der dieser hiernach lediglich als Vorlage dient und funktional also nur die
"
Vgl. S.53-59.
Text und Inszenierung
215
sekundäre Erscheinungsform des Dramas darstellt, macht Dürrenmatt wiederholt durch den bildhaften Vergleich mit dem Verhältnis zwischen einer musikalischen Partitur und einer Auffuhrung des betreffenden Werkes deutlich. 12 Danach entsprechen der schriftliche Haupt- und Nebentext des Dramas den Noten und Gestaltungsangaben der Partitur sowie die sprechsprachlichen und nonverbalen Elemente der Inszenierung dem durch Musikinstrumente interpretierend erzeugten Klangbild. - Die zahlreichen Äußerungen Dürrenmatts zu diesem Problemkreis sind nur wenig systematisch; die in ihnen formulierten Einsichten zeugen jedoch von einem ausgeprägt pragmatischen Textverständnis des Autors und nehmen (wenn auch unsystematisch und selbst wiederum unter Bezug auf andere historische Positionen) in den fünfziger und sechziger Jahren bereits Fragestellungen vorweg, die von Seiten der Kommunikationsforschung und Theaterwissenschaft erst mit den siebziger Jahren in vollem Umfang aufgeworfen wurden, und zu deren Beantwortung sie noch heute einen Beitrag leisten können. An dieser Bedeutung ändert auch die Tatsache nichts, daß sich die Überlegungen des Autors zum Verhältnis von Text und Inszenierung in dessen Spätphase, also etwa seit Mitte der siebziger Jahre, übersteigern, indem angesichts der hohen Variabilität der möglichen Inszenierungen gegenüber dem Text die Möglichkeit einer geeigneten Textvorlage, die eine Inszenierung im Sinne des Autors gewährleistet, überhaupt in Frage gestellt wird. Die Überlegungen von Peter Weiss zum Verhältnis von Text und Inszenierung sind im Vergleich zu denjenigen von Dürrenmatt ausgesprochen spärlich und lassen sich noch weniger systematisieren. Tendenziell wird aber auch bei Weiss der Textinszenierung als primärer Erscheinungsform des Dramas Vorrang gegenüber dem Inszenierungstext eingeräumt; dabei wird die Eigenständigkeit der Inszenierung als einem Allkunstwerk, an dessen Gestaltung eine Vielzahl von Kunstgattungen beteiligt sind, unterstrichen. Diese Einschätzung ist jedoch bei Weiss gerade im Rahmen der Diskussion der Dokumentarstücke im engen Sinne am schwächsten ausgeprägt; dies mag durch deren diskursiven Charakter 13 begründet sein. Von Handke schließlich wird das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung kaum reflektiert.' 4 Der Autor scheint dieser Problematik, wenn überhaupt, dann nur eine geringe Bedeutung beizumessen. Es darf hieraus jedoch nicht geschlossen werden, daß Handke die möglichen Differenzqualitäten einer Inszenierung gegenüber dem Text nicht doch auch schon in 12 13 14
Vgl. S.59-62. Vgl. Anm.10. Vgl. S.107-125
216
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
den sechziger Jahren, also bereits zu Beginn seines dramatischen Schaffens, zumindest ansatzweise theoretisch bewußt gewesen sein mögen; die geringe Reflexion des Autors zu diesem Bereich mag vielmehr aus einer gerade zu dieser Zeit noch allzu geringen Beschäftigung mit theaterpraktischen Fragestellungen und den damit verbundenen Problemen resultieren. Die tabellarische Zusammenfassung der Autorenreflexion zum Entsprechungsverhältnis von Inszenierungstext und Textinszenierung lautet folgendermaßen (Tab.6):
Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung
Dürrenmatt
Handke
Weiss
Differenzqualitäten
[Reflexion
der Inszenierung gegenüber dem
unzureichend]
Inszenierung als Allkunstwerk mit Vorrang gegenüber
Text bzgl.: 1. Zeichentyp 2. Varianz 3. 4. 5. 6.
Tab.6:
Konkretheit Einmaligkeit Informativität kommunikativer Leistung
dem Text (bei Dokumentarstücken eher schwach ausgeprägt)
Reflexion des Entsprechungsverhältnisses von Text und Inszenierung
2. Künstler und Publikum 2.1 Autor 2.1.1
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen
Dem dramatischen Schaffen der drei Autoren liegen jeweils, folgt man ihren Äußerungen, mehrere verschiedene Motivationen zugrunde. Dabei fallt auf, daß bei jedem der Autoren ein Hauptmotiv, das jeweils in engem Zusammenhang mit dessen entsprechender Dramaturgie steht, sowie einige andere, weniger typische Motive unterschieden werden können. So ist es für Dürrenmatt 15 zunächst einmal die Faszination am Theater, an der Arbeit mit dem Bühnenapparat und insbesondere mit den Schauspielern, die ihn zum Schreiben von Dramen veranlaßt. Indiz hierfür sind neben expliziten Bekenntnissen des Autors auch die zahlreichen Überlegungen, welche dieser gerade theaterpraktischen Problemen und dem Verhältnis von Text und Inszenierung widmet. Hehre Ziele, wie die Belehrung des Publikums, scheinen für Dürrenmatt wenn überhaupt, dann von weit untergeordneter Bedeutung zu sein; dies zeigt sich etwa auch in seiner Reflexion von Ausdruck und Funktion des Dramas. - Als Nebenmotive verweist DUrrenmatt örtlich auf ein (nicht näher bestimmtes) Ausdrucksbedürfnis oder auf die persönliche Veranlassung, auf bereits geschriebene Stücke wiederum eine dramatische Entgegnung zu richten. Handkes Äußerungen zu Motiven seiner eigenen Dramenarbeit sind spärlich. 16 Als Hauptmotiv seiner Arbeit kann wie gezeigt das Bestreben gelten, sprachliche und theaterspezifische Handlungsweisen darzustellen und zu verdeutlichen; hier können die zahlreichen Äußerungen des Autors zum metakommunikativen Charakter seiner Stücke als weiteres Indiz gelten. Als Nebenmotive Handkes können nach dessen eigenen Angaben erstens die wirkungsästhetische Motivation einer Befremdung des Publikums, zweitens die Faszination des Theaterapparates und der Umsetzung 15 16
Vgl. S.67-69. Vgl. S.126-129.
218
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
des Textes in eine Inszenierung sowie drittens die Dramenarbeit als Regulativ zur schöpferischen Isolierung während der Arbeit an anderen Werken (aufgrund der bei der Dramenproduktion erforderlichen Berücksichtigung des Theaterapparates und anderer äußerer Faktoren) genannt werden. Das Hauptmotiv des dramatischen Schaffens von Peter Weiss 17 stellt das Bestreben nach politisch-ideologischer Aufklärung dar, wobei der Autor dem Drama gegenüber anderen Literaturgattungen rezeptionsästhetische Vorteile beimißt; das Ringen des Autors um eine authentische bzw. objektive Darstellung historischer Ereignisse im Dokumentarstück unterstreicht dies. Daneben nennt Weiss wie die beiden anderen Autoren auch die Faszination der Theaterarbeit, insbesondere des Einsatzes verschiedenartiger Ausdrucksmöglichkeiten bzw. Zeichentypen auf der Bühne sowie der Möglichkeit einer Zusammenarbeit und eines gedanklichen Austausches mit anderen Künstlern. Die Haupt- und Nebenmotive für das dramatische Schaffen von Dürrenmatt, Handke und Weiss können nun synoptisch zusammengefaßt werden (Tab.7). Man muß sich jedoch angesichts dieses Befundes aus den eigenen Angaben der Autoren über die Motivationen ihres dramatischen Schaffens darüber im Klaren sein, daß hiermit die auslösenden Momente für die Dramenproduktion eines Autors nur unzureichend erfaßt sind, da gerade diese Motivationen nicht von jedem Autor, wenn sie ihm überhaupt bewußt sein sollten, der Öffentlichkeit in vollem Umfange preisgegeben werden wollen oder können.
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen
Dürrenmatt
Handke
Weiss
1.
1.
1.
Hauptmotiv: Faszination der Theaterpraxis 2. Nebenmotive: 2.1 Ausdrucksbedürfnis 2.2 dramatische Entgegnung
2.
Hauptmotiv: Metakommunikative Darstellung Nebenmotive:
2.1 Befremdung des Publikums 2.2 Faszination der Theaterpraxis 2.3 Regulativ eigener Arbeit
Tab.7:
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen
Vgl. S. 179-180.
Hauptmotiv: Politischideologische Aufklärung
2. Nebenmotive: 2.1 Ausdrucksmöglichkeiten 2.2 künstlerischer Austausch
Künstler und Publikum
2.1.2
219
Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen
Sieht man von dem Sonderfall ausgesprochener Lesedramen ab, so stellt ein Dramentext in der Regel eine schriftsprachlich fixierte Vorlage für eine Inszenierung auf der Bühne, mit der dieser unter Verwendung verschiedenartiger Kunstmittel konkretisiert wird, dar. Dies ist bei den Dramen von Dürrenmatt, Handke und Weiss ebenfalls, wenn auch jeweils mehr oder weniger stark ausgeprägt, der Fall. Unter diesen sind es insbesondere die Komödientexte Friedrich Dürrenmatts, die den Charakter von Spielvorlagen aufweisen, die von ihrer gesamten Anlage her auf die Transformation durch ein Ensemble im Rahmen einer Theateraufführung hin gestaltet sind. Und so verwundert es kaum, daß Dürrenmatt selbst zahlreiche Überlegungen zu seiner eigenen Dramenproduktion in Hinblick auf die spätere Inszenierung seiner Stücke anstellt und hierbei sowohl zwischen einer Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen des Theaters im allgemeinen als auch einer solchen der Schauspieler und des Publikums im besonderen unterscheidet. 18 Die Berücksichtigung der allgemeinen Aufführungsbedingungen bei der schriftlichen Dramenproduktion besteht für Dürrenmatt darin, die Textvorlage von vornherein so zu gestalten, daß sie ein möglichst hohes Maß an Spieibarkeit aufweist. Diese Spielbarkeit wird dadurch erreicht, daß der mögliche Gebrauch nichtsprachlicher und sprechsprachlicher Gestaltungsmittel auf der Bühne vom Autor bereits antizipiert wird, und die Repliken des Haupttextes sowie die Inszenierungsanweisungen des Nebentextes so gezielt und reduziert gefaßt werden, daß ein möglichst kreativer und bühnenadäquater Einsatz dieser Mittel durch das Ensemble erfolgen kann, welcher der Inszenierung dann den Charakter eines eigenständigen Bühnengeschehens und nicht einer bloßen Rezitation des Dramentextes verleiht. Der Autor ist danach also nicht bestrebt, die mit der Textinszenierung verbundene Konkretisierung des Inszenierungstextes in diesem selbst wie auch immer vorwegzunehmen, sondern strebt vielmehr an, mit dem Text lediglich Ansatzpunkte für eine solche Konkretisierung zu geben. Während der späteren Phase seines Schaffens treten bei Dürrenmatt jedoch vermehrt Zweifel auf, ob es angesichts der Variabilität und der damit verbundenen Unberechenbarkeit der Inszenierung überhaupt möglich sei, solche Ansatzpunkte von Seiten des Autors zu bestimmen; der Autor Dürrenmatt hebt
Vgl. S.69-78.
220
A u t o r e n m o d e l l e und Reflexion dramatischer K o m m u n i k a t i o n
damit das Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung auch aus produktionsästhetischer Sicht auf.19 An der Umsetzung des Dramentextes in eine Inszenierung ist Dürrenmatt zufolge der Schauspieler in besonderem Maße beteiligt. Der Autor betrachtet den Schauspieler als gleichberechtigten Partner bei der Dramenproduktion, da dieser mit der konkreten Ausgestaltung der Textvorlage auf der Bühne einen ebenso hohen Anteil an der Dramenproduktion habe wie der Autor selbst. Dürrenmatt macht entsprechend häufig darauf aufmerksam, daß die Berücksichtigung der Auffiihrungsbedingungen während der schriftlichen Gestaltung seiner Dramentexte insbesondere diejenige der nonverbalen wie sprechsprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Schauspielers mit einschließe. Neben der Berücksichtigung der Produktionsbedingungen der Inszenierung strebt Dürrenmatt auch eine Berücksichtigung von deren Rezeptionsbedingungen an. Diese erfolgt jedoch nach Angaben des Autors allein hinsichtlich des Publikums als abstrakter rezeptionsästhetischer Größe und besteht in verschiedenartigen Strategien der Rezeptionslenkung wie etwa der sogenannten Mausefallentechnik oder des gezielten Einsatzes von komischen Elementen, die vom Autor in der schriftlichen Textvorlage bereits angelegt werden, ihre Wirksamkeit auf den Rezipienten jedoch erst durch die Unmittelbarkeit und Kollektivität des Theaterereignisses in vollem Umfang entfalten. Eine Berücksichtigung des Publikums als konkreter, historisch bestimmter Zuschauermenge wird von Dürrenmatt nicht angestrebt; eine Problematisierung dieser Position, die hier angesichts der Einbettung von Autor und Publikum in einen gemeinsamen soziokulturellen Kontext erforderlich wäre, bleibt aus. Peter Weiss äußert sich zur Berücksichtigung der Auffiihrungsbedingungen während seiner schriftstellerischen Arbeit im Vergleich zu Dürrenmatt merklich verhaltener. 20 Zwar können dem Autor aufgrund seiner praktischen Bühnenerfahrungen durchaus fundierte Kenntnisse dieser Bedingungen unterstellt werden, wirkte er doch an einigen Inszenierungen seiner Stücke selbst intensiv mit; Überlegungen des Autors, inwiefern diese Kenntnisse in die eigene Arbeit einfließen, bleiben jedoch weitgehend aus. Weiss erklärt seine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft mit dem Ensemble und erhebt gleichfalls die Forderung nach einer Berücksichtigung der Bühnenbedingungen durch den Autor. Worin diese Berücksichtigung nun besteht, wird wiederum kaum erläutert; bemerkenswerterweise finden sich aber auch hier (durchaus mit der Position Dürrenmatts vergleichbare) 19
Vgl. S.80-83.
20
Vgl. S . 1 8 0 - 1 8 2 .
221
Künstler und Publikum
Hinweise auf einen eher zurückhaltenden Gebrauch von Angaben im Dramentext, welcher eine den Bühnenbedingungen angemessene Inszenierbarkeit dieses Textes gewährleisten soll. Es kann nun angesichts dieser Verhältnisse festgestellt werden, daß die Antizipation der möglichen Inszenierung während der Textproduktion für den Autor Weiss eine geringere Rolle spielt, als dies etwa bei Dürrenmatt der Fall ist; diese These läßt sich durch dessen Erläuterungen zur Funktion des Schauspielers, insbesondere hinsichtlich der diskursiven Anlage der Dokumentarstücke, erhärten. 21 Peter Handke schließlich scheinen derartige Überlegungen zur Textproduktion wenn nicht fremd, so doch zumindest nicht der eigenen Stellungnahme wert zu sein. Selbst verdeckte Äußerungen, aus denen entsprechende Angaben mittelbar erschlossen werden könnten, sind kaum auszumachen. Die synoptische Darstellung hat folgende Gestalt (Tab.8):
Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen durch den Autor
Dürrenmatt
Handke
Weiss
1. Produktionsästhetisch: Erreichen von Spielbarkeit durch Antizipa-
[keine Reflexion]
Forderung nach Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen mit
tion der Inszenierung und Reduktion des Textes, insbesondere hinsichtlich Schauspieler 2. Rezeptionsästhetisch: Strategien der Lenkung kollektiver und unmittelbarer Rezeption Tab.8: Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen
Vgl. S. 2 2 6 - 2 2 9 .
Hinweis auf Reduktion des Textes
222
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
2.1.3 Bearbeitungen des Dramentextes Sowohl von Friedrich Dürrenmatt als auch von Peter Weiss sind zahlreiche Bearbeitungen ihrer Dramentexte bekannt; dabei werden einzelne Texte zum Teil mehrmaligen Veränderungen unterworfen. Nach Dürrenmatt 22 sind solche Bearbeitungen aufgrund der Komplexität und Variabilität sowie der damit verbundenen Unberechenbarkeit der Auffuhrungsbedingungen auf der Bühne erforderlich, um die Textvorlage an diese Bedingungen immer weiter anzupassen. Dabei können dem Autor zufolge sowohl Textbearbeitungen, die bereits während der Proben vorgenommen werden, als auch solche, die erst wiederum als Reaktion auf vorangehende Zuschauerreaktionen im Anschluß auf einzelne Inszenierungen des betreffenden Stücks erfolgen, unterschieden werden. Als Theaterpragmatiker streicht Dürrenmatt insbesondere die Bedeutung des ersten Bearbeitungstyps für die Dramenproduktion überhaupt heraus. Auch Peter Weiss nimmt eigenen Angaben zufolge seine Dramentextbearbeitungen als Reaktion auf Bühnenerfahrungen vor.23 Im Gegensatz zu seinen Äußerungen zur Berücksichtigung der Auffuhrungsbedingungen bei der Produktion des Dramentextes im allgemeinen finden sich zu diesem Aspekt durchaus einige weiterführende Erläuterungen des Autors. So erachtet Weiss die Reduktion von Bühnen- und Schauspielanweisungen im Nebentext sowie die (diskursive) Ausarbeitung der Monologe und Dialoge im Haupttext als wichtige Techniken der Textbearbeitung, die zu einer erhöhten Bühnenwirksamkeit des (Dokumentär-) Stückes als Ganzem sowie zu einer Verdeutlichung der argumentativen Positionen der betreffenden Figuren im einzelnen beitragen sollen. Im Gegensatz zu Dürrenmatt und Weiss liegen von den Stücken Peter Handkes keine Bearbeitungen vor. Der Autor selbst24 erachtet solche Bearbeitungen als unnötig und begründet dies mit dem Argument, daß eine (von seiner Seite her durchaus begrüßte) Änderung der Aufführungspraxis insbesondere hinsichtlich der Sprechstücke auch ohne solche Textänderungen möglich sei. Die Variabilität der Textinszenierung gegenüber dem Inszenierungstext wird hier von Handke also zur Begründung fiir ein Unterbleiben von Textbearbeitungen herangezogen, während Dürrenmatt und Weiss diese Variabilität argumentativ gerade umgekehrt zum Anlaß
22
Vgl. S.78-80.
23
Vgl. S.183-185.
24
Vgl. S.126-129.
223
Künstler und Publikum
nehmen, den Inszenierungstext durch entsprechende Bearbeitungen den Bedingungen der Textinszenierung anzupassen. Die synoptische Darstellung in der Tabelle (Tab.9):
Bearbeitung des Dramentextes
Dürrenmatt
Handke
Weiss
Bearbeitung als Anpassung an die Bühnenbedingungen: 1. während der Proben 2. nach erfolgter Inszenierung
Bearbeitung als
Bearbeitung als Anpassung an die Bühnenbedingungen: 1. im Haupttext durch Diskursausbau 2. im Nebentext durch Reduktion
Anpassung an die Bühnenbedingungen nicht erforderlich
der Anweisungen Tab.9:
Bearbeitungen des Dramentextes
2.2 Theater 2.2.1
Die Textreproduktion im allgemeinen
Wie bereits gezeigt, stellt die Textinszenierung für Dürrenmatt 25 die primäre Erscheinungsform des Dramas, welcher der Text untergeordnet ist, dar. Und so betont der Autor auch regelmäßig die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Theaters gegenüber dem Autor und gibt seiner Faszination Ausdruck, Inszenierungen seiner Stücke beizuwohnen. Eine solche Inszenierung besteht nun nach Dürrenmatt in der kreativen Umsetzung der Textvorlage in ein Bühnengeschehen durch ein Ensemble, wobei der Text eine Konkretisierung durch den Einsatz bühnentypischer Ausdrucksmittel bzw. Zeichentypen erfahrt. Mit dieser Konkretisierung werden die den einzelnen Elementen der Inszenierung entsprechenden Textelemente um zusätzliche Informationsträger ergänzt und bilden so einen auch funktional neuartigen Gesamtzeichenkomplex. Diese Differenz zwischen Text und Inszenierung nun ist Dürrenmatt zufolge nicht oder nur sehr bedingt berechenbar und für die erhebliche Variabilität möglicher Inszenierungen 25
Vgl. S.83-85.
224
Autorenmodelle und R e f l e x i o n dramatischer K o m m u n i k a t i o n
eines Textes verantwortlich zu machen; der Autor selbst weist auf die zahlreichen externen und internen Aufführungsbedingungen eines Theaters und seiner Mitarbeiter hin, die jeweils zu der Spezifik einer bestimmten Inszenierung gegenüber anderen Inszenierungen desselben Textes beitragen. Zusammengefaßt besteht die Wiedergabe eines Dramentextes durch ein Ensemble hiernach also in einer kreativen Konkretisierung des Textes, die jeweils von den spezifischen Auffiihrungsbedingungen des betreffenden Theaters bzw. Ensembles abhängig und damit gegenüber anderen Inszenierungen variabel ist. Mit Peter Weiss 2 6 lassen sich zunächst drei allgemeine Voraussetzungen der Textreproduktion von Dokumentarstücken unterscheiden: Erstens ein geeigneter Auffuhrungsort (im Falle von Weiss gerade nicht das traditionell-bürgerliche Theater, sondern Fabriken, Schulen o.ä.), zweitens ein diesem Ort entsprechendes oder besser: an diesem Ort anzusprechendes (hier also nicht bürgerliches) Publikum und drittens ein (nach Möglichkeit festes, politisch-ideologisch geschultes) Ensemble, das ein intensives Studium der Textvorlage und eine systematische Ausarbeitung der Inszenierung gewährleistet. Schon mit dieser Forderung nach einem politisch und ideologisch geschulten Ensemble deutet sich an, daß Weiss die Transformation des Dramentextes weit weniger den jeweils gegebenen Auffiihrungsbedingungen eines Ensembles überlassen möchte als etwa Dürrenmatt, sondern die Arbeit am Dramentext vielmehr an bestimmte interpretative Vorgaben knüpft. Darüber hinaus bindet der Autor die Arbeit des Ensembles aber auch erheblich stärker an die Vorgaben des schriftlichen Textes selbst und ordnet den Einsatz der bühnenspezifischen Ausdrucksmittel dem Text unter, indem er diesen Ausdrucksmitteln allein die Funktion einer Verdeutlichung der Textsubstanz zuspricht. Mit einer solchen Prioritätssetzung des Inszenierungstextes bzw. der Textproduktion des Autors über die Textinszenierungsarbeit des Ensembles relativiert sich die von Weiss im Zusammenhang der Überlegungen zum Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung vertretene liberalere Konzeption eines Dramas als sogenanntes Allkunstwerk, an dessen Produktion sämtliche Künstler mehr oder weniger gleichberechtigt beteiligt sind. Der Dramenautor erweist sich hier gleichermaßen als ein liberaler Despot, welcher die prinzipiell anerkannte Variabilität und Freizügigkeit der Textinszenierung allein im Rahmen seiner eigenen Darstellungsintentionen zuläßt. Die Konzeption des dramatischen Gesamtkunstwerks muß vor diesem Hintergrund bei Weiss dahin-
26
Vgl. S . 1 8 5 - 1 8 8 .
Künstler u n d P u b l i k u m
225
gehend differenziert werden, daß bei dessen Produktion der Autor der Textvorlage die Stellung eines primus inter pares einnimmt und mit der Textvorlage auch die Gestaltung der Inszenierung grundlegend bestimmt. Zusammengefaßt besteht die Wiedergabe eines (dokumentarischen) Dramentextes durch ein Ensemble nach Weiss also lediglich in einer den Darstellungsintentionen des Autors folgenden und diese verdeutlichenden Konkretisierung des Textes, deren potentielle Variabilität in der Bühnenpraxis nach Maßgabe des Autors eingeschränkt wird. Dieser darstellungsintentionale Charakter des (dokumentarischen) Dramentextes stellt nun auch das bestimmende Kriterium für die zum Teil ausführliche Kritik, die Weiss an einzelnen Inszenierungen seiner Stücke übt, dar. 27 Der Autor mißt deren Qualität an der (wie auch immer im einzelnen erreichten) Nähe zur Textvorlage und bemängelt solche Inszenierungen, die von den hierin angelegten Darstellungsintentionen abweichen. In diesem Zusammenhang ist eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Position von Weiss und derjenigen des späten Dürrenmatt festzustellen. Denn Dürrenmatt gibt etwa seit Mitte der siebziger Jahre aufgrund negativer Bühnenerfahrungen mit dem sogenannten Regietheater ebenfalls seine prinzipiell durch Gleichberechtigung und Kooperation von Autor und Ensemble ausgezeichnete Position auf und erhebt nun seinerseits als Autor ausdrücklich den Anspruch an die Inszenierung des Ensembles, seinen im Text bereits angelegten Darstellungsintentionen gerecht zu werden. Die Konsequenz, die Dürrenmatt hieraus zieht, besteht jedoch nicht in einer verschärften und Direktiven erteilenden Auseinandersetzung mit der Bühne, sondern vielmehr in einem durch Resignation geprägten Rückzug von derselben. 28 Peter Handke schließlich macht über die Textwiedergabe auf der Bühne im allgemeinen im Gegensatz zu derjenigen durch den Schauspieler im besonderen keine bemerkenswerten Angaben. Die synoptische Darstellung hat danach folgende Gestalt (Tab. 10):
27
Vgl. S.188-190.
28
Vgl. S.80-83.
226
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Die Textreproduktion im allgemeinen
Dürrenmatt
Handke
Weiss
Inszenierung als kreative und variable Konkretisierung des Textes in
[Reflexion
1.
unzureichend]
Abhängigkeit von den allgemeinen Aufführungsbedingungen
Voraussetzungen:
1.1 (nichtbürgerlicher) Aufführungsort 1.2 (nichtbürgerliches) Publikum 1.3 (ideologisch geschultes) Ensemble 2. Inszenierung als der Darstellungsintention des Autors folgende, nur eingeschränkt variable Konkretisierung des Textes
Tab. 10: Die Textreproduktion im allgemeinen
2.2.2
Die Textreproduktion durch den Schauspieler
Neben der Wiedergabe ihrer Dramentexte durch ein Ensemble im allgemeinen reflektieren Dürrenmatt, Handke und Weiss insbesondere diejenige durch den Schauspieler. Diese Reflexionen fügen sich jeweils weitgehend in die entsprechenden allgemeineren Überlegungen zur Gestaltung und Funktion der Textinszenierung ein. So weist Dürrenmatt 29 etwa in seinen überaus zahlreichen Äußerungen zur Funktion des Schauspielers zunächst darauf hin, daß das wesentliche Merkmal der Schauspielerei in der Darstellung von Menschen bestehe. Und seiner vielbeschworenen These von der Konkretisierung des Inszenierungstextes durch die Textinszenierung entsprechend bestimmt der Autor nun die Aufgabe des Schauspielers folgerichtig darin, die im betreffenden Haupttext
29
Vel. S.85-88.
Künstler und Publikum
227
und den entsprechenden Angaben des Nebentextes nur typisierend angelegte Figur durch den Einsatz der ihm eigenen sprechsprachlichen und nonverbalen Mittel individualisierend und charakterisierend auszugestalten und somit kreativ eine menschliche Persönlichkeit auf der Bühne zu repräsentieren. Hierbei verfugt der einzelne Schauspieler nun über eine Vielfalt von Möglichkeiten des Einsatzes solcher schauspielereigenen Ausdrucksmittel, die nicht zuletzt auch von dessen Darstellungsbefahigung und persönlichen Vorlieben abhängig ist. In dieser Vielfalt an Möglichkeiten der Konkretisierung einer Figur erblickt der Autor einen der Hauptgründe für die Variabilität, die eine Inszenierung gegenüber dem entsprechenden Dramentext auszeichnet. Der Regie30 weist Dürrenmatt gegenüber dem Schauspieler angesichts dieser Variabilität und des hohen Grades an eigener Individualität, die der Schauspieler bei der konkretisierenden Ausgestaltung der betreffenden Dramenfigur einbringt, eine regulative und unterstützende Funktion zu. Die Überlegungen von Peter Weiss31 zur Textwiedergabe durch den Schauspieler sind vor allem durch die Diskussion einer möglichst adäquaten Ausgestaltung des diskursiven Charakters der Dokumentarstücke bestimmt. Der Autor verlangt dem Schauspieler vor diesem Hintergrund neuartige Gestaltungstechniken auf der Bühne ab, da dessen Aufgabe hiernach nicht in der individualisierenden Darstellung von Menschen, sondern in der Verdeutlichung bestimmter Positionen eines zeitgeschichtlichen Ereignisses oder Diskurses besteht. Die Figuren dieser diskursiv angelegten Dokumentarstücke sind denn auch als Typen angelegt, die als Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (im Gegensatz zu denjenigen der Komödien Dürrenmatts etwa) nicht vom Schauspieler zu konkretisieren sind. Folgt man Weiss, so können nun mindestens drei solcher Gestaltungstechniken, die dem diskursiven Charakter seiner Dokumentarstücke Rechnung tragen, unterschieden werden: Erstens die Verteilung der Schauspieler über den Bühnenraum (als physische Entsprechung zu den jeweils vertretenen gesellschaftlichen Gruppen oder diskursiven Positionen); zweitens die Gestik der Schauspieler; und drittens deren Sprechweise, von der der Autor Emotionslosigkeit fordert, um der möglichen Individualisierung der entsprechenden Figur entgegenzuwirken. Mit der Forderung nach einem möglichst schlichten Bühnenbild oder einer möglichst einfachen Kostümierung weist der Autor darüber hinaus auch auf Möglichkeiten einer diesen Schauspieltechniken entsprechenden Bühnengestaltung durch andere Inszenierungsbeteiligte hin. 30 31
Vgl. S.88-90. Vgl. S.191-193.
228
A u t o r e n m o d e l l e und Reflexion dramatischer K o m m u n i k a t i o n
In den Stücken Peter Handkes 32 schließlich hat der Schauspieler im Gegensatz zu denjenigen von Weiss und Dürrenmatt eine rein (Publikumsbeschimpfung, Sprechstücke) oder zumindest weitgehend (Szenarien) lokutive Funktion, d.h. seine Aufgabe besteht nicht oder allenfalls unter erheblichen Einschränkungen in einer wie auch immer gearteten Ausgestaltung einer Bühnenfigur (sei es nun als Individuum oder als Repräsentant einer gesellschaftlichen Diskursposition), sondern allein in der sprechsprachlichen Äußerung des durch den Autor schriftlich fixierten dramatischen Haupttextes. Dieser Konzeption entsprechend gelten die weiterführenden Überlegungen Handkes zur Textreproduktion durch den Schauspieler vor allem dessen Sprechweise; dabei kann den Erläuterungen des Autors folgend für jede der drei metakommunikativen Gestaltungsweisen ein eigener Lokutionstyp, der sich aus der Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Sprechweise heraus definieren läßt, bestimmt werden. So fordert Handke für den ersten Teil der "Publikumsbeschimpfung", also für das metakommunikative Verfahren der Wendung der Figuren an das Publikum, eine möglichst natürliche, dabei jedoch, um das Publikum nicht zu Fehlinterpretationen zu verleiten, weitgehend unmarkierte Sprechweise. Zur Erhaltung der Textkohärenz der sogenannten Sprechstücke, die sich durch einen akommunikativen Gebrauch sprachlicher Zeichen auszeichnen, fordert Handke dagegen die künstliche Erzeugung von Klangstrukturen, indem die Schauspieler hier rhythmisiert und mit Hilfe von Mikrophonen zu sprechen haben; diese künstliche Sprechweise soll nach Angaben des Autors darüber hinaus dazu beitragen, die hier eingesetzten Sprachhandlungsmuster hervorzuheben und den rein lokutiven Charakter der sprechsprachlichen Äußerungen der Schauspieler selbst zu unterstreichen. Eine künstliche und technisch verfremdende Sprechweise wird ebenfalls von den Einsagern des "Kaspar" gefordert. In den Szenarien schließlich, in denen sprachliche Handlungsweisen in einem Minimalkontext vorgeführt werden, strebt Handke gleichfalls die künstliche, dabei jedoch nicht durch technische Hilfsmittel unterstützte Erzeugung einer Klangstruktur an. In diesen Stücken erschöpft sich jedoch die Textreproduktion durch den Schauspieler nicht in der reinen Lokution der entsprechenden Passagen des Haupttextes; da hier sprachliche Verhaltensweisen im Rahmen eines wenn auch auf ein Minimum reduzierten Verwendungskontextes vorgeführt werden sollen, ist auch dieser Kontext durch den Schauspieler (mittels nonverbaler Gestaltungstechniken) selbst in Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern des Ensembles darzustellen. 32
Vgl. S.129-136.
229
Künstler u n d P u b l i k u m
Die Ergebnisse der Überlegungen von Dürrenmatt, Handke und Weiss zur Textreproduktion durch den Schauspieler im besonderen lassen sich wiederum wie folgt zusammenfassen (Tab.l 1):
Die Textreproduktion durch den Schauspieler im besonderen
Dürrenmatt
Handke
Weiss
Menschendarstellung als
Sprechsprachliche Lokution des Textes; Sprechweise (nach metakommunikativen Verfahren):
Darstellung von gesellschaftlichen Diskurspositionen; Schauspieltechniken:
kreative und individualisierende Gestaltung der im Text nur typisiert angelegten Figur
1. natürlich und unmarkiert (Publikumsbeschimpfung) 2. künstlich und technisch verfremdend (Sprechstücke) 3. künstlich und nicht technisch verfremdend (Szenarien)
1. räumliche Verteilung 2. Gestik 3. emotionslose Sprechweise
T a b . 11: Die T e x t r e p r o d u k t i o n durch den Schauspieler
2.3 Publikum 2.3.1
Die Rezeptionsbedingungen des Publikums
Friedrich Dürrenmatt 33 fordert zwar explizit eine Reflexion der Rezeptionsbedingungen des Theaterpublikums, seine eigenen Überlegungen hierzu sind jedoch nicht sehr umfangreich. So nennt der Autor insgesamt drei Bedingungen, die er selbst kaum weiter diskutiert. Die erste Bedingung ist danach die Anwesenheit des Publikums im Theater und dessen Rezeptionsbereitschaft gegenüber der Inszenierung. Als zweite Bedingung nennt der Autor eine (allerdings nicht näher spezifizierte) "Übereinstimmung" Vgl. S.90-91
230
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
zwischen Ensemble und Publikum. Und als dritte Bedingung findet sich bei Dürrenmatt schließlich die (wiederum nicht näher erläuerte) Fantasie des Zuschauers. Auch Peter Handke 34 nennt die Anwesenheit des Publikums selbst als eine von dessen Rezeptionsbedingungen. Diese Anwesenheit ist nach Handke zum einen erforderlich, um eine Aufführung als solche nicht vor leeren Rängen stattfinden zu lassen, zum anderen aber auch (und das erscheint vor dem Hintergrund der metatheaterkommunikativen Funktion der Stücke als entscheidend), um dem Publikum die Kommunikationssituation des Theaters sowie die Rolle des Publikums hierin selbst überhaupt erst bewußt machen zu können. Als weitere Bedingung nennt auch Handke die Rezeptionsbereitschaft des Publikums, die Vorkehrungen, die dieses zum Theaterbesuch getroffen hat, sowie die Erwartungen, die jeder einzelne Zuschauer hinsichtlich der Inszenierung mitbringt. Als eine dritte Rezeptionsbedingung fuhrt Handke die Rezeptionskompetenz des einzelnen Zuschauers an; bedauerlicherweise finden sich gerade zu dieser Bedingung kaum weitere Erläuterungen. Und als vierte Rezeptionsbedingung nennt der Autor schließlich eine möglichst hohe Bequemlichkeit der Theaterplätze, da er durch diese eine ungestörte Rezeption des Bühnengeschehens gewährleistet sieht. Die Äußerungen von Peter Weiss35 zu den Rezeptionsbedingungen des Publikums sind unergiebig und können in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. Die tabellarische Darstellung hat somit folgendes Bild (Tab. 12):
D i e Rezeptionsb e d i n g u n g e n des Publikums
Dürrenmatt
Handke
1. A n w e s e n h e i t
1. A n w e s e n h e i t
[Reflexion
2. Rezeptions-
unzureichend]
und Rezeptionsbereitschaft 2. "Übereinstimmung" z w i s c h e n E n s e m b l e und
bereitschaft 3. Rezeptionskompetenz 4. Bequemlichkeit
Publikum Tab. 12: Die Rezeptionsbedingungen des Publikums
34 35
Vgl. S.136-138. Vgl. S. 193-194.
Weiss
Künstler und Publikum
2.3.2
231
Rezeptionsverlauf und Reaktion des Publikums
Dürrenmatts Überlegungen zum Rezeptionsverlauf 36 erweisen sich als ähnlich unvollständig und unsystematisch wie diejenigen zu den Rezeptionsbedingungen des Publikums. Der Autor charakterisiert das Publikum als eine Rezeptionseinheit und weist damit auf den kollektiven Charakter der Rezeption hin; dabei stellt er einige Techniken vor, wie diese kollektive Gemeinsamkeit des Theatererlebnisses mit der Dramen inszenierung von der Bühne aus ausgelöst werden kann. Trotz solcher Überlegungen betrachtet Dürrenmatt den Zuschauer als gleichberechtigten Partner, der zwar vom Künstler rezeptionsästhetisch gelenkt werden kann, sich aber aufgrund seiner aktiven Rolle bei der Rezeption selbst kaum durch diesen beeinflussen läßt, sondern vielmehr eine eigenständige Position gegenüber dem Werk einnimmt. Die Reaktion des Zuschauers bestimmt Dürrenmatt selbst in dem Nacherlebnis des Bühnengeschehens und in dessen darauffolgender Reflexion. Nähere Angaben zu einer vom Autor gezielt angestrebten Reaktion des Publikums finden sich bei Dürrenmatt (durchaus in Einklang mit dessen unsystematischen Überlegungen zu Aussage und Funktion des Dramas) nicht. Peter Handke 37 weist ebenfalls auf den kollektiven Charakter der Theaterrezeption hin und erklärt die Rezeptionseinheit der Zuschauer aus deren gemeinsamer kommunikativer Rolle während der Inszenierung und dem jeweils einander weitgehend entsprechenden Verhalten bei einem vom Bühnengeschehen her gleichartigen Rezeptionsverlauf. Darüber hinaus interpretiert der Autor das Publikum als eine Teileinheit der Theaterkommunikation, die als Rezeptionseinheit gemeinsam mit dem Ensemble als Produktionseinheit eine theaterkommunikative Einheit bildet. Hinsichtlich der möglichen Zuschauerreaktion unterscheidet der Autor explizit mindestens drei Möglichkeiten, die sich aus der metakommunikativen Anlage seiner Stücke ableiten lassen: Erstens ein Bewußtwerden der Kommunikationssituation; zweitens die Reflexion menschlicher, insbesondere sprachlicher Kommunikation im allgemeinen sowie der Theaterkommunikation im besonderen; und drittens die Einsicht in die formale Anlage des Stückes selbst. Eine Identifikation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen, wie dies etwa bei Dürrenmatt möglich ist, ist nach Handke durch die Anlage der Sprechstücke, aber auch der späteren Dramen selbst ausgeschlossen.
36 37
Vgl. S.92-93. Vgl. S.138-142.
232
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Der Rezeptionsverlauf wird von Peter Weiss wie die Rezeptionsbedingungen des Publikums nur wenig reflektiert. 38 Seinem Anliegen einer politisch-ideologischen Aufklärung entsprechend fordert der Autor eine möglichst intensive Beschäftigung des Publikums mit seinen Dramen. Dabei wird jedoch insbesondere bei den Dokumentarstücken keine Identifikation der Zuschauer mit dem Bühnengeschehen, sondern vielmehr deren kritische Auseinandersetzung mit den dargestellten Diskurspositionen gefordert; idealiter verspricht sich Weiss von einer solchen Reflexion entsprechende Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Bewußtsein und Verhalten der Rezipienten. Der Autor ist sich dabei selbst jedoch (nicht ohne Resignation) des erwartungsgemäß nur geringen Erfolges seiner Stücke hinsichtlich dieses erwünschten Rezeptionsergebnisses bewußt. Die tabellarische Zusammenfassung (Tab. 13): Dürrenmatt
Handke
Weiss
Rezeptionsverlauf
1.
1.
Verlauf:
Reaktion:
und Reaktion des
1.1 Publikum als
Publikums
Verlauf:
Publikum als
R e f l e x i o n der
Rezeptions-
Rezeptionsein-
dargestellten
einheit
heit und Teil-
Diskurspositionen
1.2 Lenkung des
einheit der Theaterkom-
Publikums 2.
munikation
Reaktion:
2.1 Nacherlebnis
2.
2.2 Reflexion
2.1 m e t a k o m m u -
Reaktion: nikatives Bewußtsein
2.2 metakommunikative Reflexion 2.3 formale Einsicht
Tab. 13: Rezeptionsverlauf und Reaktion des Publikums
38
Vgl. S.194-196.
3. Sprache 3.1 Dramenspezifischer Sprachgebrauch Über mögliche Spezifika eines dramatischen Sprachgebrauches in Abgrenzung zu einer nichtdramatischen Verwendung von Sprache äußern sich sowohl Dürrenmatt als auch Handke; die zwei Autoren vertreten hierbei jedoch, obwohl sie beide einen dramenspezifischen Gebrauch von Sprache annehmen, sehr unterschiedliche Konzeptionen. So erklärt Peter Handke 39 jede Verwendung von Sprache innerhalb eines Dramas als dramenspezifisch. Handke gelangt zu dieser Auffassung durch die Überlegung, daß ein vom Autor als literarisch oder dramatisch konzipierter und vom Rezipienten entsprechend als solcher akzeptierter Text von vornherein im Vergleich zu nichtliterarischen oder nichtdramatischen Texten als funktional anders, nämlich als (wie auch immer) ästhetisch interpretiert wird. Damit erweist sich auch der Sprachgebrauch eines solchen literarischen oder dramatischen Textes nach Handke selbst sowohl von Seiten des Produzenten als auch von Seiten des Rezipienten als ästhetisch motiviert und damit gegenüber demjenigen anderer Texte als funktional spezifisch. Interpretiert man nun wie oben Ästhetizität als Autoreflexivität des entsprechenden Textes, so besteht die metasprachkommunikative Funktion der Dramen Handkes in der Autoreflexivität der darin verwandten Sprachverwendungsweisen und deren metatheaterkommunikative Funktion in der Autoreflexivität der durch die Inszenierung als solcher erzeugten Kommunikationssituation des Theaters selbst. Auch Friedrich Dürrenmatt vertritt die These einer Spezifik des dramatischen Sprachgebrauchs. 40 Doch im Unterschied zu Peter Handke leitet er diese Spezifik nicht aus einer funktionalen Besonderheit der ästhetischen Kommunikationssituation des Dramas oder des Theaters ab, sondern bestimmt diese wiederum vor dem Hintergrund theaterpragmatischer Überlegungen. Auch hier ist die Priorität der sprechsprachlich und nonverbal gestalteten Textinszenierung gegenüber dem schriftsprachlichen Insze39 40
Vgl. S.147-151. Vgl. S.94-97.
234
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
nierungstext Ausgangspunkt für Dürrenmatts Argumentation. Danach sind insbesondere der Haupttext bzw. die gesprochenen Repliken der Komödien Dürrenmatts sprachlich auf die Inszenierung hin gestaltet. Diese Gestaltung erfolgt nun zum einen durch eine Orientierung an den funktionalen Erfordernissen und formalen Charakteristiken der Sprechsprache und zum anderen durch verschiedenartige sprachliche Übertreibungen und Verknappungen, die sich aus der Antizipation der spezifischen Darstellungsmöglichkeiten der Bühne selbst ergeben. Die Spezifika des dramatischen Sprachgebrauchs bei Dürrenmatt bestehen demzufolge erstens in einer Deviation gegenüber der stilistisch gehobenen Dramensprache durch eine Annäherung an die (gesprochene) Allgemeinsprache und zum anderen aufgrund darstellungstechnischer Erfordernisse der Bühne wiederum in einer Deviation gegenüber dieser Allgemeinsprache selbst. Dies wird aus Dürrenmatts Äußerungen zum Einsatz der konventionellen Gestaltungsmittel der Rhetorik und Metrik selbst besonders deutlich. Hier ist die Position des Autors durch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber solchen Mitteln geprägt: Er lehnt deren Gebrauch um ihrer oder der dramatischen Deviation selbst willen ab und fordert im Falle ihres Einsatzes eine bühnenpragmatische Motivation. Peter Weiss diskutiert dramensprachliche Spezifika als solche nicht explizit. Dies mag zunächst insbesondere angesichts seiner Dokumentarstücke nicht erstaunen, da hier auf historisches und auf nichtdramatisches Quellenmaterial zurückgegriffen wird. Da dieses Quellenmaterial jedoch eine ausgesprochen intensive Bearbeitung durch den Autor erfahrt, um schließlich auf der Bühne präsentiert zu werden, kann hier durchaus von einer dramenspezifischen Quellentextbearbeitung und damit auch von einem dramenspezifischen Umgang mit Sprache gesprochen werden; eine derartige Interpretation wird jedoch von dem Autor selbst trotz seiner zahlreichen und differenzierten Äußerungen zu den dokumentarischen Bearbeitungstechniken nicht vorgenommen. Die tabellarische Zusammenfassung zur Reflexion der Spezifika dramatischen Sprachgebrauchs lautet somit wie folgt (Tab. 14): Dürrenmatt
Handke
Dramenspezifi-
Spezifika des dra-
Dramensprache als
[keine explizite
scher Sprach-
matischen Sprach-
funktional spezi-
Reflexion]
gebrauch
gebrauchs als
fisch ( m e t a k o m m u -
Ergebnis inszenie-
nikativ-ästhetisch)
rungspraktischer Erfordernisse Tab. 14: Dramenspezifischer Sprachgebrauch
Weiss
Sprache
235
3.2 Die Charakterisierung von Figuren Friedrich Dürrenmatt 41 nimmt in seinen Komödien sprachliche Figurencharakterisierungen vor. Diese haben die Aufgabe, die im Stück typisiert dargestellten Figuren partiell zu individualisieren, um damit dem Schauspieler Ansatzpunkte für die konkretisierende Ausgestaltung der Figur auf der Bühne zu geben. Dürrenmatt konzipiert dabei die Idiomatisierung seiner Figuren nach eigenen Angaben nicht starr, sondern sieht vielmehr für bestimmte Figuren auch Veränderungen in deren Sprachgebrauch vor, welche die Entwicklung dieser Figuren im Verlauf des Stückes widerspiegeln sollen. Der Autor weist darauf hin, daß die Idiomatisierung einer Figur während der Dramenproduktion eine gewisse Eigendynamik entfalten kann, die dadurch bedingt ist, daß die Wahl bestimmter sprachlicher Merkmale für eine Figur, soll diese sprachlich homogen erhalten werden, den Einsatz weiterer sprachlicher Mittel zu deren Charakterisierung einschränkt bzw. determiniert. Peter Handke 42 macht dagegen kaum Angaben über einen individuellen Sprachgebrauch seiner Figuren oder Sprecher. Die in den Stücken vorgeführten Sprachverwendungsweisen werden von Handke als überindividuell erachtet und hier nicht zur Charakterisierung von Figuren eingesetzt. Der Autor macht im Gegenteil darauf aufmerksam, daß eine solche Individualisierung einer Figur durch die Wahl einander entsprechender, deren Homogenität gewährleistender sprachlicher Charakteristika selbst leicht zu formalisieren droht und damit wiederum ihrem eigentlichen Ziel zuwiderläuft; der Autor begegnet darum solchen sprachlichen Charakterisierungen von Figuren mit ausgesprochener Skepsis. Der diskursiven Anlage der Dramen entsprechend werden individualisierende Figurencharakterisierungen in den Dokumentarstücken von Peter Weiss 43 allenfalls nur in Ansätzen vorgenommen. Die einzelnen Figuren haben hier dem Autor zufolge die Funktion, überindividuelle Diskurspositionen zu repräsentieren und verbieten darum eine Individualisierung. In den Dramen vor und denjenigen nach den Dokumentarstücken im engen Sinne finden sich dagegen durchaus individualisierende sprachliche Elemente, die zum Teil sogar authentischen Äußerungen der entsprechenden historischen Persönlichkeiten entlehnt sind.
41 42 43
Vgl. S.97-99. Vgl. S.147-151. Vgl. S.197-199.
236
A u t o r e n m o d e l l e und R e f l e x i o n dramatischer K o m m u n i k a t i o n
Die tabellarische Zusammenfassung (Tab. 15):
Die Charakterisierung von Figuren
Dürrenmatt
Handke
Weiss
1. Charakterisierung zur Individualisierung der Figur 2. Entwicklung einer Eigendynamik
1. Problematisierung der sprachlichen Figuren-
1. Figuren in den Dokumentarstücken als Repräsentanten von Diskurspositionen nicht individualisiert 2. Figurencharakterisierungen in den anderen Dramen zum
charakterisierung aus methodischen Gründen; 2. keine Angaben zur Figurencharakterisierung in den eigenen Stücken
Teil aus Quellen
Tab. 15: Die C h a r a k t e r i s i e r u n g von Figuren
3.3 Monologe und Dialoge Auch Friedrich Dürrenmatt 44 betrachtet sprachliches Handeln als ein wesentliches Element menschlichen Handelns überhaupt. Und so ist es nicht erstaunlich, daß er dem sprachlichen Handeln der Figuren im Drama eine besondere Bedeutung beimißt. Dabei betont der Autor die Notwendigkeit eines Ineinandergreifens von Dialog und nichtsprachlicher Handlung auf der Bühne und setzt sich mit dem möglichen Spannungsverhältnis zwischen den beiden auseinander. Hinsichtlich der Integration eines Monologs in die Bühnenhandlung sind bei Dürrenmatt hingegen zwei verschiedene Positionen festzustellen. So werden die Monologe nach Dürrenmatts eigenen Angaben in den früheren und mittleren Stücken in die Dramenhandlung integriert, während sie in den späteren Dramen zum Teil neben die Handlung gestellt und so als eigenständiges Element des Dramas eingesetzt werden. Hinsichtlich der monologischen Wendung der Figuren an das Publikum unterscheidet der Autor zwischen Reden als direkten Ansprachen an dasselbe und Monologen (in einem engeren Sinne) als nur mittelbar aufzufassender Wendungen an das Publikum, zu dessen dramaturgischer Begründung wieder einmal bühnenpragmatische Argumente ins Feld geführt werden.
44
Vgl. S . 1 0 0 - 1 0 2 .
Sprache
237
Peter Handke 45 mißt dem monologischen und dem dialogischen Sprechen in seinen eigenen Dramen verschiedene Funktionen bei; auch hier kann zwischen den drei metakommunikativen Gestaltungsweisen der Stükke differenziert werden. So handelt es sich bei dem ersten Teil der Publikumsbeschimpfung um eine direkte und dabei monologische Wendung der Figuren an das Publikum. Handkes eigene Überlegungen hierzu gelten vor allem der Abgrenzung dieser monologischen Wendung gegenüber dem klassischen Dialog auf der Figurenebene und gegenüber monologischen sowie dialogischen Wendungen der Figuren an das Publikum aus einer Bühnenhandlung heraus. Der Autor betont in diesem Zusammenhang, daß es sich hierbei vielmehr lediglich um eine akommunikative Wendung der Figuren an das Publikum als Lokution eines vom Autor vortragsartig verfaßten metatheaterkommunikativen Textes handelt, bei der es zu keiner unmittelbaren sprachlichen Interaktion zwischen den Figuren oder Schauspielern und dem Publikum kommt. Ähnlich verhält es sich mit den Sprechstücken: Auch hier findet keine unmittelbare sprachliche Kommunikation zwischen den Figuren und dem Publikum statt; der Sprechertext ist darüberhinaus jedoch nicht einmal vortragsartig gestaltet, sondern es werden hierin lediglich bestimmte Formen monologischen oder dialogischen Sprechens nichtfunktional imitiert. Handkes dritter metakommunikativer Gestaltungstyp besteht in der Vorführung sprachlich-kommunikativer Verhaltensweisen in Szenarien auf der Figurenebene, deren Handlung sich nicht oder nur kaum fortentwickelt; das mit diesen Szenarien vorgeführte sprachliche Handeln der Figuren hat dabei zwar sowohl formal als auch funktional dialogischen bzw. monologischen Charakter, erweist sich dabei jedoch als nicht resultativ, da hierdurch allenfalls geringfügige Änderungen dieses Szenariums selbst erzielt werden. Während sich Handke nun zur Monologizität der Publikumsbeschimpfung (nicht zuletzt auch in deren Sprechertext selbst) ausführlich äußert, sind seine Kommentare zum dialogischen oder monologischen Charakter seiner Sprech- und anderen Stücke eher verhalten. Dies gilt auch für diejenigen der späteren Stücke, die keine Szenarien in diesem engeren Sinne darstellen und hier grob in eine vierte, eine Restgruppe eingeteilt wurden. In dieser Gruppe befinden sich neben Stükken, die auf der Bühne auf den Gebrauch von Sprache vollständig verzichten, auch solche Dramen, in denen der Autor nicht mehr versucht, sprachliche Verhaltensweisen bloßzulegen, sondern vielmehr bestrebt ist, mit dem Drama sogenannte Wechselreden, d.h. erfolgreiche kommunikative Handlungen, zwischen den Figuren zu zeigen; aber auch hierzu finden sich wie
45
Vgl. S.143-147.
238
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
angedeutet nur wenige Erläuterungen des Autors selbst. Peter Weiss 46 schließlich konzipiert nach eigenen Angaben die Dialoge insbesondere seiner Dokumentarstücke als argumentative Wechselspiele, d.h. als Austausch von Diskurspositionen durch Repräsentantenfiguren; Monologe und Dialoge von individualisierten Einzelpersonen finden sich in denjenigen Dramen, die den Dokumentarstücken vorangehen bzw. folgen. Weiterführende Überlegungen werden von dem Autor hierzu nicht angestellt. Auch dies läßt sich nun abschließend tabellarisch wie folgt zusammenfassen (Tab. 16):
M o n o l o g e und Dialoge
Dürrenmatt
Handke
Weiss
1. Dialog: 1.1 Dialog als wesentliches Handlungselement des Dramas 1.2 Integration von Dialog und nichtsprachlicher Hand-
Verschiedene Funktionen der M o n o l o g e und Dialoge in Abhängigkeit von der metakommunikativen
Dialoge als Austausch von Diskurspositionen (Dokumentarstücke)
lung 2. Monolog: 2.1 ( N i c h t - I n t e gration in die Handlung 2.2 Rede vs. Monolog
Gestaltungsweise: 1. funktional bestimmter, akommunikativer Monolog (Publikumsbeschimpfung) 2. funktional nicht bestimmter, akommunikativer Monolog (Sprechstücke) 3. Vorführung nichtresultativer M o n o l o g e und Dialoge (Szenarien) 4. [andere]
Tab. 16: Monologe und Dialoge
46
Vgl. S.199-200.
4. Autorenmodelle dramatischer Kommunikation Die Reflexion der Autoren Dürrenmatt, Handke und Weiss zur dramatischen Kommunikation läßt sich nun zur Übersicht durch einen Zusammenschluß der Tabellen 3-16 zusammenfassend dokumentieren. Es ergibt sich hieraus folgende synoptische Darstellung (Tab. 17): Reflexionsthema Figurenhandlung im Drama*' Textproduktion hinsichtlich historischer Quellen*' Normabweichung in der Gestaltung des dramatischen Gesamttextes
Dürrenmatt
Handke
Weiss
besteht
besteht nicht
besteht
quellenfrei
quellenfrei
quellenverarbeitend
[keine (hinsichtlich Verfahren metaFigurenhandlung kommunikativer und QuellenbeTextgestaltung: arbeitung)] 1. Wendung an das Publikum (Publikumsbeschimpfung) 2. akommunikativer Zeichengebrauch (Sprechstücke) 3. Hervorhebung kommunikativer Handlungsweisen (Szenarien)
Textbearbeitungsschritte dokumentarischer Dramengestaltung: 1. Auswahl des historischen Teilkotextes 2.1 Bildung von Teiltexten 2.2 Zusammenfugung der Teiltexte zum dramatischen Gesamttext
240
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Reflexionsthema Aussage und Funktion des Dramas
Dürrenmatt Drei einander widersprechende Konzeptionen: 1. Aussage als Diskursexemplifizierung 2. Aussage als unbestimmbare Konnotation 3. Stoffdarstellung ohne Aussage
Handke 1. Ansatz von zwei metakommunikativen Funktionen 1.1 metatheaterkommunikative Teilfunktion 1.2 metasprachkommunikative Teilfunktion 2. Erzeugung von Klangstrukturen
Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung
Differenzqualitäten der Inszenierung gegenüber dem Text bzgl.: 1. Zeichentyp 2. Varianz 3. Konkretheit 4. Einmaligkeit 5. Informativität 6. kommunikativer Leistung 1. Hauptmotiv: Faszination der Theaterpraxis 2. Nebenmotive: 2.1 Ausdrucksbedürfnis 2.2 dramatische Entgegnung
[Reflexion unzureichend]
Auslösende Momente für das dramatische Schaffen
1. Hauptmotiv: Metakommunikative Darstellung 2. Nebenmotive: 2.1 Befremdung des Publikums 2.2 Faszination der Theaterpraxis 2.3 Regulativ eigener Arbeit
Weiss 1. Unterscheidung zweier einander ausschließender Dramenfunktionen: 1.1 konzentrierte, authentische Aussage 1.2 neuartige, objektive Aussage 2. Abgeleitete Funktionen: 2.1 Bildung 2.2 Medienkritik 3. Diskursive Anlage der Dokumentarstücke Inszenierung als Allkunstwerk mit Vorrang gegenüber dem Text (bei Dokumentarstücken eher schwach ausgeprägt)
1.
Hauptmotiv: Politischideologische Aufklärung 2. Nebenmotive: 2.1 Ausdrucksmöglichkeiten 2.2 künstlerischer Austausch
Autorenmodelle Reflexionsthema Berücksichtigung der Auffiihrungsbedingungen durch den Autor
Bearbeitung des Dramentextes
Dürrenmatt 1. Produktionsästhetisch: Erreichen von Spielbarkeit durch Antizipation der Inszenierung und Reduktion des Textes, insbesondere hinsichtlich Schauspieler 2. Rezeptionsästhetisch: Strategien der Lenkung kollektiver und unmittelbarer Rezeption Bearbeitung als Anpassung an die Bühnenbedingungen: 1. während der Proben 2. nach erfolgter Inszenierung
241
Handke [keine Reflexion]
Weiss Forderung nach Berücksichtigung der Auffiihrungsbedingungen mit Hinweis auf Reduktion des Textes
Bearbeitung als Anpassung an die Bühnenbedingungen nicht erforderlich
Bearbeitung als Anpassung an die Bühnenbedingungen: 1. im Haupttext durch Diskursausbau 2. im Nebentext durch Reduktion der Anweisungen
242
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Reflexionsthema Die Textreproduktion im allgemeinen
Dürrenmatt Inszenierung als kreative und variable Konkretisierung des Textes in Abhängigkeit von den allgemeinen Aufführungsbedingungen
Handke [Reflexion unzureichend]
Die Textreproduktion durch den Schauspieler im besonderen
Menschendarstellung als kreative und individualisierende Gestaltung der im Text nur typisiert angelegten Figur
Sprechsprachliche Lokution des Textes; Sprechweise (nach metakommunikativen Verfahren): 1. natürlich und unmarkiert (Publikumsbeschimpfung) 2. künstlich und technisch verfremdend (Sprechstücke) 3. künstlich und nicht technisch verfremdend (Szenarien)
Weiss 1. Voraussetzungen: 1.1 (nichtbürgerlicher) Auffuhrungsort 1.2 (nichtbürgerliches) Publikum 1.3 (ideologisch geschultes) Ensemble 2. Inszenierung als der Darstellungsintention des Autors folgende, nur eingeschränkt variable Konkretisierung des Textes Darstellung von gesellschaftlichen Diskurspositionen; Schauspieltechniken: 1. räumliche Verteilung 2. Gestik 3. emotionslose Sprechweise
243
Autorenmodelle
Reflexionsthema
Dürrenmatt
Handke
Die Rezeptions-
1. Anwesenheit
1. Anwesenheit
[Reflexion
2. Rezeptions-
unzureichend]
bedingungen des
und Rezeptionsbereitschaft
Publikums
2. "Übereinstim-
bereitschaft 3. Rezeptions-
mung" zwischen Ensemble und
Weiss
kompetenz 4. Bequemlichkeit
Publikum Rezeptionsverlauf
1.
und Reaktion des
1.1 Publikum als
Publikums
Verlauf:
1.
Reaktion: Reflexion der
Rezeptions-
Rezeptionsein-
dargestellten
einheit
heit und Teil-
Diskurspositionen
einheit der
1.2 Lenkung des Publikums 2.
Verlauf: Publikum als
Theaterkom-
Reaktion:
munikation
2.1 Nacherlebnis
2.
2.2 Reflexion
2.1 metakommu-
Reaktion: nikatives Bewußtsein
2 . 2 metakommunikative Reflexion 2.3 formale Einsicht Dramenspezifi-
Spezifika des dra-
Dramensprache als
[keine explizite
scher Sprach-
matischen Sprach-
funktional spezi-
Reflexion]
gebrauch
gebrauchs als
fisch (metakommu-
Ergebnis inszenie-
nikativ-ästhetisch)
rungspraktischer Erfordernisse Die Charakteri-
1. Charakterisie-
1. Problematisie-
1. Figuren in den
sierung von
rung zur Indi-
rung der sprach-
Figuren
vidualisierung
lichen Figuren-
stücken als R e -
der Figur
charakterisie-
präsentanten von
2. Entwicklung
Dokumentar-
rung aus
Diskurspositio-
einer Eigen-
methodischen
nen nicht
dynamik
Gründen; 2. keine Angaben
individualisiert 2. Figurencharak-
zur Figurencha-
terisierungen in
rakterisierung in
den anderen
den eigenen
Dramen zum
Stücken
Teil aus Quellen
244
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
Reflexionsthema Monologe und Dialoge
Tab. 17:
Dürrenmatt 1. Dialog: 1.1 Dialog als wesentliches Handlungselement des Dramas 1.2 Integration von Dialog und nichtsprachlicher Handlung 2. Monolog: 2.1 (Nicht-)Integration in die Handlung 2.2 Rede vs. Monolog
Handke Verschiedene Funktionen der Monologe und Dialoge in Abhängigkeit von der metakommunikativen Gestaltungsweise: 1. funktional bestimmter, akommunikativer Monolog (Publikumsbeschimpfung) 2. funktional nicht bestimmter, akommunikativer Monolog (Sprechstücke) 3. Vorführung nichtresultativer Monologe und Dialoge (Szenarien) 4. [andere]
Weiss Dialoge als Austausch von Diskurspositionen (Dokumentarstücke)
Autorenreflexion dramatischer Kommunikation bei DUrrenmatt, Handke und Weiss (vgl. T a b . 3 - 1 6 ) ; = Dramencharakteristika, partiell reflektiert
A u f der Grundlage der hier synoptisch zusammengefaßten Ergebnisse der Autorenreflexion können nun die Autorenmodelle dramatischer Kommunikation bei Dürrenmatt, Handke und Weiss entwickelt werden. Dies geschieht hier dadurch, daß an dem oben entwickelten und in Abb. 15 dargestellten Gattungsmodell 47 jeweils solche Änderungen vorgenommen werden, die sich nach Maßgabe der Reflexion des entsprechenden Autors als erforderlich erweisen; es muß dabei beachtet werden, daß bei weitem nicht alle Überlegungen der Autoren Anlaß zu solchen Änderungen des Gattungsmodells geben.
47
S.45.
Autorenmodelle
245
So können Friedrich Dürrenmatts Komödien auch vor dem Hintergrund der Heterogenität moderner Dramenkonzeptionen unter dem Gesichtspunkt des Bestehens einer Figurenhandlung und in Bezug auf die Textkonstitution hinsichtlich historischer Quellen als unmarkiert oder traditionalistisch angesehen werden; dieser Einschätzung entspricht auch die Tatsache, daß sich der Autor zu diesen Punkten kaum äußert. Für die Modellierung der dramatischen Kommunikation nach Dürrenmatt in Anlehnung an das Gesamtmodell dramatischer Kommunikation bedeutet dies nun, daß hier unter diesen beiden Aspekten keine Änderungen vorgenommen werden müssen. Dies gilt gleichfalls hinsichtlich der sich hieraus partiell ableitenden Überlegungen des Autors zu Aussage und Funktion des Dramas, zum Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung sowie zu den auslösenden Momenten seines Schaffens, da diese Überlegungen kaum neuartige Gesichtspunkte zu dem Gattungsmodell selbst beitragen, obgleich sie selbst weitere Differenzierungen aus kommunikationstheoretischer, semiotischer oder literaturwissenschaftlicher Sicht gestatten. Anders verhält es sich hier bei Dürrenmatts Erörterungen zur Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen bei der Produktion des Inszenierungstextes. Die produktionsästhetischen Ausführungen des Autors zur Gewährleistung eines möglichst hohen Grades an Inszenierbarkeit des Textes durch Antizipation der Inszenierung und Reduktion des Textes sowie dessen rezeptionsästhetische Erläuterungen möglicher Strategien zur Rezeptionslenkung geben zwar keinen Anlaß zur Änderung des Modells, stellen jedoch aufgrund ihrer pragmatischen Orientierung Ansatzpunkte für weitere Diskussionen insbesondere aus texttheoretischer und kommunikationsästhetischer Perspektive bereit. Dies gilt entsprechend für Dürrenmatts theaterpragmatische Ausführungen zur Textreproduktion im allgemeinen sowie zu derjenigen durch den Schauspieler im besonderen; auch hier bewegen sich die Vorstellungen des Autors im Rahmen des Gattungsmodells dramatischer Kommunikation, gestatten jedoch innerhalb dieses Rahmens wiederum erhebliche Differenzierungen. Dürrenmatts Überlegungen zu den Bedingungen und zum Verlauf der Rezeption erweisen sich dagegen als eher unergiebig und sind daher in Bezug auf das Modell wie auch hinsichtlich darauf aufbauender Überlegungen kaum von weiterem Interesse. Die Reflexionen Dürrenmatts zum dramenspezifischen Sprachgebrauch, zur Charakterisierung von Figuren sowie zu dramatischen Dialogen und Monologen sind ebenso wie dessen produktionsästhetische Überlegungen durch eine ausgesprochen theaterpragmatische Argumentation gekennzeichnet. Dies zeigt sich unter anderem in der Bestimmung von sprachlichen Spezifika vor dem Hintergrund inszenierungspraktischer Erfordernisse, in
246
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
der Figurencharakterisierung mit dem Ziel, dem Schauspieler Ansatzpunkte für die Individualisierung der Figur auf der Bühne zu geben, oder in dem Bestreben, Monologe und Dialoge in den (zugleich auch nonverbalen) Handlungsstrang des (inszenierten) Dramas zu integrieren. Es zeigt sich hiermit also, daß sich Dürrenmatts theoretische Reflexion dramatischer Kommunikation im Rahmen des vorgestellten Gattungsmodells bewegt, wobei der Autor insbesondere in Bezug auf die Produktion des Inszenierungstextes durch den Autor selbst sowie auf die Gestaltung der Textinszenierung durch das Ensemble weiterfuhrende Überlegungen anstellt. Diese machen nun trotz solcher differenzierenden Betrachtungen keine Änderung des Gattungsmodells selbst erforderlich; die theaterpragmatische Komponente der Reflexion Dürrenmatts soll hier dennoch durch einen Fettdruck der Elemente Autor, Ensemble und Textinszenierung sowie der diese verbindenden Linien bzw. Pfeile hervorgehoben werden. Das Modell dramatischer Kommunikation nach Friedrich Dürrenmatt hat danach der folgenden Seite (Abb.21) gezeigte Gestalt. Die Stücke Peter Handkes weichen von der hier angenommenen Norm traditionalistischer Dramengestaltung durch das Fehlen einer Figurenhandlung ab. Und so reflektiert der Autor auch dieses Fehlen einer Handlung selbst und erörtert mit der ausschließlichen Wendung der Figuren an das Publikum (Publikumsbeschimpfung), dem akommunikativen Zeichengebrauch auf Figurenebene (Sprechstücke) sowie der hervorhebenden Vorführung sprachlicher Verhaltensweisen in Figurenszenarien mindestens drei dramatische Gestaltungsverfahren, in denen auf eine solche Figurenhandlung ganz oder wenigstens weitgehend verzichtet wird. Eine Modellierung der ersten beiden dieser drei Verfahren Handkes macht nun jeweils eine Änderung des Gattungsmodells dramatischer Kommunikation erforderlich. So entfällt bei dem Autorenmodell für das erste Verfahren die (semiotische und sprachliche) Interaktion zwischen den Figuren des Dramas überhaupt und wird durch einen direkt an das Publikum gerichteten Text der Sprechergruppe ersetzt. 48 Bei dem zweiten Verfahren entfällt gleichfalls die (semiotische) Interaktion zwischen den Figuren; der durch die Sprechergruppe geäußerte Text ist hier jedoch nicht direkt an das Publikum gerichtet, sondern erfüllt keine unmittelbare kommunikative Funktion, so daß hier im Gegensatz zur Modellierung des ersten Verfahrens auf den Richtungspfeil vom Figurentext zum Publikum zu verzichten ist.49 Das dritte Verfahren des Autors führt hier zu keiner Änderung des Gattungsmodells; mit den in den entsprechenden Dramen des Autors vorgeführten kommunikativen Szenarien 48 49
Vgl. Abb. 18, S.206. Vgl. Abb.19, S.207.
247
Autorenmodelle
Kontext Kotext I A A
Haupt- I kotext At
Nebentext At
Autor
Figur als Produzent At_
•
Rezipient
Text Bt
•
ZSGt
Produzent Bt
ZSBt Kritiker
Textkritik ZSA
Kontext Kotcxt I F. E
7.SG
ZSL
Kotext P
gemeinsamer Kotext
Szenenkontext Ai
Szcncnkotext Ai
gemeins. Szenenkotext
Szenenkotext Bi
Szenenkontext Bi
Figur als Produzent Ai
Text Ai
Figur als Rezipient Bi
Figur als Rezipient Ai
Text Bi
Figur als Produzent Bi
H
ZSAi
ZSGi
ZSG
Kontext P
Publikum .
ZSBi Kritiker
Inszenierungskritik ZSE
Abb.21:
Text At
Leser
Bt
Rczipicnt der Kritik
Rezipient der Kritik
Nebentext Bt
Figur als
ZSAt
Ensemble
gemeins. | HauptHauptkotext kotext ßt
Kontext L
Figur als
Figur als Rezipient At
1j
Kotext L
gemeinsamer Kotext
ZSP
A u t o r e n m o d e l l dramatischer K o m m u n i k a t i o n nach Friedrich Dürrenmatt
248
Autorenmodelle und Reflexion dramatischer Kommunikation
wird zwar keine vollwertige Dramenhandlung im traditionalistischen Sinne, sondern allenfalls eine rudimentäre Handlung gezeigt; diese Abweichung kann jedoch aufgrund des vereinfachenden Charakters des Gattungsmodells in diesem selbst nicht berücksichtigt werden. Die Aussage bzw. Funktion der nach diesen Verfahren jeweils gestalteten Dramen bestimmt Handke in der hervorhebenden Darstellung sprachlich-kommunikativer Verhaltensweisen im allgemeinen und solcher des Theaters im besonderen; diese metasprach- und metatheaterkommunikative Funktion der Stücke ist ein bestimmendes Element von Handkes dramenkommunikativer Reflexion und läßt dabei Raum für weitere Detaildiskussionen, die in diesen drei Modellen jedoch nicht berücksichtigt werden können. Handkes Überlegungen zum Entsprechungsverhältnis von Text und Inszenierung erweisen sich insbesondere auch gegenüber denjenigen von Dürrenmatt als unzureichend. Dies gilt gleichermaßen für die Angaben des Autors zu den auslösenden Momenten seines dramatischen Schaffens, für dessen Erörtungen zur Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen durch den Autor bei der Dramenproduktion selbst sowie für diejenigen zur Textreproduktion im allgemeinen. - Anders verhält es sich mit Handkes Reflexion der Textreproduktion durch den Schauspieler im besonderen. Der Autor stellt hier differenzierte Überlegungen insbesondere zur sprechsprachlichen Lokution des Sprechertextes an. Auch die rezeptionsästhetischen Äußerungen des Autors sowie seine Überlegungen zum dramenspezifischen Sprachgebrauch, zur Charakterisierung von Figuren sowie zur funktionalen Bestimmung der Monologe und Dialoge in den drei verschiedenen dramatischen Gestaltungstypen erweisen sich, wie deutlich wurde, vor dem Hintergrund der metakommunikativen Dramenkonzeption als kommunikationstheoretisch aufschlußreich. Sie erfahren hier jedoch keine explizite Berücksichtigung in den drei verschiedenen Autorenmodellen dramatischer Kommunikation, da sie nur als weitere mögliche Differenzierungen der bereits mit den drei Gestaltungsweisen eingeführten Änderungen des Gattungsmodells interpretiert werden können und sich somit unterhalb des mit dem Gattungsmodell vorgegebenen Abstraktionsniveaus befinden. Bei der Modellierung ist nun abschließend zu bedenken, daß auch Handkes Dramen trotz dessen unzureichender Reflexion des Entsprechungsverhältnisses von Text und Inszenierung explizit für die Bühne geschrieben sind, und der Inszenierungstext damit der Textinszenierung untergeordnet wird. In den drei folgenden Autorenmodellen wird dies durch Fettdruck der Inszenierung und durch Normaldruck des Textes hervorgehoben. Die Modelle haben danach folgende Gestalt (Abb.22-24):
249
Autorenmodelle
Kontext Kotext | A A
gemeinsamer Kotext
| Kotext Kontext L L
Leser
Autor Nebentext Ilauptkotext
Sprechergruppe
metatheaterkommunikativer Sprechertext
Rczipicnt der Kritik ZSA
fr
Kritiker
Textkritik
Kontext Kotext I E E
7. SG
ZSL
gemeinsamer Kotext
Publikum !
Ensemble Szenenkontext
Szenenkotext
metatheaterkommunikativer Sprcchcrtcxt
Sprechergruppe
Rezipient der Kritik
Kotext Kontext P P
Kritiker
Inszenierungskritik ZSE
ZSG
ZSP
Abb.22: Erstes Autorenmodell dramatischer Kommunikation nach Peter Handke (Publikumsbeschimpfung)
A u t o r e n m o d e l l e und R e f l e x i o n dramatischer K o m m u n i k a t i o n
250
Kontext Kotext | A A
gemeinsamer Kotext
Autor
| Kotext Kontext L L Leser
Nebentext Hauptkotext
Sprechergruppe
Sprechertext -
Rezipient der Kritik ZSA
tîf
Kontext Kotext I E E
Ensemble
Kritiker
Textkritik ZSG
ZSL
gemeinsamer Kotext
%
Publikum Szenenkontext
Szenenkotext
Sprechergruppe
Rezipient der Kritik
| Kotext Kontext P P
Sprechertext
Kritiker
Inszenierangskritik ZSE
ZSG
ZSP
A b b . 2 3 : Z w e i t e s A u t o r e n m o d e l l dramatischer K o m m u n i k a t i o n nach Peter Handke (Sprechstücke)
251
Autorenmodelle
Kontext Kotext A A
Hauptkotexl At
Nebentext At
Autor
Figur als Produzent At Figur als Rezipient At
*
gemeins. Hauptkotext
Text At
• -
ZSAt
Rezipient der Kritik
Hauptkotext Bt
• ZSBt
Kontext Kotcxt | E E
%
Kritiker
ZSG
ZSL
| Kotext Kontext P P
gemeinsamer Kotext Szenenkontext Ai
Szenenkotext Ai
Figur als Produzent Ai Figur als Rezipient Ai 1
Rezipient der Kritik
ZSAi
gemeins. Szenenkotext
Szenenkotext Bi
Figur als Rezipient Bi
Text Bi
Figur als Produzent Bi
ZSG
Publikum
ZSBi Kritiker
Inszenierungskritik ZSE
Szenenkontext Bi
Text Ai
ZSGi
Leser
Figur als Rezipient Bt Figur als Produzent Bt
ZSAi
Rezipient der Kritik
ZSG
Publikum
Figurais Rezipient Bi
ZSBi
Kritiker
Inszenierungskritik ZSE
Szenenkontext Bi
Figur als Produzent Bi
Text Bi
ZSCi
Leser
Figur als Rezipient Bt Figur als Produzent Bt
Textkritik ZSA
Ensemble
Text Bt
Kontext L
historischer Teilkotext L
Haupt- I gemeins. | Hauptkotext Hauptkotext kotext At Bt
Nebentext At
Autor
Kolext I.
ZSP
Abb.25: Autorenmodell dramatischer Kommunikation nach Peter Weiss (Dokumentarstücke)
J
Schluß In den vorliegenden Ausführungen werden die Überlegungen von Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke und Peter Weiss zur dramatischen Kommunikation auf der Grundlage von eingangs entwickelten kommunikationstheoretischen und sprachwissenschaftlichen Grundlagen aufgearbeitet und interpretiert. Diese Aufarbeitung und Interpretation gestattet es nun zum einen, deren verschiedenartige Konzeptionen dramatischer Kommunikation miteinander zu vergleichen, und zum anderen, in Anlehnung an ein ebenfalls eingangs entwickeltes Gattungsmodell dramatischer Kommunikation jeweils ein eigenes Autorenmodell dramatischer Kommunikation zu entwickeln. Diese Vorgehensweise läßt sich in entsprechender Weise auch auf die Reflexion dramatischer oder literarischer Kommunikation bei anderen Autoren anwenden. Darüber hinaus erschließen sich nun aber auch die hiermit aufgearbeiteten und interpretierten Kommunikationsreflexionen der drei Dramenautoren einem weiterreichenden interpretativen Zugriff. Ein solcher Zugriff ist aus verschiedenen kommunikationstheoretischen, semiotischen oder sprachwissenschaftlichen Forschungsbereichen heraus denkbar. Dabei ist jedoch vor dem derzeitigen Forschungshintergrund noch nicht gänzlich abzusehen, zu welchen Ergebnissen eine solche wissenschaftliche Applikation der Autorenreflexion dramatischer Kommunikation im einzelnen führen kann. Daher können abschließend in diesem Zusammenhang lediglich einige Vorschläge hierzu anhand ausgewählter Beispiele unterbreitet werden. So ist etwa Dürrenmatts dramenkommunikative Reflexion vor allem durch theaterpragmatische Überlegungen gekennzeichnet. Hierbei erweisen sich insbesondere diejenigen zur Differenz zwischen Text und Inszenierung sowie die sich hieraus abzuleitenden Erkenntnisse von besonderem Interesse. Der Autor selbst gibt zahlreiche Hinweise zur Konkretisierung und Variabilität der Inszenierung gegenüber dem Text, ohne dabei jedoch die Vergleichbarkeit der beiden prinzipiell in Frage zu stellen. Es wäre daher aufschlußreich, von seiten der Textlinguistik und Textsemiotik unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der modernen Theaterwissenschaft ein Texttransformationsmodell zu entwickeln, das es gestattet, die Umsetzung
256
Schluß
des Inszenierungstextes in die Textinszenierung im einzelnen nachvollziehbar zu machen und damit die Möglichkeiten der Konkretisierung sowie den hiervon abhängigen Grad von deren Variabilität zu bestimmen. In diesem Rahmen erweist sich insbesondere auch Dürrenmatts Konzeption einer Gestaltung des Inszenierungstextes unter Berücksichtigung der Aufführungsbedingungen des Dramas selbst als weiterführend. Der Autor nennt hierzu neben seinen theoretischen Erwägungen einige verschiedenartige Techniken; da diese Techniken selbst des weiteren nur unzulänglich theoretisch überdacht werden, bleibt es hier Aufgabe der Textlinguistik und Theaterwissenschaft, solche Textmerkmale sowie deren entsprechende Umsetzungstechniken zu systematisieren und deren Funktionsweise zu klären. Im Gegensatz hierzu gestatten Dürrenmatts Erläuterungen zu Aussage und Funktion eines Dramas kaum weiterfuhrende Einsichten; sie stellen jedoch ein Beispiel dafür dar, daß dieser Problemkreis auch von seiten des Schriftstellers selbst nicht ohne weiteres abschließend geklärt werden kann. Die erheblichen Unterschiede, die hier in den entsprechenden Konzeptionen von Dürrenmatt, Handke und Weiss bestehen, lassen jedoch einen gezielten Vergleich dieser Konzeptionen mit denjenigen anderer moderner Dramenautoren sowohl unter geschichtlichen als auch unter systematischen Gesichtspunkten als weiteren Schritt in einer Annäherung an dieses Problem sinnvoll erscheinen. Handkes Überlegungen zur dramatischen Kommunikation sind wie gezeigt insbesondere durch den Ansatz einer metasprachkommunikativen und einer metatheaterkommunikativen Funktion seiner Stücke sowie durch die Unterscheidung von mindestens drei diesen metakommunikativen Funktionen entsprechenden dramatischen Gestaltungsweisen gekennzeichnet. Die metasprachkommunikative Funktion der Stücke besteht in der hervorhebenden Darstellung sprachlicher Verhaltensweisen im allgemeinen und sprechsprachlicher Redemuster im besonderen; deren Ergebnis erscheint aufgrund des starken Differenzierungsgrades, der hier erreicht wird, aus sprachwissenschaftlicher Sicht als bemerkenswert; zu vermissen ist hierbei eine größere Systematik und Vollständigkeit, die der Autor selbst jedoch bewußt nicht anstrebt. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die metatheaterkommunikativen Ergebnisse der Stücke, die zumindest aus heutiger Sicht sowohl hinsichtlich ihres Differenzierungsgrades als auch in bezug auf deren Systematizität hinsichtlich der Grundelemente dramatischer Kommunikation sowie deren Funktionen selbst nur wenige weiterführende theaterwissenschaftliche oder kommunikationstheoretische Erkenntnisse gestatten. Anders verhält es sich jedoch mit den verschiedenartigen metakommunikativen Gestaltungsweisen der Stücke. Handke erläutert verschie-
Schluß
257
denartige Möglichkeiten, Sprache und sprachliche Kommunikation selbst zu thematisieren. Bei diesen verschiedenartigen Möglichkeiten handelt es sich (mit Ausnahme des Sprechertextes im ersten Teil der Publikumsbeschimpfung) durchweg um spezifisch dramatische Gestaltungsweisen, die (im wissenschaftlichen Diskurs bislang weitgehend vernachlässigt) von einer allgemeinen Metakommunikationstheorie in eine umfassende metametakommunikative Typologie metakommunikativer Kommunikationstechniken zu integrieren sind. Die Überlegungen von Peter Weiss zum dokumentarischen Drama schließlich öffnen sich zum Beispiel einigen weiterfuhrenden Fragestellungen aus dem Forschungsbereich der Textlinguistik und Textsemiotik. Da Weiss die Bearbeitung historischen Quellenmaterials mit dem Ziel einer Optimierung von deren Rezeption vornimmt, können diese Bestrebungen in diesem Forschungsbereich als Textkondensationstechniken interpretiert und mit anderen solchen Techniken, die nicht aus der Dokumentarliteratur selbst stammen, auf ihre Form und Funktion hin verglichen werden. Darüberhinaus mißt der Autor der Bearbeitung historischen Materials insbesondere im Drama und das heißt auch hier: auf der Bühne ein großes Gewicht bei. Damit wird die Textkondensation um eine weitere (wiederum rezeptionsoptimierende) Texttransformation ergänzt; der Autor selbst gibt zahlreiche und verschiedenartige Erläuterungen hierzu. Aufgabe der Textsemiotik wäre es hierbei zu überprüfen, ob diese Transformation als Textkondensation oder als Texterweiterung zu interpretieren ist; denn gegenüber dem Inszenierungstext stellt die Textinszenierung aufgrund ihrer Konkretisierung eine Texterweiterung dar, hinsichtlich des historischen Quellenmaterials jedoch eine Textkondensation, die durch den gezielten Einsatz (insbesondere sprech-)sprachlicher wie auch nichtsprachlicher Gestaltungsmöglichkeiten auf der Bühne erreicht wird. Es zeigt sich hiermit, daß die textlinguistische bzw. textsemiotische Konzeption der Textkondensation im Anschluß an die Überlegungen des Autors auch auf den Bereich des Dramas angewandt werden kann und in diesem Bereich selbst ausbaufähig ist. Die hier skizzierten kommunikationstheoretischen und sprachwissenschaftlichen Applikationen der Überlegungen von Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke und Peter Weiss zur dramatischen Kommunikation zeigen exemplarisch, wie die Kommunikations- und Sprachreflexion von seiten dramatischer Schriftsteller nach einer Aufarbeitung und Interpretation im Rahmen kommunikationstheoretischer und sprachwissenschaftlicher Grundlagen Ansatzpunkte für weiterführende wissenschaftliche Diskussionen geben kann. Ob solche Diskussionen im Bereich der
258
Schluß
Kommunikations- und Sprachwissenschaft jedoch eine Zukunft haben, hängt nicht zuletzt auch von der Gesprächsbereitschaft der literarischen wie der wissenschaftlichen Seite ab.
Literaturverzeichnis 1. Quellen1 Dürrenmatt, Friedrich: Werkausgabe in dreißig Bänden. Hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Autor. Zürich: Diogenes, 1985/86. [Entstehungs- und Ersterscheinungsdaten der einzelnen Werke dort] Bd.l: Es steht geschrieben. Der Blinde. Frühe Stücke. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.2: Romulus der Große. Eine ungeschichtliche historische Komödie in vier Akten. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.3: Die Ehe des Herrn Mississippi. Eine Komödie in zwei Teilen (Neufassung 1980) und ein Drehbuch. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.4: Ein Engel kommt nach Babylon. Eine fragmentarische Komödie in drei Akten. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.5: Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.6: Frank der Fünfte. Komödie einer Privatbank. Mit Musik von Paul Burkhard. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.7: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd. 8: Herkules und der Stall des Augias. Der Prozeß um des Esels Schatten. Griechische Stücke. Neufassungen 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.9: Der Meteor. Dichterdämmerung. Nobelpreisträgerstücke. Neufassungen 1978 und 1980. Zürich: Diogenes, 1985. Bd. 10: Die Wiedertäufer. Eine Komödie in zwei Teilen. Urfassung. Zürich: Diogenes, 1986. Bd. 11: König Johann. Titus Andronicus. Shakespeare-Umarbeitungen. Zürich: Diogenes, 1985.
Die Quellenangaben erfolgen für jeden Autor in vier Gruppen: Werlcausgabe, Dramen, Prosa und Lyrik, Gespräche und Briefe; innerhalb dieser Gruppen sind die Titel j e w e i l s nach Ersterscheinungsdaten geordnet.
260
Literaturverzeichnis
Bd. 12: Play Strindberg. Porträt eines Planeten. Übungsstücke für Schauspieler. Zürich: Diogenes, 1985. Bd. 13: Goethes Urfaust ergänzt durch das Buch von Doktor Faustus aus dem Jahre 1589. Büchners Woyzeck. Zürcher Fassung. Bearbeitungen von Friedrich Dürrenmatt. Zürich: Diogenes, 1986. Bd. 14: Der Mitmacher. Ein Komplex. Text der Komödie (Neufassung 1980). Dramaturgie, Erfahrungen, Berichte, Erzählungen. Zürich: Diogenes, 1986. Bd. 15: Die Frist. Eine Komödie. Neufassung 1980. Zürich: Diogenes, 1986. Bd.16: Die Panne. Ein Hörspiel und eine Komödie. Zürich: Diogenes, 1985. Bd. 17: Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. Stranitzky und der Nationalheld. Das Unternehmen der Wega. Hörspiele und Kaberett. Zürich: Diogenes, 1985. Bd. 18: Aus den Papieren eines Wärters. Frühe Prosa. Zürich: Diogenes, 1986. Bd. 19: Der Richter und sein Henker. Der Verdacht. Die zwei Kriminalromane um Kommissär Bärlach. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.20: Der Hund. Der Tunnel. Die Panne. Erzählungen. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.21: Grieche sucht Griechin. Mister X macht Ferien. Nachrichten über den Stand des Zeitungswesens in der Steinzeit. Grotesken. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.22: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Aufenthalt in einer kleinen Stadt. Fragment. Zürich: Diogenes, 1986. Bd.23: Der Sturz. Abu Chanifa und Anan ben David. Smithy. Das Sterben der Pythia. Erzählungen. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.24: Theater. Essays, Gedichte und Reden. Zürich: Diogenes, 1985. Bd.25: Kritik. Kritiken und Zeichnungen. Zürich: Diogenes, 1986. Bd.26: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte und Reden. Zürich: Diogenes, 1986. Bd.27: Philosophie und Naturwissenschaft. Essays, Gedichte und Reden. Zürich: Diogenes, 1986. Bd.28: Politik. Essays, Gedichte und Reden. Zürich: Diogenes, 1986. Bd.29: Zusammenhänge. Essay über Israel, eine Konzeption. Nachgedanken unter anderem über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Judentum, Christentum, Islam und Marxismus und über zwei alte Mythen. 1980. Zürich: Diogenes, 1985.
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