Dioskuren, Konkurrenten und Zitierende: Paarkonstellationen in Sprache, Kultur und Literatur 9783737003001, 9783847103004, 9783847003007


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Dioskuren, Konkurrenten und Zitierende: Paarkonstellationen in Sprache, Kultur und Literatur
 9783737003001, 9783847103004, 9783847003007

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Jan Cölln / Annegret Middeke (Hg.)

Dioskuren, Konkurrenten und Zitierende Paarkonstellationen in Sprache, Kultur und Literatur

Festschrift für Helmut Göbel und Ludger Grenzmann zum 75. Geburtstag

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0300-4 ISBN 978-3-8470-0300-7 (E-Book) Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Teresa Grenzmann Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Tabula Gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Jan Cölln / Annegret Middeke Helmut Göbel und Ludger Grenzmann. Zu Paarkonstellationen . . . . . .

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Dieter Cherubim »Zwei ritten zusammen«. Beobachtungen zur Sprache bei Paarbildung

.

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Werner Alberts Die himmlischen Zwillinge. Zu den Dioskuren auf Denaren der römischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Volker Hunecke Republikaner und Monarchen zu Pferd. Denkmalkulturen in Paris und Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Dieter Steland Das Paar auf dem Eis. Zur epischen Integration eines Motivs in Goethes Novelle »Der Mann von fünfzig Jahren« und in Theodor Fontanes Roman »Unwiederbringlich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Dominik Müller Gleiche Brüder als Parteigegner – Individualität, Vererbung und Politik. Zu Marie von Ebener-Eschenbachs »Die Freiherrn von Gemperlein« und Gottfried Kellers »Martin Salander« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Hannes Fricke Notwendig-unlösbare Personenkonstellationen: Batman und Joker, Mythologisierung, Alternativlosigkeit und politische Brisanz . . . . . . . 133

6 Fidel Rädle Turbata Tranquillitas. Verwirrte Freundschaft im Mutiankreis

Inhalt

. . . . . . 161

Reinhard Klockow Philipp von Zesen: Der Autor und seine Autoren. Zur Frage von Zitat, Übernahme und Plagiat im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Hans Graubner Freundschaft als Konkurrenz im Sturm und Drang. Herder – Hamann, Goethe – Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Jürgen Viering Johann Salomo Semlers Auseinandersetzung mit Johann Caspar Lavater über Wunderglauben (1775/76 und 1786/87) . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Britta Hannemann Sophie Mereau und Clemens Brentano: »Spanische Novellen« – eine kunstvolle und subtile Gemeinschaftsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Hermann Krapoth Die Sprache des Exils. Jorge Semprffln und Georges-Arthur Goldschmidt in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Irmela von der Lühe »Sinnwandel«. Christa Wolf im Dialog mit Thomas Mann . . . . . . . . . 315 Manfred Karnick Parallelstrukturen und Sinnkontraste: »Dinggedichte« von Günter Eich, Richard Weiner und Hans Magnus Enzensberger . . . . . . . . . . . . . 331 Julia K. Schlichting Zweifel und Selbstbehauptung eines ungleichen Paares. Das erinnernde und das erinnerte Ich in »Beim Häuten der Zwiebel« von Günter Grass . 339

Tabula Gratulatoria

Werner Alberts Fernanda Mota Alves Hans-Georg von Arburg Hendrik und Siegrun Barbara Birus Hartmut Bleumer Gisela Bock Horst Dieter Cherubim Jan Cölln Gesa Dane Anke Johanna Detken Klaus Düwel Wolfgang und Gunhild Dinkelacker Caroline Emmelius Gesa von Essen Simone Winko-Jannidis und Fotis Jannidis Marga Freckmann Werner Frick Hannes Fricke Hans und Waldtraud Graubner Britta Hannemann Burkhard Hasebrink Volker Hunecke Matthias Jung Manfred und Susanne Karnick Reinhard Klockow Helga Heidecker und Hermann Krapoth

Annabell Kreitz Edith Anna Kunz Fabian Lampart Gerhard und Esther Lauer Irmela von der Lühe Annegret Middeke Dominik Müller Renate Namvar August Ohage Fidel Rädle Stefan Schierholz Julia Schlichting Lano Schlichting und Familie Almut Schneider Albrecht und Dagmar Schöne Hans-Jürgen Schrader Volker Sinemus Karl † und Almut Stackmann Dieter und Anne C. Steland Stefanie Stockhorst Claudia Stockinger-Martus und Steffen Martus Jan Strümpel Jürgen und Waltraud Viering Insa Wilke Zihui Wu

Jan Cölln / Annegret Middeke

Helmut Göbel und Ludger Grenzmann. Zu Paarkonstellationen

Die Gründungsväter der Germanistik Jacob und Wilhelm Grimm sind nicht nur Brüder, sie sind auch Gebrüder und als ein solches Gebrüderpaar gewissermaßen ein Drittes, das sich aus diesen beiden Brüdern zusammensetzt, ohne den Jüngsten, den Maler Ludwig Emil Grimm, mitzubezeichnen. Auch wenn die Titelblätter der gemeinsamen Veröffentlichungen in der Regel den Begriff »Brüder« tragen und das »Deutsche Wörterbuch« auf den Titelblättern »Jacob Grimm und Wilhelm Grimm« nennt, verzeichnet die erste Lieferung des vierten, nicht mehr von den beiden verantworteten Bands zur Wortstrecke »Forschel–Gefolgsmann« (1878), unter dem Stichwort »gebrüder« wie selbstverständlich »gebrüder Grimm«. Aus der Nibelungenlied-Ausgabe von der Hagens (1820) wird dort sogar der Gebrauch des Neutrums für »gebrüder Grimm« belegt.1 Jacob Grimm, der auch der treibende Motor des »Deutschen Wörterbuchs« ist, richtet seine Erkenntnisinteressen vor allem auf die Sprachforschung, wie noch heute die zunächst in vier Bänden erschienene eindrucksvolle »Deutsche Grammatik« (1819 – 1837) bezeugt, und auf die Erforschung rechts- und religionsgeschichtlicher Textdokumente (»Deutsche Rechtsalterthümer« [1828], sieben Bände »Weisthümer« [1840 – 1872], »Deutsche Mythologie« [1835]). Wilhelm Grimm war vor allem als Literatur- und Kulturhistoriker Autor zahlloser Beiträge in den im 19. Jahrhundert ins Leben gerufenen germanistischen Zeitschriften und als Verfasser der ersten maßgeblichen Monographie zur »Deutschen Heldensage« (1829) sowie als Herausgeber von mittelalterlicher Dichtung tätig. Jedoch als germanistisches Bruderpaaar sind sie zu einer Ikone nicht nur einer Fachwissenschaft, sondern auch für das kulturelle Selbstbewusstsein im Nationsprozess des 19. Jahrhunderts geworden, wie zahlreiche 1 Grimm, Jacob / Hildebrandt, Rudolf / Weigand, Karl (Hg.) (1878): Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 4.1 [1. Teil]: Forschel–Gefolgsmann. Leipzig: Hirzel, Sp. 1875 f. Dieter Cherubim zeigt in seinem Beitrag Ausdrucksformen der »Paarbildung« insbesondere in der deutschen Sprache und ihr sprachliches Funktionieren auch am Beispiel dieses vielleicht berühmtesten deutschen Gebrüderpaars.

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Doppelportraits auf Briefmarken und Gedenktafeln auch beider deutscher Brüderstaaten im 20. Jahrhundert oder z. B. das Grimm-Denkmal in Hanau zum Ausdruck bringen, das 1896 eingeweiht wurde. Die jeweils in zwei Bänden erschienenen »Kinder- und Hausmärchen« (zuerst: 1812, 1815) und »Deutschen Sagen« (zuerst: 1816, 1818) sowie vor allem das »Deutsche Wörterbuch« – 1854 erschien der erste Band – und ihrer beider Einsatz für nicht nur akademische Freiheit im ›Protest der Göttinger Sieben‹ sowie in der Frankfurter Nationalversammlung machen die Paarkonstellation aus, die sie als Gebrüder für die deutsche Nationalkultur geworden sind. In manchen Fällen, wie bei den Dioskuren aus der antiken Mythologie, die durch ihre ihnen dort zugeschriebene Wesenseigenschaft auch zum Sinnbild für Freundestreue werden konnten, ist im Laufe der langen Dauer der Geltung ihrer Tradition die Individualität der beiden Paarbestandteile aus dem kulturellen Gedächtnis sogar ganz verschwunden. Wie der Beitrag von Werner Alberts anhand der Analyse mehrerer Münzen zeigt, wird das mythische Treue figurierende Brüderpaar auch auf Münzen der antiken römischen Republik abgebildet, offenbar um in der römischen Wirtschaftspolitik die Zuverlässigkeit des Zahlungsmittels zu signalisieren. Die Individualleistungen der beiden Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sind inzwischen ja auch nur noch einzelnen sozialen Gruppen, aber nicht mehr dem gesamten Kollektiv der Traditionsgemeinschaft ein Begriff; als ikonisches Paar aber stehen sie sogar für die Validität des höchsten Zahlungsmittels der alten Bundesrepublik ein. Auch eine jahrelange Freundschaft, wie die der beiden Jubilare, hat viel mit doppelter Identität – als Individuum und als Paar – zu tun. Sie wird von vielen, die Ludger Grenzmann und Helmut Göbel lange kennen, als vorbildlich empfunden; fragt man, etwa im Zuge der Recherchen2 für das vorliegende Vorwort, ihnen nahe stehende Personen, seit wann die beiden befreundet sind, wird mit den lakonischen Worten »schon immer« eine gleichsam mythische Entität evoziert. Sie kamen ungefähr zeitgleich nach Göttingen – zuerst, im September 1965, Ludger Grenzmann, als wissenschaftliche Hilfskraft und ›rechte Hand‹ von Karl Stackmann, knapp vier Jahre später Helmut Göbel als Doktorand von Jakob Steiner. Helmut Göbel promovierte über »Bild und Sprache bei Lessing«3, Ludger Grenzmann, nachdem er im Zuge einer geplanten Forschungsarbeit über Traum und andere psychopathologische Elemente in der Dichtung E.T.A. Hoffmanns auf der Suche nach dem »Frankfurter Traumbüchlein« auf weitere

2 Wir danken Regina Grenzmann, Hans Graubner, Teresa Grenzmann, Xenia Engel und Volker Sinemus für wertvolle Informationen. 3 Göbel, Helmut (1971): Bild und Sprache bei Lessing. München: Fink.

Helmut Göbel und Ludger Grenzmann. Zu Paarkonstellationen

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Traumbücher gestoßen war, bei Karl Stackmann über das »Traumbuch Artemidori. Zur Tradition der ersten Übersetzung ins Deutsche durch W. H. Ryff«4. In ihrer langen akademischen Tätigkeit haben sie zahlreiche weitere und viel beachtete Veröffentlichungen vorgelegt: Ludger Grenzmann ist Verfasser des Abschnitts »Romantik« in der »Geschichte der deutschen Literatur«5 beim Klett Verlag sowie Herausgeber und Verfasser des Nachworts, der Zeittafel, Anmerkungen und bibliographischen Hinweise der 1981 veröffentlichten »Sämtliche[n] Erzählungen« von Joseph von Eichendorff,6 die inzwischen in dritter Auflage7 und als Taschenbuch8 erschienen sind. 1984 gab er gemeinsam mit Karl Stackmann den auf das Wolfenbütteler DFG-Symposion der Germanistik zurückgehenden Sammelband »Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit«9 heraus und 1987 zusammen mit Hubert Herkommer und Dieter Wuttke die Festschrift »Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte der Mittelalters«10 zum 65. Geburtstag von Karl Stackmann. Im Zusammenhang mit seiner Funktion als Protokollant in der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen war er Herausgeber der jeweiligen Veröffentlichungen11, und jeder weiß, mit wie viel Akribie und philologischem Sachver4 Grenzmann, Ludger (1980): Traumbuch Artemidori. Zur Tradition der ersten Übersetzung ins Deutsche durch W. H. Ryff. Baden-Baden: Valentin Koerner (Saecula spiritalia 2). 5 Grenzmann, Ludger / Große, Wilhelm (2002): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2: Klassik. Romantik. Leipzig u. a.: Ernst Klett Schulbuch Verlag. 6 von Eichendorff, Joseph: Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Ludger Grenzmann. München: Goldmann 1981 (Lesen erleben 7600). 7 2., durchges. u. bibliogr. erg. Aufl. 1987, 3., bibliogr. erg. Aufl. 1991. 8 von Eichendorff, Joseph: Sämtliche Erzählungen. Hg. v. Ludger Grenzmann. München: Goldmann 2007 (Lesen erleben 7757). 9 Grenzmann, Ludger / Stackmann, Karl (1984): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart: Metzler (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5). 10 Grenzmann, Ludger / Herkommer, Hubert / Wuttke, Dieter (Hg.) (1987): Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte der Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 11 Einige Bände seien exemplarisch genannt: Moeller, Bernd / Grenzmann, Ludger (Hg.) (1983): Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 – 1981. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 3. Folge 137); Boockmann, Hartmut / Grenzmann, Ludger (Hg.) (1989): Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit: Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1983 – 1987. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 3. Folge, 179); Grenzmann, Ludger u. a. (Hg.) (2004): Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spät-

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stand er (nicht nur) diese Aufgaben erfüllte. Beredtes Zeugnis seiner vielfältigen interdisziplinären Interessen, von denen das an der Musik besonders hervorzuheben ist, und kooperativen Arbeitsformen ist beispielsweise der gemeinsam mit Hannes Fricke verfasste Aufsatz »›Faust‹ und die Musik«12, der unter anderem eine detaillierte Liste von »Faust«-Kompositionen enthält. Helmut Göbel begann seine aktive Herausgeberschaft mit den Bänden sieben und acht der achtbändigen Gesamtausgabe der Werke Lessings13, es folgten unter anderem die Ausgabe von Lessings »Nathan«14 und von Veza Canettis Roman »Die gelbe Straße«15 sowie die Redaktion des Text+Kritik-Bandes über Veza Canetti16, als deren (Wieder-)Entdeckerin Helmut Göbel sich international einen Namen gemacht hat. Neben der umfangreichen Herausgebertätigkeit hat er zahlreiche wissenschaftliche Studien zu Lessing17 sowie zu Veza und Elias Canetti veröffentlicht, darunter dessen Lebensdarstellung18 in Rowohlts Monographien. Bekannt ist Helmut Göbels intensive Beschäftigung mit Architektur und Malerei, wobei sein besonderes Interesse der künstlerisch-semantischen Relevanz der Farbe »grau« sowie dem Werk des italienischen Bildhauers Alberto Giacometti gilt. Hier sei exemplarisch auf den Aufsatz »Le gris chez Pablo Picasso, Alberto Giacometti et Gerhard Richter«19 hingewiesen. In der Gesamt-

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mittelalters 1999 – 2002. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 3. Folge, 263). Fricke, Hannes / Grenzmann, Ludger (1995): »Faust« und die Musik. In: Möbus, Frank / Schmidt-Möbus, Friederike / Unverfehrt, Gerd (Hg.): Faust – Annäherungen an einen Mythos. Göttingen: Wallstein, S. 153 – 168. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Bd. 7: Theologiekritische Schriften 1 und 2. Hg. v. Karl Eibl, Herbert Göpfert und Helmut Göbel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974; Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Bd. 8: Theologiekritische Schriften 3. Philosophische Schriften. Hg. v. Karl Eibl, Herbert Göpfert und Helmut Göbel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. Göbel, Helmut (Hg.) (1977): Lessings Nathan. Der Autor, der Text, seine Umwelt, seine Folgen. Berlin: Wagenbach (Wagenbachs Taschenbücherei). Canetti, Veza: Die gelbe Straße. Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel. München / Wien: Hanser 1990. Göbel, Helmut (Hg.) (2002): Veza Canetti. München: Edition Text + Kritik (Text + Kritik 156). Hier seien nur einige wenige genannt: Göbel, Helmut (1980): Lessing und Cardano. Ein Beitrag zu Lessings Renaissance-Rezeption. In: Toellner, Richard (Hg.): Aufklärung und Humanismus. Heidelberg. Schneider (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 6); Göbel, Helmut (1982): »Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.« Zur Toleranzbegründung in Lessings Spätwerk. In: Lessing Yearbook 14, S. 119 – 132; Göbel, Helmut (1999): Das große und das kleine Ich: Eine Bemerkung zu Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«. In: Lessing Yearbook 30, S. 91 – 97; Göbel, Helmut (2001): Interpretationen. Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück. Stuttgart: Reclam. Göbel, Helmut (2005): Elias Canetti. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rowohlts monographien 50585). Göbel, Helmut (2010): Le gris chez Pablo Picasso, Alberto Giacometti et Gerhard Richter. In: Korzilius, Jean-Loup (Hg.): Couleur de la morale, morale de la couleur. Actes du colloque de

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schau seines literaturwissenschaftlichen und editorischen Schaffens nimmt eine besondere Stellung die Herausgabe der »Briefe an junge Dichter«20 ein, da sie im Zusammenhang mit einer über drei Semester sich erstreckenden Lehrveranstaltung am Seminar für Deutsche Philologie in Zusammenarbeit mit den Studierenden erfolgte. Jahre später noch schwärmten die Mitwirkenden von den langen Abenden, an denen bei Helmut Göbel zuhause an dem Projekt gearbeitet wurde. Kaum mit Worten zu beschreiben ist das außerordentliche Engagement der beiden Jubilare, mit denen sie sich nicht nur in ihrer Funktion als Forscher, Dozenten und Akademische Oberräte, sondern auch als Kollegen, Mentoren, Betreuer, Förderer und Freunde für das fachliche Selbstverständnis und das Ansehen der Göttinger Germanistik, national wie international, eingesetzt haben. Sei es in ihrem ständigen Bemühen um die Qualitätsentwicklung der Curricula oder in ihrem Einsatz für die Studienanfänger schon in der Orientierungsphase, seien es die unzähligen Qualifizierungsarbeiten, die begutachtet, und Prüfungen, die durchgeführt werden mussten, die zusätzlichen Seminare, die sie in den Zeiten der sogenannten ›Studentenschwemme‹ angeboten haben, oder die aufwändig organisierten Exkursionen, mit denen sie den Studenten den so nötigen wie wertvollen Blick über den berühmten Tellerrand ermöglichten… – Helmut Göbel und Ludger Grenzmann bewerkstelligten all dies und noch mehr nicht nur hoch professionell, sondern auch mit Feingefühl, Charakterstärke und pädagogischer Hingabe. Besonders hervorzuheben ist die von wissenschaftlichem Idealismus und menschlichem Wohlwollen getragene Förderung von Studenten und Nachwuchswissenschaftlern, die weit über die akademischen Verpflichtungen hinausging und -geht, etwa in den von Helmut Göbel initiierten und durchgeführten Projekten oder in dem von Ludger Grenzmann regelmäßig ausgerichteten Arbeitskreis, in dem heute noch arrivierte Studenten und Postgraduierte ihre eigenen Arbeiten vorstellen und andere Neuerscheinungen besprechen.21 Entsprechend wichtig war ihnen auch immer die Qualität der akademischen Lehre in wissenschaftlicher wie atmosphärischer Hinsicht. Gemeinsam haben sie über viele Jahre, lange zusammen mit Hermann Krapoth, das interdisziplinäre Erasmus-Seminar für französische Programmstudierende bestritten. Häufig konnte man sie mittwochs nachmittags mit zum Teil exklusiven Materialien bei ihren letzten Seminarvorbereitungen in Cafeter†a der Turm-Mensa beobachten. Diese fruchtbare Kooperation der beiden Kollegen und Freunde hat ihre Wurzeln nicht erst in den späten achtziger Jahren, als Motb¦liard, 16 et 17 septembre 2005 (Annales litt¦raires de l’Universite de Franche-Comt¦ 859). 20 Göbel, Helmut (Hg.) (1989): Briefe an junge Dichter. Göttingen: Wallstein. 21 So sind unter anderen die Beiträgerinnen Britta Hannemann und Julia K. Schlichting hier gefördert worden.

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Ludger Grenzmann als Erasmus-Beauftragter die Kontakte des Seminars nach Frankreich betreute, sondern bereits in den 70er Jahren, als er die Betreuung des 1967 von dem französischen Germanisten Pierre Bertaux ins Leben gerufenen »Programme d’¦tudes en Allemagne« für französische Studierende der Germanistik an deutschen Hochschulen übernahm. Es ist eines der ältesten Programme des DAAD und eines der langfristigsten der Göttinger Universität. Für sein langjähriges Engagement in der deutsch-französischen Zusammenarbeit auf universitärer Ebene wurde Ludger Grenzmann 2010 zum »Chevalier dans l’Ordre des Palmes acad¦miques« ernannt. Auch Helmut Göbel ist in puncto Internationalität und Kosmopolitismus kaum zu schlagen. Als 1985 unter der Leitung von Albrecht Schöne der Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik in Göttingen stattfand, war dessen Gelingen in großem Maße auch Helmut Göbels Verdienst. Vor allem aber sind es internationale Vortragstätigkeiten und Gastdozenturen, z. B. an Universitäten in Genf, Kaliningrad, Illinois und Lissabon, die Helmut Göbel als echten global player der Germanistik auszeichnen. Solche Freundes-Paare, Paare ewiger Kontrahenten oder auch Ehepaare, spielen in der Literatur von Anbeginn eine zentrale Rolle, wie schon das Gilgamesch-Epos und die »Odyssee« eindrucksvoll demonstrieren. Brüder, Schwestern, Tanzpaare, zankende, im Kuss miteinander verschmolzene Liebespaare, Geschäftspartner, Koalitionäre, Zweikämpfer und Duellanten, Streitende, miteinander Diskutierende, im Wettbewerb stehende Kontrahenten entstehen in Paarkonstellationen, die zwei Menschen erst zu solchen machen. »Sorge um die eigene Identität ist ein Thema von existenziellem Ausmaß bei einer Reihe romantischer Autoren.«22 Ludger Grenzmann hat die »Entzweiung und Aufspaltung« am Beispiel der »Doppelgängerliteratur« insbesondere bei E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck in seiner Einführung in die Romantik als eines der zentralen Motive romantischer Literatur dargestellt.23 In dieser Tradition stehen noch Gottfried Keller und Marie von Ebner-Eschenbach: Dominik Müller analysiert in seinem Beitrag insbesondere am Beispiel der Zwillingsbrüder in Ebner-Eschenbachs »Die Freiherrn von Gemperlein« das tragikomische Scheitern dieses Paares beim Streben nach jeweiliger Unverwechselbarkeit. Dass es in der Literatur für Liebende zuweilen schwierig ist, als Individuen zu einem Paar werden, zeigt Dieter Steland am Beispiel eines Liebespaares auf dem Eis in Goethes »Mann von fünfzig Jahren« und Fontanes »Unwiederbringlich«. Die tänzerische Nähe ohne gesellschaftliche Öffentlichkeit kann trügerisch sein – für den Mann und die Frau und für den Betrachter, für den zuerst die Paar22 Grenzmann, Ludger / Große, Wilhelm (2002): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2 (Anm. 5), S. 145. 23 Ebd., S. 144 – 147.

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bildung sichtbar oder der über eine vermeintliche Paarbildung getäuscht wird. In all diesen Erzähltexten, welche die Beiträge von Müller und Steland behandeln, geht es zudem gerade darum, ob, in welchem Maße und durch welche Bedingungen eine natur- oder milieubedingte oder auch durch verschiedene Genese bedingte Unterschiedlichkeit des jeweils Einzlenen im Paar bestehen kann oder dieses eben sprengt – respektive erfassbar und erzählerisch beschreibbar wird. Hannes Fricke behandelt in seinem Beitrag zu den Comicfiguren Batman und Joker die geradezu traumatische Angewiesenheit der psychischen Identität einzelner Figuren auf die Gegnerschaft des Anderen. Im Ziel seiner nie völlig gelingenden Auslöschung liegt das unbewusste Streben nach der Vernichtung der eigenen traumatischen Identität verborgen, an der aber identitätspsychologisch festgehalten wird, so dass diese Geschichten auch ursprünglich auf immer weitere Fortsetzbarkeit angelegt sind. Als Akteure im literarischen Feld sind solche Paare erst sehr viel später bezeugt. Am Beispiel von Freundschaftsbriefen im deutschen Humanismus zeigt Fidel Rädle wie sich Mutianus Rufus in seiner Briefkommunikation und – soweit dadurch rekonstruierbar – in seinem Freundschaftsverhalten eine ausgenommen singuläre humanistische Identität in der von ihm selbst zusammengestellten und ›dirigierten‹ sozialen Gruppe erschreibt und sozial ausagiert. Hans Graubner analysiert die Selbstfindung Herders und Goethes als Autoren in ihrem jeweiligen Briefkontakt mit Hamann respektive Herder. Die Wahl des Brieffreundes, erste Unterordnungsgesten des Jüngeren gegenüber dem Etablierten und schließlich übersteigerte Ausdrucksformen der Überbietungsstrategien des Jüngeren nach den ersten Erfolgen scheinen geradezu ein Verlaufsmuster der Selbstbestimmung und Selbstbestätigung als Autor zu bilden. Jürgen Viering beschreibt die dialogische Selbstkorrektur aufklärerischer Positionen in der Auseinandersetzung Spaldings mit dem als Diskussionspartner gesuchten, öffentlich angesehenen und zum ›Freund‹ erklärten Lavater. Dieses dialogische Prinzip gehört vielleicht zu den Wesenskernen der Aufklärung überhaupt, deren Schriftsteller literarische Formen des Dialogischen in ihrer öffentlichen Briefkultur, in Abhandlungen zu Ästhetik, Religion und Politik, sowie in Brief- und Dialogromanen buchstäblich zelebriert haben. Das dialogische Selbstbestimmungsprinzip gilt nicht nur für einzelne Personen oder Figuren in literarischen Texten, sondern auch für soziale Gruppen und größere Kollektive: So beschreibt Volker Hunecke etwa an den Reiterstandbildern in Paris und Berlin die durch Konkurrenz bestimmte Geschichte der politischen Denkmalkulturen Frankreichs und Preußens.

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Schriftstellerehepaare hingegen agieren auch um 1800 noch kaum gleichberechtigt und Frauen bekommen nicht den öffentlichen Raum (zugestanden), um sich im Überbietungswettbewerb der Literaturakteure zu inszenieren: Britta Hannemann zeigt, dass ganze Übersetzungsprojekte durch Sophie MereauBrentanos wenig explizite Autorschaftsstrategien ›verunklart‹ bleiben und Clemens Brentano seine Frau als Autorin von Übersetzungen spanischer Novellen im literarischen Buchmarkt eher als Teil seiner eigenen Öffentlichkeitsstrategien zu instrumentalisieren scheint, als sich selbst als Teil eines Paares zu inszenieren. Innerhalb der Männerautorengruppe der Früh-Romantiker fällt ihm das offenbar leichter, wie seine Gemeinschaftsarbeit mit Achim von Arnim in »Der Knaben Wunderhorn« zeigt. Freilich machen es erst Veränderungen der Kultur und des Buchmarktes im 20. Jahrhundert möglich, dass ein Schriftstellerehepaar ein Paar selbstverständlich gleichberechtigter Individuen sein kann – noch bis ins 20. Jahrhundert nicht selten mit Akzeptanzproblemen bei dem Mann und für die Frau in der Wahrnehumng durch den öffentlichen Buchmarkt, wie das Beispiel Veza und Elias Canetti deutlich vor Augen führt. Helmut Göbel hat mit seinen Arbeiten mit dafür gesorgt, dass Veza Canetti nicht aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden ist.24 Hermann Krapoth beschreibt in seinem Beitrag nicht eine Paarbildung im Exil, sondern nach dem Exil, und zwar vor allem für den reflektierenden Betrachter : Jorge Semprffln und Georges-Arthur Goldschmidt waren keine Weggefährten und Leidensgenossen, der eine im aktiven französischen Widerstand und dann traumatisiert im Konzentrationslager Buchenwald, der andere um fünf Jahre Jüngere durch den Holocaust von seiner Familie getrennt, in das französische Exil getrieben und dort Gewalt und Schrecken des Entdecktwerdens ausgesetzt. Die Autobiographien dieser Erfahrungen erscheinen kurz nacheinander erst in den späten neunziger Jahren und zeigen auch ihrer beider Weg in die französische Sprache – nicht zuletzt über die Aneignung der Sprache Baudelaires, Gides (bei Semprffln) und Pascals (bei Goldschmidt). Ihre literarische Zweisprachigkeit haben sich beide Autoren erhalten respektive zurückerworben, wie Semprfflns spanischsprachige Autobiographie und Goldschmidts Übersetzungen Kafkas ins Französische und der eigenen französischen Autobiographie ins Deutsche zeigen. Binäre Strukturen gelten aber auch für Zeichen, Bedeutungen und Kommunikationsakte wie Paar- oder Kreuzreime, für das Oxymoron, das Unvereinbares zu einem eigentlich unmöglichen Dritten zusammenführt, für die Ambivalenz (oder z. B. für Kippfiguren in der darstellenden Kunst), in logischen Operationen 24 Canetti, Veza: Die gelbe Straße (Anm. 15); Göbel, Helmut (Hg.) (2002): Veza Canetti (Anm. 16). Auch seine Lebensdarstellung von Elias Canetti ist über lange Passagen eine Doppelbiographie: Göbel, Helmut (2005): Elias Canetti (Anm. 18).

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wie dem Analogieschluss, in rhetorischen Argumentationsverfahren der Parallelität und der Alternative, sowie bei der Zweistimmigkeit beispielsweise eines Liedsatzes, Duetten in Opern und Duos in der Kammermusik oder bei literarischen Formen des Dialogs, wie dem Streit, dem Interview und Zweipersonenstücken. Eine aus binären Strukturen generierte Besonderheit der Literatur ist die Intertextualität: Ihre expliziteren Erscheinungsformen lassen sich als ästhetische Strategien eines Textes beschreiben, Bedeutung über den nachvollziehbaren Verweis auf einen anderen Text zu erzeugen. Solche Fälle beschreibt Manfred Karnick mit »Parallelstrukturen« in Dinggedichten Günter Eichs und Hans Magnus Enzensbergers. Nicht auf Einzeltextreferenz und explizite Nachvollziehbarkeit angelegte Formen der Intertextualität beschreiben eher die Selbstverortungsstrategien von Autoren – ganz besonders im Rahmen des Traditionsverhaltens von Autoren im 19. Jahrhundert zu den Klassikern, was auch für Ebner-Eschenbach und Fontane gilt, wie man an den Analysen von Dominik Müller und Dieter Steland nachvollziehen kann. Neben dem, was Harold Bloom als »Anxiety of Influence« (1973) bezeichnete, lässt sich die Literaturgeschichte denn auch umgekehrt in Beispielreihen darstellen, die die Lust vieler Dichter an, ihr Bedürfnis nach, ja vielleicht sogar ihre autorpsychologische Notwendigkeit der schreibend verdichtenden Inkorporation vorgängiger Literatur und zwar ganz besonders der Klassiker literarischer Traditionen zeigen. Reinhard Klockow analysiert den kuriosen Fall einer lateinischen Schrift Philipp von Zesens, dessen Gestus des Zitierens, Nachweisens und der bibliographischen Angaben vor allem auf die rezeptionsästhetische Erzeugung eines gelehrten Habitus bei seinen Lesern ausgerichtet ist, aber bei näherem Hinsehen diese Gelehrsamkeit, besonders die scheinbar eifersüchtig verteidigte Deutungsselbständigkeit lediglich behauptet. Im Inneren einer Plagiats-Blase steckt, sobald sie platzt, eben keine Gelehrsamkeit, die mit ›Einflussangst‹ auch gar nicht zu bekommen wäre! Dass auch der Kampf um literarisches Selbstvertrauen und um die Gewissheit eingenommener Positionen als öffentliche Autorpersona so nicht zu gewinnen ist, zeigt Irmela von der Lühes Analyse der lebenslangen Beschäftigung Christa Wolfs mit Thomas Mann, insbesondere am Beispiel ihrer Auseinandersetzung mit dessen Humanismus-Skepsis in den Romanen »Der Zauberberg« und »Doktor Faustus«. Christa Wolf misst sich nicht mit den nur eine Generation jüngeren Erika und Klaus Mann und sucht auch nicht bei dem 1949 zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählten Heinrich Mann, dessen Asche am 25. März 1961 in einem großen öffentlichen Staatsakt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Ost-Berlin beigesetzt wurde, nach einer geistigen Patenschaft. Das hätte so einfach sein können und war vermutlich schon aus diesem Grund ungeeignet. Nicht weniger prekär ist die von Julia K. Schlichting beschriebene Paarkonstellation, in die sich das autobiographisch

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Jan Cölln / Annegret Middeke

schreibende Ich in Günter Grass’ »Beim Häuten einer Zwiebel« mit dem eigenen erinnerten Ich begibt. Grass spaltet die eigene öffentliche Identität seiner Autorpersona in ein Identitäten-Paar und ist gerade dadurch an sein früheres Ich gebunden – zumal in der mit der Veröffentlichung einsetzenden Skandalisierung, die Grass selbst zu schüren scheint, um sich seiner gegenwärtigen Identität gegen das erinnerte Ich umso mehr zu vergewissern. Den sprachlichen Grundlagen von Paarkonstellationen, vor allem auf der morphologischen und lexikalischen Ebene, widmet sich der Beitrag von Dieter Cherubim, der die Festschrift eröffnet. Ausgehend von der (in modernen Sprachen aussterbenden) Dualkategorie als kulturell indizierte Sichtweise auf Paarigkeit im Sprachsystem, schlägt er die Brücke über die Herstellung von sprachlichen Gemeinsamkeiten durch Paarbildung hin zur Paarsprache als Kombination aus zwei individuellen Sprachstilen, aus denen unter bestimmten Bedingungen ein gemeinsamer, dritter Sprachstil entstehen kann.

Dieter Cherubim

»Zwei ritten zusammen«. Beobachtungen zur Sprache bei Paarbildung1

1.

Einleitung

In seine Sprache wächst der Mensch hinein, indem er sie im Gebrauch nach seinen Umständen gestaltet. Eine menschliche Konstellation, die das Leben nachhaltig beeinflussen kann, ist die Paarbildung. Diese mag genetisch wie bei Zwillingen oder Geschwistern, biologisch und sozial wie in ehelichen Verbindungen oder vorwiegend sozial bestimmt sein wie in bestimmten Formen institutionalisierter Zusammenarbeit, bei persönlichen Freundschaften oder aktuellen Verabredungen, in jedem Fall kann sie sich ebenso auf das Verhalten der Beteiligten untereinander wie gegenüber anderen Personen auswirken. Nicht zuletzt auch auf das Sprachverhalten im engeren Sinne, um das es in diesem Beitrag gehen soll. Diejenigen, denen die folgenden Ausführungen zugedacht sind, sind aber weder Zwillinge noch Brüder, auch nicht miteinander versippt oder verheiratet, sondern einfach nur Freunde und Kollegen, die über einen längeren Zeitraum hin gemeinsam Seminare mit französischen und deutschen Studierenden durchführten: Helmut Göbel und Ludger Grenzmann in Göttingen. Doch die Art, wie von ihnen in enger Zusammenarbeit immer wieder neue ›Abenteuer‹ wissenschaftlichen Lernens mit den Studierenden organisiert, betreut und gemeistert wurden, lässt für manche ihre Form der Kollegialität fast schon als legendär erscheinen. Denn Paarbildung kann Legenden stiften: Nicht nur dass sie schon im antiken Olymp in Form von mehr oder weniger präsentablen Ehen (Zeus und Hera) oder als besonders enge Geschwisterbeziehung (Apollon und Artemis) bedeutsam war, sondern vor allem heroische Paare galten immer wieder als vorbildlich. So hatten Helden wie Herakles oder Theseus feste Partner, mit denen sie ihre

1 Gabriele Link (Braunschweig), Hartmut Schmidt (Berlin) und den Herausgebern des Bandes bin ich für Kritik und weiterführende Hinweise zu diesem Versuch dankbar.

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Abenteuer bestanden.2 So waren Zwillinge wie Romulus und Remus maßgeblich für die Gründungsgeschichte Roms. Und so ritten die berühmten Dioskuren Kastor und Pollux als Nothelfer der Seeleute immer wieder und für jedermann sichtbar auf bestimmten Typen von Silberdenaren der frühen Römischen Republik auf (s. auch den Beitrag von Werner Alberts in diesem Band). In der Mythologie der säkularisierten Moderne entspricht dem am ehesten noch das temporäre und oft recht konfliktreiche Zusammenspiel von zwei männlichen Helden im Genre des Westerns, z. B. von James Stewart und Richard Widmark im bekannten Film »Two Rode Together« von John Ford (1961), der hier titelgebend war. Aber auch im realen Leben der Antike spielten Paarbildungen auf höheren politischen Ebenen eine bedeutende Rolle: Im alten Sparta blieb das institutionelle Zweikönigtum lange Zeit erhalten und das bewährte, auf Kooperation und Kontrolle zugleich angelegte Doppelkonsulat der Römischen Republik wurde nur in besonderen Notzeiten durch eine einfache, aber höchst problematische Leitungsfunktion, die Diktatur, ersetzt. Freilich gab es daneben immer auch mehrköpfige Kollegialorgane (z. B. Triumvirate, Decemvirate usw.), die jedoch stets einen höheren Aufwand an Kooperation und effektiver Verständigungsbereitschaft zwischen ihren Mitgliedern erforderten als das bei Zweierkonstellationen notwendig war.3 Maßgeblich für die Erfahrungs- und Lebenswelt des Menschen dürfte jedoch neben den genannten sozialen Paarungen, etwa in der Form langfristig stabiler Ehen4, die interaktive Dualität von mindestens zwei Gesprächsbeteiligten (Sprecher- und Hörerrolle) sein, die schon Wilhelm von Humboldt (1827) als anthropologische Grundkonstellation menschlichen Verhaltens ausmachte,5 2 Das früheste Beispiel eines heldischen Paares findet sich im sumerischen Gilgamesch-Epos (20./19. Jh. v. Chr.), aber auch literarische Paarungen wie Roland und Olivier im mittelalterlichen Rolandslied, Cervantes’ Don Quijote und Sancho Panza oder Old Shatterhand und Winnetou bei Karl May ließen sich hier neben vielen anderen anführen. 3 Für die Römische Republik vgl. Meyer, Ernst (1961): Römischer Staat und Staatsgedanke. 2., durchg. und erg. Aufl. Zürich / Stuttgart: Artemis. Dreierkollegien gibt es auch heute noch in der Leitung von Karnevalsvereinen (in Köln z. B. Prinz, Bauer und Jungfrau), bei der Leitung von Fakultäten (z. B. Dekan, Kondekan, Prodekan) und anderswo. 4 In der Tierwelt sind dauerhafte oder gar lebenslange Paarbildungen zur Aufzucht des Nachwuchses wie bei manchen Vogelarten (z. B. bei Papageien oder Rabenvögeln) eher selten; umgekehrt gibt es aber gerade bei sogenannten Naturvölkern keineswegs nur eheliche Verbindungen mit jeweils einem Partner oder einer Partnerin, sondern durchaus unterschiedliche Formen von Polygamie. 5 von Humboldt, Wilhelm: Ueber den Dualis [1827]. In: Flitner, Andreas / Giel, Klaus (Hg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie. 3., durchges. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 113 – 143. Diese bahnbrechende Abhandlung hat vor allem Frans Plank gewürdigt und auf der Basis eines reichhaltigen empirischen Sprachenmaterials neu diskutiert und erweitert. Vgl. Plank, Frans (1989): On Humboldt on the dual. In: Corriga, Roberta / Eckman, Fred / Noonan, Michael

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auch wenn dieser Verhaltenstypus immer verschiedene Möglichkeiten von Erweiterungen, z. B. in Form von Team- oder Gruppengesprächen oder von Mehrfachadressierungen zulässt.6 Die unterschiedlich bedeutsame und vielfältige Paarigkeit menschlichen Lebens zu verarbeiten, sie kognitiv, sozial und emotional zu gestalten, musste daher in der Kulturentwicklung der Menschheit ebenso attraktiv erscheinen wie eine irgendwie geartete Berücksichtigung des Faktums der organischen Paarigkeit des Menschen »vom Scheitel bis zur Sohle«.7 Konkret zu fragen ist also, wie dies alles sprachlich umgesetzt wird, wie also die Paarigkeit, die selbst noch dem spannungsreichen Miteinander heterogener Partner zugrunde liegen kann, sich letztlich in der Systematik von Sprachen und besonders in Formen von spezifischem Sprachverhalten artikuliert und dementsprechend wiederfinden lässt.

2.

Paarigkeit im Sprachsystem: Dualkategorie und andere Ausdrücke von Dualität

Eine besondere grammatische Kategorie für feste Zweiheiten, der sogenannte Dual, scheint in den indoeuropäischen Sprachen weithin aus der Mode gekommen zu sein, ist aber in älteren Entwicklungsstufen mancher Sprachen oder in anderen Sprachtypen immer noch erhalten.8 Wer z. B. früher das Altgriechische in der Schule lernte, kam um bestimmte morphologische Ausdifferenzie(Hg.): Linguistic Categorization. Amsterdam: J. Benjamins, S. 293 – 333; vgl. auch Plank, Frans (1996): Domains of the dual, in Maltese and general. In: Rivista di linguistica 8, S. 123 – 140. Hier nicht diskutiert wird der allgemeine Begriff des ›Dualismus‹, der ja auch für die Paarbildung interessant ist. 6 Zur Technik von Mehrfachadressierungen vgl. Kühn, Peter (1995): Mehrfachadressierung. Untersuchungen zur adressatenspezifischen Polyvalenz sprachlichen Handelns. Tübingen: Niemeyer (Germanistische Linguistik 154); zu pragmatisch unterschiedlichen Formen von Gesprächen vgl. Henne, Helmut / Rehbock, Helmut (2001): Einführung in die Gesprächsanalyse. 4., durchges. und bibl. erg. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter (de Gruyter Studienbuch), S. 22 – 32. 7 Vgl. die Dualität der äußeren Sinnesorgane wie Augen, Ohren und Nasenöffnungen (vgl. lat. nares !) vs. Mund oder Zunge, der Gliedmaßen wie Arme, Hände, Beine und Füße, ferner der Schultern, Brüste u. a., ebenso der inneren Organe wie Lunge, Nieren, Testikel, Ovarien vs. Herz (dessen zwei Kammern aber heterogen sind), Gehirn (auch wenn es zwei Hemisphären umfasst), Leber (mit zwei Lappen), Milz (mit weißer und roter Pulpa), Gallen- oder Harnblase. Auch die Zweigeschlechtlichkeit höherer Lebewesen kann als Prototyp von Paarigkeit angesehen werden, selbst wenn es in der Realität dazu viele Varianten und Übergänge gibt. Vgl. hierzu auch die Liste der »natural pairs« bei Plank, Frans (1989): On Humboldt on the dual (Anm. 5), S. 308. 8 Vgl. auch Brugmann, Karl (1904): Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Straßburg: Trübner ; Plank, Frans (1996): Domains of the dual (Anm. 5); jetzt vor allem auch Corbett, Greville H. (2000): Number. Cambridge: University Press, bes. S. 38 – 50.

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rungen eines drei Kategorien umfassenden Numerussystems bei den Substantiven (Singular, Dual, Plural) und entsprechende duale, nur auf »Zweiheiten« anwendbare Adjektiv- und Verbalformen nicht herum.9 Dennoch war der Dual auch im antiken Griechisch bereits auf dem Rückzug. Fachleute konstatieren, dass er am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. selbst aus der Literatursprache weitgehend verschwunden war und dass ihn das hellenistische Griechisch (die sogenannte Koin¦) nicht mehr nutzte.10 Auffällig und interessant erscheinen hingegen noch der vorklassische und der klassische Gebrauch des Duals im Zusammenhang mit der zunehmend konkurrierenden Kategorie des Plurals.11 Generell wird mit dem substantivischen und dem damit verbundenen adjektivischen oder verbalen Dual auf Verhältnisse einer natürlichen Zusammengehörigkeit in der Wirklichkeit (z. B. auf Körperteilbezeichnungen oder Geschwisterbeziehungen), auf bestimmte soziale Bindungen (z. B. auf Ehen oder Freundschaften) und auf spezielle Fokussierungen, d. h. Markierungen einer besonderen, positiv wie negativ charakterisierbaren Zusammengehörigkeit von zwei Größen Bezug genommen: z. B. auf zwei Pferde, die in einem Gespann vereint sind, auf zwei herausragende Krieger, die als Hauptgegner gegeneinander antreten oder auf zwei Flüsse, die sich später in ihrem Lauf vereinen. Dabei können auch, wie in anderen Sprachen (z. B. im Sanskrit oder im Iranischen), zwei durch Opposition zusammen gespannte Größen ganz unterschiedlicher Art (z. B. Vater und Mutter, Tag und Nacht, Sonne und Mond) zu einer singulär verstandenen Zweiheit zusammengefasst und dann mit einer eigenen Bezeichnung (vgl. dt. Gebrüder, Geschwister, Eltern) wiedergegeben werden.12 Für die Vielfältigkeit im Gebrauch des Duals, der sich eben auch in der variablen Koppelung mit Pluralformen (Subjekt im Plural + Prädikat im Dual und vice versa) oder im Wechsel von Plural und Dual zeigt, findet man vor allem in der epischen Sprache Homers reiches, doch oft kontrovers beurteiltes Material.13 9 Vgl. etwa Zinsmeister, Hans (1954): Griechische Grammatik. Erster Teil: Laut- und Formenlehre. München: Bayerischer Schulbuch-Verlag, S. 102 f., 180 f.; Plank (1989) weist noch auf die sogenannten Duplikative, feste zweimalige Wiederholungen in amerikanischen Indianersprachen, und kooperative verbale Duale, die kooperative Handlungen ausdrücken, in polynesischen Sprachen hin. Vgl. Plank, Frans (1989): On Humboldt on the dual (Anm. 5), S. 301. 10 Zinsmeister, Hans (1954): Griechische Grammatik (Anm. 9), S. 210; Kühner, Raphael / Gerth, Bernhard (1963): Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre. Bd. 1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Photomechanischer Nachdruck der 3. Aufl. Hannover / Leipzig: Hahn 1898), S. 20. 11 Ebd., S. 69. 12 Ebd., S. 70. Inwieweit Sprachgebrauch und Wirklichkeit hier auseinander gehen können, zeigt das Beispiel der Brüder Grimm, die zwar ihr Leben fast vollständig zusammen verbrachten, selbst aber nicht als Gebrüder bezeichnet werden wollten. Das blieb erst Späteren vorbehalten. 13 Die ältere Literatur zum Gebrauch des Dual im Griechischen werten Kühner, Raphael /

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Diese scheinbare Unsystematik im Gebrauch versuchte Nicholas Hillyard durch Bezug auf sprachtypologische Hypothesen und statistische Beobachtungen am Material der ersten zwölf Gesänge der »Ilias« aufzulösen:14 Nach ihm lassen sich auch bei Homer Trends im Gebrauch von Dual oder Plural erkennen, die sich am Konstrukt einer Belebtheitsskala (animacy hierarchy) zu orientieren scheinen: Duale Formen werden vor allem im Gebrauch von Personalpronomina für Sprecher und Hörer verwendet, während auf unbelebte Zweiheiten auch schon pluralisch referiert werden kann. In der neueren Sprachentwicklung geht jedoch die Dualkategorie als kulturell ausgeprägte Sichtweise vielfach verloren. So finden wir im Lateinischen nur noch wenige Reflexe davon, z. B. in den Formen bestimmter Zahlpronomina (lat. duo, octo, ambo).15 Im Gotischen, der ältesten noch gut greifbaren germanischen Sprache, wird zwischen weis (nhd. ›wir‹) und wit (›wir beide‹) unterschieden, was wiederum zeigt, dass der Ausdruck von Dualität bei den Pronomina der ersten Person besonders nahe zu liegen scheint.16 Für das heutige Deutsch ist man ebenso auf wenige Relikte in den Dialekten angewiesen: So sollen im Bairischen die Pronomina engg (›euch beiden‹) und es (›ihr beide‹) ursprünglich auf feste Zweiheiten verweisen,17 und Ähnliches gilt im Niederdeutschen für die Pronomina wit und git (›wir / ihr beide‹).18 Aber auch wenn eine morphologisch differenzierte Dualkategorie fehlt, können relativ feste Zweiheiten z. B. im Deutschen durch Quantoren (z. B. beide [Frauen], ein Paar [Schuhe])19 oder implizit durch Nomina zum Ausdruck gebracht werden, die zwar als Singularia tantum ausgedrückt werden, aber nach unserem Erfahrungswissen im referierten Gegenstand feste Zweiheiten voraussetzen (z. B. Schere, Zange, Brille [< plur. Brillen])20, ähnlich Hose [mit zwei Beinen], Jacke [mit zwei Ärmeln], Feldstecher [mit zwei Objektiven], Kopfhörer [mit zwei Lautsprechern]). Als pluralia tantum erscheint hingegen Eltern, tra-

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Gerth, Bernhard (1963): Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache (Anm. 10), S. 19 aus. Ebd., S. 69, diskutieren sie zahlreiche interessante Beispiele. Hillyard, Nicholas (2006): The Typology of the Dual in Homer. In: Oxford University Working Papers in Linguistics, Philology & Phonetics 11, S. 62 – 76, hier S. 64 – 67. Auch viginti (›zwanzig‹) wird als Dual, d. h. als ›zweimal zehn‹, erklärt. Vgl. auch Greenberg, Joseph (1988): The first person inclusive dual as an ambiguous category. In: Studies in Language 12, S. 1 – 18; Plank, Frans (1989): On Humboldt on the dual (Anm. 5), S. 301, S. 312. Vgl. Zehetner, Ludwig u. a. (1985): Das bairische Dialektbuch. München: Beck, S. 57. Vgl. Sanders, Willy (1982): Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch. Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Sammlung Vandenhoeck), S. 114. Der adjektivische Quantor paar (z. B. sie trifft ein paar Leute) bezeichnet im Deutschen hingegen eine unbestimmte Anzahl, auf jeden Fall aber mehr als zwei Personen. Vgl. auch span. las gaffas, frz. les lunettes u. a., ferner Cherubim, Dieter (2001): Brillen. Sehen und gesehen werden. In: Der Deutschunterricht 53/1, S. 6 – 19.

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ditionell verstanden als Verbindung von zwei Elternteilen mit unterschiedlichem Geschlecht.21 Im Englischen werden die impliziten Zweiheiten deutlicher zum Ausdruck gebracht: Dort treten sie nämlich nur im Plural auf und können zudem durch den erläuternden Zusatz a pair of präzisiert werden, z. B. [a pair of] shears, scissors, tongs, spectacles, trousers, pants, shorts. Lediglich für die Wendung ein Paar Hosen in der Bedeutung von ›eine Hose‹ existiert diese Möglichkeit auch noch im Deutschen.22 Mit dem substantivischen Quantor Paar (< lat. par) kann eine spezielle Verbindung von (nur) zwei nach ihrer Erscheinungsform oder Funktion gleichen oder ähnlichen Gegenständen, Personen usw. markiert werden, z. B. (ein) Paar Strümpfe / Stiefel / Armreifen / Ohrringe / Würstchen. Dasselbe wird auch durch unterschiedlich gerichtete Kompositionen mit dem morphologischen Element {paar} erreicht, z. B. Augenpaar, Räderpaar, Reimpaar, Diebespaar, Sünderpaar oder Paarhufer, Paarlauf, Paartanz, Paarreim. Feste Zweierkoppelungen dieser Art lassen sich so auch für Paarungen von ungleichen Partnern erzeugen, z. B. Liebes-, Braut-, Ehe-, Eltern- und Jubelpaar, Geschwister-, Schwestern- und Bruderpaar, Tanz- und Königspaar u. a.23 Wenn diminuierend von einem Pärchen gesprochen wird, kommt dann noch eine emotionale Bewertung dazu oder man wechselt ins Fachliche (Biologie, Jagd) wie auch bei bestimmten Verb- und Adjektivableitungen ([sich] paaren, paarig). Adjektivisch und adverbiell kann paarweise im Sinne von ›jeweils zu zweit‹ verwendet werden. Auf eine exklusive »Zweierbeziehung« kann der Ausdruck Zweisamkeit verweisen, Komposita mit dem Zahlwort zwei (z. B. Zweiachser, Zweibeiner, Zweibettzimmer, Zweidecker, Zweihänder, Zweikampf, Zweireiher usw.) referieren hingegen nur auf eine ›Zweizahl‹ ohne Hinweis auf eine besondere Paarung der beteiligten Größen. Dasselbe gilt für den Ausdruck Zwiegespräch, während andere Komposita wie Zwietracht und historische Ableitungen zu zwei (z. B.

21 Die heterogene Zweiheit der Ehepaare wird aber heute durch sexuelle Liberalisierung von ehelichen Verbindungen und das Phänomen der sogenannten Patchwork-Familien zunehmend in Frage gestellt. Zu Eltern wird heute fach- bzw. verwaltungssprachlich auch schon ein Singular (der / die Elter) verwendet. 22 Vgl. Klappenbach, Ruth / Steinitz, Wolfgang (Hg.) (1974): Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache. Bd. 4: M–Schinken, S. 2725; Agricola, Erhard (1992): Wörter und Wendungen. Überarb. 14. Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag, S. 469. – Die Redewendung jdn. zu Paaren treiben hat jedoch nichts mit Paar zu tun, sondern wird anders (< barn ›Krippe‹) erklärt. Vgl. Paul, Hermann (2002): Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarb. und erw. Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen: Niemeyer, S. 729. 23 Weiteres Material lässt sich leicht über die sogenannten rückläufigen Wörterbücher erschließen, z. B. Muthmann, Gustav (2001): Rückläufiges deutsches Wörterbuch. Handbuch der Wortausgänge im Deutschen, mit Berücksichtigung der Wort- und Lautstruktur. 3., überarb. und erw. Aufl. Tübingen: Niemeyer (Reihe Germanistische Linguistik 78).

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Zweig, zweifeln) noch nicht einmal mehr eine Beschränkung auf zwei Größen ausdrücken. Ein anderer, nicht unkompliziert verwendbarer sprachlicher Ausdruck für Paarigkeit ist beide, das in attributiver, prädikativer und pronominaler Funktion24 (vgl. beide Brüder ; wir sind beide zu Hause; beide nehmen teil) vorkommen kann; adverbiell auch in Zusammensetzungen bzw. Ableitungen wie beiderseits oder beiderlei. Dominant ist die pluralische Verwendung, die dem Zahlwort zwei entspricht, seltener die singularische Verwendung als Neutrum im Nominativ, Akkusativ oder Dativ, meist auf Vorgänge oder Eigenschaften bezogen (z. B. beides ist richtig, mit beidem bin ich einverstanden). Intensivierende Konstruktionen wie wir beide zusammen, wir zwei beide usw. sind ebenfalls möglich, nicht selten auch eine phraseologische Einbindung (z. B. Doktor beider Rechte, beiden Seiten gerecht werden, mit beiden Händen zugreifen). Etymologisch wird beide mit lat. ambo und griech. %lvy zusammengebracht, deren zweite Silbe auf eine Konstruktion *- bh - + (Dual-)Endung zurückgeführt wird, die noch in Beispielen wie got. bai Áai (›beide da‹) oder ba Áo skipa (›beide Schiffe‹) oder in ne. both (wohl aus den nordischen Sprachen entlehnt) erkennbar sei.25

3.

Zwillingssprache und sprachliche Auswirkungen von Geschwisterbeziehungen

Besonders interessant ist der Spracherwerb bei (ein- oder zweieiigen) Zwillingen, bei denen bis zu einem gewissen Grade sogar eine Art Privatsprache entstehen kann. Hierfür sind jedoch nicht die genetischen Voraussetzungen entscheidend, sondern die sozialen und kommunikativen Verhältnisse, denen diese sich besonders nah stehenden Geschwister ausgesetzt sind. Denn sie werden, ungeachtet der Tatsache, dass sie ja nie völlig gleichartig sind, von ihren Bezugspersonen und ihrer Umgebung oft nahezu gleich behandelt, z. B. in der24 Vgl. Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (1979): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 5., unveränd. Aufl. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie, S. 285 Anm. 1. Von einem »Dualpronomen« wird gesprochen in: Heidolph, Karl Erich / Flämig, Walter / Motsch, Wolfgang (Hg.) (1981): Grundzüge einer deutschen Grammatik. Berlin: Akademie Verlag, S. 675; von einem »kollektiven Zahlwort« in: Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter, S. 104; für die Grammatik des Instituts für deutsche Sprache ist der kategoriale Status dieses Elements unklar : Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Bd. 3. Berlin / New York: de Gruyter (Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7), S. 1946. 25 Vgl. Paul, Hermann (2002): Deutsches Wörterbuch (Anm. 22), S. 150 f.; Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache (Anm. 24), S. 104.

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selben Weise angezogen, primär in ihrer Konstellation als ›geborene‹ Spielpartner wahrgenommen, ähnlichen Erwartungen ausgesetzt und dadurch in ihrem Rollenverhalten als Zwillinge fortlaufend verstärkt. Das kann sich unter bestimmten Umständen auch auf ihre sprachliche Sozialisation und ihr kommunikatives Verhalten untereinander oder gegenüber Dritten auswirken. Beobachtungen zur sogenannten Zwillingssprache, wie sie schon von den deutschen Sprachpsychologen Clara und William Stern (1928) oder dem dänischen Linguisten Otto Jespersen vorgetragen wurden, haben nämlich darauf aufmerksam gemacht, dass die starke Konzentration von Zwillingsgeschwistern aufeinander, besonders wenn eine Vernachlässigung seitens der primären Bezugspersonen, z. B. von den Eltern, hinzukommt, zu gewissen Entwicklungsverzögerungen im Spracherwerb,26 aber auch zur Ausbildung einer zumindest temporären Geheimsprache (Kryptoglossie) führen kann, die von ihrer Umgebung dann nicht oder nur mit Mühe verstanden wird. Die Beispiele, die hier angeführt werden, betreffen besondere Adressierungen, z. B. gleiche Bezeichnungen für bestimmte Bezugspersonen oder Kosenamen, spezielle Nominationen für häufig genutzte bzw. affektiv besetzte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs und vor allem ähnliche Abwandlungen, z. B. Vereinfachungen von Wörtern der Erwachsenen, die Zwillinge zu imitieren versuchen und sich dabei gegenseitig vermitteln.27 Aber auch im kommunikativen Verhalten kann es zu speziellen Formen eines komplizierteren Zusammenwirkens kommen wie zu häufigem simultanen Sprechen oder zu sequentiellen, kooperativ oder oppositiv intendierten Antworten auf sprachliche Initiativen von Seiten der Erwachsenen.28

26 Oksaar, Els (1977): Spracherwerb im Vorschulalter. Einführung in die Pädolinguistik. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, S. 110 f. 27 Vgl. Stern, Clara / Stern, William (1928): Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. 4., neubearb. Aufl. Leipzig: Barth, S. 294 f.; auch Crystal, David (1987): The Cambridge Encyclopedia of Language. Cambridge: University Press, S. 247; Crystals Beispiel der Zwillinge Poto und Cabenga [Selbstbezeichnungen für Grace und Virginia] zeigt darüber hinaus, dass auch ganz spezielle Sprachmischungen (hier : von Englisch und Deutsch) zur Privatsprache der beiden gehören. Vgl. auch Zazzo, R¦n¦ (1960): Les jumeaux, le couple et la personne. Tome II: L’individuation psychologique. Paris: Presse de Univ. de France; Mittler, Peter Joseph (1971): The Study of Twins. Harmondsworth: Penguin (Penguin science of behaviour, abnormal and clinical psychology); Rathmayr, Reinhard (2000): Zwillinge in der griechisch-römischen Antike. Wien u. a.: Böhlau (Alltag und Kultur im Altertum 4); Frey, Barbara (2006): Zwillinge und Zwillingsmythen in der Literatur. Frankfurt a. M. / London: IKO. 28 Crystal, David (1987): The Cambridge Encyclopedia of Language (Anm. 27); Savic˙, Svenka (1976): The Functioning of Twin Language in Adult-Child (Preliminary Observations on Serbocroatian Material). In: Drachman, Gaberell (Hg.): Akten des 1. Salzburger Kolloquiums über Kindersprache. Tübingen: Narr (Salzburger Beiträge zur Linguistik 2), S. 303 – 314, hier S. 311.

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Für ungleichaltrige Geschwister gilt das jedoch nicht, selbst wenn sie sich besonders eng miteinander verbunden fühlen. So meinen wir, wenn wir heute von den Gebrüdern Grimm sprechen (vgl. oben Anm. 12), meist nur die älteren Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die ihre lebenslange Wohn- und Arbeitsgemeinschaft von der Kindheit bis zum Tode immer wieder als herausgehobene Brüderbeziehung verstehen wollten, obwohl die Unterschiede zwischen ihnen doch unübersehbar waren. Jacob Grimm hat dann zwar die Brüderbeziehung zwischen beiden in seiner Akademierede auf den verstorbenen Bruder Wilhelm postum als Grundlage menschlichen Zusammenlebens gefeiert,29 aber zugleich nachdrücklich die Differenzen zwischen ihnen herausgestellt, und sein Bruder Wilhelm hat ihr Verhältnis zueinander in einem Brief an Achim von Arnim sogar als »innere Einigkeit der Gegensätze« charakterisiert.30 So gab es sicher auch sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, die auf die Vorgaben der Eltern, vergleichbare Kindheits- und Schulerfahrungen, Einflüsse des sprachlichen Raums, in dem sie ihre Jugendjahre verbrachten, auf ähnliche (z. B. altertumskundliche) Interessen, ihre parallele universitäre Lehrtätigkeit oder auf die enge Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten (z. B. Kinder- und Hausmärchen, Deutsches Wörterbuch) zurückgeführt werden können, wie z. B. der dialektale (hessische) Einschlag,31 die Neigung zum Archaisieren32 oder der akademische Jargon. Aber auch hier dürften charakteristische Unterschiede zu erwarten sein, die jedoch bisher nicht untersucht wurden. Denn Jacob Grimms Stil war zwar schon seit Karl Gustav Andresen (1869) mehrfach Gegenstand von Beschreibungen, bedarf aber heute sicher vertiefter Analysen,33 und Wilhelm Grimms Arbeitsweise wurde wohl immer wieder von der seines Bruders abgehoben,34 doch sein Sprachstil in solchen Zusammen29 Grimm, Jacob (1860): Rede auf Wilhelm Grimm [1860]. In: Wyss, Ulrich (Hg.): Jacob Grimm. Selbstbiographie. Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen. München: dtv 1984, S. 64 – 77, hier S. 64 f. 30 Vgl. Martus, Steffen (2009): Die Brüder Grimm – Eine Biographie. Berlin: Rowohlt, S. 169. Das gilt in vieler Hinsicht auch für andere bekannte Brüderpaare, in der Lebenszeit der Grimms z. B. für die Schlegels und Humboldts. Vgl. Karlauf, Thomas (Hg.) (1994): Deutsche Brüder. Zwölf Doppelportraits. Berlin: Rowohlt. 31 Vgl. Schoof, Wilhelm (1956): Die hessische Redeweise der Brüder Grimm. In: Muttersprache 66, S. 394 – 398. Wie das sprachliche Leben im häuslichen und geselligen Alltag der Brüder aussah, können uns wenigstens annähernd die mit exemplarischen Äußerungen versehenen Karikaturen des Malerbruders Ludwig Emil Grimm vermitteln. Vgl. Graepler, Carl (1985): Louis, der jüngste der Brüder. Graphik von Ludwig Emil Grimm 1790 – 1863. Ein Album. Marburg: Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. 32 Vgl. Andresen, Karl Gustav (1869): Über die Sprache Jacob Grimms. Leipzig: Teubner, S. 7, S. 286. 33 Vgl. Denecke, Ludwig (1971): Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm. Stuttgart: Metzler (Sammlung Metzler 100), S. 104 f. 34 Vgl. auch Henne, Helmut (2006): »mein bruder ist in einigen dingen […] abgewichen«. Wilhelm Grimms Wörterbucharbeit. In: Henne, Helmut: Reichtum der Sprache. Studien zur

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hängen nicht näher mit dem Stil seines Bruders verglichen. Jacob selbst sprach lediglich von Wilhelms »weicherer Feder« oder von seiner »milden, gefallenden darstellung«.35

4.

Paarbildung als Herstellung von sprachlicher Gemeinsamkeit

Paarbildung in Liebe, Ehe und Partnerschaften setzt zwei Individuen mit spezifischer Identität, ihre Begegnung und gegenseitige Wahrnehmung sowie zunächst ein minimales Interesse aneinander voraus. Dieses Interesse kann vielfältig (z. B. durch Überraschung, Neugier, körperliche oder mentale Attraktivität) motiviert sein und wird dann fortlaufend durch Interaktion zwischen den Beteiligten verändert, etwa verfestigt oder weiter entwickelt. Es kann aber auch dadurch wieder in Frage gestellt oder sogar aufgehoben werden. Dafür stehen unterschiedliche Modalitäten zur Verfügung: Am Anfang mögen für die Paarbildung Blicke oder der bloße Austausch bestimmter Gesten ausreichen, die auch später noch für längst etablierte Paarbeziehungen bedeutsam sein können. Ab einem gewissen Stadium der Kontaktnahme wird dann jedoch sprachliche Kommunikation notwendig, selbst wenn sie später in älteren und / oder ›guten‹ Beziehungen bisweilen stark reduziert wird, weil es im Alltag immer wieder gelingt, sich nahezu ›wortlos‹ miteinander zu verständigen.36 Gelingende sprachliche Verständigung kommt freilich, wie gerade Paare im komplizierten Prozess ihres Zusammenwachsens lernen müssen, nicht bloß durch wechselseitigen Austausch von Informationen zustande, sondern bedarf koordinativer Germanistik und Linguistik. Hg. v. Jörg Kilian und Iris Forster. Tübingen: Niemeyer, S. 101 – 112; Schmidt, Hartmut (1994): Die Brüder Grimm. In: Karlauf, Thomas (Hg.): Deutsche Brüder (Anm. 30), S. 164 – 196, hier S. 191. 35 Vgl. Andresen, Karl Gustav (1869): Über die Sprache Jacob Grimms (Anm. 32), S. 7. Wilhelms besonderer Märchenstil wurde ebenfalls immer wieder herausgestellt, da aber sein Bruder Jacob sich an den späteren Ausgaben der »Kinder- und Hausmärchen« nicht mehr beteiligte, war hier ein Vergleich ebenfalls nicht möglich. 36 Vgl. Lewitscharoff, Sibylle (2011): Blumenberg. Berlin: Suhrkamp, S. 198: »Er [i. e. Blumenberg] lebte mit ihm [i. e. dem Löwen] wie in einer uralten Ehe. Worte waren nicht nötig, man verstand sich auch so. Zugleich wurde der Umgang etwas lax. Ein Schlendrian im Wechsel von Vergessen, Übersehen und Wiederaufmerken stellte sich ein.« – Zum Schweigen auch als interkulturell differenzierte Form von Kommunikation vgl. Stedtje, Astrid (1983): »Brechen Sie dies rätselhafte Schweigen« – Über kulturbedingtes, kommunikatives und strategisches Schweigen. In: Rosengren, Inger (Hg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1982. Stockholm: Almquist & Wiksell International (Lunder germanistische Forschungen 55), S. 7 – 35. Zur Ambivalenz der ›stummen‹ Liebe vgl. auch Leisi, Ernst (1990): Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. 3., durchges. Aufl. Heidelberg / Wiesbaden: Quelle & Meyer (UTB 824), S. 14.

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Prozesse auf mehreren Ebenen und ständiger Rückkontrollen zwischen den beiden Beteiligten, auch ihrer latenten Partnervorstellungen, da in solchen, gleichsam aufschließenden Begegnungen neben kognitiven stets auch emotionale und soziale Aspekte von großer Bedeutung sind.37 Dabei ist davon auszugehen, dass jede / jeder der beiden Beteiligten vor der ersten Begegnung bereits einen eigenen, familiär und darüber hinaus sozial begründeten Kommunikationsstil entwickelt hat und diesen in die neue Beziehung miteinbringt.38 Schematisch mag es dabei drei durchaus miteinander kombinierbare Möglichkeiten geben, diese unterschiedlichen Stile zugunsten einer angestrebten Herstellung von Gemeinsamkeit miteinander zu ›verrechnen‹, z. B. – durch Anpassung des einen Stils an den anderen, bis hin zur (eher seltenen) Aufgabe eines Stils, z. B. bei starker Dominanz eines Partners / einer Partnerin; – durch Ausbildung von Verfahren der additiven oder komplementären Nutzung beider Stile, was aber die Bearbeitung von Konflikten nicht unbedingt leichter macht; – durch (partielle) Entwicklung eines neuen gemeinsamen Stils, der die besondere, enge Zusammengehörigkeit des Paares nach innen wie nach außen hin demonstrieren und fördern kann. Letzteres trifft vor allem auf Kosenamen und bestimmte Formen von »Intimsprache«,39 jedoch auch auf Neubildungen oder Umkodierungen von Wörtern zu, die aus einem besonderen aktuellen Ausdrucksbedürfnis entstanden sind, dann aber als Elemente einer »Geheimsprache« dieser Zweierbeziehung beibehalten werden. So benutzte ein Paar den Ausdruck *öffig (als Kontamination von affig und öffentlich), um damit nur für sich aufdringliche Personen zu bezeichnen, oder die Bezeichnung *Lamatriebe, um damit aggressive Neigungen bestimmter Personen zu kennzeichnen.40 Ebenso können bestimmte Kollokationen oder stereotypisierte Phrasen zu Elementen eines solchen Privatcodes 37 In diesem Zusammenhang sei auf neuere Forschungsarbeiten zur ›communication accomodation theory‹ hingewiesen. Vgl. z. B. Thimm, Caja (1998): Partnerhypothesen, Handlungswahl und sprachliche Akkomodation. In: Henn-Memmesheimer, Beate (Hg.): Sprachliche Varianz als Ergebnis von Handlungswahl. Tübingen: Niemeyer (Reihe Germanistische Linguistik 198), S. 49 – 63 [mit weiteren Literaturhinweisen]. 38 Dabei können die jeweils mitgebrachten stilistischen Eigenarten von Ehepartnern sowohl positive wie negative Funktionen erfüllen. Literarische Beispiele für Familienstile finden sich in der Literatur etwa bei Menasse, Eva (2005): Vienna. Köln: Kiepenheuer & Witsch, z. B. S. 32; oder durchgehend bei Kempowski, Walter (1971): Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München: Carl Hanser. 39 Leisi, Ernst (1990): Paar und Sprache (Anm. 36), S. 17. 40 Ebd., S. 40.

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werden oder spezielle Abkürzungen dienen als Chiffren bzw. zu Anspielungen,41 die nur die Eingeweihten auflösen können. Und vielfältige spielerische Abwandlungen sind ohnehin ein beliebtes Mittel, um eine besondere Nähe und Verbundenheit zu signalisieren. Leisi verweist hierfür z. B. auf Mozarts kreative Liebesbriefe oder auf literarische Beispiele wie die Dialoge des Liebespaars in Kurt Tucholskys Erzählung »Rheinsberg« (1912), die reiches Anschauungsmaterial liefern.42 Auch die spezifische Nutzung innersprachlicher Varianten oder Stilmuster kann eine gewisse Gemeinsamkeit von zwei Personen fördern, was zumindest für die frühe Phase enger Beziehungen produktiv sein mag: So werden in Liebesbriefen manchmal dialektale oder soziolektale Mittel als Elemente einer ›Nähesprache‹, manchmal auch ›indirekte‹ Ausdrucksweisen wie eine Art ›Amtsstil‹ oder altertümliche Sprachformen verwendet,43 die hier aber nicht distanzierend, sondern vereinnahmend wirken sollen. Ebenso zu beobachten ist der spontane Wechsel in Fremdsprachen (language shifting) oder der Gebrauch von Hybridformen (Pidginisierung) als »Spielsprache«, die den Zusammenhalt fördern können.44 Dass bestimmte Sprachhandlungen wie Komplimentieren oder Necken, aber auch gemeinsames ›Lästern‹ oder bewusste Tabuverletzungen geeignet sind, vorhandene Bindungen zu festigen, ist ohnehin bekannt. Nicht zuletzt kann eine besondere Zweisamkeit durch wiederholten Bezug auf gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse bzw. durch deren häufig wiederholte sprachliche Verhandlung in unterschiedlichen Kontexten begründet werden. Selbst routinierte oder auch ritualisierte Formen sprachlicher Auseinandersetzung können sich dabei – trotz der damit verbundenen Kritik (Immer die alte Leier!) – positiv auf den Zusammenhalt einer Paarbeziehung auswirken.

41 Zur Technik von Anspielungen vgl. generell Wilss (1989), der diese Phänomene aber nur an Texten der Massenkommunikation untersucht. Wilss, Wolfram (1989): Anspielungen. Zur Manifestation von Kreativität und Routine in der Sprachverwendung. Tübingen: Niemeyer. Anspielungen können aber auch als gemeinsamer Bezugspunkt in ehelichen Streitgesprächen eine wichtige Rolle spielen. Vgl. dazu Leisi, Ernst (1990): Paar und Sprache (Anm. 36), S. 56, S. 116. 42 Vgl. ebd., S. 34, S. 51. Dass damit oft eine Art Verkindlichung verbunden ist, wird von Tucholsky ausdrücklich festgehalten: »Ihr [i. e. Claires] Deutsch war ein wenig aus der Art geschlagen.« Vgl. Tucholsky, Kurt: Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte. In: GeroldTucholsky, Mary / Raddatz, Fritz J. (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 1: 1907 – 1918. Reinbek: Rowohlt 1985, hier S. 52. Zu Mozarts Stil vgl. Reiffenstein, Ingo u. a. (1993): Sprachvariation in den Briefen der Familie Mozart. In: Mattheier, Klaus u. a. (Hg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang, S. 361 – 381. 43 Roger Willemsen bringt das schön auf den Punkt, wenn er sagt: »Wer liebt, wechselt das Jahrhundert.« Vgl. Willemsen, Roger (2005): Kleine Lichter. Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 5. 44 Piller, Ingrid (2002): Bilingual Couples Talk. The Discursive Construction of Hybridity. Amsterdam: Benjamins (Studies in bilingualism 25).

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5.

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Interaktion in Paarbeziehungen

Weitgehend synchronisiertes Verhalten in der Interaktion von Paaren, wie wir es vom Balzverhalten bei bestimmten Vögeln (z. B. bei Haubentauchern oder Kranichen) kennen, mag bei Menschen vorkommen, ist aber sicher nicht der Normalfall. Die kommunikativ notwendige Einstellung aufeinander erfordert ja weder eine vollständige physiognomische (mimische, gestische) Anpassung der Partner aneinander noch eine wechselseitige Imitation des Sprachverhaltens, auch wenn Formen von Echolalie oder Iteration bei Paaren vorkommen, die auf Außenstehende ›affig‹ wirken können.45 Sprachliches Nachäffen ganzer Konstruktionen mit übertreibender Intonation gilt ohnehin als destruktives Verhalten in kommunikativen Zusammenhängen. Anders zu beurteilen sind jedoch Formen des unisono-Sprechens als Ausdruck des Konsonanzstrebens zwischen den Gesprächsbeteiligten.46 Gefordert sind in positiv wie auch negativ verlaufender Kommunikation vor allem koordinative oder kooperative sprachliche Handlungen, die im Detail erst die neuere Gesprächsforschung47 herausgearbeitet hat und deren erfolgreicher Einsatz meist eine gewisse Praxiserfahrung voraussetzt. Hier muss nicht nur gelernt werden, wie man sprachliche Handlungen in Gesprächen taktisch oder strategisch aufeinander abstellt, um z. B. die Vermittlung von Informationen, bestimmte soziale Effekte (etwa Verhaltensänderungen oder emotionale Wirkungen) sicher zu stellen, sondern auch, wie man einen gemeinsamen Gesprächsrahmen durch Raumorientierung, Anpassung von Rollenverhalten, wechselseitige Aktivierung von Wissensbeständen oder affektive Kontrolle herstellt. Gerade bei erfahrenen und länger miteinander vertrauten Gesprächspartnern in Paarungen muss dabei nicht alles explizit gemacht werden. So können selbst Höflichkeitsindikatoren im eingespielten Alltag reduziert werden, obwohl sie für jede Konfliktverarbeitung wiederum hochsensibel sind. Freilich fällt das Misslingen der sprachlichen Interaktion in traditionellen Paarbeziehungen oft mehr auf oder reizt eher zur Satire: Loriots fiktive Ehegespräche liefern dafür gute Beispiele.48 45 Anfällig für solche Gleichklänge sind z. B. Emotionswörter oder Emotionsphrasen (wie Ist ja toll, irre, süß, heute auch geil o. ä.), die regelrecht zu Markenzeichen eines imitativen Sprachgebrauchs innerhalb von Paarbeziehungen werden können. 46 Vgl. Glindemann, Ralf (1987): Zusammensprechen in Gesprächen. Aspekte einer konsonanztheoretischen Pragmatik. Tübingen: Niemeyer (Reihe Germanistische Linguistik 73). 47 Vgl. auch Gärtner, Angelika (1993): Konkurrenz versus Kooperation? Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung über konkurrierende und kooperierende Verhaltensweisen von Beteiligten an Gesprächen. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1365). 48 Loriot [Vicco von Bülow] (2005): Szenen einer Ehe in Wort und Bild. 13. Aufl. Zürich: Diogenes.

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Vielleicht kann man von der Interaktion relativ fester Paare mehr als von der alltäglichen Interaktion zufällig zusammenwirkender Beteiligter erwarten, sollten Erstere doch über bereits nutzbare soziale Erfahrungen im Umgang mit der / dem Anderen, über zwischen ihnen eingeübte Techniken der Gesprächsführung, geteilte Reservoirs von Anspielungen oder Erinnerungen und wechselseitige Kenntnisse über Wertorientierungen verfügen. Kommunizieren solche Paare daher mit Dritten, wie das z. B. in gemeinsam durchgeführten universitären Lehrveranstaltungen der Fall ist, kann das wiederum positive wie negative Effekte zeitigen: So kann die Interaktion innerhalb der Paarkonstellation für Dritte nicht ganz durchsichtig sein oder über deren Köpfe hinweggehen, aber sie ermöglicht dem ›Lehrpaar‹ auch ein taktisch flexibleres Eingehen auf das Verständnis und die Bedürfnisse der anderen Teilnehmer, weil jeweils einer der Partner momentan nicht direkt engagiert sein muss, d. h. auch Distanz halten und zielorientierte Reflexionen anstellen kann. Ebenso macht diese Konstellation es möglich, dass eventuelle Missgriffe eines Partners durch den jeweils anderen in Form von Erklärungen, Kommentaren oder Bewertungen repariert bzw. ausgeglichen werden. Für die Rezipienten solcher Veranstaltungen gibt es schließlich die Möglichkeit, sich auf das sichtbare Paarverhalten konstruktiv bzw. adaptiv einzustellen oder zu versuchen, doch vorhandene charakteristische Unterschiede zwischen den Partnern auszunutzen und sie so gegeneinander auszuspielen. Auch Paarkonstellationen sind so nicht ohne Risiken.

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Die himmlischen Zwillinge. Zu den Dioskuren auf Denaren der römischen Republik

1. Im Jahr 211 v. Chr., fünf Jahre nach dem karthagischen Sieg bei Cannae, war die Lage für Rom ernst, aber nicht hoffnungslos. Man konnte Hannibal nicht besiegen, doch das römische Bündnissystem war nicht zusammengebrochen. Zwei wichtige Städte, die zu den Karthagern übergegangen waren, wurden erobert: Syrakus und Capua. Die reiche Beute füllte die staatliche Schatzkammer, das aerarium. In den ersten Jahren des Krieges war die finanzielle Not spürbar : Die Silbermünzen enthielten immer weniger Silber, die Bronzemünzen wurden immer leichter. Jetzt1 konnte man die Staatsfinanzen auf eine neue Basis stellen: der Denar, für ca. 450 Jahre das Leitnominal2 des römischen Währungssystems, ist eine der größten Schöpfungen der Römer. Die Bezeichnung, vom Distributiv-Zahlwort deni (›je zehn‹) abgeleitet, zeigt, dass die Münze den Wert von 10 Bronze-Assen hat; sie wird beibehalten, als um 141 v. Chr. der As auf 1/16 Denar abgewertet wird.

1 Das genaue Datum war lange umstritten. Heute rechnet die numismatische Forschung meist mit 211 v. Chr.; vgl. Crawford, Michael H. (1974): Roman Republican Coinage. 2 Bände. Cambridge u. a.: Cambridge University Press (Nachdruck ebd. 1989), S. 28 – 35; Hollstein, Wilhelm (2008): Die Dioskuren und die Einführung des Denars. In: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 58, S. 41 – 63; Woytek, Bernhard (2012): The denarius coinage of the Roman republic. In: Metcalf, William E. (Hg.): The Oxford handbook of Greek and Roman coinage. Oxford u. a.: Oxford University Press, S. 315 – 334. 2 Man muss zugeben: Das Wertverhältnis zu den Bronzemünzen, das Rau- und das Feingewicht änderten sich in dieser langen Zeit, aber die Münze hieß durchgehend ›denarius‹, und man hätte unter Septimius Severus mit einem Denar aus der Republik bezahlen können.

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So sieht ein Denar vom ältesten Typ3 aus:

Abb. 1a

Abb. 1b

Durchmesser : 20 mm, Gewicht: 4,45 g4. Die Vorderseite zeigt den Kopf der Roma nach rechts, sie trägt einen Flügelhelm mit Visier über Augen und Stirn, der Greifenkopf als Helmzier ist nur schwach zu erkennen. Hinter dem Helm: »X« (Zahlzeichen). – Auf der Rückseite reiten zwei Männer mit eingelegten Speeren nach rechts, sie tragen Brustpanzer (hier nicht zu erkennen) und den Reitermantel (lat. sagum, gr. chlamys), der hinter dem zweiten im Wind flattert. Jeder hat eine konische Kappe (den Pileus)5, darüber steht je ein Stern. Unten: »ROMA« in Linienrechteck. – Es handelt sich hier um die Dioskuren, gr. Kastor und Polydeukes, lat. Castor und Pollux.

2. Bevor wir uns mit ihnen beschäftigen, ist ein Blick auf die weitere Entwicklung des Denars angebracht. Der abgebildete Typ ist repräsentativ für so gut wie alle Silbermünzen der Republik: Die Vorderseite zeigt einen Kopf, die Rückseite eine Szene. Für gut 50 Jahre sehen sogar alle Denare, Quinare (5 Asse, ca. 2 g schwer) und Sesterze (21/2 Asse, etwa 1 g) so aus wie dieser, mit der Zeit treten Beizeichen6 oder Schriftzeichen7 hinzu. Ab 157/156 v. Chr. kommt eine zweite Kombination dazu: ROMA-Kopf / Göttin oder Gott in Biga oder Quadriga fahrend. Von 137 an bildet sich allmählich eine erstaunliche Vielfalt heraus: Neben die 3 Das wichtigste Zitierwerk ist Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), in Zukunft abgekürzt C. Diese Münze gehört zum Typ C. 44/5. Von nun an fehlt der Crawford-Verweis bei den Abbildungen, er steht im Verzeichnis der Abbildungen am Schluss. 4 Die Gewichtsangaben beziehen sich immer auf das abgebildete Exemplar, nicht etwa auf den Typ. Der Durchmesser wird erst wieder bei Abb. 15 angegeben; Denare und Aurei maßen zwischen 18 und 21 mm. 5 In diesem Fall – aber keineswegs immer – scheint der Pileus eine Krempe zu haben, das ist in der Realität nicht der Fall. Der Helm des Soldaten hatte evtl. einen Nackenschutz. 6 Beispiele: Rad, Anker, Füllhorn, Hund – meist auf der Rückseite. 7 Das sind zuerst einzelne Buchstaben, auch ligierte, später erkennbare Namen der Münzmeister (monetales).

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Standardtypen treten individuell gestaltete Denare mit dem Kopf eines anderen Gottes oder einer Personifikation8 auf der Vorderseite, einem breiten Spektrum von Szenen, in denen es meist9 um den Ruhm der eigenen gens (der Großfamilie) geht, auf der Rückseite. In den Emissionen finden wir immer noch die reitenden Dioskuren, aber seltener, zum letzten Mal auf einem Denar des Jahres 121 v. Chr.10 Schließlich, ab 89 v. Chr., erscheinen auch Köpfe legendärer Ahnen und berühmter Vorfahren auf der Vorderseite. Es war aber weiterhin undenkbar, das Porträt eines lebenden Menschen auf eine Münze zu setzen, wie es in hellenistischen Königreichen Brauch war. Dieses Tabu endete erst im Jahre 44 v. Chr., zwei Monate vor der Ermordung Caesars.

3. Zurück zu den Dioskuren. Ihre Herkunft ist umstritten, wie so vieles in der griechischen Mythologie. Mal werden sie – wie das Wort Di|sjouqoi bezeugt – als Söhne des Zeus angesehen, mal werden sie ›Tyndariden‹ genannt und sind Söhne des Königs Tyndareos von Sparta.11 In beiden Fällen sind sie nicht notwendig Zwillinge. Die pikantere Version berichtet, dass Zeus in Gestalt eines Schwans die Königin Leda verführte. »Es fand sich aber ihr Mann, Tyndareus, die Nacht darauf auch zu ihr, und sie gebahr also nachher zwey Eyer, aus deren einem, welches vom Jupiter war, Pollux und Helena, und aus dem andern, welches des Tyndareus war, Kastor und Klytämnestra krochen.«12 Sie bewährten sich in zahlreichen Heldentaten, wobei Castor sich als Reiter, Pollux als Faustkämpfer hervortat. Als Castor in einem Streit erschlagen wurde, wollte Pollux, der Unsterbliche, sich nicht von ihm trennen und erbat von Zeus, dass sie zusammen jeweils einen Tag im Olymp, einen im Hades sein dürften. Schließlich versetzte Zeus sie wegen ihrer exemplarischen Bruderliebe an den Himmel, wo sie dem Sternbild der Zwillinge den Namen geben. Über den Weg des Dioskuren-Kultes von Sparta nach Italien und Rom und die Bedeutung der Stadt Tusculum dabei streitet man. Dass sie in Rom verehrt 8 Götter : z. B. Mars, Minerva, Apollo, Sol; Personifikationen wie Pietas (C. 308/1), Virtus (C. 401/1). 9 Dies ist ein weites Feld für Argumente und Spekulationen. 10 Münzmeister C. Plutius (C. 278/1). 11 Vgl. Odyssee 11,298 – 304. In: http://gutenberg.spiegel.de/buch/6925/4 (= Homers Odyssee. Zweisprachige Fassung. Deutsche Übersetzung von Johann Heinrich Voß) (24. 2. 2014). 12 Dioscuri. In: Hederich, Benjamin (1770): Gründliches mythologisches Lexikon. Bearb. v. Johann Joachim Schwabe. Leipzig: Gleditsch (Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996), Sp. 943.

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wurden, hängt mit der Schlacht am See Regillus (in Latium, nahe Tusculum) zusammen. Rom führte Krieg mit dem Bund der latinischen Städte, und in der entscheidenden Schlacht, die meist auf 499 v. Chr. datiert wird, soll der römische Heerführer Aulus Postumius Albus die Dioskuren, die erst auf gegnerischer Seite kämpften, abgeworben haben, indem er ihnen einen eigenen Tempel und Kult versprach.13 Der Tempel am Forum Romanum wurde 484 eingeweiht.14 Er hieß gewöhnlich aedes Castoris, die Römer neigten dazu, den Pollux hintanzustellen.15 Die Dioskuren waren Schutzgötter der equites in beiden Bedeutungen des Wortes, also der Kavalleristen wie der Mitglieder des Ritterstandes, sowie auch der Seefahrer.

4. Bei einem Blick auf den ersten Denartyp (Abb. 1) stellt sich noch die Frage nach der mutmaßlichen Intention des Münzmeisters, sozusagen nach der illokutiven Seite dieses Akts. Wir sind hier auf sumpfigem Boden. Eine hypothetische Ermunterung: »So wie einst am See Regillus mit Hilfe der Dioskuren wird auch dieses Mal unsere Armee siegen, also Mut!«, ist vage, scheint mir aber plausibel. Hollstein präsentiert zwei Versuche, speziellere Bezüge herzustellen, beide mit der Prämisse, Tusculum sei das Zentrum der Dioskuren-Verehrung:16 Einmal sieht er in der Münze eine Anspielung auf Hannibals misslungenen Versuch, Tusculum zu erobern, zum anderen vermutet er, einer der Konsuln habe die Bilder dieses neuen Münztyps bestimmt, und von diesen gab es in jener Zeit mehrere, die aus Tusculum stammten.17 Diese Versuche überzeugen mich nicht.

13 So eine Abwerbung fremder Götter wurde exoratio genannt. Vgl. Ogilvie, Robert M. / Crawford, Michael / Wells, Colin (2006) : Das antike Rom. Aus dem Englischen übertragen von Irmingard Götz u. a. Düsseldorf: Albatros, S. 106. 14 Ein Foto der eindrucksvollen Ruine: Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer. München: Hirmer, S. 37, Abb. 37. 15 Sueton erzählt, M. Bibulus habe sein Schicksal mit dem des Pollux verglichen. Als Ädilen hätten Caesar und er die Kosten für Spiele und Bauten gemeinsam getragen, den Ruhm hätte Caesar allein eingeheimst. Vgl. Sueton: Iulius Caesar 10,1. In: Martinet, Hans (Hg.): C. Suetonius Tranquillus: Die Kaiserviten / De vita caesarum. Lat. und dt. 3. Aufl. Düsseldorf: Artemis und Winkler 2006, S. 26 f. 16 Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 36 f., zweifelt daran. 17 Hollstein, Wilhelm (2008): Die Dioskuren und die Einführung des Denars (Anm. 1), S. 51 f. und S. 52 – 56.

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5.1 Fügen wir zwei weitere Denar-Rückseiten hinzu:

Abb. 2

Abb. 3

Denar Nr. 2 (3,98 g): Die Dioskuren, nach links gewendet, tränken ihre Pferde an einem eingefassten Brunnen; sie tragen Pilei und halten Speere, die auf den Boden reichen, in der rechten Hand. Bei dem linken Jüngling ist der Stern zu erkennen, von der Schulter des anderen Manns weht die Chlamys nach rechts. Im Abschnitt: »[A.A]LBINVS[S.F]«. – Am Abend nach der Schlacht am See Regillus sollen die Zwillinge ihre Pferde an der Juturna-Quelle (auf dem Forum) getränkt und dabei die Siegesnachricht nach Rom gebracht haben. – Von dem Münzmeister sehen wir (mit Ergänzung des ersten Buchstabens) nur das Cognomen »ALBINVS«; besser erhaltene Stücke überliefern auch das Praenomen und die Filiation.18 Der Gentilname steht nicht dabei, lässt sich aber aus dem Cognomen erschließen19 : Postumius. Dass der Münzmeister hier an seinen prominenten Ahnherrn erinnern will, scheint mir eine plausible Interpretation. Münze Nr. 3 (3,93 g): Die Dioskuren stehen fast frontal, von ihren Pferden eingerahmt. Sie sehen einander an und stützen ihre Speere auf den Boden. Die Kopfbedeckung ist wohl kein Pileus, aber die Sterne sind zu erkennen. Die jungen Männer sind nackt bis auf die Chlamys. Die Inschrift ist hier kaum zu lesen, besser erhaltene Exemplare geben an »L.MEMMI«. Über den Münzmeister ist einiges bekannt, aber es kann das Bild nicht motivieren. Man kann Beziehungen zur Darstellung der Dioskuren in Statuen, Vasenmalerei und Glyptik feststellen;20 auch das trägt wenig zur Interpretation bei. 18 Vorname A = Aulus. Vaterbezug: S.F = Spurii filius. 19 Sydenham, Edward A. (1952): The Coinage of the Roman Republic. London: Spink (Nachdruck New York: Durst 1976), S. 224 – 226, hat eine Konkordanz der cognomina und der gentes. 20 Zu griechischen und hellenistischen Vorbildern vgl. Böhm, Stephanie (1997): Die Münzen der Römischen Republik und ihre Bildquellen. Mainz: von Zabern, S. 73 f. Diesem Münzbild ähnlich: die Kolossalfiguren der Dioskuren an der Kapitoltreppe, vgl. Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 35 und Abb. 35.

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5.2 Nach diesen drei unstrittigen Fällen ist es an der Zeit, Merkmale (sozusagen ›distinctive features‹) festzustellen, an denen wir die himmlischen Zwillinge erkennen. Die prototypischen Dioskuren 1. sind zu zweit,21 2. reiten oder haben sonst wie mit Rossen zu tun, 3. führen Speere mit sich, 4. tragen Pilei auf dem Kopf,22 5. haben je einen Stern über den Köpfen, wie es sich für die Namensgeber von Sternen und Retter aus Seenot ziemt. 6. Inschriften können verdeutlichen, was ein Bild meint, aber die sind selten. 7. Bezüge (auf Personen, Orte, Ereignisse) können bei der Zuweisung helfen, aber bei solchen Interpretationen stehen wir meist auf dünnem Eis.

5.3 So gerüstet, betrachten wir zwei Denare, die sich etwas von dem Prototyp entfernen:

Abb. 4

Abb. 5

21 Das ist für die mythologisch benachbarten Laren und Penaten nicht notwendig der Fall. – Wer ein Katalogwerk penibel durchstudiert kann auf Bronzemünzen verweisen, die nur einen Dioskuros zeigen – reitend (C. 98 A/7); aber die ist aus Luceria und sehr selten –, oder bloß den Kopf (C. 19/1) – davon ist nur ein Exemplar bekannt. In 99,99 % der Fälle gilt also: Ein Dioskur kommt nie allein. 22 Dioskuren. In: Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. 4., umgearb. und stark verm. Aufl., Bd. 5. Altenburg: H. A. Pierer 1858, S. 170, Sp. 2 (http://www.zeno.org/ Pierer-1857/K/pierer-1857 – 005 – 0170 [4. 2. 2014]), charakterisiert diese Hüte auch als »Eierschalen«, zur Erinnerung an die Geburt aus einem Ei. – Pilei kommen auch allein auf Denaren vor, z. B. C. 353. Dabei fragt sich, ob sie Attribute des Vulcanus sind, für ›Freiheit‹ stehen (denn bei der manumissio, der Freilassung von Sklaven, trugen diese Pilei) oder einen Bezug zu den Dioskuren haben sollen.

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Münze Nr. 4 (3,83 g): Wir sehen zwei Reiter, deren Pferde sich auseinander bewegen, während die Männer sich anschauen. Die Kopfbedeckungen sind wohl keine Pilei, aber die Sterne sind deutlich zu erkennen. Die Speere zeigen nach unten. Im Abschnitt: »[C.S]ERVEILI.M.F«. – Die originelle Darstellung illustriert, wie Böhm23 nachweist, die Levade: eine Übung der klassischen Reitkunst, bei der das Pferd sein Gewicht auf die gebeugten Hinterbeine verlegt und seinen Rumpf anhebt. Böhm vermutet ein hellenistisches Reiterstandbild als Vorlage. – Obwohl sie ohne Pilei sind, dürfte es sich bei den Reitern um unsere Dioskuren handeln. Der Bezug zur Familiengeschichte der Servilii, den Crawford vermutet,24 erscheint recht spekulativ. Der Denar Nr. 5 (3,68 g) weicht stärker vom Prototyp ab: Zwei Männer stehen hier, von vorn gesehen, ihnen fehlen vor allem die Pferde; die Kopfbedeckung kann man nicht genau erkennen, weder hier, noch bei anderen greifbaren Abbildungen. Immerhin sind Sterne über den Köpfen, und die nackten Jünglinge halten Speere schräg vor dem Körper, zusätzlich tragen sie Schwerter. In der Literatur werden sie als Dioskuren angesehen, und dabei wollen wir bleiben. Personale und sonstige Bezüge, die weiter führen könnten, gibt es nicht, da der Münzmeister25 zwar genannt, aber sonst unbekannt ist. Allerdings steht derselbe Name auf dem Aureus (Abb. 10), damit stützen sich diese Münzen wechselseitig.

23 Böhm, Stephanie (1997): Die Münzen der Römischen Republik (Anm. 20), S. 74 f. 24 Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 270 f.: Die Zwillinge seien eine Namensanspielung auf den Ahnherrn P. Servilius Geminus. Über dessen Taten im 1. Punischen Krieg (signalisiert durch einen Siegeskranz auf der Vorderseite) ist wenig bekannt, und auch über den Münzmeister kann Crawford nur mutmaßen. 25 Der komplette Name »L.SERVIVS RUFUS« steht auf der Vorderseite. In der Babelon-Tradition wird er als L. Servius Sulpicius Rufus, Freund Ciceros, behandelt (Babelon, Ernest [1885 – 86]: Description historique et chronologique des monnaies de la r¦publique romaine vulgairement appel¦es monnaies consulaires. 2 Bände. Paris: Rollin & Feuardent [Nachdruck Bologna: Forni 1963], Bd. 2, S. 474 f.), aber das wäre ein seltsamer Name.

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6.1 Nicht immer, wenn zwei junge Männer mit einem weiteren Attribut (oder gar zweien) der Dioskuren auftreten, sind Castor und Pollux gemeint.

Abb. 6

Münze Nr. 6 (3,92 g): Zwei Jünglinge sitzen fast von vorn, jeder mit einem Stab, die Köpfe sind nach links gewendet. Zwischen ihnen steht ein Hund, den die Person rechts streichelt. Oben: eine Büste des Vulcanus, kenntlich an seinem Attribut, der Zange. Im Abschnitt: »L.CAESI«. Links und rechts, auf Hüfthöhe: »LA« (ligiert) und »ER« (auch ligiert), letzteres ist wegen des retrograden E wohl »RE« oder, wie Crawford vorschlägt26, »PRE« zu lesen. Das verweist auf die Lares Praestites. – Die Laren waren Schutzgötter von Familien, Plätzen, Kreuzwegen und ganzen Orten und unter der Bezeichnung Lares Praestites sogar der Stadt Rom und des römischen Staates.27 – Wir fragen uns bang, wie sich Dioskuren, Laren und die (bald noch dazutretenden) Penaten unterscheiden lassen, und freuen uns hier über die desambiguierende Inschrift.

26 Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 312. Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 121 f., stimmt zu. Beide weisen auf Ovid hin, der in den »Fasti« Treue und Wachsamkeit als gemeinsamen Zug des Hundes und der Laren angibt. Vgl. Ovid: Fasti 5,137 – 142. In: Holzberg, Niklas (Hg.): P. Ovidius Naso: Fasti / Festkalender. Lat. und dt. Auf der Grundlage der Ausg. v. Wolfgang Gerlach. Düsseldorf: Artemis und Winkler 2006, S. 137 – 142. Albert, Rainer (2011): Die Münzen der Römischen Republik. Von den Anfängen bis zur Schlacht von Actium (4. Jahrhundert v. Chr. bis 31 v. Chr.). 2., überarb. und erw. Aufl. Regenstauf: Battenberg, S. 153, bezieht auch Vulcanus ein: Alle seien »Patrone der Vigiles (Feuerwehren und Polizei)«. 27 Einen schönen Eindruck von der Vielzahl der Laren und ihrer Ressorts gibt der Abschnitt ›Lares and their domains‹ in der englischen Wikipedia, s.v. ›Lares‹. http://en.wikipedia.org/ wiki/Lares (4. 2. 2014).

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6.2 In zwei Fällen werden Reiter von einzelnen Numismatikern für die Dioskuren gehalten, die Argumente reichen aber nicht aus:

Abb. 7

Abb. 8

Der Denar Nr. 7 (3,86 g) zeigt einen gepanzerten Reiter, der mit eingelegter Lanze nach rechts stürmt. Er hat keinen Pileus, keinen Stern; er trägt einen Helm mit Federbusch, der kurze Mantel flattert hinter ihm. Unter dem Pferdeschweif ist ein Helm mit Ziegenhörnern sichtbar, die typische Kopfbedeckung eines makedonischen Königs.28 Unter dem Pferd steht »Q.PILIPVS«, im Abschnitt »ROMA«. Der Name der gens lässt sich, wie bei Nr. 2 dargestellt, erschließen: Der Münzmeister gehört der gens Marcia an. – Mir scheint eine Namensanspielung (von dem abgebildeten makedonischen Reiter – gemeint war wohl König Philipp V., der berühmteste Makedone der Zeit – auf das cognomen »P[h] ilip[p]us«) plausibel, so weit stimme ich Crawford zu. Seinen Versuch, an dem Reiter göttliche Qualitäten zu sehen und einen Bezug zur damaligen Aufwertung der equites in dem Auftreten von deren Schutzpatronen herzustellen, finde ich hingegen weit hergeholt. Vor allem gilt: Hier reitet nur ein Mann, das Merkmal Nr. 1 ist nicht gegeben. Münze Nr. 8 (3,78 g): Eine dreiköpfige Reitergruppe, nach links stürmend, bedrängt einen Fußsoldaten, der schon auf die Knie gefallen ist. Die Reiter tragen bebuschte Helme (kein Pileus, kein Stern ! ), Rundschilde und Standarten statt der Speere (am linken Rand nur teilweise sichtbar). Im Abschnitt steht »A.ALBINVS.S.F« – das ist derselbe Münzmeister wie bei Nr. 2 oben. Es dürfte sich hier um eine ganz normale Kampfszene handeln.29 Dass das Bild sogar die Dioskuren zusammen mit dem Feldherrn A. Postumius in der

28 Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 282 f. 29 So Böhm, Stephanie (1997): Die Münzen der Römischen Republik (Anm. 20), S. 19. – Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 335, weist zusätzlich auf eine Stelle bei Florus hin: A. Postumius Albus habe in der Schlacht am See Regillus eine Fahne unter die Feinde geschleudert. Das wäre also ein identifizierter Kampf.

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berühmten Schlacht zeigen solle,30 leuchtet mir nicht ein. – Merke : Die Dioskuren sind zu zweit, und der Feind steht rechts.

7.1 Bisher haben wir Rückseiten betrachtet. Nun gibt es auch ein paar Vorderseiten, die unter Dioskurenverdacht stehen. Wir sehen hier Köpfe oder Büsten, die nicht mit Pferden oder Speeren kombiniert werden können; zwei wichtige Merkmale fallen damit weg. Um zwei Köpfe auf sehr kleinem Raum darzustellen, gibt es eine sichere und eine heikle Methode. Zu letzterer siehe Abschnitt 8; das sichere Verfahren ist die gestaffelte Anordnung.

Abb. 9

Abb. 10

Denar Nr. 9 (4,36 g) stellt zwei jugendliche Köpfe dar, nach rechts blickend, gestaffelt, beide mit belorbeerten Pilei, darüber zwei Sterne. Umschrift, links oben beginnend: »RVFVS.IIIVIR«. Da auf der Rückseite »MN.CORDIVS« steht, ist der Name des Münzmeisters vollständig, der Rest ist die offizielle Bezeichnung seines Amtes: »[TRIUM]VIR«, ergänze: »AVRO, ARGENTO, AERE FLANDO FERIVNDO« (um Gold, Silber, Bronze zu gießen und zu prägen), im vorliegenden Beitrag meist ›Münzmeister‹ genannt. Die Existenz dieses Mannes ist auf einer Inschrift aus Tusculum bezeugt31, sonst ist nichts über ihn bekannt. Immerhin: drei distinktive Merkmale (Zweizahl, Pilei, Sterne) und diese Herkunft sprechen dafür, dass das Münzbild die Dioskuren darstellt. Münze Nr. 10 (ausnahmsweise eine Goldmünze, ein Aureus, 8,09 g schwer) zeigt ein ähnliches Bild wie Nr. 9, weist also dieselben Merkmale auf. Die Umschrift »L.SERVIVS – RVFVS« (vor und hinter den Köpfen) nennt den Münzmeister, der bereits Nr. 5 verantwortet.32 Da sich auf der Rückseite dieses Aureus

30 So Albert, Rainer (2011): Die Münzen der Römischen Republik (Anm. 26), S. 161. 31 Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 474. 32 Der Gegenstempel mit dem Adlerwappen der Familie Gonzaga stammt aus dem 17. Jahr-

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eine Ansicht der Stadt Tusculum, gesichert durch die Inschrift »TVSCVL«, findet, gibt es zusätzlich einen lokalen Bezug auf ein Zentrum der DioskurenVerehrung. Wir haben also gute Gründe, hier die Köpfe der himmlischen Zwillinge zu sehen.

7.2 Nicht alle gestaffelt dargestellten jugendlichen Köpfe gehören den Dioskuren. Ihre wichtigsten Konkurrenten sind die Penaten.

Abb. 11

Auf der Münze Nr. 11 (3,55 g) sehen wir zwei gestaffelte Köpfe nach links, mit Lorbeerkranz, ohne Pilei und Sterne. Davor steht »D.P.P«. Die Inschrift wird allgemein gedeutet als ›Dei Penates Publici‹. – Die Rückseite (nicht abgebildet) zeigt den Namen des Münzmeisters an: »C.SVLPICI.C.F«, dazu zwei Soldaten, die Speere in der linken Hand halten und mit der rechten auf ein Schwein zeigen. Diese Szene wird interpretiert33 als das prodigium vor der Gründung von Lavinium. Aeneas war bei Laurentum gelandet; als er dort eine trächtige Sau opfern wollte, riss diese aus. Aeneas folgte ihr zu der Stelle, wo sie gerade 30 Ferkel geworfen hatte, und dort gründete er Lavinium, das eine zentrale Kultstätte der Penaten wurde.34 Dieser Bezug stärkt die Zuweisung zu den Penaten.35 Die Penaten sind Schutzgötter, zunächst der Speisekammer und des heimischen Herds, dann – als Penates publici – auch des römischen Staates. Ihre hundert, so das Datenblatt der Staatlichen Museen Berlin zu dieser Münze (Objektnr. 18210681). 33 So Albert, Rainer (2011): Die Münzen der Römischen Republik (Anm. 26), S. 155, Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 320. 34 Lavinium. In: Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walther / Gärtner, Hans (Hg.) (1979): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s [sic] Realencyclopädie […]. Bd. 1 – 5. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe München: Artemis 1964 – 1975), Bd. 3, Sp. 523 f. 35 Noch ein Doppelkopf gehört – wie eine Inschrift zeigt – den Penaten: C. 455/2. Es gibt zwei weitere Doppelköpfe (C. 346/1 und C. 403/1), diese haben aber nichts mit der hier behandelten Frage zu tun.

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Abgrenzung von den Laren kann Schwierigkeiten machen, denn das Kriterium ›Lares = ortsgebunden, Penates = mit der Familie mitreisend‹36 hilft bei der Betrachtung einer vorliegenden Münze, Vase, Statuengruppe wenig. In unserem Fall (Abb. 11) ist die Inschrift nützlich.

7.3 Der Freund der Taxonomie, der präzisen Klassenbildung, kommt bei dem nächsten Münztyp (und seinen Subklassen) in große Bedrängnis:

Abb. 12a

Abb. 12b

Der Denar Nr. 12 (3,73 g) hat auf der Vorderseite gestaffelte, jugendliche Köpfe nach rechts. Sie tragen einen Lorbeerkranz, keine Pilei, aber die Sterne sind gut zu erkennen. Vor den Köpfen: »X«, ein Zahlzeichen (ligiert aus XVI). – Die Rückseite zeigt eine Galeere, die nach rechts gerudert wird; im Heck ist der Steuermann angedeutet. Oben der Name des Münzmeisters: »MN.FONTEI«, unten ein »P«, sicher ein Kontrollbuchstabe. Da Dioskuren wie Penaten als junge Männer dargestellt werden, haben wir hier nur noch ein trennendes Merkmal, den Stern, dazu den Bezug der gens Fonteia zu Tusculum.37 Trotz der kargen Beweislage identifizieren die Katalogwerke diese Köpfe einhellig mit Castor und Pollux. Aber bei ca. einem Viertel dieser Emission38 tritt eine Komplikation auf: Auf der Vorderseite stehen vor den Köpfen die Buchstaben »P.P«, sicher zu lesen ›Penates publici‹. Das ist kein Versehen des Stempelschneiders, denn er hat auch auf der Rückseite ein Detail hinzugefügt: Links unter dem Steuermann ist ein

36 Vgl. Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 125. 37 So Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 305 (anlässlich von C. 290/1, unserer Nr. 14). 38 Bei Crawford, ebd., steht C. 307/1b-d für die Mehrheit, 307/1a für die Minderheit. Bei Babelon, Ernest (1885 – 86): Description historique et chronologique des monnaies (Anm. 25): Fonteia 7 gegen 8.

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Fässchen zu sehen.39 In diesem Fass (doliolum) brachte Aeneas die heiligen Gegenstände aus Troja nach Latium,40 darunter die Penaten oder ihre Bilder. Den Schrecken angesichts dieser Vermischung artikuliert Peyre: »C’est un fait singulier que des dieux aussi romains que les P¦nates aient pu se confondre, — un moment de leur histoire, avec des h¦ros rest¦s aussi grecs dans la religion romaine que Castor et Pollux.«41 Wie können wir damit fertig werden? – Man kann betonen, dass die Kulte der Dioskuren und der Penaten stets getrennt waren. Wir haben bei diesem Bildtyp immer Castor und Pollux vor uns; diese Unterklasse ist eine »Ausnahme« (höflich für Fehlleistung).42 – Es handelt sich hier, in einer bestimmten historischen Situation, um eine bewusste Verschmelzung der Dioskuren und Penaten.43 – Die penatische Funktion (sit venia verbo) ist generell nicht an eine spezielle Gottheit gebunden, sondern kann von verschiedenen Göttern (Merkur, Venus, Jupiter, Juno, Minerva – auch den Dioskuren?) ausgeübt werden.44 Vermutlich hat Hederich Recht: »Am richtigsten ist es wohl, daß die Alten selbst nicht gewußt, was solches für Götter gewesen.«45

39 Eine Abbildung ist im Internet verfügbar : http//:www.wildwinds.com/coins/sear5/ s0184.html#fonteia8 (4. 2. 2014). 40 So Albert, Rainer (2011): Die Münzen der Römischen Republik (Anm. 26), zu seiner Nr. 1099 (wobei er die Subtypen nicht gut unterscheidet); Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 125. 41 Peyre, Christian (1962): Castor et Pollux et les P¦nates pendant la p¦riode r¦publicaine. In: M¦langes de l’¦cole franÅaise — Rome 74 (1962), S. 433 – 462, hier S. 433. 42 So (etwas von mir zugespitzt) Simon, ebd., S. 37. 43 Peyre, ebd., S. 461 f. 44 Simon, ebd., S. 11. 45 Hederich, Benjamin (1770): Gründliches mythologisches Lexikon (Anm. 12), S. 1931 f. (Es geht um die ›eigentliche Beschaffenheit‹ der Penaten.)

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8.1 Die heikle Weise, einen Doppelkopf – richtiger müsste man jetzt wohl von einem zweigesichtigen Kopf sprechen – darzustellen, illustrieren die folgenden Bilder :

Abb. 13

Abb. 14

Der Denar Nr. 13 (3,87 g) zeigt auf der Vorderseite einen Januskopf, bärtig, mit Lorbeerkranz. Die Umschrift: »M.FOVRI.L.F«, auf der Rückseite steht das cognomen »PHIL«, also Philus. Wir haben hier unstrittig den Gott Janus vor uns, einen römischen Gott ohne griechisches Pendant, den Schirmherrn der öffentlichen Tore und Durchgänge, zugleich den Gott allen Anfangs.46 Es ist ein (Singular!) Gott, der gleichzeitig in zwei Richtungen schaut und daher auf Statuen und Münzen zweigesichtig (bifrons) dargestellt wird.47 Die Vorderseite der Münze Nr. 14 (3,98 g) präsentiert einen ähnlichen Kopf mit Lorbeerkranz wie Nr. 13, aber er ist bartlos und wirkt dadurch jugendlicher. Rechts unten haben wir das Zahlzeichen »X« (= XVI ligiert). Auf der Rückseite ist eine Galeere und der Name »C.FONTEI«, das muss der Bruder oder Vetter des Münzmeisters von Nr. 12 sein. Laut Crawford48 sehen wir hier den janusförmigen Kopf der Dioskuren vor uns, auch wenn es weder Pilei noch Sterne gibt. Als Begründung wird die Parallele zum Denar Nr. 12 (einem leicht strittigen Fall) angeführt, zudem die Herkunft der gens Fonteia aus Tusculum. Vor allem folgt die Einordnung dieses Münztyps der Entscheidung, die viele Autoren im Fall einer berühmten Gruppe von Münzen getroffen haben.

46 Ianus. In: Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walther / Gärtner, Hans (Hg.) (1979): Der Kleine Pauly (Anm. 34), Bd. 2, Sp. 1311 – 1314. 47 Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 88 – 93. Sein Bild auf Münzen: der As seit 225 v. Chr. (zahlreiche Emissionen) und dieser Denar. 48 Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), S. 304 f. (zur Münze C. 290/1).

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8.2 Es geht hier um die letzten Didrachmen, die wegen ihres Rückseitenbildes meist als Quadrigati bezeichnet werden. Ein Beispiel:

Abb. 15a

Abb. 15b

Diese Münze (Durchmesser : 23 mm, Gewicht: 6,61 g) gehört zu der großen Gruppe49 der Quadrigati, die in der Zeit von 225 v. Chr. bis zur Einführung des Denars geprägt wurden. Auf der Vorderseite sehen wir einen janusförmigen Kopf mit Lorbeerkranz, bartlos und jugendlich. Der Bartflaum auf der Wange ist tief herabgezogen. Die Rückseite stellt Jupiter dar, der ein Zepter in der linken Hand trägt und mit der rechten einen Blitz schleudert; er fährt in einer Quadriga (einem Streitwagen mit zwei Rädern, von vier Pferden gezogen) nach rechts, eine geflügelte Victoria lenkt den Wagen. Unten, inkus auf rechteckiger Tafel: »ROMA«. Wen zeigt die Vorderseite, Janus oder die Dioskuren? Ältere Zitierwerke (Babelon, Sydenham) sprechen von Janus (kann nicht auch ein Gott mal jung gewesen sein?), seit Crawford rechnet man meist50 mit den Dioskuren. Außer der Bartlosigkeit gibt es ein etwas umständliches Argument für die Zwillinge:51 Gleichzeitig mit den ersten zwei Serien der Quadrigati wurden Goldmünzen emittiert, die auf der Vorderseite genau diesen zweigesichtigen bartlosen Kopf zeigen, auf der Rückseite aber zwei Soldaten, die einen Vertrag beschwören, indem sie in ein Schwein stechen, das ein kniender Junge hält. Zwar war Jupiter der wichtigste Schwurgott, aber auch die Dioskuren wurden bei Eiden angerufen. Für diese Goldmünze ist also eine Assoziation denkbar zwischen den Ca49 Crawford, ebd., unterscheidet acht Quadrigati-Typen, dieser gehört zu seinem Typ C. 28/3. 50 Unbotmäßige Ausnahmen: Varesi, Alberto (1994): Le monete d’argento della Repubblica Romana. 2. Aufl. Pavia: Editione Numismatica Varesi; Kent, John P. C. / Overbeck, Bernhard / Stylow, Armin U. (1973): Die römische Münze. München: Hirmer ; Quadrigatus. In: Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walther / Gärtner, Hans (Hg.) (1979): Der Kleine Pauly (Anm. 34), Bd. 4, Sp. 1285 f.; Sear, David R. (2000): Roman Coins and their values. The Millenium Edition. Bd. 1: The Republic and the Twelve Caesars. London: Spink, S. 79, hält sich aus dem Streit heraus: »Beardless laureate Janiform head«. 51 Das Folgende resümiert Simon, Erika (1990): Die Götter der Römer (Anm. 14), S. 38 f.

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storen als Schwurgöttern und einer Eidesleistung zum Vertragsschluss (Simon denkt hier speziell an den Vertrag zwischen Romulus und Titus Tatius). Der so ähnliche Kopf auf den Quadrigati hat dieselbe Funktion als Garant eines Schwurs, und der Jupiter auf der Rückseite bedroht mit seinem Blitz den Eidbrecher. Eine Warnung an die italischen Verbündeten, noch vor Beginn des 2. Punischen Krieges? ›Beim Castor und beim Pollux!‹, wie die Römer beteuernd ausrufen, ich finde den janusförmigen Kopf der Dioskuren nicht völlig überzeugend. Ein Gott ist Singular, zwei Götter sind Plural (oder Dual). Die Etrusker, Nachbarn nicht nur in der Geographie, hatten einen Gott Culsans52 mit ganz ähnlicher Funktion wie Janus, zweigesichtig, aber ohne Bart. – Wie schön wäre es, hätten wir eine lateinische Fundstelle, möglichst von einem Plinius, in der präzis gesagt wird, wer da auf der Münze abgebildet ist, mit der der Autor seine Toga bezahlt!

9. Denare der römischen Republik – ob mit oder ohne Dioskuren – entsprechen nicht immer den Erwartungen, die wir heute gegenüber Münzen hegen. Um zentrale Unterschiede bewusst zu machen, empfiehlt sich ein Blick auf die gute alte DM.53

Abb. 16a

Abb. 16b

52 Ebd., S. 90, mit Bild. 53 Wir könnten hier auch eine Euro-Münze heranziehen. Die DM wird nicht aus Nostalgie gewählt, sondern weil die Verhältnisse hier z. T. einfacher sind.

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9.1 Der Name des emittierenden Staates ist explizit angegeben: »BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND«. Auf römischen Münzen steht zuerst »ROMA« (z. B. Nr. 1), später kann es fehlen, in den letzten 80 Jahren der Republik ist es eher selten (z. B. Abb. 12, ohne den Namen). Rom ist zur dominierenden Macht der Ökumene geworden. – Bei der DM ist der Staat vor allem genannt, weil diese Münzen – von gelegentlichen Sonderprägungen in Silber abgesehen – nicht aus Edelmetall bestehen, so dass ihr Wert nur durch die Deutsche Bundesbank gesichert ist. Ein römischer Denar dagegen hatte seinen Metallwert, der durch Wiegen überall ermittelt werden konnte.54

9.2 Eine deutliche Wertangabe steht auf der Rückseite: »1 DEUTSCHE MARK«. Die römischen Denare signalisieren – wenigstens teilweise – ebenfalls ihren Wert und stechen damit unter antiken Münzen hervor. Zuerst tragen sie ein »X« (= 10 Asse, z. B. Abb. 1a), nach der Abwertung der Bronzemünzen ein XVI (oft ligiert dargestellt, z. B. Abb. 12a), in den späteren Jahren der Republik gehen »X«, »X« und kein Wertzeichen durcheinander.

9.3 Die DM-Münze ist maschinell gefertigt und streng normiert: Das Gewicht beträgt 5,5 g, der Durchmesser 23,5 mm, das Metall ist eine Legierung aus 75 % Kupfer und 25 % Nickel, die Münze ist perfekt rund. Damit ist sie automatentauglich. Dagegen sind die Denare von Hand gefertigt: Sie sind oft nicht völlig rund (siehe bes. Abb. 6 und 14), in Gewicht, Durchmesser, Stempelstellung unterschiedlich, nicht immer ist das Bild gut zentriert. Jedes Exemplar unterscheidet sich ein bisschen von seinen Nachbarn. Die alten Römer hatten eben keine Automaten. Das Metall hingegen war – mit wenigen, bekannten Ausnahmen – sehr reines Silber. Wer seine Denare auf die Waage legt, stößt auf ein bisher wenig erforschtes Problem. Theoretisch, so Crawford55, werden aus dem Pfund (libra, entspricht 54 Römische Gold- und Silbermünzen gelten als Kurantgeld – leichte Zweifel daran können auftreten, siehe Punkt 9.3. Die DM war und der Euro ist Kreditgeld. 55 Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), Bd. 2, S. 594 f. Man streitet beträchtlich um die ›libra‹, aber die Zahl 324 ist ungemein praktisch.

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324 g) Silber zunächst 72 Denare geprägt, dann, ab ca. 200 v. Chr., 84 Stück. Das ergibt zuerst einen Standard von 4,50 g, später von 3,86 g. In Wirklichkeit liegt das Durchschnittsgewicht niedriger und die Unterschiede zwischen den Exemplaren sind sehr groß. Das Kestner-Museum hat z. B. 40 Münzen vom Typ C. 44/556 (Nr. 1 oben). Deren durchschnittliches Gewicht beträgt 4,15 g, die Messwerte schwanken zwischen 4,58 und 3,27 g, das sind über 10 % vom Mittelwert nach oben und über 20 % nach unten.57 Solche Differenzen vertragen sich schlecht mit der Theorie, die römischen Silbermünzen seien Kurantgeld.

9.4 Die Mark-Münze gibt auf der Vorderseite den Prägeort (»A« = Berlin) und auf der Rückseite das Prägejahr (»1990«) an. Beides fehlt auf den römischen Münzen. Die weitaus meisten sind in Rom geprägt, bei den Ausnahmen (z. B. Sizilien, Luceria, Heeresmünzstätten) gibt es oft gute Hinweise. Schwieriger ist die zeitliche Einordnung. Nehmen wir Nr. 11 als Beispiel, sie wird von Crawford auf 106 v. Chr. datiert. Leider trägt die Münze keine Angabe, die eine exakte Zuweisung erlauben würde, wie z. B. ›im Jahr der Konsuln Q. Servilius Caepio und C. Atilius Serranus‹. Immerhin ist der für die Emission zuständige Beamte genannt: »C.SVLPICI.C.F« – aber über so inferiore Beamte wird kein Register geführt. Die Datierung der republikanischen Münzen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Dies gilt in verstärktem Maße für die frühen, anonymen Denare und Didrachmen.

9.5 Der Wert einer DM ist bekannt, er beträgt 0,51129 Euro, wenn man von den Preisentwicklungen der letzten zwölf Jahre absieht. Was ist ein Denar wert? Was konnte man sich dafür kaufen? Erste Vermutung: es muss ziemlich viel gewesen sein, denn meist war der Denar das höchste Nominal, Goldmünzen gab es nur dann und wann. Unter dem Denar hatte man eine Reihe von Bronzemünzen für die täglichen kleinen Geschäfte. Die Uncia z. B., eine Kleinmünze, war zuerst 1/ 120 Teil eines Denars, nach 141 v. Chr. sogar 1/192 vom Wert eines Denars. Zeitweilig hatte man gar noch kleinere Nominale, Semuncia und Quartuncia. 56 Berger, Frank (1989) : Die Münzen der Römischen Republik im Kestner-Museum Hannover. Hannover : Kestner-Museum (Sammlungskataloge Kestner-Museum 7), S. 80 – 85, speziell die Münzen Nr. 288 – 327. 57 Für Freunde der Statistik: arithmetisches Mittel = 4,15 g, Standardabweichung = 0,32, Variationskoeffizient = 7,71.

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Kann man Genaueres über den Denar sagen? Die Wikipedia konstatiert: »Die Kaufkraft eines Denars, gemessen an heutigen Waren und Dienstleistungen, war bei Kaiser Augustus, um 13 v. Chr., noch etwa 15 bis 25 Euro […]«.58 Das ist eine kühne Behauptung. Wir haben zwar zahlreiche Nachrichten über Löhne, Preise von Nahrungsmitteln, Kleidung, Dienstleistungen usw., auch über den Sold von Soldaten, über Kriegskosten, Tribute, den Wert der Beute, die in Triumphen mitgeführt wird; sie stammen aus unterschiedlichen Perioden und Gebieten des römischen Reichs.59 Es scheint unmöglich, daraus die eine gewünschte Zahl zu gewinnen. Wie könnte auf römischer Seite das Äquivalent zum modernen Warenkorb aussehen?

9.6 Bilder spielen auf der DM eine geringe Rolle. Auf der Vorderseite sehen wir einen nach links blickenden stilisierten (einköpfigen) Adler, sozusagen das Wappentier diverser mitteleuropäischer Staaten seit dem Hochmittelalter. Auf der Rückseite gibt es je zwei Eichenblätter und eine Eichel, links und rechts von der Wertzahl. In dieser Gestalt wurde die Münze von 1950 bis 2001 geprägt. – Die alten Römer hätten die DM wohl langweilig gefunden, sie waren bedeutend kreativer. Von 157 und besonders von 137 an (siehe oben, Abschnitt 2) brachten sie eine Vielzahl von Vorderseiten- und besonders von Rückseiten-Darstellungen hervor. Es stellt sich die Frage, ob die Bilder und Botschaften der römischen Münzen beachtet und verstanden wurden. Für die Rezipientenseite wissen wir es nicht. Bei den Emittenten, den Münzmeistern, ist oft ein Streben nach Verdeutlichung festzustellen, etwa durch Attribute, die den gemeinten Gott zu identifizieren helfen: Bogen und Köcher für Diana, Keule und Löwenfell für Hercules, Pilei und Sterne für die Dioskuren, oder durch erklärende Inschriften auf einer Seite (z. B. »PP« für Penates publici, oben, Nr. 11) oder gar beiden Seiten.60 Manche Münzbilder waren aber auch wohl damals dem normalen Bürger nicht verständlich, weil sie sich »vor allem an die adligen Standesgenossen richtete[n]«61, die den gleichen Bildungshorizont hatten. 58 Denarius. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Denarius (4. 2. 2014). 59 Vgl. Szaivert, Wolfgang / Wolters, Reinhard (2005): Löhne, Preise, Werte: Quellen zur römischen Geldwirtschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 60 Z.B. Crawford, Michael H. (1974): RRC (Anm. 1), C. 403/1: Die gestaffelten Köpfe der Vorderseite und die zwei Personen der Rückseite werden durch Inschriften erläutert. 61 Hölscher, Tonio (1982): Die Bedeutung der Münzen für das Verständnis der politischen Repräsentationskunst der späten römischen Republik. In: Hackens, Tony / Weiller, Raymond (Hg.): Actes du IXe CongrÀs International de Numismatique, Berne 1979. Bd. 1: Numismatique antique. Louvain-la-neuve / Luxembourg: AINP (Publications de l’Association Internationale des Numismates Professionnels 6), S. 269 – 282, hier S. 281, Anm. 27.

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Werner Alberts

Andere Bilder – z. B. die der reitenden Dioskuren – wurden im Wesentlichen verstanden, auch wenn die Leute, die eine Zahlung leisteten, nicht an die Schlacht am See Regillus dachten. Die Reiter wurden im Tempel verehrt, sie waren Helfer und Beschützer, erzsympathische Personen. Da reiten sie nun, der aufgehenden Sonne entgegen. Gilt es einen Drachen zu erschlagen, Witwen und Waisen zu schützen, oder haben sie ihre Speere herausgeholt, um die Unwissenheit zu bekämpfen? Wir haben keine Informationen, aber es kommt auf dieses Detail auch nicht mehr an.

Verzeichnis der Abbildungen 1 2

Denar Denar

C. 44/5 C. 335/10a

ab 211 v. Chr. 96

anonym A. Postumius Albinus

3 4

Denar Denar

C. 304/1 C. 239/1

109 – 108 136

L. Memmius C. Servilius

5 6.

Denar Denar

C. 515/2 C. 298/1

41 112 – 111

L. Servius Rufus L. Caesius

7 8

Denar Denar

C. 259/1 C. 335/9

129 96

Q. Marcius Philippus A. Postumius Albinus

9 10

Denar Aureus

C. 463/1a C. 515/1

46 41

Mn. Cordius Rufus L. Servius Rufus

11 12

Denar Denar

C. 312/1 C. 307/1

106 108 – 107

C. Sulpicius (Galba) Mn. Fonteius

13 14

Denar Denar

C. 281/1 C. 290/1

119 114 – 113

M. Furius Philus C. Fonteius

15 16

Quadrigatus 1 DM

C. 28/3

225 – 212 1990 n. Chr.

anonym Münzst. A = Berlin

Die Rechte an den Fotos haben Münzsammlung der Universität Göttingen, Fotograf: St. Eckardt: Abb. 6 (AS0208), Abb. 8 (AS-0266), Abb. 9 (AS-0492), Abb. 11 (AS-0232), Abb. 13 (AS0170), Abb. 14 (AS-0196). Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Fotograf: R. Saczewski: Abb. 5 (Objektnr. 18210682), Abb. 10 (Objektnr. 18210681).

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Ich danke den beiden Sammlungen für die Erlaubnis, diese Fotos zu verwenden, und Herrn Stephan Eckardt, Göttingen, für die Anfertigung der übrigen Fotografien.

Volker Hunecke

Republikaner und Monarchen zu Pferd. Denkmalkulturen in Paris und Berlin

Im 19. Jahrhundert ergriff Europa sowie die beiden Amerika ein Denkmalfieber, von dem sich an erster Stelle die großen Städte, allen voran die Hauptstädte, anstecken ließen. Die statuomanie, wie der flugs für das Phänomen geprägte Neologismus lautet, steigerte sich, je weiter die Zeit voranschritt, und ebbte erst im 20. Jahrhundert allmählich ab. Statuen im weitesten Sinn des Wortes wurden vorzüglich ›großen Männern‹, bloß ausnahmsweise auch Frauen, gewidmet: Fürsten, Feldherren und Staatsmännern, Dichtern und Denkern, Männern der Wissenschaft und Künste, und zwar in allen nur denkbaren Gestalten – als Fußstandbild oder Sitzfigur, als Büste, Medaillon oder Basrelief, hin und wieder auch in der besonders aufwendigen und kostspieligen Form eines Reiterstandbildes. Die meisten wurden in Bronze gegossen oder in Marmor gehauen, gelegentlich auch in anderem Material ausgeführt. In formaler Hinsicht besteht eine recht enge Verwandtschaft unter den Denkmälern der verschiedenen Länder Europas, da so gut wie alle Typen sich letztlich von der Antike herleiten; doch hinsichtlich der Personen, die eines Denkmals gewürdigt wurden, der Denkmalstifter, ihrer Motive und Absichten, bestanden von Land zu Land nicht selten erhebliche Unterschiede. Fasst man die formal so ähnlichen Denkmäler unter diesem Gesichtspunkt näher ins Auge, werden unterschiedliche, unverwechselbare Denkmalkulturen sichtbar, die uns tiefe Einblicke in die politische und geistige Beschaffenheit eines Landes und seiner Hauptstadt erlauben. Da die mit dieser Festschrift zu Ehrenden sich als geistige Brückenbauer zwischen Frankreich und Deutschland hervorgetan haben, auch noch immer hervortun, und da beide ein Faible für deren Hauptstädte auszeichnet, sollen im Folgenden aus den unzählig vielen Denkmälern von Paris und Berlin die überschaubaren Gruppen ihrer Reiterstandbilder herausgegriffen und zueinander in Beziehung gesetzt werden. So unmöglich es ist, die erhaltenen (und gar auch die verlorenen) Denkmäler einer Millionenstadt vollständig zu überblicken, so schwierig ist es, selbst nur die begrenzte Zahl ihrer Reiterstatuen genau zu erfassen. Denn soll man diesen allein die ehernen, die mindestens lebensgroßen, die freistehenden, die noch erhaltenen zurechnen oder auch solche, die diese Kriterien

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Volker Hunecke

nicht erfüllen? Um sich nicht unnötig lang mit definitorischen Fragen aufzuhalten, werden für Paris alle in der Übersicht von Jacques Lanfranchi als »statue ¦questre« klassifizierten Denkmäler betrachtet und für Berlin alle, die Wolfgang Vomm in dem Katalogteil zu seinem Werk »Reiterstandbilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland« für die preußisch-deutsche Hauptstadt verzeichnet hat, also einschließlich der in Berlin besonders zahlreichen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs und danach zerstörten. So kämen wir für beide Städte auf eine nahezu gleich große Zahl, nämlich siebzehn für Paris und sechzehn für Berlin, die an passender Stelle um wenige in diesen beiden Werken nicht verzeichnete Reiterstatuen zu ergänzen sein werden.1 In beiden Ländern war das Reitermonument ursprünglich ein Accessoire der absoluten Monarchie. Erstmals wurde in Paris ein derartiges Denkmal dem aus Bürger- und Religionskriegen als Sieger hervorgegangenen ersten Bourbonen auf dem französischen Thron, Heinrich IV., 1614 auf dem Pont-Neuf errichtet, und wie er erhielten auch alle seine Nachfolger noch zu Lebzeiten ihr Reiterdenkmal: sein Sohn Ludwig XIII. 1639 auf der Place Royale (Place des Vosges), dessen Sohn Ludwig XIV. 1699 auf der Place Louis-le-Grand (Place Vendúme) und dessen Nachfolger und Urenkel Ludwig XV. 1763 auf der Place Louis XV (Place de la Concorde). Um das auch seinem Enkel Ludwig XVI. an sich zustehende Reitermonument brachte diesen der Sturz der Monarchie 1792, in dessen Folge alle dem ›Despotismus‹ errichteten Denkmäler in Paris und ganz Frankreich geschleift und, sofern aus Bronze, eingeschmolzen wurden. So gingen mit den Denkmälern von FranÅois Girardon und Edme Bouchardon für den vierzehnten und fünfzehnten Ludwig zwei der künstlerisch vollkommensten Reiterstandbilder aller Zeiten verloren. Bis heute erhalten hat sich dagegen die Reiterstatue, die im Auftrag des ersten preußischen Königs, Friedrich I., Andreas Schlüter 1703 für dessen Vater, den Großen Kurfürsten, in Berlin schuf – und zwar mit Hilfe des Gießers Johann Jacobi, der wenige Jahre zuvor am Guss der Statue des Sonnenkönigs mitgewirkt hatte. Ebenso wie diejenige für Heinrich IV. pflanzte man auch die Statue des Großen Kurfürsten inmitten der repräsentativsten Berliner Brücke, der Langen Brücke am Schloss, auf; dort blieb sie für die kommenden anderthalb Jahrhunderte das einzige Berliner und preußische Reiterdenkmal.2

1 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes — Paris. Cœurs de bronze. TÞtes de pierre. Paris: L’Harmattan; Vomm, Wolfgang (1979): Reiterstandbilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland. Zum Verständnis und zur Pflege eines traditionellen herrscherlichen Denkmaltyps im Historismus. Teil II: Ortsalphabetischer Katalog. Diss. masch. Köln. 2 Hunecke, Volker (2008): Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon. Paderborn: Schöningh, Kap. V.

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Bereits mit der von der Revolution gesetzten Zäsur beginnen Paris und Berlin in der Errichtung von Reiterstandbildern getrennte Wege einzuschlagen. Zwar hatten die 1814 ein erstes und 1815 ein zweites Mal restaurierten Bourbonen nichts Eiligeres zu tun, als die von den Revolutionären geschleiften Königsdenkmäler wiederzuerrichten. Der Pariser Stadtrat glaubte gar, seinem neuen König Ludwig XVIII., jüngerer Bruder seines hingerichteten Vorgängers, eine besondere Freude zu bereiten, wenn bis zu seinem für den 3. Mai 1814 vorgesehenen Einzug in Paris sich wieder eine Reiterstatue des ersten Bourbonenkönigs auf dem Pont-Neuf erhöbe. Da, um solches ins Werk zu setzen, keine vierzehn Tage zur Verfügung standen, richtete man an den in Paris weilenden preußischen König die – gnädigst gewährte – Bitte, von einem der von Napoleon geraubten, bereits für den Rücktransport nach Berlin verpackten Pferde der Schadowschen Quadriga vom Brandenburger Tor einen Abdruck nehmen zu dürfen. Durch solches Entgegenkommen gelang es, am 3. Mai mittags »vor den erstaunten Augen der Einwohner der Hauptstadt die Statue zu enthüllen, die sie vier Jahre lang sehen sollten.« So lange dauerte es nämlich, bis die provisorische durch eine eherne, der zerstörten recht ähnliche Statue ersetzt werden konnte. Lediglich zehn weitere Jahre vergingen, bis auch »Ludwig XIII.«, nunmehr allerdings nicht in Bronze, sondern wie sein Pferd in Marmor gehauen, an seinen angestammten Platz im Marais zurückkehrte und sein sonnenköniglicher Sohn auf die Place des Victoires, weil er seinen Stammplatz auf der Place Vendúme in der Zwischenzeit an die napoleonische Säule der Großen Armee hatte abtreten müssen. Die Pläne, auch das Reiterdenkmal des ungeliebten Ludwig XV. zu erneuern und den bisher reiterdenkmallosen Ludwig XVI. durch ein solches zu ehren, vereitelte die Julirevolution.3 Der 1830 vollzogene Dynastiewechsel von der älteren zur jüngeren Linie der Bourbonen hatte zur Folge, dass in Paris künftig nie wieder einem französischen Monarchen ein Reiterstandbild errichtet wurde, wohingegen man in Berlin bis zum Ende der Monarchie eisern an dem Grundsatz festhielt, dass ein solches ausschließlich dem König und später dem Kaiser gebühre. Unter der Julimonarchie mühte sich der hoch angesehene Bildhauer Carlo Marochetti an einer für die Esplanade vor dem Invalidendom bestimmten Reiterstatue Napoleons I. zwölf Jahre lang vergeblich ab, und auch im Second Empire, unter der Herrschaft seines Neffen, blieben derartige, verschiedenen Bildhauern anvertraute Projekte ohne greifbares Ergebnis. So brachten beide, 3 Savoy, B¦n¦dicte (2003): Patrimoine annex¦. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800. Bd. 1. Paris: Êditions de la Maison des Sciences de l’Homme (Passages / Passagen 5/1), S. 383 – 388; de Bertier de Sauvigny, PÀre Guillaume (1999): La Restauration. Nouvelles statues royales. In: Bresc-Bautier, GeneviÀve / Dectot, Xavier (Hg.): Art ou politique? Arcs, statues et colonnes de Paris. Paris: Action artistique de la Ville de Paris, S. 106 – 109; Hubert, G¦rard (1999): Les projets. In: ebd., S. 110 – 113.

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immerhin vierzig Jahre währenden Regime in Paris nur zwei kurzlebige Reiterstandbilder hervor : eines von Marochetti für den 1842 tödlich verunglückten Kronprinzen Ferdinand-Philipp von Orl¦ans, das seinen prominenten Platz in der Cour Carr¦e des Louvre allerdings bereits im Verlauf der Februarrevolution wieder räumen musste. Denselben Platz durfte ein Jahrzehnt später für eine Weile auch das bronzierte Modell einer Reiterstatue König Franz’ I. einnehmen, ein im Auftrag Napoleons III. geschaffenes Werk von Auguste Cl¦singer, das indes so sehr missfiel, dass es bereits 1857 wieder aus dem Louvre entfernt wurde. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 war schließlich noch eine Reitergruppe »Charlemagne et ses Leudes« von Louis Rochet als Modell zu besichtigen, von dem ein Abguss allerdings erst 1878 zustande kam; bis die von den heutigen Besuchern der Stadt kaum beachtete Dreiergruppe ihren endgültigen gemauerten Sockel auf dem Platz vor Notre-Dame erhielt, sollte es gar 1908 werden.4 Während dieser ganzen langen Zeit gesellte sich in Berlin dem Reitermonument des Großen Kurfürsten nur ein einziges weiteres zu: das bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts geplante, aber erst 1851 enthüllte Denkmal Christian Daniel Rauchs für Friedrich den Großen Unter den Linden. An dem Meisterwerk Rauchs haben manche daran Anstoß genommen, dass von den zahlreichen Sockelfiguren die Denker der Zeit, namentlich Lessing und Kant, unter dem Pferdeschwanz zu stehen kamen (Abb. 1). Darüber habe man sich, meint ein Kenner aus Sachsen, zu Unrecht empört: »Denn der alte Fritz hätte sie ja doch auch dorthin gestellt! Selbst Voltaire!«5 Erst nach diesen langen Vorläufen traten beide Städte in die akute Phase des Reiterdenkmalfiebers ein. Ausgelöst wurde es durch den Krieg von 1870/71, dessen für beide Länder so gegensätzlicher Ausgang zu ebenso gegensätzlichen Einstellungen zu Reiterstandbildern führte. Die Ausrufung der Dritten Republik entfachte in Paris die ›statuomanie r¦publicaine‹, die keine Scheu trug, nunmehr auch Personen auf die Denkmalpferde zu

4 Vicaire, Marcel (1975): Les projets de Marochetti pour le tombeau de l’empereur Napol¦on Ier. In: Bulletin de la Soci¦t¦ de l’histoire de l’art franÅais. Ann¦e 1974, S. 145 – 152; Sgherzi, Michela (2005 [2007]): Contributi al catalogo delle opere di Carlo Marochetti scultore. In: Bollettino della Societ— Piemontese di Archeologia e Belle Arti. N.S. 56, S. 271 – 290, hier S. 274; Lema„stre, Isabelle (1999): Napol¦on aux Invalides. In: Bresc-Bautier, GeneviÀve / Dectot, Xavier (Hg.): Art ou politique? (Anm. 3), S. 133 f.; Jacquin, Emmanuel (1999): Trois statues ¦questres au Louvre. In: ebd., S. 140 f.; Bresc-Bautier, GeneviÀve / Pingeot, Anne (1986): Sculptures des jardins du Louvre, du Carrousel et des Tuileries. Bd. 2. Paris: Êditions de la R¦union des mus¦es nationaux, S. 84 – 90, S. 227 f. und S. 311 – 313; Hargrove, June (1989): Les statues de Paris. La repr¦sentation des grands hommes dans les rues et sur les places de Paris. Antwerpen: Fonds Mercator, S. 112. 5 Gurlitt, Cornelius (1907): Die deutsche Kunst des Neunzehnten Jahrhunderts. 3. Aufl. Berlin: G. Bondi, S. 387.

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setzen, denen in Berlin ein solcher Platz bis zum Untergang der Monarchie versagt blieb. Als erste republikanische Reiterstatue betrat 1874 eine »Jeanne d’Arc« die Pariser Denkmallandschaft, ein Werk Emmanuel Fremiets (1824 – 1910), der sich bis dahin vor allem als Tierbildhauer und Schöpfer zweier Reiterstandbilder im Auftrag Napoleons III. hervorgetan hatte. Krieg und Niederlage von 1870/71 hatten Fremiet in eine tiefe Schaffenskrise gestürzt, so dass er gar erwog, der Bildhauerei ganz zu entsagen und sich in die Provinz zurückzuziehen. Doch anstatt solches zu tun, formte er ganz im Stillen und ohne Auftrag das Modell zu einer bloß lebensgroßen Reiterstatue der Jeanne d’Arc. Ende 1872 erwirkte er die Genehmigung, sie in staatlichem Auftrag in Bronze zu gießen, so dass diese als Privatarbeit begonnene Skulptur im Februar 1874 ohne die für solche Anlässe übliche offizielle Zeremonie an der Place des Pyramides, an der Stelle, wo der Überlieferung nach die Pucelle bei der Belagerung von Paris verwundet worden war, enthüllt werden konnte (Abb. 2).6 Der Gedanke zu einem solchen Reiterstandbild muss damals gewissermaßen in der Luft gelegen haben. Denn wenn bis dahin allein die Stadt Orl¦ans sich eines solchen rühmen konnte (1855 von Denis Foyatier), sprangen sie in den Jahrzehnten nach 1874 überall in Frankreich aus dem Boden und hin und wieder sogar außerhalb Europas. Das hing offensichtlich mit dem damals sich verstärkenden Kult der Heroine und ihrer politischen Vereinnahmung durch Linke wie Rechte zusammen. Der hiervon noch unberührte Fremiet hatte sich damit begnügt, auf den Sockel seines Denkmals allein den Namen der Jeanne d’Arc zu setzen. Das genügte einem republikanischen Mitglied des Pariser Stadtrats nicht, der, um den wiederkehrenden royalistisch-klerikalen Manifestationen vor dem Denkmal einen Riegel vorzuschieben, am Vorabend des 14. Juli 1878 den Antrag stellte, daran die Inschrift anzubringen: Für Jeanne, letztes Bollwerk Frankreichs gegen feindliche Eindringlinge, für Jeanne, Tochter des Volkes, vom König, der ihr seine Krone verdankte, im Stich gelassen, vom Adel verraten und ausgeliefert, vom Klerus gerichtet und verurteilt, lebend verbrannt zu Rouen […].7

Dazu kam es zwar nicht, aber das kämpferische Bauernmädchen aus dem 15. Jahrhundert wurde sowohl von Anhängern wie Gegnern der Französischen 6 Chevillot, Catherine (2005): Art. Fremiet, Emmanuel. In: Saur. Allgemeines Künstlerlexikon. Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 44. München: Saur, S. 393 – 396; Chevillot, Catherine (1988): Emmanuel Fremiet. 1824 – 1910. La main et le multiple. Ausst.-Kat. Dijon: Mus¦e des Beaux-Arts, bes. S. 39 – 46 und S. 127 – 129. 7 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 63; vgl. Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 179 – 181; Angrand, Pierre (1971): Une – ou deux – Jeanne d’Arc sur la Place des Pyramides? In: Gazette des Beaux-Arts. 6e p¦riode 77 (= 113 [= Nr. 1228 – 1229]), S. 341 – 352.

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Revolution, von Laizisten wie Klerikalen, von Republikanern wie Monarchisten für ihre gegensätzlichen politischen Botschaften vereinnahmt, die man mit Vorliebe im Angesicht der Reiter- und Fußstandbilder der Heroine in die Welt hinausposaunte. Um Repliken von Fremiets Statue bemühten sich zahlreiche Städte des In- und Auslands; als auch Nancy 1890 eine solche haben wollte, nutzte Fremiet die Gelegenheit, seine wegen angeblicher Mängel von manchen kritisierte Statue von 1874 gründlich zu überarbeiten und 1899 gegen die heute zu sehende auszutauschen. Bis dahin hatte Paris noch zwei Fußstandbilder der Pucelle erhalten, zu denen 1900 eine zweite Reiterstatue auf der Place SaintAugustin von Paul Dubois hinzukam (und 1927 noch eine dritte auf dem Portikus von Sacr¦-Cœur). Die Statue vor Saint-Augustin stellt eine mit gezücktem Schwert munter trabende Kriegerin dar, an deren Sockel eine die ganze Stirnseite einnehmende Inschrift verkündet, dass Jeanne d’Arc im Alter von 17 Jahren sich angeschickt habe, den Feind aus Frankreich zu vertreiben, die englische Armee bei Patay vernichtet, die Belagerung von Orl¦ans aufgehoben, Karl VII. zur Krönung nach Reims geführt habe, bei dem Versuch, Paris zu befreien, verwundet, bei CompiÀgne gefangen genommen und im Alter von 19 Jahren von den Engländern in Rouen lebend verbrannt worden sei.8 Der patriotische Impetus dieser Inschrift war ganz gegen den englischen ›Erbfeind‹ gerichtet; schließlich lag die Fachoda-Krise erst kurze Zeit zurück und die Verständigung mit England noch in der Zukunft; doch sobald die Entente cordiale mit diesem Land erreicht war, fiel den inzwischen häufigeren Denkmälern der Jeanne d’Arc die Aufgabe zu, den patriotischen Sinn der Franzosen gegen den neuen Feind jenseits des Rheins zu lenken. Zwar wurden die Denkmäler für Jeanne d’Arc nie ganz so zahlreich wie diejenigen für den Reichseiniger Kaiser Wilhelm I. So unterschiedlich äußere Erscheinung und geschichtliche Mission der zarten Jungfrau und des bärtigen Preußen auch sein mochten, so dienten ihre Denkmäler, gleich ob zu Pferd oder zu Fuß, doch einem verwandten Zweck, den patriotischen Sinn in beiden Völkern zu wecken und zu stärken. Der republikanische Conseil municipal reagierte zunächst entrüstet auf das Vorhaben, den noch aus dem Second Empire stammenden, aber erst 1878 gegossenen ›dompteur des peuples‹ »Charlemagne« vor Notre-Dame aufzustellen, 8 Cabezas, Herv¦ (1999): Jeanne d’Arc. In: Bresc-Bautier, GeneviÀve / Dectot, Xavier (Hg.): Art ou politique? (Anm. 3), S. 195 – 199; Rausch, Helke (2006): Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848 – 1914. München: Oldenbourg, S. 541 – 543; Sniter, Christel (2001): La guerre des statues. La statuaire publique, un enjeu de violence symbolique: L’exemple des statues de Jeanne d’Arc — Paris entre 1870 et 1914. In: Soci¦t¦s & Repr¦sentations 1/11, S. 263 – 286; Sniter, Christel (2012): Les femmes c¦lÀbres sont-elles des grands hommes comme les autres? Gr–ne: Cr¦aphis Êd.; zum Jeanne d’Arc-Kult allgemein: Winock, Michel (1992): Jeanne d’Arc. In: Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de m¦moire. Abt. III: Les France, Bd. 3. Paris: Gallimard, S. 674 – 733; Krumeich, Gerd (1989): Jeanne d’Arc in der Geschichte. Historiographie – Politik – Kultur. Sigmaringen: Jan Thorbecke.

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willigte aber nach langwierigen Verhandlungen ein, das Werk von Rochet wenigstens zeitweilig auf provisorischem Sockel vor der Kathedrale zu dulden, allerdings nicht als Huldigung an den Frankenherrscher, sondern als beispielhaftes Muster für die hohe Qualität der Pariser Bronzegusskunst.9 Dagegen glaubten die Pariser Ratsherren ihr während der Commune zerstörtes, in vieljähriger Bauzeit wiedererrichtetes Rathaus nicht würdiger schmücken zu können als mit einem Reiterstandbild von Êtienne Marcel, des 1358 in einem Tumult erschlagenen Vorstehers der Kaufmannschaft (pr¦vút des marchands). Seine Statue schufen die Bildhauer Antoine Idrac und Laurent Marqueste und gaben ihr das stolze Aussehen eines Feldherrn der Renaissance (Abb. 3). Denn ein Kämpfer war auch Marcel gewesen und zwar, wie man meinte, ein Vorkämpfer städtischer Freiheiten, deren Verteidigung gegen die königliche Autorität er mit dem Leben bezahlt hatte. Gleichzeitig mit dem seinigen näherte sich auch das den Gründer der Dritten Republik glorifizierende Denkmal für L¦on Gambetta der Vollendung; um nun keinen Antagonismus zwischen staatlicher Souveränität und munizipaler Autonomie aufkommen zu lassen, entschied man sich, beide Denkmäler am selben Tag, am 14. Juli 1888, einzuweihen – das eine mit der Inschrift: »La ville de Paris — Êtienne Marcel« auf der Fläche zwischen Rathaus und Seineufer, das andere auf der Place du Carrousel mit der Widmung: »A L. Gambetta, la Patrie et la R¦publique«.10 Als Hort der Ideale von Republik und Freiheit wurden der Stadt Paris im Lauf der Jahre nicht weniger als vier Reiterstandbilder republikanischer Freiheitskämpfer von den amerikanischen Schwesterrepubliken zum Geschenk gemacht. Den Anfang machte der Verleger Joseph Pulitzer, der sich für die seinem Land vom französischen Volk geschenkte New Yorker Freiheitsstatue mit einem Werk von deren Schöpfer, Fr¦d¦ric-Auguste Bartholdi, revanchierte: mit einem in brüderlichem Handschlag vereinigten Fußstandbild von Lafayette und Washington. Das 1895 auf der Place des Êtats-Unis enthüllte Denkmal fügt den Namen der Dargestellten die Worte hinzu: »Hommage — la France en reconnaissance de son g¦n¦reux concours dans la lutte du peuple des Êtats-Unis pour l’ind¦pendance et la libert¦«.11 Auf ihre Reiterstandbilder sollten diese beiden Protagonisten der Atlantischen Revolution nicht lange warten müssen. Die Statue eines Washington zu Pferd gaben hochgestellte Damen einer eigens zu diesem Zweck gebildeten Vereinigung bei den Bildhauern Daniel C. French und (dem hauptsächlich für das Pferd zuständigen) Edward C. Potter in Auftrag, die 9 Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 112. 10 Ebd., S. 109; Hargrove, June (1999): Les hommes politiques. In: Bresc-Bautier, GeneviÀve / Dectot, Xavier (Hg.): Art ou politique? (Anm. 3), S. 168 – 174, hier S. 169 f. 11 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 236 (der irrtümlich von einer »statue ¦questre« spricht); Whittemore, Frances David (1933): George Washington in Sculpture. Boston: Marshall Jones, S. 141 f.

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in New York gegossen und während der Weltausstellung von 1900 am amerikanischen Unabhängigkeitstag in Gegenwart von viel Prominenz auf der Place d’I¦na nahe dem Trocad¦ro eingeweiht wurde. Dem militärisch gewandeten, mit hoch erhobenem Degen grüßenden General und Präsidenten ist die Inschrift beigegeben: »Offert par les femmes des Êtats-Unis d’Am¦rique en m¦moire de l’amiti¦ et de l’aide fraternelle donn¦es par la France — leurs pÀres pendant leur lutte pour l’ind¦pendance«.12 Gleichfalls am 4. Juli 1900 wurde das Denkmal für den »h¦ros des deux mondes« Lafayette enthüllt, zunächst, da die Bronze für den Guss nicht rechtzeitig zur Verfügung stand, in unfertiger Gestalt als vergrößertes Gipsmodell (pl–tre). Dieses war das Werk des Amerikaners Paul W. Bartlett, der seine Ausbildung in Frankreich, unter anderen bei Fremiet, vervollkommnet hatte und diesen Auftrag in der Nähe von Paris ausführte. Indes war Bartlett mit seinem Modell so wenig zufrieden, dass er weitere acht Jahre daran feilte, bevor es in Bronze gegossen werden konnte. Die Schuld für seine langsame Arbeitsweise nahm der Bildhauer auf sich, indem er auf der Plinthe unter dem Pferd eine Schildkröte anbrachte. Der neue »Lafayette«, nunmehr wie »Washington« ohne Kopfbedeckung und mit gezücktem Degen, fand seinen Platz in der Cour Napol¦on, bis er 1984 den Arbeiten am Grand Louvre weichen musste und zu anderen Reiterstandbildern auf den Cours la Reine versetzt wurde. Inschriften am Sockel weisen auch ihn als Geschenk Amerikas aus – und zwar von amerikanischen Schülern, die mit ihrem Tribut von rund fünfzigtausend Dollar das Andenken des Freundes Amerikas und des Waffengefährten Washingtons ehren wollten. Eine Bronzereplik in natürlicher Größe wurde 1920 der wiedergewonnenen Stadt Metz geschenkt, dort an der Stelle des gestürzten Denkmals für den preußischen Prinzen Friedrich Karl, einen der siegreichen Generäle im Krieg von 1870/71, aufgerichtet, aber während der neuerlichen Besetzung von den Deutschen zerstört.13 Gleichfalls auf den Cours la Reine verpflanzte man 1979 eine Reiterstatue des Libertador Simûn Bol†var, die als ein Geschenk der von ihm befreiten südamerikanischen Republiken zunächst, ab 1933, auf dem Square d’Am¦riqueLatine gestanden hatte. Anlass der Schenkung war die hundertste Wiederkehr des Todestags von Bol†var, der mehrfach längere Zeit in Paris geweilt und dort die Luft der Aufklärung geatmet hatte. Der Pariser Bol†var ist die Replik einer Statue, die Fremiet im Jahr 1900 für Bogot‚ geschaffen hatte und von der bereits Kopien in Barranquilla (Kolumbien) und La Paz (Bolivien) standen. Gleichfalls 12 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 263; Whittemore, Frances David (1933): George Washington (Anm. 11), S. 136 – 145. 13 Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 181 f.; Bresc-Bautier, GeneviÀve / Pingeot, Anne (1986): Sculptures des jardins du Louvre (Anm. 4), S. 26 – 28; de Margerie, Laure (1999): Statues ¦questres, cours la Reine. In: Bresc-Bautier, GeneviÀve / Dectot, Xavier (Hg.): Art ou politique? (Anm. 3), S. 189 – 194, hier S. 193 f.

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ein Rückwanderer aus Südamerika ist der ebenfalls auf dem Cours la Reine plazierte »Libertador Jos¦ de San Mart†n«, für den in den Hauptstädten der von ihm befreiten Länder Argentinien und Chile der französischer Bildhauer LouisJoseph Daumas bereits 1860 ein Reiterdenkmal samt Replik geschaffen hatte. Dieses gefiel mit seiner kühn vorwärts drängenden Pose so sehr, dass weitere Repliken nicht nur 1960 von Argentinien der Stadt Paris zum Geschenk gemacht wurden, sondern auch mehreren anderen Städten, in denen San Mart†n geweilt hatte oder sein Andenken geehrt wurde. Noch andere französische Bildhauer schufen Reiterstandbilder für südamerikanische Freiheitskämpfer : so AlbertErnest Carrier-Belleuse für Bernardo O’Higgins in Santiago de Chile (1872), für Manuel Belgrano in Buenos Aires (1873) und Antonio Guzm‚n Blanco in Caracas (1875); oder Antoine Bourdelle für den General Carlos Mar†a de Alvear in Buenos Aires (1926), zu dem sich das weit überlebensgroße Modell in der zum Museum hergerichteten Werkstatt Bourdelles auf dem Montparnasse erhalten hat. Weniger Fortune hatten deutsche Bildhauer in Amerika, unter denen es allein Rudolf Siemering vergönnt war, den Wettbewerb für ein Reiterstandbild Washingtons in Philadelphia zu gewinnen, und Gustav Eberlein, Daumas’ Reitermonument für San Mart†n in Buenos Aires einen neuen aufwendigen Sockel zu verpassen.14 Wie alle bisher genannten seit dem Krieg von 1870/71 entstandenen Reiterstandbilder in der einen und anderen Weise als Huldigungen an das republikanische Staatsideal zu verstehen sind, so bildet das einigende Band unter der nächsten Generation dieserart Denkmäler der Erste Weltkrieg. Noch bevor dieser wirklich in Sicht war, stifteten Bürger aus dem herrschaftlichen 9. Arrondissement dem englischen König Eduard VII., der mit seinem Staatsbesuch in Paris im Mai 1903 die zur Entente cordiale führende Verständigung zwischen beiden Ländern eingeleitet hatte, eine Reiterstatue auf dem nach ihm benannten Platz, die 1913 durch Paul Landowski, einen der meistbeschäftigten Bildhauer seiner Zeit, ausgeführt wurde.15 Weil sie im Krieg fest an Frankreichs Seite gestanden hatten, ehrten die Pariser in den 1930er Jahren auch andere ausländische Monarchen mit einem Reiterdenkmal. Als der belgische König Albert I. im Februar 1934 infolge eines Unfalls starb, war die Trauer in Frankreich über 14 Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 280; Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 211 und S. 255; de Margerie, Laure (1999): Statues ¦questres (Anm. 13), S. 191 – 193; Bresc-Bautier, GeneviÀve (2000): Art. Daumas, Louis-Joseph. In: Saur. Allgemeines Künstlerlexikon 24, S. 384; Hargrove, June (1977): The Life and Work of Albert Carrier-Belleuse. New York / London: Garland; Essers, Volkmar (1972): Werke Berliner Bildhauer in Philadelphia. Das Washington-Denkmal von Rudolf Siemering. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 10, S. 110 – 137; Pohlsander, Hans A. (2010): German Monuments in the Americas. Bonds across the Atlantic. Oxford u. a.: Peter Lang, S. 132 f. 15 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 223; Dunlop, Ian (2004): Edward VII and the Entente cordiale. London: Constable.

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den Tod dieses Mannes, der sich 1914 tapfer den Deutschen entgegengestellt und durch seinen Widerstand das ›Wunder an der Marne‹ ermöglicht hatte, so groß, dass eine nationale Subskription veranstaltet wurde, um ihm zu Ehren ein Denkmal auf dem Cours la Reine zu errichten. Damit wurde Armand Martial beauftragt, der die 1938 eingeweihte Reiterstatue des Königs auf einen sehr hohen Sockel setzte, dessen Seiten Reliefs mit Szenen des Kriegs in Belgien zeigen und dessen Rückseite Worte aus der bewegenden Rede zitiert, mit der König Albert im August 1914 seine Rückweisung des deutschen Ultimatums begründet hatte. Dort heißt es an letzter Stelle: »J’ai foi dans nos destin¦es. Un pays qui se defend s’impose au respect de tous. … Il ne saurait perir.«16 Als König Alexander I. von Jugoslawien, der sich anschickte, Frankreich einen Staatsbesuch abzustatten, im Oktober 1934 bei seiner Ankunft in Marseille einem Attentat zum Opfer fiel, fasste der Pariser Conseil municipal umgehend den Beschluss, ihm ein Denkmal zu errichten als Ausdruck der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen beiden Ländern. Der mit dieser Aufgabe betraute Maxime R¦al del Sarte schuf eine (1936 auf der Place de Colombie enthüllte) Reitergruppe mit mehreren Personen, da, wie die Inschriften an dem Denkmal besagen, außer Alexander auch dessen Vater König Peter I. von Serbien, der bereits im Krieg von 1870/71 auf französischer Seite gekämpft hatte, geehrt werden sollte. Was die Denkmalsetzung beseelte, kommt am besten in einem in den Sockel eingemeißelten Telegramm des Prinzregenten Alexander an den Präsidenten Poincar¦ vom Dezember 1915 zum Ausdruck: »La Serbie n’est plus, mais son arm¦e reste / Nous sommes prÞts — venir continuer / La lutte sur le sol franÅais«. Zu den ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg würdigenden Denkmälern der Könige Albert, Peter und Alexander ist jüngst auf dem Cours la Reine noch ein weiteres hinzugetreten, das am 21. Juni 2011 von den französischen und russischen Regierungschefs, FranÅois Fillon und Wladimir Putin, eingeweiht wurde. Es zeigt einen einfachen russischen Soldaten, der sein kleines Pferd am Halfter hält, und darunter eine Tafel mit der Inschrift: »õ la m¦moire des soldats et officiers du corps exp¦ditionnaire russe ayant combattus sur le sol franÅais entre 1916 et 1918. La France et la Russie reconnaissantes«.17 Bei so viel den ausländischen Verbündeten erwiesener Ehre konnte es nicht ausbleiben, dass man auch der eigenen militärischen Chefs, die das Land zum Sieg geführt hatten, gedachte. Das geschah erst am Vorabend des Zweiten 16 Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 270; de Margerie, Laure (1999): Statues ¦questres (Anm. 13), S. 189 – 191. 17 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 205; Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 271; Hargrove, June (1999), Militaires et appel¦s. In: Bresc-Bautier, GeneviÀve / Dectot, Xavier (Hg.): Art ou politique? (Anm. 3), S. 185 – 188, hier S. 187; http://paris1900.lartnouveau.com/paris08/rues/cours_la_reine/monu_rus1.htm (14. 1. 2014).

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Weltkriegs, Jahre nach dem Tod der beiden Marschälle Ferdinand Foch und Joseph Joffre, die beide großen Anteil am Sieg an der Marne wie an dem für ihr Land glücklichen Ausgang des Kriegs hatten. Die wiederum von R¦al del Sarte geschaffene Reiterstatue für Joffre wurde wenige Wochen vor dem neuen Krieg, am 10. Juni 1939, auf dem nach ihm benannten Platz vor der Êcole Militaire eingeweiht. Die Fertigstellung der bereits etwas früher an Robert Wl¦rick in Auftrag gegebenen Statue für Foch verzögerte sich wegen Meinungsverschiedenheiten über den Ort ihrer Aufstellung, Metallmangels im Krieg und des Tods des Künstlers (1944). Auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit stieß die Absicht der Künstler (nach Wl¦ricks Tod hatte dessen Freund Raymond Martin die Vollendung des Werks übernommen), den Marschall von Frankreich ohne den traditionellen ›k¦pi‹ darzustellen. Allen Einwänden zum Trotz hielten sie an ihrem künstlerischen Standpunkt fest, und als die Statue endlich 1951 auf der Place du Trocad¦ro, also in weiter Entfernung dem Denkmal Joffres gegenüber, enthüllt wurde, war sie barhäuptig, was ihre gewollte Ähnlichkeit mit Donatellos »Gattamelata« noch verstärkte (Abb. 4).18 Der Absicht, eine gewisse Übersichtlichkeit in die disparate Pariser Reiterdenkmallandschaft zu bringen, widersetzen sich drei Statuen, die aus dem von uns gewählten Ordnungsschema völlig herausfallen. Emmanuel Fremiet, der 1874 mit seiner »Jeanne d’Arc« auf der Place des Pyramides die Ära der ihr gewidmeten Denkmäler eröffnet hatte, überraschte, mittlerweile auf die siebzig zugehend, im Salon von 1890 mit dem Modell eines berittenen »Vel‚zquez«. Zu dem Werk schien ihn weniger eine Neigung zu dem Maler inspiriert zu haben als vielmehr das leichtfüßige andalusische Pferd, auf das er den Reiter in Hoftracht, mit Federhut und Schwert versehen, doch ohne irgendwelche Insignien seiner Kunst, gesetzt hatte. In der Supplik an die Regierung, das Modell doch ankaufen zu wollen, nannte Fremiet sein Werk »un r¦sum¦ de ce que j’ai appris dans l’art des statues ¦questres«, von denen er bis dahin immerhin schon ein halbes Dutzend geschaffen hatte. Seine Bitte wurde erhört, die Statue 1892 in Bronze gegossen und im folgenden Jahr so prominent wie nur irgend möglich, nämlich vor der Kolonnade des Louvre, aufgestellt (Abb. 5). Dort blieb die eigenwilligste Pariser Reiterstatue, bis sie 1933 in einem Akt unheilvoller Generosität der Casa Vel‚zquez in Madrid überlassen, wenig später im Bürgerkrieg zerstört und 1959 dort durch eine Replik ersetzt wurde.19

18 Hargrove, June (1989): Les statues de Paris (Anm. 4), S. 269; Hargrove, June (1999), Militaires et appel¦s (Anm. 17), S. 187 f. 19 Bresc-Bautier, GeneviÀve / Pingeot, Anne (1986): Sculptures des jardins du Louvre (Anm. 4), S. 204 – 207, hier S. 205 (Zitatnachweis); Chevillot, Catherine (1988): Emmanuel Fremiet (Anm. 6), S. 142 – 144; Luxenberg, Alisa (1999): Regenerating Vel‚zquez in Spain and France in the 1890s. In: Bolet†n del Museo del Prado 17 [= Nr. 35], S. 125 – 149, hier S. 129 – 132.

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Ein weiterer Einzelgänger unter den Pariser Reiterstatuen ist eine 1930 entstandene Plastik, die in den Augen ihres Schöpfers, des dänischen Bildhauers Holger Wederkinch, eine Jeanne d’Arc darstellen sollte und die er folglich 1948 der Stadt Paris schenkte. Doch diese zierte sich, das exzentrische Bildwerk anzunehmen. Da es in den Worten eines Stadtrats dem »sentiment national attach¦ — l’image de Jeanne d’Arc« allzu sehr widersprach, wurde das Geschenk erst, nachdem es in »La France renaissante« umgetauft war, akzeptiert und, auch um eine diplomatische Verstimmung mit Dänemark zu vermeiden, an der nördlichen Spitze der Ile des Cygnes aufgestellt, wo diese den Pont de Bir-Hakeim berührt, also recht peripher.20 Die jüngste Pariser Reiterstatue erhebt sich seit 1988 unweit der Stelle des Louvre, wo wenige Jahre zuvor noch der von amerikanischen Schülern gestiftete »Lafayette« gestanden hatte. Um der großen, vom Arc du Carrousel über die Champs Êlys¦es zum großen Arc de Triomphe und darüber hinaus führenden Ost-West-Achse an ihrem Ausgangspunkt in der Cour Napol¦on ein Markierungszeichen zu setzen, hielt der Architekt der Louvre-Pyramide, Ieoh Ming Pei, nach einer geeigneten Skulptur Ausschau; er fand sie schließlich in Berninis marmorner Reiterstatue Ludwigs XIV., die, weil sie dem Sonnenkönig missfiel, FranÅois Girardon kurzerhand in einen Marcus Curtius, einen Helden der römischen Frühgeschichte, verwandelt hatte und die sich damals zur Restaurierung im Marstall von Versailles befand. Da es Pei unmöglich dünkte, Berninis Werk seine ursprüngliche Gestalt zurückzugeben, entschied er sich für einen Nachguss der bernino-girardonschen Statue in Blei. So wacht nun, obzwar in deformierter Gestalt, die einzige Reiterstatue des Ancien R¦gime, die wegen ihrer altrömischen Drapierung den Bildersturm der Revolution überlebt hat, am Eingang zu dem Museum über die endlosen Heerscharen seiner Besucher, von denen indes nur die wenigsten von dem prominenten Reiter und seinem bewegten Pferd Kenntnis zu nehmen geruhen (Abb. 6).21 Wie andersartig und – zumindest auf den ersten Blick – wie viel eintöniger dagegen der Befund in Berlin! Hier galt, wie schon angedeutet, für die Reiterdenkmäler das monarchische Prinzip, bis es keine Monarchen mehr gab. Dieses eherne Gesetz hatte zur Folge, dass seit dem Krieg von 1870/71, während in Paris das republikanische Reiterdenkmal in Blüte stand, allen Monarchen aus dem Hause Hohenzollern solche errichtet wurden – in ebenso lückenloser Folge wie einst im Ancien R¦gime den Bourbonenkönigen von Heinrich IV. bis zu Ludwig XV.: für Friedrichs II. Großneffen Friedrich Wilhelm III. (reg. 1797 – 1840) 1871 20 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 124 f., hier S. 125 (Zitatnachweis); Cabezas, Herv¦ (1999): Jeanne d’Arc, S. 197; zahlreiche Abbildungen in: http://paris1900.lartnouveau.com/paris15/lieux/la_france_renaissante.htm (14. 1. 2014). 21 Hunecke, Volker (2008): Europäische Reitermonumente (Anm. 2), S. 206 – 211.

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im Lustgarten durch Albert Wolff, für dessen Sohn Friedrich Wilhelm IV. (1840 – 1858/61) Kaiser Wilhelm I. (1858/61 – 1888) 1886 auf der Freitreppe der Nationalgalerie durch Alexander Calandrelli, für dessen Bruder den König und späteren Kaiser Wilhelm I. (1858/61 – 1888) 1897 das Nationaldenkmal auf der Schloßfreiheit durch Reinhold Begas, 1904 schließlich für dessen Sohn den 99Tage-Kaiser Friedrich III. vor dem heutigen Bode-Museum durch Rudolf Maison; ohne Reitermonument blieb, ebenso wie einst in Paris Ludwig XVI., allein der letzte der Dynastie – der an ihrem Untergang nicht ganz unschuldige Wilhelm II. Wie rund ein halbes Hundert anderer deutscher Städte wollten auch die damaligen Berliner Vororte Rixdorf (Neukölln) und Spandau ihr Kaiser-Wilhelm-Reiterdenkmal haben und bekamen es Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso wie die Stadt Charlottenburg das ihrige für Kaiser Friedrich III. Von all diesen Denkmälern des Kaiserreichs hat allein dasjenige für den ›Romantiker auf dem Königsthron‹, Friedrich Wilhelm IV., die Kriegs- und Nachkriegszeit überlebt; doch nicht nur dieses, sondern auch die verloren gegangenen sollen im Folgenden Revue passieren und, um den zwangsläufig sich einstellenden Eindruck der Monotonie etwas aufzuhellen, am Ende auch diejenigen Berliner Reiterstatuen, auf denen kein Hohenzollernmonarch Platz genommen hat. In der Gestaltung von Ross und Reiter gibt es manche Ähnlichkeiten zwischen den (mit Rauchs »Friedrich dem Großen«) fünf Berliner Denkmälern.22 Alle fünf Pferde schreiten bzw. schritten bedächtig oder in leichtem Trab voran; die ästhetisch weniger befriedigende Form des ruhig stehenden Pferdes wurde dagegen für die vorstädtischen Denkmäler in Rixdorf (Albert Moritz Wolf), Spandau (Franz Dorrenbach) und Charlottenburg (Joseph Uphues) gewählt. Alle fünf Reiter stecken in Uniformen und tragen Mäntel oder Umhänge; dem Wandel der Moden entsprechend trägt »Friedrich II.« einen Dreispitz, sein Großneffe trug einen solchen mit wehendem Federbusch; barhäuptig ist allein »Friedrich Wilhelm IV.«, während seine beiden kaiserlichen Nachfolger (sehr zu ihrem äußeren Nachteil) Pickelhelme aufgesetzt bekamen. Diese sind auch als 22 Das Folgende im Wesentlichen nach: Vomm, Wolfgang (1979): Reiterstandbilder des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland (Anm. 1); von Simson, Jutta (1976): Das Berliner Denkmal für Friedrich den Großen. Die Entwürfe als Spiegelung des preußischen Staatsverständnisses. Frankfurt a. M.: Propyläen; Krosigk, Klaus von / Hesse, Frank Pieter / Sturm, Gesine (Hg.) (2001): Ein Denkmal für den König. Das Reiterstandbild für Friedrich II. Unter den Linden in Berlin. Berlin: Schelzky & Jeep (Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin 17); von Simson, Jutta (1982): Der Bildhauer Albert Wolff. 1814 – 1892. Berlin: Gebr. Mann; Maaz, Bernhard (1994): Alexander Calandrellis Reiterstandbild Friedrich Wilhelms IV. an der Nationalgalerie. In: Jahrbuch der Berliner Museen 36, S. 199 – 216; Sünderhauf, Esther Sophia (Hg.) (2010): Begas. Monumente für das Kaiserreich. Eine Ausstellung zum 100. Todestag von Reinhold Begas (1831 – 1911). Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum Berlin. Dresden: Sandstein; neuere Literatur zu Maisons »Kaiser Friedrich III.« scheint es nicht zu geben.

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einzige mit einem etwas aus der Mode gekommenen Feldherrnstab ausgerüstet. Die Inschriften auf der Stirnseite begnügen sich im Wesentlichen mit dem Namen des Dargestellten und denjenigen seiner Nachfolger, die ihm dieses Denkmal errichtet haben (an deren Stelle bei den beiden Kaisern »das Deutsche Volk« trat). Gegenüber Schlüters »Großem Kurfürsten« hat sich die Höhe der Denkmäler Unter den Linden und im Lustgarten reichlich verdoppelt (auf rund 13,5 und 12,5 m); um die Proportionen mit der Nationalgalerie zu wahren, ist »Friedrich Wilhelm IV.« etwas kleiner geraten, während Begas’ »Kaiser Wilhelm« vor dem Schloss mit gut zwanzig Metern Höhe selbst noch Girardons »Sonnenkönig« auf der Place Vendúme um ein gutes Stück überragt hat. Gruppiert waren alle Reiterstandbilder mehr oder minder nah um das Stadtschloss der Hohenzollern herum und drei von ihnen mit den königlichen Museen eng verbunden: Im Lustgarten kehrte »Friedrich Wilhelm III.« dem unter seiner Regierung errichteten (Alten) Museum zwar den Rücken zu, war diesem aber doch noch näher als seinem eigenen Schloss; eine unauflösliche architektonisch-skulpturale Einheit bildet Calandrellis »Friedrich Wilhelm IV.« mit der seinem Andenken gewidmetem Nationalgalerie (Abb. 7), und »Kaiser Friedrich III.« blickte über die Montbijoubrücke hinweg frontal auf den Eingang des einst seinen Namen tragenden Museums, aus dessen Eingangshalle ihm die dort gleichzeitig aufgestellte galvanoplastische Kopie von Schlüters »Großem Kurfürsten« förmlich entgegenreitet. Am stärksten unterscheiden sich die ehernen Reiter durch die mehr oder minder große Fülle an plastischem Schmuck und Inschriften, die man an ihren Postamenten angebracht hat oder eben auch nicht. Auf den Sockeln wird eine Art Wettstreit ausgetragen zwischen Krieg und Frieden, in dem die Taten des Krieges den Werken des Friedens im Lauf der Zeit immer mehr Terrain abtreten mussten. Die tendenzielle Entmilitarisierung – und Feminisierung – des Figurenschmucks zeigt am deutlichsten eine Gegenüberstellung von Rauchs »Friedrich der Große« und Calandrellis »Friedrich Wilhelm IV.«, der genau hundert Jahre nach jenem den Thron bestieg. Die vier Ecken von Rauchs Hauptwürfel bewachen ebenso viele Generäle zu Pferd, die jeweils sieben mehr oder minder stark plastisch herausgearbeitete, namentlich gekennzeichnete weitere Militärs auf der Vorder- und den beiden Längsseiten einrahmen. Weil für mehr der Platz nicht reichte, verzeichnen tiefer am Sockel angebrachte Inschriftentafeln die Namen und Ränge von, sofern uns kein Zählfehler unterlaufen ist, sechzig weiteren Offizieren Friedrichs. Die sechs plastisch dargestellten Vertreter des geistigen Lebens – drei Minister, der kgl. Kapellmeister Graun sowie Lessing und Kant – teilen sich den Platz auf der den Linden zugewandten Rückseite unter dem Schwanz des Pferdes (Abb. 1); auf der Inschriftentafel darunter werden vierzehn weitere Personen genannt, unter ihnen,

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wie für die Empfänger der Festschrift eigens hervorgehoben sei, die Dichter Gleim, Ramler, Gellert sowie der bei Kunersdorf tödliche verwundete Ewald Christian von Kleist. Einen etwas größeren Raum nehmen die Werke des Friedens auf dem oberen Reliefband ein: Hier erkennt ein scharfes Auge auf der nördlichen, der Universität zugewandten Seite drei Szenen aus Friedrichs zivilem Leben: der König in der Stube eines schlesischen Webers; wie er einsam die Flöte spielt, und wie ihm in Sanssouci die Skulptur des »Betenden Knaben« überbracht wird. Dagegen ist das nur eine Generation später entstandene Denkmal für Friedrich Wilhelm IV. so unmilitärisch wie nur möglich gestaltet: Flankiert wird der Sockel von vier die Kunst, die Religion, die Geschichte und die Philosophie darstellenden weiblichen Allegorien; Vorder- und Rückseite zieren Genien, das Relief der Ostseite der Kölner Dom, und (neben der unvermeidlichen Uniform) erinnert allein das gegenüber liegende Relief mit Kriegsgenien an den im König verkörperten militärischen Führer. Der Gedanke, Reiterstandbild und Museum miteinander zu verknüpfen, geht übrigens auf den König selbst zurück. Gewissermaßen die Waage zwischen Krieg und Frieden hält das zeitlich zwischen den beiden errichtete Denkmal des Vaters im Lustgarten. Anstatt von Offizieren ist sein hoher Sockel von überlebensgroßen stehenden und sitzenden weiblichen Allegorien bevölkert. Geradezu unvermeidlich tauchen am Denkmal des Königs der Befreiungskriege neben manchem militärischen Zierat die Namen von Leipzig, Paris und Belle-Alliance auf und okkupiert eine von den Flussgottheiten Rhein und Memel flankierte, mit Helm und Landwehrkreuz bewehrte Borussia die eine Längsseite des Sockels; die gegenüberliegende ist indes ganz der Friedenstätigkeit des Königs der preußischen Reformen gewidmet, die eine Tafel in der Rechten der Gerechtigkeit dem Betrachter in Erinnerung ruft: »Aufhebung der Erbuntertänigkeit, Beschränkung des Zunftzwanges, Städteordnung, Gründung der Universität Berlin […].« Symbole und Allegorien von Krieg, Sieg und nationaler Stärke bevölkern in geradezu erdrückender Fülle das Nationaldenkmal des Siegers in drei Kriegen und Reichsgründers Wilhelm I. Doch der von dessen Sohn protegierte Hofbildhauer Reinhold Begas konnte nicht umhin, dem Geist der Zeit folgend auch den Werken und Segnungen des Friedens gebührenden Platz einzuräumen. Sein – zumindest aus heutiger Sicht – bestechendster Einfall war, dem auf über zehn Meter hohem Podest reitenden Kaiser einen Genius an die Seite zu geben in Gestalt einer anmutigen, beschwingt schreitenden, etwas Friedvolles, Friedenstiftendes ausstrahlenden weiblichen Gestalt, die jenen leitet, ihm die Richtung weist; darin haben manche sogar das Wesentliche der ganzen Reitergruppe erblickt, ein Gegengewicht zu dem Kriegerisch-Gewalttätigen des Denkmals. Nur wenige Jahre zuvor hatte Begas eine andere, dem Friedensgenius verwandte kolossale Frauengestalt geschaffen – die rittlings auf einem Pferd reitende

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»Germania«, die mit ihren Begleitern Ruhm und Sieg einst den Giebel oberhalb des Hauptportals des Reichstags bekrönt hat. Mit dieser weit überlebensgroßen Figur habe Begas, erzürnte sich ein Zeitgenosse, nichts anderes als eine »Zierpuppe« geschaffen: So wie sie jetzt geworden, so effektvoll geziert und manirirt, mag sie wohl das Entzücken aller höfisch gedrillten Wadenstrümpfler hervorrufen. Mir kommt jedoch immer der Gedanke, als ob die Kaiserkrone, die das Ideal unseres neubelebten Deutschthums in sich verkörpert, auf dem hübschen Duodez-Köpfchen zu einem Nonsens geworden; ja, wenn die zierliche Person eine phrygische Mütze trüge und auf die Zinne des Pariser Opernhauses gesetzt würde, Herr Begas müsste dann ohne Weiteres zur Ehrenlegion kommandiert werden.23

Aus heutiger Sicht kann man aus diesem bitterernst gemeinten Vorwurf ein Kompliment für Begas herauslesen, in damaliger Zeit markierte er jedoch den tiefen Graben, der sich zwischen den Denkmalkulturen der beiden Länder und ihrer Hauptstädte aufgetan hatte. Selbst ohne Maisons »Kaiser Friedrich III.« vor dem Bode-Museum, über den wir kaum etwas wissen, zur Kenntnis genommen zu haben, würde die Berliner Bilanz ziemlich dürftig ausfallen, wenn es nicht die Reitergruppen ohne einen Chef des Hauses Hohenzollern auf dem Pferderücken gäbe. Bereits Jahre bevor Rauchs großes Denkmal unter den Linden enthüllt wurde, hatte August Kiß, langjähriger Mitarbeiter in dessen Werkstatt, seine dramatisch bewegte Gruppe einer Amazone zu Pferd, die mit einem Panther kämpft, 1842 in Bronze gießen können. Die Anregung zu einem solchen Bildwerk war von Schinkel ausgegangen, der es sich als Schmuck der Treppenwangen seines neuerbauten Museums gewünscht hatte, auf deren östlicher es seit 1843 steht (Abb. 8). Bereits seit damals beschäftigte sich Albert Wolff, teils in Zusammenarbeit mit Rauch, mit einem gleichfalls berittenen Löwenkämpfer, der allerdings erst 1861 als Pendant zu Kiß’ »Amazone« auf der gegenüberliegenden Treppenwange zur Aufstellung kam. Beide Skulpturengruppen erlangten eine solche Berühmtheit, dass das Philadelphia Museum of Art die breite zu ihm hinaufführende Treppe 1929 mit ihren Repliken in ähnlicher Weise geschmückt hat wie in Berlin. Die Besucher des Alten Museums nehmen allerdings von den sie begrüßenden Bildwerken in der Regel ebenso wenig Notiz wie die auf Einlass in den Louvre Harrenden von der Reiterfigur, die der Architekt Pei am Fuß seiner Pyramide aufgepflanzt hat.24 23 Klebs, Jürgen (2010): Das Nationaldenkmal für Kaiser Wilhelm I. In: Sünderhauf, Esther Sophia (Hg.): Begas (Anm. 22), S. 89 – 102, hier S. 97; das Zitat aus der Tafel in der Rechten der Gerechtigkeit: von Simson, Jutta (1982): Der Bildhauer Albert Wolff (Anm. 22), S. 94; Cullen, Michael S. (2010): Außer Spesen nichts gewesen. Begas’ Germania-Gruppe für den Reichstag und die Weltausstellung in Chicago 1893. In: ebd., S. 103 – 110, hier S. 108. 24 von Simson, Jutta (1990): August Kiß und Albert Wolff. In: Bloch, Peter / Eichholz, Sibylle / von Simson, Jutta (Hg.): Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786 – 1914. Bd. 1:

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Der »Amazone« und dem »Löwenkämpfer« antworteten auf der Seite des Schlosses zwei von Peter Clodt von Jürgensburg modellierte eherne »Rossebändiger«, die Zar Nikolaus 1842 seinem Schwager Friedrich Wilhelm IV. zum Geschenk gemacht hatte. Die ursprünglich vor dem Portal IV aufgestellten Skulpturen haben nach 1945 ein Asyl vor dem Kammergericht am Kleistpark gefunden. In situ, nämlich auf dem Dach des Alten Museums sind dagegen die zum ursprünglichen Schmuck des Gebäudes gehörenden Dioskuren mit Pferden von Friedrich Tieck (1827/28) verblieben, denen sich später als Pendant auf der Rückseite des Museums zwei Pegasus-Figuren hinzugesellt haben. Mit Pferden, obgleich nicht immer mit aufsitzendem Reiter, war das Areal von Museum und Schloss (dessen Innenhof seit 1865 überdies Kiß’ »Heiligen Georg« beherbergte) also reichlich bestückt.25 Während Reinhold Begas mit seiner monumentalen »Germania«-Skulptur für den Reichstag sowie den Nationaldenkmälern für Kaiser Wilhelm und wenig später für Bismarck beschäftigt war (den er in Berlin selbstverständlich nicht zu Pferd darstellen durfte, wie es Adolf von Hildebrand 1910 für die Hansestadt Bremen tat), geschah etwas ebenso Unerwartetes wie alle Kunstfreunde Beglückendes: Auf der Großen Berliner Kunstausstellung präsentierte 1895 der seit Jahren zurückgezogen in Rom lebende einstige Begas-Schüler Louis Tuaillon eine knapp lebensgroße Amazone zu Pferd, die bereits im nächsten Jahr von der Nationalgalerie erworben und bald in ihrem Säulenhof aufgestellt wurde (Abb. 9). Die »Amazone« gilt manchen als »nie wieder erreichter Höhepunkt im Œuvre Tuaillons«; doch so rasch sollte sein künstlerischer Elan nicht versiegen. Schon 1899 war auf der Berliner Kunstausstellung sein nächstes großes Werk, »Der Sieger«, ein männliches Pendant zur »Amazone«, zu bewundern, das der ihm befreundete Unternehmer und Mäzen Eduard Arnhold, der Stifter der Villa Massimo, für den Garten seiner Villa am Großen Wannsee erwarb und das seit 1961 auf dem Charlottenburger Steubenplatz steht. Nicht viel hat gefehlt, so stünde zwar nicht im alten Berlin selbst, aber doch in seiner damaligen westlichen Nachbargemeinde Tuaillons erstes Reiterstandbild; mit diesem und der »Amazone« gelangen ihm, in den Worten von Peter Bloch, »Schöpfungen von internationalem Niveau«26, was nach Schlüters und Rauchs Werken noch keinem Ausstellungskatalog. Berlin: Gebr. Mann, S. 142 f. und S. 354 f.; Schütz, Brigitte (1990): Berlin und die USA. In: Bloch, Peter / Eichholz, Sibylle / von Simson, Jutta (Hg.): Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786 – 1914. Bd. 2: Beiträge mit Kurzbiographien Berliner Bildhauer. Berlin: Gebr. Mann, S. 109 – 140, hier S. 118 f.; von Simson, Jutta (1982): Der Bildhauer Albert Wolff (Anm. 22), S. 62 – 67 und S. 206 f. 25 Maaz, Bernhard (1994): Alexander Calandrellis Reiterstandbild, S. 215 f.; Börsch-Supan, Eva und Helmut (Hg.) (1977): Berlin. Kunstdenkmäler und Mussen. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. (Reclams Kunstführer Deutschland 7), S. 91, S. 155 und S. 393. 26 Ulferts, Gert-Dieter (1993): Louis Tuaillon (1862 – 1919). Berliner Bildhauerei zwischen

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anderen Berliner Reiterstandbild nachgesagt wurde. Damit hat es folgende Bewandtnis: Um die in das Jahr 1905 fallende zweihundertste Wiederkehr ihrer Erhebung zur Stadt zu feiern, schrieb Charlottenburg einen Wettbewerb für ein Reiterdenkmal für Kaiser Friedrich III. aus, den Joseph Uphues mit einem ziemlich mittelmäßigen Modell für sich entschied. Seinen gleichfalls eingereichten, aber übergangenen Entwurf durfte Tuaillon 1902 in der Ausstellung der Berliner Secession der Öffentlichkeit vorstellen, wodurch der Bremer Unternehmer, Mäzen und Kunstfreund Franz Schütte davon Kenntnis erhielt. Schütte veranlasste den Künstler, sein Werk zu vollenden, um es wie bereits Tuaillons »Rosselenker« seiner Heimatstadt zu schenken, wo es im Gegensatz zu so vielen Berliner Denkmälern Krieg und Nachkriegszeit heil überstanden hat. Während der Arbeit an dem für Bremen bestimmten Denkmal seines Vaters besuchte Wilhelm II. einmal Tuaillons Atelier ; wider Erwarten war er von dessen Arbeit so beeindruckt, dass er ihn mit einer vergrößerten Replik der »Amazone« beauftragte, die 1906 im östlichen Teil des Tiergartens, auf dem Floraplatz, Aufstellung fand. Mit seinem Bremer Reiterdenkmal gelang es Tuaillon, um nochmals Bloch zu zitieren, »den althergebrachten Topos des Reiterdenkmals mit den formalen Ansprüchen eines neuen Klassizismus zu verbinden, aus dem Denkmal der Person ein Denkmal der Kunst zu machen.«27 Wie hinsichtlich ihrer Entstehung unterscheiden sich die Reiterstandbilder beider Städte auch in ihrer Lebenserwartung. Den monarchischen Reiterstatuen des 17. und 18. Jahrhunderts in Paris hatte bereits die Revolution den Prozess gemacht und – ungeachtet ihres exzeptionellen künstlerischen Werts – keine einzige verschont. Ihre letzte Stunde hatte nach Ausrufung der Republik am 10. August 1792 geschlagen, in deren Folge der antimonarchische Bildersturm sich bis zum Paroxysmus gesteigert hatte. Danach erwies sich das Land gegen solche Anfälle wie immunisiert, und was an monarchischen Denkmälern wieder- oder neu erstanden war, hatte unter der ephemeren Zweiten und erst recht unter der dauerhaften Dritten Republik (von marginalen Ausnahmen abgesehen) nichts zu befürchten. Den Pariser Denkmälern drohte erst unter der deutschen Besatzung erneut Gefahr. Am 11. Oktober 1941 verkündete ein Dekret: »il sera proc¦d¦ — l’enlÀvement des statues et monuments en alliage cuivreux sis dans les lieux publics […], afin de remettre les m¦taux constituants dans le circuit de la production industrielle.« Seine wörtliche Befolgung hätte das Todesurteil aller Denkmäler aus Bronze bedeutet, doch zu mancher Rettung gereichte eine wenige Tage später erlassene Präzisierung: »On ne touchera pas aux statues de gloires nationales incontestables dont la disparition choquerait Tradition und Moderne. Berlin: Gebr. Mann, S. 147 (Zitatnachweis zur Bewertung der »Amazone«); Bloch, Peter (1993): Vorwort. In: ebd., S. 7. 27 Ebd.

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l’opinion publique.«28 So hatten die Franzosen, die über die Auswahl der zu rettenden und zu opfernden Denkmäler selbst zu bestimmen hatten, Gelegenheit, die Pariser Denkmallandschaft einer gründlichen politischen Säuberung zu unterziehen und viele, die allzu sehr nach Revolution und Republik schmeckten, dem Schmelzofen zu überantworten – unter ihnen die Denkmäler für Louis Blanc, Condorcet, Camille Desmoulins, Diderot, Victor Hugo, Lamartine, LedruRollin, Rousseau, Voltaire und viele andere. Doch mit diesen Hekatomben war dem Hunger der Deutschen nach kriegswichtigen Metallen nicht Genüge getan, und im Juli 1943 drängte der Militärbefehlshaber in Frankreich unverzüglich auf eine vollständige Liste der Pariser Denkmäler, die noch nicht entfernt waren. In dieser Situation schienen nicht nur Dalous »Triomphe de la R¦publique« und Bartholdis »Lion de Belfort«, sondern auch die Reiterstatuen für Karl den Großen, König Albert von Belgien, Marschall Joffre, Washington, Fremiets »Bol†var« usw. nicht mehr zu retten. Letztere Statue wurde auch tatsächlich demontiert, doch der oberste Denkmalschützer von Paris konnte den Altmetallhändler, dem sie zugefallen war, dazu bewegen, sie bis zur Befreiung unter Bergen von Eisenschrott zu verbergen. Dank dieser Art Widerstand überlebten sämtliche Pariser Reitermonumente die Besatzungszeit. Um so verheerender wüteten hingegen Krieg und erste Nachkriegszeit unter den monarchischen Reiterdenkmälern Berlins. Lediglich die zwei ältesten versuchte man vor Kriegsschäden in Sicherheit zu bringen: Schlüters relativ handlichen »Großen Kurfürsten« von der Langen Brücke evakuierte man auf einem Prahm nach Ketzin an der Havel; doch auf dem Rückweg versank er im Tegeler See und fand nach seiner Bergung 1951 eine dauerhafte Bleibe im Ehrenhof des Charlottenburger Schlosses. Das im Vergleich zu jenem gigantische Denkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden verschwand im Krieg vollständig unter einer Ummantelung schützenden Mauerwerks, aus der es erst 1950 wieder hervorgeholt wurde. Denn lange Zeit war man sich im unklaren bzw. uneinig, was mit dieser Symbolfigur des alten Preußen und den anderen Hohenzollernmonumenten geschehen sollte. In der Sitzung des Magistrats vom 30. Oktober 1945 stellte der Stadtrat Josef Orlopp (SPD) im Einverständnis mit mehreren Kollegen den Antrag, »aus allen öffentlichen Gebäuden Porträts und Embleme, die an die Hohenzollern und alle anderen früher regierenden Häuser, der ›Militärkaste‹ oder des Nationalsozialismus erinnern, sofort an das Bergungsamt des Magistrats abzuliefern, auch wenn sie künstlerischen Wert besitzen.« Der für das Bau- und Wohnungswesen zuständige parteilose Stadtrat 28 Lanfranchi, Jacques (2004): Les statues des grands hommes (Anm. 1), S. 115 – 120, hier S. 115 f. die französischen Zitate; de Margerie, Laure (1999): Statues ¦questres (Anm. 13), S. 192; Poisson, Georges (1996): Le sort des statues de bronze parisiennes sous l’occupation allemande 1940 – 1944. Paris: F¦d¦ration des Soci¦t¦s historiques et arch¦ologiques de Paris et de l’Ile-de-France (Paris et Ile-de-France. M¦moires 47/2), S. 180 f.

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Hans Scharoun sollte eine Liste dieser Denkmäler erstellen, die er dann in drei Gruppen einteilte: 1. die sämtlich zu entfernenden Denkmäler des Nationalsozialismus; 2. »Denkmäler aus der wilhelminischen und vorwilhelminischen Zeit, die größtenteils zu entfernen sind, darunter die Denkmäler der Siegesallee, das Nationaldenkmal Kaiser Wilhelms I. am Schloß und das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms III. im Lustgarten«29 ; 3. künstlerisch wertvolle Denkmäler, die zu erhalten und museal zu bewahren sind, zu denen er auch die beiden eingangs dieses Abschnitts erwähnten rechnete. Zwar wollte der eine und andere auch Rauchs Linden-Denkmal beseitigt und einige von Scharouns dritter Gruppe aus dieser gestrichen sehen, aber ungefähr so, wie jener vorgeschlagen hatte, wurde verfahren. Es ist in vielen Fällen nicht mehr mit Sicherheit zu ermitteln, wann genau welches Denkmal verschwand, welchen Anteil an seiner Zerstörung der kriegswirtschaftliche Heißhunger auf Edelmetalle, der Bombenkrieg, die Kämpfe in der Stadt sowie planmäßige Beseitigung nach dem Mai 1945 hatten. Früh scheinen »Friedrich Wilhelm III.« im Lustgarten (den bereits die Nationalsozialisten, weil er ihren Aufmärschen im Wege stand, an die Seite gerückt hatten) und »Kaiser Friedrich« vor dem Bode-Museum verschwunden zu sein, jedoch genau so auch die drei 1920 eingemeindeten Reiterdenkmäler, die sich nach Kriegsende in den Westsektoren wiederfanden. Am besten unterrichtet sind wir von dem Schicksal des Begas’schen Nationaldenkmals, das, obgleich nahezu unbeschädigt, 1949/50, noch vor der Sprengung des Schlosses, abgetragen und der Altmetallverwertung zugeführt wurde. Nach dreißigjährigem Exil im Park von Sanssouci kehrte Rauchs »Friedrich der Große« 1980 unter die Linden zurück und ist, neben dem unkriegerischen »Friedrich Wilhelm IV.« vor der Alten Nationalgalerie, letzter Zeuge einer Denkmalkultur, die sich seit geraumer Zeit überlebt hatte.

29 Reichhardt, Hans Joachim (Hg.) (1961): Berlin: Kampf um Freiheit und Selbstverwaltung 1945 – 1946, 2. erg. und erw. Aufl. Berlin: Spitzing (Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte 1), S. 243 (Zitat Orlopp), S. 361, S. 366 (Zitat Scharoun) und S. 442; Engel, Helmut (1997): »Auferstanden aus Ruinen«. Aneignung einer Geschichtslandschaft in der DDR. In: Engel, Helmut / Ribbe, Wolfgang (Hg.): Via triumphalis. Geschichtslandschaft »Unter den Linden« zwischen Friedrich-Denkmal und Schloßbrücke. Berlin: Akademie Verlag, S. 91 – 130; van den Driesch, Michaela (2001): Das Reiterstandbild Friedrich II. und seine historischen Restaurierungen. In: Krosigk, Klaus von / Hesse, Frank Pieter / Sturm, Gesine (Hg.): Ein Denkmal für den König (Anm. 22), S. 43 – 63, hier S. 53 – 59; Klebs, Jürgen (2010): Das Nationaldenkmal für Kaiser Wilhelm I. In: Sünderhauf, Esther Sophia (Hg.): Begas (Anm. 22), S. 89 – 102, hier S. 97 – 101; ebd., Kat. Nr. 182 – 184 und 188 – 190 (S. 354 – 357 und S. 360 – 364).

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Abb. 1: Lessing und Kant am rückwärtigen Sockel des Denkmals für Friedrich den Großen Unter den Linden von Christian Daniel Rauch (1851)

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Abb. 2: Jeanne d’Arc von Emmanuel Fremiet, Place des Pyramides (1874)

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Abb. 3: Êtienne Marcel von Antoine Idrac und Laurent Marqueste, Jardin de l’Hútel de Ville (1888)

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Abb. 4: Mar¦chal Ferdinand Foch von Robert Wl¦rick und Raymond Martin, Place du Trocad¦ro (1936 – 1951)

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Abb. 5: Diego Vel‚zquez von Emmanuel Fr¦miet, Jardin du Louvre (1893), zerstört

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Abb. 6: Ludwig XIV. / Marcus Curtius von Gian Lorenzo Bernini und FranÅois Giradon, Louvre, Cour Napol¦on (1687/1988)

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Abb. 7: Friedrich Wilhelm IV. von Alexander Calandrelli, Alte Nationalgalerie (1886)

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Abb. 8: Kämpfende Amazone von August Kiß, Altes Museum, östliche Treppenwange (1843)

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Abb. 9: Amazone zu Pferd von Louis Tuaillon, Säulenhof der Alten Nationalgalerie (1895)

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Das Paar auf dem Eis. Zur epischen Integration eines Motivs in Goethes Novelle »Der Mann von fünfzig Jahren« und in Theodor Fontanes Roman »Unwiederbringlich«

Die Episode auf dem Eis in Fontanes Roman hat mit derjenigen in Goethes Novelle so viele gemeinsame Züge, dass ein Quellenbezug zu vermuten ist. Das hat man bisher nicht bemerkt. Aber noch eine weitere Gemeinsamkeit fällt auf: Die Szene des Eislaufs steht jeweils an herausgehobener Stelle und ist mit dem Werkganzen eng verflochten. In Goethes Novelle ist sie die Gipfelszene, auf die alles Vorangehende zuläuft. In Fontanes Roman bietet sie sich dem Leser als ein Rätsel dar, das ihn dazu auffordert, sich das zuvor und danach Erzählte zu vergegenwärtigen. Das ist ein Befund, dem man bisher zu wenig Beachtung geschenkt hat. Damit fällt dem Interpreten eine dankbare Aufgabe zu, die ihn zugleich in eine missliche Lage versetzt, muss er doch versuchen, weite Strecken der beiden Erzählungen überschaubar zu machen.

1. Des tragischen Dichters Aufgabe und Tun ist nichts anders, als ein psychisch-sittliches Phänomen, in einem faßlichen Experiment dargestellt, in der Vergangenheit nachzuweisen. Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist.

Von den vier Personen, die in Goethes Novelle in die Liebeshandlung verstrickt sind, kommt keine ganz unbeschadet davon, aber nur Hilarie gerät in einen nahezu tragischen Konflikt. Ihr gilt des Lesers besondere Aufmerksamkeit und Sympathie. Bereits der szenische Auftakt der Erzählung bringt sie ihm nahe. Während der Major auf das Schloss zureitet, steht Hilarie, seine Nichte, schon auf der Außentreppe bereit, um ihn zu empfangen.

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Kaum erkannte er sie; denn schon war sie wieder größer und schöner geworden. Sie flog ihm entgegen, er drückte sie an seine Brust mit dem Sinn eines Vaters, und sie eilten hinauf zu ihrer Mutter.1

In einem Gespräch unter vier Augen berichtet der Major seiner Schwester vom Ergebnis seiner Reise: Ihrer beider Bruder, der Obermarschall ist bereit, gegen Zahlung eines Jahrgehalts seine Güter ihnen und ihren Kindern abzutreten. So bleibe ihnen nur, in Ruhe zuzusehen, wie ihre Kinder emporwachsen, und deren Verbindung nach Möglichkeit zu beschleunigen. »Das wäre alles recht gut«, erwidert die Baronin, wenn sie ihm »nur nicht ein Geheimnis zu entdecken hätte«. »Hilariens Herz« sei »nicht mehr frei« (S. 168). Wer denn Hilariens Herz habe fesseln können, fragt der Major mit einem Anflug von Eifersucht auf den Beglückten, und hört zu seinem Erstaunen: »[D]ich liebt sie.« An den vollen Ernst dieser Liebe kann der Major nicht glauben. Ein »Selbstbetrug«, so meint er, müsse dahinter liegen, und er fasst sein Befremden in die Worte: »Etwas so Unnatürliches hätte ich ihrem natürlichen Wesen nicht zugetraut.« (S. 169) Was der Major denkt, muss auch den Leser nachdenklich machen. Sollte Hilarie nicht tatsächlich einer Art von Selbsttäuschung erlegen sein? Dass es so gewesen sein könnte, deutet die an späterer Stelle eingeflochtene Bemerkung des Erzählers an. Die Baronin hatte ihren Bruder von Jugend auf dergestalt geliebt, daß sie ihn allen Männern vorzog, und vielleicht war selbst die Neigung Hilariens aus dieser Vorliebe der Mutter, wo nicht entsprungen, doch gewiß genährt worden. (S. 180)

Doch wenn auch Hilariens Zuneigung zu ihrem Onkel eine Genese gehabt haben mag, an der äußere Einwirkungen beteiligt waren, ist an der Aufrichtigkeit ihrer Liebe nicht zu zweifeln. Das verbürgen die Worte des Erzählers: »[S]ie liebte ihn wirklich und von ganzer Seele« (S. 170). 1 von Goethe, Johann Wolfgang: Der Mann von fünfzig Jahren. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 8: Romane und Novellen III. Textkritisch durchges. und komm. v. Erich Trunz. 11., durchges. Aufl. München: C. H. Beck 1994, S. 167 – 224, hier S. 167. Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. Zusätzliche Auskünfte gibt die Edition: Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hg. v. Gerhard Neumann und Hans-Georg Drewitz. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche [= Frankfurter Ausgabe]. Abteilung 1: Sämtliche Werke 10 [Bibliothek deutscher Klassiker 15]). In dieser Frankfurter Ausgabe ist auch die 1821 erschienene Erste Fassung der »Wanderjahre« (mit dem Untertitel »Erster Theil«) abgedruckt. Sie enthält im elften Kapitel den Beginn der Novelle bis zum Ende des Besuchs von Vater und Sohn bei der schönen Witwe. In der Zweiten Fassung des Romans (erschienen 1829) ist der Novellenbeginn, unter Einfügung von zwei neuen Abschnitten, wieder aufgenommen. Unter den Forschungsbeiträgen sind hervorzuheben: Staiger, Emil (1959): Goethe. Bd. 3: 1814 – 1832. Zürich / Freiburg i. Br.: Atlantis, S. 145 – 153; von Wiese, Benno (1962): Der Mann von fünfzig Jahren. In: von Wiese, Benno (Hg.): Die deutsche Novelle. Von Goethe bis Kafka. Interpretationen 2. Düsseldorf: Bagel, S. 26 – 52.

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Wenn der Major nun seiner Nichte wieder begegnet, beginnen seine väterlichen Gefühle sich in die eines Liebenden zu verwandeln. Äußere Umstände tragen ein wenig dazu bei, denn die Szene spielt im Garten, der »in seiner vollen Frühlingspracht« steht; so »konnte auch er an die Wiederkehr seines eignen Frühlings glauben. Und wer hätte sich nicht in der Gegenwart des liebenswürdigsten Mädchens dazu verführen lassen!« (S. 170) Den weiteren Fortgang der inneren Verwandlung des Majors schildert der Erzähler nicht ganz ohne ironische Untertöne. Sie werden vernehmbar, als am folgenden Tag »ein alter theatralischer Freund« (S. 171) hereinschneit. Dessen jugendliches Aussehen gibt dem Major den nicht geradezu unnatürlichen, aber doch problematischen Wunsch ein, auch sein eigenes Äußeres mit kosmetischen Mitteln aufzufrischen. Ein Anfang wird sogleich gemacht, und noch am selben Abend verabschiedet sich der »bejahrte Jüngling« (S. 172), indem er dem Major zur Fortsetzung der Verjüngungskur seinen Kammerdiener überlässt. Nur einen Tag später stehen der Major und Hilarie vor der Ahnentafel im Gespräch, die ihrer beider Namen auf der jeweils gehörigen Stufe der Generationenfolge verzeichnet, und nach einem ersten, scheu andeutenden Satz gesteht Hilarie ihre Liebe mit so bezaubernder Natürlichkeit und Anmut, dass der Major überwältigt vor ihr auf die Knie sinkt. »Willst du mein sein?« – »Um Gottes willen stehen Sie auf! Ich bin dein auf ewig« (S. 180). Die nun dahinfließenden glücklichen Stunden beschattet bald der Gedanke an Flavio. »Ihm hatte man Hilarien bestimmt, das ihm sehr wohl bekannt war« (ebd.). Besorgt zu erfahren, wie sein Sohn die entstandene Lage aufnehmen wird, sucht der Major ihn in der Garnisonsstadt auf und hört von Flavio zu seiner Erleichterung: er sei in eine viel umworbene junge Witwe verliebt, und wenn er sich nicht sehr betrüge, sei sie ihm »von Herzen angehörig« (S. 182). Vater und Sohn machen bei der schönen Witwe einen Besuch, und wie dem Leser nicht entgehen kann, gilt alle Aufmerksamkeit der weltläufigen Frau sogleich dem Major. Sie arbeitet gerade an einer prächtigen Brieftasche, in der ein alter Hausfreund der Dame »ein penelopeisch zauderhaftes Werk zu sehen glaubte« (S. 185). Eine Anspielung auf Penelope an ihrem Webstuhl, der zu entnehmen ist, dass die schöne Witwe inmitten der vielen Bewerber um ihre Hand auf einen gestandenen Mann wartet, und nicht auf jemanden im Alter von dessen Sohn. In sein Zimmer zurückgekehrt, fühlt sich der Major »wirklich in einer Art von Taumel« (ebd.) und »noch von der Gegenwart des schönen Wesens umgeben« (S. 186). Am anderen Morgen trifft er bei seinem Abschiedsbesuch die schöne Witwe in Gesellschaft einer älteren Dame an. Im Verlauf der Unterhaltung kommt zur Sprache, dass Flavio den beiden Damen nicht nur einige seiner Gedichte vorgelesen hat, sondern auch Teile eines Jagdgedichts, das sein Vater

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verfasst hat, und am Ende überreicht die schöne Witwe dem Major die Brieftasche mit der Bitte, ihr darin das Jagdgedicht zu schicken.2 Sichtlich ist die Erzählung an dieser Stelle an einen kritischen Punkt gelangt. Die beiden ungleichen Paare, so sieht der Leser voraus, werden sich voneinander lösen, und das füreinander bestimmte junge Paar wird zueinander finden. Aber wie wird es dazu kommen? Flavio ist offenkundig Opfer eines Selbstbetrugs geworden. Nicht ihn will die schöne Witwe heiraten. Und es genügt, dass er dies begreift und verwindet, um ihn für eine Herzensbindung an Hilarie bereit zu machen. Ganz anders verhält es sich mit Hilarie. Sie liebt den Major und ist mit ihm verlobt. Da erscheint es als geradezu undenkbar, dass sie sich in Flavio verliebt, ohne ihre innere Integrität zu verlieren. Und wie soll das geschehen? Unter den Augen des Majors, der es nicht bemerkt? Oder es peinlich berührt wahrnimmt? Die bessere Lösung ist offensichtlich, den Major für längere Zeit vom Schloss fernzuhalten. Dieses Verfahren wählt der Autor, doch dehnt er die Zeit der Abwesenheit des Majors derart aus, dass die Lebensnähe des Erzählten merklichen Schaden nimmt. Denn nachdem der Major sich von der schönen Witwe verabschiedet hat, liest man nun: wie der Major auf den ihm zugesprochen Gütern tätig wird, in einer Pause des Geschäfts auf sein eigenes Gut eilt, um das der Witwe versprochene Jagdgedicht hervorzusuchen und ein Begleitgedicht zu verfassen, wie er dann unter Verzicht auf kosmetischen Schein durch Ausritte in der freien Natur für seine Gesundheit sorgt, wobei ihm in einsamen Momenten »die Gestalt Hilariens« hervortritt (S. 200), und wie er schließlich in der Residenzstadt um Einwilligungen und Bestätigungen in der Erbschaftsangelegenheit nachsucht. Wenn der Erzähler uns jetzt wieder ins Schloss zurückversetzt – nach der seltsam anmutenden Auskunft, »schon einige Monate waren die sämtlichen Familienglieder ohne besondere Nachricht voneinander geblieben« 2 Das Penelope-Motiv hat Goethe während der Niederschrift der Zweiten Fassung der »Wanderjahre« nachträglich in den ersten Besuch bei der schönen Witwe eingefügt und an späterer Stelle mit weiteren Motiven verknüpft, so dass ein Erzählsujet eigenen Rechts in die Kernhandlung eingeflochten wird. Beim Hervorkramen des versprochenen Jagdgedichts gerät der Major an »Auszüge beim Lesen alter und neuer Schriftsteller«, darunter Verse von Horaz (Oden IV, 10, V. 6 – 8) über das »Bedauern vergangener Zeiten«, die er nachgedichtet hatte. Für die Rücksendung der Brieftasche verfasst er als Begleitgedicht eine poetische Umschreibung von zwei Versen aus Ovids Arachne-Erzählung (Met. VI, V. 17 f.). Vgl. hierzu Maaß, Ernst (1916): »Der Mann von fünfzig Jahren«. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 37, S. 122 – 138; Sommerhage, Claus (1984): Familie Tantalos. Über Mythos und Psychologie in Goethes Novelle »Der Mann von fünfzig Jahren«. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 103 (Sonderheft: Goethe. Neue Studien zu seinem Werk), S. 78 – 105. Fügen wir hinzu, dass in den »Wanderjahren« (Anm. 1, S. 417) auch Susanne mit Penelope verglichen wird. Sie ist das von Lenardo lange gesuchte und endlich gefundene »nußbraune Mädchen«. Nicht mit dem »leidenschaftlichen Jüngling«, der um sie wirbt, wird sie sich verbinden, sondern mit Lenardo, der hier in die Rolle des Odysseus eintritt. (Drittes Buch, 13. Kapitel.)

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(ebd.) –, ist es Winter geworden, und wir sehen die beiden Frauen mit Hilariens Ausstattung beschäftigt. In einer Novembernacht ist im hellerleuchteten Schloss »eine Art von Christbescherung aufgestellt«. Alles, »was zur Ausstattung Hilariens bisher vorgearbeitet worden«, ist dort ausgebreitet (S. 201). Seit der Verlobung im Frühjahr also ist der Bräutigam nicht mehr zu seiner Braut zurückgekehrt, sodass es nach der Verlobungsszene zu keiner einzigen Szene liebevollen Umgangs des Brautpaars miteinander mehr gekommen war. Das ist umso auffälliger, als es vom Gut des Majors zum Schloss seiner Schwester nicht weit sein kann. In früherer Zeit hatte der »öftere Besuch des Bruders« bei der verwitweten Baronin und ihrer Tochter für »herzliche Unterhaltung« gesorgt (S. 201). All das ist geeignet, den Leser stutzig machen. Zumal dann, wenn er sich daran erinnert, dass sich der Major nur widerwillig zum Besuch Flavios entschlossen hatte, »nicht ohne Schmerz, Hilarien auch nur für kurze Zeit zu verlassen« (S. 181). Weiterlesend begreift er jedoch, dass die hinausgeschobene Rückkehr des Majors für das von jetzt an zu Erzählende die denkbar besten Voraussetzungen schafft. Die beiden Frauen im Schloss werden aufgeschreckt durch ein heftiges Pochen und Rufen am Tor, und Flavio stürzt herein, in durchnässten, zerfetzten Kleidern und mit allen Anzeichen tiefer seelischer Verstörung. »Mutter und Tochter standen erstarrt, sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt.« (S. 203)3 Ein Arzt wird gerufen und Flavio zu Bett gebracht. Flavios Erkrankung erfüllt die Frauen mit Sorge. Die Baronin will den Schlafenden sehen, widerstrebend erlaubt es der Arzt, und mit der Mutter drängt sich Hilarie in das Zimmer, das nur von einer Kerze erleuchtet wird. Hilarie, sehnsuchtsvoll, ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein höchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt bläßlich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das anmutigste hervor, eine ruhende Hand und ihre länglichen, zartkräftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie, leise atmend, glaubte selbst einen leisen Atem zu vernehmen, sie näherte die Kerze, wie Psyche in Gefahr, die heilsamste Ruhe zu stören. (S. 204)

Auch wenn die Herkunft der Szene aus der Märchenmythe von Amor und Psyche nicht ausdrücklich bezeichnet wäre, würde man die Quelle sofort erraten.4 Aber

3 Später erfährt man: Um eine Rivalin auszustechen, war die schöne Witwe mit ihren Gunstbezeugungen weiter gegangen als zuvor. Dadurch ermutigt, war Flavio zudringlich geworden, und die schöne Witwe hatte ihn schroff und für immer abgewiesen. (S. 209, S. 217) Der Schlussteil der Novelle schildert ein Gespräch mit dem Major, in dem die schöne Witwe um Verzeihung für das Unheil bittet, das sie angerichtet habe. Makarie, die von der Baronin vom Hergang der Dinge unterrichtet worden war, hatte ihre Läuterung bewirkt. (S. 222 – 224) 4 Apuleius hat das Märchen in seinen »Metamorphosen« erzählt, die Nachtszene steht dort im fünften Buch (V, 22 f.). Den Band: Apuleius von Madaura: Der goldene Esel. Aus dem Lat. v.

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die eigens hinzugefügten Worte »wie Psyche« betonen den Vergleich und geben zu verstehen, dass die nächtliche Szene, in der sich Hilarie mit einem Licht in der Hand über den Schlafenden beugt, eine vom Leben selbst herbeigeführte Wiederholung ist, die Wiederholung sozusagen einer Urszene. Dass die Szene im Schloss das Abbild ihres mythischen Urbildes ist, gibt ihr zugleich die vorausdeutende, ja festlegende Kraft eines guten Omens. Flavio und Hilarie gehören zusammen wie Amor und Psyche. Am anderen Morgen treten die beiden Frauen ans Bett des Kranken, und Flavio reicht Hilarie die Hand mit den Worten: »›Gegrüßt, liebe Schwester‹ – das fuhr ihr durchs Herz […] – ihr Allerinnerstes war aufgeregt« (S. 205). Flavios sonderbare Anrede bedeutet offenbar, dass er in Hilariens schwesterlicher Zuneigung die Hilfe eines mitfühlenden Herzens sucht. Und genau so versteht es Hilarie. Oder liegt in der überraschenden Anrede etwa noch mehr? Ist an die Schwester des Orest zu denken, mit dem Flavio verglichen worden war, an Iphigenie?5 Der Arzt verbietet den Frauen alles weitere Annähern, kann sie aber bald mit der Nachricht beruhigen, Flavio habe Schreibzeug verlangt. Nach einiger Zeit bringt er ihnen das von Flavio verfasste Gedicht: »Ein Wunder ist der arme Mensch geboren« (S. 206), das der Erzähler mit den auffällig hochgreifenden Worten kommentiert: Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt. (Ebd.)

Zwar versucht Hilarie am Flügel vergeblich, die Zeilen des Leidenden mit einer Melodie zu verschmelzen, doch wird sie dabei zu einem Gedicht angeregt, das auf Flavios Verse »mit lindernder Heiterkeit« antwortet und deren Reime wiederholt: »Bist noch so tief in Schmerz und Qual verloren« (ebd.). Waren wir zuvor Zeuge geworden, wie der Major Verse nach antiken Vorbildern niederschrieb, lernen wir nun von Flavio und Hilarie verfasste Gedichte kennen, die August Rode, 2. Aufl. Berlin: Mylius 1790, hat Goethe am 6. April [1826] aus der Weimarer Bibliothek ausgeliehen. 5 Claus Sommerhage hat auf die Möglichkeit dieser Deutung aufmerksam gemacht. Sie wird nach meinem Eindruck gestützt durch die Worte des Erzählers: »[S]ie sahen einander an, das herrlichste Paar, kontrastierend im schönsten Sinne. Des Jünglings schwarze, funkelnde Augen stimmten zu den düstern, verwirrten Locken; dagegen stand sie scheinbar himmlisch in Ruhe« (Der Mann von fünfzig Jahren, S. 205). Dem entspricht »Iphigeniens heilige Ruhe« in der Skizze einer geplanten »Iphigenia von Delphi«. Die Skizze entstand in Rom. Vgl. Hamburger Ausgabe (Anm. 1), Bd. 10, S. 108, S. 611 f. Wenn Flavio und Hilarie als Spiegelung des Paares Orest und Iphigenie aufzufassen sind, würde das bedeuten, dass Goethe einer Gedankenverbindung Raum gegeben hat, ohne sie im wirklichkeitsnah Erzählten zu verankern. Das ist durchaus denkbar. Die von Sommerhage, Claus (1984): Familie Tantalos (Anm. 2), S. 93 f., gezogenen Schlussfolgerungen sind allerdings fragwürdig.

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kleine selbständige Schöpfungen sind. Das ist ein Befund, der aufmerken lässt, sind doch alle drei Personen auf dem Gebiet der Poesie Dilettanten. Damit nimmt die Erzählung in Gestalt von konkreten Beispielen ein Thema von kunsttheoretischem Belang in sich auf, das Thema des Dilettantismus, mit dem sich Goethe und Schiller 1799 sehr eingehend befasst hatten.6 Beim Aufräumen findet die Baronin eines Tages »des Bruders Miniaturporträt und musste über die Ähnlichkeit mit dem Sohne lächelnd seufzen«. Hilarie kommt hinzu, »und auch sie ward von jener Ähnlichkeit wundersam betroffen« (S. 207). Bald danach erscheint Flavio, nunmehr genesen, am Frühstückstisch in des Vaters Kleidern, da sein zerrissener Anzug nicht mehr zu brauchen war. »Die Baronin lächelte und nahm sich zusammen; Hilarie war, sie wußte nicht wie, betroffen, genug, sie wendete das Gesicht weg« (ebd.).7 Flavio ist ihr als seines Vaters liebenswert verjüngtes Ebenbild entgegengetreten, und ihr Wegschauen ist verräterisch. Diesen Anblick kann sie nicht unbefangen hinnehmen, ja ihm darf sie sich nicht hingeben. Mit Flavios Vater ist sie verlobt. Wird sie dessen Frau, ist Flavio ihr Stiefsohn. Macht man sich das bewusst, ruft es ein Motiv in Racines »PhÀdre« in Erinnerung. Von ihrer Amme bedrängt zu sagen, warum sie sich den Tod wünscht, gesteht Phädra ihre unbezwingbare Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolyt. Vergebens hat sie die Göttin Venus um Schonung angefleht. Während ihr Mund Gebete sprach, herrschte Hippolyt in ihrem Herzen. Sie vermied ihn überall, jedoch: »O comble de misÀre! / Mes yeux le retrouvaient dans les traits de son pÀre.« (I, 3, V. 289 f.) In der Übersetzung von Schiller, an deren Zustandekommen Goethe regen Anteil nahm: »O unglückseliges Verhängnis! / In des Vaters Zügen fand ich ihn ja wieder.«8 – »Für Hilarien«, so heißt es am Schluss der Episode, »blieb die Ähnlichkeit des jugendlichen Vaterbildes mit der frischen Lebensgegenwart des Sohnes unheimlich, ja bedrängend« (S. 208). Bald darauf ist es »der Einfluß der Dichtkunst« (S. 208), der die innere Verwandlung der beiden jungen Menschen ein gutes Stück vorankommen lässt. 6 Die Schemata aus »Über den Dilettantismus« sind übersichtlich ediert und ausführlich kommentiert in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 21.2: Philosophische Schriften. Zweiter Teil. Unter Mitwirkung v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese. Weimar : Böhlaus Nachfolger 1963 (Anhang). Vgl. Kommentar zum Dilettantismus in der Dichtung ebd., S. 375. Die Äußerungen des Erzählers zu diesem Thema, vor allem aber die zitierten Gedichte, die doch aus Goethes Feder stammen, würden die Interpretation der Schemata sicherlich bereichern. Soviel ich sehe, wird dies jedoch nirgends berücksichtigt. Vgl. Niedermeier, Michael (1988): Dilettantismus. In: Dahnke, Hans Dietrich / Otto, Regine (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 4.1. Stuttgart / Weimar : Metzler, S. 212 – 214. 7 von Wiese, Benno (1962): Der Mann von fünfzig Jahren (Anm. 1), S. 35 – 37, hat dieses Motiv der Ähnlichkeit Flavios mit seinem Vater eingehend analysiert. 8 Schillers Werke. Nationalausgabe (Anm. 6). Bd. 15.2: Übersetzungen aus dem Französischen. Hg. v. Willi Hirdt. Weimar : Böhlaus Nachfolger 1996, S. 297. Am 14. Januar 1805 erhält Goethe die ersten drei Akte zur Durchsicht, die er noch am selben Tag mit Verbesserungsvorschlägen zurückschickt. Vgl. ebd. im Kommentar S. 576.

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Flavio hatte Liebesgedichte verfasst, die fast alle der schönen Witwe gewidmet gewesen waren, und liest sie Hilarie vor. Man sollte meinen, dass Hilarie diesen Liebesgedichten, die eine andere Frau preisen, nur mit Befremden habe zuhören können, doch der Erzähler schaltet sich als guter Menschenkenner mit der Bemerkung ein: »Ein Frauenzimmer, das eine andere leidenschaftlich geliebt sieht, […] hegt ein heimlich, kaum bewußtes Gefühl, daß es nicht unangenehm sein müßte, sich an die Stelle der Angebeteten leise gehoben zu sehen.« (Ebd.) Das enthüllt ein seelisches Geschehen unterhalb der Bewusstseinsschwelle: Unvermerkt lebt sich die Zuhörerin in die Angebetete ein. Einige Gedichte Flavios sind Kompositionen, in denen der liebende Dichter und die Umworbene abwechselnd zu Wort kommen. »Wechselgedichte, wie sie der Liebende gern verfaßt, weil er sich von seiner Schönen […] halb und halb kann erwidern lassen, was er wünscht.« (Ebd.) Kompositionen dieser Art leisten dem Sicheinfühlen offensichtlich noch größeren Vorschub, wenn sie im Wechsel gelesen werden, wie es dann auch geschieht. Dergleichen wurden mit Hilarien auch wechselsweise gelesen, und zwar, da es nur aus der einen Handschrift geschah, in welche man beiderseits, um zur rechten Zeit einzufallen, hineinschauen und zu diesem Zweck jedes das Bändchen anfassen mußte, so fand sich, daß man, nahe sitzend, nach und nach Person an Person, Hand an Hand immer näher rückte und die Gelenke sich ganz natürlich zuletzt im verborgenen berührten. (Ebd., S. 208 f.)

Jedem Dante-Leser ruft dies Geschehen unweigerlich die Szene in Erinnerung, in der Paolo und Francesca in einem Buch von einer Liebesbegegnung lesen. Und mit einem Leser, der die Szene in der Novelle als Wiederholung ihres literarischen Urbildes versteht, hat Goethe zweifellos auch gerechnet.9 Im fünften Gesang des »Inferno« ist der Jenseitswanderer mit Vergil, seinem Führer, in den Höllenkreis gelangt, in dem die Seelen für eine sündige Liebe ihre Strafe erleiden. Ein stürmischer Wind treibt sie wie Vögel ruhelos umher. Vergil nennt einige der körperlosen Schatten bei ihrem Namen, Semiramis und Kleopatra, Paris, Helena, Tristan und andere mehr, und Mitleid ergreift den Wanderer. Da schweben zwei Seelen zum Paar vereint wie zwei Tauben heran, Dante ruft sie herbei mit der Bitte, zu ihm zu sprechen, und als die eine der Seelen, während der Wind sich legt, zu erzählen beginnt, weiß der Wanderer schon bald, wer zu ihm spricht, und wer der andere ist, denn ihr Schicksal war vor wenigen Jahren in aller Munde. 9 In der Hamburger und in der Berliner Ausgabe wurde die Stelle nicht kommentiert. Erst die Frankfurter Ausgabe (Anm. 1), S. 1119, gibt den Hinweis: »Das literarische Urbild dieser Situation ist die in Dantes ›Göttlicher Komödie‹ (Inf. V, V. 127 – 142) geschilderte Episode zwischen Francesca und Paolo da Rimini.« Doch schon Staiger hatte en passant vermerkt: »Die Liebenden lesen, wie Paolo und Francesca.« Vgl. Staiger, Emil (1959): Goethe. Bd. 3 (Anm. 1), S. 145.

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Francesca und Paolo, der Bruder ihres Ehemanns, waren in Liebe zueinander entbrannt, und als der Ehemann es gewahr wurde, hatte er sie beide ermordet. Wie aber, fragt der Wanderer, war es zu dem Augenblick gekommen, in dem sie ihren Liebeswunsch erkannten? Und Francesca erzählt: Noi leggevamo un giorno, per diletto, Di Lancilotto, come amor lo strinse: Soli eravamo, e senza alcun sospetto. Per pi¾ fiate gli occhi ci sospinse Quella lettura, e scolorocci ‘l viso: Ma solo un punto fu quel, che ci vinse. Quando leggemmo il disiato riso Esser baciato da cotanto amante; Questi, che mai da me non fia diviso, La bocca mi baciý tutto tremante: Galeotto fu il libro, e chi lo scrisse: Quel giorno pi¾ non vi leggemmo avante.10 (Inf. V, V. 127 – 138) (Wir lasen einst zur Lust von den Gefahren Des Lanzelott und wie ihn Lieb’ umwand, Wobei wir einsam und ohne Argwohn waren. Oft war beim Lesen unser Blick entbrannt, Und unsre Wang’ entfärbt – doch eine Stelle, Nur eine war es, die uns überwand. Denn wie des heißersehnten Lächelns Quelle Im Buche küßt der Buhle, stolz und hehr, Da naht’ auch mir mein ewiger Geselle, Da küßte zitternd meinen Mund auch Er – Galeotto war das Buch, und der’s verfaßte – An jenem Tage lasen wir nicht mehr.)

10 Der italienische Wortlaut nach Goethes Handexemplar: Dante Alighieri: La Divina Commedia. Venezia: Presso Giambattista Pasquali 1739. Einen Nachweis der Stelle verdanke ich dem freundlichen Entgegenkommen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar. Die Übersetzung nach: Die göttliche Komödie des Dante Alighieri, übers. und erl. v. Karl Streckfuß. Erster Theil: Die Hölle. Halle: bei Hemmerde und Schwetschke 1824. Die Übersetzung von Karl Streckfuß (selten gewagt: mit Reimen!) hatte Goethe zu einem DanteAufsatz angeregt, der Anfang September 1826 entstand, also wenige Wochen, bevor er Ende Oktober die Fortsetzung der Novelle zu schreiben begann. Der Text des Dante-Aufsatzes ist abgedruckt und kommentiert in: Goethe, Johann Wolfgang: Ästhetische Schriften 1824 – 1832. Über Kunst und Altertum V – VI. Hg. v. Anne Bohnenkamp. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999 (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke [Anm. 1] 22 [Bibliothek deutscher Klassiker 160]), S. 768 – 771, S. 1492 – 1494.

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Arglos (»senza alcun sospetto«) haben sich Francesca und Paolo nah nebeneinander gesetzt, um den Lancelot-Roman zu lesen. Sie wissen nicht, dass sie einander lieben. Im ungezwungen vertraulichen Umgang miteinander, den das Verwandtschaftsverhältnis mit sich brachte, hatte sich wachsende Zuneigung unvermerkt in Liebe verwandelt. Erst die Szene im Prosa-Lancelot, in der die Königin Genievra, vom Ritter Galahaud zur Befolgung höfischer Sitte ermahnt, den in scheuer Liebe sie verehrenden jungen Lancelot küsst, führt den Augenblick der Bewusstwerdung herbei. Arglos wie Francesca und Paolo sitzen auch Hilarie und Flavio während des Lesens nah beieinander. Auch sie hat das unbefangene Miteinander an die Schwelle einer Liebe gebracht, die eine nicht erlaubte Liebe ist. In Dantes »Inferno« führt das gemeinsame Lesen den dramatischen Augenblick herbei, in dem das Erkennen zum Handeln wird, zum Begehen der Liebessünde. In Goethes Novelle bleibt es innerhalb eines bewusstseinsfernen Geschehens, das Phase für Phase seinem kritischen Punkt näher rückt. Ehe Hilarie und Flavio sich ihrer Liebe bewusst werden, treten Naturereignisse ein, die den Gang der Liebeshandlung unterbrechen. Und die ausführliche Schilderung dieser Ereignisse hat unverkennbar thematisches Eigengewicht. Dem Blick des Lesers bietet sich eine aus hohem Blickpunkt gesehene, weiträumig bewohnte Landschaft dar, ähnlich einer Weltlandschaft, wie sie im 16. Jahrhundert oft gemalt worden ist. Anhaltendes Regenwetter hat Flüsse anschwellen und Deiche brechen lassen, und die Folge ist: [D]ie Gegend unter dem Schlosse lag als ein blanker See, aus welchem die Dorfschaften, Meierhöfe, größere und kleinere Besitztümer, zwar auf Hügeln gelegen, doch immer nur inselartig hervorschauten. (S. 210)

Einige Zeit später tritt plötzlich »eine gewaltige Kälte« ein: [D]ie Wasser gefroren, ehe sie verlaufen konnten. Da veränderte sich das Schauspiel der Welt vor allen Augen auf einmal; was durch Fluten erst getrennt war, hing nunmehr durch befestigten Boden zusammen. (S. 211)

Jeweils fordert die von der Natur geschaffene Lage zu Tätigkeiten heraus, die eine lebenssteigernde Wirkung mit sich bringen. Während der Überschwemmung werden die Hilfsbedürftigen vom Schloss aus, denn auf solche Fälle »war man eingerichtet« (S. 210), mit Lebensmitteln versorgt. Fischerkähne fahren hin und her, und »das freundlich Gegebene ward freudig und dankbar aufgenommen« (ebd.). Flavio übernimmt eine dieser Fahrten, besucht auf Hilariens Wunsch auch eine Wöchnerin und kehrt als Überbringer allgemeinen Dankes der aufgesuchten Personen zurück. Dabei konnte es nun an mancherlei Erzählungen nicht fehlen. War auch niemand umgekommen, so hatte man von wunderbaren Rettungen, von seltsamen, scherzhaf-

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ten, ja lächerlichen Ereignissen viel zu sprechen; manche notgedrungene Zustände wurden interessant beschrieben. (Ebd.)

Nachdem die Wasserflächen alle vereist sind, fliegen auf »bespannten Schlitten die nötigsten Waren hin und wider«, ja sie bringen nun auch aus Orten fernab der Hauptstraße »die Erzeugnisse des Feldbaus und der Landwirtschaft in die nächsten Magazine der kleinen Städte und Flecken« und führen »von dorther aller Art Waren« zurück. Das junge Paar unterlässt nicht, »mancher Pflichten einer liebevollen Anhänglichkeit zu gedenken«. Sie besuchen die Wöchnerin sowie andere Personen, pflegen mit Geistlichen »erbauliche Unterhaltung«, und es zeigt sich, dass die überstandene Gefahr allenthalben zum Erzählen Anlass gibt; »jeder einzelne hatte seine Geschichte, er war sich und auch wohl andern eine bedeutende Person geworden«. Dabei ist ein jeder eilig »im Sprechen und Handeln […], denn es blieb immer die Gefahr, ein plötzliches Tauwetter möchte den ganzen schönen Kreis glücklichen Wechselwirkens zerstören« (S. 212). Um den inneren Aufbau der hier erzählten Welt genauer zu verstehen, legt sich der Begriff der Wechselwirkung besonders nahe. Was er besagt, macht der Austausch von Waren, von dem zu lesen war, besonders sinnfällig. Wenn beide Geschäftspartner zugleich Geber und Empfänger sind, bereichern sie sich gegenseitig. Entsprechendes gilt für das Schenken und Empfangen. Geschieht das Geben »freudig« und das Nehmen »dankbar«, sind nicht nur materielle Bedürfnisse befriedigt, vielmehr hat die Notlage in beiden Partnern auch moralische Tugenden wachgerufen, wobei die Freude des Spenders und die Dankbarkeit des Beschenkten sich wechselseitig beleben. Zu einer produktiven Wechselwirkung kommt es schließlich auch im Gespräch, im Fragen und Antworten, im Erzählen und Zuhören. Jeweils bedarf der Einzelne eines Partners, der ihm die Zunge löst; und während der Zuhörer erfährt, was er noch nicht wusste, gibt er dem Sprechenden Raum, sich aufzuschließen und aus seiner inselhaften Vereinzelung herauszutreten. Der Leser wird zum Beobachter eines Vorgangs, der einsichtig macht, wie aus einem naturwüchsigen Erzählen das Erzählen als Kunstform erwachsen ist.11 Ausgelöst werden diese Wechselwirkungen durch die beiden eingetretenen Naturereignisse. Sie folgen aufeinander nicht in Gestalt von vernichtend über die Menschenwelt hereinbrechende Katastrophen, gegen die es keine Gegenwehr gibt, sondern in der milderen Form, in der sich eine Landschaft bei Einbruch des Winters immer wieder einmal zu verwandeln pflegt. Nach einem die Natur 11 Dass diese Interpretation nicht fehlgeht, erweist sich an der Gestalt des Barbiers, der in den »Wanderjahren« als Erzähler des Märchens »Die neue Melusine« eingeführt wird. Da jedes Mitglied der Turmgesellschaft sich »bedingen« muss, hatte er auf die seinem Beruf eigene »Geschwätzigkeit« Verzicht getan, und daraus hatte sich ihm »ein anderes Redetalent entwickelt […], die Gabe des Erzählens nämlich« (S. 353).

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durchwaltenden Gesetz wird Wasser zu Eis und Eis wieder zu Wasser, und die Erzählung bringt eine Menschenwelt vor Augen, die in dieses Naturgeschehen eingebettet ist, ohne ihm ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Die durch Überschwemmung und Vereisung hergestellten Lebenslagen können so genutzt werden, dass die widerständige Natur zur Grundlage sich steigernden humanen Daseins wird. Das macht die hier geschilderte Weltlandschaft zu einer Ideallandschaft archetypischen Charakters. Auf einer höheren Stufe der Zivilisation wiederholen sich die typischen Verläufe jenes Urgeschehens, das im Gegeneinander und Miteinander von Natur und Mensch Zivilisation allererst hat entstehen lassen. Flavio und Hilarie waren nach ihren Kräften hilfreich tätig geworden, und das war auf ihr Verhältnis zueinander nicht ohne Wirkung geblieben. [D]ie Gewohnheit, sich zu sehen und unter allen Umständen zusammen zu sein, hatte sich verstärkt, und die gefährliche Stellung, wo Verwandtschaft und Neigung zum wechselseitigen Annähern und Festhalten sich berechtigt glauben, ward immer bedenklicher. (S. 211)

Nachdem die Wasserflächen zu Eisflächen geworden sind, kommt nun auch »als erwünschte Vermittlerin die schöne Kunst« des Eislaufs zu ihrem Recht, die erfunden worden war, um »neues Leben in das Erstarrte zu bringen«.12 Der Eislauf war »auf benachbarten Seen und verbindenden Kanälen« »fast jedes Jahr« möglich gewesen, »diesmal aber in der fernhin erweiterten Fläche« (ebd.). Auf ihr tummeln sich Flavio und Hilarie als gut Geübte. [M]an bewegte sich lustig und lustiger, bald zusammen, bald einzeln, bald getrennt, bald vereint. Scheiden und Meiden, was sonst schwer aufs Herz fällt, ward hier zum kleinen, scherzhaften Frevel, man floh sich, um sich einander augenblicks wieder zu finden. (S. 212)

Wie von selbst ordnen sich die lustigen Bewegungen des Paares auf dem Eis zu Figuren, die einem Tanz ähnlich sind und das erotische Spiel des Anlockens und Abweisens, in die Sprache der Körper übersetzt, als Grundfigur erkennen lassen. Anders als während des gemeinsamen Lesens von Gedichten, bei dem es nur zu einer leichten Berührung kam, übernimmt auf dem Eis das Körperliche die Führung. Und dazu trägt erheblich bei, dass dem Eislauf eine elementare, aufs Seelische übergreifende Wirkung innewohnt. 12 Zur Einfügung der Eislauf-Episode angeregt wurde Goethe vielleicht durch das Bändchen: Zindel, Christian Siegmund (Hg.) (1825): Der Eislauf oder das Schlittschuhfahren, ein Taschenbuch für Jung und Alt. Mit Gedichten von Klopstock, Göthe, Herder, Cramer, Krummacher etc. und Kupfern von Johann Adam Klein. Nürnberg: Friedrich Campe. Eine kurze Anzeige des Bändchens erschien 1825 in: Über Kunst und Altertum (Anm. 10), V/2, S. 194, S. 1067 f.

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[D]enn das hat die Eislust vor allen körperlichen Bewegungen voraus, daß die Anstrengung nicht erhitzt und die Dauer nicht ermüdet. Sämtliche Glieder scheinen gelenker zu werden und jedes Verwenden der Kraft neue Kräfte zu erzeugen, so daß zuletzt eine selig bewegte Ruhe über uns kommt, in der wir uns zu wiegen immerfort gelockt sind. (S. 213)

Weltvergessen und zeitenthoben, verlockt dieser Zustand dazu, sich immerfort »zu wiegen«: ein vielsagendes Wort für die Geborgenheit in einem wunschlosen Glück. Aus einsichtigem Grund hat der Erzähler dies vergegenwärtigt, ehe er mit der Schilderung des entscheidenden Abends beginnt. Heute nun konnte sich unser Paar von dem glatten Boden nicht loslösen, jeder Lauf gegen das erleuchtete Schloß, wo sich schon viele Gesellschaft versammelte, ward plötzlich umgewendet und eine Rückkehr ins Weite beliebt; man mochte sich nicht voneinander entfernen, aus Furcht, sich zu verlieren, man faßte sich bei der Hand, um der Gegenwart ganz gewiß zu sein. Am allersüßesten aber schien die Bewegung, wenn über den Schultern die Arme verschränkt ruhten und die zierlichen Finger unbewußt in beiderseitigen Locken spielten. Der volle Mond stieg zu dem glühenden Sternenhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung. Sie sahen sich wieder deutlich und suchten wechselseitig in den beschatteten Augen. Aus ihren Abgründen schien ein Licht hervorzublicken und anzudeuten, was der Mund weislich verschwieg, sie fühlten sich beide in einem festlich behäglichen Zustande. Alle hochstämmigen Weiden und Erlen an den Gräben, alles niedrige Gebüsch auf Höhen und Hügeln war deutlich geworden; die Sterne flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und fuhren dem lang daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt einen Mannes hin und her schweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst dunkel, vom Lichtglanz umgeben, auf sie zuschritt; unwillkürlich wendeten sie sich ab, jemanden zu begegnen wäre widerwärtig gewesen. Sie vermieden die immerfort sich herbewegende Gestalt, die Gestalt schien sie nicht bemerkt zu haben und verfolgte ihren geraden Weg nach dem Schlosse. Doch verließ sie auf einmal diese Richtung und umkreiste mehrmals das fast beängstigte Paar. Mit einiger Besonnenheit suchten sie für sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondlicht fuhr jener auf sie zu, er stand nah vor ihnen, es war unmöglich, den Vater zu verkennen. Hilarie, den Schritt anhaltend, verlor in Überraschung das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, Flavio lag zu gleicher Zeit auf einem Knie und faßte ihr Haupt in seinen Schoß auf, sie verbarg ihr Angesicht, sie wußte nicht, wie ihr geworden war. – »Ich hole einen Schlitten, dort unten fährt noch einer vorüber, ich hoffe, sie hat sich nicht beschädigt; hier, bei diesen hohen drei Erlen find’ ich euch wieder!« so sprach der Vater und war schon weit hinweg. Hilarie raffte sich an dem Jüngling empor. – »Laß uns fliehen«, rief sie, »das ertrag’ ich nicht.« (S. 213 f.)

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Wie von Sinnen stürzt Hilarie davon. Sie flieht vor dem unerträglichen Gedanken an ihren Bräutigam, und mehr noch flieht sie offenbar vor sich selbst, vor dem Unfassbaren, das sie getan hat. – Aber hat sie es denn wirklich ›getan‹? Ist es ihr nicht vielmehr angetan worden von einer Macht, über die es keine Verfügung des Willens und des Verstandes gibt? Die vom Gang des Lebens herbeigeführten Situationen hatten Regungen unerkannter Liebe hervorgelockt, und diese Liebe, nunmehr ganz nah an der Bewusstseinsschwelle, hat während des nächtlichen Eislaufs ihre günstigste Stunde. Das Vermeiden der Gesellschaft, die als Instanz des Beobachtens und Urteilens auf das Paar wartet, die Rückkehr ins Weite, das wortlose Einverständnis, das die Liebenden den Blicken ihrer Augen ablesen (Motive, die bei Fontane wiederkehren): All das hat in der sie umgebenden Natur einen heimlichen Komplizen. In der nachtdunklen Landschaft vereint sie die Furcht, sich zu verlieren, zu einem Paarlauf, der erlaubt, »in beiderseitigen Locken zu spielen«. Das Magische der Umgebung vollendet der Mond. Und dem »daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn entgegen« eilen sie weiter, als locke es sie in eine letzte Ferne, in eine Geborgenheit jenseits der Welt. – In einem »faßbaren Experiment«, mit Goethes Worten gesagt, hat die Erzählung ein »psychisch-sittliches Phänomen«13 vor Augen gebracht: das abgründig paradoxe Phänomen, dass man unschuldigschuldig werden kann. Erst spät in der Nacht kehrt das junge Paar zum Schloss zurück, und Hilarie verbirgt sich in ihrem Zimmer. Was nun noch zu erzählen bleibt, kann den Gang der Handlung aus einsichtigen Gründen nicht bis zum glücklichen Ende führen. Dafür brauchte es mehr erzählte Zeit, als dieser Novelle zuträglich wäre. So gibt der Erzähler in der nunmehr vorherrschenden Form des zeitraffenden Berichtes zu wissen, dass der Major seine Enttäuschung, auf die er nicht ganz unvorbereitet gewesen war, verwindet und mit seiner Schwester übereinkommt, dass man »durch einen Umweg ans Ziel« gelangt sei (S. 218). Aber als die Baronin ihrer Tochter sagt, dass ihrer Verbindung mit Flavio nichts im Wege stehe, widerspricht Hilarie so leidenschaftlich, dass »zuletzt die Mutter selbst vor der Hoheit und Würde des jungen Mädchens erstaunt zurücktrat, als sie mit Energie und Wahrheit das Unschickliche, ja Verbrecherische einer solchen Verbindung hervorhob« (S. 220). Von dieser entschiedenen Weigerung überrascht, folgert der Major, man müsse »dem guten Kinde Zeit lassen« (S. 221). In der Tat erfährt der Leser erst im 14. Kapitel des dritten Buchs der »Wanderjahre«, dass Flavio der Gemahl Hilariens geworden ist und die schöne Witwe die Gemahlin des Majors (S. 437 f.). – Die Zeit hat ihre beschwichtigende und dem Natürlichen ihr Recht schaffende Wirkung getan.

13 Vgl. die Motti aus »Maximen und Reflexionen« am Anfang des Beitrags.

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Die Szene mit dem Paar auf dem Eis, um auf sie wieder zurückzukommen, nimmt in der Komposition des Ganzen eine so wohldurchdachte und dramatisch wirksame Stelle ein, dass man meinen möchte, sie müsse in Goethes Konzept von vornherein festgestanden haben. Sie kam jedoch erst im Verlauf des Entstehungsprozesses hinzu. Das lehren die in den »Paralipomena« (XXXI – XXXIX) überlieferten Schemata, die sowohl über neu hinzugetretene Episoden unterrichten als auch über Änderungen der Reihenfolge. Ursprünglich war geplant, dass der Major schon bald nach Flavios Ankunft und Erkrankung ins Schloss zurückkehren sollte. Das belegt das erste Schema vom November 1820, das Goethe am 22. Oktober 1826 wieder zur Hand nahm und mit Zusätzen versah (beide Versionen im Paralipomenon XXXI). Zur Notiz »Ankunft des Vaters« lautet der Zusatz: »Vorbereitet Auf des Sohns Kr. und nicht dessen neue Liebe Gewahr werden.« Das zweite Schema (Paralipomenon XXXII, vom 23. bis 29. Oktober) präzisiert: »Ankunft des Vaters, Vorbereitet ist er auf die Krankheit des Sohnes Nicht auf dessen Genesung Noch weniger auf das neue sich anspinnende Verhältnis. Gewahr werden desselben. Peinliches Detail Abendunterhaltung Lectüre Die beiden lesen aus einem Buche. Händeberührung.« Dann (unter Ziffer 8) erstmals die Notiz »Eisfahrt«. Die endgültige Abfolge der Episoden, in der nun auch die Überschwemmung ihren Platz hat und zugleich die Rückkehr des Majors in die Eislaufszene verlegt ist, bezeichnen schließlich in den sehr ausführlichen Schemata (ab Paralipomenon XXXV, nach dem 22. März 1827) die Stichworte: »Schauderhafter Eintritt des Sohnes«, »Erster Besuch bey dem Schlafenden Psyche«, »In des Vaters Kleidern«, »Überschwemmung«, »Umkehrung der Witterung«, »Eisfahrt die Gegend belebend«, »Hilarie und der Sohn nehmen Theil«, »Wechselseitiges körperliches Gefallen«, »Erscheinung des Vaters«. Am Ende des letzten Schemas (Paralipomenon XXXIX, vom 18. April 1827) hat Goethe zu Hilarie notiert: »Unerwartete Weigerung Leidenschaftlich zart und schön. Das Unschickliche ja Verbrecherische fühlend. Nahezu tragisch. Große Verwirrung. Lösung nur der Zeit zu überlassen.«14 Richtet man sein Augenmerk nur auf die Liebeshandlung, können manche Handlungsteile der Novelle als entbehrliche oder gar störende Zutaten erscheinen. In der Tat gibt es Interpretationen, die offenbar unter diesem Eindruck entstanden sind. Auch Emil Staiger lässt, bevor er die Überschwemmung und das Gefrieren der Wasserflächen erwähnt, den Satz vorangehen: »Goethe scheut vor neuen umständlichen Vorbereitungen nicht zurück.«15 Gerade diesem Teilstück der Novelle ist jedoch abzulesen, wie sehr es Goethe daran lag, das 14 Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar : Hermann Böhlaus Nachfolger 1887 – 1919 (Fotomechanischer Nachdruck: München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987), Bd. II/25, S. 229 – 244. 15 Staiger, Emil (1959): Goethe. Bd. 3 (Anm. 1), S. 150.

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psychisch-sittliche Geschehen in einen weiter gefassten Weltausschnitt von eigenem Gewicht einzulagern – und dabei hier wie dort »die Genesen der Dinge aufzuspüren«.16

2. Alles war Abkommen auf Zeit, alles jeweiliger Majoritätsbeschluss; Moral, Dogma, Geschmack, alles schwankte, und nur für Christine waren alle Fragen gelöst.

Die Wintermonate wollte die Prinzessin auf Schloss Frederiksborg verbringen, und Anfang November – man schreibt das Jahr 1859 – hat sie mit ihrem kleinen Gefolge das in schöner Landschaft liegende Schloss bezogen. Mitte Dezember setzt bittere Kälte ein. Der Schlosssee bedeckt sich mit Eis, dann auch der breite Parkgraben, der mit dem Arresee Verbindung hält, und der nächste Tag wird »für eine Schlitten-, beziehungsweise Schlittschuhpartie nach dem Arresee hin festgesetzt.«17 Das Ziel des Ausflugs ist ein Gasthaus an der Einmündung des Parkgrabens in den Arresee. Der weniger wetterfeste Teil der Gesellschaft steigt in eine Kutsche, die anderen begeben sich aufs Eis. Holk steuert den Schlitten der Prinzessin. Die beiden Adjutanten und Ebba von Rosenberg folgen – und die Grundfigur ihres Eislaufs ist von derselben Art wie die in der entsprechenden Szene in Goethes Novelle. Ebba, das Kleid geschürzt und in hohen Schlittschuhstiefeln, trug eine schottische Mütze, deren Bänder im Winde flatterten, und jetzt rechts dem einen und dann wieder links dem andern ihrer Partner die Hand reichend, glich ihr Eislauf einer Tanztour, darin sie sich, trotz weitausholender Seitenbewegungen, in wachsender Raschheit vorwärts bewegte. (S. 747 f.)

Schon nach einer halben Stunde kann man das hochgelegene Gasthaus sehen, dahinter die weite Fläche des Arresees, »und dann bläulich zitternd, wo der See, noch eisfrei, dem Meere sich zudehnte« (S. 748). Am Ufer angelangt, wird die

16 Aus Rom schreibt Goethe am 29. Dezember 1786 an Herder: »[D]ie Genesen der Dinge aufzuspüren hilft mir auch hier außerordentlich.« Vgl. Goethes Werke (Anm. 14), Bd. IV/8, S. 108. 17 Fontane. Theodor: L’Adultera. C¦cile. Irrungen, Wirrungen. Stine. Unwiederbringlich. Hg. v. Helmuth Nürnberger. 3. durchges. und im Anhang erw. Aufl. München: Hanser 1990 (Theodor Fontane: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hg. v. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. 1. Abteilung 2 [Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002]), S. 746. Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. Der Roman erschien als Vorabdruck im Frühjahr, in Buchform im November 1891, datiert 1892.

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Prinzessin mit ihrer Begleitung von Hofrat Pentz in Empfang genommen – und dann liest man: [N]ur Holk und Ebba standen noch an dem Wassersteg und sahen erst den Voraufgehenden nach und dann einander an. In Holks Blick lag etwas wie von Eifersucht, und als Ebbas Auge mit einem halb spöttischen: »Ein jeder ist seines Glückes Schmied« darauf zu antworten schien, ergriff er ungestüm ihre Hand und wies nach Westen zu, weit hinaus, wo die Sonne sich neigte. Sie nickte zustimmend und beinah übermütig, und nun flogen sie, wie wenn die Verwunderung der Zurückbleibenden ihnen nur noch ein Sporn mehr sei, der Stelle zu, wo sich der eisblinkende, mit seinen Ufern immer mehr zurücktretende Wasserarm in der weiten Fläche des Arresees verlor. Immer näher rückten sie der Gefahr, und jetzt schien es in der Tat, als ob beide, quer über den nur noch wenig hundert Schritte breiten Eisgürtel hinweg, in den offnen See hinauswollten; ihre Blicke suchten einander und schienen zu fragen: »Soll es so sein?« Und die Antwort war zum mindesten keine Verneinung. Aber im selben Augenblicke, wo sie die durch eine Reihe kleiner Kiefern als letzte Sicherheitsgrenze bezeichnete Linie passieren wollten, bog Holk mit rascher Wendung nach rechts und riß auch Ebba mit sich herum. »Hier ist die Grenze, Ebba. Wollen wir darüber hinaus?« Ebba stieß den Schlittschuh ins Eis und sagte: »Wer an zurück denkt, der will zurück. Und ich bin’s zufrieden. Erichsen und die Schimmelmann werden uns ohnehin erwarten –, die Prinzessin vielleicht nicht.« (S. 748 f.).

Dieser Paarlauf über das Eis, in gerader Richtung der untergehenden Sonne und der offenen See entgegen, kommt derart überraschend, dass man seinem Leserverstand kaum zu trauen wagt. Es ist Holk, der Ebba kurz vor dem Passieren der letzten Sicherheitsgrenze mit sich herumreißt; er löst den Bann wortloser Übereinkunft, unter dem sie auf den Untergang zugeflogen waren – Holk, nicht Ebba. Widerspricht das nicht all dem, was man zuvor über Ebbas spöttischen Esprit und ihre abschätzigen Urteile über Holk erfahren hatte? Zurückblätternd stößt man auf das lange Gespräch über Holk, das die Prinzessin mit Ebba geführt hat. Seit nunmehr vierzehn Tagen versieht Holk seinen Dienst als Kammerherr, und der Prinzessin ist nicht entgangen, dass Ebba begonnen hat, Holk in ihren Bann zu ziehen und dabei doch nur mit ihm spielt. Von der Prinzessin befragt, wie sie über Holk denke, ist Ebbas Antwort: Holks Charakter sei »das recht eigentlich Schwache an ihm. Und was das Schlimmste ist, er weiß es nicht einmal. Weil er wie ein Mann aussieht, so hält er sich auch dafür. Aber er ist bloß ein schöner Mann, was meist soviel bedeutet wie gar keiner.« Er sei »unklar und halb« (S. 693). Und eine seiner vielen Halbheiten sei: »Er ist moralisch, ja beinah tugendhaft und schielt doch begehrlich nach der Lebemannschaft hinüber« (S. 694). Das sei nur zu wahr, meint die Prinzessin, aber gerade weil Holk diese Schwäche habe, müsse Ebba von Holk ablassen. »Du darfst ihm nicht, wie du jetzt tust, unausgesetzt etwas irrlichterlich vorflackern.

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[…] [D]u mußt mir das Opfer bringen«. Zu ihrem Trost solle Ebba im Auge behalten, dass Holk nicht lange bleiben werde. »Um Neujahr geht er zurück, und haben wir erst wieder, wohl oder übel, unsere alte Trias um uns her, so tu, was du willst, heirate Pentz oder mache mit Erichsen oder gar mit Bille, dessen Masern doch mal ein Ende nehmen müssen, eine Eskapade, mir soll es recht sein. Vielleicht verdrängst du auch noch die Gräfin, ich meine nicht die Holk, sondern die Danner, und das wäre vielleicht das Beste.« (S. 694)

Was diese Vorschläge besagen, wird erst dann erkennbar, wenn man sich die beiden Porträts in Erinnerung ruft, die der Erzähler (im 10. Kapitel) von Pentz und Erichsen gegeben hatte. Von Baron Pentz heißt es: »Er war ein Sechziger, unverheiratet und natürlich Gourmand« (S. 630 f.). Die Prinzessin hielt auf ihn, »weil er sie nie gelangweilt« hatte. Was seine äußere Erscheinung anging, war er allerdings »eine komische Figur«. Er war ein Sitzriese, und das zeigte sich, wenn er aufstand; seine »Sockelpartie nämlich ließ viel zu wünschen übrig«. Seine große Beweglichkeit hätte ihm ein langes Leben versprochen, »wenn nicht sein Embonpoint, sein kurzer Hals und sein geröteter Teint gewesen wären, drei Dinge, die den Apoplektikus verrieten« (S. 631). Baron Erichsen, dessen Porträt sich anschließt, »stammte aus einer Schwindsuchtfamilie« und war zu strenger Diät verpflichtet. So fiel ihm Pentz zufolge bei Festmahlen die Aufgabe zu, »durch seine lange, einem Ausrufungszeichen gleichende Gestalt vor allem, was an Bacchuskultus erinnern konnte, zu warnen« (S. 632). – Ein geistreicher Apoplektiker in den Sechzigern mit komischer Figur als Ebbas vorstellbarer Ehemann? Ein hagerer Warner vor Ausschweifungen als vorstellbarer Partner einer Eskapade? Man würde die in diese Richtung gehenden Gedanken der Prinzessin als absurd beiseite tun, wären da nicht der Theaterabend und der anschließende Dialog Holks mit Pentz im siebzehnten Kapitel. An diesem Abend wurde der zweite Teil von Shakespeares Heinrich IV. gegeben, dasjenige Stück also, dem die Szenen mit Falstaff, der Wirtin Hurtig und der Dirne Dortchen Lakenreißer seine besondere Würze geben. In der Pause nach dem dritten Akt entwickelt sich ein Gespräch über die Schauspieler und die Figuren.18 Die Prinzessin lobt »die vollendete Darstellung des Philisteriums« durch die beiden Friedensrichter, während Pentz »für Dorchen Lakenreißer schwärmte«. Die Prinzessin lässt ihm diese »Geschmacksverirrung ruhig hingehen«, hat sogar »Worte halber Anerkennung für ihn, weil er wenigstens ehr18 Die symptomatischen Vorlieben der Romanpersonen für die eine oder andere Figur Shakespeares behandelt ausführlich Plett, Bettina (1986): Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Theodor Fontanes. Köln / Wien: Böhlau (Kölner Germanistische Studien 23), S. 291 – 295. Einen tabellarischen Überblick über die literarischen Anspielungen gibt ein Anhang. Zu »Unwiederbringlich« S. 382 – 391. Das Kain-Zitat wird nicht erwähnt.

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lich und konsequent bleibe«. Doch damit ist ein Thema berührt, das Ebba aus der Fassung bringt. »Ebba mühte sich, auf diesen scherzhaften Ton der Prinzessin einzugehen, scheiterte aber völlig damit und verfiel schließlich in ein sich immer steigerndes nervöses Zucken und Zittern.« (S. 685) Nach dem Verlassen des Theaters ist Holk mit Pentz unterwegs zu einem Restaurant und fragt: »Sagen Sie, Pentz, was war das mit der Rosenberg? Sie war dicht vor einem hysterischen Anfall. Peinlich und noch mehr verwunderlich.« Verwunderlich, entgegnet Pentz, sei das gar nicht. Er kenne halt »die Weiber herzlich schlecht«. Das will Holk nicht gelten lassen, jedenfalls nicht, was Ebba betrifft. »Ich halte das Fräulein für freigeistig und übermütig und behaupte ganz ernsthaft, wer mit Glaubens- und Moralfragen so zu spielen weiß, der ist sozusagen auch verpflichtet, an Falstaffs Dorchen eine helle Freunde zu haben oder doch mindestens keinen Anstoß daran zu nehmen.«

Gerade weil er so denke, erwidert Pentz, spreche er ihm die Weiberkenntnis ab. »Wenn Sie die hätten, so würden Sie wissen, daß gerade die, die dies und das auf dem Kerbholz haben, sich durch nichts so sehr verletzt fühlen wie durch ein grobes und unter Umständen selbst durch ein leises Zerrbild ihrer selbst. Mit ihrem richtigen Spiegelbilde leben sie sich ein, auch wenn ihnen gelegentlich ein Zweifel an der besonderen Berechtigung ihrer moralischen Physiognomie kommen mag; taucht aber neben diesem Bilde noch ein zweites auf, das die schon zweifelhaften Stellen auch noch mit einem Agio wiedergibt, so hat es mit der Selbstgefälligkeit ein Ende.« (S. 686)

Sage er da nicht mehr, fragt Holk, als er verantworten könne? Pentz erwidert: »Ebba wünscht sich eine Zukunft, das ist gewiß, und nur eines ist noch gewisser – sie hat eine Vergangenheit.« Und Pentz erzählt: Ebba war Hofdame der Königin Josephina drüben in Stockholm, und eines Tages stellte sich heraus, dass der jüngste Sohn der Königin die Dienste kleiner Boote in Anspruch nahm, »die zwischen den Liebesinseln des Mälarsees hin- und herfahren«, und zwar wegen Ebba. Natürlich gab es eine Szene. Dennoch wollte die Königin, »die gerade so vernarrt in das Fräulein war wie unsere Prinzessin, von Entlassung und Ungnade nichts wissen«. Nur widerstrebend habe sie einer Pression von Seiten des Hofes nachgegeben. Seither sei Ebba zwar leidenschaftlich antibernadottisch, aber, so versichert Pentz, es habe Stunden und Tage gegeben, wo Ebba das ganze Haus Wasa »für den Ringfinger eines jüngsten Bernadotte hingegeben hätte«. Vielleicht sei das immer noch so; »wenigstens bis ganz vor kurzem ging noch eine Korrespondenz. Erst seit diesem Herbst schweigt alles« (S. 687 f.). Offenkundig ist es aufgrund ihrer Vergangenheit um Ebbas Zukunft nicht mehr gut bestellt. »Am Tage der Julirevolution« geboren, ist sie jetzt neunundzwanzig Jahre alt; übrigens die »Enkeltochter des in der schwedischen Geschichte wohlbekannten Meyer-Rosenberg, Lieblings- und Leibjuden König

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Gustavs III.« (S. 660) Nachdem ihre Hoffnungen auf den »Ringfinger« des jüngsten schwedischen Königssohnes sich zerschlagen haben, ist sie für ihre Umwelt nunmehr die ehemalige Mätresse dieses Prinzen. Eine Heirat mit einem Mann aus Adelskreisen schließt das zwar nicht völlig aus – zu einer solchen Ehe wird es später ja auch kommen –, es schränkt die Zahl der möglichen Bewerber um Ebbas Hand jedoch erheblich ein. Das stellt die Prinzessin offenbar in Rechnung, wenn sie Ebba vorschlägt, Pentz zu heiraten, den in puncto Moral großzügig denkenden Lebemann und Apoplektiker vorgerückten Alters mit einem komischen Untergestell. Nachdem Ebba einer klaren Antwort auf die Vorschläge der Prinzessin ausgewichen ist, kommt die Prinzessin auf ihr Anliegen zurück: »Aber das mit Holk, das überlege.« Und Ebba setzt zu einer sonderbaren Verteidigungsrede an. »Verzeihung, gnädigste Prinzessin. Aber was soll ich überlegen? Solange ich denken kann, heißt es: ›ein Mädchen soll sich selber schützen‹ und es ist auch recht so; man muß es können. Und wer es nicht kann, nun, der will es nicht. Also gut, wir sollen uns schützen. Aber was ist ein junges Mädchen [!] gegen einen ausgewachsenen Grafen von Fünfundvierzig, der jeden Tag ein Enkelkind über die Taufe halten kann. Wenn sich wer selber schützen muß, so ist es der Graf, der, glaub’ ich, siebzehn Jahre verheiratet ist und eine tüchtige und ausgezeichnete Frau hat und eine sehr hübsche dazu, wie mir Pentz erst heute noch versicherte.« »Gerade dieser Frau halber ist es, daß ich in dich dringe …« »Nun, wenn gnädigste Prinzessin befehlen, so werd’ ich zu gehorchen suchen. Aber bin ich die richtige Adresse? Nun und nimmermehr. Holk ist es. Er ist seiner Frau Treue schuldig, nicht ich, und wenn er diese nicht hält, so kommt es auf ihn und nicht auf mich. Soll ich meines Bruders Hüter sein?« »Ach, daß du recht hast«, sagte die Prinzessin und fuhr mit der Hand über das blonde Wellenhaar Ebbas. (S. 694 f.)

Das Zitat, mit dem Ebba die moralische Verantwortung für ihr Tun von sich weist, ist ein starkes Stück. Es sind die an Gott gerichteten Worte Kains nach dem Brudermord an Abel: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« (1. Mose 4,9).19 Ist nicht über Ebbas Feingefühl, ja über ihren ganzen Charakter, mit dieser brüsken Selbstoffenbarung der Stab gebrochen? Die in Ebba vernarrte Prinzessin jedoch überhört es oder nimmt es hin. Warum lenkt sie ein? Außer Pentz weiß offenbar niemand besser über Ebba Bescheid als die Prinzessin. Pentz urteilt über Ebba aus der Distanz des psychologisch gewitzten Skeptikers mit einer Neigung zum Zynismus, die Prinzessin hingegen aus der 19 Die ungewöhnliche Wendung »so kommt es auf ihn und nicht auf mich«, klingt überdies an die Worte der Juden an, mit denen sie die Verantwortung für die Kreuzigung Jesu übernehmen: »Sein Blut komme über uns und über unsre Kinder!« (Matth. 27,25).

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Nähe des Mitgefühls. Wie es in Ebbas Innerem aussieht, durchschaut wohl nur sie. Und nur von ihr fühlt sich Ebba verstanden. Man erinnere sich an Ebbas Worte, als Holk das todesbereite Voranfliegen auf dem Eis unterbrach: »Erichsen und die Schimmelmann werden uns ohnehin erwarten, – die Prinzessin vielleicht nicht.« (S. 749) Fraglos fehlt es der Prinzessin nicht an moralischem Empfinden, aber über die Grenzen dessen, was noch erlaubt sein kann, urteilt sie aus der milieugebundenen Sicht einer älteren Aristokratin, deren Gesinnung und Bildung dem Ancien R¦gime entstammt. Sie »hatte noch die die literarischen Allüren des vorigen Jahrhunderts« (S. 684). Nachdem in einer größeren Gesprächsrunde Pastor Schleppegrell nach einigem Zögern ein pikantes Detail aus dem Liebesleben Christans IV. preisgegeben hat, schaltet sich die Prinzessin mit den Worten ein: »Übrigens apropos Prüderie! Da habe ich gestern in einem französischen Buche gefunden, ›Prüderie, wenn man nicht mehr jung und schön sei, sei nichts als eine bis nach der Ernte noch stehengebliebene Vogelscheuche‹. Nicht übel; die Franzosen verstehen sich auf dergleichen.« (S. 728)

Dieses Buch hat Fontane nicht erfunden, sondern tatsächlich in der Hand gehabt. Es besteht aus einer Sammlung von Aphorismen gemischten Inhalts; teils erbaulich im Geschmack des 19. Jahrhunderts und teils demaskierungspsychologisch in der Tradition La Rochefoucaulds. Ihr Verfasser war der Genfer Literat Jean Antoine Petit-Senn. Fontane hat daraus den Aphorismus übersetzt: »La pruderie qui survit, — la jeunesse et — la beaut¦, me semble un ¦pouvantail pour les oiseaux, oubli¦ dans les champs aprÀs la moisson.«20 Kommen wir noch einmal auf das inhaltsschwere Gespräch über Holk zurück, das die Prinzessin herbeigeführt hatte. Nicht um Holk als allzu leicht verführbare Mannsperson vor Ebba zu schützen, sondern um Holk vor einem Ehebruch zu bewahren. Im Grunde geht es also um Christine. Die Prinzessin selbst sagt es explizit: »Gerade dieser Frau halber ist es, daß ich in dich dringe …« (S. 695). Könnte es nicht sein, dass gerade der Gedanke an Holks Ehefrau, der Ebba zum Innehalten moralisch verpflichten müsste, ihren Entschluss erst recht beflügelt, Holk zu verführen? Der Triumpf ihrer Weiblichkeit wäre ja zugleich der Sieg über eine Rivalin. Und über welch eine Rivalin! Wie Ebba von Pentz erfahren hat, ist die Gräfin eine zugleich »sehr hübsche« und »ausgezeichnete« Frau. Wenn Pentz, wie zu folgern ist, sich über die Gräfin ausführlich geäußert hat, steht sie nun Ebba als eine Frau vor Augen, der zuteil geworden ist, was ihr selbst versagt geblieben war oder sie sich selbst verscherzt hat: eine in jungen Jahren geschlossene Ehe mit einem stattlichen Mann aristokratischen Standes. Aber was 20 Petit-Senn, Jean Antoine (1865): Bluettes et Boutades. GenÀve: J.-G. Fick, S. 20. (Zuerst Paris 1846, dann mehrfach neu aufgelegt.)

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noch viel stärker ins Gewicht fällt: Die Gräfin muss ihr geradezu als die Verkörperung ehelicher Liebe und moralischer Integrität erscheinen – mithin als das genaue Gegenbild ihrer selbst. Wenn Ebba sich auszudenken versucht, wie wohl die Gräfin über sie urteilt – und wie könnte es anders sein, als dass sie von solchen Gedanken heimgesucht wird –, muss sie sich sagen: in den Augen der Gräfin ist sie ein beklagenswertes, wenn nicht gar ein verachtenswertes Geschöpf. Gekränkter Stolz, sagt alte Menschenklugheit, weckt Hassgefühle. Und geradezu wie auf Ebbas innere Lage gemünzt mutet der Aphorismus an, den Fontane in dem besagten Buch in nächster Nachbarschaft zu dem über die Prüderie lesen konnte: Nous ne saurions aimer ceux qui nous m¦prisent avec raison, et nous hassons dans les autres la mauvaise opinion que nous leur avons donn¦e de nous-mÞmes.21 (Wir können die nicht lieben, die uns zu Recht verachten, und wir hassen in den anderen die Geringschätzung, zu der wir selbst ihnen guten Grund gegeben haben.)

So darf man vermuten, dass Ebba, während sie Holk zu verführen unternimmt, sei’s auch nur halbbewusst, mit aggressiven Regungen an die Gräfin denkt. Das würde erklären, warum Ebba im Gespräch mit der Prinzessin ihre Verführungsabsicht derart hartnäckig und mit einer so dubiosen Argumentation verteidigt, am Ende mit Hilfe eines Bibelzitats, das sich gegen sie kehrt und mit dem sie sich moralisch diskreditiert. Wenn es ihr gelänge, Holk zum Ehebruch zu bewegen, würde die Rivalin aus ihrer Höhe herabgezogen und in ihrer Weiblichkeit zutiefst verletzt. Das Gelingen des Racheakts hätte indes eine ungute Kehrseite: Es würde beweisen, dass Ebba das negative Urteil der Gräfin über sie vollauf verdient! Und wie der angeführte Aphorismus zu verstehen gibt, schlägt der Hass auf die Person, der gegenüber man der eigenen Minderwertigkeit gewahr wird, leicht in Selbsthass um. Von der Eispartie zurückgekehrt, versammelt sich die Gesellschaft am Abend in Ebbas Turmzimmer, und die »Eskapade nach dem Arresee« wird in der munteren Runde Gegenstand von scherzhaften Bemerkungen, zu denen vor allem der geistreiche Pentz beiträgt. Pentz, der weder Holk noch Ebba traute, gefiel sich in Fortsetzung seiner Spöttereien und malte mit Behagen aus, was aus beiden geworden wäre, wenn sich eine Eisscholle, mit einem Tannenbaum darauf, unter ihnen losgelöst und sie aufs hohe Meer hinausgetragen hätte. Vielleicht wären sie dann in Thule gelandet. (S. 755 f.)

Die Abschied nehmenden Gäste geleitet Holk nach unten, steigt dann die Treppe wieder hinauf. Ebba scheint auf ihn nur zu warten, um ihm »Gute Nacht« zu sagen. »Aber Holk ergriff ihre Hand und sagte: ›Nein Ebba, nicht so; Sie müssen 21 Ebd., S. 21.

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mich hören‹« (S. 758). – In dieser Nacht gerät der Schlossturm in Brand. Ebba und Holk entgehen den Flammen nur durch die waghalsige Flucht aufs Dach, und von dort retten sie hilfreiche Hände. Die Ereignisse dieser Nacht haben fatale Folgen. Vergeblich versucht Holk in den Tagen danach, mit Ebba zu sprechen; sie ist an einem schweren Fieber erkrankt. Aber »ihrer Übereinstimmung sicher« (S. 771), bricht er auf nach Holkenäs zu Christine, die schon errät, warum er vorzeitig zurückgekehrt ist. Sie willigt in die Scheidung ein. Zurück in Kopenhagen kann er endlich Ebba besuchen. Die aber bereitet ihm einen kühlen Empfang. Als Ebba sich mit wohlgesetzten Worten nach der Gesundheit der Gräfin erkundigt, von der sie viel Gutes gehört habe, sie sei »voll Sympathie für die Gräfin und, wenn dies das rechte Wort nicht sein sollte, voll Teilnahme«, wird Holk stutzig. Schließlich muss er das schier Unfassbare begreifen: Ebba ist keineswegs bereit, ihn zu heiraten. Aber sollte alles, wirklich alles nur ein Spiel gewesen sein? Das kann Holk nicht glauben, und dringt in sie: »Jedes Ihrer Worte hat sich mir in die Seele eingeschrieben, und Ihre Blicke sprachen es mit, und beide, Worte und Blicke, sagten es mir, daß Sie’s durch alle Tage hin beklagen würden, auf der abgebröckelten Eisscholle nicht ins Meer und in den Tod hinausgetrieben zu sein, wenn ich Sie verließe. Leugnen Sie’s, Ebba – das waren Ihre Worte.« (S. 787)

Ebba weist ihn zurecht: »Wie kann man sich einer Dame gegenüber auf Worte berufen, die die Dame töricht oder vielleicht auch liebenswürdig genug war, in einer unbewachten Stunde zu sprechen? Es fehlte nur noch, daß Sie sich auch auf Geschehnisse berufen, und der Kavalier ist fertig. […] In der Liebe regiert der Augenblick, und man durchlebt ihn und freut sich seiner, aber wer den Augenblick verewigen oder gar Rechte daraus herleiten will, […] wer das tut und im selben Augenblicke, wo sein Partner klug genug ist, sich zu besinnen, feierlich auf seinem Scheine besteht, als ob es ein Trauschein wäre, der ist kein Held der Liebe, der ist bloß ihr Don Quixote.« (S. 787 f.)

So schließe denn alles, sagt Holk nach einer kurzen Pause, mit einer Demütigung für ihn ab, die überdies noch den Fluch der Lächerlichkeit trage. »Alles nur ein Triumph Ihrer Eitelkeit.« Das nehme er hin. »Aber in einem, Ebba, kann ich Ihnen nicht zu Diensten sein; ich kann nicht erkennen, daß mir eine Pflicht vorlag, den Ernst Ihrer Gefühle zu bezweifeln; im Gegenteil, ich glaubte den Glauben daran haben zu dürfen, und ich glaub’ es noch. Sie sind einfach andern Sinnes geworden und haben sich – ich habe nicht nach den Gründen zu forschen – inzwischen entschlossen, es lieber ein Spiel sein zu lassen. Nun denn, wenn es ein solches war und nur ein solches, und Sie sagen es ja, so haben Sie gut gespielt.« (S. 789)

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War alles also nur ein Spiel gewesen? Oder war das Spiel denn doch in Ernst umgeschlagen, und Ebba anderen Sinnes geworden? Auf diese Frage, die den Leser seit der Eislaufszene in Spannung hält, gibt auch der Wortwechsel zwischen Holk und Ebba keine alles klärende Antwort. Wie durchweg in diesem Roman, überlässt der Erzähler es auch hier dem Leser, aus dem Verhalten der Romanpersonen, und vor allem aus dem, was sie über sich und andere sagen, die Wahrheit herauszufinden. Das gilt auch für das nun folgende 31. Kapitel, das über Ebba eine letzte Auskunft gibt, eine Auskunft allerdings, die wiederum der Deutung bedarf. Das Kapitel beginnt mit den Worten: »Nahezu anderthalb Jahre waren seitdem vergangen« (S. 790). Des Umherreisens müde, hat Holk eine Wohnung in London bezogen. Nun ist es Mai, Holk nimmt die »Times« zur Hand und liest: »Miss Ebba Rosenberg, Lady of the Bedchamber to Princess Mary Ellinor of Denmark, married to Lord Randolph Ashingham formerly 2d. Secretary of the British Legation at Copenhague« (S. 794). Die Nachricht kommt für Holk nicht ganz unerwartet. Schon Ausgang des Winters hatte Pentz in einem Brief an Holk geschrieben: »Ebba Rosenberg hat gestern der Prinzessin Anzeige von ihrer Verlobung gemacht, die jedoch, zu leichterer Beseitigung entgegenstehender Schwierigkeiten vorläufig noch geheim bleiben müsse.« (S. 795) Der, den Ebba zu beglücken gedenke, sei Lord Randolph Ashingham, an den sich Holk vielleicht von einer Abendgesellschaft bei der Prinzessin her erinnern werde. Dann folgt der frappierende Satz: »Es war gleich zu Beginn der Saison von neunundfünfzig auf sechzig.« (Ebd.) Also zu eben der Zeit, zu der Ebba begonnen hatte, Holk an sich zu binden!22 Von Lord Randolph heiße es, so schreibt Pentz weiter, »daß er den Grund und Boden eines ganzen Londoner Stadtviertels […] und einen Waldbestand von fünfzehn Millionen Tannen in Fifeshire besitze« (ebd.). Über die erwähnten Schwierigkeiten, die noch nicht ganz beseitigt seien, klärt Pentz mit der Bemerkung auf: Der Lord habe sich »ein Jahr lang in dieser Angelegenheit besonnen oder wohl richtiger besinnen müssen, weil von seiten eines noch viel reicheren Erbonkels allerlei Bedenken erhoben wurden« (ebd.). Man versteht: Bedenken gegen eine M¦salliance. Aber Ebba werde es sicherlich glücken, »dem stark exzentrischen Erbonkel den Beweis ihrer Tugenden auf dem Gebiete des Chic und High Life zu geben« (ebd.). Dann lautet der Schluss des Briefes: »Übrigens, haben sich beide, der Lord und Ebba, nichts vorzuwerfen; er, wie so viele seinesgleichen, soll schon mit vierzehn ein ausgebrannter Krater gewesen sein und heiratet Ebba nur, um sich etwas vorplaudern zu lassen, und von diesem Standpunkt aus angesehen, hat er eine gute Wahl getroffen. Sie wird jeden Tag Dinge sagen und 22 Damals hatte Pentz im Gespräch mit Holk seinem Bericht über das Ende der Liaison Ebbas mit dem schwedischen Königssohns hinzugefügt: »Mutmaßlich ist was anderes im Werke. Ebba hat nämlich immer mehrere Eisen im Feuer.« (S. 688)

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später auch wohl Dinge tun, die Seine Lordschaft frappieren, und vielleicht zündet sie mal die fünfzehn Millionen Tannen an und stellt bei der Gelegenheit sich und den Eheliebsten in die rechte Beleuchtung.« (Ebd.)

Als Frau eines immens reichen Lords ist es Ebba gelungen, gesellschaftlich weit höher hinaufzukommen, als sie hoffen konnte. Aber in einer Ehe ohne Liebe, an der Seite eines »ausgebrannten« Lebemannes, das sieht Pentz voraus, wird Ebba bald Affären mit anderen Männern haben, und eines Tages wird sie vielleicht die fünfzehn Millionen Tannen in Brand setzen. Wie psychologische Erfahrung weiß, kann das Entfachen eines Feuers eine symbolische Geste sein. Es kann den Wunsch eines mit dem Leben zerfallenen Menschen ausdrücken, die Welt und sich selbst in Flammen aufgehen zu lassen. Genau so hat es Pentz offenbar gemeint. Das Bild der brennenden Tannen fließt Pentz jedoch nicht von ungefähr in die Feder. Am Abend nach dem winterlichen Ausflug hatte Pentz ausgemalt, was aus dem Paar auf dem Eis geworden wäre, »wenn sich eine Eisscholle, mit einem Tannenbaum darauf, unter ihnen losgelöst und sie aufs hohe Meer hinausgetragen hätte. Vielleicht wären sie dann in Thule gelandet.« (S. 756) Pentz hatte an Thule als den nördlichsten Ort der bewohnten Erde gedacht. Doch dem Leser konnte die Anspielung auf Goethes Ballade nicht entgehen: »Es war ein König in Thule, / Gar treu bis in sein Grab«.23 Dieses von Pentz ausgesponnene Bild hatte sich in Ebbas Erinnerung festgesetzt und zugleich verwandelt. In jener Liebesnacht hatte Ebba, darauf besteht Holk im letzten Dialog mit ihr, ihm mit Worten und Blicken gesagt: wenn er sie verließe, würde sie es »durch alle Tage hin beklagen […], auf der abgebröckelten Eisscholle nicht ins Meer und in den Tod hinausgetrieben zu sein.« (S. 787) Wenn das mehr war, als nur Worte, hatte Ebba in diesem Augenblick etwas tief in ihr Verborgenes preisgeben: dass auch sie sich im Grunde nach einer Liebe im Land der Treue bis ins Grab sehnte. Und man mag nicht glauben, dass es nichts als Worte gewesen waren. Aber man versteht, dass Ebba den vollen Ernst dieser Worte nicht gelten lassen will – und aus einsichtigen Gründen auch nicht gelten lassen kann. Denn an welchem Ort der Welt könnte Ebba mit Holk eine glückliche Ehe führen? Ebbas Wesensart und Vergangenheit haben ihr Leben auf eine Bahn gebracht, die ihr eine glückliche 23 Das Thule-Motiv, das zuvor (S. 658) eingeführt worden war, und damit verknüpfte Motive behandelt Lieselotte Voss in einem Ebba gewidmeten Abschnitt ihres Buches. Das Motiv der angezündeten Tannen gehört nach ihrer Deutung zu einer »Feuer-Wasser-Symbolik«, die Ebba als eine Verkörperung des Melusine-Typs erscheinen lasse. Was man sonst noch über Ebba erfährt, lässt sie jedoch außer Acht, und diese Beschränkung des Gesichtsfelds führt zu dem merkwürdigen Urteil: Wie Christine und Brigitte erscheine auch Ebba nicht »wirklich menschlich-individuell«. Vgl. Voss, Lieselotte (1985): Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerks. München: Wilhelm Fink, S. 49 – 54, Zitat S. 56.

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Zukunft für immer verschließt. Und es gibt Augenblicke, in denen ihr das bewusst wird und sie sich verzweifelt den Tod wünscht. Das besagen die Tannen, die Ebba in London vermutlich einmal anzünden wird, um im Aufbegehren gegen die Welt, in der sie lebt und sich selbst nicht mehr achten kann, alles um sich her und sich selbst im Feuer zu zerstören. Das Bild der der Eisscholle jedoch, das sich mit dem der Tannen verbunden hat, verweist zurück auf den Tag der Eskapade auf dem Eis. Der Eislauf mit Holk, dem offenen Meer entgegen, war ein wortloses Tun. Welche Gedanken und Empfindungen Ebba in diesem Augenblick erfüllten, sagt der Erzähler nicht. Man muss es aus all dem zu erschließen suchen, was man zuvor und danach über Ebba erfahren hat. Inzwischen aber weiß man, dass Ebba zu ebendieser Zeit bereits begonnen hatte, Lord Randoph an sich zu binden, und für welche Art von Zukunft, die aus den Trümmern ihrer Vergangenheit noch zu retten war, sie sich entschieden hatte. Das legt die Deutung nahe: Als Ebba auf das offene Meer an der Seite von Holk zuflog, hat der Gedanke an diese Zukunft, gepaart mit Selbstverachtung, ihr das Verlangen eingegeben, der Welt und sich selbst zu entfliehen und sich im Meer aufzulösen. »Unwiederbringlich« hat man zumeist als einen Eheroman gelesen, aber man wird dem Romanganzen nur dann gerecht, wenn man Ebba als dritte Hauptperson versteht. Sie alle drei hat das Leben in eine Falle geraten lassen, aus der es kein Entkommen mehr gab. Dass Ebba in der Gräfin Holk ihre nicht zu besiegende Rivalin sah, musste man zwischen den Zeilen lesen. Dass für Christine das Fräulein Rosenberg zur Rivalin wurde, die sie aus ihrem Leben nicht mehr hinweg denken konnte, liegt indes offen zutage. Während Holk in London ist, versucht man in der Heimat, Christine zu einer Aussöhnung mit Holk zu bewegen. Warum sie zögert, diesen Schritt zu tun, spricht sie in einem Brief an ihren Bruder aus. Sie schreibt: man habe sich daran gewöhnt, sie als »abstrakt und doktrinär anzusehen«, aber »in erster Linie bin ich doch immer eine Frau. Und weil ich das bin, verbleibt mir in all dem Zurückliegenden ein Etwas, das mich in meiner Eitelkeit oder meinem Selbstgefühl bedrückt.« (S. 793) Wäre es zur Ehe gekommen, schreibt sie weiter, hätte Holk seinen Irrtum eingesehen, aber das Fräulein habe ihn einfach nicht gewollt, und so sei Holk »nicht recht geheilt«. »Ich spiele in dieser Tragikomödie ein bißchen die faute de mieuxRolle, und das ist nicht angenehm.« (Ebd.) Dieser Brief liefert zum Verständnis dessen, was nun noch geschieht, den Schlüssel. Es kommt zwar zur Aussöhnung und zur Wiederverheiratung des Ehepaares, aber »Friede herrschte, nicht Glück« (S. 802). Beunruhigt und geängstigt zieht Holk die Dobschütz ins Gespräch, und beide müssen sich eingestehen: »Christine will vergessen, aber sie kann nicht« (S. 804). Vom Tag der zweiten Trauung an, sagt die Dobschütz, habe Christine, begonnen zu schweigen, »und bis auf diesen Tag muß ich erraten, was in ihrer Seele vorgeht« (S. 805). Bald danach berichtet sie in einem Brief, mit dem

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der Roman endet, dass Christine den Tod im Meer gesucht hat. – Obgleich im Dunkeln bleibt, was genau in Christines Seele vorgegangen war, ist doch so viel gewiss: Christine hatte die tiefe Kränkung ihres weiblichen Selbstgefühls, die Holks Untreue ihr angetan hatte, nicht verwinden können. All die Kraft und Sicherheit, die sie aus ihrer Glaubensfestigkeit bezogen hatte, war dahingeschwunden, und das Verlangen nach Selbstauslöschung übermächtig geworden. Christine und Holk sind in ihrem Naturell und in ihren Anschauungen in ganz ähnlicher Weise Gegensätze wie Charlotte und Eduard in den »Wahlverwandtschaften«. Und es ist gar nicht zu übersehen, dass aus Goethes Roman mehrere Motive in »Unwiederbringlich« hinüber gewandert sind. Fontane hat das auch nicht verbergen wollen, sondern durch anspielende Worte Arnes (S. 579) offengelegt.24 »Wilhelms Meisters Lehrjahre« hat Fontane jedoch ebenfalls aufmerksam studiert.25 Das lässt vermuten, dass er irgendwann einmal auch die Novelle in den »Wanderjahren« gelesen hat und durch diese Lektüre zu der Eislauf-Episode in »Unwiederbringlich« angeregt worden ist. Für die Annahme eines Quellenbezugs spricht noch eine andere Szene seines Romans. Im Kopenhagener Haus der Witwe Hansen, in dem Holk für gewöhnlich wohnt, trifft er in diesem Jahr auch deren Tochter Brigitte an, eine ausnehmend schöne junge Frau, deren Ehemann auf See ist. Von einem abendlichen Spaziergang zurückkehrend, empfängt sie ihn an der Haustür und geleitet ihn zur Treppe. Sie trug Rock und Jacke von ein und demselben einfachen und leichten Stoff, aber alles, auf Wirkung hin, klug berechnet. In der Hand hielt sie ein Lampe von ampelartiger Form, wie man ihnen auf Bildern der Antike begegnet. […] Zugleich ging sie mit ihrer Ampel langsamen Schrittes vorauf […] und leuchtete, die Linke auf das Geländer stützend, mit ihrer hocherhobenen Rechten dem Grafen hinauf. Dabei fiel der weite Ärmel zurück und zeigte den schönen Arm. (S. 638)

Am anderen Morgen beschäftigt ihn die »Erscheinung mit der Ampel« erneut. Er sann dabei nach, welche Göttin oder Liebende, mit der Ampel umhersuchend, auf antiken Wandbildern abgebildet zu werden pflege, konnt’ es aber nicht finden und gab schließlich alles Suchen danach auf. (Ebd.)

Mit der antiken »Göttin oder Liebenden«, an die sich Holk vergeblich zu erinnern versucht, kann schwerlich eine andere gemeint sein als die ein Licht hal24 Vgl. Kahl, Paul (2008): Theodor Fontanes »Unwiederbringlich« in der Romantradition der »Wahlverwandtschaften«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52, S. 374 – 391. 25 In Fontanes Nachlass fanden sich fünf Aufzeichnungen aus dem Jahr 1876 zu Werken Goethes, darunter eine zu den »Wahlverwandtschaften« und eine zu »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Vgl. Fontane, Theodor: Aufzeichnungen und Erinnerungen. Hg. v. Jürgen Kolbe. München: Hanser 1969 (Theodor Fontane: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Hg. v. Walter Keitel und Helmut Nürnberger. 3. Abteilung 1 [Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002]), S. 465 – 468.

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tende Psyche – mit der in »Der Mann von fünfzig Jahren« Hilarie verglichen worden war.26 Goethes Novelle und Fontanes Roman verbindet jedoch nicht nur der zu vermutende Quellenbezug. Aus gehöriger Distanz betrachtet, gehören beide einer Epoche an, in der sich die Sicht auf den Menschen und seine Umwelt entscheidend veränderte. In »Unwiederbringlich« kommt dieser neue Blick, der einen Menschen zugleich mit dem Milieu seiner Herkunft erfasst, besonders deutlich zur Geltung. Man denke an die Prinzessin, deren Denken und Urteilen noch ganz vom Ancien R¦gime geprägt worden ist. Und an Christine, von der ihr Bruder Arne einmal sagt: »[T]rotz ihrer siebenunddreißig Jahre, in manchen Stücken ist sie noch ganz das Gnadenfreier Pensionsfräulein« (S. 593). Aber der Erzähler legt Christine auch Urteile in den Mund, die man nicht einfach als christlich engstirnig beiseite legen kann. In einem Gespräch in familiärer Runde, in dem über »die Macht gewisser Vorstellungen« gesprochen wird, sagt sie: »Die Welt wird durch solche Vorstellungen regiert, zum Guten und zum Schlechten.« In Preußen herrsche »Pflicht und Gottvertrauen«. Drüben in Kopenhagen aber sei »alles Genuß und Sinnendienst und Rausch, und das gibt keine Kraft. Die Kraft ist bei denen, die nüchtern sind und sich bezwingen.« (S. 589 f.) Ebba geht mit einer Äußerung über ihr eigenes Milieu einen deutlichen Schritt weiter, wenn sie im Dialog mit Holk über Liebesverhältnisse bei Hofe spricht, als wären dies »geradezu pflichtmäßige Dinge«, und dann hinzufügt, es gebe viele »Formen des Lebens«, und eine jede habe ihre »Berechtigung« (S. 692). Hier kommt zu einem Urteil aus subjektiver Perspektive die Behauptung hinzu, andere als solche Sichtweisen eigenen Rechts gebe es gar nicht. Nicht viel anders als Ebba, wenn auch viel weiter ausgreifend, urteilt auch Pentz. Sein Porträt, aus dem wir schon einiges zitiert hatten, begann mit der Darstellung seiner Lebensauffassung und seiner skeptischen, aus humanistischer Bildung gespeisten Weltanschauung. Er, der »auch das ›Sichwundern‹ schon hinter sich« hatte, »nahm alles von der heiteren Seite«. Weiter heißt es dann: Dem alten Pilatusworte »Was ist Wahrheit?« gab er im Leben, Politik und Kirche die weiteste Ausdehnung, und sich über Moralfragen zu erhitzen – bei deren Erörterung er regelmäßig die Griechen, Ägypter, Inder und Tscherkessen als Vertreter jeder Richtung 26 Jedem werde zunächst das Märchen von »Amor und Psyche« einfallen, schreibt Lieselotte Voss, zu denken sei aber auch an Hero, die mit ihrer Lampe Leander den Weg weist. Vgl. Voss, Lieselotte (1985): Literarische Präfiguration (Anm. 23), S. 57. Eine bildkünstlerische Darstellung der nächtlichen Szene, deren Psyche Fontane in Erinnerung gehabt haben könnte, habe ich nicht finden können; wohl deshalb nicht, weil es sie nicht gibt. Fontane hat sich vermutlich den Scherz erlaubt, als Vorbild für die antikische Gewandung und den hochgereckten Arm, von dem das Gewand zurückfällt, die New Yorker Freiheitsstatue zu wählen, von der damals in den Zeitungen viel berichtet wurde. Den Hinweis auf die Freiheitsstatue verdanke ich Carsten-Peter Warncke.

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in Leben und Liebe zitierte – war ihm einfach ein Beweis tiefer Nichtbildung und äußerster Unvertrautheit mit den »wechselnden Formen menschlicher Vergesellschaftung«, wie er sich, unter Lüftung seiner kleinen Goldbrille, gern ausdrückte. (S. 630)

Gewiss spricht der Kammerherr pro domo, wenn er eine Debatte über Moralfragen einfach als Beweis tiefer Nichtbildung abtut, aber sein Hinweis auf die je nach Kultur verschiedene Festlegung moralischer Normen greift eine Argumentation antiker und humanistischer Moralskepsis auf und hat insofern ein unbestreitbares sachliches Gewicht.27 Zu in etwa derselben Einsicht wie der belesene Pentz kommt durch eigenes Nachdenken auch Holk. Er spricht sie an der Stelle aus, der das vorangestellte Motto entnommen ist. Christine war in allem so sicher ; was stand denn aber fest? Nichts, gar nichts, und jedes Gespräch mit der Prinzessin oder gar mit Ebba war nur zu sehr dazu angetan, ihn in dieser Anschauung zu bestärken. Alles war Abkommen auf Zeit, alles jeweiliger Majoritätsbeschluß; Moral, Dogma, Geschmack, alles schwankte (S. 699).

Wiederum bezeugen diese Sätze eine subjektiv eingeschränkte Sicht, deren Anfechtbarkeit der Hinweis auf Gespräche mit der Prinzessin und Ebba deutlich macht. Zugleich jedoch liegt in ihnen noch weit mehr. Hatte Pentz einen ethischen Relativismus vertreten, der »jede« »Richtung in Leben und Liebe« als zu jeder Zeit berechtigt hinstellte, kommt in den Worten von Holk, »[a]lles war Abkommen auf Zeit«, die Dimension der geschichtlichen Entwicklung hinzu. Und der mit diesen Worten beginnende Satz lässt Fontane selbst heraushören, denn er enthält eine erstaunlich bündige Charakterisierung des Verstehens von Geschichte, für das sich im zwanzigsten Jahrhundert der (mehrsinnige) Begriff Historismus eingebürgert hat. Mit Worten von Ernst Troeltsch gesagt: Historismus bedeutet […] die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt. […] Staat, Recht, Moral und Kunst sind in den Fluss des histori-

27 Die antiken Skeptiker argumentierten: Wäre die Idee der Gerechtigkeit im Naturrecht verankert, müssten die Rechtssatzungen der Völker miteinander übereinstimmen, sie sind jedoch voneinander verschieden, oft sogar genau gegensätzlich, und verändern sich überdies im Verlauf der Zeit. Ein Urteil über die Wahrheit ist folglich nicht möglich. Montaigne entfaltet diesen Gedanken, bereichert um Beispiele aus der antiken Ethnographie und aus selbst erlebter Zeitgeschichte, ausführlich im »Essai« II,12. Vgl. Montaigne, Michel de: Oeuvres complÀtes. Textes ¦tablis par Albert Thibaudet et Maurice Rat. Paris: Gallimard (BibliothÀque de la Pl¦iade) 1962, S. 562 – 569. War Montaigne die Quelle für den ethischen Relativismus, den Fontane dem Kammerherrn zuschreibt? Auch bei Montaigne beginnt die Stelle mit dem horazischen »nil admirari«. Die zitierend angeführten Worte von den »wechselnden Formen menschlicher Vergesellschaftung« lassen indes eine zeitgenössische Quelle vermuten.

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schen Werdens aufgelöst und von uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklung verständlich. […] Das erschüttert alle ewigen Wahrheiten.28

Die Erscheinungen der Menschwelt in ihrem Gewordensein betrachten heißt, ihrer Genese nachzuspüren, und das lenkt den Blick wieder zurück zu Goethe, der, wie er in einem Brief an Zelter bekannte, »in allen Dingen die genetische Betrachtungsweise« liebte.29 Auch auf dem Gebiet der Geschichte hatte sich Goethe, unter dem Einfluss Herders, diese Betrachtungsweise zu eigen gemacht. Ein sprechendes Zeugnis dafür ist der Satz gegen Ende der Vorrede zu »Dichtung und Wahrheit«: »[E]in jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.«30 Die Betrachtung geschichtlicher Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt der Genese aber hatte im 18. Jahrhundert, angestoßen insbesondere durch Montesquieus »Esprit des Lois«, begonnen, und im 19. Jahrhundert kam sie zu ihrer vollen Wirkung.31 Mit Montesquieus zentralem Gedanken, dass die Bedingungen der Umwelt die Wesensart der Menschen prägen, war Fontane gut vertraut.32 Und in seiner Aufzeichnung zu den »Wahlverwandtschaften« steht ein Satz, der gut auch eine Notiz zu »Unwiederbringlich« hätte sein können: »Wenn unser Schuldmaß nicht sehr schwer in die Waage fällt, so sind wir in sittlichen Dingen doch meist von den Anschauungen unsrer Umgebung, wie der Atmosphäre abhängig, in der wir leben.«33 So haben sowohl Goethe wie Fontane in dem langen Verlauf der Entwicklung des historistischen Denkens, wenngleich gewiss auf unterschiedlichen Ebenen, ihren eigenen geschichtlichen Ort.

28 Troeltsch, Ernst (1922): Die Krise des Historismus. In: Die Neue Rundschau 33, S. 572 – 590; hier S. 573. 29 An Zelter, am 18. März 1811. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Hg. v. Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm. München: Hanser 1991 (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 20.1: Text 1799 – 1827), S. 255. 30 Einen Überblick über die Grundzüge der Geschichtsauffassung Goethes gibt der gehaltvolle Aufsatz von Nisbet, Hugh Barr (1993): Goethes und Herders Geschichtsdenken. In: GoetheJahrbuch 110, S. 115 – 133. 31 Vgl. Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus. Hg. und eingel. v. Carl Hinrichs. 4. Aufl. München: Oldenbourg 1965 [zuerst 1936]. Goethes Geschichtsauffassung behandelt das umfangreiche Schlusskapitel. 32 Vgl. Steland, Dieter (2012): Kriegstüchtigkeit und die alte Fuchs- und Storchengeschichte. Zwei quellengeschichtliche Anmerkungen zu Theodor Fontanes »Vor dem Sturm«. In: Wirkendes Wort 62, S. 177 – 188. 33 Fontane, Theodor : Aufzeichnungen und Erinnerungen (Anm. 25), S. 471.

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Gleiche Brüder als Parteigegner – Individualität, Vererbung und Politik. Zu Marie von Ebener-Eschenbachs »Die Freiherrn von Gemperlein« und Gottfried Kellers »Martin Salander« Sie haben jederzeit und allweil das Gleiche gedacht, gewollt und gethan und jeder gewußt, was der andere wollte. Ach Herr Du mein Gott, nun weiß ich auch, warum sie einander gemieden haben und immer sagten, ich weiß nichts, ich hab’ ihn nicht gesehen! Sie wußten genau, daß sie auf den gleichen Wegen gehen und dasselbe thun, und weil es etwas Böses und Gefährliches war, scheuten sie sich!1

Mit diesen Worten erklärt Amalia Weidelich in Gottfried Kellers Altersroman »Martin Salander« ihrem besorgten Mann, warum sie nach der überraschenden Verhaftung des einen ihrer beiden Zwillingssöhne ihre Hoffnung nicht in den anderen zu setzen vermöge. Tatsächlich sitzt auch dieser wenig später hinter Gittern. Isidor und Julian Weidelich ließen sich als Notare Urkundenfälschungen und Veruntreuungen zuschulden kommen. In einer spektakulären Doppelhochzeit hatten sie die Töchter des Kaufmanns Martin Salander geheiratet, des Titelhelden des Romans. Dem Zwang, immer dasselbe tun zu müssen, versuchten sie vergeblich dadurch zu entkommen, dass sie sich unterschiedlichen politischen Parteien anschlossen. Keller geht in seinem späten Roman mit dem Handlungsstrang dieser Doppelliebschaft und -heirat hart an die Grenzen dessen, was in einem realistischen Erzähltext noch toleriert werden kann. Man hat darin ein Anzeichen für das nahe Ende der Epoche des Realismus gesehen.2 Allerdings riskierte Keller schon immer solche Verstöße gegen das Wahrscheinlichkeitsgebot, was ihm, der unter den großen Realisten der deutschen Literatur das elastischste Realismuskonzept vertrat, den Tadel von Theodor Storm und Theodor Fontane eintrug.3 Für 1 Keller, Gottfried: Martin Salander. Hg. v. Thomas Binder u. a. In: Morgenthaler, Walter (Hg.): Gottfried Keller. Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. 8. Basel / Frankfurt a. M.: Stroemfeld / Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2004, S. 287. 2 Binder, Thomas (2007): Martin Salander. Zwischen Experimentierfreude und Pflichtgefühl. In: Walter Morgenthaler (Hg.): Interpretationen. Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek 17533), S. 154 – 171, hier S. 169 f. 3 Keller fühlte sich von Storms Vorwurf, seine Erzählungen näherten sich gelegentlich dem zu derben »Lalenbuch-genus« (Storm an Keller am 15. 7. 1878. In: Helbling, Carl [Hg.]: Keller, Gottfried: Gesammelte Briefe. In vier Bänden. Bern: Benteli 1950 – 1954, Bd. 3.1, S. 425),

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Storms Empfinden ging Keller besonders mit seinen Späßen zu weit. Auch im Fall der Weidelich-Zwillinge und der Salander-Töchter ist der Humor wieder mit von der Partie. Doch kann man den Einfall dieser Verdoppelung in der Kindergeneration des Romanpersonals nicht einfach bloß als Generator slapstickartiger Verwechslungsszenen abtun. Renate Böschenstein ging in ihren Ausführungen zu den Weidelich-Zwillingen der Vermutung nach, dass sich hier ein »Zweifel an der Singularität der Person« manifestiere.4 Diese Überlegungen möchte ich aufgreifen und weiterführen, indem ich die Weidelich-Handlung im Salander-Roman Marie von Ebner-Eschenbachs »Die Freiherren von Gemperlein« gegenüberstelle.5 Diese humoristische Novelle handelt von zwei Brüdern, die sich, auch wenn sie nicht Zwillinge sind, durch nichts unterscheiden als ihre Parteizugehörigkeit. Die beiden Gemperlein, Sprösslinge einer alten, angesehenen Adelsfamilie, schlagen in ihrem sehr auffälligen Verhalten ihren Vorfahren nach, so dass hier mit der Vererbung eine Problematik ins Spiel kommt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach ins Bewusstsein von immer mehr Menschen drang. In Kellers Roman kommt sie sogar ganz ausdrücklich zur Sprache, obwohl die Genetiker damals die Zwillinge als besonders aufschlussreichen Forschungsgegenstand noch gar nicht systematisch zu untersuchen begonnen hatten. An Kellers Roman lässt sich studieren, wie das »biologische Konzept«6 der Vererbung mit dem älteren der Individualität in Konkurrenz tritt. Neben den diesbezüglichen Beunruhigungen werfen die beiden Texte mit ihren Figurenverdoppelungen die Frage nach dem Zustandekommen politischer Überzeugungen auf. Haben diese noch ihre Grundlage in der Persönlichkeit verletzt, was sich daran ablesen lässt, dass er wiederholt darauf zurückkam (Keller an Paul Heyse am 9. 8. 1880. In: Ebd., S. 44, oder an Julius Rodenberg am 2. 12. 1880. In: Ebd., Bd. 3.2, S. 378). Schließlich zerbrach die lange Brieffreundschaft der beiden Autoren an den kritischen Bemerkungen Storms zu »Martin Salander« (Storm an Keller am 12. 1. 1887. In: Ebd., Bd. 3.1, S. 502 f.). Fontane äußerte seinen berühmten Vorwurf, Keller überliefere »die ganze Gotteswelt seinem Keller-Ton« – »er hat diesen Ton, wo er hingehört, und hat ihn leider auch da, wo er nicht hingehört« – in seiner Rezension des Keller-Essays von Otto Brahm. Vgl. Fontane, Theodor : Literarische Essays und Studien. Erster Teil. Hg. v. Edgar Gross. München: Nymphenburger Verlagsanstalt 1963, S. 265, S. 267. 4 Böschenstein, Renate (1997): Doppelgänger, Automat, serielle Figur : Formen des Zweifels an der Singularität der Person. In: Söring, Jürgen / Sorg, Reto (Hg.): Androden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang, S. 165 – 195. 5 Die Idee, Kellers Darstellung serieller Figuren, vor allem in »Die drei gerechten Kammmacher«, mit derjenigen Marie von Ebener-Eschenbachs in ihrer Novelle »Die Freiherrn von Gemperlein« zu vergleichen, verdanke ich meiner Salzburger Kollegin und Ebner-Eschenbach-Forscherin Ulrike Tanzer. Im vorliegenden Beitrag stehen nun nicht die Kammmacher, sondern die Gebrüder Weidelich aus »Martin Salander« im Vordergrund. 6 Rheinberger, Hans-Jörg / Müller-Wille, Staffan (2009): Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag (Fischer 17063).

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derjenigen, die sie vertreten, oder kaschieren sie bloß die Abwesenheit von Individualität? Die beiden Brüderpaare leben in unterschiedlichen politischen Verhältnissen – dasjenige Ebner-Eschenbachs in einer Monarchie, dasjenige Kellers in einer Demokratie –, in welche die erzählerischen Experimentalanordnungen der gleich-ungleichen Brüder zusätzliche Einsichten vermitteln. Die Gestaltung der Geschwisterpaare in den Texten von Keller und EbnerEschenbach verdankt viel der literarischen Tradition der Darstellung von Doppelgängern, die sie ihrerseits bereichert. Verwechslungsszenen sind darin ebenso bekannt wie die Darstellung von Klonen oder von Figurenpaaren, die für antagonistische Kräfte im Innern einer Person stehen.7

Handlung Fiktionale Texte verdanken ihre Handlungen meist dem Gegeneinander von Figuren, die ihre Differenzen austragen, sei es, indem sie sich anziehen oder aber bekämpfen. Solche Differenzen liegen meist auch vor, wenn es sich bei den Figuren um Geschwister handelt, womit der Konflikt noch zusätzlich emotional aufgeladen wird. Neben dem Modell der antagonistischen Brüder – Kain und Abel oder Jakob und Esau – findet sich allerdings schon in der Bibel auch dasjenige der großen Geschwisterschar – die Söhne Jakobs. Diese auszudifferenzieren, überfordert die literarische Ökonomie, so dass gerne ein Geschwister, meist das jüngste, einem uniformen Rest gegenübergestellt wird. Zahlreiche Märchen – z. B. »Die sechs Schwäne« oder »Die sieben Raben« – haben sich dieses Modell zu eigen gemacht. Marie von Ebner-Eschenbach scheint in ihrer Geschwister-Novelle das Modell der feindlichen Brüder zu aktivieren, befinden sich die beiden Freiherren doch in einem Dauerstreit. Es wird aber bald klar, dass es sich dabei um keinen wirklichen Konflikt handelt, sondern eher um ein oberflächliches Gezänk, das gegensätzliche politische Überzeugungen zur Grundlage hat und »nach und nach zum Selbstzweck«8 geworden ist. Es ist nicht zu übersehen, dass die Autorin konsequent darauf verzichtet, außer den Namen irgendeinen Unterschied zwischen den Brüdern sichtbar werden zu lassen, der nicht auf die eine Differenz der Weltanschauung zurückzuführen wäre. Haben sich die beiden diese nur 7 Stellvertretend für eine reiche Literatur dazu siehe z. B. Schwarcz, Chava Eva (1999): Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung. In: Fichtner, Ingrid (Hg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern u. a.: Paul Haupt (Facetten der Literatur: St. Galler Studien 7), S. 1 – 14. 8 von Ebner-Eschenbach, Marie: Die Freiherrn von Gemperlein. In: Klein, Johannes (Hg.): Marie von Ebner-Eschenbach. Novellen und Aphorismen. München: Winkler 1956, S. 275 – 323, hier S. 291.

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darum zugelegt, um sich nicht in ihrer Identität aneinander ganz zu verlieren? Sie haben den gleichen ausschließlichen Lebensinhalt, das über alles geliebte Landgut Wlastowitz, haben somit den gleichen Wohnsitz, den gleichen Beruf und den gleichen ledigen Zivilstand, der mit dem gleichen Nichtverhältnis zu Frauen einher geht. Sie werden ausschließlich in Handlungen gezeigt, in die sie zu gleichen Teilen involviert sind und die sie dazu nutzen, nicht in ihren Akten, aber ihren Reden ihre konträren Einstellungen zu manifestieren.9 Von der Umgebung werden sie nie anders als ein Doppelwesen wahrgenommen und behandelt. Erst am Schluss mutieren die Brüder für kurze Zeit zu wahren Antagonisten, wenn sie sich in die gleiche Frau verlieben oder besser : zu verlieben wähnen. Dies erlöst sie aus der Blockade, in die sie ihr Gezänk gefangen gesetzt hat, und verhilft der Erzählung zu einer finalen Handlung. So kann EbnerEschenbach trotz eines Figurenpaars, das sich ständig schachmatt setzt, den Gattungserfordernissen der Novelle doch noch Genüge tun. Paul Heyse bescheinigt dann, dass dies sogar musterhaft geglückt sei, wenn er »Die Freiherren von Gemperlein« 1884 an die Spitze der zweiten Serie seiner Mustersammlung, »Neuer Deutscher Novellenschatz«, setzt. Mit ähnlichen Problemen sieht sich zwanzig Jahre früher schon Gottfried Keller konfrontiert, wenn er in der Novelle »Die drei gerechten Kammmacher« im Zyklus »Die Leute von Seldwyla« ein Dreigespann von Handwerkergesellen in Szene setzt, die sich auf irritierende Art gleichen. Wie die Freiherren von Gemperlein machen auch sie schließlich der gleichen Frau den Hof. Diese muss sich für einen entscheiden, der dann als vermeintlicher Sieger dasteht. (Auch die Legende von der Gründung Roms musste das von einer Wölfin auferzogene und zusammengeschweißte Zwillingspaar auseinanderreißen und einen der Brüder zum Sieger, den anderen zum Verlierer machen – die Stadt trägt ja schließlich auch nur einen Namen, den von Romulus.) Weil die Geschichte der Zwillingsbrüder Weidelich, die sich mit den SalanderTöchtern verbinden, nur die Nebenhandlung eines Romans darstellt, kann Keller mit der Angleichung der Figuren viel weiter gehen. Die beiden Zwillinge 9 Daraus leitet Karl Konrad Pohlheim die von ihm selber dann etwas strapazierte These ab, dass die Relation der Drehsymmetrie für die ganze Novelle bestimmend sei. Er veranschaulicht das an einer Szene, in der die beiden Brüder nebeneinander lesend am Frühstückstisch sitzen, wobei Friedrich in die »K.K. ausschl. priv. Wiener Zeitung«, Ludwig aber die liberale »Augsburger Allgemeine« vertieft ist (von Ebner-Eschenbach, Marie: Die Freiherrn von Gemperlein [Anm. 8], S. 278). Vgl. Polheim, Karl Konrad (2002): Die drehsymmetrischen Brüder. Zu Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung »Die Freiherrn von Gemperlein«. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts, S. 249 – 269, hier S. 260. In der Tat trifft man in der Erzählung immer wieder auf diese gleiche Figur: Es wird eine Gemeinsamkeit zwischen den Brüdern festgestellt, dann aber auch eine Antithese. Solche inhaltlichen Gegensätze können allerdings nur dann als symmetrisch angesehen werden, wenn von einem metaphorischen Symmetriebegriff ausgegangen wird.

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unterscheiden sich lediglich durch die Form eines ihrer Ohrläppchen und durch ihre Namen: Isidor und Julian. Bei Setti und Netti Salander, ihren Frauen, wird die Namensdifferenz auf das strickte Minimum eines einzigen Buchstabens reduziert. Dem Leser ist es gänzlich unmöglich, die beiden Brüder und ihre Frauen zu unterscheiden, und er muss eine Eselsbrücke konstruieren (z. B. das S im Namen), um sich zu merken, dass Setti die Frau von Isidor und Netti die von Julian ist. Friedrich Dürrenmatt übernimmt Kellers Namensspiel, wenn er in »Der Besuch der alten Dame« die Titelheldin mit einem männlichen Gefolge umgibt, das aus zwei Paaren besteht, Toby und Roby sowie den blinden Koby und Loby. (Dass Brüder sich durch nichts unterscheiden, nicht einmal durch ihre Namen, selbst das kommt bei Keller vor. Eugenie, die Titelheldin des Eingangstextes der »Sieben Legenden«, in denen Keller mit den Übertretungen des Wahrscheinlichkeitsgebot am weitesten geht, ist mit zwei Brüdern befreundet, »welche seltsamer Weise beide Hyazinthus hießen«.10) Mit dem (partiellen) Verzicht auf die Dynamisierungskraft, die in der Figurendifferenz steckt, geht namentlich ein Autor / eine Autorin des Realismus ein nicht unbeträchtliches Risiko ein. Das komische Potential, das die Figurenidentität birgt, ist dafür bis zu einem gewissen Grad eine Entschädigung.

Komik Dass das Verfahren, Figuren zu verdoppeln, ja zu vermehrfachen, ein probates Mittel ist zur Erzeugung von Komik, hat der Genfer Pädagoge, Reiseschriftsteller und Erfinder der bande dessin¦e – des Comics – Rodolphe Töpffer in seiner Bildergeschichte »Monsieur Cr¦pin« von 1837 eindrücklich vor Augen geführt. Es geht darin um die Nöte des Titelhelden bei der Erziehung seiner Söhne. Er besitzt davon – Töpffers Humor, der immer einen starken Zug hin zum Nonsens hat, gestattet sich solche Vorstöße gegen das Plausibilitätsgebot noch viel unbekümmerter als der Verfasser des Salander-Romans – nicht weniger als elf identischen Alters, die er nacheinander verschiedenen Hauslehrern anvertraut. Töpffer erfindet – möglicherweise geschult an der Darstellung von Pferdegespannen auf antiken Vasen – originelle Darstellungsverfahren, um die Serialität des Verhaltens, zu dem die Kinder namentlich von einem besonders auf Disziplin bedachten Hauslehrer abgerichtet werden, zur Darstellung zu bringen (vgl. Abb. 1). Es ist offensichtlich, dass der zeichnende Pädagoge mit Bildern dieses Typs auch das Problem der Erziehung als Drill verhandelt. Den komischen Effekt kann man mit Henri Bergson damit erklären, dass »die Wiederholung und 10 Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 338.

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Abb. 1: Rodolphe Töpffer: Monsieur Cr¦pin, S. 34: »Weil Herr Cr¦pin aus Unachtsamkeit einen Kalauer gemacht hat, erheben sich die jungen Cr¦pins und brechen in lautes Gelächter aus.«

völlige Übereinstimmung« von Bewegungen und Verhaltensweisen »hinter dem Lebendigen etwas Mechanisches« vermuten lasse, was zum Lachen reize.11 Gottfried Keller schlug schon in »Die drei gerechten Kammmacher« erfolgreich literarisches und humoristisches Kapital aus der Darstellung einer Figurengruppe, die ein identisches Verhalten auszeichnet. Dass dem, was für Lachen sorgt, auch beunruhigende, ja verstörende Züge innewohnen, demonstriert die Erzählung, wenn der Ulk nach und nach eine tragische Dimension annimmt und für zwei der drei Handwerkergesellen schließlich in einer rapiden, für den dritten, den vermeintlichen Sieger, in einer etwas verzögerten Katastrophe endet. Während die drei Kammmacher sich noch durch Aussehen und Herkunft unterschieden, und nur in ihrem durch Beruf und soziale Stellung bedingten Verhalten auf eine gespenstische Art ähnlich waren, sind die Gebrüder Weidelich als Zwillinge auch äußerlich nicht zu unterscheiden. Das kann für ihre Liebhaberinnen das Wiedererkennen zum Problem werden lassen, namentlich wenn das Stelldichein heimlich in einem nächtlichen Garten stattfindet, wo es von Martin Salander halb amüsiert, halb entsetzt beobachtet wird. 11 Im französischen Original: »L— o¾ il y a r¦p¦tition, similitude complÀte, nous soupÅonnons du m¦canique fonctionnant derriÀre le vivant. Analysez votre impression en face de deux visages qui se ressemblent trop: vous verrez que vous pensez — deux exemplaires obtenus avec un mÞme moule, ou — deux empreintes du mÞme cachet, ou — deux reproductions du mÞme clich¦, enfin — un proc¦d¦ de fabrication industrielle. Cet infl¦chissement de la vie dans la direction de la m¦canique est ici la vraie cause du rire.« Bergson, Henri: Le rire. Essai sur la signification du comique [1900]. Hg. v. Guillaume Sibertin-Blanc. 13. Aufl. Paris: Presses universitaires de France 2007 (Quadrige Grands textes. Le choc Bergson).

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Auf dem Brunnenplatze angelangt, breiteten sie ohne Säumen die Arme nach den Liebhaberinnen aus, wurden jedoch zurückgewiesen. »Halt, Ihr Herren!« schalt Setti mit verhaltener, aber entschiedener Stimme, »es ist ausgemacht, daß Ihr bei solcher Gelegenheit ungleiche Hüte tragen sollt, damit jede Dame ihren Ritter erkennen kann! Nun kommt Ihr mit Hüten, die sich so gleich sehen, wie zwei Eier! Welcher ist denn nun der Isidor?« »Und welcher der Julian?« fügte Netti bei. Beide riefen gleichzeitig: »Ich!« offenbar aus Mutwillen. »Laßt sehen!« befahl Setti unwillig, »die Ohrläppchen her!« Sie ging auf den einen zu und griff nach seinem rechten Ohre, währende Netti das Gleiche mit dem linken Ohre des andern that.12

In Kellers Gesellschaftsroman wird das Phänomen der Serialität als eine Zeitkrankheit dargestellt, die in der Generation der Kinder des Titelhelden grassiert. Nicht einmal Arnold, das dritte der Salander-Kinder, ist davon ganz verschont. Er wird zwar als ein kluger und integrer junger Mann geschildert, der sich, anders als seine Schwestern und seine Schwäger umsieht auf der Welt. Doch vermag er aus der Schar seiner Freunde, die im Hause Salander zu einem geselligen Abend zusammenkommen, auch nicht recht als eine Individualität herauszutreten. Die Verdoppelung der Weidelich-Brüder wird durch eine Reihe »von vielen ihres Gleichen«13 erweitert, deren Serialität der Roman wirkungsvoll dadurch in Szene setzt, dass er die Betrugsfälle aufzählt, die von Tag zu Tag während einer einzigen Woche aufgedeckt werden. Während Isidors und Julians Partnerwahl karrierestrategisch motiviert ist, suggeriert der Roman, dass es sich nur um eine fatale id¦e fixe handeln könne, wenn die Salander-Töchter darauf eingehen. Ihre Eltern sind jedenfalls in der Lage, die beiden jungen Männer zu durchschauen, erst recht die Leser, die noch mit entlarvenden Zusatzinformationen über die heimlichen Absprachen der Brüder versorgt werden. Die Blindheit der Töchter befällt allerdings vorübergehend auch den Vater,14 der zwar eine liebenswürdige und kluge Frau geheiratet hat, sich nun aber in die griechische Schönheit Myrrha verliebt, ohne deren leichte Debilität zu konstatieren.15 Auch Marie von Ebner-Eschenbachs Freiherren von Gemperlein werden als blinde Liebhaber zu den Witzfiguren, zu denen sie schon ihr Familienname zu stempeln scheint. Sie sind dabei die doppelten Opfer ihrer weltanschaulichen 12 Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 113. 13 Ebd., S. 219. 14 Auf diese singuläre Gemeinsamkeit über die Generationenschwelle hinweg hat Böschenstein, Renate (1997): Doppelgänger, Automat, serielle Figur (Anm. 4), S. 187 f., hingewiesen. 15 In Salanders Bewunderung für die schöne, einfältige Myrrha karikiert Keller auch Winckelmanns Ideal von der »edlen Einfalt und stillen Größe« des klassischen Griechentums.

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Fixierungen und der mangelnden Sozialkontakte auf ihrem abgelegenen Landgut. Friedrich macht seine Künftige im Adelskalender ausfindig und wird zum Gespött seines Bruders, als sich herausstellt, dass es sich bei der auserwählten Josephe im Grunde um einen Joseph handelt, der nur dank eines Druckfehlers zu dem feminisierenden Schluss-‹e› gekommen ist (wie bei Setti und Netti hängt die ganze Unterscheidung an einem einzigen Buchstaben des Namens). Ludwig ist es seiner Überzeugungen schuldig, die Hoffnungen auf eine Frau aus dem Volk zu setzen. Er lernt das Mädchen aus der Verwandtschaft der Frau des Gutsverwalters sogar kurz persönlich kennen und – dank zweier eigentlich völlig nichtssagender Repliken16 – schätzen. Statt mit ihr in eine wirkliche Kommunikation zu treten, fabuliert er sich über Monate seine Heiratsgeschichte zusammen, um dann erst zu erfahren, dass Lina inzwischen mit wenig Neigung eine Zweckheirat eingegangen sei. Beiden Vorstößen ist das Scheitern offensichtlich einprogrammiert. Das ruft den Verdacht wach, dass die beiden Brüder sich im Grunde nur je den andern als Lebenspartner denken können. Dem gibt auch folgender Erzählkommentar Nahrung, der einmal mehr unterstreicht, dass sich in dieser Novelle alles um die weltanschauliche Differenz dreht: Wenn Friedrich aufrichtig sein wollte, so mußte er bekennen, daß er hundert Josephen für einen zu standesgemäßen Überzeugungen bekehrten Ludwig gegeben hätte. Ludwig hingegen gestand sich, daß es ihm süßer wäre, von seinem Bruder ein einziges Mal zu hören: Du hast recht, als von seiner Lina: Ich liebe dich!17

Bevor sich die beiden versöhnt in der ihnen gemäßen Zweisamkeit auf ihrem Landgut einrichten können, kommt es zu der finalen Turbulenz ihrer Doppelliebe: »Endlich sprach Ludwig, schwer atmend, allein immer noch mit anbetungswürdiger Ruhe: ›Du bist verliebt. Ich bin es auch.‹«18 Durch ihre Erfahrungen kein bisschen einsichtiger geworden – oder muss man sagen: durch ihre Erfahrungen bestärkt? –, setzen sie alles daran, dass die Auserwählte, die Nichte der Besitzerin des Nachbargutes, ein »Phantom«19 bleibt. Beide sehen darin je eine Nachfolgerin der Frauen, die sie sich einst als ihre Zukünftige zurechtphantasiert haben. Das wird in einer Satzfolge festgestellt, die die Brüder einander auch syntaktisch gleichordnet: »So hatte ich mir meine Josephe vorgestellt! dachte er [Friedrich]. Ludwig dachte: Mit der kann 16 Ludwig fragt »das hübsche Kind«, wie es ihm gehe. Die einfache Antwort: »›Ich danke, gut‹«, bringt Ludwig bereits aus dem Konzept. Dann: »Eine Pause. – Was soll ich ihr jetzt sagen? … Donner und Wetter! was soll ich ihr jetzt sagen? dachte der Freiherr und rief endlich: ›Das macht die Landluft!‹ ›Oh, mir geht’s auch in der Stadt gut!‹ versetzte die Kleine mit einem munteren Lächeln.« Vgl. von Ebner-Eschenbach, Marie: Die Freiherrn von Gemperlein (Anm. 8), S. 284. 17 Ebd., S. 291. 18 Ebd., S. 309. 19 Ebd., S. 304.

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sich nicht einmal meine Lisa vergleichen, und beide dachten: Kein Traum kann holder sein!«20 Erfolgreich halten sich die Doppelfreier die Information vom Leibe, dass es sich bei der Angebeteten um eine Frau und nicht um ein Fräulein handelt. Dazu trägt auch die Nachbarin noch das Ihre bei, die sich wegen einer Grenzstreitigkeit rächen will und die Brüder, denen sie sonst wohl gesonnen ist, absichtlich aufs Glatteis führt.

Sozialpsychologie Das Groteske in der Art, wie sich die Brüder Gemperlein Frauen nähern, wird durch die Verdoppelung noch drastischer hervorgehoben. Die Verdoppelung ist aber nicht nur ein Mittel zur komischen Überzeichnung, sondern birgt auch einen psychosozialen Befund. Sowohl Ebner-Eschenbach als auch Keller kombinieren das Merkmal der Ununterscheidbarkeit der Figuren in auffälliger Übereinstimmung mit fehlendem Unterscheidungsvermögen. Dieses ist das Ergebnis einer übersteigerten Selbstbezogenheit, die die Doppelfiguren ihrer Umgebung gegenüber gleichgültig macht. Die Freiherren lassen sich von ihrem Gezänk völlig absorbieren. Die Überraschung, dass schon zehn Jahre verstrichen sind, seit sie die Verwaltung ihres Gutes übernommen haben,21 schreckt sie auf und bildet den Auftakt zur eigentlichen Novellenhandlung. (Deren Schilderung wird sogleich von einem eingehenden Rückblick auf diese zehn Jahre unterbrochen, der schließlich wieder genau beim Moment des Innewerdens, wie schnell die Zeit vergangen ist, anlangt).22 Man kann die feindseligen und völlig fruchtlosen Debatten, mit denen sich die beiden Brüder gegenseitig unterhalten, als Figuration der Selbstgespräche einer einzelnen, in ihrer Selbstbezogenheit gefangenen Person interpretieren. Diese Deutung bietet sich an, weil die Brüder ihren Streit nie nach außen tragen und in ihrer Umgebung auch nicht nach Alliierten für ihre kontroversen Meinungen suchen. Sie lassen sich so dem Typus von Doppelgängern zuordnen, bei denen »ein und dieselbe Person in zwei verschiedenen Erscheinungen auftritt«.23 Wenn man Friedrich und Ludwig zu 20 Ebd., S. 301. 21 Ebd., S. 282. 22 »An dem Tag, an welchem die Brüder die Entdeckung gemacht hatten, daß sie bereits seit zehn Jahren in Wlastowitz weilten, statteten sie der Exzellenz einen Besuch ab.« Vgl. ebd., S. 300. Anlässlich dieses Besuches lernen die Brüder dann die Nichte der Nachbarin kennen, in die sie sich auf der Stelle beide verlieben. 23 Schwarcz, Chava Eva (1999): Der Doppelgänger in der Literatur (Anm. 7), S. 3. Johannes Klein, der Herausgeber der hier verwendeten Werk-Ausgabe, schreibt in seinem Nachwort zu den »Freiherrn von Gemperlein«: »Die Dichterin hat eine Neigung, zwei Menschen dar-

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einer Person verschmilzt, wird auch erst die häufig geäußerte Meinung plausibel, bei der Novelle handle es sich um eine »Charakterstudie«24, denn das, was die Brüder unterscheidet, hat mit Charakter gerade nichts zu tun. Selbstbezogenheit ist auch ein Kennzeichnen der beiden Weidelich-Zwillinge, obwohl sie dem Doppelgängertypus der Klone zuzurechnen sind. Ihre Unfähigkeit, zu ihren Eltern und ihren Schwiegereltern, denen sie ihre Karrieren verdanken, einen freundlichen Kontakt zu unterhalten, wird in verschiedenen sprechenden Episoden denunziert. Dass ihre Ehen mit den Salander-Töchtern kinderlos bleiben, ist nur noch ein zusätzlicher Beleg dafür, dass sie auch mit ihren Frauen nichts anzufangen wissen. Sie lassen diese in ihren isolierten Häusern, die sie wie republikanische Freiherren zu kleinen Landsitzen ausgestalten, völlig vereinsamen. Aus dieser Ödnis werden Setti und Netti schließlich von ihren Eltern erlöst. Der Preis ist die Rückkehr in das elterliche Haus und eine Regression in den Kinderstatus. Die Novelle von Ebner-Eschenbach lässt der Kinderlosigkeit ihrer Protagonisten eine noch weit gravierendere Bedeutung zukommen. Sie beginnt ja mit einem Rückblick auf die Geschichte des Adelsgeschlechts, so dass dessen Ende, das die ledigen Brüder zu verantworten haben, als ihre eigentliche Pointe erscheinen muss. Die Salander-Schwestern führen das völlig parallele Scheitern ihrer Ehen auf den Befund zurück, dass ihren Ehemännern die Seele fehle.25

Vererbung Dagegen erhebt die Mutter der Zwillinge empörten Protest: »Keine Seelen? Meine zwei Buben, die ich unter dem Herzen getragen? Das ist eine niederträchtige Verleumdung! Rund und nett hab’ ich sie zur Welt gebracht, wie zwei Forellen, von den Köpfchen bis zu den Füßchen kein Mängelchen, und jedem hab’ ich sein Seelchen mitgegeben von meiner eigenen unsterblichen Seele, so viel Platz finden kann in einem so kleinen Tümpelchen Blut, und es ist mit den Buben nachgehends gewachsen, wie sie selbst! Wo sollt’ es denn hingekommen sein? Würden sie Landschreiber geworden sein? Keine Seelen! Die verfluchten Gänse! Die dürfen mir nicht so kommen! O!«26 zustellen, die im Grunde genommen einer sind.« Vgl. Klein, Johannes (1956): Nachwort. In: von Ebner-Eschenbach, Marie: Novellen und Aphorismen (Anm. 8), S. 955 – 991, hier S. 982. 24 Verschiedene Stimmen, die diese Meinung vertreten, werden im rezeptionsgeschichtlichen Resümee zitiert, das Polheim, Karl Konrad (2002): Die drehsymmetrischen Brüder (Anm. 9), S. 249 – 254, an den Beginn seiner Studie stellt. 25 Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 277. 26 Ebd., S. 277 f.

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Von den vielen unangemessenen Arten, auf die Verfehlungen der Zwillinge zu reagieren, die Kellers Roman – vor allem an den uneinsichtigen Missetätern selber – denunziert, ist diese eine der harmlosesten und komischsten. Das liegt – abgesehen von der Diminutivhäufung – daran, dass hier eine genetische Argumentation nicht etwa auf die Augen- oder die Haarfarbe angewendet wird, sondern auf die Seele. Indem sich die einfache Wasch- und Gärtnersfrau Amalia Weidelich aber auf das Vererbungskonzept bezieht, beweist sie einmal mehr, dass sie neuen Trends gegenüber – anders als ihre Kontrastfigur, Marie Salander – offen ist. Sie weiß solche Beschlagenheit auch nutzbar zu machen für den sozialen Aufstieg ihres Hauses, den die Söhne dann allerdings gründlich verspielen. Dass sich der Roman an ein Publikum wendet, dem die Vererbungslehre als neue Wissenschaft ein Begriff ist, verrät er an mehreren Stellen. Den Bescheid von Setti Salander, dass ihr Geliebter an einer leichten Deformation des linken Ohrläppchens zu identifizieren sei, kommentiert ihr Bruder Arnold mokant mit den Worten: »›Wissenschaftlich höchst merkwürdig! […] [D]as sind entweder einfach die Ueberbleibsel einer untergegangenen Form, oder die Anfänge einer neuen, zukünftigen!‹«27 Nach der Verhaftung der Zwillinge vertraut deren Vater Marie Salander an: »›Wir haben im Beginn dieser Geschichte, meine Frau und ich, […] beratschlagt und gegrübelt, woher die Buben die Unzucht geerbt haben.‹«28 Sie seien die Vorfahren, von denen sie noch Kenntnis hätten, durchgegangen und lediglich auf einen Großonkel gestoßen, der ein Fässchen Apfelmost gestohlen habe. Dass der Vater für die Vergehen seiner Söhne das drastische Wort »Unzucht« verwendet, obwohl sie sich keine sexuellen Übergriffe zuschulden kommen ließen, mag der hyperbolische Ausdruck seines Entsetzens sein. Es klingt hier aber auch der Ausdruck ›Zuchtwahl‹ an, der als Übersetzung des englischen Begriffs natural selection zu einem Schlüsselwort der Darwin-Rezeption wurde.29 Marie Salander macht sich nach dem Gespräch ihre Gedanken über die Erwägungen des Zwillingsvaters: »Das fehlte auch noch,« dachte sie, »daß das arme Volk nachgrübeln soll, woher es die Uebel geerbt habe, ob von väterlicher oder mütterlicher Seite, die ganz neu in seinen breiten Ackergrund gesäet worden! Davon werde ich meinem Martin nichts sagen, sonst gräbt er ebenfalls nach und fügt seinen erzieherischen Postulaten noch eines über selektions-theoretischen Volksunterricht in sittlicher Beziehung bei, oder wie er es nennen würde! Und der rührende Zug der hoffnungslosen Eltern würde mit der Zeit, weiß der Herr, zu welchem Homunkuluswerk aufgeblasen!« 27 Ebd., S. 101. 28 Ebd., S. 314 f. 29 Vgl. Zuchtwahl / Nothzucht. In: Der digitale Grimm (http://woerterbuchnetz.de/DWB/, 20. 2. 2014).

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Das war von Marie Salander nicht wissenschaftlich gedacht; allein sie kümmerte sich darum nicht und verschwieg das Mostfäßchen.30

Die Zurückweisung des vererbungstheoretischen Erklärungsversuchs erfährt dadurch einen hohen Grad an Verbindlichkeit, dass Keller sie Marie Salander, die er als die weiseste Figur des ganzen Romans zeichnet, in den Mund legt. Daran ändert auch der ironische Erzählerkommentar nichts. Prophetisch mutet an, dass Marie Salander mit dem Stichwort »Homunkuluswerk« auch die eugenische Wendung vorwegzunehmen scheint, welche die genetische Forschung nehmen wird. Auch die Handlungsführung des Romans nährt an keiner Stelle den Eindruck, dass da mit Vererbung irgendetwas erklärt werden kann, im Gegenteil. Die von Uniformität infizierte Kindergeneration ist so deutlich von den »suggestiv gezeichneten Persönlichkeiten«31 der Elterngeneration geschieden, dass die Abwesenheit von Familienähnlichkeit sogar als ein weiteres antirealistisches Element dieses Romans erscheinen kann. Das, was als erklärungsbedürftig dargestellt wird, ist nicht die Kontinuität, sondern die frappante Diskontinuität zwischen den Generationen. Die Söhne und Töchter sind nicht Kinder ihrer Eltern, sondern ihrer Zeit. Indem die Elternpaare ihren Familiensinn sehr hoch halten, versuchen sie, diese Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken. Deswegen setzt Martin Salander, die von Keller so präzis in den Handlungskontext eingefügte Drohung, der Doppelliebschaft der Töchter durch Enterbung den Wind aus den Segeln zu nehmen,32 nicht in die Tat um. Die Töchter erhalten schließlich die reiche Aussteuer, auf die es die Weidelich-Söhne abgesehen haben. Zum Zeichen aber, dass die Kinder das, was die Eltern ihnen auch an Immateriellem weiterzugeben suchen, nicht anzunehmen vermögen, kehrt diese Aussteuer nach der Verhaftung der Schwiegersöhne wieder ins Elternhaus zurück. Einen noch bittereren Nachgeschmack hinterlässt schließlich der Befund, dass die Zwillinge einzig durch ihre Missetaten eine gewisse Individualität gewinnen. Die Anklagepunkte sind in den Prozessen von Julian und Isidor Weidelich zwar weitgehend die gleichen, die Delikte unterscheiden sich dagegen. »Dadurch gewann jeder dem andern gegenüber eine gewisse Originalität, was man nie für möglich gehalten hätte.«33 Demgegenüber kehren die düpierten 30 Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 316 f. 31 Böschenstein, Renate (1997): Doppelgänger, Automat, serielle Figur (Anm. 4), S. 183. 32 »Das Wort Enterbung lief wie eine gemeinsame sanfte Erschütterung durch die vier Verlobten.« Vgl. Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 116. 33 Ebd., S. 300. Siehe dazu Böschenstein, Renate (1997): Doppelgänger, Automat, serielle Figur (Anm. 4), S. 184 f.: »In bezug auf die Amts- und Wirtschaftskriminalität entwickelt Keller also hier ein Zusammenspiel serieller und individueller Momente«, womit die Missetäter trotz strenger Beurteilung an der Textoberfläche den schemenhaften Freunden von Arnold Salander sogar etwas voraus hätten.

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Ehefrauen, die sich außer einem Mangel an Urteilskraft nichts zuschulden kommen lassen, in ihrer alten Ununterscheidbarkeit ins Salander’sche Elternhaus zurück. Im Fall der Freiherrn von Gemperlein ist die Ahnenforschung Sache der Erzählinstanz. Sie stellt gleich zu Beginn klar, dass die Figuren so vollständig ihren Vorfahren nachschlagen, dass sie gar keine Individualitäten auszubilden vermögen.34 Beim dominanten Merkmal, das dabei tradiert wird, handelt es sich um kein körperliches, sondern um ein verhaltensmäßiges, was – wenn denn schon – eher auf eine Tradierung durch Erziehung als durch Vererbung hindeutet: Niemals schuf die Natur einen geduldigen Gemperlein, niemals einen, der sich nicht mit gutem Fug und Rechte das Prädikat »Der Streitbare« hätte beilegen dürfen. Dieser kräftige Familienzug war allen gemeinsam. Hingegen gibt es keine schrofferen Gegensätze als die, in welchen sich die verschiedenen Gemperlein-Generationen in bezug auf ihre politischen Überzeugungen zueinander verhielten. Während die einen ihr Leben damit zubrachten, ihre Anhänglichkeit an den angestammten Herrscher mit dem Schwerte in der Faust zu bestätigen und so lange mit ihrem Blute zu besiegeln, bis der letzte Tropfen desselben verspritzt war, machten sich die anderen zu Vorkämpfern der Revolte und starben als Helden für ihre Sache, als Feinde der Machthaber und als wilde Verächter jeglicher Unterwerfung.35

Dass nun einer dem Herrscherhaus ergebener und ein kritischer Gemperlein zu koexistieren haben, bildet die ›unerhörte Begebenheit‹, von der die Novelle erzählt. Sie bringt ein »edles und uraltes«36 Geschlecht zum Erlöschen. Dass die Brüder einen Ausgleich finden können, wird vom dominanten »Familienzug«, der Streitbarkeit, unterbunden. Von den Figuren wird das Thema Vererbung nur einmal kurz gestreift. Auf Friedrichs wohl nicht einmal ironisch gemeinte Frage, woher Ludwig denn sein außergewöhnliches Denkvermögen habe, gibt dieser eine Antwort, die der Fragesteller dann gleich markant modifiziert: »›Ich hab’s von der Natur!‹ ›Jawohl, von der Gemperleinschen Natur!‹«37 Während der Republikaner von der Natur im Allgemeinen spricht (wie im einleitenden Passus über die Gemperlein’sche Familientradition übrigens auch die Erzählinstanz), geht der Monarchist von einer sozial stratifizierten Natur aus. Das Konzept von einer familienspezifischen Natur steht dem der biologischen Vererbung sehr 34 Diese Ausführungen über ein Familiensyndrom erinnern stark an diejenigen, die Adalbert Stifter an den Anfang seiner 1864 veröffentlichten, späten Erzählung »Nachkommenschaften« setzt, deren ironischer Ton allerdings noch weit ausgeprägter ist. Der Nachkomme, von dem Stifter erzählt, versucht aus der Art zu schlagen. Doch holt ihn die Tradition schließlich wieder ein. 35 Vgl. von Ebner-Eschenbach, Marie: Die Freiherrn von Gemperlein (Anm. 8), S. 275. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 287.

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nahe, womit allerdings nicht kompatibel ist, dass der adelsstolze Friedrich Vererbung für ein Vorrecht von Menschen ›von Familie‹ zu halten scheint. Die Kontroverse – die Ebner-Eschenbach in einem einzigen Wort zu komprimieren versteht – ist nur eine unter vielen, die allesamt vorführen, wie ein Phänomen auf unterschiedliche Weise hergeleitet werden kann, je nach der politisch-weltanschaulichen Einstellung. Der gewiefte Ideologe kann für alles eine konforme Begründung finden, was beweist, wie beliebig solche Begründungen sind. Wie es kommt, dass die beiden jüngsten Sprösslinge unter den zwei politischen Lagern, die ihre Dynastie zur Auswahl stellt, unterschiedliche auswählen, enthält uns Ebner-Eschenbachs Erzählung vor. Dies nährt den Verdacht, dass die beiden eher zufällig in den Farbtopf ihrer politischen Couleur gefallen sind und die Wahl in erster Linie mit dem Wunsch zu tun hat, sich gegenseitig zu unterscheiden. Die Berufswahl, die Friedrich zur Ausbildung an die Militärakademie in Wiener-Neustadt und Ludwig an die Universität Göttingen führt, ist ja dann schon die erste Konsequenz der Richtungsentscheide. Die Sturheit, mit der die beiden auf ihre Parteistandpunkte pochen, kann vielleicht gar als Kompensation eines mangelnden persönlichen Bezugs dazu gedeutet werden. Zur Unnachgiebigkeit beigetragen haben dürfte auch die vor dem Rückzug auf das Landgut gewonnene Einsicht, »daß für sie in der Welt nichts zu suchen, daß Friedrichs Zeit vorüber und Ludwigs Zeit noch nicht gekommen war«.38 Man fragt sich hier allerdings, warum frühere Gemperleins diesen Schluss nicht auch schon gezogen haben, jedenfalls jene, die dem machtkritischen Lager angehörten. Friedrich und Ludwig stehen zwar noch in der Familientradition, indem sie mit Streitlust die beiden politischen Lager vertreten, denen auch ihre Vorfahren abwechselnd angehörten. Wenn sie sich aber aus dem öffentlichen Kampf zurückziehen und die politische Auseinandersetzung in den privaten Raum verlegen, werden sie zu sterilen Prinzipienreitern und sind ebenso wenig die Kinder ihrer Vorfahren wie die Weidelich-Zwillinge. Die Zufälligkeit von Parteizugehörigkeiten wird in Kellers Roman durch die Szene, in der die Weidelich-Zwillinge diese auswürfeln,39 direkt und drastisch vor Augen geführt. Die Konsequenz ist hier nicht Sturheit, sondern völlige Indifferenz. Die jungen Männer nehmen die mit der Mitgliedschaft in unterschiedlichen Parteien gewonnene Differenz und Honorabilität zum Anlass, sich etwas anders zu kleiden und zu frisieren. Vor allem die bald erworbenen Parlamentsmandate erlauben ihnen, ihre rein egoistisch motivierten Machenschaften unter dem Mäntelchen eines Engagements für die öffentliche Sache zu verbergen. Anders als bei Ebner-Eschenbach gibt es in Kellers Roman auch die positiven Gegenbilder, allen voran das des Titelhelden. Martin Salanders Un38 Ebd., S. 276. 39 Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 134 – 136.

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eigennützigkeit und sein Verantwortungsbewusstsein bei der Ausübung seiner politischen Mandate wird an keiner Stelle in Zweifel gezogen. Höchstens sein überschießender Idealismus ist bisweilen Gegenstand freundlicher Ironie. Diese geht nicht selten von seiner Frau aus, etwa wenn diese beschließt, ihre bereits zitierten Überlegungen zur Vererbung für sich zu behalten, aus Furcht, ihr Mann könnte daraus gleich wieder eine erziehungspolitische Initiative ableiten. Der Roman vermag keine glaubwürdige Alternative zu der Art aufzuzeigen, wie Martin Salander politisiert, schon gar nicht anhand der politischen Abstinenz seines Sohnes. In den beiden Texten bringt die Aufmerksamkeit für Fragen der Vererbung und der Dynastie markante Brüche zutage. Die Söhne und die Töchter schlagen ihren Eltern nicht mehr nach. Sie treten auch nicht mehr wirklich in deren Fußstapfen und haben selber auch keine Kinder mehr.

Politik Während Keller einen politischen Betrieb darstellt, in dem öffentliche Belange verhandelt werden und sich immer neu die Frage stellt, ob die Akteure dabei die Sache im Blick haben oder nur ihre privaten Interessen, finden die politischen Auseinandersetzungen der Gemperlein-Brüder nur noch im privaten Raum statt. Es ist ein reiner Ideenkampf, der, vielleicht abgesehen von den verunglückten Brautwahlen, keinerlei Konsequenzen hat und höchstens gefällte Entscheidungen nachträglich ideologisch unterfüttert. Dass die Brüder bei der Verwaltung ihres Gutes nie in Konflikt miteinander geraten, beweist, dass sie nach Prinzipien handeln, die den meinungspflichtigen Begründungen vorausliegen. Das wird an ihrem Umgang mit dem Personal aufgezeigt. Sie sind sich einig, wie der sich zu gestalten habe, nicht aber, welches dafür die richtige Begründung sei: Sie forderten viel, aber niemals ein Unrecht; sie waren oft unerbittlich hart, aber sie ehrten in dem Geringsten, ja noch in dem Unverbesserlichen – den Menschen. »Weil ich höher stehe als der arme Teufel, mein Nächster, und in ihm einen Schutzbefohlenen respektieren muß«, sagte Friedrich. »Weil ich seinesgleichen bin«, sagte Ludwig, »und sogar in dem verzerrten Ebenbilde meine Züge wiederfinde.«40

Damit nimmt die Erzählung eine klare Trennung vor zwischen dem Handeln und dem Reden darüber, zwischen Grundeinstellungen und deren Rationali40 Vgl. von Ebner-Eschenbach, Marie: Die Freiherrn von Gemperlein (Anm. 8), S. 280 f.

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sierungen. Diese erscheinen als etwas Nachträgliches und Willkürliches, wogegen jenen durch die markante Scheidung ein Zug ins Instinkthafte zugewiesen wird. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Umgang mit Tieren, der für Gutsbesitzer eine große Rolle spielt, eine besondere Bedeutung. Er steht im Zentrum der turbulenten Schlussszene. Ludwig macht sich dabei der Tierquälerei schuldig. Er setzt sich gegen alle Vernunft in den Kopf, das Nachbargut, wo er mit Friedrich der gemeinschaftlich angebeteten jungen Frau eine Aufwartung machen will, über eine, für das Gespann viel zu enge und steile Abkürzung zu erreichen. Dass Friedrich sich zum Anwalt des gesunden Menschenverstands macht, bestärkt Ludwig nur noch in seinem Starrsinn. Der Unfall, der dadurch mutwillig herbeigeführt wird, führt in drastischer Weise die katastrophalen Konsequenzen eines Handelns vor Augen, das von einem realitätsfernen Apriori geleitet ist. Ludwigs Reue über sein Tun, das Friedrich nur dank unwahrscheinlichen Glücks nicht mit dem Tod bezahlen muss, bildet die Grundlage für die Versöhnung der beiden Brüder, die darin besteht, dass sie sich von ihren Ideologien emanzipieren. Die Erzählung begegnet der Parteilichkeit der Brüder anfänglich mit viel Unparteilichkeit, was nicht nur auf Neutralität beruht, sondern auch auf einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Parteilichkeit. Wenn die Brüder dann aber am Schluss zu wirklichen Antagonisten werden und so die Novelle zu einem Ende kommen lassen, wird das Verhältnis der Brüder nicht mehr länger als Symmetrie der Torheit dargestellt. Friedrich, der ältere, darf jetzt als der weisere und überlegenere hervortreten. Das nötigt Ludwig den anerkennenden Ausruf ab: »›Dieser Friedrich! Das ist ein Mensch!‹«41 Damit spricht die Erzählung schließlich der konservativen Position eine Überlegenheit vor der republikanischen zu. Doch tritt diese Parteinahme hinter die grundsätzliche Skepsis gegen Parteimeinungen zurück. Wenn Ludwig in seinem Bruder, den er bisher immer als den enragierten Monarchisten bekämpft hat, einfach einen Menschen sehen kann, dann gibt dies zu verstehen, dass Verständigung, Humanität jenseits politischer Programme und Ideologien zu finden sei. Damit ist man aber – das gehört zur Vielschichtigkeit des Schlusses dieser Novelle – weit von dem öffentlichen Streit abgekommen, in dem sich das Geschlecht der Gemperlein früher auszuzeichnen wusste, und in dem es lebendig blieb und sich immer wieder zu erneuern vermochte. Wenn die Brüder Frieden schließen und nicht mehr verbissen ihren Standpunkt vertreten, dann fallen sie aus der Familientradition. Die Versöhnung – das ist der Wermutstropfen an diesem Happy-End – bedeutet auch das Ende der alten, angesehenen Familie. Bedeutet Friede das Ende der Geschichte?

41 Ebd., S. 322.

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Auch der zynische Umgang der Weidelich-Brüder mit ihrer Parteizugehörigkeit rückt den Parteienstreit in ein kritisches Licht und relativiert die Gegensätze zwischen den Altliberalen und den Demokraten, den beiden Parteien, die den politischen Alltag des Kantons Zürich bestimmten, als Keller von 1862 bis 1876 in seiner Funktion als Staatsschreiber mitten darin stand.42 Dazu passt der allgemeine Relativismus, dem Arnold Salander das Wort redet. Sein Leitspruch ist: »C’est chez nous comme partout.«43 Gerade weil Arnold Salander aber so offensichtlich als Hoffnungsträger aufgebaut wird, ist seine Blässe nicht zu übersehen.44 Ihm mehr Profil zu geben und damit eine positive Zukunftsperspektive zu entwerfen, war wohl das Ziel einer vorübergehend geplanten, aber bezeichnenderweise nicht realisierten Romanfortsetzung mit dem Titel »Arnold Salander«.45 In das Happy-End des Romanschlusses, wie er jetzt vorliegt, mischt sich damit aber ein noch viel dickerer Wermutstropfen, als ihn Ebner-Eschenbach ihrem Novellenschluss verabreicht. Von einem Jenseits der Menschlichkeit hinter der Politik zu träumen, ist in einem Kontext, in dem Ludwig von Gemperleins republikanischen Ideale so gut wir verwirklicht sind, erst recht fehl am Platz. Die beiden Werke, Marie von Ebner-Eschenbachs Novelle und Gottfried Kellers Roman, nutzen die Darstellung von gleichen Geschwistern zur Erzeugung von Komik, sei es in Verwechslungsszenen, sei es in Szenen, in denen sich zwei Brüder beharrlich dagegen wehren, ihre Nähe einzugestehen. Es wurde hier untersucht, wie die zwei Erzähltexte Fragen, die sie ihrer Zeit schulden, aber nicht nur in dieser Zeit virulent waren, aufgreifen: Was ist Individualität und wie ist es darum in der gesellschaftlichen Moderne bestellt? Wie verträgt sich das Konzept Individualität mit dem Konzept Vererbung? Kann Vererbung in einer Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche noch für Kontinuität sorgen? Wie kommen Individuen zu ihren politischen Meinungen? Die beiden Erzählungen verfügen bei all ihrer Plausibilität über einen sehr hohen Komplexitätsgrad. Zu erwägen, wie sie zu den genannten Fragen stehen, und wie sie diese beleuchten, verlangt einen, wie sich zeigte, beträchtlichen Aufwand. Als literarische Texte 42 Vgl. dazu das Kapitel »Besonders: Zeitgeschehen in ›Martin Salander‹«. In: Keller, Gottfried: Martin Salander. Apparat. Hg. v. Thomas Binder u. a. In: Morgenthaler, Walter (Hg.): Gottfried Keller. Sämtliche Werke (Anm. 1). Bd. 24, S. 41 – 56, sowie Müller, Dominik (1991): Struktur und Gehalt [zu Martin Salander]. In: Böning, Thomas u. a. (Hg.): Gottfried Keller. Sämtliche Werke. In sieben Bänden. Bd. 6: Sieben Legenden. Das Sinngedicht. Martin Salander. Hg. v. Dominik Müller. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (Bibliothek deutscher Klassiker 68), S. 1125 – 1139. 43 Keller, Gottfried: Martin Salander (Anm. 1), S. 338, S. 342. 44 Dazu Utz, Peter (1990): Der Rest ist Bild. Allegorische Erzählschlüsse im Spätwerk Gottfried Kellers. In: Söring, Jürgen (Hg.): Die Kunst zu enden. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang, S. 65 – 77, hier S. 69 – 71. 45 Keller, Gottfried: Martin Salander. Apparat (Anm. 42), S. 39.

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von Rang verweigern sie die eindeutigen und einseitigen Antworten. Sie verhandeln zudem mit den genannten Fragen auch ihre eigene Poetologie. Figurengestaltung, Handlungsführung sowie Handlungsmotivierung hängen davon ab. Dabei ist es nicht von Belang, ob Marie von Ebner-Eschenbach und Gottfried Keller von der Sensibilität für Zeitfragen zur Erneuerung traditioneller Erzählverfahren verleitet wurden oder ob ihre mit Verantwortung betriebene Erzählkunst sie für Zeiterscheinungen sensibilisierte.

Hannes Fricke

Notwendig-unlösbare Personenkonstellationen: Batman und Joker, Mythologisierung, Alternativlosigkeit und politische Brisanz Ich habe bewiesen, dass zwischen mir und allen anderen kein Unterschied besteht. Es braucht nur einen einzigen miesen Tag, um den gesündesten Mann in den Wahnsinn zu treiben. Nur so weit ist die Welt von dem Punkt entfernt, an dem ich mich befinde. Nur einen miesen Tag. Du hattest irgendwann einen miesen Tag, habe ich Recht? Ich weiß, dass ich Recht habe. Du hattest einen miesen Tag, und alles hat sich verändert. Warum solltest Du Dich auch sonst als fliegende Ratte verkleiden? Du hattest einen miesen Tag, und das machte Dich wahnsinnig, so wahnsinnig, wie alle anderen. Nur, Du wolltest das nicht zugeben! Du musstest vorgeben, dass das Leben einen Zweck hat, dass dies Rumgewürge irgendeinen Sinn macht. Jesus, ich könnte kotzen! Joker zu Batman in »The Killing Joke«1

1.

Ein paradigmatischer Fall: »Le Chat« von George Simenon

George Simenons (1903 – 1989) »Le Chat« von 1967 ist ein grausiger Roman über ein unlösbar ineinander verkeiltes alterndes Ehepaar.2 Marguerite und Emil 1 Moore, Alan / Bolland, Brian (2005): Batman. The Killing Joke. The Deluxe Edition. New York: DC (Erstaufl. 1988), o. S. [S. 43] (Alle englischsprachigen Zitate im Folgenden von Hannes Fricke übersetzt.) 2 Hier wie im Folgenden verstehe ich fiktionale Figuren prinzipiell als verstehbare Figuren bzw. als Personen mit eigener Kontur und eigenem Charakter : Fiktionale Figuren sind nämlich (wie so oft behauptet wird) nicht prinzipiell, sondern höchstens graduell etwas anderes als reale, lebendige Figuren, denn sie selbst können nur durch Anwendung von Kriterien, die wir verwenden, um reale Personen zu verstehen, verstanden werden. Ein Autor hat all sein Wissen um Personen in eine Person gegossen, und ein Leser dekodiert dieses Wissen eben aufgrund seiner Erfahrungen mit realen Menschen. Es mag ein gradueller Unterschied bestehen: Ich kann nicht alles über eine fiktionale Figur wissen, und die Möglichkeiten des Nachforschens sind limitiert. Doch begegnet dies Problem auch im Umgang mit realen Personen, denn auch da kann ich nicht alles wissen und sind die Möglichkeiten der Nachforschung limitiert. Vgl. dazu Fricke (2013): »The liquidation of the particular«: On Anxiety, the Misuse of Trauma Theory, Bourgeois Coldness, the Absence of Selfreflection of Literary Theory, and »something uncomfortable and dangerous« in Connection with Stefan Zweig’s »Schachnovelle«. In: Journal for Literary Theory 7, S. 167 – 198, bes. »Literary Research and Problems with Fictional Characters, S. 185 – 189.

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Bouin sind miteinander in zweiter Ehe verheiratet. Er, ein pensionierter Handwerker, ist 65, sie ist 63 Jahre alt. Sie verzweifelt an ihrem Mann, der im Vergleich zu ihrem ersten Lebensgefährten, einem distinguierten Musiker, ungehobelt und ungebildet ist. Sie vergiftet seine Katze. Er nimmt Rache, indem er ihrem Papagei die Schwanzfedern ausreißt. Der Papagei verendet, Marguerite lässt den toten Vogel ausstopfen und stellt ihn zu Hause als ständige Mahnung auf. Beide schweigen einander an, kommunizieren nur noch mit Hilfe handbeschriebener Notizzettel, können (und wollen anscheinend auch) nicht mehr aus ihren Rollen heraus: »Il avait un peu piti¦ d’elle. Puisqu’elle ¦tait incapable de faire les premiers pas, il ¦tait tent¦ de les faire. Lui aussi ouvrait la bouche, pour dire, par exemple: – Nous nous conduisons comme des enfants …«3 Emil versucht am Ende vergeblich, der Situation wenigstens räumlich zu entkommen: Er flieht zu Nelly, einer Gastwirtin, die ihn auch bei sich aufnimmt, der aber von vornherein klar ist, dass er letztlich doch zu Marguerite zurückkehren wird. So sagt sie ihm auf den Kopf zu: »Vous jouez tous les deux au chat et — la souris …« (Le Chat, S. 173).4 Und auch Marguerite vermisst Emil: Sie erscheint jeden Tag auf der Straße vor der Wirtschaft. Ihr Ehemann kehrt am Ende dann auch tatsächlich zurück. Doch können beide nicht mehr von ihrem alten Spiel lassen: Ni l’un ni l’autre n’avait le droit de d¦sarmer. C’¦tait devenu leur vie. Il leur ¦tait aussi naturel, aussi n¦cessaire, de s’envoyer des billets venimeux, qu’— d’autres d’echanger des politesses ou des baisers. (S. 180)5

Am Ende stirbt Marguerite an einem Herzinfarkt, Emil bricht neben ihr zusammen und findet sich im Krankenhaus wieder : »Il ¦tait … Il cherchait le mot … Il ne trouvait pas … Il n’¦tait plus rien …« (S. 191).6 »Le Chat« ist ein literarisches Meisterwerk: Simenon zeigt in diesem Roman nicht nur seine z. B. aus den Maigret-Romanen bekannte und immer wieder verblüffende Fähigkeit zu Empathie gegenüber seinen Figuren (d. h. ihm gelingt eine detaillierte Beschreibung, ohne vorschnell moralisierend zu werten, ohne 3 Simenon, George: Le Chat. Paris: Presses de la Cit¦ 2010 (Nachdruck der 1. Aufl. Paris: Presses de la Cit¦ 1967), S. 117. (»Ein wenig hatte er Mitleid mit ihr. Es war ihr unmöglich, den ersten Schritt zu tun. Er hätte ihn gern getan. Er hätte zum Beispiel gesagt: ›Wir benehmen uns wie Kinder…‹« In: Simenon, George: Die Katze. Zürich: Diogenes 2000, S. 120). Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. 4 »Ihr spielt Katz und Maus, ihr beide.« (Die Katze, S. 180) 5 »Keinem von beiden war es mehr möglich, die Waffen niederzulegen. Es war ihre Art geworden, miteinander zu leben. Es war für sie ebenso selbstverständlich, ebenso notwendig, sich giftige Bemerkungen auf Zetteln zukommen zu lassen, wie für andere, Höflichkeiten und Küsse auszutauschen.« (Die Katze, S. 188) 6 »Er war … Er suchte das richtige Wort und fand es nicht … Er war nichts mehr.« (Die Katze, S. 198)

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dabei jedoch Kompromisse in der Darstellung einzugehen oder ungenau zu werden). Auch seine erzähltechnische Meisterschaft kommt voll zur Geltung: Er setzt die Form des style indirect libre (bzw. der Erlebten Rede) virtuos ein, um vom Erzählerkommentar in eine subjektiv gefärbtere Personeninnenansicht zu wechseln. Ihm gelingt dabei das Kunststück, sowohl Innenansicht aus der Perspektive der jeweiligen Person als auch Außenansicht (d. h. Vermutungen der Hauptprotagonisten darüber, was ihr Gegenüber im Moment möglicherweise denkt, oder Vermutungen des Erzählers) präzise voneinander zu trennen. Dies ist umso schwieriger, da der style indirect libre durch die äußere Form, also dritte Person Singular und Plural Indikativ und imparfait bzw. pass¦ simple bzw. Präteritum im Deutschen, vom Erzählerkommentar formal gesehen nur aufgrund dieser äußerlichen grammatikalischen Kriterien gar nicht zu unterscheiden ist: Doch durch minimale Andeutungen schafft es Simenon unmittelbar deutlich zu machen, aus wessen Perspektive die jeweilige Situation geschildert wird. Die Eindimensionalität der Form unterstreicht damit nochmals die Unausweichlichkeit der Situation: Formale Variation (etwa eine Ich-Erzählung mit Innerem Monolog oder Stream of Consciousness-Anteilen und zu dieser in Kontrast gesetzter Erlebter Rede) hätte die Situation aus der Sichtweise einer einzelnen, also durch diese Perspektive privilegierten Person, damit als prinzipiell immer subjektiv gefärbt und prinzipiell anders interpretierbar entwickelt – als ob es einen Ausweg geben könnte.

Exkurs I: Destruktive Beziehungen und Paartherapie7 So bedrängend und quälend die Beziehung der beiden Alten für diese war, so war diese Beziehung doch ihre eigentliche Lebensader, letztlich ihr Lebenssinn. Ein oberflächlicher Blick auf ausgewählte Fachliteratur zur Paarberatung zeigt, dass solche Strukturen meist anders, nämlich eben als ausschließlich destruktive, gedeutet werden, also als Strukturen, die es zu überwinden gilt.8 Jochen Peichl führt als Gründe für solche destruktiven Strukturen unter anderem »Erfahrungen mit Gewalt in Herkunftsfamilien«, »mangelnde Alternativen zum Leben mit dem gewalttätigen Vater« für die Partnerin sowie aus der Perspektive des Mannes Angst vor »Stigmatisierung in der Gesellschaft« bei Verlassen der ei7 Für wertvolle Hinweise danke ich Volker Kleine-Tebbe, Andra Ploner, Luise Reddemann und Samantha Speidel. 8 Röhr, Heinz-Peter (2012): Wege aus der Abhängigkeit. Destruktive Beziehungen überwinden. 7. Aufl. München: dtv, passim, geht es z. B. darum, solche Beziehungen gerade zu überwinden, die etwa Wehrli als abnormale Beziehungen bzw. »schlechte Partnerschaften« versteht. Vgl. Wehrli, Ambros (2008): Verhängnisvolle Abhängigkeiten in Beziehungen. Norderstedt: Books on Demand, S. 3.

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genen Frau an.9 Doch auch der Begriff der »projektiven Identifikation«10 scheint nicht auf Marguerite und Emil zu passen (es geht in der von Simenon geschilderten Beziehung allem Anschein nach nicht darum, schlechte Selbstanteile auf den anderen zu projizieren, aber auch ebenso wenig um »Kompensationsstrukturen«, wie Peichl11 analysiert). Auch Astrid Riehl-Emdes Ausführungen helfen wenig weiter, geht sie doch davon aus, dass solche destruktiven Beziehungen Ambivalenzen auszutarieren versuchen, etwa »Autonomie vs. Bindung«, denn es gehe »um den Wunsch nach Nähe und die Befürchtung, die eigenen Grenzen zu verlieren«. Die »besondere Intensität destruktiver Beziehungen« resultiere jedoch »oftmals daraus, dass auf einen gewalttätigen Ausbruch eine Phase der Versöhnung folgt«.12 Diese Ansätze, die etwa auf die übergroße Sehnsucht nach »Anerkennung« durch das Gegenüber im Extremfall als Geste eines »gestörten Narzissmus« abheben, die in Gewalt enden kann,13 helfen letztlich hier zu keinem tieferen Verständnis, denn die Tatsache, dass ein Verlassen der Beziehung den Personen ihren eigentlichen Lebensnerv entzieht bzw. sie sterben lässt, wird nicht problematisiert geschweige denn erklärt. Es gibt in der Weltliteratur einige solcher bösartigen, ineinander verstrickten, anscheinend unlösbar aneinandergeketteten Figuren (von Achill und Hektor über Kriemhild und Hagen, Ahab und Moby Dick, Sherlock Holmes und Dr. Moriarty bis zu Martha und George aus »Wer hat Angst vor Virginia Wolf ?«, um nur einige wenige Konstellationen zu nennen). Eine der faszinierendsten, langlebigsten und am häufigsten neu ausformulierten bzw. gedeuteten solcher unauflösbar-verbissenen Personenkonstellationen ist diejenige zwischen Batman und Joker, um die es im Folgenden gehen soll.

9 Peichl, Jochen (2008): Destruktive Paarbeziehungen: Das Trauma intimer Gewalt. Stuttgart: Klett-Cotta (Leben lernen 214), S. 176. 10 Ebd., S. 178 f. 11 Ebd., S. 198. 12 Riehl-Emde, Astrid (2007): Wenn Liebe mal nicht gesund macht. Die Paradoxien der Liebe und die Perspektive der Paartherapie. Vortrag im Rahmen der 3. Grazer PsychiatrischPsychosomatischen Tagung in Lindau. Leitthema: »Macht Liebe gesund?«, S. 1 – 16, hier S. 9, S. 12 (http://www.lsf-graz.at/cms/dokumente/10077889_2172212/d35deaff/Astrid_RiehlEmde.pdf, 10. 3. 2014). 13 So etwa Löwer-Hirsch, Marga (2009): Kampf um Anerkennung – Gewalt in der Partnerschaft. Vortrag gehalten am 20. April im Rahmen der 59. Lindauer Psychotherapiewochen 2009, S. 1 – 11, hier S. 6 (http://www.lptw.de/archiv/vortrag/2009/loewer-hirsch_marga.pdf, 10. 3. 2014). Ebenso wenig weiter hilft Garbarino, James / Sebes, Janet / Schellenbach, Cynthia (1984): Families at Risk for Destructive Parent-Child Relations in Adolescence. In: Child Development 55/1, S. 174 – 183.

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2.

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Batman und Joker als Figuren mit mythischen Qualitäten: Das Immer-wieder-Neuerzählen Batman: Ich werde Dich töten! Joker: Du Idiot! Du hast mich gemacht, erinnerst Du Dich? […] Batman: Du hast meine Eltern getötet! Joker: Was? Wovon redest Du überhaupt? Batman: Ich habe Dich gemacht, aber Du hast mich zuerst gemacht. Joker: Hey, Fledermaus-Hirn! Ich war ein Kind, als ich Deine Eltern getötet habe. Wenn ich sage, ich habe Dich gemacht, musst Du gerade sagen, Du hättest mich gemacht … Wie kindisch soll’s denn bitte noch werden? Joker und Batman im abschließenden Showdown in Burtons Film »Batman« von 1989

2.1

Figur und Quellen von Batman

Batman erblickte 1939 das Licht der Welt14 – als einer der ersten Superhelden, kurz nach dem legendären Superman. Als Außerirdischer pflegte der seine Doppelidentität als kleiner Journalist. Jules Feiffer (*1929), vielleicht der erste Superhelden-Theoretiker, frotzelte 1965, ob Superman etwa ein verborgener Masochist sei, da er ein ordentliches, kleines Leben (nämlich das Leben seiner Leser) um jeden Preis führen wolle, leider aber jeden Morgen als Superman aufwache, also anders lebt als Batman, der sich als normalsterblicher, wenn auch superreicher Wayne immer erst in sein Superhelden-Kostüm zwängen muss:15 Batman bot von Beginn an die kompliziertere, die andere, dunkle Seite. Batmans Erfolg und Langlebigkeit überraschte auch seinen Erfinder, Bob Kane (1916 – 1998), der zusammen mit seinem alten Schulkollegen William »Bill« Finger (1914 – 1974) die Figur aus der Taufe gehoben hatte. Doch erst im Verlauf der ersten Heftausgaben schälte sich ein bestimmtes Setting und eine genauere Anlage der Figur aus: Im ersten Heft der »Detective Comics«, in denen Batman auftrat (DC #27 vom Mai 1939) mit dem Titel »The Case of the Chemical Syndicate« wurde der Batman eher als eine Freizeitbeschäftigung des märchenhaft wohlhabenden Bruce Wayne angelegt. Erst in DC #33 bzw. im Heft vom 14 Teile der folgenden Betrachtungen stammen aus Fricke, Hannes (2009): Batmans Metamorphosen als intermedialer Superheld in Comic, Prosa und Film: Das Überleben der mythischen Figur, die Urszene – und der Joker. In: iasl online (Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur : http://www.iaslonline.de/), Link unter »Aufsätze«. 15 Vgl. Feiffer, Jules (2003): The Great Comic Book Heroes. Seattle: Fantagraphics (1. Aufl. 1965), S. 12.

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November 1939 wurde eine Begründung für Waynes / Batmans Aktivitäten nachgeliefert: Als Kind wurde Wayne Zeuge der Ermordung seiner Eltern auf offener Straße. Nach einem Kinobesuch der Familie wurden Bruces Eltern von einem Straßenräuber überfallen und erschossen. Die Zerstörung der kindlichen Illusion, in einer sicheren Welt letztlich unverletzlich zu sein, dürfte auch bei allergrößten Ressourcen nicht ohne Auswirkungen auf das folgende Leben des Kindes geblieben sein. Und vermutlich würde der Junge ähnlich wie andere Traumatisierte später pseudo-kausale Erklärungsmodelle suchen, um sich die eigentlich unerklärliche Situation doch irgendwie zu erklären (z. B. dadurch, dass er, der eigentlich Opfer ist, entscheidende Mitschuld trägt) – obwohl die Familie eigentlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort und dann schwächer als der Täter war. Man kann in diesem Sinne alle Handlungen Batmans als Versuch verstehen, diese Ur-Tat ungeschehen zu machen. Die kurze Sequenz gehört zu den Kernstücken des Mythos: Unvermittelt steht der Straßenräuber dem Elternpaar gegenüber. Schon im nächsten Bild wird der Vater erschossen. Die Seite schließt mit der sich über ihren sterbenden Mann beugenden Frau. Die folgende Seite zeigt den verzweifelt neben den Leichen stehenden Sohn, der dann nachts vor dem Bett kniend Rache schwört. Die zweite Zeile der zweiten Seite zeigt seine Forschungen bzw. seine Ausbildung in einem Labor und sein Körpertraining. Die letzte Zeile schildert die berühmte Szene, in der Wayne durch eine durch das geöffnete Fenster hereinfliegende Fledermaus auf die Idee für sein Kostüm gebracht wird. Das letzte Einzelbild bzw. Panel der zweiten Seite zeigt das Ergebnis: Batman ist geboren. Dennis O’Neil (*1939), lange Zeit verantwortlich für Batman beim Rechteinhaber DC, formulierte in den siebziger Jahren eine (bisher nicht veröffentlichte) »Bat-Bible«, die Grundlage für Neuinterpretationen der Figur sein soll. Brookers an die »BatBible« angelegte Kurzdefinition fasst die grundlegenden Eigenschaften zusammen:16 Batman ist Bruce Wayne, ein Millionär, der sich mit einem Bat-Kostüm verkleidet und Kriminalität bekämpft. Er hat spezielle Fähigkeiten, ist körperlich in bester Verfassung, stark und sehr intelligent. Er lebt in Gotham City. Er bekämpft Kriminalität aus dem Grund, weil seine Eltern getötet wurden, als er noch ein Kind war. Er wird oft von seinem jungen Assistenten Robin unterstützt. Er bekämpft Schurken wie den Joker.

Prägend sind also die Doppelexistenz (die »secret identity«), die durch eine Maske bzw. ein Kostüm gewahrt wird, sowie der Kampf gegen Kriminalität, der prinzipiell nie endet (und im Prinzip immer gegen dieselben Gegner geht). Hinzu kommt auf seinem persönlichen Rachefeldzug der Batman eigene Mo16 Brooker, Will (2005): Batman Unmasked. Analyzing a Cultural Icon. New York: Continuum, S. 40.

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ralkodex, keine Schusswaffen zu verwenden und niemanden zu töten. Wie Dick Giordano (*1932), einer seiner späteren Schöpfer, bemerkte, ergibt sich für die Gesellschaft also nur zufälligerweise ein Nutzen aus diesem Kampf: Batman ist nämlich letztlich nicht darauf aus, die Gesellschaft zu verändern. Das aus diesem Grundansatz zwangsläufig resultierende Verständnis von Kriminalität und Gewalt ist entsprechend seltsam: Kriminalität bedeutet entweder die Kriminalität der Straße (etwa Diebstahl, Mord oder Entführung – wie in der Ur-Szene) oder die kriminellen Versuche der Gegenspieler Batmans, die in direkter Auseinandersetzung mit ihm Macht (oft über Gotham City) gewinnen wollen. Batman selbst hindert durch seine Privatfehde also letzten Endes die Gesellschaft daran, »besonders der Unangemessenheit des Rechtssystems und seiner Polizei ins Auge zu blicken«.17 Viele der Gegenspieler scheint es tatsächlich nur deshalb zu geben, weil es Batman gibt, da nur mit ihm sich die Mühe lohnt, die Klingen zu kreuzen. Batman hat sich geschworen, niemals zu töten, er prügelt sich lieber. Was bedeuten aber diese Prügel? Horkheimer und Adorno hatten in ihrer »Dialektik der Aufklärung« den frühen Walt-Disney-Filmen vorgeworfen, sie hämmerten vor allem »die alte Weisheit in alle Hirne, daß die kontinuierliche Abreibung, die Brechung allen individuellen Widerstandes, die Bedingung des Lebens in dieser Gesellschaft« sei. Donald Duck erhalte »wie die Unglücklichen in der Realität« seine »Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen«.18 Doch hier prügelt umgekehrt der Held auf das (angeblich) Bedrohliche ein. Im BatmanUniversum erscheint also umgekehrt Gewalt als auf den ersten Blick funktionales Mittel dafür, gegen die unübersichtliche Realität anzugehen: Der letzte Schritt jedoch, nämlich die Vernichtung des Körpers des Opfers allein um dieser Vernichtung willen, blieb lange ausgespart. Der Erfolg der frühen Comic-Serie war derartig überraschend, dass Batman schnell (und das war ungewöhnlich) eine eigene, nach ihm allein benannte HeftSerie erhielt (er weiterhin aber auch in den DC anzutreffen war). Das erste Heft der neuen Reihe »Batman« begann mit der Wiederholung jener kurzen Sequenz von der Ermordung der Eltern von Bruce Wayne (in anderer Farbgebung) aus dem sechsten Batman-Heft der »Detective Comics« und brachte unmittelbar in 17 Nash, Jesse W. (1992): Gotham’s Dark Knight: The Postmodern Transformation of the Arthurian Mythos. In: Slocum, Sally K. (Hg.): Popular Arthurian Traditions. Bowling Green, Ohio: Popular Press, S. 36 – 45, hier S. 39. Wie Nash mit einiger Berechtigung anführt, zeigt sich hier eine Denkweise, die an König Artus’ berühmte Tafelrunde erinnert: Kriminalität ist etwas, das sich ein ›Verbrecher‹ bewusst aussucht. Das Böse steht immer im Gegensatz zur bestehenden, per se bewahrenswerten Gesellschaft, ist damit also vor allem niemals ein Teil dieser Gesellschaft und kann deshalb in Form eines klar umrissenen Feindes eindeutig personalisiert und nur deshalb bekämpft werden. 18 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1988 (1. Aufl. 1944), S. 147.

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diesem ersten Heft mit dem Joker (auch dies ein Novum) den ersten großen und bis heute profiliertesten Gegenspieler auf die Bühne, der in den folgenden zwölf Heften neun Mal auftrat, obwohl er eigentlich am Ende des ersten Heftes hatte sterben sollen (ein Schicksal, vor das ihm der Herausgeber durch Eingriff in allerletzter Minute vor dem Druck durch Abänderung der Geschichte bewahrt hatte).19 Beide Figuren stehen also von Beginn an in allerengster Verbindung. Doch woraus speiste sich diese so widerstandsfähige und gleichzeitig so flexible Figur Batman? Ihre Geschichte wurde von Beginn an durch Übernahmen von Vorbildern oder Details aus verschiedensten Medien geprägt.20 Einige Figuren aus der Literatur standen Pate, so Sherlock Holmes, also Arthur Conan Doyles (1859 – 1930) Fortentwicklung des genialen Detektivs Auguste Dupin von Edgar Allan Poe (1809 – 1849). Pulp-Magazine bzw. Groschenhefte gesellten sich als Ideenlieferanten hinzu. Besonders die aus den Pulps entwickelten Radiosendungen hatten es dem jungen Kane angetan, etwa die Show um »The Shadow« (gesendet von 1931 bis 1949) um einen Kämpfer gegen das Unrecht, der eine Doppelidentität für diese seine Tätigkeit nutzt. Auch Comics hatten das Feld bereitet, so etwa der ebenso athletische wie sparsam bekleidete »Flash Gordon« von Alex Raymond (1909 – 1956), Star einer der frühesten Science-Fiction-Comics-Stories aus Zeitungen, oder Will Eisners (1917 – 2005) »Dick Tracy« mit seinen obskuren, hinreißenden Erzbösewichten. Kane war außerdem ein erklärter Fan von Filmen wie »Little Caesar« von 1931 mit Edward G. Robinson (1893 – 1973) in der Titelrolle über den Aufstieg und rasanten Fall von Rico, einem Mafia-Boss, oder »The Public Enemy« aus demselben Jahr über die Prohibitionszeit, ein Film, der James Cagney (1899 – 1986) berühmt machte: Kane war also begeistert von Filmen über Gangster, die in den 1930er Jahren in Zeiten der Korruption und Misswirtschaft im amerikanischen Staat als Gegenfiguren schnellstens Heldenstatus erlangten. Doppel-Identitäten wie die von »The Shadow« waren schon länger Thema: Spätestens seit Robert Louis Stevensons (1850 – 1894) »The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde« von 1886 (auch dort lebt der Titelheld mit seinem Butler allein in einem Haus und hat sich ein geheimes Laboratorium eingerichtet, um an diesem Ort von einer Identität in die andere zu wechseln) war klar, dass bestimmte Interessen sich nicht mit einer bürgerlichen Identität vereinbaren ließen bzw. es eine Deckidentität für bestimmte Tätigkeiten brauchte (so wie später auch Zorro, der sich wie Batman in einer Höhle zum maskierten Rächer mausert): Der ehrenwerte Dr. Jekyll verwandelt sich in das Tierwesen Hyde, das 19 Vgl. Wallace, Daniel (2011): The Joker : A Visual History of the Clown Prince of Crime. New York: Universe, S. 21. 20 Vgl. zum Folgenden Fricke, Hannes (2009): Batmans Metamorphosen als intermedialer Superheld in Comic, Prosa und Film (Anm. 14), passim.

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nur den eigenen Instinkten gehorcht und seine Gelüste ohne Rücksicht auf Verluste auslebt. Ähnlich nahm der Graf von Monte Christo die titelgebende Zweitidentität im Roman »Le Comte de Monte-Christo« von Alexandre Dumas PÀre (1802 – 1870) von1845/46 an, um sich an seinen Peinigern rächen zu können. Die Doppelung Tier-Mensch ist nun spätestens seit den ägyptischen Gottheiten mit ihren Menschenkörpern und Tierköpfen wie Horus (mit dem Falkenkopf), Annubis (mit Schakalkopf), Thot, dem Gott der Gelehrten (mit Ibiskopf) oder Ra (der falkenköpfige Sonnengott) im kulturellen Gedächtnis der Menschheit aufgehoben. Auch in einigen Romanen der Zeit spielte die Kombination Mensch-Tier eine Rolle, etwa in H. G. Wells’ (1866 – 1946) »The Island of Dr. Moireau« von 1896 über des Titelhelden grausame Experimente an Tieren, um diese durch chirurgische Eingriffe zu Menschen umzuoperieren. Und Bella Lugosi (1882 – 1956) war als Dracula im gleichnamigen Film 1931 als Fledermaus bei seinen Opfern eingesegelt. Faszinierend scheint in dieser Zeit für viele der Gedanke gewesen zu sein, dass man die Darwinsche Evolutionsleiter auch wieder hinuntersteigen können müsse. Besonders Fledermaus-Verkörperungen gab es entsprechend nicht nur bei den Vampiren, sondern in den verschiedensten Formen, etwa als »The Bat« 1934 im Pulp-Magazin »Popular Detective« (verfasst vielleicht sogar von Johnston McCulley [1883 – 1958], dem Erfinder von Zorro), der eine Maske mit schwarzem Fledermausemblem trägt und zu dieser Maske wie Batman durch eine in ein Fenster fliegende Fledermaus inspiriert wurde, oder als (zweite) »Black Bat« aus dem Juli 1939 um einen Staatsanwalt, der mit ähnlichem Schicksal wie Batmans Erzfeind Two-Face, nämlich nach einem Säureangriff auf sein Gesicht, mit Maske und Cape auf eigene Rechnung gegen Verbrecher loszog. Bisher fand eine andere Quelle noch keine Beachtung (zumal Kane diese nicht nannte): In dem Comic »Prince Valliant«, der als Strip in amerikanischen Tageszeitungen erschien, findet sich im Jahrgang 1937/38 ein Abenteuer, in dem Valliant (hierzulande bekannt als Prinz Eisenherz) eine Burg dadurch einnimmt, dass er sich die Haut einer getöteten Gans über den Kopf zieht, Flügel (wie aufgesetzte Fledermausohren) ansteckt und mit seinem ausgebreiteten Mantel wie eine Fledermaus als »ein Dämon« an einem Seil herabschwingend den bösen Burgherrn derartig erschreckt, dass dieser stirbt.21 Verblüffend ist also die Vielfalt der Quellen, aus der die Figur Batman ihre Energien zieht. Möglicherweise ist dies einer der Gründe dafür, warum die Figur solange überlebt und Neuausdeutungen provoziert hat.

21 Vgl. Foster, Hal: Prinz Eisenherz [1937/1938]. Bd. 1. 3. Aufl. Bonn: Boccola Verlag 2012, S. 94.

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2.2

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Figur und Quellen des Joker

Auch der Joker hat seine Vorgeschichte: Er ist der hartnäckigste und anscheinend auch widerstandsfähigste von Batmans Erzfeinden und erblickte wie gesagt als der erste das Licht der Welt. Ähnlich wie sein Gegenspieler wurde die Geschichte des Joker auch später ausgebaut (grundlegend in DC-Comics #168 in »The Man Behind the Red Hood«) und seine Handlungsweise und vor allem sein Aussehen motiviert: Durchgesetzt hatte sich damit die Version, dass er beim Überfall auf die »Monarch Playing Card Company« in ein Becken mit chemischen Abfällen fiel und so zu seiner weißen Haut, seinen roten Lippen und dem grünen Haar kam.22 Nicht zu Unrecht bezeichnen McCue und Bloom den Joker als das »objektive Korrelat zu Batmans Wunsch, zu bestrafen«.23 In beiden Figuren erkenne man »den Impuls im Kapitalismus«, also einen von Zeit und Raum und Realität abgezogenen »Geist des Unternehmertums«: Joker bietet die Ware Verbrechen an, die Batman unersättlich wie ein Vampir konsumiert.24 Auch die Quellen für die Anlage der Figur sind vielfältig (und wiederum bleibt unklar, wer welchen Anteil beigesteuert hat). Vermutlich hat die Verfilmung des Victor-Hugo-Klassikers von 1869 »L’Homme qui rit« als »The Man who laughed« von 1928 unter der Regie von Paul Leni (1885 – 1929) deutlich Einfluss genommen. Finger soll Fotos der Verfilmung beigesteuert haben: Conrad Veidt (1893 – 1943), berühmt durch seine Rolle im Stummfilmklassiker »Das Cabinet des Dr. Caligari«, spielt einen Zirkus-Star, der als Kind von sogenannten Comanchicos entführt wurde, die diese entführten Kinder mit einem chirurgischen Eingriff bzw. Schnitten in die Mundwinkel für ihre Vorführungen präparierten. Gwynplaine sieht deshalb so aus, als ob er immer lachen würde. Veidt trug für seine Darstellung des Gwynplaine einen Zahnaufsatz mit Haken, die letztlich auch den eigentlichen Grund dafür lieferten, warum der Film als Stummfilm mit Toneinlagen angelegt wurde: Veidt konnte mit den Klammern nicht sprechen (und hatte außerdem einen scheußlichen Akzent). Natürlich gibt es noch eine weitere Version von der Entstehung des Joker : Jerry Robinson (*1922), der auch bei der Entwicklung der Batman-Figur seine Rolle gespielt haben dürfte, von Kane aber anders als Bill Finger nicht genannt wurde, beanspruchte für sich, die Figur nach einer Spielkarte entworfen zu haben. Schließlich führe Fingers Sohn Fred an, die Figur beruhe auf dem Werbezettel für eine Jahrmarktsattraktion auf Coney Island. 22 Vgl. Wallace, Daniel (2011): The Joker (Anm. 19), S. 21 – 27. 23 McCue, Greg S. / Bloom, Clive (1993): Dark Knights. The New Comics in Context. London u. a.: Pluto Press, S. IX. 24 In diesem Sinne spricht Bernardo deshalb von einem »gefährlichem Recycling der Bösewichte«, das niemals enden könne. Vgl. Bernardo, Susan M. (1994): Recycling Victims and Villains in Batman Returns. In: Literature/Film Quarterly 22, S. 16 – 20, hier S. 20.

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Exkurs II: Umberto Eco missversteht Batman und ignoriert den Joker Beide Figuren haben also durchaus eine eigene Geschichte, regen ständig zu Neu- oder Umerzählung dieser Geschichte an – und zwar von Anfang an. Die nachgereichte Biographisierung erweiterte damit ständig den Erzählhorizont, in dem sich beide Figuren bewegen, öffnete diesen für neuerliche Fassungen. Umberto Eco hatte nun sich in den 1960er Jahren bewundernswert früh mit den Grundlagen der Massenkultur und dabei besonders mit Comics bzw. der Figur Superman beschäftigt. Er differenziert dabei zwischen zwei Formen des Mythos: Eine Figur des griechischen Mythos besaß »eine Geschichte«, und »diese Geschichte prägte seine göttliche Physiognomie«. Jedenfalls habe sich »die Geschichte ereignet« und sei »zu einem Abschluß gelangt«. Die Figuren aus den Comics seien hingegen Geschöpfe »der Romankultur«, also nicht beheimatet in »geschlossenem Geschehen«, das »bereits geschehen war«. Romanpersonen leben von der Unvorhersehbarkeit und sind dadurch »verfügbar für unsere Anteilnahme«. Die mythologische Person des Comic befindet sich nun, so Eco, in einer einzigartigen Lage, denn sie muss »einerseits archetypisch sein, bestimmte kollektive Hoffnungen zusammenfassen und deshalb emblematisch [also in einer Kombination aus Bild und Schrift (Hannes Fricke)] in einer Weise fixiert sein, die sie leicht wieder erkennbar macht (eben dies geschieht mit Superman)«. Gleichzeitig muss sie aber »einer Entwicklung unterzogen werden«. Superman sei aber nun ein Held ohne tatsächliche Gegner »und damit ohne Entwicklungsmöglichkeiten«. Nach jeder kurzen Geschichte fange er »konsequenzlos wieder von vorne an«. Würde er demgegenüber »die Handlung an der Stelle wieder« aufnehmen, an der er »sie verlassen, sie unterbrochen hat«, so hätte er »einen Schritt auf den Tod hin gemacht«. So aber lebt er quasi in einer Traumwelt. Darin zeige sich ein Problem: Geschichten können Strukturen anbieten, um »unser Verhältnis zur Realität zu definieren und damit die Realität zu beschreiben«. Das ist bei Superman (und Eco meint hier verallgemeinernd: bei allen Heft-Serien um Superhelden) aber nicht möglich, weil »die verworrene Auffassung der Zeit«, an die die kleinen, in sich abgeschlossen Geschichten der Einzelhefte geknüpft sind, die »einzige Bedingung der Glaubwürdigkeit der Erzählung« ist. Superman sei also ein »Modell der Außensteuerung«, sei »nichts anderes als eines der pädagogischen Werkzeuge dieser Gesellschaft«. Die »Zerstörung der Zeit«, die er betreibt, ist »Teil ihrer Programmatik, nun von den Gedanken eines Programms der Selbstverantwortung abzulenken« und befriedige nur den »Hunger nach Redundanz«. Batman nun wird von Eco mit Superman in einem Atemzug genannt – unter besonderer Berücksichtigung der

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»an Männerbünde erinnernden Lebensbedingungen«, an denen man »Elemente von Homosexualität« erkennen kann.25 In einigen Punkten muss Eco weiterhin Recht gegeben werden, z. B. in Bezug auf das naive Verständnis von Gut und Böse oder von Kriminalität im Comic. Jedoch ist die Übertragung der Untersuchungsergebnisse von Superman auf Batman ungerecht, denn zum einen hat Batman sehr wohl eine Geschichte hinter sich (Kernpunkt dieses immer wieder leicht variiert erzählten Mythos um seine Person ist etwa die Ermordung der Eltern). Außerdem finden sich besonders ab der Mitte der achtziger Jahre verschiedenste Ausdeutungen der Figur, die besonders sein Alter thematisieren (so etwa in Frank Millers »The Dark Knight Returns«). Solche langen (!), in sich geschlossenen Graphic Novels oder auch aufeinander aufbauenden, zusammenhängenden Heft-Serien, die später in Buchform veröffentlicht wurden, entwerfen jeweils ein eigenes Universum für Batman. Besonders diese Großformen konnte Eco mit seinem Instrumentarium aber gar nicht erfassen (von den intermedialen Umsetzungen und der ab Mitte der achtziger Jahre auch politisch gesehen immer radikaleren Ausrichtung ganz zu schweigen).

3.

Drei Sichtweisen der Beziehung zwischen Batman und Joker

3.1

Frank Millers »The Dark Knight Returns«: Die Wiederbelebung nach langer Abwesenheit

Eine kurze Szene aus Frank Millers (* 1957) Graphic Novel »The Dark Knight Returns« zeigt mit Mitteln, die nur dem Medium Comic zur Verfügung stehen, die geradezu symbiotische Verknüpfung zwischen Batman und seinem Gegner, dem Joker : Gibt es den einen nicht, löst sich der andere in Luft auf. Erscheint der eine aber wieder auf der Bildfläche, so steigt der andere wie ein Phönix aus der Asche.26 Millers Werk ist besonders interessant, da er den alternden Batman in das Zentrum des Interesses stellt: Nach jahrzehntelanger Pause entschließt sich Bruce Wayne, seine Doppelexistenz wiederaufzunehmen – bis dahin ein Novum in der Geschichte der Superhelden-Comics. 25 Eco, Umberto (1984): Der Mythos von Superman. In: Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 187 – 222, hier S. 195, S. 196, S. 201 f., S. 204 f., S. 207, S. 211, S. 215, S. 217. 26 Diese Abhängigkeitsstruktur wurde als Strukturzitat 1995 in »Legends of the Dark Knight« (DC #68) mit dem Titel »Going Sane« von J. M. DeMatteis und Joe Staton wiederaufgenommen: Joker hält Batman für tot und wird schlagartig normal, bis sich die Todesnachricht als falsch herausstellt und der Joker sofort wieder seine alte Rolle einnimmt.

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Auf S. 41 von Millers Meisterwerk27 kann man verfolgen, wie sich der Joker aus einem normalen, offensichtlich ängstlichen Menschen wieder in seine angestammte Rolle als »Prince of Crime« hineinmetamorphisiert. Miller versteht den Joker dabei als Antithese zu Batman, ist dieser doch »eine Kraft, die zum Chaos drängt«, im Gegensatz zum »Kontrollfreak« Batman, der seine Sicht der Welt aufdrückt:28 In einer geschlossenen Anstalt sieht der ehemalige Joker mit anderen Patienten im Fernsehen Nachrichten, in denen über das plötzliche Wiederauftauchen des Batman berichtet wird. Sein Blick wird klarer bzw. er reißt die Augen immer weiter auf: Die einzelnen Panels bewegen sich wie in einer Kamerafahrt immer näher an sein Gesicht heran, bis ein Panel nicht mehr ausreicht, den Ausschnitt zu fassen: Das Grinsen des Jokers ist wieder da und spannt sich nun über zwei Panels, bricht also die vorgegebene Struktur auf bzw. überlagert sie.29 Das folgende Panel zeigt wieder das vollständige Gesicht (nun mit v-förmig überrissenen, viel buschigeren Augenbrauen und dem geöffneten, grinsenden Mund), bis im Abschluss-Panel sogar das Haar des Jokers deutlich grüner als im ersten und zweiten Panel der Doppelreihe aufscheint (vgl. Abb. 1). Mit Recht nennt Stephan Packard in seiner bahnbrechenden Untersuchung der Möglichkeiten des Comic diese Veränderung des Gesichts eine »Cartoonisierung«: Der Joker verwandele sich »zusehends von einem eher geschlossenen Cartoon [also von einem Zeichen, das nicht sonderlich stark stilisiert verwendet wird und so eine Identifikation des Lesers mit der Figur eher erschwert, also als Zeichen vergleichsweise geschlossen ist (Hannes Fricke)] in das sehr viel offenere Zeichen des unmenschlich grinsenden Joker« zurück: Die »Augen werden größer, die Augenbrauen prononcierter und spitzer, die Hälfte des Gesichts« wird »vom Mund eingenommen« – und der Joker spricht (anscheinend seit langer Zeit erstmals): »Batman … Darling«. Auf diese Weise werde »seine Aktivierung und Rückkehr im Zentrum der abschließenden Cartoongruppe«30 markiert. Der Batman ist aus der Versenkung aufgetaucht – und so auch der Joker, der am Schluss der 4x4-Struktur allein im Zentrum des Bildes steht. Am 27 Miller, Frank: Batman: The Dark Knight Returns. New York DC 2002 (1. Aufl. 1986), S. 41 (vgl. Abb. 1). 28 Vgl. Miller im Interview in Sharrett, Christopher (1991): Batman and the Twilight of the Idols: An Interview with Frank Miller. In: Pearson, Roberta E. / Uricchio, William (Hg.): The Many Lives of the Batman. Critical Approaches to a Superhero and his Media. New York / London: Routledge, S. 33 – 46, hier S. 36. 29 Zur Struktur der 4x4-Panels und der Rückbeziehung dieser Struktur auf die traumatisierende Ur-Szene des Batman vgl. Fricke, Hannes (2004): Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein, S. 29 – 36; Fricke, Hannes (2009): Batmans Metamorphosen als intermedialer Superheld in Comic, Prosa und Film (Anm. 14), passim. 30 Packard, Stephan (2006): Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen: Wallstein (Münchener Universitätsschriftreihen / Münchener komparatistische Studien 9), S. 156.

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Abb. 1: Die Cartoonisierung des Jokers. Vgl. Miller, Frank: Batman (Anm. 27), S. 41.

Ende der Geschichte wird Batman den Joker töten – und auch dies ist ein Novum in der Geschichte der Batman-Sichtweisen.

3.2

Moores und Bollands »The Killing Joke«: endlose Wiederholung und der Witz

Allan Moores (*1953) und Brian Bollands (*1951) »The Killing Joke« demonstriert die Abhängigkeit beider Charaktere voneinander in noch grundlegenderer Form (anders als Miller, der den Chaos-Sohn Joker in Kontrast gegen den Kontrollfreak Batman stellt). Obwohl die Geschichte des Jokers erzählt wird (en detail wird beschrieben, wie der später der Joker werdende Mann als glückloser Stand-up-Comedian sich als unerfahrener Amateur von Gangstern überreden lässt, sich kriminell zu betätigen, um so seine schwangere Frau ernähren zu können), weiß Batman nichts von dessen Vorgeschichte. In der Bat-Höhle befragt er seinen Computer, doch auf dem Bildschirm erscheint: »Name: Unknown. Age: Unknown. Relatives: Unknown«. Auch der Joker selbst will von

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seiner Vergangenheit nichts wissen bzw. kann sich auch gar nicht mehr an diese erinnern: So etwas [wie den Verlust eines nahen Angehörigen] passierte mir auch, weißt Du. Ich … ich bin nicht hundertprozentig sicher, was es war. Manchmal erinnere ich mich auf die eine Weise, dann auf die andere. Sollte ich eine Vergangenheit haben, so würde ich es bevorzugen, wenn sie multiple choice wäre! (o. S. [S. 44])

Die Ausweglosigkeit in der Unfähigkeit, von der jetzigen Situation zu abstrahieren, um eine Lösung zu finden, begegnet auch auf der Mikroebene durch ständige strukturelle Wiederaufgriffe im Hin- und Herwechseln zwischen verschieden Situationen und Zeiten. Dabei nutzen die Autoren eine Besonderheit des Comics in Buchform: Der Leser benötigt einige Zeit, um vom letzten Panel unten auf einer Seite zum ersten Panel auf der neuen Seite zu wechseln. Beim Sprung von unterer linker Seite auf obere rechte Seite wird dabei wenig, beim Wechsel von unterer rechter auf obere linke Seite durch das Umblättern relativ viel Zeit benötigt. Die längere Pause beim Umblättern wird noch dadurch intensiviert, dass das erste Panel auf der neuen linken Seite oben vor dem Umblättern nicht sichtbar ist: Das erste Panel kann vom Autor also bewusst überraschend angelegt werden. Handlungsabschnitte werden im Comic deshalb oft vor dem Umblättern beendet und etwas Neues auf der neuen Seite begonnen. In »The Killing Koke« finden sich an solchen Stellen verblüffend häufig Strukturaufgriffe im Wechsel zwischen der Erzählung der gegenwärtigen Story und einer Rückblende. Hier einige Beispiele: Der Joker steht in der Erzählgegenwart vor einem Zirkusplakat, dass eine »Fat Lady« als Attraktion ankündigt – und die nächste linke Seite oben zeigt nach dem Umblättern in einer Rückblende seine hochschwangere Frau in derselben Sitzhaltung wie »Fat Lady« auf dem Plakat. Oder der Joker bringt einen Trinkspruch auf die von ihm angeschossene Barbara Gordon aus – und auf der nächsten linken Seite sieht man ihn in einer Rückblende in gleicher Körperhaltung mit einem Glas in der rechten Hand beim konspirativen Treffen mit den Gangstern, die ihn zu kriminellen Machenschaften überreden. Oder die Doppeltür einer Geisterbahn schließt sich, auf der ein grinsendes Gesicht wie in der erwähnten Coney-Island-Ankündigung als Quelle für den Joker zu sehen ist – und auf der folgenden rechten Seite in der Rückblende sieht man zwei Polizisten vor der Kneipe durch eine doppelte Glastür, in der sich der spätere Joker mit den Kriminellen trifft. Oder (diesmal in der Vergangenheit den Ausgangspunkt nehmend) er schlägt verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen, nachdem er in der Kneipe von Polizisten über den Tod seiner Frau informiert wurde – ähnlich wie im ersten Panel auf der nächsten rechten oberen Seite der entführte Comissioner Gordon. Solche Verknüpfungen begegnen jedoch auch in der Großform: Auf der dritten Seite des Comic findet sich en passant der einzige Erzählerkommentar

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(im Film würde man sagen: das einzige Voice-over) im gesamten Comic: »Da waren diese zwei Typen im Irrenhaus.« (o. S. [S. 8]) Die erwähnte Zeile des Erzählerkommentars greift am Ende der Joker wörtlich auf, nachdem Batman dem Joker angeboten hat, ihm zu helfen, ihn zu rehabilitieren, den Kampf aufzugeben. Batman versucht, über seinen Schatten zu springen: [U]ns gehen die Alternativen aus … Und wir beide wissen das. Vielleicht ist heute unsere letzte Gelegenheit, dieses Durcheinander in Ordnung zu bringen. Wenn Du sie nicht ergreifst, dann sind wir auf Selbstmord-Kurs. Wir beide. Bis zum Tod. […] Du brauchst nicht mehr am Rande zu stehen. Du brauchst nicht allein zu sein. (o. S. [S. 49])

Dem Joker vergeht (wie sonst selten) das Grinsen, er überlegt kurz, doch lehnt er ab: »Nein es tut mir leid, aber … Nein. Es ist zu spät dafür. Viel zu spät«, und erzählt Batman lieber einen Witz: »Da waren diese zwei Typen in einem Irrenhaus«, die türmen wollen. Sie gelangen auf das Dach des Gebäudes und »sehen die Dächer der Stadt, ausgebreitet im Mondlicht« (wie Joker und Batman im Moment die Dächer von Gotham). Der eine springt über die die beiden von der Freiheit trennende Häuserschlucht, der andere traut sich nicht zu folgen. Der erste bietet an, mit seiner Taschenlampe zu leuchten, sodass der zweite auf dem Lichtstrahl über den Abgrund gehen könne, doch dieser wehrt ab: »Du würdest sie ausschalten, wenn ich auf halbem Wege wäre« (während der Joker den Witz erzählt, sieht man im Hintergrund eine Losbude mit der Aufschrift: »Versuch Dein Glück!«) (o. S. [S. 50]). Wie im Witz der zweite Flüchtende kann Joker seine Chance aber nicht ergreifen. Nicht nur die Wiederaufnahme der Formulierung zeigt die kreisförmige Erzählstruktur, sondern auch die Bildmotive. Das erste Bild zeigte eine Pfütze im Regen (o. S. [S. 6]), und die Geschichte endet mit demselben Bild (o. S. [S. 51]): Die Situation ist ausweglos und wird immer ausweglos bleiben. Der Wahn hält sie beide wie in einem Irrenhaus fest, aus dem es doch eigentlich auszubrechen gilt. Einen Ausweg wird es für beide nicht geben, verbinden sich beide doch auch am Ende im Joker-Gelächter-Soundword des »HAHAHAHAHA«,31 das zum ersten Mal die Panels in der Erzählung der Vorgeschichte des Jokers (o. S. [S. 37]) ausfüllte, als der nämlich erkannte, dass er sich durch die Einwirkungen der Chemikalien völlig verändert hatte und aus Verzweiflung wahnsinnig wurde (vgl. Abb. 2).

31 Vgl. die vorzügliche Analyse von Bachmann, Holger (1996): Die Funktion idiomatischer Wendungen in populärer Kultur am Beispiel Comicbook. Mit einer Beispielinterpretation von Alan Moores »The Killing Joke«. In: Sprachwissenschaft 21, S. 337 – 366, hier z. B. S. 349.

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Abb. 2: Der Joker, der Wahnsinn und das Sound-Word. Vgl. Moore, Alan / Bolland, Brian: Batman. The Killing Joke (Anm. 1), o. S. [S. 37].

3.3

Nolans »The Dark Knight«: Das ungreifbare Gegenüber Joker: Schlag mich. Na los: Schlag mich.32

Schon vor der Premiere in Amerika war klar, dass Christopher Nolans (*1970) zweiter Batman-Film »The Dark Knight« 2008 beeindrucken würde: Der Tod des Joker-Darstellers Heath Ledger (1979 – 2008), der nach Abschluss der Dreharbeiten an einem Cocktail aus Schmerz- und Beruhigungsmitteln in seinem New Yorker Apartment verstarb, tat ein Übriges. Nolan, der zusammen mit seinem Bruder Jonathan das Drehbuch schrieb, legte den Joker als geschichtsloses Wesen an, das in dieser »Schlacht um die Seele Gothams« (The Dark Knight, S. 229) die Richtigkeit seiner These beweisen will, dass »ihre Moral, ihr Code« ein »schlechter Witz ist«, »fallengelassen beim ersten Zeichen von Schwierigkeiten«. Die Menschen seien »nur so gut, wie die Welt es ihnen erlaubt zu sein«. Sobald es ernst werde, »fressen sie einander« (S. 174). 32 Hier wie im Weiteren übersetzt nach Byrne, Craig: The Dark Knight. Featuring Production Art and Full Shooting Script. New York: Universe Publishing 2008, hier S. 167. Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe.

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Die Figur wurde auch optisch völlig neu gestaltet: Der Joker ist nun kein dandyhafter Gentleman in feinsten Anzügen mehr wie etwa in Moores »The Killing Joke«, bei dem unter anderen David Bowie als »Thin White Duke« Pate gestanden haben soll. Bei der Auswahl der Kleidung vor Drehbeginn orientierten sich die Kostümdesigner vielmehr an Johnny Rotten von den »Sex Pistols«, an Iggy Pop, an der Jugendbande aus Kubricks Verfilmung von »A Clockwork Orange« und an dem Gemälde »Screaming Pope« von Francis Bacon (1909 – 1992), dessen verwischte Präzision besonders für die Maske des Jokers Pate stand: Die grünen Haare, die roten Lippen und die weiße Haut des Jokers stammen nun nicht aus einem Unfall mit chemischen Abfällen, sondern es handelt sich um Messernarben, unterstrichen durch anscheinend von ihm selbst aufgetragene Schminke. Der Maskenbildner John Caglione jr. erläutert: Heath [Ledger] verzog sein Gesicht zu bestimmten Grimassen, runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen, und ich pinselte die Schminke über dieses verzerrte Gesicht. Durch diese Technik entstand eine Struktur, ein Ausdruck, wie man ihn durch das einfache Bemalen des Gesichts mit normalem Weiß nicht hätte erreichen können. Dann verwendete ich schwarzes Makeup für Heaths Augen, wobei er sie fest zukniff – auch dadurch ergaben sich entsprechende, dazu passende Strukturen. Nach dem Auftragen der schwarzen Farbe sprühte ich Wasser über seine Augen, und er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, sodass das Schwarz zerlief und verschmierte.33

Ledger unterstützte diesen abgerissenen äußeren Eindruck durch seine schauspielerische Anlage der Figur, die er schlaksig und ungelenk mit plötzlichen Energieausbrüchen spielt, stimmlich unterstützt durch Nuscheleien und Schmatz-, Schnalz- und Schlucklaute, in seinem Sprechen immer wieder unterbrochen durch seine über die Lippen und in die zerschnittenen Mundwinkel wandernde Zunge. Der Joker besteht nun darauf (und auch das ist ungewöhnlich), nicht wahnsinnig zu sein (anders, als Joker aus »The Killing Joke«, dessen sämtliche Handlungen ja darauf abzielten, auch andere wahnsinnig zu machen). Vor allem aber lacht er selten, vermutlich deshalb, weil er sein Lachen nicht immer wieder neu stimmlich mit begleitender Grimasse jeweils erzeugen muss, sondern ohne innere Beteiligung durch seinen vernarbten Mund ein Lachen immer schon im Wortsinne zur Schau stellt. Nur ironisch wird das »HAHAHAHA« von ihm als Tradition quasi anzitiert, wenn der Joker zum ersten Mal im Film als Figur voll sichtbar bei einem Mafia-Treffen erscheint und sein Auftauchen mit beiläufig erzeugten Stimmgeräuschen ankündigt, die wie abgelesene Sound-Words aus einem Comic durch die verschiedenen Vokalkombinationen »Haha«, »Hehe«, »Hihi« und »Huhu« wirken. Und anders als die meisten seiner Vorgänger wird dieser Joker als vollständig geschichtsloses Wesen inszeniert (die Überprüfung seiner Fingerabdrücke und 33 Presseinformation The Dark Knight. Welcome to a World without Rules. O. O. 2008, S. 23 f.

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DNA bleibt ohne Ergebnis). Diese Geschichtslosigkeit führt der Joker selbst vor, erzählt er doch an mehreren Stellen im Film, wie er zu seinem vernarbten Mundwinkeln gekommen ist – jedoch immer wieder in einer neuen Version. Wichtig ist, nicht die Tatsache aus dem Auge zu verlieren, dass alle (!) bisherigen Joker-Figuren gar keine Narben hatten: Man kann diese neue äußere Anlage der Figur also als Verbeugung vor Gwynplaine aus dem Stummfilm »The Man who laughs« verstehen (dieser Bezug wird an einer anderen Stelle in Nolans Film nochmals, wenn auch nur dezent, aufgenommen, denn Joker eröffnet auf einen Polizei-Konvoi aus einem Lastwagenanhänger heraus das Feuer – der einem Zirkus gehört und auf dem zu lesen ist: »Lachen ist die beste Medizin«). Doch wie und warum erzählt der Joker von seinen Narben? Einige Schlagetots behaupten gegenüber der Mafia, sie hätten den Joker getötet, und rücken mit dessen Leiche bei der Mafia an (diese Szene wurde aus der amerikanischen Version des Films herausgeschnitten, angeblich aus Gründen der Pietät gegenüber dem verstorbenen Schauspieler Ledger). Doch der angeblich tote Joker springt auf, drückt dem Mafiaboss Gambol eine Klinge zwischen die Lippen und fragt: Willst Du wissen, wie ich diese Narben bekam? Mein Vater war ein Trinker und ein übler Geselle. Er schlug Mami immer direkt vor mir. Eines Nachts wurde er verrückter als üblich, Mami bekommt34 das Küchenmesser zu fassen, um sich zu verteidigen. Er mag das nicht. Nicht. Ein. Bisschen. Also, während ich zuschaue, nimmt er das Messer, lacht, während er es tut. Kommt zu mir mit dem Messer und fragt: »Warum so ernst?« Steckt das Messer in meinen Mund: »Lass uns ein Lächeln auf dies Gesicht zaubern« und … (S. 108)

Der Joker zieht das Messer durch und tötet Gambol. In einer zweiten Szene bedrängt der Joker Rachel Daves (die sich zwischen Bruce Wayne / Batman und Harvey Dent, dem Staatsanwalt, entscheiden muss) und zwängt ihr ebenso seine Klinge zwischen die Lippen: Hallo, Schönheit. Du musst Harveys Puppe sein. Und Du bist schön. Du siehst nervös aus – es sind die Narben, stimmt’s? Willst Du wissen, wie ich die bekam? Ich hatte eine Frau, so schön wie Du. Die mir sagt, ich sorge mich zu sehr. Die sagt, ich müsste mehr lächeln. Die um Geld spielt. Und sich tief mit den Haien einlässt. Eines Tages zerschneiden die ihr Gesicht, und wir haben kein Geld für die Behandlung. Sie erträgt es nicht. Ich will sie nur wieder lächeln sehen. Ich will nur, dass sie weiß, dass mir ihre Narben egal sind. So stecke ich mir ein Rasiermesser in den Mund und tue mir dies 34 Häufig werden traumatische Situationen von Betroffenen in einem seltsam schimmernden Präsens erzählt – als ob die Situation im Moment wieder stattfindet. Dies beruht auf der bestimmten neurobiologischen Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen, die akausal und atemporal gespeichert und deshalb eben nicht geordnet wieder erinnert werden können, sondern erneut blitzartig als unmittelbare Gegenwart durchlebt werden. Vgl. Fricke, Hannes (2004): Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie (Anm. 29), bes. S. 23, S. 92.

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selbst an … Und weißt Du was? Sie kann meinen Anblick nicht ertragen. Sie verlässt mich! Weißt Du, jetzt sehe ich die lustige Seite davon. Jetzt lächle ich immer. (S. 133 f.)

Die verschiedenen Versionen werden aus der Situation heraus geboren: Einmal ist der Joker Opfer, dann Täter, einmal geht es um seinen Vater (dabei steht er einem Mann gegenüber, dem er die Geschichte erzählt), dann um seine frühere Frau (dabei steht er einer Frau gegenüber). Offensichtlich geht es also nicht um irgendeinen realen Hintergrund, sondern im Wortsinne um die Übertragung der Narben auf das Opfer : Wie der Joker gelitten hat, soll nun auch das neue Opfer leiden. Am Ende versucht der Joker, die Herkunft seiner Narben Batman als drittem Gegenüber zu erklären – der greift ihn jedoch sofort an (S. 226 – 227): Batman: Was wolltest Du beweisen? Das tief unten wir alle so hässlich sind wie Du? […] Du bist allein. […] Joker: Du weißt, wie ich diese Narben bekommen habe? Batman: Nein. Aber ich weiß, wie Du diese bekommen hast [und greift ihn an].

Unmittelbar im Anschluss fasst der Joker zusammen (S. 231): Joker: Konntest mich einfach nicht gehen lassen, oder? Ich glaube, so etwas passiert, wenn eine nicht zu bremsende Energie auf ein unbewegliches Objekt trifft. Du bist völlig unbestechlich, oder? Du wirst mich nicht töten aus einem deplatzierten Gefühl von Selbstgerechtigkeit heraus … und ich werde dich nicht töten, weil Du so viel Spaß machst. Wir werden dies hier für immer tun. Batman: Du wirst in einer Gummizelle sein, für immer. Joker: Vielleicht können wir eine teilen. […] Wahnsinn ist wie Schwerkraft. Alles, was es braucht, ist ein kleiner Schubs.

Dem Joker wurde also eine völlig neue Kontur gegeben und damit ein neuer Joker-Mythos geschaffen. Und diese neue Sichtweise ist derartig überzeugend und kompromisslos, dass sich einem die Vermutung aufdrängt, der Schauspieler Ledger habe bei der Umsetzung seiner Rolle ähnlich wie Robert Mitchum (1917 – 1997) bei seiner legendären Darstellung des Max Cady in »Cape Fear« von 1962 Schaden genommen: Mitchum war über seine Fähigkeit, solch eine Angst einflößende, erschreckende Figur derartig glaubwürdig umzusetzen, so beunruhigt, dass er sich weigerte, über diese Rolle zu sprechen. Doch wie zeigt sich der neue Joker in der Filmhandlung? Um seine These von der Verworfenheit aller Menschen zu beweisen, inszeniert er mit Vorliebe Situationen, aus denen sich die Beteiligten nur durch Tötung anderer Menschen herausziehen bzw. so überleben können: Einigen Mafia-Mitgliedern wirft er einen zerbrochenen Billardqueue vor die Füße, eine Stelle sei in seiner Bande noch frei, die Herren mögen sich bitte beeilen. In einer zweiten Szene lässt sich der Joker in das Gefängnis sperren: Dort foltert ihn Batman (wie parallel der Staatsanwalt Harvey Dent einen Verdäch-

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tigen; der Staatsapparat ist also auch hier im Film zutiefst fragwürdig geworden, die Guten sind nicht mehr die Guten bzw. es gibt keine Guten mehr).

Exkurs III: Der Film und »9/11« Joker führt hier also Batman als jemanden vor, der seine angeblich menschenfreundliche Gesinnung in dem Moment fallenlässt, in dem sie ihn hindert, etwas zu erreichen, das ihm sehr wichtig ist. Nolans Film wurde von vielen deshalb als eine Problematisierung amerikanischer Befindlichkeit nach »9/11« verstanden – und nicht nur in der Problematisierung der Folter (nach Abu Graib und Guantanamo): Das offizielle Filmplakat zeigt Batman vor einem Hochhaus. Ein Geschoss des Hauses steht in Flammen – etwa auf zwei Dritteln der Gebäudehöhe, also in etwa in der Höhe, in der die Flugzeuge in die Twin-Towers des World Trade Center eingeschlagen waren. Und alle im Film gesprengten Gebäude stürzen in sich zusammen wie die Twin-Towers. Der Film unterstreicht die Kraft des neuformulierten Mythos, solch anscheinend drängende Tagesprobleme aufzuzeigen: Um den Standort des Joker ausfindig zu machen, verbindet Batman mit einem Programm alle Mobiltelefone und benutzt sie als Mikrofone, die über Spracherkennung und Triangulierung den Aufenthaltsort des Joker aufzeigen sollen. Sein Zuarbeiter Lucius Fox ist entsetzt: Fox: Unethisch. Gefährlich. Sie haben jedes Telefon in der Stadt in ein Mikrophon verwandelt. […] Das ist falsch. Batman: Ich muss diesen Mann finden. Fox: Aber zu welchen Kosten? […] Niemand sollte diese Macht haben. […] 30 Millionen Menschen auszuspionieren stand nicht in meiner Arbeitsplatzbeschreibung. (S. 207)

Im Zusammenhang mit den von Edward Snowden aufgedeckten Tätigkeiten der amerikanischen NSA im Gefolge von »9/11« ist solches wohl nur eine Fingerübung – die aber immerhin 2008 im Film schon problematisiert wurde. Doch zurück zu dem zweiten vom Joker inszenierten Planspiel: Als Batman den Joker in der Zelle auf den Kopf schlägt, beschwert sich dieser (S. 173): »Niemals mit dem Kopf anfangen. Das macht das Opfer verwirrt. Spürt nicht den nächsten …« – und wird durch eben diesen nächsten Schlag unterbrochen. Doch hat der Joker die Situation vorausgeplant bzw. provoziert: Joker: Ich wollte sehen, was Du tust. Und Du hast mich nicht enttäuscht. […] Batman: Warum willst Du mich nicht töten? Joker [lacht, sein Lachen geht fast in Schluchzen über]: Dich töten? Ich will Dich nicht

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töten. Was sollte ich denn auch ohne Dich tun? Zurückkehren und Dealer-Gesindel ausrauben? Nein, Du … Du. Komplettierst. Mich. (Ebd.)

Denn eigentlich befindet sich in dieser Situation Batman in der Zwickmühle: Zwei Menschen, nämlich Rachel Daves und Harvey Dent, wurden vom Joker an weit auseinanderliegenden Plätzen der Stadt jeweils an eine Bombe neben Benzinfässer gekettet, die in Kürze detonieren werden. Die Zeit ist knapp – nur einer kann gerettet werden. Der Joker hat also die Regeln des Spieles festgelegt, die Folterszene ist gar kein Machtbeweis Batmans, sondern Teil des Spiels, dessen Regeln allein der Joker definiert hat: »Du musst mein Spielchen mitspielen, wenn Du einen von ihnen retten willst.« (S. 175) Der Joker ist also keineswegs irgendein »Spinner, der einen billigen lila Anzug und Schminke trägt«, »ein Niemand« (S. 97), wie ihn der Mafia-Boss Maroni verkennt. Das dritte Planspiel des Jokers spannt eigentlich kein Dilemma auf (der Joker verlangt von der Bevölkerung, innerhalb einer Stunde denjenigen zu töten, der im Fernsehen angekündigt hatte, Batmans wahre Identität zu entlarven). Doch die vierte Situation kann man als Experimentum crucis bezeichnen: Zwei Fähren liegen manövrierunfähig im Fluss, beide vom Joker mit Sprengstoff bestückt. Die Passagiere des einen Schiffes haben jeweils den Zünder für den Sprengstoff des anderen Schiffes ausgehändigt bekommen. Der Funkkontakt ist unterbrochen. In wenigen Minuten werden beide Schiffe von dem Joker gesprengt, es sei denn, dass eine Gruppe das Schiff der anderen Gruppe vernichtet (spieltheoretisch gesehen ergibt sich ein verschärftes Gefangenendilemma: Was werden die tun, weil sie denken, dass wir etwas tun, weil wir vermuten, was sie tun werden, weil die denken, dass wir denken, dass …): Entweder tötet man – oder man wird getötet (seltsamerweise geht der Plan des Jokers nicht auf, da sich beide Gruppen nicht auf diese Regeln einlassen). Wie legt der Joker die Dilemmata an? Sie setzen vor allem auf lozide Gewalt, wie Jan Philipp Reemtsma solche Strukturen nennt:35 Die Menschen sollen andere töten bzw. im Wortsinne aus dem Weg schaffen, um so selbst an deren Stelle zu überleben. Eine tatsächliche Verführung zur Gewalt als Genießen von autotelischen Formen (also von Gewalt um ihrer selbst willen) ist anscheinend gar nicht sein Ziel (und kann es wohl auch gar nicht sein). Wollte man sich etwa die Szene mit den beiden Dampfern im Sinne des Millerschen Joker als autotelische Gewalt-Orgie vorstellen, so hätte der die Zünder vertauschen müssen: Die Partei, die die anderen in die Luft sprengen will, würde sich durch die Zündung selbst töten – und sollte nach Möglichkeit noch genug Zeit eingeräumt be35 Vgl. Reemtsma, Jan Philipp (2008): Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition, S. 108 – 124, etwa S. 116: »Lozierende Gewalt will den Körper aus dem Weg oder an einen Ort schaffen. Raptive Gewalt will den Körper haben. Autotelische Gewalt zielt auf die Zerstörung der Integrität des Körpers«.

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kommen, dies zu bemerken und in Panik zu verfallen, bis der Joker vielleicht sogar beide Sprengladungen zündet und alle umbringt. Doch um solches scheint es dem Joker gar nicht zu gehen: Der Versuch, im Dilemma eigentlich Unbeteiligte zur Gewalt zu verführen, hat nämlich nicht den Genuss autotelischer Gewalt durch ihn selbst zum Ziel. Die Aussage des Butlers Alfred, dem Joker ginge es um gar nichts anderes, als alles brennen zu sehen, greift zu kurz bzw. deckt nicht die ganze Figur ab: Joker wird in diesem Film damit auch – und das vielleicht zum ersten Mal – zu einer zutiefst widersprüchlichen Figur. Diese Mehrschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz zeigt sich, ist man erst einmal auf solche Strukturen aufmerksam geworden, auch an anderer Stelle: Sein den Gewalt-Reigen eröffnender Bankraub und die Dilemmata-Spiele verlangen genaueste Planung, eine Fähigkeit zu präzisem Vorausdenken, die er sich im Gespräch mit Harvey Dent / Two-Face aber gerade abspricht: »Ich bin ein Hund, der Autos jagt … Ich wüsste gar nicht, was ich machen sollte, wenn ich eines fangen würde. Ich tue die Dinge nur. […] Ich hasse Pläne« (S. 199). Der Joker ist also letztlich unberechenbar – auch in seiner Fähigkeit zu genauester Berechnung: Es zeigt sich eine völlig neue Sichtweise der Figur.

Exkurs IV: Opfer-Täter-Retter und die Immunisierung des Mythos als Mythos In einer vorzüglichen Untersuchung der Texte Stephen Kings (*1947) arbeitete der Theologe Hans-Martin Gutmann vier Hauptstrukturelemente von Kings Werken heraus, nämlich 1. die Reise, 2. eine Welt hinter der Welt, 3. Gewalt und 4. einen bestimmten Opferstatus. Die Welt hinter der Welt sei in Kings Erzählungen »immer von Gewalt beherrscht« und »weniger strukturiert als die erste Welt oder überhaupt strukturlos«. Außerdem bestehe immer die Gefahr, dass sie »in die erste Welt ›hinüberschwappen‹ kann«.36 Diese vier Kategorien helfen für ein genaueres Verständnis der Batman-Figur : Batman befindet sich auf einer unendlichen Reise, er lebt in zwei verschiedenen Welten, wendet in einer der Welten Gewalt an, ist selbst Opfer und macht andere zu Opfern. Doch besonders Gutmanns Betrachtungen von Opfermythen und Mythos allgemein sind von Interesse: Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die verblüffende Bereitschaft von uns allen, die hohe Zahl an Verkehrstoten zu akzeptieren (weltweit handelt es sich nach Schätzungen der Weltbank 2012 um bis zu einer Million, nach 36 Gutmann, Hans-Martin (2004): Die tödlichen Spiele der Erwachsenen. Moderne Opfermythen in Religion, Politik und Kultur. Münster : LIT (PopKuRT – Populäre Kultur, Religion und Theologie 2), S. 20.

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Schätzungen der WHO pro Jahr um 1,2 Millionen und in Deutschland 2012 um unter 4.000 Tote): Die Zahl liegt damit weit über den Opferzahlen von Krieg, Völkermord oder Terrorismus zusammen (die Anzahl der Verletzten wird auf etwa 40 Millionen jährlich geschätzt). Warum wird dies letztlich nicht zur Kenntnis genommen? Gutmann bietet eine beunruhigende Erklärung an: Im Spiel »Verkehrsopfer« ist das Ziel nicht die Vermeidung von Unfällen. Ziel ist vielmehr, jene hochbrisanten Augenblicke herbeizuführen, in denen das eigene und fremdes Leben auf Messers Schneide steht. In diesen dramatischen Sekundenbruchteilen kann der Spieler das Gefühl unendlicher Macht genießen, anderen das Leben zu nehmen, und im selben Augenblick das Gefühl restlosen Ausgeliefertseins, wenn er sein eigenes Leben als Sühne dahingibt und so die Rechtfertigung für die eigene Mordlust erfährt. Omnipotenzwünsche und Todessehnsucht fließen zusammen; im Moment des Zusammenpralls (oder des gerade vermiedenen Zusammenpralles) ist der Akteur des Spieles »Verkehrsopfer« Opfernder und Opfer zugleich.37

Interessant ist nun, dass das Spiel »Verkehrsopfer« gegen andere Interpretationen (etwa wie die obige) immun zu sein scheint – etwa so, wie sich die eigentlich mit den Tatsachen leichter zu vereinbarende Deutung des Ersten IrakKrieges (und inzwischen weiterer Kriege Amerikas und seiner Verbündeter) durchgesetzt hat, der Krieg käme einer »Exekution gleich, in der der reiche Norden den abhängigen Ländern des Südens seine ›Weltordnung‹ aufzwingt« als »eindeutige Warnung an alle, die ihr fernerhin widerstehen wollen«.38 Akzeptiert wird vielmehr die Deutung, die USA habe sich als »Retter« engagiert, den »Verfolger« zu stellen und in seine Schranken zu weisen und so unschuldige »Opfer« zu retten. Durch dieses Handeln werde nämlich »eine ›neue Weltordnung‹ durchgesetzt, die es den Menschen in der Region des Nahen Ostens und perspektivisch in der ganzen Welt erlaubt, in politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und in durch gegenseitigen Respekt begründeten Frieden zu leben«.39 Warum setzt sich die erstere Deutung ebenso wenig wie die radikalere Deutung des Spiels »Verkehrsopfer« durch? Gutmanns Antwort ist ebenso einfach wie verblüffend: Die beiden Deutungsansätze haben sich deshalb durchgesetzt, weil sie einem bestimmten Mythos entsprechen. Und ein solcher Mythos ist qua Mythos-Sein nicht widerleg- oder angreifbar. Gutmann führt zur Untermauerung seiner These Roland Barthes’ (1915 – 1980) Untersuchungen zu »Mythen des Alltags« an. Der führte aus, dass der Mythos »ein sekundäres semiologisches System« sei, dass aus einem normalen Zeichen (ein »assoziatives Ganzes eines Begriffs und eines Bildes«) als »End37 Ebd., S. 31. 38 Ebd., S. 37. 39 Ebd., S. 38.

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terminus einer ersten semiologischen Kette« zum »ersten oder Teilterminus des vergrößerten Systems [als ein sekundäres semiologisches System], das er [der Mythos] errichtet«,40 macht. Berühmt wurde Barthes’ Interpretation des Plakats eines die Trikolore grüßenden farbigen Soldaten. Der Soldat werde hier seiner eigenen Geschichte beraubt: Er funktioniert nur noch als Verbildlichung des Mythos der guten Kolonialpolitik Frankreichs. Ein solcher Mythos ist nach Barthes also ein System zweiter Ordnung: Es setzt das System erster Ordnung (die reale Figur) voraus, benutzt es als Rohstoff und übersetzt diese »Objektsprache« in eine »Metasprache«. Der Mythos bemächtigt sich des Sinnes der ersten Stufe. Als Bedeutendes im zweiten System »Mythos« wird dieser Sinn zur Form. Damit ist er aber nicht mehr diskutierbar (er befindet sich nicht mehr auf der ersten Ebene). Wie Gutmann ausführt: Dem Sinn des Bildes [also der persönlichen Geschichte des Abgebildeten] ist nichts hinzuzufügen: es erzählt eine vollständige Geschichte. Als FORM des Mythos wird nun dieser Sinn entleert. Der Neger wird seiner Geschichte beraubt und in eine Geste verwandelt: französischer-Neger-Soldat-die-Trikolore-grüßend. Er wird so zur bedeutenden FORM für einen bedeuteten Begriff: das französische Imperium.41

Der Mythos ist damit eine entpolitisierte Aussage. […] Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.42

Der Mythos der durch die selbstlose USA geretteten Opfer im Irak-Krieg und der Etablierung einer neuen guten Weltordnung ist etwas komplizierter gelagert, so Gutmann: Der neue Mythos bediene sich hier nämlich schon eines alten Mythos’ (nämlich der Wiederherstellung der durch das Böse gestörten Weltordnung, »indem ein OPFER dargebracht bzw. bewahrt wird, ein RETTER auf wunderbare Weise eine gute oder noch bessere Ordnung wiederherstellen kann«).43 Genau an dieser Stelle wird das Mythos-Modell von Barthes in der Interpretation von Gutmann relevant für eine Interpretation der Personenkonstellation Batman-Joker : Der Mythos, entsprechend dem Batman zu handeln meint, nämlich der des Retters des bedrängten Opfers durch Ergreifung und Unschädlichmachung des Verfolgers, ist ein künstliches, ahistorisches Konstrukt: 40 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Hg. v. Helmut Scheffel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964 (1. Aufl. 1957) (Edition Suhrkamp 92), S. 92 f. 41 Gutmann, Hans-Martin (2004): Die tödlichen Spiele der Erwachsenen (Anm. 39), S. 44. 42 Barthes, Roland: Mythen des Alltags (Anm. 43), S. 151 f. 43 Gutmann, S. 45.

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Man könnte Batman ebenso gut als Psychopathen mit einer fixen Idee verstehen, der seine gesamte Umwelt mit ins Verderben zieht, denn den Erzschurken gibt es ja eigentlich nur, weil es den Retter gibt. Das Faszinierende an der Figur – und hier : vor allem das Faszinierende an der Konstellation mit seinem Gegenspieler Joker – liegt in der Tatsache, dass diese Doppeldeutigkeit, Ambiguität und der Wahnsinn schon immer mitgedacht wurde, in letzter Zeit die Sichtweise der Figuren immer grundlegender prägt und vor allem: verblüffenderweise offen ausgesprochen wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Schaut man sich unsere gesellschaftliche Realität an, so sind die Selbstbetrugsversuche von Wayne / Batman unseren eigenen Lebensentwürfen und unserem Weltverständnis näher, als uns lieb sein sollte. Und vielleicht macht gerade das die Faszination des Mythos Batman-Joker aus.

4.

Ausblick: Die Angst der Literaturwissenschaft vor politischer Relevanz Du wirst niemals traurig sein, und die wirst niemals einsam sein. Du wirst immer mich haben, um mit mir zu tanzen. Joker zu Batman in »Batman Confidential« (DC #12, 2008)

Das Motto dieses Abschnitts beleuchtet, was eigentlich hinter den Feldzügen der Superhelden gegen das Böse stehen könnte – eine tiefe Verunsicherung in Bezug auf die eigene Existenz und ein ebenso tiefes wie nicht zu befriedigendes Bedürfnis, Kontakt zu bekommen zu einem Gegenüber, das einen versteht, und durch Tätigkeit seine Daseinsberechtigung zu beweisen (und sei es im sinnlosen sich Abarbeiten an Erzschurken, die man eigentlich erst selbst erschaffen hat). Die Verbissenheit von Batman und Joker (wie das alte Ehepaar von Simenon) ineinander ist dabei als Struktur nicht ganz unbekannt. Ihre Pseudo-Lösungsstrategien sind in der Realität leicht wiederzufinden – etwa in Doppelkonstellationen zweier ineinander verbissener Gruppen wie im Krieg gegen den Terrorismus44, in der ständigen Beschwörung eines angeblichen Friedensprozesses

44 Die USA hat inzwischen diesen Krieg zu einem Teil ihrer Identität gemacht, wie Wirth 2002 prophezeite. Vgl. Wirth, Hans-Jürgen (2002): Narzissmus und Macht: Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik, Gießen: Psychosozial-Verlag (Reihe Psyche und Gesellschaft), S. 381 f.: »Die amerikanische Gesellschaft könnte in die Versuchung geraten, das erlittene kollektive Trauma dadurch abzuwehren, dass sie sich auf das Trauma fixiert und es zum zentralen Bezugspunkt der nationalen Identität macht«. So »käme es zur Ausbildung einer nationalistischen Identität, die Verfolgungs-, Rache- und Größenphantasien zum In-

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im Verhältnis zwischen Israel und dem Libanon45 oder im angeblich so humanen und verständnisvollen Umgang mit Flüchtlingen46 oder Homosexuellen47, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Es ist bedauerlich, dass Literaturwissenschaft sich in den allerwenigsten Fällen als eine Wissenschaft versteht, deren Aufgabe darin bestehen könnte, solche Strukturen aufzudecken.

halt hat. Diese haben die Funktion, die erlittenen narzisstischen Verletzungen des Gefühls wieder gutzumachen und die Demütigungen durch Rache auszugleichen.« 45 Es überrascht wenig, dass sich beide Seiten im Konflikt eines ähnlichen Vokabulars bedienen. Vgl. Kreidie, Lina Haddad / Monroe, Kristen Renwick (2002): Psychological Boundaries and Ethnic Conflict: How Identity constrained Choice and worked to turn Ordinary People into Perpetrators of Ethnic Violence during the Libanese Civil War. In: International Journal of Politics, Culture and Society 16, S. 5 – 36; Fricke, Hannes (2011): »Sind die Bilder echt?«. Die ›animierte Dokumentation‹ »Waltz with Bashir« als Angebot an israelische Soldaten, ihre Erinnerungen an die Massaker von Sabra und Shatila zu formulieren. In: Trauma & Gewalt 5, S. 310 – 329. 46 Bundeskanzlerin Angela Merkels Äußerung aus dem Jahre 2009, sie sei mit ihrer Politik der »Flüchtlingsbekämpfung« zufrieden (eine für die Vorsitzende einer Partei, die sich als »christlich« bezeichnet, immerhin erstaunliche Äußerung), ist nicht im öffentlichen Gedächtnis verankert. Zum menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen vgl. Fricke, Hannes (2006): »Still zu verschwinden, und auf würdige Weise«: Traumaschema und Ausweglosigkeit in Stefan Zweigs »Schachnovelle«. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin 4, S. 41 – 55. 47 Vgl. die unerträgliche Debatte um den Bildungsplan 2015 in Baden Württemberg zur Stärkung der Akzeptanz sexueller Vielfalt, die homophoben Äußerungen von Matthias Matussek (Die Welt, 12. 2. 2014) oder die Dresdener Rede von Sibylle Lewitscharoff (2. 3. 2014).

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Turbata Tranquillitas. Verwirrte Freundschaft im Mutiankreis Una est enim amicitia in rebus humanis, de cuius utilitate omnes uno ore consentiunt. (Cicero, »Laelius de amicitia«, §86, S. 96) Die Freundschaft ist nämlich im menschlichen Leben das einzige, über dessen Wert sich alle ganz und gar einig sind.

1.

Mutianus Rufus (1470/71 – 1526) und sein Briefwechsel

Freundschaft, ein in der heidnischen Antike sorgfältig kultiviertes und hochgeschätztes humanes Gut, war für die Humanisten nicht nur ein selbstverständliches philosophisches Thema, sondern geradezu eine Bedingung ihrer Existenz. Die Entdeckung der Antike, deren komplexes Potential zu einer belebenden Herausforderung der sichtbar ermüdeten christlichen Kultur zu werden versprach, war das Werk von Individuen, die für ihr mehr oder weniger überschätztes neues Evangelium zustimmende Jünger suchten. Sympathiegesteuerte Gleichgesinntheit in den wesentlichen Fragen der Lebensführung konstituiert nach antiker Vorstellung Freundschaft1, und die Menschen werden, dem freundschaftskundigen Cicero zufolge, durch Übereinstimmung in ihren geistigen Interessen zwangsläufig zu Freunden.2 Dementsprechend stiftete die humanistische Begeisterung für die Antike gewissermaßen von selbst einen internationalen Freundschaftsbund, der sich im schriftlichen Austausch, gern im Überschwang, solidarisierte und den institutionell starken, aber meist verachteten Gegner aggressiv anging.3 Sein Medium, zugleich aber auch Objekt seines Eifers und quasi seine Trophäe, war die neu bewertete lateinische Sprache und Literatur, sein bevorzugtes literarisches Genos war der Brief in einem 1 »Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio«. Vgl. Cicero, Marcus Tullius: Laelius de amicitia. Laelius, über die Freundschaft. Lateinisch-Deutsch hg. v. Max Faltner. 3., verb. Aufl. München: Heimeran 1980 (Tusculum-Bücherei), 20. 2 »[N]ihil esse quod ad se rem ullam tam adliciat et attrahat quam ad amicitiam similitudo«. Vgl. ebd., §50, S. 62. 3 Ein besonderes Beispiel politischer Funktionalisierung solcher humanistischen Freundschaften stellen die beiden Sammlungen »Clarorum virorum epistolae« bzw. »Illustrium virorum epistolae« dar, die Johannes Reuchlin in den Jahren 1514 und 1519 zu seiner eigenen Verteidigung veröffentlichte.

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weitgefassten Sinn:4 Auch humanistische Traktate sind oft nichts anderes als verlängerte, substantiierte Briefe. Der Briefwechsel, von dem hier gehandelt werden soll,5 entspricht diesem Muster allerdings nur bedingt: Zwar dokumentiert er die alle beteiligten Korrespondenten einende Sympathie für die antike, besonders die lateinische Welt, aber er verrät nirgendwo die Absicht, dafür im Sinne humanistischer Propaganda in der gelehrten Öffentlichkeit zu werben. Diese Briefe sind nämlich interne, thematisch eher zufällige und deshalb gänzlich unstilisierte Verlautbarungen aus dem privaten Milieu eines Freundeskreises6, dessen alleinigen 4 Vgl. dazu Dall’Asta, Matthias (2001): Amor Sive Amicitia. Humanistische Konzeptionen der Freundschaft bei Marsilio Ficino und Johannes Reuchlin. In: Körkel, Boris / Licht, Tino / Wiendlocha, Johanna (Hg.): Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag. Heidelberg: Mattes Verlag, S. 57 – 69, S. 57, und Bernstein, Eckhard (2003): Group Identity Formation in the German Renaissance Humanists: The Function of Latin. In: Keßler, Eckhard / Kuhn, Heinrich C. (Hg.): Germania latina – Latinitas teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit. Bd. 1. München: Wilhelm Fink (Humanistische Bibliothek. Reihe I: Abhandlungen 54), S. 375 – 386, der S. 378 folgende für die Bildung der humanistischen Gruppenidentität entscheidende Faktoren aufzählt: »1. the founding of humanist sodalitates, 2. the creation of a sense of cohesion through letter writing, 3. the role of humanist friendship, 4. humanistic travel as a community-building activity, and finally 6. the use of Latin and the adoption of Latin names.« 5 Zitiert wird die Ausgabe von Gillert, Karl (Hg.) (1890): Der Briefwechsel des Conradus Mutianus. Ges. und bearb. v. Karl Gillert. Hg. v. der Historischen Commission der Provinz Sachsen. Erste und zweite Hälfte. Halle: Otto Hendel (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 18), künftig: Gillert, Nr. des Briefes, S.; kurz zuvor war die philologisch kompetentere und auch in der Datierung der Briefe zuverlässigere Ausgabe von Krause, Carl (Hg.) (1885): Der Briefwechsel des Mutianus Rufus. Ges. und bearb. v. Carl Krause. Kassel: A. Freyschmidt (Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Supplement. N. F. 9), erschienen, die leider nicht komplett ist (da früher gedruckte Briefe nur regestiert sind); literaturgeschichtlich wertvoll ist vor allem Krauses Einleitung »Mutians Leben«, ebd. S. I – LXVIII. Da es von Mutians Briefwechsel keine deutsche Übersetzung gibt, werden alle Zitate in diesem Beitrag übersetzt. 6 Die Mitglieder dieses Freundeskreises, dem mit einer gewissen Einschränkung auch Mutians zahlreiche Diener zuzurechnen wären, werden in den Einleitungen der beiden Editionen vorgestellt: Gillert (1890), S. XXIX – LII, bzw. Krause (1885), S. VII – XV. Vgl. dazu ferner Kleineidam, Erich (1992): Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392 – 1521. Teil II: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1460 – 1521. 2., erw. Aufl. Leipzig: St.-Benno-Verlag (Erfurter theologische Studien 22), passim; Junghans, Helmar (1984): Der junge Luther und die Humanisten. Weimar : Böhlaus Nachfolger (Arbeiten zur Kirchengeschichte 8), passim; Bernstein, Eckhard (1997): Der Erfurter Humanistenkreis am Schnittpunkt von Humanismus und Reformation. Das Rektoratsblatt des Crotus Rubianus. (Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten). In: Pirckheimer Jahrbuch 12, S. 137 – 165; Stievermann, Dieter (2002): Zum Sozialprofil der Erfurter Humanisten. In: Huber-Rebenich, Gerlinde / Ludwig, Walther (Hg.): Humanismus in Erfurt. Rudolstadt / Jena: Hain Verlag, S. 33 – 53; Stievermann, Dieter (2002): Marschalk (ca. 1470 – 1525), Spalatin (1484 – 1545), Mutian (ca. 1470 – 1526), Hessus (1488 – 1540) und die Erfurter Humanisten. In: von der Pfordten, Dietmar (Hg.) (2002): Große

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Mittelpunkt, Subjekt und Objekt zugleich, die faszinierende Person und persönliche Philosophie des in Italien zum Humanisten gereiften Conradus Mutianus Rufus (1470/71 – 1526, künftig: Mutian) bildete.7 Es handelt sich bei diesem Kreis nicht in erster Linie um eine freundschaftlich verbundene Sodalität, die sich auf eine kollektiv bejahte ›Idee‹ verständigt hat und zu deren Entfaltung jeder je nach Begabung gleichberechtigt seinen individuellen Beitrag leistet: Vielmehr sind die Freunde hier auserwählte und in der Regel aufrichtig geliebte Gefährten ihres Mentors und »Führers«8 Mutian, der sie nach seinen sehr eigenen Vorstellungen zum gemeinschaftlichen Genuss eines gebildeten, würdigen und heiteren Lebens heranziehen wollte, wobei er jeden einzelnen individuell förderte und betreute, die Gemeinschaft freilich auch selbstverständlich zum eigenen Vorteil und persönlichen Trost in Anspruch nahm. So besteht der Freundeskreis, genau besehen, aus einer Addition von Einzelfreundschaften mit Mutian. Von ihm als Zentrum strahlen die Radien der Sympathie aus zu den Freunden in der Außenwelt. Deren Vernetzung untereinander ist sekundär und kommt in der Korrespondenz nur schwach zum Ausdruck.9 Der spezifische Wert dieses Briefwechsels besteht in seinem einzigartig privaten, fast verschwörerisch diskreten Charakter. Die Briefe sind nicht nur von vornherein ohne die Option einer späteren Veröffentlichung verfasst – Mutian hatte sich nach dem Vorbild von Sokrates und Christus grundsätzlich entschieden, nichts Geschriebenes zu hinterlassen! –, in sehr vielen Fällen befahl er sogar, aus berechtigter Sorge, ihr oft subversiver Inhalt könnte publik werden, ihre sofortige Vernichtung. Das Vertrauen darauf, dass man ›ganz unter sich‹ war, befreite von Zwängen jeder Art und erlaubte bzw. produzierte sowohl eine Denker Erfurts und der Erfurter Universität. Göttingen: Wallstein, S. 118 – 142; Rädle, Fidel (2013): Art. Mutianus Rufus, Conradus. In: Worstbrock, Franz Josef (Hg.): Deutscher Humanismus 1480 – 1520. Verfasserlexikon. Bd. 2. Berlin / Boston: de Gruyter, Sp. 377 – 399, hier Sp. 381 f. und 392 – 397. 7 Zu Persönlichkeit und Werk Mutians mit der wichtigsten Sekundärliteratur vgl. Rädle, Fidel (2013): Art. Mutianus Rufus (Anm. 6) ; Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus. In : Huber-Rebenich, Gerlinde / Ludwig, Walther (Hg.): Humanismus in Erfurt. Rudolstadt / Jena: Hain Verlag, S. 113 – 129 ; Rädle, Fidel (2010): Reuchlin und Mutianus Rufus. In: Kühlmann, Wilhelm (Hg.): Reuchlins Freunde und Gegner. Kommunikative Konstellationen eines frühneuzeitlichen Medienereignisses. Ostfildern : Thorbecke (Pforzheimer Reuchlinschriften 12), S. 193 – 212; Rädle, Fidel (2011): Mutianus Rufus (1470/1 – 1526) – Ein Lebensentwurf gegen die Realität. In : Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies 9, S. 3 – 33; Fasbender, Christoph (Hg.) (2009): Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein. Gotha : Forschungsbibliothek Gotha (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 45). 8 »Ductor enim cohortis literarie Mutianus non desinit nos milites suos hortari«, schreibt Urban an den befreundeten Fuldaer Abt Hartmann (Gillert, Nr. 258, S. 342). 9 Die allermeisten Antworten auf Mutians Briefe sind den schwierigen Überlieferungsverhältnissen zum Opfer gefallen.

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geistige und moralische Freizügigkeit, wenn nicht gar Frivolität, als auch eine Lässigkeit des sprachlichen Ausdrucks, wie sie in keinem vergleichbaren Briefwechsel zu finden sind. Der Mutian-Briefwechsel ist weit davon entfernt, ein zeitlich und thematisch kohärentes Corpus darzustellen. Die erhaltenen etwa 645 Briefe (zum Teil mit Beilagen) machen nur einen geringen Bruchteil der tatsächlichen Produktion aus: Ihre Überlieferung setzt erst ein mit dem Jahr 1502, in dem Mutian sein dreißigstes Lebensjahr bereits überschritten hatte.10 Dass sie wenigstens zum Teil gerettet wurden, ist nur der tatkräftigen Pietät seiner Freunde zu verdanken. Mutian, als Konrad Muth am 15. Oktober 1470 oder 1471 in Homberg bei Fritzlar in Hessen von begüterten Eltern geboren, begann nach dem Besuch der von Alexander Hegius geleiteten Lateinschule in Deventer, wo Heinrich von Amersfoort sein Lehrer und Erasmus von Rotterdam sein condiscipulus war, im Sommersemester 1486 gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Johannes das Studium der Artes an der Universität Erfurt, das er 1492 mit einem glanzlosen Magisterexamen abschloss. Nach etwa zweijähriger Lehrtätigkeit an der ArtesFakultät und ohne einen Abschluss seines inzwischen begonnenen Jurastudiums erreicht zu haben, verließ er Erfurt, wo er viele Freunde (u. a. Maternus Pistoris, Nikolaus Marschalk, Thomas Wolf d. Jüngeren und den späteren Fuldaer Benediktinerabt Hermann von Kirchberg) gewonnen hatte, und ging für etwa acht Jahre (1494 – 1502) nach Italien. Über die Stationen seines dortigen Studiums gibt es nur spärliche Informationen. Dass er in Rom war, lässt sich mit guten Gründen vermuten.11 Sicher bezeugt sind Bologna (wo er gemeinsam mit Thomas Wolf den Philologen und Dichter Filippo Beroaldo d. Ä. hörte), Ferrara (wo er 1501 zum Doktor beider Rechte promoviert wurde) und Florenz mit der Akademie des Marsilio Ficino (1433 – 1599), in dessen neuplatonischer Philosophie Mutian einen Weg in die Freiheit fand. Tief beeindruckte ihn die Begegnung mit dem für immer bewunderten Dichter Baptista Mantuanus (1448 – 1516). Von großem praktischen Nutzen war die Freundschaft mit dem Verleger Aldus Manutius (ca. 1450 – 1515), der den Bibliophagen Mutian später von Venedig aus zuverlässig mit den wichtigsten Neuerscheinungen, darunter vielen Graeca, versorgte.

10 Eine hypothetische Kalkulation dazu bei Rädle, Fidel (2010): Reuchlin und Mutianus Rufus (Anm. 7), S. 193 f. Krauses Vermutung, das auffällige Versiegen der Korrespondenz seit Herbst 1515 könnte sich aus der allgemeinen Geheimhaltung von Informationen im Zusammenhang mit den strikt anonymisierten »Epistolae obscurorum virorum« (in 2 Bänden erschienen 1515 und 1517) erklären, hat eine gewisse Plausibilität. Vgl. Krause, Carl (Hg.) (1885): Der Briefwechsel des Mutianus Rufus (Anm. 5), S. LVI. 11 In dem gleich zu besprechenden Brief (Nr. 1) an Johannes Burckard grüßt er als Freund ›seine‹ Kardinäle in Rom.

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Es ist zu beklagen, dass sich von Mutians Italienaufenthalt nahezu keine direkten Zeugnisse erhalten haben. Der einzige Brief aus dieser prägenden Lebensepoche (und überhaupt der erste Brief der Sammlung) ist geschrieben am 1. Juni 1502: Mutian wendet sich hier, noch von Bologna aus, innerlich aber offenbar schon auf die Heimat und ihre bedenkliche innere Verfassung fixiert, an seinen Landsmann Johannes Burckard, der in Rom das einflussreiche Amt des päpstlichen Zeremonienmeisters bekleidete. Ihm lässt er eine Mahnschrift mit dem Titel »Concordia curatorum et fratrum mendicantium« zukommen, die der oberrheinische Frühhumanist Jakob Wimpfeling (1450 – 1528) unter dem Pseudonym Wigandus Trebellius aus Sorge um die innerkirchlichen Verwerfungen in Deutschland, speziell die Streitigkeiten der Ordensgemeinschaften, verfasst hatte. Mutian empfiehlt Burckard, das Werk auch weiteren gelehrten Kirchenmännern in Rom zur Lektüre zu geben, vor allem »meinen beiden hochwürdigsten Herren Kardinälen von Siena und Alexandria« (»reverendissimis dominis meis Senensi et Alexandrino cardinalibus«), von denen der erstere ein Jahr später für freilich nur vier Wochen zum Papst (Pius III.) gewählt wurde. Die folgenden vermutlich ereignisreichen fünfzehn Monate, in denen sich Mutian wieder in Deutschland zurechtfinden musste, sind im Briefwechsel nicht dokumentiert. Der nächste Brief (Nr. 2) datiert vom 1. Oktober 1503 und ist, wie ausnahmslos alle künftigen Mutian-Briefe, bereits in Gotha geschrieben. Sein Adressat steht – auch in Mutians Biographie – schlechthin für eine Epoche: Johannes Reuchlin (1455 – 1522). In der kurzen Zeit seit seiner Rückkehr aus Italien hatte Mutian mit einer für ihn ganz untypischen Konsequenz sein Leben neu geordnet und endgültig eingerichtet. Zunächst schien er sich als Doktor beider Rechte mit Italienerfahrung zu empfehlen für eine Anstellung in der Kanzlei des hessischen Landgrafen Wilhelm II. (d. J.) in Kassel, wo sein jüngerer Bruder (gest. 1504) als Jurist tätig war. Da er jedoch die Unvereinbarkeit dieser Beamtentätigkeit mit seinem in Italien entwickelten Freiheitsbedürfnis früh erkannte, quittierte er unverzüglich den Dienst, ließ sich zum Priester weihen und trat, wohl eher aus Kalkül als aus geistlichem Eifer,12 in Gotha in den Konvent der Augustinerchorherren ein. Als Regularkanoniker erwarb er eine Pfründe an der dortigen Stiftskirche Sankt Marien und ein Haus hinter dem Dom, in dem er fortan wohnte. Weitere Pfründen, bei deren Erwerb – sei es für sich selber oder auch für seine Freunde – er nie zimperlich war, dazu ererbtes Vermögen in Hessen und die Erbschaft seines im Dienst des Mainzer Erzbischofs früh verstorbenen älteren Bruders (u. a. ein Haus und ein Weinberg in Erfurt) ermöglichten Mutian für längere Zeit

12 Es dauerte elf Jahre, bis Mutian seine erste Messe hielt; vgl. dazu Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus (Anm. 7), S. 113 f.; vgl. auch unten Anm. 18.

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ein wirtschaftlich sorgenfreies Leben.13 So konnte er sein Haus in Gotha nicht nur aus philosophischer Überzeugung mit der Inschrift »Beata Tranquillitas« (»Selige Ruhe«) versehen, die zum programmatischen Motto seines Lebens und zum Losungswort seines Freundeskreises wurde. Hier lebte er ohne Unterbrechung und mit zunehmender, durch das Unverständnis seiner Umgebung geförderter Scheu vor öffentlichen Auftritten oder gar Reisen, 23 Jahre bis zu seinem Tod am 30. März 1526. Hier lebte er inmitten seiner Freunde und Bücher nach einem aus Italien importierten Freiheits- und Glücksmodell, das jedoch im Laufe der Zeit immer stärker störenden Wirklichkeitsproben ausgesetzt war und schließlich durch politische Umbrüche und weltanschauliche Erschütterungen schmerzlich, fast tragisch, falsifiziert wurde.

13 So Stievermann, Dieter (2002): Zum Sozialprofil der Erfurter Humanisten (Anm. 6), S. 39 f., in Übereinstimmung mit Gillert (Anm. 5), Einleitung, S. XXVI f.; dazu steht nicht im Widerspruch die später von Joachim Camerarius gerühmte persönliche Anspruchslosigkeit Mutians, der auf die ihm eigentlich offenstehende glänzende Karriere verzichtet und »die bescheidene, unterdurchschnittlich ausgestattete Existenz eines Mitglieds des Gothaer Konvents« vorgezogen habe: »splendori et opulentiae fortunam exilem, et infra mediocritatem positam, Gothani collegii praetulit.« Vgl. Camerarius, Joachim: Narratio de Helio Eobano Hesso. Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus. Lateinisch und deutsch. Mit der Übers. v. Georg Burkard hg. und erl. v. Georg Burkard und Wilhelm Kühlmann. Heidelberg: Manutius Verlag 2003 (Biblioteca Neolatina 10), S. 68. Camerarius hat Mutian erst im Jahr 1518 kennengelernt, als dieser seine beste Zeit bereits hinter sich hatte und möglicherweise tatsächlich schon etwas verarmt lebte. Im Übrigen ist Mutians sympathisches Portrait bei Camerarius als ein Produkt tiefster Verehrung gewiss etwas zu wohlwollend ausgefallen. Das gilt mit Sicherheit auch für die sehr nachsichtige Bewertung seiner »dignitas« und »gravitas«, die mit Manchem, was im Folgenden zur Sprache kommen wird, keineswegs übereinstimmt. Die betreffende Stelle lautet: »Dignitas in hoc erat summa, grauitas autem ea, quae aetatem et locum, quem tenebat, deceret, commista illa quidem cum comitate incredibili.« (Ebd.) Die Übersetzung dieser Stelle in der neuen Edition (ebd., S. 69) ist unzulänglich. Ein Vorschlag: »Er verfügte über höchste Autorität. Sein Verhalten aber war so ernsthaft [seriös], wie es sich für sein Alter und die Stellung, die er innehatte, gehörte, wozu sich allerdings eine unglaubliche Leutseligkeit [gewinnende Heiterkeit] gesellte.« Dass Mutian sich gar »sehr an Späßen [ergötzte], falls sie nicht unanständig waren« (so die neue Übersetzung, ebd. S. 71), hat nicht einmal Camerarius behauptet; er schreibt nämlich (S. 70): »Erat autem festiuissimo ingenio, et liberalibus iocis admodum delectabatur.« Vielmehr hatte er, wie sich auch zeigen wird, seinen Spaß an geistreich-ironischen (»freimütigen«, so Krause, Carl [Hg.] [1885]: Der Briefwechsel des Mutianus Rufus [Anm. 5], S. XXXIX) Scherzen, die er z. B. anderswo »nugae non illiberales« nennt. Vgl. Gillert (Anm. 5), Nr. 103, S. 143.

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2.

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Italienische Persönlichkeitskultur und deutsche Klerusdisziplin

Mutian hat die kulturelle Differenz zwischen Deutschland und Italien von Anfang an sehr bewusst erlebt und, explizit oder implizit, in zahllosen Erklärungen seines persönlichen Naturells und seiner geistigen Position zum Ausdruck gebracht. In einem Brief aus der Frühzeit seiner Freundschaft mit Heinrich Urban,14 dem wir übrigens die Rettung des größten Teils der Korrespondenz verdanken, erklärt er (innerhalb eines fiktiven Dialogs) selbstbewusst: Dicant maligni Mutianum non esse theologum, non iurisperitum, non admodum literatum. Fateor et humilibus homo Christianus acquiesco. Id tamen scio nos in omni doctrinae genere nedum in sacris literis et iure, tantum profecisse, quantum ab homine barbare nationis fieri potest. (Gillert, Nr. 96, S. 138) (Sollen meine Lästerer doch meinetwegen sagen, Mutian sei ja kein echter Theologe, kein echter Jurist, und er sei auch nicht sehr gebildet. Das gebe ich sogar zu und bin darin als Christenmensch mit den Demütigen einig. Aber ich weiß auch, dass ich es in jeder wissenschaftlichen Disziplin, und erst recht in der Theologie und der Rechtswissenschaft, so weit gebracht habe, wie es einem Angehörigen dieser barbarischen Nation überhaupt nur möglich war.)15

Nicht zuletzt die feindselige Ablehnung, die er als vermeintlicher Vermittler revolutionären ›welschen‹ Denkens16 ertragen musste, veranlasste Mutian zu sehr deutlichen und offenen, meist apologetischen Selbstexplikationen. Aus diesem Grund erscheint sein Charakterbild so vielschichtig, meist überaus gewinnend, aber auch abstoßend. Sogar den Freunden musste er immer wieder 14 Abweichend von Gillert (Anm. 5) (»zwischen Ende 1505 und Herbst 1508«) setzt Krause (Anm. 5) den Brief (Nr. 48) sicherlich zu Recht noch in das Jahr 1505. Bei Gillert sind viele in den Handschriften nur nach Tag und Monat, nicht aber nach dem Jahr datierte Briefe sehr grob dieser Zeit zwischen 1505 und 1508 zugeordnet. Dagegen hat Krause, etwa durch die Beobachtung der sich allmählich entwickelnden Freundschaften, eine viel überzeugendere Chronologie gewonnen. 15 Mutians Verhältnis zum italienischen Humanismus ist, wie man sieht, emotionslos realistisch und ohne den aus Minderwertigkeitsgefühlen genährten z. T. nationalistischen Kulturrevanchismus, den Weiss (2003) beschrieben hat. Vgl. Weiss, James Michael (2003): Kennst du das Land wo die Humanisten blühen? References to Italy in the Biographies of German Humanists. In: Keßler, Eckhard / Kuhn, Heinrich C. (Hg.): Germania latina – Latinitas teutonica (Anm. 4), S. 439 – 455. 16 Vgl. dazu unten Anm. 20. Die Italiener seien eben keine Christen, sondern Epikureer, urteilte Luther noch Jahrzehnte später in den »Tischreden«, und er nennt in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise Mutian und repräsentative Mitglieder seines Freundeskreises: »Nos etiam in Germania habemus perfectum sodalitium Epicureorum: Crotum, Mutianum, Iustum Menium. Summa, Itali sunt prophani et Epicurei.« Luther, Martinus: Tischreden aus den dreißiger Jahren, hg. v. Oskar Brenner. Weimar : Böhlau 1914 (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimarer Ausgabe. Abteilung 2: Tischreden 3), Nr. 3795.

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seine elitäre philosophische Weltanschauung, die so vieles, was ihn umgab und von außen überfiel, affektiv negierte, verständlich machen.17 Anstößig schien der maßgeblichen Gothaer Gesellschaft von Anfang an die demonstrative Selbstisolierung Mutians und sein weitgehender Verzicht auf priesterliche Betätigung. Es dauerte, wie schon gesagt, elf Jahre, bis er am 4. April 1514, dem Fest des hl. Ambrosius, seine erste Messe feierte.18 Verstörend wirkte offenbar auch, dass er eine ausgesuchte Schar von Freunden um sich versammelte, die man bald unter den anrüchigen Begriff »Poetae« subsumierte.

3.

»Poeten verterben die universiteten«19

Am 21. Januar 1513 schreibt Mutian an Urban: Denique ut summam noveris, aiunt: Mutianus helt keyn messe, Urbanus ist auch eyn poete. Hec simplicia verba sunt, sed pestiferi homines venenum suum eo modo evomunt et nos walen esse garriunt. (Gillert, Nr. 213, S. 296) (Kurz und gut, sie sagen: ›Mutianus helt keyn messe, Urbanus ist auch eyn poete.‹ Das sind einfache [unverdächtige] Worte, aber diese Schurken verspritzen auf solche Weise ihr Gift und setzen das Gerücht in Umlauf, wir seien eigentlich Italiener.)20 17 Sie entwickelten eine gewisse Nachsicht mit dem seltsamen Mann in seiner »abgeschirmten Nische« (»ex angulo tranquillo« unterschreibt Mutian selbstironisch einen Brief vom September 1508; Gillert [Anm. 5], Nr. 107, S. 150). Vollends schwierig wurde es für die Freunde in den aufgeregten ersten Jahren der Reformation; Eobanus Hessus beschwert sich Spalatin gegenüber am 1. Juni 1521, dass Mutian in allen seinen Briefen an Freunde gegen Luther agitiere: »Aber wir müssen dem guten Mann auf seiner Insel verzeihen, der eben mit seiner seligen Ruhe leichter zurecht kommt als mit diesen gegenwärtigen Wirren« (»Sed ignoscimus bono patri in sua insula tranquillitati magis quam istis turbis assueto.« Gillert, Nr. 605, S. 282). Im folgenden Brief an Herebord von der Marthen (Gillert, Nr. 108, S. 150) verrät er mit ungewohnter Selbstkritik, dass er seine eigene bequeme Gelehrtenexistenz, abseits und gewissermaßen »im Schatten«, als etwas parasitär beurteilt, jedenfalls im Vergleich mit den »recte civiles viri«, die dem Allgemeinwohl dienten; vgl. dazu Rädle, Fidel (2011): Ein Lebensentwurf gegen die Realität (Anm. 7), S. 18 – 20. 18 Ursprünglich wollte er das bereits am 22. August 1513 tun, doch war damals das feine Messbuch, das er in Auftrag gegeben hatte, noch nicht eingetroffen (Gillert, Nr. 302, S. 289 f.). 19 Der von Mutian (Gillert, Nr. 129, S. 184) überlieferte zeitgenössische Ausspruch eines Benediktiners sei hier, sozusagen ›e contrario‹, den beiden in dieser Festschrift Geehrten zugespielt, die als die legitimen Nachfolger jener »Poeten« ihre Universität wohl kaum verdorben haben. 20 Krause (Anm. 5), Nr. 220, S. 274 – 276, dessen Datierung hier gegen Gillert (ca. 24. September 1512) übernommen ist, missversteht die bei Grimm vielfach belegte Benennung »Wale« für Italiener ; vgl. auch Gillert, Nr. 237, S. 315, und bes. Nr. 240, S. 317, wo sich Mutian bei seinem übrigens nicht vorbehaltlos akzeptierten Freund Musardus darüber beschwert, dass die Feinde der Humanisten allen Dichtern unterschiedslos den »Makel der Häresie« unterstellten.

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Den Kampf der Traditionalisten gegen die »poetae«21 haben in der Folgezeit auch die »Epistolae obscurorum virorum«, die ja aus Mutians Schule kommen, thematisiert. Bis das dort erschallende gemeinsame Gelächter möglich wurde, hatte Mutian als Gründer und Exponent des später so frech gewordenen Freundeskreises allerdings einiges zu erdulden. Er, der sich auf seine moralische Integrität (und auf die Würde der Poesie) so viel zugute hielt, war tief gekränkt von der allgemeinen, mit Angst und Misstrauen gemischten Geringschätzung, die man ihm und seinesgleichen entgegenbrachte. »Omnino derisi sumus ut poete« (Gillert, Nr. 209, S. 285), »man hat uns überhaupt einfach ausgelacht, weil wir eben ›Poeten‹ sind«, berichtet Mutian dem Freund im September 1512 über eine Begegnung mit seinen Widersachern.22 In einem weiteren Brief an Urban aus dem folgenden Jahr klagt Mutian über die Verleumdungen, denen er noch immer ausgesetzt ist: »Jetzt werde ich zwar nicht [mehr] ›Poet‹, sondern ›Philosoph‹ genannt, aber die Kränkungsabsicht, die dahinter steckt, ist die gleiche.« – »Iam non vocor poeta, sed philosophus, sed pari contumelia.« (Gillert, Nr. 282, S. 371) Kurz darauf erzählt er, sein Gothaer Erzfeind Morch habe einem Erfurter Augustiner auf die Frage, was Mutian wohl treibe, geantwortet: »Er philosophirt wie sein alt weise«, und auf die Beschwerde desselben, er sei »vor Mutiani thor gewest, er hat sein lassen verleucken«, habe Morch geantwortet: »Ja, er lasset kein fromen man zcu im dan die poeten.« (Gillert, Nr. 283, S. 372) Was der auf seine Weise philosophierende Mutian aus dem kultivierten und raffinierten Italien in sein barbarisches Vaterland mitgebracht hatte, war nicht nur die sozusagen selbstverständliche Begeisterung für die Antike als einer Lieferantin unerschlossener literarischer Schätze bzw. aufklärenden Weltwissens und der Impetus für deren pädagogische Vermittlung, sondern der persönliche Plan, um nicht zu sagen: das Experiment, hier sein Leben aus dem Geist der neuplatonischen Philosophie zu gestalten, den er bei Marsilio Ficino und seinem Kreis hatte in sich aufnehmen können. Das bedeutete, grob gesprochen, den Ausstieg aus der christlichen Monokausalität des Denkens und Fühlens zugunsten einer geistigen Freiheit, die keine Erkenntnismöglichkeit des unbegrenzt waltenden Göttlichen als eines summum bonum ausschloss; das bedeu21 Über die heftigen und nicht eindeutig entschiedenen Erfurter Auseinandersetzungen in dieser Sache maßgeblich: Tewes, Götz-Rüdiger (2002): Weisheit versus Wissen: Beobachtungen zur philosophischen Prägung deutscher Humanisten. In: Huber-Rebenich, Gerlinde / Ludwig, Walther (Hg.): Humanismus in Erfurt. Rudolstadt / Jena: Hain Verlag, S. 55 – 89, bes. S. 69 – 81. 22 Bereits in seinem Brief vom 27. August 1506 beklagt Mutian, dass der einst »göttliche« Begriff »poeta« durch »teuflische Einflüsterungen« so suspekt geworden sei: »Nam divinum poetae nomen nescio quibus cacodaemonum aspirationibus invidiosum esse cepit.« (Gillert, Nr. 80, S. 120).

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tete die Anerkennung aller verfügbaren Philosophien23 und Religionen aller Zeiten, für deren Quintessenz Mutian die den Menschen bereits in dieser Welt erlösende Trias »Iustitia, pax et gaudium« gefunden und unter dem Namen »Christus« zusammengefasst hat: »Wer ist unser Erlöser?«, fragt er, und antwortet: »Gerechtigkeit, Friede und Freude [Glück]. Das nämlich ist [für mich] der vom Himmel herabgekommene ›Christus‹.« – »Quis est salvator noster? Iusticia, pax et gaudium. Hic est Christus, qui de celo descendit.« (Gillert, Nr. 29, S. 41) Mutians entgrenztes Religionsverständnis, dem ein souveräner Verzicht auf Transzendenz und ein entschiedenes Bekenntnis zu humaner Moralität entspricht, ist an anderer Stelle ausführlicher diskutiert.24 Für das hier zu erörternde Thema wichtig ist vor allem, dass Mutian in Italien einen besonderen Sinn für die Bedeutung der Freundschaft in einem von der Philosophie dominierten Leben entwickelt hat.25 Dafür gab es Exempel und Lehren aus der griechischen und römischen Antike, die in Ficinos Akademie wieder lebendig wurden.26 »Mir aber geht es in meinem Leben um Gerechtigkeit, Mäßigung, Duldsamkeit, Eintracht, Wahrhaftigkeit und harmonische Freundschaft«, schreibt Mutian in einem seiner frühen Briefe an Urban: »Nostre vero vite finis est iusticia, temperantia, pacientia, concordia, veritas et unanimis amicicia.« (Gillert, Nr. 82, S. 122)

4.

Freundschaften knüpfen und vernetzen

So ist es nicht überraschend zu sehen, wie Mutian bald nach seiner Ansiedlung in Gotha daran ging, zu ihm passende Freunde ›einzuwerben‹. Die Briefe aus dieser frühen Zeit wirken unternehmungslustig und durchweg munter, wie die folgenden Zitate zeigen werden. 23 Zum Platonismus und Neuplatonismus mit seinen naturspekulativen und hermetischen Ausformungen gesellen sich die von Mutian auffallend oft zitierten Prinzipien der Pythagoreer sowie die stoische und erst recht die epikureische Philosophie. 24 Vgl. Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus (Anm. 7), S. 118 – 121, und Rädle, Fidel (2011): Ein Lebensentwurf gegen die Realität (Anm. 7), S. 11 – 20: »Die Erprobung einer neuen Philosophie in Gotha«. 25 Auch ohne das philosophische Fundament hatte Freundschaft ihre sozusagen praktische Plausibilität: Die per se familienlose Existenz der im Ausland Studierenden war zweifellos in besonderer Weise auf die Kommunikation mit Freunden angewiesen und förderte im Übrigen nationale Zusammenschlüsse. Vgl. dazu Wiegand, Hermann (2001): Poetische Kommunikation. Der Paduaner Freundeskreis um Petrus Lotichius Secundus. In: Körkel, Boris / Licht, Tino / Wiendlocha, Johanna (Hg.): Mentis amore ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag. Heidelberg: Mattes Verlag, S. 541 – 559. 26 Vgl. dazu Dall’Asta, Matthias (2001): Amor Sive Amicitia (Anm. 4).

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Der bereits erwähnte Reuchlin ist sein erster deutscher Adressat. Nach einleitenden Komplimenten kommt Mutian in seinem Brief gleich zur Sache: »Saepe volebam auspicari tecum amicitiam« (»Oft schon wollte ich mit Dir eine Freundschaft eröffnen«), und zum Schluss bittet er Reuchlin unumwunden, ihn als Sympathisanten seines Namens und seines Ansehens in das Stammbuch seiner Freunde aufzunehmen: »[U]t Mutianum, tui nominis atque honoris studiosum in album amicorum recipias.« (Gillert, Nr. 2, S. 5)27 Mutian gewann Reuchlin tatsächlich zum Freund, was dann später für seinen Prozess wegen der Judenbücher bedeutsam wurde, als sich Mutian (mit den ebenfalls mobilisierten Freunden) entschieden und durchaus mutig auf Reuchlins Seite stellte. Leider sind von ihrer Korrespondenz nur sechs Briefe (je drei von beiden) erhalten. Jedenfalls hatte Mutian das erste berühmte, wenn auch nur ›korrespondierende‹, Mitglied seines künftigen Freundeskreises gewonnen. Später kamen mindesten zwei weitere große Namen dieser Art dazu: sein früherer Schulkamerad Erasmus, den Mutian, bewusst gegen Luther, als den wahren »instaurator theologiae« (Gillert, Nr. 563, S. 228) preist und der ihm am 17. Oktober 1518 einen Brief (Gillert, Nr. 579, S. 246) voller Begeisterung über die Genialität des von Mutian geförderten Dichters Eobanus Hessus geschrieben hat, sowie Kurfürst Friedrich der Weise.28 Aber Mutian brauchte konkret verfügbare Freunde, die ihn umgeben oder doch wenigstens besuchen, auf jeden Fall aber mit Briefen erheitern und auch trösten sollten. Wenigstens zwei sprechende Zeugnisse von Mutians Werbung um solche Personen seien noch zitiert. Den Bund zwischen seinen beiden wichtigsten Freunden, Heinrich Urban (Heinrich Fastnacht de Urba, 1494 – nach 1539) und Georg Burckhardt Spalatin (1484 – 1545), stiftet Mutian mit einem Brief an Spalatin aus dem Frühjahr 1505, in dem es am Anfang heißt: Cras, puto, videbis istic Urbanum, cum quo debes societatem coire. Preest enim dominationi amplissime et, quia defecit a barbaris, quibus est infestissimus, haud dubie stabit ab eruditis. (Gillert, Nr. 4, S. 7; Datierung nach Krause, Nr. 6, S. 6 f.)

27 Vgl. dazu Rädle, Fidel (2010): Reuchlin und Mutianus Rufus (Anm. 7), S. 196 f. 28 Den Kontakt mit ihm hatte Spalatin hergestellt. Wie Erasmus blieb auch Friedrich der Weise bis zum Ende ein treuer Freund und Bewunderer Mutians. Er bettelte geradezu um Briefe von ihm und wollte ihn noch im November 1520 in Wittenberg zum Nachfolger des Henning Goede als Professor der Rechte und zum Propst der Allerheiligenkirche machen (vgl. Gillert, Nr. 597, S. 272 f., und Nr. 601, S. 276 f.); seinen Dankesbrief für die Übersendung der »Heroides Christianae« von Eobanus Hessus schließt er mit den Worten: »Das haben wir euch gnediger meynung nit verhalten wollen, dan wir sind euch mit gnaden gneigt.« (Gillert, Nr. 422, S. 83)

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(Morgen wirst Du hier [in Erfurt], so glaube ich, den Urban sehen, mit dem Du einen Freundschaftsbund eingehen solltest. Er steht nämlich einer riesigen Domäne [des Zisterzienserklosters in Georgenthal] vor, und da er von den Sprachverhunzern, die er überhaupt nicht leiden kann, abgefallen ist, wird er in Zukunft zweifellos zu uns Humanisten halten.)

Ein kurzes Billett an Urban aus demselben Zusammenhang lautet so: Cura, ut diu bene valeas. Ego te diligo. Es enim communium studiorum vel singularis amator, ad hec humanus et disertus. Cetera pretereo, que multum laudis habent. Nos valemus. Spalatinum ama, literatissimus est. Vale. (Gillert, Nr. 97, S. 138; nach Krause, Nr. 7, in das Jahr 1505 zu datieren) (Sorge dafür, dass Du lange gesund bleibst. Ich bin Dir gewogen. Du bist nämlich ein einzigartiger Liebhaber unserer gemeinsamen Studien, überdies menschenfreundlich und redegewandt. Was außerdem noch sehr zu rühmen wäre, schenke ich mir. Mir selber geht es gut. Liebe unsern Spalatin, er ist ein wahrer Humanist. Leb wohl.)29

Bei dem bereits zum Freund gewonnenen Urban bedankt sich Mutian im Herbst 1505 für ein Geschenk30 und beschreibt, unter Bezugnahme auf die antike Freundschaftslehre, sein eigenes Verständnis von Freundschaft, das er auch ausdrücklich seinem ›Orden‹ zugrunde legt: At forsan in ea es opinione, qua sunt doctissimi viri, ut amiciciam non pretii mercedisque causa colendam, sed quod ipsa per sese plena virtutis honestatisque sit, expetendam esse ducas. Ego plane sic sentio teque amo ob ingenii et morum elegantiam, primum quod caste pureque lingua uteris latina, deinde quod mei ordinis homines, hoc est eruditos et probos, plurimum diligis. (Gillert, Nr. 23, S. 33) (Vielleicht aber teilst Du die Meinung hochgelehrter Männer und glaubst demnach, dass Freundschaft nicht wegen der Aussicht auf Lohn oder Dank gepflegt werden soll, sondern allein deshalb, weil sie an sich selbst völlig auf Tugend und moralischer Vortrefflichkeit beruht. Ich bin selber ganz und gar dieser Ansicht und liebe Dich ob der Feinheit Deines Geistes und Charakters, zunächst, weil Du über eine kultivierte und reine lateinische Sprache verfügst, sodann, weil Du die Mitglieder meines Ordens, das heißt gebildete und anständige Menschen, besonders schätzst.)

Hier und an vielen Stellen sonst sieht man, wie zielbewusst und strategisch Mutian seine Leute zusammenholt und über sie wiederum an neue Kandidaten 29 Die auffallenden Liebesbekundungen dieses Briefs fallen bei Mutian keineswegs aus dem Rahmen. Vgl. dazu weiter unten das Kapitel »Potencia Cupidinis« sowie Dall’Asta, Matthias (2001): Amor Sive Amicitia (Anm. 4), S. 57, über die Liebesmetaphorik und den unterschwellig homoerotischen Ton in Ficinos Freundschaftsbriefen. 30 Nicht selten werden Geschenke sowie beigelegte Briefe von weiteren Freunden zwischen den Korrespondenten hin und her geschickt. Allein fünf Briefe namhafter Freunde schickt Mutian im Sommer 1505 an Urban »im Namen der Sodalität«, »sodalitatis nomine« (Gillert, Nr. 8, S. 11 f.). Solche Aktionen sollten vermutlich den Neulingen das Gefühl vermitteln, zu einem respektablen Kreis zu gehören und selber akzeptiert zu sein.

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herankommt. Am 29. Juni 1505 beauftragt er Urban, dafür zu sorgen, dass sein Abt Johannes, der in den Briefen stets als »Duronius« benannt wird, Spalatin als Lehrer nach Georgenthal berufe, und er gesteht: Ego constitui per Spalatinum auspicari amiciciam cum cenobio vestro, ut esset ille quasi mediator inter nos sicut Christus inter Deum et hominem […]. (Gillert, Nr. 3, S. 5 f.) (Ich habe nämlich beschlossen, über Spalatin eine Freundschaft mit Eurem Kloster zu eröffnen, so dass er gewissermaßen ein Vermittler zwischen uns ist, so wie Christus ein Vermittler zwischen Gott und dem Menschen ist.)

Schließlich gelang es Mutian, durch die Vermittlung von Urban und Spalatin, der die Lehrerstelle tatsächlich erhielt, die Sympathie des Zisterzienserabtes zu gewinnen. Doch dauerte dessen lockere Zugehörigkeit zu Mutians Kreis nur kurze Zeit, weil sich der hochrangige Kleriker durch seinen Mangel an Bildung, vor allem aber durch seinen exzessiven Alkoholismus selber disqualifizierte.

5.

Mutians »ordo latinus«

Es war offensichtlich nicht zuletzt die in vielen Briefen beklagte Erfahrung der Hinterhältigkeiten und Anfeindungen seitens seiner Gothaer Gegner, die in Mutian das Bedürfnis verstärkte, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben. Der von Natur wehrlos ehrliche Nicht-Kämpfer Mutian konnte sich unmöglich allein inmitten einer solchen Umgebung behaupten.31 Er brauchte die Unterstützung von Freunden, und die Eingangsvoraussetzungen für die Mitgliedschaft in seinem Freundeskreis ergaben sich gewissermaßen von selbst aus Mutians persönlichen Lebensprinzipien: Es war das Bekenntnis zur humanistischen Kultur und zur antiken Literatur, das natürlich die Gegnerschaft zur scholastischen Theologie und ihren universitären Vertretern, den »sophistae«, implizierte.32 Dazu kam ein hoher moralischer Anspruch, wie er in den bisherigen Zitaten auf bisweilen fast anmaßende Weise formuliert ist.

31 »Ego tantas ubique vafricias esse animadverto, ut nostram amiciciam summopere augendam censeam« (»Ich beobachte überall so schlimme Hinterhältigkeiten, dass ich der Meinung bin: der Kreis unserer Freunde muss mit aller Macht erweitert werden«), so Mutian an Urban noch im Dezember 1512 (Gillert, Nr. 234, S. 313). 32 Über die zur damaligen Zeit sich vielfach durchkreuzenden Wege der Universitätsphilosophie (via antiqua und via moderna) im Zusammenhang mit Erfurt vgl. Tewes, Götz-Rüdiger (2002): Weisheit versus Wissen (Anm. 21); zu Mutian, der sich eher Personen als philosophischen Richtungen anschloss, dort bes. S. 73 – 79.

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Mutian nannte den von ihm ausgewählten Freundeskreis von Anfang an seinen »Lateinerorden« (»ordo latinus«).33 Zweck, Substanz und ›Gelübde‹ dieses ironisch verstandenen Ordens, der in der Tat gelegentlich parodistische Offizien (z. B. am 15. Oktober, Vergils und Mutians gemeinsamem Geburtstag) feierte, waren und sind nicht einfach zu benennen.34 Es ging im Wesentlichen darum, in der Gemeinschaft der Freunde auf gebildete35 und zugleich entspannte Weise36 richtig zu leben bzw. richtig leben zu lernen – denn Mutian war ein Pädagoge und verstand sich als solchen – sowie (auch außerhalb) in dieser Gesinnung miteinander unverbrüchlich solidarisch zu sein. Tätige Solidarität hat der sonst so wenig welttaugliche Mutian seinen jungen Freunden gegenüber jedenfalls vielfach geübt, indem er sich durch seine Fürsprache um ihr Weiterkommen kümmerte, ihnen auch Pfründen verschaffte oder, wie im Fall Eobans, zur Dichterkrönung verhalf. Der »ordo latinus« kannte, was übrigens generell auch für die humanistischen Sodalitäten in Italien und Deutschland gilt,37 keine geschriebene Regel, keine Statuten; maßgeblich waren, wie gesagt, die von Mutian sowohl approbierten wie verkörperten lebenstechnischen, moralischen und intellektuellen Normen. 33 Andere Bezeichnungen sind z. B.: »latinorum sodalitas« (Gillert, Nr. 10, S. 15), »latinorum centuria« (Gillert, Nr. 91, S. 130), »secta nostra« (Gillert, Nr. 77, S. 113), »cohors literaria« (Gillert, Nr. 258, S. 342). 34 In dieser Gemeinschaft findet sich, im Gegensatz zu jenen Sodalitäten, die Konrad Celtis etablierte und poetisch adelte, kein der Nation verpflichtetes Selbstverständnis und ganz und gar kein Anspruch, als »bildungssoziologische Kraft« in Erscheinung zu treten und anerkannt zu werden. Vgl. dazu Robert, Jörg (2002): Celtis’ »Amores« und die Tradition der Liebeselegie. In: Wiener, Claudia u. a. (Hg.): Amor als Topograph. 500 Jahre »Amores« des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Kabinettausstellung. Schweinfurt: Bibliothek Otto Schäfer (Ausstellungskatalog 18), S. 170. 35 Das heißt vor allem: im Bund mit den Autoren der Antike und der Renaissance. 36 Das Wortfeld liber bzw. libertas beherrscht sein Sprechen und Denken. Dem entspricht Mutians von Ficino übernommener Kampf gegen Enge und Angst (vgl. Gillert, Nr. 155, S. 228, die Warnung vor der »anxietas«, die von den Theologen »acedia« genannt werde). Mutian hat sich selbst oft als Pythagoreer bezeichnet; eine populäre pythagoreische Sentenz lautet: »Anulum ne feras!« – »Du sollst keinen Ring tragen!« Vgl. Pythagorae philosophi aurea verba. In: Ficinus, Marsilius: [Opera varia] s.t. Venetiis: Aldus Manutius 1497, Fol. XIIIv. 37 Vgl. dazu Wiegand, Hermann (2000): Phoebea sodalitas nostra. Die Sodalitas litteraria Rhenana. In: Wiegand, Hermann (Hg.): Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz. Ubstadt-Weiher : Verlag Regionalkultur, S. 29 – 49, hier S. 31, und Müller, Jan-Dirk (1997): Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana. (Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten). In: Pirckheimer Jahrbuch 12, S. 167 – 186, S. 167 f. Einen Überblick über die Forschungen zur Gestalt und Funktion der frühneuzeitlichen Sodalitäten findet man bei Wiegand, ebd., bes. S. 29 – 31; zu ihrer Entfaltung in Deutschland vgl. Klaniczay, Tibor (1987): Celtis und die Sodalitas litteraria per Germaniam. In: Buck, August / Bircher, Martin (Hg.): Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Amsterdam: Rodopi (Chloe. Beiheft zum Daphnis 6), S. 79 – 105.

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Im Gegensatz zu den Sodalitäten des Konrad Celtis oder auch Konrad Peutingers hatte Mutians Kreis – vielmehr Mutian als dessen Spiritus rector – erklärtermaßen kein Interesse an organisierten gelehrten Kulturinitiativen38 wie zum Beispiel der Edition historischer oder patriotisch bedeutsamer Werke.39 Dass trotzdem gerade in Mutians Umgebung so kreative Geister wie Crotus Rubeanus (1586 – 1535) oder Eobanus Hessus (1488 – 1540) gediehen, war ein Glücksfall, der allerdings für sich spricht. Was Mutians »ordo latinus« von den gelehrten Sodalitäten jedoch kategorial unterschied, war der Typus seiner Mitglieder. Das waren wahrhaftig keine wohlbestallten, gesellschaftlich etablierten Bürger, keine (wie Jan-Dirk Müller schreibt) »Prälaten, Juristen und Patrizier« und erst recht keine »reichen Rentiers«40 nach Art der Augsburger »Sodalitas Peutingeriana«, sondern überwiegend Studenten und junge Männer auf der Suche nach einem geistigen Standort bzw. einer beruflichen Existenz, darunter hochbegabte und weniger talentierte Dichter mit und ohne Zukunft.41 Charakteristisch für den Mutiankreis war eine jugendlich-lässige, grundsätzlich antimelancholische Lebensauffassung, die den traditionell fraglosen Superioritätsanspruch asketisch gelehrter oder gar asketisch religiöser Existenz relativierte und das natürliche Recht einer gesunden und behaglichen »vita vitalis« dagegenstellte.42 Für diese kühne Umschulung konnte sich Mutian sehr überzeugende Argumente aus Ficinos einschlägiger Schrift »De vita« holen, die den Leser unter Vernachlässigung jeglicher Transzendenz für ein möglichst langes und genussvolles Leben interessieren und ausrüsten, vor allem aber den ständig von der Melancholie bedrohten sitzenden (statt sich sportlich in der Natur bewegenden) Gelehrten eines Besseren belehren wollte. Während man aus den Briefen nur anfangs von gemeinsamen Unternehmungen in schöner Landschaft, einmal von einem Picknick am Fluss mit fröhlichem Gesang eines

38 Von sehr persönlicher und spontaner Art (und im Übrigen folgenlos) waren Mutians Anregungen für Urban, eine Biographie Bernhards von Clairvaux zu verfassen (Gillert, Nr. 53, S. 69), bzw. für Urban und Spalatin, mit dem Material der Predigten Leos des Großen ein kurzgefasstes Leben Jesu zu komponieren (»breviter componatis«; Gillert, Nr. 37, S. 48); dazu Fasbender, Christoph (Hg.) (2009): Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt (Anm. 7), S. 64 f. 39 Zu denken ist hier an die Herausgabe der Werke Hrotsvits von Gandersheim durch Celtis oder die Edition des »Ligurinus« durch Peutingers Kreis in Augsburg. 40 Vgl. Müller, Jan-Dirk (1997): Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana (Anm. 37), S. 174, S. 180. 41 Zu den ersteren gehören natürlich Eobanus Hessus und Euricius Cordus, zu letzteren etwa Hermann Trebelius, der auf Mutians eher geheuchelte Empfehlung hin von Friedrich dem Weisen 1508, sogar noch vor Eoban, zum Dichter gekrönt wurde (vgl. Gillert, Nr. 71, S. 98). 42 Dass in dieser Konzeption die überaus freizügige Bewertung und Handhabung der Sexualität eine große Rolle spielt, wird weiter unten in den beiden Schlusskapiteln deutlicher hervortreten, als dies in der bisherigen Literatur zu Mutian der Fall war.

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von Mutian gedichteten frivolen Liedes erfährt,43 ist die durch italienische Diätetik44 geschulte Sorge um die Gesundheit, vor allem die richtige Ernährung, durchgehend präsent.45 Was den Geist des »ordo latinus« jedoch unverkennbar macht, ist seine spielerische, parodistische und im Ernstfall auch ironische Qualität. Stets ist mit einem Umkippen der Sprache und der Gedanken in einen alles relativierenden Unernst zu rechnen. Mutian ist immer auf der Jagd nach dem uneigentlichen Ausdruck, was das Verständnis seiner Briefe oft schwierig macht. Das beginnt schon bei seiner geradezu obsessiv betriebenen Paganisierung des christlichen Vokabulars: Gott sei Dank wird bei ihm zu »laus Iovi et Iunoni« (Gillert, Nr. 264, S. 349), und die biblische ancilla domini Maria zur »Iovis famula« (Gillert, Nr. 472, S. 129). Solches Parodieren kann sich, wie in den »Epistolae obscurorum virorum« von Mutians Freunden lustvoll erprobt,46 im vorwiegend witzigen Spiel mit der lateinischen Sprache erschöpfen, sie kann aber auch in der riskanten Ironisierung und damit Unterminierung religiöser Riten oder Lehren und im Zynismus enden. Was jedenfalls auffällt, aber natürlich gut zur Neubewertung des innerweltlichen Lebens passt, ist die Ausblendung christlicher Eschatologie und jeglicher Todesvorsorge. Viel besser sei es, von der Ignoranz zur Erkenntnis fortzuschreiten, als »sich Hoffnungen auf das Jenseits zu machen« (»sperare futura«; Gillert, Nr. 93, S. 134), lehrt Mutian seine Jünger. Wie eine trotzige Antwort auf die weitverbreitete Angstfrömmigkeit des späten Mittelalters wirkt der Schluss eines Briefes an Urban, in dem vom Tod eines gemeinsamen Bekannten die Rede war :

43 Vgl. dazu Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus (Anm. 7), S. 122 f. 44 Nach den »animi bona«, d. h. »virtus et scientia«, um die sich der Mensch zu kümmern hat, kommen für Mutian an zweiter Stelle die »corporis bona« (Gillert, Nr. 95, S. 136). Er folgt darin den »sapientes Italiae« (Gillert, Nr. 163, S. 233), die etwas vom gesunden Leben verstehen. Ficinos (1516) »De vita« handelt im ersten Buch »de vita sana, sive de cura valetudinis eorum, qui incumbunt studio literarum«; vgl. Ficinus, Marsilius: [De vita] s.t. Venetiis: in Aedibus Aldi, et Andreae soceri 1516, Fol. 135r. Zu Mutians italienisch (auch von Bartolomeo Platina) beeinflusster Diätetik vgl. Fasbender, Christoph (Hg.) (2009): Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt (Anm. 7), S. 72 f. 45 Mutian selber litt, wie übrigens auch Cicero und Vergil (was ihn tröstete), unter einem schwachen Magen. 46 Diese »via facillima« des Lachens hat Justus Menius 1532 in einem Brief an Crotus Rubeanus im Rückblick auf die Blütezeit des Mutiankreises beschrieben. Vgl. dazu Rädle, Fidel (1994): Die »Epistolae obscurorum virorum«. In: Boockmann, Hartmut (Hg.): Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. PhilologischHistorische Klasse. Dritte Folge 206), S. 103 – 115, hier S. 107 – 109.

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Mi Urbane, decus ordinis latini, sis securus, magnanimus, fortis. Nam in portum longioris vite perveniunt, qui minus mortem metuunt. (Gillert, Nr. 94, S. 135) (Mein Urban, Du Zierde des Lateinerordens, sei ohne Sorge, bleibe souverän und stark! Denn in den Hafen eines längeren Lebens47 laufen nur jene ein, die den Tod weniger fürchten.)

Verdeutlicht heißt das nichts anderes als: Wer den Tod nicht fürchtet, hat ein längeres und glücklicheres Leben. Für das christlich vertraute Bild vom »Hafen der ewigen Heimat« im Jenseits hatte Mutian keinen Sinn. Ein anderer Brief an Urban und weitere Freunde schließt mit einem Epitaph auf den verstorbenen Dekan des Fuldaer Benediktinerklosters, und Mutian löst sich geradezu barsch von diesem etwas verlegenen und nur ganz undeutlich christlichen Text mit den Worten: Valeant humo tecti. […] Nunc ab ineptiis ad vitam et nos, qui sumus, vivamus sine sollicitudinibus. Neque id, quod omnibus necesse est decreto nature vitarique non potest, metuamus. (Gillert, Nr. 207, S. 339) (Genug jetzt von den unterm Boden Liegenden. […] Nun aber weg von diesem dummen Zeug und wieder hin zum Leben, denn wir, die wir ja immerhin noch da sind, wollen leben, ohne uns Sorgen zu machen. Und was allen durch das Gesetz der Natur auferlegt und nicht zu vermeiden ist, sollten wir nicht fürchten.)

6.

Die Blockade der verordneten Freiheit

Es liegt, wie bereits angedeutet, offen zutage, dass Mutians persönliche Weltanschauung die vorgegebene geltende ›Regel‹ des Lateinerordens war, zu der sich dessen Mitglieder rezeptiv und möglichst zustimmend zu verhalten hatten und zu der sie tatsächlich zunächst kaum etwas an eigener Erfahrung beitragen konnten. Das war für die innere Entwicklung der Gruppe von Anfang an nicht unbedenklich. Schon die Selbstverständlichkeit, mit der Mutian die Freunde auf seine Seite zog und mehr oder weniger nötigte, seine persönlichen Feinde als die ihren und die des ganzen Kreises zu betrachten, hatte etwas Gewaltsames und auch Selbstsüchtiges. So war es unvermeidlich, dass die von Mutian wie geliebte, aber ständig zu erziehende Schüler oder Söhne behandelten Sodalen im Lauf der Zeit abweichende Meinungen entwickelten, eigene Wege fanden und zuletzt auch anderen Angeboten folgten. Das gilt natürlich im Ideologisch-Politischen für das plötzliche und überwältigende Angebot der reformatorischen Lehre, die offenbar praktikablere Lebensperspektiven enthielt als Mutians sozial ziemlich 47 Die Verlängerung des Lebens war das zentrale Thema des zweiten Buches von Ficinos »De vita«.

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ratlose Privatphilosophie. In der Tat brachte die Reformation für seinen ›Orden‹ eine Krise (im Wortsinn): Fast alle Mitglieder schlossen sich Luther an, Wittenberg blühte auf, und Erfurt, die alte ideelle Heimat des Mutiankreises, versank in der Bedeutungslosigkeit.48 Für Mutian bedeutete der Verlust der Freunde, den er als Verrat empfand, eine menschliche Katastrophe, und der Sieg der Reformation einen ideologischen Schiffbruch. Doch davon kann hier nicht mehr gehandelt werden.49 Stattdessen soll noch von einem latent vorhandenen sozusagen strukturellen Faktor krisenhafter Störung die Rede sein, der Mutians Freundeskreis offensichtlich weit stärker betroffen hat als vergleichbare Sodalitäten – vielleicht müsste man aber auch einschränkend sagen: der in diesem nicht stilisierten Briefwechsel viel sichtbarer und authentischer zutage tritt. Dieser Faktor ist psychologischer und physiologischer Natur und betrifft das durch keine philosophische Doktrin geregelte und zu regelnde Problem der Sexualität im Männerbund, das sich auf vielfältige Weise in den Briefen spiegelt. Die überwiegend jungen und vitalen Freunde, denen Mutian seine Doktrin für die innere Befreiung des Menschen verordnete, fühlten sich im Lauf der Zeit offenbar zu stark dirigiert und bevormundet. Dass er ein Zuchtmeister sei, bekennt Mutian selber mehrfach: Fer, queso, iustam obiurgationem. Amicorum nemini parco, si erratur cum pernicie. (Gillert, Nr. 529, S. 193, am 21. Juli 1515 an Heinrich Eberbach) (Bitte lass Dir diese verdiente Zurechtweisung gefallen. Ich schone keinen meiner Freunde, wenn er in einem Irrtum befangen ist und damit in sein Verderben rennt.)

Als sich Eoban über Mutians Rügen beschwert, belehrt dieser ihn, ein Schmeichler sei bei aller Freundlichkeit doch stets ein Feind, hingegen seien Freunde noch mit der wütendsten Beschimpfung von Nutzen: »adulatorem esse blandum hostem, amicos turbulentissima castigatione prodesse« (Gillert, Nr. 497, S. 158). Die Atmosphäre im Freundeskreis war nie ganz frei von Spannungen und einzelnen, sogar dramatischen Emanzipationsversuchen der jungen Leute, die sich dagegen auflehnten, so prinzipiell mit Beschlag belegt und in Besitz genommen zu sein. Denn Mutians ungeduldiges Warten auf Briefe der Freunde, deren Aktivitäten (Studium oder berufliche Unternehmungen) sie natürlicherweise von der Gothaer beata tranquillitas fern hielten, verraten nicht selten Angst und latente Eifersucht, und seine tadelnden Mahnungen sind implizit Bitten um Liebesbeweise. Es bleibt offen, ob sich die umworbenen Freunde im 48 Vgl. Bernstein, Eckhard (1997): Der Erfurter Humanistenkreis (Anm. 6), S. 159 – 165. 49 Vgl. dazu das Schlusskapitel bei Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus (Anm. 7), S. 127 f.: »Die Steinewerfer und das Ende«.

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Klaren waren über ein schwerwiegendes Defizit der Lehre Mutians, das seinen Kreis letztlich unterminierte und auch unglaubwürdig machte. In dieser Lehre, die ja das gesamte Menschenleben regeln möchte, ist andauernd von Freundschaft und Liebe die Rede, aber die erotische heterosexuelle Liebe ist ausgespart und gänzlich unterdrückt, als wäre der Kreis a priori ausschließlich für Zölibatäre gedacht.50 Frauen kommen nicht vor – schlimmer noch: Sie kommen nur indirekt vor in der Form verächtlicher, vulgärster Maulhurerei. Es gibt vermutlich, außerhalb intendierter Pornographie, keinen zweiten literarischen Text aus dieser Zeit, in dem Obszönität im Reden und Denken so allgegenwärtig ist wie hier.51 Natürlich treten die theoretisch nicht vorgesehenen Frauen dennoch nicht nur verbal, sondern leibhaftig in Mutians Freundeskreis, und diese noch darzustellenden Fälle provozieren dort nicht nur psychische Verwirrung und handfesten Streit, sie legen auch die der Mutianschen Weltanschauung immanenten Inkonsequenzen und moralischen Defizite schonungslos bloß.

7.

»Potencia Cupidinis«

Es mag verwundern, dass Mutian sich immer wieder als Anwalt sexueller Enthaltsamkeit geriert, vor allem dann, wenn ihm das notorisch unzüchtige Treiben seiner Gegner und seiner klerikalen Mitbrüder dafür psychologischen Rückhalt zu geben scheint. Ein Brief an Urban vom 25. Juni 1510 (Gillert, Nr. 185, S. 258 – 260), der von einem seltenen Moment reumütiger Zuwendung Mutians zu den Lehren der Kirche (vielmehr der Heiligen Schrift) zeugt, thematisiert die »Schamhaftigkeit« (»pudicitia«), die nach seiner Ansicht im Leben wie im Dichten gewahrt werden sollte. Mutian verwünscht hier die »impudicitia« als eine Art Ruhestörung im geistig würdigen Leben und schwört: »Non sit nobiscum in castris ulla turpitudo« (»In unserm Lager soll kein Platz für irgendeine 50 Auch in der Freundschaftslehre des Ciceronischen Dialogs »Laelius« spielen Frauen (nach antiken Verhältnissen erwartungsgemäß) buchstäblich keine Rolle. Lediglich im Katalog der Gefahren, durch die eine Freundschaft zerstört werden kann (Cicero, Laelius [Anm. 1], §§33 – 35, S. 44 – 47), ist einmal die Rede von »Konkurrenz in Sachen einer Heiratspartie oder irgendeines anderen Vorteils, den zwei zugleich nicht erhalten können«: »dirimi [scil. amores] tamen interdum contentione vel uxoriae condicionis vel commodi alicuius, quod idem adipisci uterque non posset« (ebd., §34, S. 47; Übersetzung Max Faltner). 51 Vgl. die Zitate bei Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus (Anm. 7), im Kapitel »5. Freundschaften – Männer unter sich«, S. 125 – 127. Frivole Gespräche (»Venerisque iocalia verba«) gehörten einem Epigramm des Konrad Celtis zufolge (III 85,5) wesentlich zum humanistischen Trinkgelage. Derselbe Celtis verurteilt freilich in seinem Epigramm »De symposiis Germanorum« (II 15,2) die allzu wüsten Sitten am bayerischen Biertisch: »Nil nisi de obscoenis sermo pudendus adest.« (»Da gibt es nur schamlose, obszöne Reden.«) Vgl. Celtis, Konrad: Fünf Bücher Epigramme. Hg. v. Karl Hartfelder. Berlin 1881 (Nachdruck Hildesheim: Olms 1963).

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Schändlichkeit sein«). Und dann zitiert er einen »impudicus«, der solche Tabuisierung der Sexualität für übertrieben erklärt und wörtlich gesagt habe: »Futuaria libido non est peccatum, pedicaria venus turpis est« (»Heterosexueller Verkehr ist keine Sünde, nur Sex unter Männern ist schändlich«). Das quittiert Mutian mit der empörten Feststellung: Quasi monachus, ne pedicare incipiat sodales, futuere scorta feda debeat. Utrumque scelus est piandum verberibus et scopis. (Gillert, Nr. 185, S. 259) (Als ob ein Mönch, nur um keinen Verkehr mit seinen Mitmönchen anzufangen, mit schmutzigen Huren schlafen dürfte! Nein, beides ist Sünde und muss mit Prügeln und Auspeitschen bestraft werden.)52

Nicht immer ist Mutian in dieser Frage so entschieden. Er ist überhaupt wenig prinzipientreu und lässt fast immer mit sich reden. Verglichen mit ihm ist Erasmus, den Luther einen ›Aal‹ nannte, ein wahrer Fels. Als der begabte Jurist und spätere Kaiserliche Rat Herebord von der Marthen (ca. 1480 – 1529) im Sommer 1509, durch die Macht des Eros (»potencia Cupidinis«) blockiert, den Briefkontakt zu Mutian vernachlässigte, schrieb ihm dieser einen warnenden und mahnenden Brief, in dem er ihn aufruft, diesen Irrweg zu verlassen und in seine väterlichen Arme zurückzukehren: »Excita te ipsum, queso, et redi in viam et Mutianum amanter amplectere, qui tuo honori favet ut parens.« (Gillert, Nr. 141, S. 199) Gleichzeitig aber signalisiert er Entgegenkommen und »setzt das Verdammungsurteil aus« (»damnatricem prorogo sententiam«), denn: Ego facilis sum et clemens et fero in iuventute libertatem, in monacho lasciviam, in pedagogo delitias. Neminem condemno […]. (Gillert, Nr. 141, S. 199) (Ich lasse ja mit mir reden, ich bin nachsichtig und ertrage bei der Jugend Zügellosigkeit, beim Mönch die Geilheit und beim Lehrer den Liebling.53 Ich verurteile niemanden.)

Der Schluss diese Zitats mit der Verwendung des Begriffs »delitiae«, der die Vorstellung des Platonischen ›Pädagogischen Eros’‹ evoziert, gibt Anlass, in aller 52 Man muss sich notgedrungen spätestens hier mit Mutians Vokabular auf diesem Gebiet vertraut machen: futuere (transitiv) steht für heterosexuellen, pedicare für homosexuellen Geschlechtsverkehr ; dazu gehört das nomen agentis fututor (mit dem Adjektiv futuarius) bzw. pedicator (Mutian schreibt meist statt pr(a)edicator ironischerweise pedicator); Priapus ist Metonymie für das männliche Glied (= mentula); sehr oft ist die Rede von cunnus (›Vulva‹), woraus bei Mutian wiederum ein Wortspiel wird: Statt coniugati (›verheiratete Männer‹) schreibt er cunno ligati (›an die Vulva Gefesselte‹). 53 Das vieldeutige Wort delitiae darf man, nach dem ›locus classicus‹ in Vergils Ecloga II 2, im vorliegenden Zusammenhang wohl im Sinne homosexueller Sympathie verstehen. Vgl. Vergil: Landleben. Bucolica. Georgica. Catalepton. Lateinisch und deutsch hg. v. Johannes und Maria Götte. München: Heimeran 1970 (Tusculum-Bücherei), S. 10 f.

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Kürze auf die gelegentlich erwogenen homosexuellen Neigungen Mutians einzugehen. Den wichtigsten Anhaltspunkt dafür liefert das bekannte Gedicht des Euricius Cordus (1486 – 1535) aus dem Jahr 1515 über seinen Besuch in der beata tranquillitas.54 Cordus, ein hessischer Landsmann Mutians, den dieser im Freundeskreis nie ohne Vorbehalte sah und als Dichter erst spät schätzen lernte, schildert darin in einem durchaus ironischen Ton, wie man in Mutians Haus, nachdem man geläutet hat, empfangen wird: Non fucata genas reserabit limina Thais, Horret enim sanctus talia monstra locus. Non vetus usque adeo sincerum Vesta pudorem Continuo fovit quam domus illa foco. Sedulus occurret puer exertusque fenestra Te, quare venias et quis et unde rogat. (Gillert, Beilage zu Nr. 477, S. 137, V. 27 – 32) (Es wird dir dort keine Thais55 mit geschminkten Wangen die Tür öffnen, denn dieser heilige Ort schreckt vor derartigen Monstern zurück. Niemals hat Vesta, die alte Göttin des Herdes, mit solcher Ausdauer die makellose Keuschheit behütet, wie es dieses Haus tut. Statt einer Thais wird dir hier nämlich ein Knabe entgegenkommen, den Kopf aus dem Fenster stecken und dich fragen, was du willst, wer du bist und woher du kommst.)

Mutian hat auf dieses Gedicht in einem Brief an Urban sehr ungehalten reagiert: Non placet, quod Euritius Itinerarium publicat. Me nimium laudat et satis incaute. Omittat ista nugamenta, nocent famae. Stultus homo, dum me Vestali castimonia celebrat, ingerit tamen pueri mentionem. Incidit in Scyllam cupiens vitare Carybdim.56 (Gillert, Nr. 480, S. 141) (Ich bin nicht dafür, dass Euricius sein Reisegedicht veröffentlicht. Sein Lob für mich ist übertrieben und zudem sehr unvorsichtig. Er sollte diesen Unsinn weglassen, er schadet nur meinem guten Ruf. Das ist doch ein törichter Mensch, wenn er mich wegen meiner Vestalischen Keuschheit feiert, gleichzeitig aber den Knaben ins Spiel bringt. Da ist er doch, indem er die Charybdis vermeiden wollte, in die Scylla geraten.)

Das Verhältnis zwischen Mutian und Herebord war, wie gleich noch deutlicher werden wird, sehr eng. Mutians stärkste Emotionen jedoch, die eindeutig erotische Qualität haben, betreffen einen Jüngling, der zwar nirgends als Adressat eines Briefes in Erscheinung tritt, der aber mehrfach im vertraulichen Gespräch mit Urban erwähnt wird: Es geht um den jungen und schönen Bernhard von Hirsfeld (auch Hersfeld) am Hof Friedrichs des Weisen, dem Mutian unbedingt 54 Vgl. die Beilage zu Gillert, Nr. 477, S. 137 f. 55 »Thais« ist der klassisch gewordene Name einer griechischen Hetäre. 56 Der letzte Satz ist ein hexametrisches Sprichwort. Vgl. Walther, Hans (Hg.) (1964): Proverbia Sententiaeque Latinitatis Medii Aevi – Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Reihenfolge. Ges. und hg. v. Hans Walther. Teil 2: F–M. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Nr. 12190.

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und heimlich ein kostbares Geschenk zukommen lassen will. Anfang Juni 1514 schreibt er an Urban: Item hoc, quod nunc dicam, arcanum habeto. Ich wolle gern dem Hersfelde ein herlich kermes keufen. De hac cura scribas et consulas mihi quam fidelissime. (Gillert, Nr. 375, S. 34) (Was ich jetzt sage, musst Du geheim halten: Ich möchte gern dem Hersfeld ein schönes Schmuckstück kaufen. Schreib und rate mir zu dieser Herzensangelegenheit nur streng vertraulich.)

Die Sache zieht sich über mehrere Briefe hin (vgl. das Register s.v. Hirschfeld), bis das Geschenk, ein mit duftender Salbe gefülltes rundes Amulett seinen Empfänger findet.57 Ein einziges Zitat aus einem etwa drei Wochen späteren Brief Mutians an Urban mag noch für sich sprechen: Hersfeldo darem quid, nescio. Vide, quid dandum sit honorario et ameno puero. Forsan credit in se nos esse ingratos et quasi exaruisse favoris et amoris semen. Intelligat et cognoscat tantus vir (virum appello, quia adolevit in iustam et spectabilem speciem et formam liberalem) cerebrum adhuc habere Mutianum. (Gillert, Nr. 386, S. 45) (Ich weiß gar nicht, was ich dem Hersfeld geben könnte. Sieh du zu, was man diesem verehrlichen und hübschen Knaben schenken kann. Vielleicht meint er gar, dass wir ihm gegenüber undankbar seien und dass gewissermaßen der Same unserer Gunst und Liebe vertrocknet sei. Der große Mann (ich nenne ihn jetzt ›Mann‹, denn er ist ja inzwischen herangewachsen zu einer richtigen und ansehnlichen Erscheinung und zu einer auffallenden Schönheit) soll wissen und zur Kenntnis nehmen, dass Mutian noch bei Trost ist.)

Schwer zu schaffen machte Mutian sein geliebter Herebord, den er sich immer als Stütze seines Alters und als dauernden Verteidiger ihres gemeinsamen Bildungsinteresses vorgestellt hatte. Bereits im Frühsommer 1508 klagt er Urban seine Enttäuschung über ihn. Bisher habe er mit ihm alles austauschen können. Nunc dulcis communicatio inacuit. Unde sit tantus acor vel pertinacis silentii vel contumatie, non intelligo. (Gillert, Nr. 76, S. 111) (Jetzt ist diese süße Verbindung bitter geworden. Ich verstehe nicht, woher diese Bitterkeit kommt, dieses hartnäckige Schweigen, diese Widerspenstigkeit.) 57 Es ist zu vermuten und wäre noch zu verifizieren, dass der »puer Ambrosius«, von dem in zwei früheren Briefen zwischen Mutian und Urban auf seltsam verschlüsselte Weise die Rede war (Gillert, Nr. 236, S. 314 und Nr. 272, S. 358), eben dieser Hersfeld ist. Beide Herausgeber haben vergeblich versucht, diesen vermeintlichen Eigennamen einer bestimmten Person zuzuordnen, und den Fall ungeklärt gelassen; in Wirklichkeit handelt es sich hier mit größter Wahrscheinlichkeit um das Adjektiv ambrosius (›göttlich, schön‹). Dazu passt Mutians Vorwurf an Urban, er sei allzu vertraut (»nimis familiaris«) mit diesem »wunderschönen und überaus süßen Jüngling« (»bellissimo ac suavissimo adulescenti«; Gillert, Nr. 272, S. 358).

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Vollends verstört ihn ein paar Jahre später, über Herebord hören zu müssen, dass der sich in Erfurt mit Huren herumtreibt und um die Häuser zieht, als ob er nicht im Begriff wäre, den Doktortitel zu erwerben: »Dicitur eciam meretricari et cursitare per omnes vias, acsi titulo non esset insignis.« (Gillert, Nr. 222, S. 301) Mutian beklagt Herebords monatelanges Schweigen, das er mit seinen Studienverpflichtungen entschuldige; dabei habe er sich doch eine Braut erwählt, und wenn deren Vater sein Einverständnis gegeben hätte, wäre er schon verheiratet (»iam esset maritus«)! Condono culpam, in graciam recipio. Sit postea diligentior in nostra amicicia. (Gillert, Nr. 313, S. 406) (Ich vergebe ihm seine Schuld und nehme ihn in Gnaden wieder auf. Er soll von jetzt an aber in unserer Freundschaft mehr Sorgfalt walten lassen.)

Man sieht: der eifersüchtige Mutian kämpft um seine Freunde, die ihre Freiheit suchen, deren Freiheit er aber gerade durch die Ehe gefährdet sieht. Wenige Wochen später schreibt Mutian an Herebord: Hec boni consule meque dilige saltem, si amare tantum dominas soles. Audivi aliquid de sponsa. Cave futuas in matrimonio. Contentus sis fututione extraordinaria. (Gillert, Nr. 325, S. 419) (Versteh’ das alles nicht falsch, und liebe mich wenigstens ein bisschen,58 wenn du schon sonst nur Damen zu lieben pflegst. Ich habe da nämlich etwas von einer Braut gehört. Nimm Dich davor in Acht, Deinen Geschlechtsverkehr in der Ehe zu suchen. Begnüge Dich doch mit dem unreglementierten!)

Der letzte Satz Mutians ist nicht etwa ein indezenter Lapsus, sondern Standard. Nicht nur seine Sprache fällt bei erotischen Themen automatisch ins Vulgäre, auch Mutians moralische Bewertung der Sexualität ist, seinem oben zitierten Bekenntnis zur pudicitia zum Trotz, programmatisch bodenlos und sozial geradezu unverantwortlich. Sexuelle Verfehlungen (»facinora Venerea«) sind als völlig unerheblich (»levissima«) zu vernachlässigen und gehören sowieso nicht in die Beichte (Gillert, Nr. 66, S. 91). Mutian spottet über seine Feinde, die er »Tawbenesser« nennt, dass sie das männliche Glied für den Teufel halten: »putant mentulam esse diabolum« (Gillert, Nr. 341, S. 434). »Die ›Tawbenesser‹ haben keinen Geschlechtsverkehr und hassen die Poeten«, belehrt er Urban, »und Du, ein ›fututor‹ und ein Liebhaber der Poeten, machst gemeinsame Sache mit denen!« (»Die Tawbenesser non futuunt, non amant poetas, et tu fututor et amator poetarum conspiras cum illis.«) (Gillert, Nr. 282, S. 371)

58 Man achte auf die hier betonte Differenzierung im Lateinischen: diligere meint im Gegensatz zu amare die nicht erotische Liebe.

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8.

Fidel Rädle

Freund Urban schwängert eine Nonne

Damals hatte Urban bereits eine einschlägige Affäre hinter sich gebracht, die den Kreis der Freunde, wie aus ihrem zeitweiligen Verstummen zu schließen, erschüttert haben dürfte (falls sie in die Sache überhaupt eingeweiht waren), in der Mutian jedoch als juristisch gewappneter pragmatischer Krisenbewältiger aus freundschaftlicher Solidarität eine eher bedenkliche, zynische Rolle spielte. Im Sommer 1508 war eine Nonne aus dem Kreuzkloster bei Gotha geschwängert und entführt worden bzw. aus dem Kloster geflohen, und Urban, auf den nach den Aussagen der Mitschwestern der dringende Verdacht fiel, bat in seiner Bedrängnis Mutian um Hilfe. Mutian rät ihm in seinem ersten Brief (Gillert, Nr. 73, S. 100 f., ca. 11. Juli) ganz sachlich, für den Fall, dass die Anschuldigung berechtigt sei, einfach um Erbarmen zu bitten. Dann nämlich werde die Schuld vergeben, denn Gott sei gnädig. Falls die Anschuldigung aber nichtig sei, solle er sich entspannen und einen guten Wein trinken: »Sin autem non rapuisti amatam, mitte consternationem et bibe bonum vinum.« (Ebd., S. 101) Kurz darauf folgt ein Brief an Urban, in dem Mutian als ein wahrlich skrupelloser und mit allen Wassern gewaschener Verteidiger seines Freundes die Entwicklung des Falles, vor allem seine Unterredung mit Urbans schon erwähntem Abt Duronius, vermischt mit allen möglichen gelehrten Assoziationen und Parallelen aus der Antike, ausführlich darlegt. Aus diesem mehr als acht Druckseiten umfassenden Brief folgt hier nur ein kleiner Ausschnitt über das Gespräch mit dem Abt, in dem Mutian Urbans offensichtliche Schuld, von der er selber natürlich auch überzeugt ist, listenreich leugnet. Es ist ein wahres Bubenstück: Respondi non esse credibile Urbanum pudore esse usque adeo profligato, ita perditis moribus, ita pronum in fedas atque inconcessas libidines, ut sororem suam, Christis sponsam genere nobilem in tam custodito sanctuario non solum humane censure bonorumque, quibus adheret, familiaritatis, sed etiam ordinis sui divinique iuditii oblitus visundi salutandique iure contrectaverit impudice vel abduxerit. Prudentior est, quam ut malorum demonum insidiis deceptus in puellari examine litare virilibus suis voluerit. Nunquam in eo vestigium insane voluptatis deprehendi. Homo egregie doctus bonas literas amat, mollem illam corruptamque Sardanapali vitam odit natus ad magna claraque negotia, que mandato tuo non minus sapienter quam feliciter gerit, totus pietate insignis, totus Mutiani admirator, totus integer scelerisque purus59, ut etiam divi Bernardi cubicularius eunuchus esse posset. Garrit forsan nescio quid cetus imperitarum virginum et repetit benevolentiam, que Urbano cum profuga fuit. (Gillert, Nr. 74, S. 102) (Ich habe ihm geantwortet, es sei schlechthin nicht glaubhaft, dass Urban so schamvergessen und von so verdorbenem Charakter sei und von so schmutzigen und ver59 Vgl. Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch hg. v. Hans Färber. München: Heimeran 1967 (Tusculum-Bücherei), S. 42 (Carmina I 22, 1).

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botenen Begierden beherrscht werde, dass er seine [geistliche] Schwester, eine Braut Christi von adliger Abstammung, in einem so gut behüteten Heiligtum, nicht nur ohne Rücksicht auf das schmähliche Urteil der Menschen und der mit ihm freundschaftlich verbundenen vorbildlichen Personen, sondern auch ohne den Schuldspruch des Ordens und das Göttliche Gericht zu bedenken, unter Ausnützung des Besuchs- und Begrüßungsrecht schamlos geschändet und entführt hätte. Er ist einfach zu klug, als dass er, von den Ränken der bösen Geister getäuscht, die Absicht gehabt hätte, in der Schar der Nonnen seinen sexuellen Trieben Befriedigung zu verschaffen. Niemals habe ich bei ihm eine Spur unbeherrschter Fleischeslust entdeckt. Der Mann ist hochgebildet und liebt die Wissenschaften, er verachtet das ausschweifende und verdorbene Genussleben, denn er ist geradezu geboren für die großen und bedeutenden Aufgaben, die er in deinem [des Abtes] Auftrag nicht weniger klug als erfolgreich ausführt; er zeichnet sich entschieden durch christliche Frömmigkeit aus, ist ein Bewunderer von Mutian und charakterlich so ohne Fehl und Tadel, dass er sogar der entmannte Kammerdiener des heiligen Bernhard60 sein könnte. Da redet wohl doch nur die versammelte Schar dieser unbedarften Jungfrauen irgendetwas daher und erinnert daran, dass Urban mit dieser Entflohenen auf gutem Fuße gestanden hat.)

Kein sympathisierender Gedanke wird an die Nonne verschwendet. Mutian überlegt, ob sie ihre Schuld wohl mit Geld tilgen werde, oder ob sie ins Gefängnis komme. Seiner Ansicht nach wäre eine Auspeitschung, begleitet von Nachtwachen, Hunger und Gebeten, Strafe genug. Schließlich seien allein die Schmerzen der Geburt die höchste Strafe. Nach einigen Überlegungen zur antiken Bewertung der Abtreibung schreibt Mutian – und er kann es auch in dieser Situation nicht lassen, heidnische Gottheiten ins Spiel zu bringen: Verum nemo coget amicam tuam, Urbane, conceptum a se abigere. Solvatur vulva in nomine sancte Iunonis, mox imploretur diva Cunina, que infantes tuetur in cunis. (Gillert, Nr. 74, S. 102, S. 108) (Doch niemand wird Deine Freundin, mein Urban, zwingen, ihre Leibesfrucht abzutreiben. So soll sie also gebären im Namen der heiligen Juno, gleich darauf mag dann die heilige Cunina angefleht werden, welche die Kinder in der Wiege beschützt.)

Dem Freund Urban wünscht er zum Schluss, dass die Nonnen mit ihren Verleumdungen bald aufhören möchten. Was Urbans Zukunft betrifft, so weiß er wohl und billigt es auch, dass dieser zu seiner bewährten »amatoria militia« zurückkehren werde. Urban wurde übrigens von seinem Abt ohne viel Aufhebens aus Georgenthal nach Leipzig zum Studium geschickt. Mutian schreibt ihm im Mai 1508, offenbar unmittelbar vor seiner Abreise:

60 Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153), der eigentliche (organisatorische und spirituelle) Begründer des Zisterzienserordens.

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Fidel Rädle

Tu vero, dulcis amice, non vitam deges in exilio, ut tui forsan arbitrantur, sed vives cum eruditis, cum bellis, cum amabilibus in solida et perpetua leticia. Duronius subsidia dabit. Habes et ipse praesidia nummaria et instrumenta tam honeste quam voluptarie vite. (Gillert, Nr. 75, S. 110) (Du aber, mein süßer Freund, wirst dort nicht etwa im Exil leben, wie Deine Amtsbrüder vielleicht meinen, sondern Du wirst mit gebildeten Männern, mit schönen und liebenswürdigen Frauen in gesicherter und dauernder Fröhlichkeit leben. Duronius wird Dich materiell unterstützen. Du selber verfügst ja auch über Geldmittel und über das Instrumentarium sowohl für ein anständiges wie für ein ausschweifendes Leben.)

Urban kehrte als promovierter »magister Lipsensis«61 noch im Jahre 1509 oder Anfang 1510 zurück und wurde auf Fürsprache Mutians zum Leiter des Georgenthaler Hofs in Erfurt ernannt. Sein Platz im Mutiankreis blieb ihm sicher.62

9.

»Vendita libertas«63 – Ehe unerwünscht

Durchaus verzeihlich und reparabel waren für Mutian Vorkommnisse, die in einem Kreis von viel Alkohol trinkenden jungen Leuten niemanden überraschen konnten. Einmal galt es z. B. die Folgen eines Streits zu schlichten, in dessen Verlauf Peter Eberbach den armen Dichter (»egestosus poeta«) Eoban geohrfeigt und letzterer sich durch einen körperlichen Überfall auf der Straße revanchiert hatte.64 Schon schwieriger war die Aufgabe, den allzu oft betrunkenen Eoban auf die rechte Bahn zurück zu bringen.65 Schlechthin unlösbar, weil strukturell mit dem geltenden Freundschaftsbegriff nicht kompatibel, war jedoch das Problem Ehe. Die Freunde konnten es nicht verstehen und kaum ertragen, wenn einer der Ihren seine Freiheit, die doch den »litterae« reserviert war, ›verkaufte‹ um einer Frau willen. »Eobanus sua sponte libertatem amisit. Omnes male taxant sponsalia« (»Eoban hat aus freien Stücken seine Freiheit weggegeben. Alle be61 Vgl. Krause, Carl (Hg.) (1885): Der Briefwechsel des Mutianus Rufus (Anm. 5), Nr. 92, Anm. 1. 62 Krause, der die Nonnen-Affäre in das Jahr 1510 datiert, schreibt in der Anmerkung 3 zu seinem Brief Nr. 140, S. 180 – 187 (= Gillert, Nr. 74, S. 102 – 109): »In Mutians Auffassung des Handels vermisst man übrigens den sittlichen Ernst. Er behandelt den Vorfall halb scherzhaft und legt den Hauptton auf die Vermeidung des öffentlichen Ärgernisses. Besonders am Schlusse des Briefes bekundet er eine ziemlich frivole Auffassung von Geschlechtssünden.« Vgl. Krause, Carl (Hg.) (1885): Der Briefwechsel des Mutianus Rufus (Anm. 5), S. 180. Beide Herausgeber des Briefwechsels neigen dazu, das Schockierende auszublenden. 63 Vgl. Gillert, Nr. 495, S. 156, Vers 5. 64 Vgl. die ausführliche Darstellung des Falls bei Krause, Carl (Hg.) (1885): Der Briefwechsel des Mutianus Rufus (Anm. 5), Nr. 110 mit Anm. 7. 65 Vgl. Gillert, Nr. 493, S. 153 und Nr. 556, S. 220 f.; vgl. auch Fasbender, Christoph (Hg.) (2009): Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt (Anm. 7), S. 101.

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werten diese Heirat negativ«), schreibt Mutian an Urban.66 Ehefrauen (gar mit Kindern) waren ein Karrierehindernis. »Eobanus utinam uxorem non haberet vel talem saltem non haberet, mitterem ad Eytelvolphum et melius haberet«, schreibt Mutian an Urban (»Wenn Eoban doch nur keine Frau hätte, oder wenigstens nicht eine solche: Ich würde ihn zu Eitelwolf [vom Stein] schicken, und es ginge ihm besser«; Gillert, Nr. 496, S. 157). An der wirtschaftlichen Not der beiden Poeten Euricius Cordus und Eobanus Hessus sind natürlich die Frauen schuld: Eobanus et Euritius egent. Urgent enim, ni fallor, uxores, ut procurent vite necessaria. Haud dubie felices essent, si uxores deessent. Sed hoc cave dixeris. Amant miseri neque ferunt contradicentem. (Gillert, Nr. 538, S. 200) (Eoban und Euricius sind mittellos. Wenn ich nicht irre, setzen ihnen ihre Frauen zu, dass sie das Lebensnotwendige besorgen. Ohne Zweifel wären sie glücklich, wenn es diese Frauen nicht gäbe. Aber das darfst Du nicht sagen. Die Armen sind halt von der Liebe gefangen, und sie können es nicht ertragen, wenn man etwas dagegen sagt.)

Von Frauen war im Mutiankreis, wie die durchweg obszönen Kommentare zu den im Briefwechsel vorkommenden Eheschließungen67 zeigen, nichts anderes zu erwarten bzw. nichts anderes gefragt, als die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse. Und das konnte man nach allen diesbezüglichen Zeugnissen auf anderem Wege einfacher und auch – dieses Argument taucht tatsächlich öfter auf – billiger bekommen!68 Es gab also bei nüchterner Betrachtung – eine humanemotionale war in diesem so programmierten Kollektiv nicht zu erwarten – keinen vernünftigen Grund zu heiraten. Es gab aber gewiss verborgene Gründe für Mutian und die Seinen, Heiraten der Freunde als Verrat an der Gemeinschaft und an deren humanistischen Idealen zu brandmarken. Das war die uneingestandene Eifersucht und Kränkung der verlassenen Freunde bzw. des stellvertretend für alle tonangebenden Freundes Mutian. Es war vielleicht auch die ständig wachsende Angst Mutians vor privater Vereinsamung und vor persönlichem Bedeutungsverlust: Eoban wurde auch ohne seine Fürsprache als Dichter immer berühmter, Erasmus beherrschte spätestens von der Mitte des zweiten Jahrzehnts an die Szene, Reuchlins Prozess, für den sich Mutian noch einmal mit allen Kräften und mit allen Freunden eingesetzt hatte, schleppte sich lange er-

66 Vgl. Gillert, Nr. 455, S. 113; weitere taktlose Äußerungen der Freunde bei Rädle, Fidel (2002): Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus (Anm. 7), S. 125 – 127. 67 Vgl. z. B. das obszöne Gedicht zu Eobans Hochzeit, Nr. 451, S. 108, oder die Beschreibung der nackten Frau auf dem Hochzeitspokal, Nr. 540, S. 202 f. 68 Vgl. z. B. Nr. 494, S. 154, und das Spottepigramm auf den frisch verheirateten Eoban, dem der Geschlechtsverkehr in der Ehe (anstatt außerhalb der Ehe) sehr teuer zu stehen komme (»magno tibi constat inire«, Nr. 495, S. 156).

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gebnislos hin, und zu guter Letzt trat Luther auf den Plan, der ihm in der Tat mehr Freunde entriss als die suspekten Gothaer und Erfurter Frauen. Es ist fast eine Ironie, dass ein erhaltener Brief aus späterer Zeit es ermöglicht, die beiden in strenger Misogynie erzogenen besten Freunde Mutians, die sich inzwischen für Luther entschieden hatten, zu dem hier zuletzt in Frage stehenden problematischen Thema zu vernehmen: Am 6. März 1526, keine vier Wochen vor Mutians Tod, schreibt Urban an den offenbar frisch mit »Catharina« getrauten ehemaligen Priester und künftigen Mitarbeiter Luthers Spalatin: Queris, quo in te animo sit Mutianus noster. Optimo scilicet et ceteri amici quoque. Cur enim maritum non amaremus, quem celibem venerati sumus? Ego profecto uxorem ducerem, ni me valetudo imbecillis et etas iam ingravescens prohiberet. Multa sunt in celibatu, precipue monachorum, que mihi vehementer displicent, quamvis Mutianus aliter sit animatus. (Gillert, Nr. 625, Beilage 2, S. 310) (Du fragst, was unser Mutian wohl von Dir denkt. Nur das Beste, und das gilt auch für die übrigen Freunde. Wie sollten wir jemanden, den wir als Unverheirateten verehrt haben, als Ehemann nicht lieben? Ich selber würde tatsächlich auch noch heiraten, wenn mich nicht meine schwache Gesundheit und mein bereits beschwerliches Alter daran hinderten. Es gibt vieles, was mir am Zölibat, zumal an dem der Mönche, heftig missfällt, auch wenn unser Mutian diesbezüglich anders gesinnt ist.)

Sicherlich hätte der ebenfalls ehelose Erasmus, auf den Mutian bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Reformation weit größere Hoffnungen setzte als auf Luther, für Spalatins und Urbans Haltung mehr Verständnis aufgebracht als sein alter Mitschüler Mutian. Zwar hatte auch er zeit seines Lebens fast nur Männer um sich, doch kannte und schätzte er die Familien seiner Freunde einschließlich der Ehefrauen und Töchter. Er war sogar ein durchaus charmanter Freund der Frauen und Verfasser einer »Laus matrimonii«. Über diese »Declamatio«, die zuerst 1518 in Paris gedruckt wurde, aber etwa 20 Jahre zuvor für einen Freund verfasst worden war, schreibt Franz Josef Worstbrock: Sie preist die Ehe als erstes und einziges von Gott noch vor dem Sündenfall gestiftetes Sakrament, als die der menschlichen Natur primär gemäße und für die Erhaltung der Menschheit unersetzliche Lebensform, preist sie als Quelle eines glücklichen Daseins und als Institution von hohem gesellschaftlichen Wert. Dem auf die Ehe gehäuften Lob fehlt nicht die brisante Note: Es geht zu Lasten des zölibatären Standes, dem ein der Ehe überlegener Rang abgesprochen wird.69

Der unironische Luther hatte es sowohl mit Erasmus wie mit Mutian schwer. Es gibt von ihm vernichtende Urteile über beide, die man auf den ersten Blick für 69 Worstbrock, Franz Josef (2008): Art. Erasmus von Rotterdam. In: Worstbrock, Franz Josef (Hg.): Deutscher Humanismus 1480 – 1520. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin / New York: de Gruyter, Sp. 658 – 804, hier Sp. 714 f.

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sehr ungerecht zu halten geneigt ist. Aber es ist gut möglich, dass er mit seiner monastischen Lebenserfahrung nicht nur in den kirchlichen Orden keinen Segen sah, sondern auch einem solchen aus reiner Literatur konstruierten PseudoOrden, wie ihn Mutian bezeichnenderweise aus dem ›unsoliden‹ Italien importiert hatte, a priori misstraute. Luther jedenfalls hatte ein anderes, sozial verantwortlicheres und gemeinschaftstauglicheres Konzept. Seine eigene Ehe beispielsweise hätte der ehemalige Mönch wohl niemals als Einbuße von Freiheit verstanden.70

70 Vgl. dazu Schilling, Heinz (2013): Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. 2., durchges. Aufl. München: C. H. Beck, S. 318 – 350: »VI: Angekommen in der Welt – Ehe, Familie, Großhaushalt.«

Reinhard Klockow

Philipp von Zesen: Der Autor und seine Autoren. Zur Frage von Zitat, Übernahme und Plagiat im 17. Jahrhundert

1. Im vielfältigen Oeuvre des umtriebigen Barockautors Philipp von Zesen (1619 – 1689) finden sich auch Werke, die man heute als ›Sachbücher‹ bezeichnen würde, etwa eine Geschichte der Niederlande, seiner zeitweiligen Wahlheimat, ein Handbuch der antiken Mythologie, eine (verlorene) Monographie über Ägypten und anderes dergleichen, teils auf Latein, teils auf Deutsch, manchmal auch – wie der »Leo Belgicus« – später von Zesen selbst ins Deutsche übertragen. In diese Reihe gehört auch das 1662 in Amsterdam erschienene »Coelum astronomico-poeticum«, der »Dichterische Sternhimmel«, wie Zesen den Titel übersetzt, wenn er in seinen deutschen Schriften auf dieses Werk verweist, in dem es um die mit den Sternbildern verknüpften antiken Sagen und Vorstellungen geht.1 Obwohl mit demonstrativer Bescheidenheit als »opusculum« (3,23) und »tractatulus« (*7v,12) bezeichnet, umfasst der Band mit Vorwort und Indices immerhin 440 Seiten und tritt mit allen zeittypischen Attributen von Gelehrsamkeit auf: Der Text ist gespickt mit Zitaten und Verweisen, die Dichtung und Wissenschaft von der Antike bis in Zesens Moderne aufmarschieren lassen, und das vorangestellte Autorenverzeichnis bringt es auf ganze 637 Namen, davon gut 300 griechische – eine imponierende Zahl, die wohl eben diesen Eindruck erzeugen soll. Denn solch eine Autorenliste, ein solch massiver Einsatz von Zitaten und Verweisen hat auch ostentativen Charakter : Schon auf den ersten Blick soll dem Leser klar sein, dass er es mit einem hochgelehrten Werk eines hochgelehrten Autors zu tun hat. Gelehrsamkeit oder, modern gesprochen, Wissenschaftlichkeit ist ja nicht nur eine Sache der Inhalte, sie ist auch mit einem bestimmten sprachlichen Gestus verbunden, den sich der Adept 1 Neuausgabe mit Übersetzung: von Zesen, Philipp: Coelum astronomico-poeticum sive mythologicum stellarum fixarum. Hg. und übers. von Reinhard Klockow. In: van Ingen, Ferdinand (Hg.): Philipp von Zesen. Sämtliche Werke. Bd. 18/1. Berlin / Boston: de Gruyter 2011 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 169). Ich zitiere den Text mit Seiten- und Zeilenangaben des lateinischen Originals.

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anzueignen hat. Auch heute ist die Versuchung groß, mit einer möglichst langen Literaturliste, die noch die entlegensten Beiträge aufspürt, und einem gewaltigen Fußnotenapparat zu imponieren; das gilt geradezu als Markenzeichen deutscher Geisteswissenschaft. Ein 2011 wegen Plagiatsvorwürfen zurückgetretener Minister rühmte sich der über 1300 Fußnoten in seiner inkriminierten Dissertation und bezeugte damit einen weit verbreiteten branchentypischen Ehrgeiz. Insofern steht uns Zesen mit seinen Gelehrsamkeitsambitionen gar nicht so fern. Aber es gibt natürlich auch Unterschiede. Beginnen wir mit einigen Äußerlichkeiten: 1.) Der Druck enthält keine Fußnoten, sondern alle Zitate und Verweise sind in den laufenden Text eingearbeitet, was den Fluss der Lektüre deutlich hemmt.2 Das ist überall so in den gelehrten Werken der Zeit, in denen allenfalls gelegentlich Marginalien mit Stellenangaben auftauchen. Fußnoten zu eigenen Texten sind, soweit ich sehe, eine spätere typographische Errungenschaft; nur in Kommentaren zu klassischen Autoren kommen sie vor und haben sich wohl von dort aus gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf andere Texte ausgedehnt.3 Zesen und seine Zeitgenossen kennen nur die an den Schluss des Textes angehängten erläuternden »Anmerkungen«, die aber oft selbst wieder voller Verweise und Zitate stecken, also nach neuerem typographischen Brauch selbst wieder Fußnoten benötigten.4 2.) Das Autorenverzeichnis ist kein Literaturverzeichnis im modernen Sinn, sondern enthält nur die Namen der Autoren, ohne Werktitel oder gar bibliographische Angaben. Auch bei Zitaten und Verweisen im Text fehlen häufig die Titel; werden sie angegeben, sind sie oft bis zur Unkenntlichkeit abgekürzt; Seitenzahlen oder Angaben zur Edition finden sich nur in Ausnahmefällen. Auch dies ist gängige Praxis im 17. Jahrhundert. Zesens Namenliste nennt sich »Nomenclator Auctorum et Artificum«, d. h. sie enthält nicht nur Namen von Schriftstellern, sondern auch von Erfindern und Technikern, also z. B. »Ioannes Lipperseinius« und »Iacobus Metius«, die in den 2 Ein modernes Beispiel dafür ist: Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walther / Gärtner, Hans (Hg.) (1979): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s [sic] Realencyclopädie […]. Bd. 1 – 5. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe München: Artemis 1964 – 1975). Manche Artikel, z. B. der über »Baal« (Bd. 1, Sp. 791 – 795), werden dadurch fast unlesbar. 3 Grafton, Anthony (1995): Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Aus dem Amerikanischen übersetzt von H. Jochen Bußmann. Berlin: Berlin Verlag, S. 203, setzt den Beginn der modernen Fußnotenpraxis beim »Dictionnaire« (seit 1697) von Henri Bayle an. 4 Vgl. dazu Martin, Dieter (2008): Gedichte mit Fußnoten. Zesens »Prirau« und der frühneuzeitliche Eigenkommentar. In: Bergengruen, Maximilian / Martin, Dieter (Hg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Tübingen: Niemeyer (Frühe Neuzeit 130), S. 140 – 159. Es handelt sich hier übrigens nicht um »Fußnoten«, wie der Aufsatztitel ankündigt, sondern um »Anmerkungen« als Endnoten.

Philipp von Zesen: Der Autor und seine Autoren

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Niederlanden das Fernglas entwickelten, oder von Seefahrern und Entdeckern wie »Andreas Corsalius« oder »Petrus Theodori«. Doch das ist nur eine kleine Minderheit in dieser Liste. Ferner fallen einige Dubletten auf, die vielleicht dem Bestreben geschuldet sind, die Liste zu verlängern, also »Munsterus Cosmogr.« neben »Sebastianus Munsterus«, »Lactantius Pater« neben »Lactant. Firmian.«, »Polemo« neben »Bolemo«, »C. Iulius Hyginus« neben »Iginius« oder, weniger leicht zu erkennen, »Adamantius« neben »Origenes«. Auf diese Weise schrumpft die Liste um gut zehn Positionen. Bei genauerem Vergleich stellt man außerdem fest, dass rund dreißig der im Index verzeichneten Namen im Text nicht vorkommen, von »AÚtius« über »Brentius« und »Petronius Arbiter« bis zu »Xenocrates« – ein schwer zu erklärendes Phänomen. Umgekehrt gibt es – leichter zu erklären – an die vierzig Autoren, die im Text, nicht aber im »Nomenclator« vorkommen, von »Albategnius« und »du Choul« über »Moschus« bis »Ludovicus Vives«, wodurch die Bilanz wieder annähernd ausgeglichen wird. Doch lassen wir diese Erbsenzählereien, einigen wir uns auf die runde Zahl von 600 Autoren – immer noch imposant genug – und stellen uns Philipp von Zesen so vor, wie der Gestus des Buches es suggeriert: als Gelehrten, dem in seinem Bücherkabinett die Werke von rund 600 Autoren von der Antike bis zur Gegenwart zur Hand sind – eine gewaltige Bibliothek, die, so macht uns der Autor mit seinen Lektüreempfehlungen glauben, auch dem Leser bei Bedarf zur Verfügung steht. Betrachten wir dies Bücherkabinett etwas genauer. Natürlich stehen dort die klassischen Autoren der Antike von »Aeschylus« und »Aristoteles« bis »Xenophon«, ebenso die griechischen und lateinischen Kirchenväter wie »Augustinus Pater« und »Basilius«. Byzantinische Historiker und Philologen wie »Georgius Syncellus« oder »Ioannes Tzetzes« sind ebenso vertreten wie arabische Gelehrte (»Avicenna«, »Alboasar sive Albumasar Arabs« und andere) und mittelalterliche Rabbiner (»Abrahamus Aben-Esra«, »Moses Ben-Maimon« usw.). Auch neuere Autoren unterschiedlicher Disziplinen und Nationalitäten, Dichter, Philologen, Philosophen, Naturwissenschaftler, Astronomen stehen in großer Zahl bereit: »Baptista Pius«, »Ioannes Bayerus«, »Tycho Brahe Nobilis Danus«, »Iordanus Brunus Nolanus«, »Renatus Cartesius«, »Nicolaus Copernicus«, »Petrus Gassendus«, »Martinus Lutherus«, »Laurentius Valla«, »Gerhardus Ioan. Vossius« und wie sie alle heißen. Daneben aber stößt man auf viele Namen, mit denen man als durchschnittlich gebildeter Philologe nichts anzufangen weiß. Wer ist z. B. »Silenus Chius«? Laut »Der Kleine Pauly« ein »Mythograph unbestimmter Z[eit]«, aus dessen Werk »nur eine singuläre Etym[ologie] des Namens Odysseus erhalten ist.«5 Was ist mit »Timagetes«? »Der Kleine Pauly« kennt nur einen 5 Ziegler, Konrat / Sontheimer, Walther / Gärtner, Hans (Hg.) (1979): Der Kleine Pauly (Anm. 2), Bd. 5, Sp. 191.

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»Timagetos«6 aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert, Verfasser einer verlorenen Schrift über die Häfen, aus der sich einige Fragmente in den Scholien zu Apollonios Rhodios und bei Stephan von Byzanz finden. Und so geht es einem mit vielen Namen. Manchmal stößt man auch auf Kuriositäten, die nach Erklärung verlangen. So sind bei »Sosibius Timonax« die Namen zweier Autoren, des Tragikers Sosibios und des Historikers Timonax (über beide weiß man fast nichts) zu einem Phantom verschmolzen; und der angebliche Autor »Aeneius Euxitheus« entpuppt sich bei längeren Nachforschungen als Figur aus einem Dialog des Aeneas von Gaza, als der »aeneische Euxitheos« oder der »Euxitheos des Aeneas«. So viel zu den Griechen. Ob man bei den alten Römern mehr Glück hat? Etwa bei »Trebius Niger«? Doch auch hier klärt uns ein Handbuch, in diesem Fall das »dtv-Lexikon der Antike«, auf, dass man diesen Autor lediglich aus einer Erwähnung bei Plinius kennt,7 also sonst nichts über ihn weiß (»Der Kleine Pauly« kennt ihn nicht). Ähnlich steht es mit »Claudius Saturninus«, von dessen Buch über die Kränze man nur aus einer einzigen Erwähnung bei Tertullian Kenntnis hat8 (auch ihn kennt »Der Kleine Pauly« nicht). Und so geht es weiter. Von einem Großteil besonders der griechischen Autoren, die Zesen im »Coelum« zitiert oder auf die er verweist, sind nur Fragmente oder Buchtitel bekannt, überliefert bei Autoren wie Athenaios, Plutarch oder Gellius oder von Scholiasten, Grammatikern und Lexikographen – Phantomautoren einer verlorenen Bibliothek, die Zesen aber wie eine vorhandene und dem Leser verfügbare behandelt. So legt er uns das erwähnte – leider verlorene – Buch über die Kränze des Claudius Saturninus ausdrücklich zur Lektüre ans Herz: »Sed plura de coronis legas, si vacat, apud Agellium, Suetonium, imprimis autem Cl. Saturninum in eo libro, quem de illis evulgavit.« (303,24 – 26)9 Auffällig ist dabei die unterschiedslose Behandlung von Vorhandenem (Sueton, Gellius) und Verlorenem (Saturninus). Sie ist typisch für die Verweistechnik bei Zesen. Ein weiteres Beispiel für solch eine schwer zu befolgende Lektüreempfehlung: »De hoc [sc. über Kureten und Korybanten] videatur Echemenes in Reb. Cret. Dionysius Chalcidicus, Pherecydes, Hellanicus, Mna6 Ebd., Bd. 5, Sp. 833. 7 Andresen, Carl / Erbse, Hartmut (Hg.) (1970): dtv-Lexikon der Antike, Philosophie, Literatur, Wissenschaft. Bd. 4. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (Lizenzausgabe aus dem Lexikon der Alten Welt), S. 296. 8 Vgl. Sallmann, Klaus (Hg.) (1997): Die Literatur des Umbruchs: von der römischen zur christlichen Literatur 117 bis 284 n. Chr. München: Beck (Handbuch der Altertumswissenschaft. Abteilung 8: Handbuch der lateinischen Literatur und der Antike 4), S. 214. 9 »Aber mehr über Kränze kann man, wenn man die Muße hat, bei Agellius und Sueton lesen, besonders aber bei Cl. Saturninus in dem Buch, das er zu diesem Thema veröffentlichte.« Ich erlaube mir gelegentlich kleinere Abweichungen von der Übersetzung in meiner »Coelum«Edition (hier: »Kränze« statt »Kronen« in der Edition).

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seas, Archemachus Euboicus, Semus l.7, Apollodorus Biblioth. l.2, et Posidippus in Epigramm.« (106,22 – 25)10 Ganz abgesehen von der Menge potentiellen Lesestoffs – immerhin neun Autoren! –, die Zesen einem hier zumutet: ein Leser, der diesem Vorschlag folgen wollte, hätte es schwer. Von den genannten Autoren ist nur Apollodor noch greifbar (gemeinte Stelle: 2.1.3). Mit sehr viel Spürsinn und Glück mag man auch auf das gemeinte Epigramm des Poseidippos stoßen (ich habe es noch nicht gefunden). Die übrigen sind mehr oder weniger Phantomautoren (am deutlichsten erkennbar : Pherekydes), von deren Werk sich nur Fragmente oder Nachrichten erhalten haben, für den Leser des »Coelum« nicht verfügbar. Ziehen wir ein erstes Resümee: Zesen beruft sich auf Bücher, die er selbst nicht kennen kann, weil sie verloren sind. Er empfiehlt sie zur Lektüre, obwohl sie dem Leser nicht zur Verfügung stehen können. Zesens Bibliothek ist nicht nur eine zu großen Teilen verlorene, sondern zugleich eine imaginäre, deren illusionären Charakter er aber ignoriert. Die Bücherwand, vor der der Autor sitzt und zu deren Benutzung er auffordert, ist zumindest in Teilen eine Büchertapete, eine bloße Attrappe. Woher kennt er all diese Namen, woher weiß er, was in jenen Büchern stand? Wir lassen diese Frage zunächst offen und wenden uns den Autoren und Werken zu, die keine Phantome, die tatsächlich greifbar sind; also Platon, Vergil, Ovid und all den andern. Doch auch hier stutzen wir bald, etwa wenn Zesen auf »Minucius in octavo« (147,10) verweist. Es gibt kein »achtes Buch« von Minucius Felix, sondern nur seinen »Octavius« (in einem Buch); das »in octavo« sieht sehr nach einem Abschreibfehler aus, bei dem der Abschreiber das Werk des Minucius nicht kannte. Was ist mit »Plato l. 11 de Republ.« (256,27)? Platons »Staat« umfasst nur fünf Bücher – hier hat Zesen offenbar die römische Zahl II seiner Vorlage als arabische 11 fehlgedeutet. Der umgekehrte Fehler findet sich, wenn ein Vergilzitat dem 2. Buch der »Aeneis« zugeschrieben wird (217,1) während es in Wirklichkeit aus Buch 11 stammt – auch hier offenkundig ein Zitat aus zweiter Hand, ungeprüft und leider fehlerhaft übernommen. Verräterisch sind Verweise wie »Mantuano l. 1. de col. temp.« (305,31). Das betreffende Buch des Baptista Mantuanus (1447 – 1516) trägt den Titel »De calamitatibus temporum auctoris« – Zesen hat es vermutlich nie in der Hand gehabt und kannte auch den tatsächlichen Titel nicht, sondern fand ihn nur in abgekürzter Form vor. Die Beispiele falscher Stellenangaben und Zuschreibungen, entstellter Namen und Werktitel ließen sich vervielfachen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich als Fehler und Versehen bei der Übernahme aus einer Vorlage erklären lassen, 10 »Dazu vergleiche man Echemenes in seinem Buch über Kreta, Dionysios von Chalkis, Pherekydes, Hellanikos, Mnaseas, Archemachos von Euböa, Semos in Buch 7, Apollodor in Buch 2 seiner ›Bibliothek‹ und Poseidippos in den Epigrammen.«

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sofern diese nicht schon denselben Fehler aufwies. Und diese Vorlagen lassen sich identifizieren: Es handelt sich um Bücher von gut zwanzig Autoren, aus denen Zesen die Masse seiner Zitate und Verweise entnommen hat: Bis auf wenige Ausnahmen stammt all dies gelehrte Material aus zweiter (dritter, vierter usw.) Hand. Selbst das titelgebende »Poeticon astronomicon« des Hyginus zitiert Zesen, wie genauere Prüfung ergibt, nur aus sekundären Quellen. Die große Bücherwand lichtet sich: Alle griechischen und römischen Klassiker können wir aus den Regalen räumen – mit Ausnahme von Ovid und vielleicht auch Manilius (mit dem Kommentar von Joseph Scaliger, der für Zesen wichtiger ist als der Text) zitiert er keinen einzigen dieser Autoren nach dem Original – dazu alle Kirchenväter und byzantinischen Historiker, alle Rabbiner und fast alle modernen Autoren. Aus der imposanten Gelehrtenbibliothek wird eine kleine Handbuchsammlung, die auf ein Regal passt – der Rest ist Büchertapete.11 Von den 637 Namen des »Nomenclator« bleiben nur die folgenden 23 übrig: »Andreas Alciatus« (in der kommentierten Ausgabe von »Franciscus Sanctius«), »Casparus Barlaeus«, »Ioannes Bayerus«, »Abrahamus Caesius«, »Nicolaus Caussinus«, »Abrah. a Frankenberg«, »Biblia Sacra«, »Ionstonius«, »Dan. Lipsdorpius Lub.«, »Martinus Lutherus« (als Bibelübersetzer), »Ioan. Henricus Meibomius Medicus«, »Mart. Opitius PoÚta«, »Ovidius Naso«, »Ioan. Pierius Valerianus«, »Ioan. Pincierus Medicus«, »Guilielmus Postellus«, »Ravisius Textor«, »Elias Schedius«, »Iosephus Scaliger«, »Guilielmus Schickardus«, »Iulius Schillerus« und »Gerhardus Ioan. Vossius«. Gut möglich, dass Zesen auch in das eine oder andere sonstige Buch hineingeschaut und es auf seine Art verwertet hat. Nachweisbar und wiederholt benutzt hat er, soweit ich bisher sehe – manche Quellenfragen sind noch offen – nur die genannten Autoren. Und auch bei diesen gibt es deutliche Abstufungen der Intensität. Mit Abstand am wichtigsten sind zwei Werke, denen Zesen einen Großteil seines Materials entnimmt: die monumentale »Theologia gentilis« des Gerardus Joannes Vossius (1577 – 1649), erstmals erschienen 1641 in Amsterdam,12 und die »Mythologia« (erstmals 1551) des Natale Conti (Natalis Comes, 1520 – 1582), die Zesen, wie eine Seitenangabe im »Coelum« (94,32) verrät, in der 11 Damit steht Zesen nicht allein. Seznec, Jean (1990 [erstmals 1940]): Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. 2. Aufl. München: Fink, stellt im Kapitel »Der Einfluss der Handbücher« (S. 215 – 249) dar, dass Autoren und Künstler bis ins 17. Jahrhundert in der Regel nicht auf Originalquellen zurückgriffen, sondern sich mit Handbuchwissen begnügten. Mehr dazu unten im Abschnitt 2. 12 Ich zitiere nach der folgenden mir vorliegenden, mit dem Erstdruck weitgehend text- und seitengleichen Ausgabe: Vossius, Gerardus Joannes: De theologia gentili et physiologia christiana sive de origine ac progressu idololatriae. Frankfurt a. M.: Caspar Waechtler 1668. Verfügbares Digitalisat (teilweise verzerrt): http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11062569 – 3 (27. 1. 2014).

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Genfer Ausgabe von 1651 benutzt.13 Aus Conti stammt ein Großteil der Verweise auf die imaginäre Bibliothek. Schon der Göttinger Altphilologe Christian Gottlob Heyne vermerkte zu diesem Autor : »Quod Cyrenaei librum peq· he_m laudatum videmus a Natale Comite, relinquendum est vanitati hominis, cetera doctissimi, qui magnum numerum scriptorum deperditorum tanquam a se lectorum ex Grammaticis excitauit.«14 Wichtig sind auch die »Hieroglyphica«15 (erstmals 1556) des Giovanni Pierio Valeriano (1477 – 1558). Mit diesen Werken sind zugleich drei Hauptformen der Rezeption der antiken Mythologie vertreten: Conti repräsentiert die vom Mittelalter beeinflusste klassische Mythentradition,16 Valeriano die durch Entdeckung des Horapollo ausgelöste ägyptisierende Strömung,17 für die Zesen in Werken wie »Assenat« oder dem verlorenen »Aegyptus« sowie in mehreren Kapiteln des »Coelum« großes Interesse zeigt, und Vossius unternimmt mit seinem großen Versuch einer vergleichenden Systematik der antiken Kulte erste Schritte in Richtung auf eine Religionswissenschaft.18 Für naturgeschichtliche Fragen benutzt Zesen die mehrbändige »Historia Naturalis« (1650 – 1653) von Jan Jonston (1603 – 1675).19 Aus dem »Coelum stellatum Christianum« (1627) von Julius Schiller (ca. 1580 – 1627)20 stammen nicht nur die meisten der jedem 13 Conti, Natale: Mythologiae, sive explicationis fabularum, libri decem. Genf: Pierre ChouÚt 1651. Zitate nach dieser, mir vorliegenden Ausgabe. Verfügbares Digitalisat: http:// www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11096247 – 6 (27. 1. 2014). 14 »Dass wir das Buch peq· he_m des Kyrenäers durch Natale Conti zitiert sehen, ist der Eitelkeit dieses im Übrigen hochgelehrten Mannes zuzuschreiben, der eine große Menge verlorener Schriftsteller aus den Grammatikern anführte, als ob er sie selbst gelesen hätte.« (Apollodori Atheniensis Bibliothecae libri tres et fragmenta. Hg. von Christian Gottlob Heyne. Göttingen: Dieterich 1803, S. 458.) 15 Ich zitiere nach folgender Ausgabe, die dem von Zesen benutzten Ausgabentyp entspricht (mit Marginalien): Valeriano, Pierio: Hieroglyphica, sive de sacris Aegyptiorum aliarumque gentium literis […]. Frankfurt a. M.: Erasmus Kempffer 1614. Benutztes Digitalisat: http:// reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10359192.html (27. 1. 2014). Ein maschinenlesbares Digitalisat einer späteren Ausgabe (1678) findet sich bei Camena: http:// www.uni-mannheim.de/mateo/camenaref/valeriano.html (27. 1. 2014). 16 Die Kontinuität dieser Tradition stellt das grundlegende Werk von Seznec, Jean (1990): Das Fortleben der antiken Götter (Anm. 11) dar. 17 Vgl. ebd., S. 79 f. 18 Vgl. Rademaker, Cornelis Simon Maria (1981): Life and work of Gerardus Joannes Vossius. Assen: van Gorcum (Respublica literaria Neerlandica 5), S. 307 – 309. 19 Jonston, Jan: Historiae naturalis […] libri […]. Frankfurt a. M.: Merian 1649 – 1655. Benutztes Digitalisat: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenaref/jonston.html (27. 1. 2014). 20 Schiller, Julius: Coelum stellatum christianum […]. Augsburg: Andreas Aperger 1627. Benutztes Digitalisat: http://www.lindahall.org/services/digital/ebooks/schiller (27. 1. 2014). Vgl. dazu: Klockow, Reinhard (2012): Julius Schillers »Coelum stellatum christianum« (1627) und die antike Mythologie. In: Euphorion 106, S. 357 – 385.

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Kapitel vorangestellten Sternbildbezeichnungen, sondern auch viele Zitate und andere Details zur Mythologie. Dagegen wird das Vorgängerwerk, die berühmte »Uranometria« (1603)21 von Johannes Bayer (1572 – 1625), zwar häufig genannt, de facto aber weniger benutzt. Die großen Sammlungen des Ravisius Textor (1480 – 1524), die »Officina«22 und das »Epithetorum opus«,23 liefern Zesen manches Zitat. Joseph Scaligers Manilius-Kommentar24 ist eine Fundgrube nicht nur für orientalische Sternbildnamen, und für die astronomiegeschichtlichen Ausführungen des »Praefamen« stützt er sich wiederum auf Vossius, diesmal auf dessen »Mathesis universalis«.25 Die übrigen Autoren werden zu Einzelfragen oder bestimmten Themen herangezogen. Nachweise im Einzelnen wird der in Vorbereitung befindliche Ergänzungsband zu meiner Edition des »Coelum« liefern. Zesen entnimmt, wie schon angedeutet, seinen Vorlagen nicht nur Zitate und Verweise, sondern in großem Umfang auch Inhalte und Formulierungen; er schreibt ganze Textpassagen mehr oder weniger wörtlich ab, fast immer ohne sie als Übernahmen zu kennzeichnen und seine Quelle zu nennen. Der ahnungslose Leser muss alles für das Produkt von Zesens Gelehrsamkeit und Formulierungskunst halten. Modern gesprochen: Zesen plagiiert. Schiller beispielsweise, von dem er so viel Material entlehnt, wird im ganzen Werk nur neunmal erwähnt, davon dreimal kritisch: Einmal wird er – ausgerechnet! – als »Ausschreiber« Bayers abgestempelt (251,27), ein anderes Mal für seine Sternbildzuweisungen kritisiert (9,10) und außerdem als Ignorant vorgeführt, weil er die byzantinische Dichterin Moiro für einen Mann gehalten hat (323,36). Das ist äußerst unfair. Nicht besser ergeht es Conti, dem Zesen große Partien des »Coelum« und eine Unzahl von Zitaten und Verweisen verdankt: Drei von den 21 Bayer, Johannes: Uranometria. Omnium asterismorum continens schemata, nova methodo delineata, aereis laminis expressa. Augsburg: Christoph Mang 1603. Benutztes Digitalisat: http://www.lindahall.org/services/digital/ebooks/bayer/bayer13.shtml (27. 1. 2014). 22 Tixier, Jean: Officina Ioannis Ravisii Textoris epitome, 2 Bde. Lyon: Sebastian Gryphius 1551. Benutzte Digitalisate Bd. 1: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/ravis1/ravisiusofficinaeprima.html (27. 1. 2014); Bd. 2: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/ravis2/ravisiusofficinaesecunda.html (27. 1. 2014). 23 Tixier, Jean: Epithetorum Ioannis Ravisii Textoris opus absolutissimum […]. Douai: Ioannes Bogard 1607. Benutztes Digitalisat: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camenaref/ tixier.html (27. 1. 2014). 24 Zesen benutzt, wie gelegentlich Seitenangabe zeigen, die folgende Ausgabe: Scaliger, Joseph (Hg.): Marci Manilii Astronomicon. […] Eiusdem Iosephi Scaligeri Notae […]. Straßburg: Johann Joachim Bockenhoff 1655. Benutztes Digitalisat: http://www.mdz-nbn-resolving.de/ urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10217309 – 7 (27. 1. 2014). 25 Vossius, Gerardus Joannes: De universae mathesios natura et constitutione liber. Amsterdam: Joan Blaeu 1650. Benutztes Digitalisat: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10832064 – 5 (27. 1. 2014).

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gerade einmal sechs Nennungen monieren, ziemlich beckmesserisch, angebliche Fehler oder Mängel.26 Als Kuriosität sei vermerkt, dass von den beiden einzigen längeren Conti-Zitaten eines gar nicht direkt der »Mythologia« entnommen ist, sondern auf Schiller27 zurückgeht, also ein Sekundärzitat ist. Mit mehr Respekt begegnet Zesen seinem verehrten »praeceptor« (130,25), dem »maximus Vossius« (33,24 u. ö.), aber auch hier steht die Zahl der expliziten Referenzen in keinem Verhältnis zur gewaltigem Menge der stillschweigenden Übernahmen, und auch bei ihm kann es sich Zesen nicht verkneifen, in aller Demut auf Irrtümer hinzuweisen oder Widerspruch anzumelden.28 Noch ein Wort zu Wilhelm Schickard (1592 – 1635), den Zesen über 80 Mal mit arabischen Bezeichnungen für Sterne und Sternbilder namentlich zitiert: All diese Zitate stammen, wie an Details erkennbar, nicht aus dem »Astroscopium« (erstmals 1623) selbst, sondern aus Schiller. Dabei hat Zesen das »Astroscopium« durchaus benutzt, in diesem Fall aber, ohne es seine Quelle zu nennen: Ein Gutteil der Verchristlichungen, mit denen Zesen die einzelnen Sternbildkapitel abschließt, findet sich schon in dem »Auctarium«, das Lukas Schickard 1646 dem »Astroscopium« seines verstorbenen Bruders Wilhelm beigab.29 Mit nur geringer Überspitzung kann man sagen: Die Autoren und Werke, die Zesen nennt, hat er nicht benutzt; die er benutzt hat, nennt er nicht. Betrachten wir einige Beispiele, stellvertretend für zahllose andere. Bei Conti heißt es im Kapitel über Jupiter : Scriptum reliquit Pausanias in Messeniacis, fontem fuisse in Ithomes iugo, cui nomen Clepsydrae, in quo ab Ithome et Neda nymphis nutricibus Iupiter, — Curetibus ob metum Saturno surreptus, lotus fuerit: atque c¾m Iouis incunabula Messenij sibi vendicent, tum — furto Curetum fonti nomen datum, et — nutricibus fluuio et monti asserunt.30

26 Zesen (Anm. 1): 94,31; 133,18; 206,4. 27 »Coelum« 285,10 – 14, übernommen aus Schiller, Julius (1627): Coelum stellatum Christianum (Anm. 20), S. 108, mit derselben Zitateinleitung: »Hinc Natalis Comes Mythol. lib. 4, c. 12.« Aus Schiller stammt zudem der Conti-Verweis auf S. 123,29. Das zweite Zitat (57,1 – 5) findet sich verdächtigerweise auch bei einem anderen der in diesem Zusammenhang von Zesen benutzten Autoren, nämlich bei Schede, Elias: De diis Germanis […]. Amsterdam: Ludwig Elzevir 1648. 28 So macht er für eine genealogische Ungenauigkeit den Setzer, nicht den Autor verantwortlich: »Vt mendum non insciti– auctoris horum scientissimi, sed typothetarum incuri– irrepsisse suspicer apud maximum Vossium.« (40,31 – 33) Oder er wendet sich gegen Vossius’ Interpretation einer Tacitus-Stelle: »Invitus quidem recessero — maximo Vossio« (51,23) – dabei hat Vossius an dieser Stelle recht. 29 Schickard, Wilhelm: Astroscopium. Pro facillim– stellarum cognitione noviter excogitatum, et commentariolo illustratum. Stuttgart: Rudolph Kautt 1646. Zu Zesens Anleihen daraus vgl. Klockow, Reinhard (2013): Philipp von Zesen und die Wissenschaft von den Sternen. In: Daphnis 42/1 (im Druck 05.2014). 30 Conti, Natale (1651): Mythologiae (Anm. 13), S. 77. »Pausanias überliefert im Buch über

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Bei Zesen liest sich das so: Et Pausanias scripsit in Messeniacis, fontem fuisse in Ithomes jugo, cui nomen Clepsydrae; in quo ab Ithome, et Neda nymphis nutricibus, Iupiter — Curetibus ob metum Saturni surreptus, lotus fuerit: at huic fonti nomen hoc datum — furto Curetum. (106,35 – 107,2)31

Bei Valeriano findet sich folgende Beschreibung einer Münze mit dem schlangenbewehrten Bild der Juno: Nam in Iuliae Mameae Aug. numo simulacrum est in sinus fluentes collectum, laeua hastae adnixa, dextera Anguem in spiras conuolutum porrigente, vbi Anguis omniný imperium, hasta Defensionem indicat: quod vt coniiciam facit inscriptio, quae in hunc modum legitur, IVNO CONSERVATRIX.32

Zesen macht daraus verkürzend: […] Iunoni reginae: cujus dextra in numismate Iuliae Mamaeae Augustae Draconem in spiras convolutum ostendebat, laev– hastae innix–, cum epigraphe, IVNO CONSERVATRIX. (114,14 – 18)33

Oder Vossius schreibt über Hekate: [F]emina animi planÀ virilis, venationi, medicinae, ac veneficiis addictissima; quemadmodum traditum Dionysio Milesio in Argonauticis, et exinde veteri scholiastae Apollonii in III Argonaut. [am Rand: vers. 200.]34

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Messenien, es habe eine Quelle auf dem Rücken des Berges Ithome mit dem Namen Klepshydra gegeben; in dieser sei Jupiter, den die Kureten aus Angst vor Saturn entführt hatten, von den Nymphen Ithome und Neda, seinen Ammen, gebadet worden; und da die Messenier die frühe Kindheit Jupiters für sich beanspruchen, behaupten sie, dass die Quelle damals ihren Namen vom Raub der Kureten, Fluss und Berg aber von den Ammen bekommen hätten.« »Und Pausanias schreibt im Buch über Messenien, es habe eine Quelle auf dem Rücken des Berges Ithome mit dem Namen Klepshydra gegeben; in dieser sei Jupiter, den die Kureten aus Angst vor Saturn entführt hatten, von den Nymphen Ithome und Neda, seinen Ammen, gebadet worden; diese Quelle aber habe ihren Namen vom Raub der Kureten bekommen.« Valeriano, Pierio (1614): Hieroglyphica (Anm. 15), S. 181. »Denn auf einer Münze der Julia Mamaea Augusta ist ein Abbild mit gerafftem Gewandbausch zu sehen, die Linke auf eine Lanze gestützt, mit der Rechten eine sich windende Schlange ausstreckend; wobei die Schlange die Herrschaft, die Lanze die Verteidigung anzeigt, was sich nach meiner Vermutung aus der Inschrift ergibt, die so lautet: IVNO CONSERVATRIX.« »Auf einer Münze der Julia Mamaea Augusta hielt sie in der rechten Hand eine sich windende Schlange, während sie die linke auf eine Lanze stützte, mit der Inschrift IVNO CONSERVATRIX.« Vossius, Gerardus Joannes (1668): De theologia (Anm. 12), S. 448. »[E]ine Frau von durchaus männlichem Charakter, die sich ganz der Jagd, der Medizin und der Giftmischerei verschrieben hatte, wie Dionysios von Milet in seinen Argonautika und aus ihm ein alter Scholiast zu Buch 3 (Vers 200) der Argonautika des Apollonios überliefert.«

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Daraus wird bei Zesen: [A]ltera Hecate, virgo animi planÀ virilis, venationi, medicinae, ac veneficiis addictissima: ut traditum ex eodem Dionysio veteri Scholiastae Apollonii in 3 Argonautarum; ubi versu 200 […]. (235,23 – 26)35

In dieser Weise setzt sich ein Großteil, wenn nicht der größte Teil von Zesens »Coelum« aus Übernahmen aus anderen Autoren zusammen. Auch pointierte Formulierungen, die ein unbefangener Leser der spitzen Feder Zesen zugute hält, können sich als stillschweigende Anleihe aus einer Vorlage entpuppen wie etwa der folgende Vergleich: Sed c¾m veteres, pro more solito, fortes ferÀ Herculis nomine insignaverint, atque ita tam varii fuerint Hercules, quos […] nationes in unum confuderint, ut jura coquus […]. (157,1 – 5)36

Die Quelle ist auch hier Vossius: Sed mos est veterum, ut fortes fere Herculis nomine insignirent: quorum gesta poetae in unum commiscuere, ut jura coquus.37

Ebenso leiten sich auch viele Mythendeutungen, viele etymologische und genealogische Spekulationen, die Zesen mit großer Emphase vorführt, aus Vossius oder Conti, gelegentlich auch aus Valeriano her. Selbst die ausdrückliche Versicherung, eine eigene Vermutung oder Interpretation vorzulegen (»suspicor«, »interpretor« u. ä.), bietet keine Gewähr für ihre tatsächliche Originalität. So gibt er es als eigene Idee aus, wenn er Ledas Stelldichein mit dem Schwan als Rendezvous mit einem Freier an den sumpfigen Ufern des Eurotas deutet: Quýd verý Iovem in cygnum conversum Ledam compressisse fingunt; hoc inde processum suspicor, quýd adulter quidam Regius Ledam non in regio cubiculo, et mollibus stratis, ac regio apparatu, sed in loco occulto, et humido, humi cygnorum more stratam, apud Eurotam Lacedaemoniorum fluvium compresserit. (206,8 – 14)38 35 »[D]ie andere Hekate, eine Jungfrau von durchaus männlichem Charakter, die sich ganz der Jagd, der Medizin und der Giftmischerei verschrieben hatte, wie ein alter Scholiast des Apollonios zu Buch 3 der Argonautika, wiederum aus Dionysios, überliefert; dort wird sie in Vers 200 […].« 36 »Weil es aber bei den Alten üblich war, so ziemlich alle Starken mit dem Namen Herkules auszuzeichnen, und es somit es die verschiedensten Herkulesse gab, welche […] die Völker ineinander rührten wie ein Koch die Saucen […].« 37 Vossius, Gerardus Joannes (1668): De theologia (Anm. 12), S. 87. »Bei den Alten aber ist es üblich, so ziemlich alle Starken mit dem Namen Herkules auszuzeichnen, und deren Taten rührten die Dichter ineinander wie ein Koch die Saucen.« 38 »Dass man Jupiter, in einen Schwan verwandelt, mit der Leda schlafen lässt, kommt meiner Vermutung nach daher, dass irgendein königlicher Buhle mit Leda nicht im königlichen Schlafgemach, auf weichem Lager und in königlicher Pracht schlief, sondern sie an einem versteckten, feuchten Ort am Eurotas, dem Fluss der Lakedämonier, nach Art der Schwäne auf dem Erdboden liegend begattet hat.«

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Dabei findet sich diese Interpretation wörtlich vorgeprägt bei Conti: Hanc cum Ioue in cygnum verso concubuisse inquiunt, c¾m Ioues reges omnes dicerentur : quam c¾m Rex quidam non in mollibus stratis et regio apparatu compressisset, sed apud Eurotam fluuium Lacedaemoniorum, cygnorum more in locis humidis; locus datus est fabulae quýd Iupiter cygnus factus eam compresserit.39

Ein anderes Beispiel, in dem es um Andromeda und den Walfisch geht: Quod ita interpretor : desponsata erat — Patre, quý mare civibus suis praestaret liberum, Principi cuidam insulari piraticam exercenti: quales meritý, un— cum navibus suis piraticis, monstris comparantur marinis. (115,25 – 28)40

Hier kombiniert Zesen zwei Vossius-Stellen. An der einen diskutiert Vossius mehrere Deutungsalternativen für die Auslieferung der Andromeda an das Meerungeheuer und nennt u. a. die folgende: […] sive quoniam, cui — patre primitus fuit promissa, princeps forte foret insularis, qui piraticam exerceret: quales meritý cetis, caeterisque marinis monstris, comparantur.41

An anderer Stelle erwähnt Vossius den praktischen Zweck der Verlobung von Andromeda mit dem Piraten: […] coactum Cepheum huic piratarum principi filiam despondere, si mare praestare civibus suis liberum vellet.42

Ein drittes Beispiel für vorgeblich eigene Mytheninterpretation, bei der diesmal Valeriano Pate stand (es geht um das Sternbild des Drachen): Caeter¾m c¾m Dracones animalia sint lubricissima, ac inter serpendum pandos, repandosque, et lubricos aquarum fluxus imitentur, suspicor per Draconem hunc, cujus 39 Conti, Natale (1651): Mythologiae (Anm. 13), S. 853 f. »Man sagt, sie habe mit dem in einen Schwan verwandelten Jupiter geschlafen, da man ja alle Könige Jupiter nannte. Und als irgendein König mit ihr nicht auf weichem Lager und in königlicher Pracht geschlafen hatte, sondern am Eurotas, dem Fluss der Lakedämonier, nach Art der Schwäne auf feuchtem Gelände, gab das Anlass zu der Fabel, dass Jupiter sie in Gestalt eines Schwanes begattet habe.« 40 »Das interpretiere ich so: Sie war von ihrem Vater, der damit seinen Bürgern die Freiheit der Meere gewährleisten wollte, mit einem Inselfürsten verlobt worden, der Piraterie betrieb, und solche Leute kann man zusammen mit ihren Piratenschiffen zu Recht mit Meeresungeheuern vergleichen.« 41 Vossius, Gerardus Joannes (1668): De theologia (Anm. 12), S. 172 f. »[…] oder weil der Mann, dem sie vom Vater ursprünglich versprochen worden war, vielleicht ein Inselfürst war, der Piraterie betrieb, und solche Leute kann man zu Recht mit Walfischen und sonstigen Meeresungeheuern vergleichen.« 42 Vossius, Gerardus Joannes (1668): De theologia (Anm. 12), S. 225. »[…] Kepheus, gezwungen, diesem Piratenhauptmann seine Tochter zu verloben, wenn er seinen Bürgern die Freiheit der Meere gewährleisten wollte.«

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imago in coelum collocata fingitur, veteres intellexisse amnes quosdam, sive poti¾s maris bracchia […]. (113,34 – 38)43

Ganz ähnlich heißt es bei Valeriano über den »Draco«: Est praeterea lubricissimum, quemadmodum aqua, atque inter serpendum pandos ac repandos vndarum flexus imitatur : et apud fabularum scriptores Draco Euripus erat, qui Hesperidum hortis in insula positis tutelaris effingebatur […].44

Selbst Affekte können geborgt sein. So ›wundert‹ sich Zesen über widersprüchliche Bildvorstellungen der Araber beim Sternbild Kassiopeia: Arabibus quidem vocatur Mulier sedis, i. e. sedens in siliquastro cum palma delibuta: tamen non mulierem, sed canem cernuum, in sedili pingunt; quod miror. (117,18 – 20)45

Dieselbe Verwunderung hatte allerdings schon Scaliger geäußert: Dicitur et MVLIER HABENS PALMAM DELIBVTAM. […] Nempe haec similia reliquis somniis Arabum: quos miror vocare mulierem, et palmam vel manum illi attribuere, quum ipsi non mulierem, sed canem cernuam in sedili pingant.46

Angesichts solcher Beispiele drängt natürlich sich die Frage auf: Ist so etwas erlaubt? Darf man sich im 17. Jahrhundert in derart ungenierter Weise mit fremden Federn schmücken? Wir werden auf diese Frage zurückkommen. Im Umgang mit seinen Vorlagen entwickelt Zesen eine beträchtliche Virtuosität. Dass er Stellen aus verschiedenen Partien einer Vorlage kombiniert, haben wir eben beim Vossius-Beispiel zu Andromeda gesehen, viele andere aus Vossius, Conti oder Valeriano ließen sich anführen. Oft werden auch Informationen aus mehreren Autoren zusammengefügt, das eine Detail aus Conti, ein anderes aus Vossius, eine Anekdote aus Valeriano, die zugehörige Quellenangabe aus Jonston usw.; Verweise und Zitate werden aus allen möglichen Vorlagen gesammelt und kumuliert. Insgesamt ergibt sich auf diese Weise ein Mosaik von 43 »Da aber die Drachen oder Schlangen sehr bewegliche Tiere sind, die beim Kriechen die hin und her wogenden, beweglichen Strömungen der Wasserfluten nachbilden, vermute ich, dass die Alten unter diesem Drachen, dessen Bild sie sich an den Himmel versetzt vorstellten, gewisse Flüsse oder vielmehr Meeresarme verstanden haben […].« 44 Valeriano, Pierio (1614): Hieroglyphica (Anm. 15), S. 167. »Außerdem ist er sehr beweglich, wie das Wasser, und bildet beim Kriechen die hin und her wogenden, beweglichen Strömungen der Wasserfluten nach; und bei den Sagenautoren war der Drache die Meerenge, die man zum Beschützer der auf der Insel gelegenen Gärten der Hesperiden erklärte.« 45 »Bei den Arabern heißt sie ›die Frau auf dem Thron‹, d. h. ›die mit einer gesalbten Palme auf dem Thron sitzt‹. Dennoch bilden sie auf dem Sitz keine Frau ab, sondern einen vornüber stürzenden Hund, worüber ich mich wundere.« 46 Scaliger, Joseph (Hg.) (1655): Marci Manilii Astronomicon (Anm. 24), S. 432: »Man nennt sie auch ›die Frau mit einer gesalbten Palme‹. […] Aber das ähnelt ganz den sonstigen Träumereien der Araber, und ich wundere mich, wieso sie von einer Frau reden und ihr eine Palme oder eine Hand zuschreiben, wo sie doch selbst keine Frau, sondern eine vornüber stürzende Hündin auf dem Sitz darstellen.«

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Textpartikeln unterschiedlicher Herkunft. Der Ergänzungsband zum »Coelum« wird die Übernahmestrukturen im Einzelnen durchleuchten. Wie hat Zesen sein Material gesammelt und verarbeitet? Manuskripte des »Coelum« oder gar Vorarbeiten dazu sind nicht vorhanden. Führte er einen Zettelkasten? Offenbar etwas in der Art: es sieht so aus, als ob er zu einem Thema einen Grundtext exzerpierte, z. B. aus Conti, und dort alle zusätzlichen Informationen vermerkte, die er aus anderen Autoren im buchstäblichen Sinn ›zusammenlas‹, um schließlich aus all dem seinen endgültigen Text zu redigieren. Daraus, dass der Text in dieser Weise zustande gekommen ist, macht Zesen übrigens kein Geheimnis, im Gegenteil, in der Vorrede erklärt er dies Verfahren zu seinem Programm: Er will die mit den Sternbildern verknüpften Sagen »aus den Schriften der antiken Dichter und anderer herausziehen und sie den an Astronomie wie an Dichtung Interessierten vor Augen stellen« (*7v,25 – 28).47 Nur gibt er dabei seine tatsächlichen Quellen in der Regel nicht an und erweckt den Eindruck, als habe er seine Auszüge aus Homer, Vergil, Ovid und all den anderen selbst zusammengelesen.

2. Im Berliner »Tagesspiegel« war am 31. Juli 2013 zu lesen: Die Ruhr-Universität Bochum will die Doktorarbeit von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) auf einen möglichen Plagiatsverdacht prüfen. Ein entsprechendes Verfahren sei bereits in Gang gesetzt worden, teilte die Universität am Dienstag mit. […] Bei den Vorwürfen geht es vor allem darum, dass Lammert die in der Dissertation angegebene Literatur teilweise nicht gelesen haben soll.48

Der ehemaligen Bundesbildungsministerin Annette Schavan wurde u. a. vorgeworfen, in ihrer Dissertation Zitate ohne entsprechenden Hinweis aus Sekundärquellen übernommen zu haben,49 und ein anderer ehemaliger Minister, ebenfalls über eine inkriminierte Dissertation gestolpert, soll ganze Textblöcke ohne korrekte Kennzeichnung übernommen haben.50

47 »[S]i fabulas illas […] ex antiquorum PoÚtarum aliorumque scriptis decerptas, Astronomiae pariter ac PoÚseos Studiosis ob oculos poneremus.« (Zesen, Philipp von [2011], Coelum [Anm. 1]) 48 Das Plagiatsverfahren wurde inzwischen eingestellt. 49 Die Vorwürfe finden sich gesammelt unter der Internetadresse: http://schavanplag.wordpress.com/ (27. 1. 2014). 50 Sammlung der angeblichen Plagiate: http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/GuttenPlag_Wiki (27. 1. 2014).

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Geistige Eigentumsrechte spielen im modernen Wissenschaftsbetrieb eine herausragende Rolle. Zu den grundlegenden Fertigkeiten, die jeder Student gleich zu Beginn des Studiums erwerben muss, gehört das korrekte und sinnvolle Zitieren. In einem germanistischen Einführungsbuch aus meiner Studienzeit stehen die folgenden Anweisungen, die weiterhin gelten, wobei die digitale Revolution für zusätzliche Komplikationen gesorgt hat: Dem Leser muß an jeder Stelle klar sein, ob der Verfasser eigene Meinungen vorträgt oder ob er fremden Gedanken folgt. Daher wird jedes Zitat und jede Wiedergabe fremder Ansichten mit einer genauen Stellenangabe (in den Anmerkungen oder ›Fußnoten‹) versehen. »Jedes Zitat muß drei Forderungen genügen: es muß unmittelbar, genau und zweckentsprechend sein« (Bangen, S. 14). Der Verfasser muß den zitierten Text unmittelbar der betreffenden Quelle entnommen haben. Zitiert er jedoch nach einem Gewährsmann, also aus einem andern Buch als dem Quellentext selbst (den er trotz seiner Bemühungen nicht einsehen kann), dann muß die Zitatangabe den Vermerk enthalten ›zit. nach‹ (= zitiert nach).51

Zu diesen Geboten der Autopsie, der Exaktheit und der Funktionalität treten noch Kriterien wie Priorität, Autorität oder Relevanz: Um eine bestimmte Position zu belegen, zitiert man diejenigen, die sie als erste oder am nachhaltigsten formuliert haben, nicht irgendwelche Nachfolger ; und auch nicht jede Allerweltsweisheit braucht durch Zitate von Leuten legitimiert zu werden, die sie ebenfalls geäußert haben. Selbstverständlich ist schließlich auch, dass man Literaturverweise verifiziert, bevor man sie übernimmt. Wichtig und für die Typographie eines wissenschaftlichen Textes maßgebend ist die Kennzeichnungspflicht, also die sichtbare Trennung von Eigenem und Entlehntem. Anführungszeichen, unterschiedliche Drucktypen, eckige und spitze Klammern, Auslassungspunkte usw. grenzen die Eigentumsverhältnisse präzise ab. Es geht dabei um die individuelle Zuschreibung von geistigen Leistungen, die im Kontext einer Konkurrenzgesellschaft über den Anteil an Gütern wie Prestige, Aufstieg und finanzielle Ressourcen entscheidet. Texte, prägnante Formulierungen, Begriffe usw. sind zu Besitzständen geworden wie die Patente von Erfindern, und wer sie unbefugt wie Eigenes verwendet, begeht Diebstahl und verliert, ertappt, ggf. seine zu Unrecht erworbenen Privilegien, wie in jüngerer Vergangenheit mehrfach zu beobachten war. All das ist bei Zesen und überhaupt im 17. Jahrhundert noch ganz anders, wie schon die Typographie anzeigt, die die heute geforderten Differenzierungen noch nicht kennt. Natürlich gibt es eine Vorstellung von ›geistigem Eigentum‹, seitdem literarische Werke mit dem Namen eines Autors verbunden sind und seitdem Autoren miteinander um Anerkennung und Ruhm konkurrieren. Pla51 Conrady, Karl Otto (1966): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Reinbek: Rowohlt (rowohlts deutsche enzyklopädie 252/253), S. 101.

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giatsvorwürfe durchziehen die Literaturgeschichte spätestens seit Aristophanes – das lateinische Wort plagiarius ist in diesem Sinn seit Martial belegt – und erreichen zu Zesens Lebzeiten in der Querelle du Cid um Corneille einen neuen Höhepunkt.52 Andererseits gilt seit der Antike und erst recht seit der Erfindung des Buchdrucks das Prinzip, dass etwas, was veröffentlicht wird, damit zur allgemeinen Benutzung freigegeben ist, ein Prinzip, auf das sich das Vorwort zum »Zedler« noch im Jahre 1731 beruft.53 In diesem Spannungsfeld zwischen individuellen Eigentumsansprüchen und öffentlicher Nutzungsfreiheit bewegen sich Autoren wie Zesen, wenn sie auf Vorgänger zurückgreifen. Die Klassikerzitate im weitesten Sinn sind dabei das geringste Problem: Sie sind wirklich gemeinfrei. Sie finden sich abrufbereit gesammelt in Handbüchern und Florilegien unterschiedlichen Typs,54 die zugleich auch Versatzstücke für die eigene poetische Produktion nach dem Prinzip von imitatio und aemulatio der antiken Autoren, oft gefährlich nah an der Grenze zu Imitat und Plagiat, liefern;55 man kann sie der wissenschaftlichen Literatur entnehmen oder mit gewissen Freiheiten auch aus dem Gedächtnis zitieren, ohne dass die Konsultation des Originals oder der Verweis auf eine Quelle verlangt würde. Das ist noch heute so, jedenfalls im nicht-wissenschaftlichen Bereich, und Sammlungen wie der Büchmann erfreuen sich weiterhin einer gewissen Beliebtheit. Im wissenschaftlichen Bereich allerdings gilt heutzutage auch hier das Autopsie- und Exaktheitsgebot mit entsprechender Nachweispflicht (Angabe der Edition etc.). Auch bei der Übernahme von Verweisen ist man im 17. Jahrhundert noch großzügig: Sie wandern in der gelehrten Literatur oft en bloc und in der Regel ungeprüft von einem Werk in das andere; die Verifikation wäre – wir sahen es 52 Diese und andere Einzelheiten finden sich in der materialreichen Geschichte des Plagiats von Theisohn, Philipp (2009): Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner (Kröners Taschenausgabe 351). 53 »Wann einmal eine Wahrheit im öffentlichen Druck ist: / so kann sich derselben ein ieder bedienen.« Zitiert nach Theisohn, ebd., S. 241. Eins der antiken Standardzitate in diesem Zusammenhang ist Seneca, epist. 79,6 über den kreativen Umgang eines Autors mit vorliegenden Werken anderer (bei Theisohn, ebd., S. 88): »parata verba invenit, quae aliter instructa novam faciem habent. Nec illis manus inicit tamquam alienis; sunt enim publica.« (Er findet die Worte fertig vor, die durch andere Verwendung ein neues Gesicht gewinnen. Und er eignet sie sich auch nicht wie fremdes Gut an, denn sie sind Gemeingut.) 54 Seznec, Jean (1990): Das Fortleben der antiken Götter (Anm. 11), betont die Rolle der Handbücher : »Die Literaten und ebenso die Künstler begnügen sich […] oft genug mit dieser Information aus zweiter Hand.« (S. 163). Schon für die »Genealogia Deorum« des Boccaccio, eines der Vorgängerwerke von Conti, gilt, dass Boccaccio »von der klassischen Literatur zumeist nur indirekte Kenntnis hat« und dass »er unbefangen und ausgiebig die Arbeiten seiner Vorgänger benutzt hat.« (S. 164) Auf S. 222 – 227 bringt Seznec lange Listen von Übernahmen aus Cartari bei Vasari und Caro. 55 Zur imitatio vgl. u. a. Welslau, Erich (1976): Imitation und Plagiat in der französischen Literatur von der Renaissance bis zur Revolution. Rheinfelden: Schäuble (Reihe Romanistik 8).

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schon – angesichts der unzureichenden bibliographischen Angaben vielfach schwierig oder gar unmöglich, u. a. auch deshalb, weil es die betreffenden Bücher gar nicht mehr gibt. Der moderne Kommentator, der diese Aufgabe nachzuholen versucht, hat damit seine liebe Mühe, und er erlebt manche Enttäuschung. So etwa bei der oben (S. 185) erwähnten Mantuanus-Stelle: Die Nachprüfung ergibt lediglich, dass Mantuanus in einem Vers das Attribut »strymonia« (›vom Fluss Strymon‹) für den Kranich (›grus‹) benutzt – übernommen von dem an dieser Stelle (301,5) ebenfalls erwähnten Vergil;56 eine völlig belanglose Information, wie bei so vielen anderen Verweisen. Überhaupt dominiert in der gelehrten Literatur der Zeit – jedenfalls in dem Ausschnitt, den ich bisher bei der Verifikation der Zitate und Verweise in Zesens »Coelum« durchgesehen habe – noch das Prinzip von Übernahme und Fortschreibung, nicht das von Originalität und eigener Beobachtung. Man baut auf den Vorgängern auf, schreibt sie aus, ergänzt sie um das, was man bei anderen, Neueren findet, trägt möglichst viel Material zusammen, kompiliert.57 Man übernimmt Zitate, Verweise und ganze Textpartien, ohne deren Quelle zu nennen.58 Selbst ein naturwissenschaftliches Werk wie die große »Historia Naturalis« (1650 – 1653) von Jonston, die Zesen gern benutzt, funktioniert weitgehend nach diesem Prinzip, und noch im Jahre 1731 ist der Verfasser des »Zedler«-Vorworts der Überzeugung, »daß unter hunderten [sc. Büchern] sich kaum etliche finden / die nicht ausgeschrieben und aus zwölf Büchern das dreyzehende gemachet.«59 Dabei geschieht diese ausschreibende Übernahme in 56 I. Baptistae Mantuani Carmelitae […] Opera omnia. Tom. 1. Antwerpen: Jean BellÀre 1576. Benutztes Digitalisat: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn: de:bvb:12-bsb10188727 – 7 (27. 1. 2014). Dort: »De horum temporum calamitatibus«, Buch 1 (fol. 7v.): »Strimoniae de more gruis, quae semina campis / Iacta legens aequae tepido sub sidere librae.« Vgl. Vergil: Aeneis 10, V. 265: »Strymoniae dant signa grues«. 57 Grafton, Anthony (1995): Die tragischen Ursprünge (Anm. 3), S. 156, charakterisiert die gelehrten Bücher des 17. Jahrhunderts folgendermaßen: »Es war das Zeitalter von Männern, deren literarische Lieblingsform die mit griechischen, hebräischen und aramäischen Zitaten getrüffelte vielbändige Folioausgabe in lateinischer Sprache war; die für ihre Gelegenheitsgedichte im Zweifel das biblische Hebräisch oder das klassische Griechisch favorisierten; deren Lieblingsthema am ehesten aus einer Kombination von klassischer Philologie und mathematischer Astronomie bestand.« 58 Das gilt besonders für Übernahmen aus Handbüchern wie der »Mythologia« von Conti. Seznec, Jean (1990): Das Fortleben der antiken Götter (Anm. 11), S. 216, vermerkt dazu: »Diese Bücher, die jeder konsultiert und die man ständig zur Hand hat, werden niemals oder fast niemals erwähnt. Gerade wegen ihrer Popularität werden sie schnell zu anonymen Nachschlagewerken. Doch ein Lexikon zitiert man nicht, und im Übrigen ist ein Schriftsteller oder Künstler, der sein Wissen zur Schau stellt, nicht daran interessiert, zu zeigen, dass er es so billig erworben hat. Diejenigen, die Gyraldi, Cartari und Conti am meisten verdanken, hüten sich zumeist, ihre Schuld einzugestehen.« Seznec weist das an zahlreichen Beispielen nach. Auch Conti selbst verschweigt seine Vorgänger (S. 175). 59 Johann Peter von Ludewig, zitiert bei Theisohn, Philipp (2009): Plagiat (Anm. 52), S. 244.

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der Regel ohne Kennzeichnung – zwischen Verwertung und Zitat besteht ein kategorialer Unterschied. Explizit zitiert und durch Kursivdruck u. ä. kenntlich gemacht werden Autoritäten aus Wissenschaft, Theologie und Dichtung (Anführungszeichen sind in dieser Funktion noch nicht gebräuchlich). Ausgeschriebene Autoren erfahren diese Ehre in der Regel nur dann, wenn es etwas zu kritisieren oder zu korrigieren gibt – eine Praxis, die wir auch bei Zesen schon beobachtet haben.60

3. In eine solche Übernahmekette schleichen sich nach dem Prinzip der ›Stillen Post‹ leicht Fehler ein, die von den Nachfolgern übernommen und durch neue Entstellungen vermehrt werden. Nur drei Beispiele aus dem »Coelum«: Die erwähnte falsche Titelangabe zu Mantuanus (s.o. S. 185) findet sich schon bei Jonston,61 der sie seinerseits irgendwoher übernommen hat. Oder : Bayer nennt in der Namensliste für das Sternbild Cassiepea auch die befremdliche Bezeichnung Cerua (›Hirschkuh‹),62 die sich dann auch bei Schiller und über ihn bei Zesen (116,31) wiederfindet – eine irgendwann entstandene Entstellung aus cernua (›kopfüber‹), weil die Figur der Kassiopeia auf dem Kopf steht.63 Auch die angeblich horazische Formulierung »aquae Tyrannus« (92,17) für den Wassermann, die sich unbeanstandet bis zu Allen64 und in die Internet-Gegenwart fortsetzt, geht über Schiller auf Bayer65 bzw. eine von dessen Quellen zurück, während es bei Horaz »undae tyrannus« (»Carmina« 2,17,19 f.) heißt, bezogen nicht auf den Wassermann, sondern auf das regenreiche Sternzeichen des Steinbocks – die Zahl der Beispiele ließe sich vervielfachen. Fehlerquellen sind neben Zahlendrehern, Verwechslung römischer und arabischer Zahlen und anderen einfachen Kopierfehlern die falsche Zuordnung von Quellen- und Stellenangaben am Rand (besonders bei Entnahmen aus Vossius und Jonston, 60 Ein älteres Beispiel für die ausschreibende Verwertung von Vorgängerliteratur, in diesem Fall des »Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum« (1481) des Georgius de Hungaria, habe ich in einem früheren Aufsatz dargestellt: Klockow, Reinhard (1989): TextRecycling im lateinischen Mittelalter. Die Schrift »De captiuis christianis« (1498). In: Barbe, Jean-Paul / Volz, Gunter (Hg.): M¦langes offerts — Jacques Grange. Nantes: Imprim¦ de l’Universit¦ (Publications de l’Universit¦ de Nantes), S. 177 – 187. Statt ›lateinisches Mittelalter‹ hätte ich im Titel besser ›frühe Neuzeit‹ schreiben sollen. 61 Jonston, Jan (1650): Historiae naturalis (Anm. 19), S.166: »et Mantuanus [am Rand: Mantuan. l. 1. de colum. temp.] cum scribit« [es folgt das in Anm. 56 angeführte Zitat]. 62 Bayer, Johannes (1603): Uranometria (Anm. 21), Tab. 10. 63 S.o. S. 193 (canem cernuum bzw. cernuam). 64 Allen, Richard Hinckley (1963): Star Names. Their Lore and Meaning. New York: Dover Publications [erstmals 1899], S. 46. 65 Bayer, Johannes (1603): Uranometria (Anm. 21), Tab. 32.

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die mit solchen Marginalien arbeiten), Namensverwechslungen, Missverständnisse oder schlichtweg flüchtige Lektüre. Dabei muss man oft fast kriminalistisches Gespür aufbringen, um den Filiationen der Entstellungen auf die Schliche zu kommen. An einem vergleichsweise einfachen Beispiel sei ihre Genese etwas genauer vorgeführt. Im Kapitel »Gemini« geht es bei Zesen u. a. um Dämonen, die in Gestalt von Ziegenböcken verehrt werden, wie auch die Bibel erwähnt: imý ipsa Scriptura vocabulo ~yry[Xl, Deut. 32, v. 17; quod LXX Seniores to»r tq\cour, interhoc est hircos, R.D. Kimchi pilosos Daemonas, seu Satyros, et Lutherus pretantur. (52,23 – 26)66

Versucht man diesen Verweis zu verifizieren, stellt man als erstes fest, dass an der genannten Stelle (Deut. 32,17) in der Septuaginta to»r tq\cour gar nicht vorkommt. Dort ist von Dämonen (dailom¸oir) die Rede, denen in frevelhafter Weise geopfert wurde, und Luther übersetzt das Wort tatsächlich mit Feldteufel. Zesen hat also zwar nicht in der Septuaginta, immerhin aber in der Lutherbibel nachgeschaut (sofern er nicht auch dieses Wort aus irgendeiner anderen Quelle übernommen hat). Woher aber hat er to»r tq\cour? Die erste Vermutung in solchen Fällen ist Vossius, und in der Tat diskutiert Vossius in »De theologia gentili« (Buch 1, Kap. 8, S. 57 f.) ausführlich die genannte Bibelstelle, zieht auch, wie Zesen, Maimonides und Kimchi als Autoritäten heran; aber to»r tq\cour ist bei ihm nicht zu finden, und auch der sonstige Wortlaut zeigt keine Anklänge an Zesen. Also: Vossius ist es diesmal nicht. Die nächste Adresse ist Elias Schede (»De diis Germanis«),67 den Zesen zwei Seiten später erwähnt, und hier wird man fündig. Dort geht es im 1. Kapitel des vierten Teils um die Dämonen. Nach dem lateinischen Zitat zweier Stellen aus dem Alten Testament, in denen vom Dämonenkult die Rede ist (Levit. 16,7 und Deut. 32,17) fährt Schede fort: Vbi in primo loco to ~yry[Xl vertunt to»r tq\cour, seu hircos. Et R. D. Kimchi pilosos opinatur Daemonas fuisse, seu Satyros.68

Das ist offenbar die gesuchte Quelle. Allerdings bezieht sich bei Schede diese Aussage nicht auf Deut. 32,17, sondern der primus locus ist bei ihm Levit. 16,7. Zesen hat zu flüchtig gelesen und die Angabe zu to»r tq\cour falsch bezogen. Er 66 »Selbst in der Heiligen Schrift mit dem Wort ~yry[Xl (lesza’irim, Deut. 32,17), was die siebzig Herren der Septuaginta mit to»r tq\cour, ›die Böcke‹, Rabbi D. Kimchi mit ›behaarte Dämonen‹ oder ›Satyrn‹ und Luther mit ›Feldteufel‹ übersetzen.« 67 Schede, Elias (1648): De diis Germanis (Anm. 27). Benutztes Digitalisat: http://www.mdznbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10017074 – 7 (27. 1. 2014). 68 Ebd., S. 489 f. »Wo sie an der ersten Stelle das ~yry[Xl mit to»r tq\cour oder ›Böcke‹ übersetzen. Und Rabbi D. Kimchi meint, es habe sich um behaarte Dämonen oder Satyrn gehandelt.«

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schreibt die Übersetzung außerdem den »LXX Seniores«, also der Septuaginta zu, während bei Schede das Subjekt zu »vertunt« im Vagen bleibt; allerdings erfolgt wenig später die Zuschreibung einer anderen griechischen Übersetzung zur Septuaginta, so dass die Vermutung auch an dieser Stelle nahe liegt. Wenn man der Sache allerdings weiter nachgeht, erlebt man neue Überraschungen. Zunächst einmal stellt man fest, dass es sich bei der von Schede auf Latein zitierten Stelle nicht um Levit. 16,7, sondern um 17,7 handelt. Doch auch im griechischen Text von Levit. 17.7 findet man nicht to»r tq\cour, sondern dort steht toı˜r lata¸oir (Luther übersetzt auch hier »den Feldteufeln«, denen man nicht opfern soll). Also erneut die Frage, diesmal bezogen auf Elias Schede: Woher hat er to»r tq\cour? Die Antwort lautet: aus »De diis Syris« des englischen Orientalisten John Selden (1584 – 1654),69 einem Werk, das sowohl Schede als auch Vossius gern benutzen und manchmal auch nennen. Dort werden in den »Prolegomena«, wie später bei Schede, die beiden Stellen Levit. 17,7 und Deut. 32,17 nacheinander auf Latein zitiert, und Selden schließt daran die Bemerkung: primus locus pro Daemonijs ~yry[Xl Lashaghirim, id est toı˜r tq\coir seu hircis, habet in Ebraeo; et pilosos daemones inde intelligit D. Cimchi. Seniores LXX. substituunt toı˜r lata¸oir.70

to»r tq\coir, das in Schedes Satzkonstruktion zum Akkusativ to»r tq\cour wird, ist bei Selden der Versuch einer gegenüber der Septuaginta genaueren Übersetzung des hebräischen Textes ins Griechische. Die Worte werden ausdrücklich nicht der Septuaginta zugeschrieben, die stattdessen toı˜r lata¸oir aufweise. Diese Information geht bei Schede verloren, er belässt die Autorschaft im Vagen (»vertunt«). Zesen will die Unbestimmtheit beseitigen und erklärt ohne Nachprüfung die Septuaginta zur Quelle für das angebliche to»r tq\cour. So macht er gleich zwei Fehler: Er gibt eine falsche Stelle an und schreibt der Septuaginta einen nicht vorhandenen Wortlaut zu. Fallgeschichten dieser Art lassen sich zu vielen Stellen des »Coelum« schreiben. Sie bezeugen das vielfältige Beziehungsgeflecht, in dem dieser Text zu anderen Texten steht, die ihrerseits auf komplexe Weise mit ihren Vorgängern verbunden sind.

69 Selden, John: De diis Syris syntagmata duo […]. London: William Stansby 1617. Benutztes Digitalisat: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12bsb10254618 – 2 (27. 1. 2014). 70 Ebd., S. XXXVIII. »Die erste Stelle hat statt ›den Dämonen‹ im Hebräischen ~yry[Xl Lashaghirim, d. h. toı˜r tq\coir oder ›den Böcken‹, und D. Cimchi versteht darunter behaarte Dämonen. Die 70 Herren setzten dafür toı˜r lata¸oir ein.«

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4. Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Verweisen vom Typ videatur xy, die sich in Zesens »Coelum« wie in anderen Werken der Zeit in so großer Zahl finden. Als Sprechakt trägt solch ein Verweis einen Appellcharakter ; er ist eine Aufforderung an den Leser, die nach heutigen Maßstäben die folgenden Prämissen enthält: 1. Es gibt den betreffenden Text (Existenz). 2. Der die Aufforderung formulierende Autor kennt ihn und hat ihn gelesen (Autopsie). 3. Der Autor hält ihn für wichtig, nützlich usw. (Relevanz). 4. Auch dem Leser steht dieser Text zur Verfügung (Disponibilität). 5. Der Leser wird mit Hilfe der gemachten Angaben die gemeinte Stelle ohne weiteres finden (Identifikation). Wie gezeigt, ist bei Zesens Verweisen manchmal nicht einmal die Existenzprämisse erfüllt, womit alle anderen hinfällig werden; und auch wo die Existenz des Werkes gesichert ist, sind die übrigen Prämissen oft nicht gegeben: Der Schreiber kennt das Werk oder die Stelle nicht, kann mithin die Relevanz für das Thema nicht beurteilen, und er liefert auch nicht die Angaben, die es dem Leser ermöglichen, die betreffende Stelle zu finden. Eine paradoxe Situation: hier formuliert jemand, dem die Voraussetzungen dazu fehlen, eine Aufforderung, von der er weiß, dass niemand sie ausführen kann oder wird – was er auch nicht ernsthaft erwartet. Eine solche Aufforderung ist eine leere Geste, unbefugt und folgenlos, und kein zeitgenössischer Leser, vertraut mit den Konventionen gelehrter Textproduktion, wird sie als tatsächliche Handlungsanweisung missverstehen und sich auf die Suche nach den empfohlenen Textstellen begeben. Das tut erst der Kommentator des 21. Jahrhunderts, und er investiert darin bedeutend mehr Zeit, als der Autor auf die Niederschrift seines Werks verwendet hat. Warum machen die Autoren das? Warum schleppen sie diesen unnützen gelehrten Ballast von einem Buch zum andern mit? Warum lassen sich Autoren und Leser auf diese aufwendige Maskerade ein, von der sich doch niemand wirklich täuschen lässt? Schwer zu verstehen. Oder vielleicht auch ganz einfach. Ich vermute, wie schon zu Anfang angedeutet, dass man mit Begriffen wie Maske, Geste, Habitus, Spiel tatsächlich auf der richtigen Spur ist. Die nach heutigen Vorstellungen hypertrophe und dysfunktionale Anhäufung von Verweisen, Zitaten und dergleichen in der gelehrten Literatur der Barockzeit ist auf der Ebene des Textes das, was auf dem Feld der Kleidung unpraktische Ausstattungsstücke wie Perücke oder Barett und Talar sind, nämlich die traditio-

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nellen Insignien des Gelehrtentums. In einer Zeit, in der Embleme, Symbole und Abzeichen aller Art eine so beherrschende Rolle spielen, ist auch der sprachliche Auftritt von Bedeutung, und wer Gelehrsamkeit für sich beansprucht, muss die anerkannten Gesten und Rituale des gelehrten Diskurses beherrschen und vorführen können, und dazu gehört nun einmal auch das demonstrative Ausbreiten einer Fülle von Zitaten und Verweisen.71 Gelehrsamkeit in ihrer repräsentativen Form ist in dieser Zeit noch immer Buchgelehrsamkeit, die über die akkumulierten Schätze der Tradition verfügt und sie ausstellt. Eine empirisch arbeitende, die Phänomene direkt untersuchende Naturwissenschaft gewinnt nur allmählich an Boden.72 Zesen steht noch ganz in dieser alten Tradition und schaut bei der Arbeit am »Coelum« mehr in Folianten als ins Teleskop. Er beansprucht Zugehörigkeit zur Zunft der Gelehrten, indem er seine Beherrschung der sprachlichen Insignien dieses Standes demonstriert, die allerdings bei ihm, im Unterschied etwa zu seinem praeceptor Vossius, weitgehend zur leeren Geste geworden sind. Später wird man so etwas als »Scharlatanerie« abtun73 und als Pedanterie verspotten,74 und noch später glaubt man – immer noch symbolbewusst –, mit den Talaren auch den Muff von tausend Jahren entsorgt zu haben.

5. Zesen gibt sich im »Praefamen« zum »Coelum«, wie schon gesehen, sehr bescheiden: Er will in diesem »tractatulus« lediglich zusammenstellen, was die antiken Dichter und andere Autoren zu den Sternbildern gesagt haben. Er versteht sich als eine Art Sammler und Redakteur oder, um ein abwertendes Wort zu benutzen, das in diesem Zusammenhang auch auf ihn angewendet 71 Vgl. Grafton, Anthony (1995): Die tragischen Ursprünge (Anm. 3), S. 41 f.: »Verweise sind die Ausweise, die die Mitgliedschaft des Autors in der Gelehrtengilde bezeugen.« 72 Hans Blumenberg, der den Wandel des Wissenschaftsverständnisses besonders eindringlich verfolgt hat, schreibt: »Die geschriebene und schließlich gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwächung von Authentizität der Erfahrung geworden. Es gibt so etwas wie die Arroganz der Bücher durch ihre bloße Quantität, die schon nach einer gewissen Zeit schreibender Kultur den überwältigenden Eindruck erzeugt, hier müsse alles stehen und es sei sinnlos, in der Spanne des ohnehin allzu kurzen Lebens noch einmal hinzusehen und wahrzunehmen, was einmal zur Kenntnis genommen und gebracht worden war.« (Blumenberg, Hans [1983]: Die Lesbarkeit der Welt. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 17) 73 Vgl. Grafton, Anthony (1995): Die tragischen Ursprünge (Anm. 3), S. 119 f., und Theisohn, Philipp (2009): Plagiat (Anm. 52), S. 227 f., über die Schrift »De charlataneria eruditorum« (1715) von Johann Burkhard Mencke. 74 Vgl. Grafton, Anthony (1995): Die tragischen Ursprünge (Anm. 3), S. 127 f.; Martin, Dieter (2008): Gedichte mit Fußnoten (Anm. 4), S.143.

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wurde, als Kompilator.75 Das ist aber nur die eine Seite. Andererseits lässt er sich in einem Widmungsbrief von Johannes Crusius als den »communis Europae professor« feiern, der sich mit diesem Werk die Pforten zum Himmel geöffnet und Unsterblichkeit verdient habe.76 Hier ist Zesen nicht der bescheidene Sammler, sondern er beansprucht auch mit diesem Werk alle Würde und allen Ruhm eines Autors. Und immerhin: er exzerpiert ja nicht nur, sondern unterwirft das Gelesene seinem Urteil, setzt sich damit auseinander, wägt ab und wählt aus, verwirft oder eignet es sich an. Er operiert selbstbewusst mit dem ›Erlesenen‹ und bildet daraus ein neues Ganzes von durchaus eigenem Gepräge. Das ist keine geringe Leistung. Aber doch auch eine sehr fragwürdige. Die benutzten Autoren hätten, wäre ihnen eine derartige Weiterverwendung ihrer Arbeit bekannt geworden (was schon aus Gründen der Chronologie in den meisten Fällen unmöglich ist), zu Recht ihre Priorität reklamieren können, und potentiellen Kritikern liefert Zesen mit seiner Arbeitsweise reichlich Munition – die sie allerdings erst hätten entdecken müssen. Im Streitfall – wenn denn jemand daran Interesse gehabt hätte – hätte man Zesen zumindest an den Stellen, an denen er wörtlich Übernommenes explizit als originäres Eigentum darstellt (interpretor, suspicor usw., s. die obigen Beispiele), auch nach den literarischen Anstandsbegriffen des 17. Jahrhunderts des Plagiats bezichtigen können, denn hier geht er entschieden über die allgemeine Praxis der stillschweigenden Übernahme hinaus, präsentiert übernommenes Gut gezielt als Produkt eigener Gedankenarbeit und Formulierungskunst und inszeniert sich als eigenständigen Mytheninterpreten. Das ist Hochstapelei. Und man kann sicher sein: Wenn einer seiner erklärten Feinde, etwa Rist, sich etwas Vergleichbares mit einem seiner eigenen Werke erlaubt hätte, hätte Zesen einen lautstarken Protest um fremde Federn erhoben. Aber zum Plagiat gehört seit Aristophanes wesentlich auch, dass es entdeckt wird und dass man daraus einen Skandal macht77 – der Wirbel um Politikerdissertationen liefert ein aktuelles Beispiel. Dieses Schicksal ist dem »Coelum« zu seiner, in Fragen des geistigen Eigentums noch laxen und weitgehend unregulierten Zeit nicht widerfahren, und wenn die Philologie im 21. Jahrhundert endlich die fragwürdigen Aneignungspraktiken Zesens aufdeckt, skandalisiert das niemanden mehr. 75 Boll, Franz (1903): Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder. Leipzig: Teubner, S. 456, tadelt die »kritiklosen Kompilationen von Bayer und Philipp von Zesen (Caesius)«. 76 »[U]t communis Europae Professoris titulo ornari vel maximÀ dignus videaris. Quippe regiam hanc ad Nominis et famae immortalitatem semitam tanto semper nisu calcasti, ut inter astra, praesertim hoc ipso, quod nunc in lucem prodit, Opere locum sis adeptus. Inter astra versaris: in Coelum ipsum penetrasti his ipsis lucubrationibus. Coelum portas suas aureas tibi aperuit.« (Zesen, Philipp von [2011]: Coelum [Anm. 1], S. *8v) 77 Diesen Aspekt betont besonders Theisohn, Philipp (2009): Plagiat (Anm. 52), mit dem Begriff der »Plagiatserzählung« (S. 14 – 17).

Hans Graubner

Freundschaft als Konkurrenz im Sturm und Drang. Herder – Hamann, Goethe – Herder

Der »Freundschaftskult«1 kam im 18. Jahrhundert auf, als sich die ständischen Bindungen lockerten und die Individuen stärker hervortraten. Sie suchten ständeübergreifende Bündnisse,2 deren Bindemittel Herkunft und Stand ignorierten und in einer persönlichen Beziehung bestanden. Diese Freundschaftsbeziehungen ruhten auf einer vom Pietismus herrührenden emotionalen Aufladung3 und auf einer gemeinsamen akademischen Bildung.4 Die pietistische Komponente bestand in der seelischen Selbsterforschung und in der Vorstellung von Christus als Freund,5 der in die innerste Seelenlage hineinschauen kann. In der Übertragung auf den weltlichen Freund avancierte dieser zum intimen Kenner der eigenen Seelenregungen, vor dem es keine Geheimnisse mehr gab. »Somit entsteht die innerweltliche empfindsame Freundschaft unmittelbar aus dem Geiste des Pietismus«,6 und die »Form der Freundschaftsbeziehung zu Gott, die die Pietisten ausbildeten, wurde gleichsam zum Modell der Beziehung zum Freunde«.7 Die Bildungskomponente dieser Freundschaftsbeziehungen hatte 1 Rasch, Wolfdietrich (1936): Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle a. d. S.: Niemeyer (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Buchreihe 21). 2 Über die Bedeutung von Bündnissen im 18. Jahrhundert vgl. den Internet-Aufruf zu Beiträgen für die Jahrestagung 2014 der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts mit dem Titel »Bündnisse. Politische und intellektuelle Allianzen im Jahrhundert der Aufklärung« von Franz Eybl, Daniel Fulda und Johannes Süßmann. 3 Vgl. in Raschs Buch (Anm. 1) das Kapitel »Die Freundschaft im Pietismus« (S. 36 – 80). 4 Dass die neue ständeübergreifende Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert aus den akademisch Gebildeten der »Gelehrtenrepublik« entsteht, hat nachdrücklich Heinrich Bosse gezeigt: Bosse, Heinrich (2012): Die gelehrte Republik. In: Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770 – 1830. Heidelberg: Winter (Reihe Siegen 169), S. 305 – 325. 5 In der pietistischen Literatur erscheint diese Kennzeichnung Christi häufig, vgl. Kemper, Hans Georg (1997): Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/1: Empfindsamkeit. Tübingen: Niemeyer, S. 54 u. ö.). Vgl. zu Christus als Freund auch Rasch, Wolfdietrich (1936): Freundschaftskult (Anm. 1), S. 50 f. 6 Ebd., S. 61. 7 Ebd., S. 51.

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zur Grundlage den gemeinsamen Akademiker-Stand ihrer Mitglieder, der einerseits die Unterminierung der strengen Ständeordnung vorantrieb, weil er Adel- und Bürgersöhne umfasste, andererseits den neuen Freundschaftsbündnissen ein elitäres Standes- und Selbstbewusstsein verlieh. In seiner grundlegenden Arbeit zum »Bürger als Freund« hat Meyer-Krentler herausgearbeitet, dass die empfindsame Seelenfreundschaft im 18. Jahrhundert eine Kompromissbildung war aus dem Eigeninteresse des sich emanzipierenden Individuums und der am Gemeinwohl orientierten »Botschaft der Tugend«8. In diesem Freundschaftskonzept »werden aufklärerische Sozialethik und empfindsame Gefühlsintensität auf den gemeinsamen Begriff der tugendhaften Glückseligkeit in der Gruppe gebracht«.9 Dieses Freundschaftskonzept »wird mit dem Sturm und Drang in Frage gestellt«.10 Zwischen der Aufklärung und dieser neuen Bewegung verschiebt sich die Gewichtung innerhalb des Freundschaftsbegriffs. Die Bedeutung des Gemeinwohls tritt gegenüber der Dominanz des sich emanzipierenden Individuums zunehmend zurück. Die ältere Freundschaftsvorstellung aus der vor- und frühaufklärerischen politischen Klugheitslehre gewinnt wieder Raum, in welcher Freundschaft als politisches Kalkül zum eigenen Vorwärtskommen eingesetzt wurde. Adolph Freiherr von Knigge wendet sich gegen die neue »tugendempfindsame«11 Freundschaft. Sie sei nur ein Produkt der überschwänglichen Jugendzeit. Im Mannesalter bleibe »vom ganzen Freundschaftsethos nichts andres übrig als ichbezogene Sympathie«.12 Den Endpunkt dieser Umkehrung sieht Meyer-Krentler in einem Diktum Hegels, der in der distanzierten Männerfreundschaft die empfindsame Übereinstimmung der Jugend überwunden sieht: Jeder Mensch hat seinen Lebensweg für sich zu machen, eine Wirklichkeit sich zu erarbeiten und zu erhalten. […] Es gehört wesentlich zum Prinzipe unseres tieferen Lebens, daß im ganzen jeder für sich sorgt, d. i., selbst in seiner Wirklichkeit tüchtig ist.13

8 Titel des Buchs von Martens, Wolfgang (1968): Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart: Metzler. 9 Meyer-Krentler, Eckhardt (1984): Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München: Fink, S. 20. 10 Ebd., S. 21. 11 »Tugendempfindsamkeit« ist Meyer-Krentlers Begriff für die »Integration frühaufklärerischen Tugendethos’ und neuer empfindsamer Sensibilität«. Vgl. ebd., S. 20. 12 Ebd., S. 62. 13 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Mit einem Essay von Georg Luk‚cs. Nach der 2. Ausg. Heinrich Gustav Hothos (1842) hg. v. Friedrich Bassenge. Bd. 1. Berlin / Weimar : Aufbau-Verlag 1955 (Lizenz-Ausgabe Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1955), S. 545 f. Meyer-Krentler, Eckhardt (1984): Der Bürger als Freund (Anm. 9), S. 62.

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An dieser Schnittstelle des Sturm und Drang zwischen empfindsamer Freundschaft und selbstbewusstem Eigeninteresse bewegen sich die folgenden Überlegungen, in deren Mitte Herder steht als beispielhafte Gestalt für die innere Loslösung des Individuums aus allen ständischen Bindungen und für die Schwierigkeiten, die diese Emanzipation in einer gleichwohl noch immer ständisch verfassten Gesellschaft aufwarf.

1.

Herder und Hamann

Johann Georg Hamann zog die Kraft und Energie seiner Kritik an der zeitgenössischen Theologie, Philosophie und schönen Literatur weitgehend aus dem Evangelium, weniger aus der neuen Wertschätzung der eigenen Person. Die Abkehr vom Ständischen bedeutete für ihn noch nicht das Hinüberwerfen aller Werdensenergie auf die Karriere, auf die autonome Selbstausbildung zur Erringung einer Position in der Welt. Kernpunkt seiner Selbsteinstellung ist seine besondere Auffassung vom Leben als Müßiggang, in dem Gott der Herr bleibt, der Mensch sich noch nicht durch angestrengte Arbeit zum Herrn seiner selbst macht. Die Grundlage von Hamanns Anthropologie war die Bibel, und von diesem Fundament aus wandte er sich auch gegen die empfindsame Seelenfreundschaft. Mit dem Jesuswort von der Feindesliebe14 verband er die Umkehrung, dass ich »meine Freunde haßen und meine Feinde lieben kann«.15 Seinen langjährigen Freund, Johann Gotthelf Lindner, der ihn nach dem alten Modell bat, er solle nicht auf Äußerlichkeiten, sondern »auf das Herz […] sehen, mit dem er [Lindner] schreibt«, wies er schroff auf die usurpierte Quelle dieses verfehlten Freundschaftsverständnisses hin: »Meynst du denn, dass ich ein Gott bin? Du machst mich dazu […], oder hälst [sic!] dich selbst dafür, daß du in Dein und Mein Herz sehen kannst.«16 Mit einem an der biblischen Anthropologie erprobten Realismus fasst er seine Position zusammen: Ungeachtet ich aus Haß und Liebe zusammengesetzt bin, sind doch Freunde und Feinde in meinen Augen nichts als ein Kuchen; denn kein Mensch kennt weder die Liebe noch den Haß irgend eines, den er vor sich hat.17

14 Mt 5,44. 15 Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Bd. 1 – 7. Hg. v. Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden [ab Bd. 6: Frankfurt a. M.]: Insel 1955 – 1979; hier Bd. 2, S. 184,1 f. Vgl. auch Bd. 1, S. 296,26 f. u. ö. Die in der Quelle uneinheitlich gebrauchten ‹ss›- und ‹ß›-Schreibungen werden nicht vereinheitlicht. 16 Hamann, Johann Georg: Briefwechsel (Anm. 15), Bd. 1, S. 425 f. 17 Ebd., Bd. 4, S. 6,14 – 17.

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Aus dieser Anthropologie entsteht Hamanns kämpferisches Freundschaftsverständnis. In jedem Menschen sind Christus anwesend und Lucifer, sein Widersprecher. Deshalb ist jeder Widerspruch gegen Freunde auch ein Widerspruch gegen den Widersprecher Christi in uns, und nur widersprechende Freunde sind Helfer zur Selbsterkenntnis. Schweigende, laue oder allzu kompromissbereite Freunde dagegen haben diesen Namen nicht verdient. Anstelle des Freundes Lindner besetzte ab 1764 Herder die oberste Position in Hamanns Freundschaftshierarchie. Zwischen ihnen entwickelte sich ein sehr intensiver, ebenso persönlicher wie geistiger Austausch, in dem Hamann als der ältere, nach Publikationen erfahrenere ›homme de lettres‹ der Lehrer war, von dem der junge Herder alles aufsaugte, was er an neuartigen Einsichten und Einfällen erhaschen konnte. Ihm war klar, dass mit Hamanns rigoroser Frontstellung gegen den aufgeklärten Zeitgeist sich eine Umwälzung vollzog, an der er, Herder, mitarbeiten wollte und die er weiterzuführen gedachte. Herders Selbstbewusstsein hatte gegen Hamanns Art, seine Ansichten zwar kryptisch und spöttisch, aber dennoch entschieden und apodiktisch vorzubringen, gewiss keinen leichten Stand. Aber er wollte sich zwischen seinen gegensätzlichen großen Königsberger Lehrern Hamann und Kant eine eigene Position erarbeiten.18 Kant war nur sein Lehrer, Hamann aber auch sein Freund. Das machte eine solche Positionsbestimmung schwieriger und prekärer. Aus sehr kleinbürgerlichen Verhältnissen im ostpreußischen Morungen stammend, wohin er nie wieder zurückgekehrt ist, sah Herder seine Aufstiegschancen allein in der akademischen Bildung und dem dadurch erreichbaren Stand des Gelehrten, der für ihn in den Stand des Geistlichen mündete. Er hat diesen Weg mit aller Entschlossenheit und Selbstdisziplin betreten. Seine Idee der rastlosen Selbstbildung, theologisch begründet als Ausarbeitung des göttlichen Ebenbildes in sich, zu dem der Mensch geschaffen sei, hat die Umwandlung der statischen, ständischen Geborgenheit des Menschen zur offenen, dynamischen, allein auf eigener Leistung beruhenden Positionsfindung in der Gesellschaft in dieser Umbruchszeit vorangetrieben. Aus dieser Idee entsprang Herders hochfliegendes Selbstbewusstsein als Individuum, gekoppelt mit dem Gefühl dauerhafter Ungeborgenheit. Sein Weg war ungebahnt. Als einen »Wurf von Zufällen«19 empfindet er die Ortswechsel seines Lebens. Herkunft oder 18 Vgl. dazu die vorzügliche Einführung in Herders Frühschriften von Gaier, Ulrich (1985): Der frühe Herder. In: Gaier, Ulrich (Hg.): Herder, Johann Gottfried: Frühe Schriften 1764 – 1772. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag (Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden [künftig zitiert als »Herder, Johann Gottfried: FA«], Bd. 1 [Bibliothek deutscher Klassiker 1]), S. 813 – 832. 19 Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Bd. 1 – 33. Hg. v. Bernhard Suphan, ab Bd. 25 hg. v. Carl Redlich. Reprograf. Nachdruck der Ausgabe Berlin: Weidmann 1877 – 1913. Hildesheim / Zürich / New York: Olms-Weidmann 1967/68, hier Bd. 4, S. 345.

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Besitz als ständische Ruhepunkte stehen ihm nicht mehr zur Verfügung: »Ich habe nichts auf dieser Welt, was ich sehe, das andre haben […]. Was bleibt mir übrig, als Würksamkeit u. Verdienst?«20 Und diese angestrebte »Würksamkeit« greift weit über ständische Genügsamkeit hinaus: »Ich gehe durch die Welt, was hab’ ich in ihr, wenn ich mich nicht unsterblich mache!«21 Das ist das Programm eines geistigen Selfmademan, eines der ersten in Deutschland, theologisch abgesichert durch die Vorstellung, mit dieser Selbstverwirklichung das eigene göttliche Ebenbild herauszupräparieren, indem man »sich an sich selbst zum Gotte schafft«.22 Auf diesem Wege der Herausbildung des eigenen göttlichen Selbst dient Herder die Freundschaft mit Hamann als Initiation und Entwicklungsstufe. Bald nach ihrer neuen Bekanntschaft reist Hamann in den Westen Deutschlands, und Herders poetischer Abschiedsgruß ist eine einzige Liebeserklärung, Schülerschaft und Freundschaft in sich vereinigend. Herder betont: »Wieviel ich an Ihnen verliere«,23 und er hofft auf irdische oder jenseitige Wiedervereinigung mit dem Freund: »Du dort, ich hier, mein Hamann! Gott in Hand / wohl bald vereint«.24 Der Brief schließt mit der Herausstellung Hamanns und der Zurücknahme des eigenen Ich: »[I]ch weiß, Sie lieben mich mehr als ich mich lieben kann […]. Der Himmel führe Sie, den Besten, den ich kannte, glücklich«.25 Diese Tendenz zur Erhöhung des Freundes behält der nächste Brief einerseits durch bezeichnende Analogien bei, andererseits grummeln zwischen den Zeilen Herders Selbstwertgefühl und erste Anzeichen eines geistigen Dissenses. Herder hat von Hamann einen offenbar schwerfälligen Schüler übernommen und schreibt dazu: »Der Klotz, aus dem kein Sokrat eine Grazie bilden konnte; was wird der vor Simon, den Lederschneider seyn?«26 Wo der Sokrates Hamann selbst nichts ausrichten konnte, da wird dessen Schüler, der Schuster Simon, also Herder, erst recht erfolglos sein. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird unter deutlicher Selbstherabsetzung des Schülers Herder zum bloßen »Lederschneider« gekennzeichnet. Herder kennt jetzt Hamanns »Sokratische Denkwürdigkeiten«, aber er studiert auch in Hamanns Abwesenheit die »Aesthetica in nuce«, wie Anspielungen in diesem Brief zeigen. Im letzten Teil des Briefes deutet er an, dass er dabei nicht mehr, wie vorher, in allem mit Hamann über20 Herder, Johann Gottfried: Briefe. Gesamtausgabe 1763 – 1803. Bd. 1 – 17. Unter der Leitung v. Karl-Heinz Hahn v. d. Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [ab Bd. 11 Stiftung Weimarer Klassik] hg. v. Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, ab Bd. 9 hg. v. Günter Arnold. Weimar : Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger [Bd. 17 Stuttgart: Böhlaus Nachfolger] 1977 – 2014, hier Bd. 1, S. 168. 21 Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke (Anm. 19), Bd. 4, S. 401. 22 Herder, Johann Gottfried: FA 1 (Anm. 18), S. 34. 23 Herder, Johann Gottfried: Briefe (Anm. 20), Bd. 1, S. 24. 24 Ebd., S. 25. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 27.

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einstimmt. Er erinnert sich an die Zeit der völligen Einigkeit, aber das war auch eine Zeit, da er wie »der unbedachtsame Alcibiades an der Brust Sokrates lag«.27 Jetzt ist dieser Alcibiades offenbar nicht mehr »unbedachtsam«, sondern macht sich seine eigenen Gedanken bei den Verständnisschwierigkeiten mit Hamanns Hauptschrift. Er versucht, sich in Hamann hineinzuversetzen: Noch enger aber vereinige ich mich mit Ihnen, wenn ich Ihre Schriften lese: o wäre darüber mein Apoll in der Nähe! Sie erlaubten mir, Fragen über Ihren Geist an Sie zu thun: wohl! erlauben Sie es mir jetzt: da ichs mit größerer Einschmeichelung in mich selbst jetzt thue.28

Dies ist eine durchaus verzwickte Äußerung. Herder versucht aufgrund der innigen Kenntnis des Freundes und seines Denkens dessen Schriften aus dieser freundschaftlichen Übereinstimmung heraus zu verstehen: »Noch enger vereinige ich mich mit Ihnen, wenn ich Ihre Schriften lese«. Aber diese Einfühlung in den Geist Hamanns scheint für das Verständnis der »Aesthetica« nicht auszureichen, denn er wünscht: »[W]äre darüber mein Apoll in der Nähe!« Noch einmal wird Hamann als der Überlegene, als Herders Apoll, als sein »Ratgeber und Musenführer«29 beschworen. Wäre er da, so könnte man »Fragen über Ihren Geist an Sie thun«, und Hamann könnte selbst über die schwierigen Stellen in der »Aesthetica« Auskunft geben. Da er aber abwesend ist, muss er es Herder »erlauben«, sich »mit größerer Einschmeichelung in mich selbst«, also durch die Vertiefung in die eigene Verstehensfähigkeit, den Sinn von Hamanns Geist und Schrift herauszufinden. Nach dem Konzept der empfindsamen Seelenfreundschaft müsste die innere Übereinstimmung der Freunde auf dem Wege der Selbsterforschung zum Hamannschen Sinn der »Aesthetica« führen. Nach der neuen Vorstellung, dass man vor allem seinem eigenen Genius zu folgen habe, kommt dabei eben auch nur das eigene Verständnis des Sinns dieser Schrift heraus und ein Dissens deutet sich an, mit dem Herder aber hier noch hinterm Berge hält. In merkwürdig zweideutiger Weise betont er am Ende des Briefs nachdrücklich die enge Freundschaft zu Hamann: »Meine Umarmung ist stumm: meine Empfindung nicht eine klingende Schelle«.30 Der erste Teil dieses Satzes spielt auf Herders Lektüre der »Sokratischen Denkwürdigkeiten« an. Dort hatte Hamann die verehrende Umarmung der stummen Statue Richelieus durch Peter den Großen als Zeichen falscher Großmut gedeutet. Herder missversteht das dagegen hier und an anderen Stellen als Beweis echter Verehrung.31 Der 27 Ebd., S. 28. 28 Ebd., S. 28 f. 29 So kommentiert Arnold die Anrufung Apolls in diesem Brief. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Briefe (Anm. 20), Bd. 11, S. 15. 30 Ebd., Bd. 1, S. 29. 31 Vgl. dazu Graubner, Hans (2005): Peter der Große als Pygmalion. Zum frühen Peter-Bild bei

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zweite Teil des Satzes nimmt eine Formulierung aus der Hochpreisung der Liebe im ersten Brief an die Korinther auf: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.«32 Herders Betonung, dass seine »Empfindung« für Hamann »nicht eine klingende Schelle« sei, ist merkwürdig. Warum sollte Hamann mangelnde Liebe bei Herder argwöhnen? Es scheint vielmehr eine Art Selbstvergewisserung oder Selbstüberredung des Briefschreibers zu sein, denn in diesen Tagen bereitet sich seine grundsätzliche Kritik an Hamanns »Aesthetica« vor. Auch Herders erwachtes, nur seinem eigenen Genius vertrauendes Selbstbewusstsein wird deutlich in diesem Brief dokumentiert: Nun habe ich mich auch, bester Hamann, vor dem heiligsten Gott des Poeten, vor meinem Genie, verschworen, in Königsberg vor mich nie Autor zu werden. Ich schwindle noch von dem Geruch meiner Verwesung: aut Caesar, aut nihil;33 ich bin zu gut, oder zu schlecht vor unser Böotisches dickluftiges Thebe.34

Die Erhebung des eigenen Genies zum »heiligsten Gott des Poeten« ist nicht nur eine übertreibende Redeweise, sondern entspricht durchaus Herders Vorstellung von der Selbstbildung als Herausbildung des eigenen göttlichen Ebenbildes. Und auch das Lebensprogramm für diese Herausbildung ist deutlich. Es geht darum, »vor mich […] Autor zu werden«, d. h. für sich selbst, unter eigenem Namen, als Schriftsteller groß herauszukommen. Später wird er an Hartknoch schreiben, er wolle mit einer gewaltigen Leistung »Deutschland erstaunen machen«,35 und Hamann vertraut er an, er »werde […] mit einem Werke u. mit meinem Namen – vor der Welt, u. warum nicht auch vor der Nachwelt erscheinen: mit dem ich aber […] in der Stille laure«.36 Das Erscheinen des eigenen Namens auf dem Werk macht das Individuum entscheidend kenntlich, aber es widerspricht der ständischen Verachtung solch individuellen Hervortretens. Herder musste in Riga seine ersten großen Werke anonym veröffentlichen, weil es in Livland, das noch vollständig in ständischer Verfasstheit verharrte, seinem geistlichen »Stande […] nachtheilig«37 war. In Königsberg aber, das er in dem obigen Briefzitat an Hamann als »dickluftiges Thebe« verspottet, wolle er der erhoffte große Autor jedenfalls »nie« werden. Seine beengte Situation dort kennzeichnet er mit dem Satz: »Ich schwindle noch von

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Hamann und Herder. In: Angermann, Norbert / Garleff, Michael / Lenz, Wilhelm (Hg.): Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale. Fs. f. Gert von Pistohlkors zum 70. Geb. Münster : LIT (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 14), S. 113 – 136. 1. Kor. 13,1. Entweder Cäsar oder nichts (Alles oder nichts). Herder, Johann Gottfried: Briefe (Anm. 20), Bd. 1, S. 27 f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 102. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke (Anm. 19), Bd. 4, S. 345.

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dem Geruch meiner Verwesung«. Damit greift er eine Formulierung Hamanns aus den »Fünf Hirtenbriefen« auf, der seine eigene unproduktive Lage mit Lazarus vor der Auferweckung von den Toten verglichen hatte.38 Herder beeindruckt diese Vorstellung, weil ihm das Bild vom Aufwachen, von einer Art Auferweckung, bei ihm durchaus auch im Sinne einer Selbsterweckung, angemessen für die eigene Entwicklung und für die durch Hamann und ihn beginnende geistige Neuausrichtung zum Sturm und Drang erscheint. Mit dem ›Alles oder Nichts‹-Satz: »aut Caesar, aut nihil«, der herrischen »Devise von Cesare Borgia«,39 kündigt Herder allerdings auch an, dass er in dieser Erweckungsbewegung eine führende Rolle zu spielen gedenkt. Sie wird sich auch gegen den Freund Hamann richten, dessen »Aesthetica« Herder offenbar als eine Art Manifest dieses neuen, gemeinsamen Aufbruchs empfindet. Zwei Monate nach diesem Brief, im Herbst des Jahres 1764, als Hamann längst wieder in Königsberg weilt, bereitet Herder seine Übersiedlung nach Riga vor, wo er durch Hamanns Vermittlung als Kollaborator des Rektors Lindner an die Domschule berufen worden ist. Um sich die Rigaer Ratsherren und den Rektor geneigt zu machen, betont Herder in seiner Korrespondenz mit Lindner, wie gern er den Ortswechsel von Königsberg nach Riga vollziehe und wie gerne er auch längere Zeit dort bleiben wolle. Auch wenn man diese bei Bewerbungen verständliche Absicht in Rechnung stellt, ist es doch recht verblüffend, wie absprechend Herder seine bisherige Ausbildungsstätte beurteilt: Ich hinterlasse in meinem ganzen Lande nichts von besonderer Anziehungskraft; nichts was meine Sehnsucht zurückriefe, keine Muse, keinen Apoll; und um weiter zu kommen, muss man jederzeit da seyn, wo man ist.40

Dass ihn keine Liebesbindung zurückhält, werden seine Arbeitgeber gerne gehört haben. Aber dass er in Königsberg auch »keinen Apoll« hinterlasse, das kann kaum als Bewerbungstaktik gewertet werden. Hier fließt ihm, ausgerechnet an Hamanns Freund Lindner, eine Bewertung in die Feder, die entschieden mit Herders Selbstpositionierung in der Selbsterweckungsbewegung des Sturm und Drang zu tun hat. Herder muss ja noch sehr genau wissen, dass er vor kurzem Hamann als seinen Apoll bezeichnet hatte, dessen Anleitung und dessen Orakelsprüche er dringend herbeisehnte. Das ist jetzt vorbei. Der Nachsatz spricht Bände: »[U]m weiter zu kommen, muss man jederzeit da seyn, wo man ist.« Es geht ums eigene, persönliche Weiterkommen aus eigener Kraft. Dazu muss man die vergangenen Bildungsstationen hinter sich lassen, mit aller Energie in der jeweils erreichten Gegenwart anwesend sein und von ihr aus den weiteren 38 Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausg. Hg. v. Josef Nadler. Bd. 1 – 6. Wien: Herder 1949 – 1957, hier Bd. 2, S. 353. 39 Kommentar Arnold, in: Herder, Johann Gottfried: Briefe (Anm. 20), Bd. 11, S. 14. 40 Herder, Johann Gottfried: Briefe (Anm. 20), Bd. 1, S. 32.

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Aufstieg vorantreiben. Ein Blick zurück kann da nur hinderlich sein. Herder braucht keinen Apoll mehr, er ist sein eigener Apoll geworden. Hier zeigt sich die agonale Kehrseite der Selbstausbildung zur Ebenbildlichkeit. Da in der Freundschaft keine Standesbindung die Positionen mehr festlegt, muss man selbst den eigenen Standort innerhalb des Freundschaftsbundes bestimmen. Das Verhältnis zu den Mitstreitern muss mit immer neuen Bildern austariert werden. Herders Verwandlung Hamanns von »mein Apoll« zu »kein Apoll« ist dafür ein drastisches Beispiel. Bei der entstehenden antiständischen Selbstkonzeption des autonomen Subjekts wird die empfindsame Seelenfreundschaft zunehmend überdeckt und im Ernstfall unterlaufen. Die Ursache der bisher aufgezeigten Veränderung von Herders Einstellung zu Hamann liegt darin, dass er bei der Lektüre der »Aesthetica« erkannt hat, dass sein eigener Weg zu einer säkularisierenden und historisierenden ästhetischen Anthropologie nicht mehr mit Hamanns christologischer Anthropologie übereinstimmt. Er hält Hamanns »Aesthetica« tatsächlich für eine Ästhetik und hat aufgrund dieser Fehldeutung leichtes Spiel, sie in einer Parodie zu verspotten. Dass er zu diesem Zweck eine zentrale Stelle in der »Aesthetica« grob missversteht, habe ich an anderer Stelle gezeigt.41 In den letzten Wochen seiner Königsberger und am Anfang seiner Rigaer Zeit entsteht diese von Herder nie in den Druck gegebene, aber Anfang Januar 1765 an Hamann überschickte Parodie auf die »Aesthetica« mit dem Hamanns Formulierungen aufnehmenden Titel: »Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose«.42 Diese Schrift enthält Herders deutlichste Absetzbewegung von seinem Lehrer und Stichwortgeber Hamann. Für die hier verfolgte Fragestellung ist der Schluss der Parodie ebenso verblüffend wie folgerichtig: Kurz! o Philolog! du, und dein Buch, ist eine heilge Hieroglyphe, aus der vielleicht ein blinder Homer, oder ein dummköpfichter Plato das Geheimnis der schönen Kunst hervorlangen wird; aber siehe da! nicht vom Leibnizischen Columb, der hier eine Insel und da eine Insel entdeckte; sondern vom Wolfischen Amerikus der auf festes Land trat, bekam die neue Welt den Namen! Stat palma in medio? qui poterit, rapiat!!!43

Zunächst konstatiert Herder seine Verständnisschwierigkeiten mit Hamanns Werk. Er führt das in seiner Schrift mehrfach darauf zurück, dass Hamann seine persönlichen, subjektiven und privaten Tageserfahrungen nicht von seinem Gedankengang trenne und dadurch in undurchschaubare Bilder und Formulierungen gerate. Deshalb die Zusammenführung von »du, und dein Buch« zum 41 Graubner, Hans (2009): »Der nächste Aeon wird wie ein Riese vom Rausch erwachen […]«. Herders frühe und folgenreiche Fehldeutung von Hamanns »Aesthetica in nuce«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, S. 21 – 74. 42 Herder, Johann Gottfried: FA 1 (Anm. 18), S. 30. 43 Ebd., S. 39.

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Singular : »ist eine heilge Hieroglyphe«. Mit »Hieroglyphe« wird die Unverständlichkeit unterstrichen, mit »heilig« aber durchaus die Bedeutung von Hamanns Schrift als Initiation der neuen geistigen Erweckungsbewegung anerkannt. Mit Homer und Plato werden antike Autoritäten aufgerufen, freilich ihre Zugangsweisen zum »Geheimnis der schönen Kunst« mit den Epitheta »blind« und »dummköpfig« für unbegreiflich erklärt. Kant hatte in einer Frühschrift die »Dummköpfigkeit« als »Mangel des Verstandes bezeichnet«.44 Herder bleibt dabei, dass Hamanns Schrift eine Ästhetik sei, also das »Geheimnis der schönen Kunst« enthalte, allerdings nicht entfalte. Deshalb sei da noch alles zu entdecken. Und jetzt wird der Kampfplatz der Konkurrenz mit einem Bild aufgeschlagen, das die individuelle Leistung weit über ständische Beschränkungen hinaus erhebt und in der Geschichte der Menschheit verortet. Der Wettkampf ums Bessersein, der Herder und seine späteren ›Sturm und Drang‹-Gefährten umtreibt, beginnt im Inneren der Freundschaft. Und wer die eigene geistige Position nur noch selbst zu bestimmen hat, braucht sich in seinen Selbstbildern keine Beschränkung mehr aufzuerlegen. Herder sieht sich und Hamann als Entdecker und Erwecker einer neuen Welt. Aber gerade unter Ebenbürtigen verschärft sich die neue Individualkonkurrenz und kommt offen zum Austrag – Freundschaft hin oder her. Herder wählt als Bild die Entdeckung Amerikas, welche die Neuzeit eingeläutet hat. Hier konkurrieren Columbus, der mit den karibischen Inseln die Neue Welt entdeckte, und Amerigo Vespucci, der als erster das feste Land des Kontinents betrat und ihm den Namen gab. Dieses Bild zur Positionierung der eigenen Bedeutung hat einen Königsberger Vorläufer. Es wird von Herders anderem großen Lehrer verwendet, von Immanuel Kant, in der Vorrede der von Herder überaus geschätzten »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels«.45 Kant spielt überhaupt in der Herausbildung des autonomen Individuums eine frühe Rolle. Gedeckt durch die ständeübergreifende Bedeutung des Verstandes, der jedem Menschen gegeben ist, muss das Individuum in diesem Geistesreiche selbst seine Position festlegen. In der Vorrede zu Kants Frühschrift von 1747 »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« findet sich das aufschlussreiche Bekenntnis: Es steckt viel Vermessenheit in diesen Worten: Die Wahrheit, um die sich die größten Meister der menschlichen Erkenntniß vergeblich beworben haben, hat sich meinem Verstande zuerst dargestellt. Ich wage es nicht diesen Gedanken zu rechtfertigen, allein ich wollte ihm auch nicht gerne absagen.46 44 So Ulrich Gaier im Kommentar zur Stelle. Vgl. ebd., S. 917. 45 Gleich zu Beginn seiner »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« beruft Herder sich auf dieses Werk und schreibt in einer Anmerkung, es sei »Eine Schrift, die unbekannter geblieben ist, als ihr Inhalt verdiente.« Vgl. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke (Anm. 19), hier Bd. 13, S. 14. 46 Kant, Immanuel: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. In: Kants

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Hier, am Anfang dieser Entwicklung zur Autonomie, findet sich noch das deutliche Gefühl von der »Vermessenheit« solch individuellen Anspruchs, das sich dann bei und nach Herder verlieren wird. Auch in der »Allgemeinen Naturgeschichte«, wenn Kant das Entdecker-Bild für seine Selbstpositionierung verwendet, bescheidet er sich noch mit der Rolle des Vorläufers Kolumbus und überlässt die Entdeckung des festen Landes künftigen Forschern: Ich empfinde die ganze Stärke der Hindernisse, die sich entgegen setzen, und verzage doch nicht. Ich habe auf eine geringe Vermuthung eine gefährliche Reise gewagt und erblicke schon die Vorgebürge neuer Länder. Diejenigen, welche die Herzhaftigkeit haben die Untersuchung fortzusetzen, werden sie betreten und das Vergnügen haben, selbige mit ihrem Namen zu bezeichnen.47

Dies ist gleichsam eine Einladung für Herder, sich für seine künftigen Entdeckungen desselben Bildes zu bedienen und – die Selbsterhöhung ist deutlich gestiegen – trotz des Missverhältnisses zwischen der von Kant bereits erreichten, von Herder aber erst erhofften großen Leistung, die Position des Amerigo für sich zu beanspruchen, der das feste Land betritt und ihm seinen Namen gibt. In Herders Kant folgender Übertragung der geographischen Entdeckung Amerikas auf geistiges Neuland stellt er Hamann in die Vorläufer-Position von Kolumbus und Leibniz, die nur Inseln entdeckt haben, sich selbst aber als Namengeber in die Reihe Amerigo-Wolff. Dass die Vorläufer nur Inseln finden, spielt an auf Hamanns Selbstdarstellung in den »Sokratischen Denkwürdigkeiten«, wo er wie Sokrates für seine Schriften mit »Lesern« rechnet, »welche schwimmen könnten«, weil sie »zu einer Menge kleiner Inseln« gelangen müssten, zwischen denen »Brücken und Fähren der Methode fehlten«.48 Das ist eine glänzende Vorlage, um Hamann mit Leibniz zu verbinden, der in Herders Sicht nur Einzelentdeckungen

Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränd. photomech. Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausg. v. Kants ges. Schriften. Bd. 1: Vorkritische Schriften 1: 1747 – 1756. Berlin: de Gruyter 1968, S. 1 – 181, hier S. 10. Ebd., einen Absatz später heißt es dann noch selbstbewusster: »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen.« Vermutlich hat Kant bei diesem Bild schon den Gang eines Himmelskörpers im Auge, das Goethe dann extensiv zur Selbstpositionierung nutzen wird (s. u.). Lessing, welcher der beginnenden Überbetonung des Subjekts durchaus abhold war, wurde vermutlich durch solche Sätze zu seinem Spott über Kants Erstling herausgefordert: »K* unternimmt ein schwer Geschäfte, / Der Welt zum Unterricht. / Er schätzet die lebendgen Kräfte, / Nur seine schätzt er nicht. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 1: Gedichte, Fabeln, Lustspiele. Hg. v. Sibylle von Steinsdorff. München: Carl Hanser 1970, S. 47. 47 Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. In: Kants Werke (Anm. 46), S. 215 – 368, hier S. 221. 48 Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke (Anm. 38), Bd. 2, S. 61.

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geliefert hat für Christian Wolffs methodisch vorgehende Systembildungen.49 Mit der eigenen Positionierung in der Reihe Amerigo-Wolff sieht sich Herder als systematischen Entwickler der Samenkörner Hamanns und erwartet, dass das neue Denken mit seinem, nicht mit Hamanns Namen verbunden wird. »Stat palma in medio? qui poterit, rapiat!!!«50 Der Konkurrenzkampf zwischen den Freunden wird von Herder unverhüllt eröffnet. Der Siegespreis ist ausgeboten. Aber nach der Logik der Bilder hat Herder ihn gegenüber Hamann schon für sich entschieden. So wirkt der Satz auch wie eine Kampfansage an künftige Gefährten in diesem Entdeckungs- und Erweckungsbündnis des Sturm und Drang. Interessant ist, wie Hamann auf diesen in die Freundschaft gebetteten Angriff reagiert. Er antwortet Herder nicht direkt, sondern über seinen Freund Lindner, den Rektor der Domschule und damaligen Vorgesetzten Herders in Riga: »Händigen Sie dies [vermutlich ein Buch] dem HE[rrn] Herder ein mit einem: Dum tacet, clamat und mit einer herzl. Umarmung, die alles in sich schliest, was ich weiß und auf dem Herzen habe.«51 Dieser Satz nimmt eine deutliche Zweiteilung vor zwischen der »herzlichen Umarmung« einer innigen, ganz sich öffnenden Freundschaftsbekundung und einer verdeckten, theologisch geradezu vernichtenden Zurückweisung des Herderschen Angriffs. »Dum tacet, clamat.«52 Während Hamann auf den Angriff schweigt, schreit er. Sein Schweigen ist Schreien. Das ist eine Anspielung auf Luk. 19,38 – 40. Dort verlangen die Pharisäer von Jesus, er solle seinen Jüngern verbieten, ihm als Gottessohn zu huldigen. Jesus antwortet: »Ich sage euch: Wo diese werden schweigen, so werden die Steine schreien.«53 Hamann lässt Herder also ausrichten, dieser habe sich durch das Ignorieren des christologischen Kerns der »Aesthetica« unter die Gottesfeinde eingereiht und dem Freund gleichsam untersagt, das Evangelium zu verkünden, so dass er, wie die stummen Steine, schreien müsse. Die doppelte Verdecktheit dieser Zurückweisung: Übermittlung durch einen dritten und unterschwellige Anspielung durch ein angedeutetes lateinisches Bibelzitat lässt die literarische Technik hervortreten, mit der Hamann sein theologisch begründetes kämpferisches Freundschaftsverständnis umsetzt. Nicht erst »um 1800«54, sondern schon über vierzig Jahre früher hält die »Aus-

49 Vgl. dazu Schöne, Albrecht (1960): Herder als Hamann-Rezensent. Kommentar zur »Dithyrambischen Rhapsodie«. In: Euphorion 54, S. 195 – 201, hier S. 200 f. 50 »›Steht eine Palme inmitten? wer es kann, soll sie rauben.‹ Palma ist zugleich der Siegespreis, der dem Wettkämpfer winkt. Der Vers ist wahrscheinlich von Herder.« Vgl. Ulrich Gaier, Stellenkommentar in: Herder, Johann Gottfried: FA 1 (Anm. 18), S. 917. 51 Hamann, Johann Georg: Briefwechsel (Anm. 15), Bd. 2, S. 296. 52 »Während er schweigt, schreit er.« 53 »Dico vobis, quia si hii tacuerint, lapides clamabunt«, lautet der Vulgata-Text. 54 Oesterle, Günter (2010): Diabolik und Diplomatie. Freundschaftsnetzwerke in Berlin um 1800. In: Binczek, Natalie / Stanitzek, Georg (Hg.): Strong ties / Weak ties. Freundschafts-

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bildung einer doppelbödigen Rede- und Schreibweise«55 in die Freundschaftsbeziehung Einzug.56 Hamanns Briefe sind eine Hohe Schule solcher Doppelbödigkeit, Verdecktheit und Indirektheit, und seine Schüler werden das von ihm Gelernte nutzen und vielseitig ausbauen.

2.

Goethe und Herder

Als Herder sieben Jahre später mit dem jungen Goethe in Straßburg zusammentrifft, entsteht eine ähnliche Konstellation wie einst zwischen ihm und Hamann. Jetzt ist er der ältere, durch bedeutende Publikationen bereits Ausgewiesene und Goethe der junge, aufstrebende, in seine Freundschaft drängende Gleichgesinnte. Jetzt ist aber auch das Modell der subjektiven Selbstpositionierung in der geistigen Welt schon geläufiger, selbstverständlicher geworden. Die Saat der geistigen Emanzipation aus ständischen Beschränkungen zur Autonomie des Ich ist aufgegangen. Das Bündnis der befreundeten Erwecker erweitert sich, und Herder als der in diesen Bestrebungen bereits Etablierte muss von seinem Jünger dieselbe ›Ich‹-zentrierte Absetzbewegung erfahren, die er selbst einst Hamann gegenüber vollzog. Goethes Einstieg in die geistige Welt ist ungleich günstiger und dadurch selbstverständlicher als der Herders. Aus angesehenem und wohlhabendem patrizischem Umfeld stammend, das ihm lange familiäres Refugium bleibt, stehen ihm von Kind an alle Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung, die er kraft seiner ungewöhnlichen Begabungen weitausgreifend nutzt. Von Eltern und Lehrern gefördert, von Gleichgesinnten bewundert und durch ihren Umgang angespornt, vom Vater zum Karrieremachen angehalten, ist es ihm von früh an eine selbstverständliche Perspektive, eine bedeutende Position und herausragende Stellung zu erringen. Das Interesse an eigenen und fremden Positionsbestimmungen in der Gesellschaft und vor allem im Reich des Geistes durchzieht Goethes Jugendbriefe und tritt in den gewählten Bildern zutage. Sein Blick ist auf angesehene, große Figuren gerichtet. Beeindruckt von der Stellung der Professoren schreibt er aus Leipzig an den Vater, es gebe

semantik und Netzwerktheorie. Heidelberg: Winter (Beihefte zum Euphorion 55), S. 93 – 110, hier S. 94. 55 Ebd., S. 99. 56 Oesterle nimmt an, dass erst im Briefwechsel zwischen Humboldt, Gentz und v. Brinckmann »ein Freundschaftskonzept [entsteht], das Widersprüche als produktives Potential begreift«. Vgl. ebd., S. 95. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass dies bereits das theologisch begründete und extensiv ausgeübte Freundschaftskonzept Hamanns ist, das seinen gesamten Briefwechsel seit den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts bestimmt.

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Nichts Glänzenderes, Würdevolleres, Ehrenvolleres als sie. Ihr Ansehen und ihr Ruhm hat die Schärfe meiner Augen und meines Geistes so geblendet, daß ich nach keinen anderen Ehren als nach denen einer Professur dürste.57

Es ist aber vor allem Ansehen und Ehre der Professoren, die Goethe blenden, nicht so sehr die Wissenschaft. Denn es geht ihm in erster Linie um seine Position als Poet. Deswegen ist dieses Streben nach Ruhm für lange Zeit immer auch gekoppelt mit dem Zweifel, ob die poetische Begabung dem grandiosen Selbstbild Genüge leisten werde. In einem Gedicht an Riese gibt er diesen Zweifeln Raum. Es wird deutlich, dass aus Herkunft, Bildungsgang und bereits erhaltener Zustimmung sich ein Selbstentwurf gebildet hatte, nach dem der junge Student glaubte, »daß so tief zu mir herab / Sich Götter niederließen«, dass »[a]us Meisterhänden nichts Vollkommners käme, / Als es aus meiner Hand gekommen war.« Aber als er in Leipzig »den Ruhm, / Der Großen Männer sah« und ihm deutlich wird, welche Leistung mit dem Ruhm verbunden sein muss, erscheint ihm sein »erhabner Flug« bloß als »das Bemühn, / Des Wurms im Staube«, der den Adler sich zur Sonne aufschwingen sieht. Denn nur ein Wind, der den Staub mit dem Wurm aufwirbelt, kann ihm den Eindruck erwecken, er fliege wie jener stolze Sonnenvogel. Legt sich der Wind, sinkt der Wurm mit dem Staub wieder zu Boden und statt »groß, dem Adler gleich« zu sein, »kriecht er wie zuvor«.58 Das sind fraglos Zweifel, welche eine Existenz erschüttern können, wenn diese auf die Erwartung künftiger Größe gestellt ist. Es bleibt jedoch auch nicht aus, dass Goethe im Kontext seiner Leipziger Zeitgenossen durchaus auch sehr deutlich die eigene Überlegenheit in aestheticis empfindet und ausspielt. So schreibt er an seine Schwester : Ich habe etwas mehr Geschmack und Kenntniß vom Schönen, als unsere galanten Leute und ich konnte nicht umhin ihnen offt in großer Gesellschafft, das armseelige von ihren Urteilen zu zeigen.59

Diese Erfahrungen bestärken sein Selbstgefühl und lassen ihn in dem Maße, in dem dies Gefühl als realistisch erscheint, auch realistischer auf seine poetischen Produktionen sehen, die er nicht mehr als illusionäre Schöpfungen eines »Wurms« denunziert, sondern als noch unvollkommene Etappen auf dem Weg 57 Goethe, Johann Wolfgang: Von Frankfurt nach Weimar. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 – 30. Oktober 1775. Hg. v. Wilhelm Große, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997 (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche [= Frankfurter Ausgabe]. Abteilung 2: Briefe, Tagebücher und Gespräche 1 [Bibliothek deutscher Klassiker 139]), S. 578 (Übersetzung). Im Brief selbst schreibt Goethe diese Sätze auf Latein, seinen Rang als Jünger der Wissenschaft betonend: »nil istis splendidius, gravius, ac honoratius. Oculorum animique aciem ita mihi perstrinxit, autoritas, gloriaque eorum, ut nullos praeter honores Professurae alios, sitiam.« Vgl. ebd., S. 17. 58 Ebd., S. 42 f. 59 Ebd., S. 69.

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zur Größe einschätzt. Nicht aus »Stolz«, sondern aus Erfahrung mit sich glaubt er jetzt einer »innerlichen Überzeugung […], die mir sagt daß ich einige Eigenschaften besitze die zu einem Poeten erfordert werden, und daß ich, durch Fleiß einmal einer werden könnte.«60 Diese gut aufklärerische Überzeugung von der eigenen Perfektibilität wird zum inneren Halt gegen alle Anfechtungen. Er will seine Gedichte deshalb auch nicht Gellert zeigen, denn: »[H]abe ich Genie; so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert, habe ich keins; so helfen alle Criticken nichts.«61 Der Schwester vertraut er an, dass er seine bisher geplanten Trauerspiele auf »noch zu schwache Schultern« gestellt habe. Von seinem »Belsazer« gelte, »was ich von allen meinen Riesen Arbeiten sagen muß, die ich als ein ohnmächtiger Zwerg unternommen habe.«62 In diesen Zweifeln überwiegt aber jetzt die Zuversicht: Die Schultern sind eben nur »noch zu schwach«, aber sie werden durch Fleiß stärker werden und die realen Kräfte werden einmal für die erträumten Riesenwerke ausreichen. Die Leipziger Erfahrungen abschließend schreibt Goethe an seinen Lehrer Oeser : »[I]ch sah was ich noch zu tuhn habe, wenn ich was seyn will.«63 Zur Selbstfindung beschäftigen den jungen Poeten vielfältige Reflexionen darüber, wer und was ein großer oder ein kleiner Geist sei. Er verfolgt die Streitigkeiten in den Publikationsorganen, an denen die geistige Bedeutung oder Schwäche der Kontrahenten sich zeigen und die Aufstellung von Rangordnungen ermöglichen. Goethe skizziert eigene Stellungnahmen und ergreift Partei. Wieland, an dem er durchaus etwas auszusetzen hat, erklärt er zu einem seiner Vorbilder, wenn er an dessen Verleger Reich schreibt: Nach ihm [Oeser], und Schäckespearen, ist Wieland noch der einzige, den ich für meinen ächten Lehrer erkennen kann, andre hatten mir gezeigt, dass ich fehlte, diese zeigten mir wie ich s besser machen sollte.64

Der Grund für dieses Bekenntnis ist der Ärger über eine Kritik an Wieland durch einen minderen Kopf, denn: »Uber [sic!] grosse Leute sollte niemand reden, als wer so gross ist wie sie, um sie übersehen zu können.«65 Im Hintergrund steht die Ungewissheit, ob ihm selbst diese Größe wohl schon zukomme. Deshalb werde er die absprechende Kritik an Wieland nicht öffentlich zurückweisen und das ihm von Reich zugeschickte Exemplar von Wielands »Diogenes« nicht rezensieren: »Empfinden und schweigen ist alles was man bey dieser Gelegenheit thun 60 61 62 63 64 65

Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 139. Ebd., S. 184. Ebd., S. 182.

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kann; denn so gar loben soll man einen grosen Mann nicht, wenn man nicht so gros ist wie er.«66 Drängender wird die Frage der Positionsbestimmung und des Verhaltens, wenn die eigenen Einsichten in deutlichen Gegensatz treten zu einer anerkannten Größe im Geistesreich. Goethe hatte sich damit schon ein Jahr vorher in einem Brief an Friederike Oeser auseinandergesetzt: Wenn man anders als grosse Geister denckt, so ist es gemeiniglich das Zeichen eines kleinen Geists. Ich mag nicht gerne, eins und das andre seyn. Ein grosser Geist irrt sich so gut wie ein kleiner, jener weil er keine Schrancken kennt, und dieser weil er seinen Horizont, für die Welt nimmt.67

Die Frage ist die des jungen Kant, wie man in den Augen des Publikums dasteht, wenn die eigenen Einsichten denen längst ausgewiesener großer Geister widersprechen. Ob die öffentliche, an ständische Autoritätshörigkeit angelehnte Meinung gilt, dass die Kritik an großen Geistern den Kritiker zum kleinen Geist stempelt? Mit der Entscheidung: »Ich mag nicht gerne, eins und das andre seyn«, bezieht Goethe diese Frage auf sich selbst. Denn im Hintergrund geht es um die diktatorische Trennung der Künste in Lessings »Laokoon«, die Goethe verwirft. Als Begründung dafür, sich mit seiner Kritik zurückzuhalten, argumentiert er allgemein mit der Begrenztheit des endlichen Menschen, die der große Geist übersteigt, der kleine unterschreitet, so dass keins von beiden zu sein, eine weise Option zu sein scheint. Der tags darauf geschriebene Brief an Oeser selbst zeigt jedoch, dass unter der diplomatischen Begründung dafür, sich herauszuhalten, noch eine wesentlich konkretere liegt. Es geht in der Tat um die umkämpfte Rangordnung der großen Geister im Reich der Poeten und um die gefährliche Lage eines jungen, aufstrebenden Genies, wenn es sich in dieser Reihe eine Position erstreiten will. Neben Lessing wird jetzt auch Herder erwähnt und im geistigen Kampfgeschehen verortet. Goethe kennt ihn noch nicht persönlich, wohl auch noch nicht seine Schriften, obwohl er die »Kritischen Wälder« anführt.68 Lessing! Lessing! wenn er nicht Lessing wäre, ich möchte was sagen. Schreiben mag ich nicht wider ihn. Er ist ein Eroberer, und wird in Herrn Herders Wäldgen garstig Holz machen, wenn er drüber kömmt. Er ist ein Phänomen von Geist, und im Grunde sind diese Erscheinungen in Teutschland selten […], kein kleinerer Geist wird einen grössern überwinden.«69 66 Ebd., S. 184. 67 Ebd., S. 160. 68 »Leitzmann nimmt an, dass Goethe sie nur flüchtig gekannt und noch nicht gelesen hatte.« Vgl. Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. Hamburg: Wegner 1962 – 1976, hier Bd. 1, S. 563, Kommentar von Bodo Morawe. 69 Goethe, Johann Wolfgang: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 – 30. Oktober 1775 (Anm. 57), S. 163 f.

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In dem neu entstehenden Reich gleichberechtigter Geistesträger müssen Bilder die fraglos bestehenden Unterschiede ausdrücken. Naheliegend sind natürlich Größen- und Höhenunterschiede. In Lenz’ Satire »Pandämonium Germanicum«70 geht es um eine Bergbesteigung, bei der die großen Geister, vornehmlich Goethe und Lenz, die kleinen unter sich zurücklassen. Sprechender noch ist hier das kriegerische Bild von Lessing als »Eroberer«. Es macht Lessing zu einem Gewaltherrscher im Geistesreich, mit dem anzubinden nicht rätlich ist, obwohl Goethe es gerne täte. Aber er hat die vielfältigen wortgewaltigen und gnadenlosen Abkanzelungen Lessings vor Augen, deren Opfer er nicht sein möchte. Als solch künftiges Opfer bedauert er Herder, der sich im »Vierten Wäldchen« gegen Lessings Grenzziehung im »Laokoon« gewandt hatte. Deutlich wird Herder in dieser frühen goetheschen Rangordnung gegenüber dem in Deutschland seltenen »Phänomen« Lessing als »kleinerer Geist« geführt. Und Herders Buchtitel anschaulich nutzend stellt Goethe das befürchtete gewalttätige Vorgehen Lessings gegen Herder vor Augen. Dieser werde seine »Kritischen Wälder« abgeholzt finden, wenn Lessing »drüber kömmt« und sie rezensiert. Goethe gewinnt dann freilich eine sehr andere Einschätzung Herders, als er ihm persönlich in Straßburg begegnet. Herder hat dort den jungen, von sich durchaus eingenommenen Poeten schlecht behandelt. Missgelaunt wegen der andauernden Schmerzen durch eine Augenoperation hat er den Jüngeren seine Überlegenheit durch Zurechtweisungen, persönliche Invektiven und wenig taktvollen Spott fühlen lassen. Aber Goethe ließ sich trotz aller Kränkungen, die Herder ihm zufügte, nicht abschrecken. Ihm wurde sehr schnell klar, was dieser stachelige Mann für ihn bedeutete. In »Dichtung und Wahrheit« hat er später pointiert dargestellt, welch ganz neue Epoche durch diese Begegnung für sein Leben begann. Für Goethe wurde Herder tatsächlich jener Erwecker aus dem Schlaf des Jahrhunderts, als der er sich selbst mit und gegen Hamann positioniert hatte. Denn trotz seiner Kritik an dem täglichen Besucher seiner Krankenstube ließ er ihn doch an allem teilnehmen, woran er selbst gerade arbeitete. Sein historischer Blick auf die Entwicklung von Sprache, Literatur, von Kultur insgesamt eröffnete dem Lernwilligen bisher ungeahnte Perspektiven auf die Tradition und die gegenwärtige Lage des Literaturlebens, in der der junge Poet Fuß zu fassen unternahm. Goethe schildert, wie Herder kraft seiner Persönlichkeit, seiner »ausgebreiteten Kenntnisse« und seiner »tiefen Einsichten« zunehmend »eine große Superiorität«71 über ihn gewann. Aber er macht auch

70 Lenz, Jakob Michael Reinhold: Pandämonium Germanicum. Eine Skizze. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 1: Dramen, Dramatische Fragmente, Übersetzungen Shakespeares. Leipzig: Insel 1987, S. 247 – 271. 71 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1986 (Johann Wolfgang Goethe. Sämt-

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keinen Hehl daraus, welche Demütigungen er in dieser Schule ertragen musste, weil »alles, was in mir von Selbstgefälligkeit, Bespiegelungslust, Eitelkeit, Stolz und Hochmut ruhen oder wirken mochte, einer sehr harten Prüfung ausgesetzt ward«.72 Die Macht, die Herder über ihn gewann, führte bis zur zeitweiligen Identifikation, in der im Sinne der empfindsamen Seelenfreundschaft das eigene Ich in das des Freundes überging. In einer späteren »Notiz« vermerkt Goethe zur Darstellung der Herderbegegnung im zehnten Buch von »Dichtung und Wahrheit«: Mit jemand leben oder in Jemand leben ist ein großer Unterschied. Es gibt Menschen in denen man leben kann, ohne mit ihnen zu leben und umgekehrt. Beydes zu verbinden ist nur der reinsten Liebe und Freundschaft möglich Diese Betrachtung auf Herdern anzuwenden.73

Es wiederholt sich die gleiche Konstellation wie einst zwischen Herder und Hamann: innige Freundschaft, große Überlegenheit des Älteren und Selbstbehauptungsnot des Jüngeren. Im ständefreien Raum des Freundschaftsbundes und der ausschließlich geistigen Kompetenz stehen zwei sich als herausragende Individuen begreifende Geistesträger gegenüber, und es gibt keine übergeordneten Vorgaben mehr, die ihre Positionen gegen einander festlegten. Sie müssen sich selbst im freien geistigen Raum mit Bildern ihre Stellung zumessen. Für diese Selbstpositionierung ist das Gefühl der eigenen, autonomen Geistesleistung ausschlaggebend. Wenn Herder fragte, was er in der Welt habe, wenn er sich »nicht unsterblich mache«, nicht »sich an sich selbst zum Gotte« schaffe, so darf man für diese Gefühlslage beim jungen Goethe wohl das Prometheus-Bewusstsein in Anschlag bringen: »Hast du’s nicht alles selbst vollendet, / heilig glühend Herz?«74 Dieses ungebundene Subjekt muss grandiose Selbstbilder entwerfen, mit denen es seine Größe im Kontext der Konkurrenten verortet. Und es ist der noch nicht etablierte Jüngere, der in der Not steht, solche SelbstPositionierung vorzunehmen. Herder hatte, um sein Größenselbst von Hamann abzusetzen, mit dem Bild aus der Entdeckungsgeschichte der Neuen Welt hoch gegriffen. Goethe ringt lange um passende Bilder. Um Herders Abwertungen zu begegnen, muss er ihm große Werke entgegensetzen, die ihn aus der abhängigen Stellung zur Ebenbürtigkeit emporheben und dem Überlegenen Anerkennung abnötigen. Goethes Dramenentwürfe kreisen um große Männer, wie das liche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche [= Frankfurter Ausgabe]. Abteilung 1: Sämtliche Werke 14 [Bibliothek deutscher Klassiker 15]), S. 441. 72 Ebd., S. 438. 73 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 9: Autobiographische Schriften 1. Hg. v. Lieselotte Blumenthal. Mit Anm. versehen von Erich Trunz. 5. Aufl. Hamburg: Wegener 1964, S. 754. 74 Ebd., Bd. 1: Gedichte und Epen 1. Hg. v. Erich Trunz. 5. Aufl. Hamburg: Wegener 1960, S. 45.

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»Cäsar«-Fragment75 und schließlich die »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen«, bei der auch Herder aufmerkt und sich nach heftiger Kritik dieses Werks schließlich doch zur Anerkennung bequemt. In den »Cäsar«-Entwürfen aus der Zeit der Herderbegegnung gibt es eine Stelle, die man gerne auf Goethes Wünsche beziehen möchte, Herders Überlegenheit zu erschüttern, wenn der Machthaber Sulla über Cäsar sagt: »Es ist was verfluchtes wenn so ein Junge neben einem aufwachst von dem man in allen Gliedern spürt dass er einem übern Kopf wachsen wird.«76 Mit einem solchen Jungen vergleicht Goethe sich später selbst in einem Brief an Herder. Jetzt ist aber wenigstens ein großes Werk, der »Götz«, bereits geschrieben und Goethe setzt sich mit dem sehnsüchtig erwarteten Urteil Herders über das Stück auseinander. Obwohl dies Urteil enttäuschend ausgefallen ist, schaut Goethe doch mit größerer Selbstgewissheit zurück auf die harte Straßburger Lehrzeit: Der Junge im Küras wollte zu früh mit, und ihr reitet zu schnell. Genug ich will nicht müssig seyn, meinen Weeg ziehn und das meinige tuhn, treffen wir einander wieder so giebt sich’s weitere.77

Nicht von Ungefähr ist dieses Bild aus dem »Götz« gewählt, wo der junge Georg einmal »im Panzer eines Erwachsenen erscheint«.78 Wenn der Autor des Stücks sich jetzt mit ihm vergleicht, ist klar, dass er diese Position nicht mehr einnimmt. Nicht Georg, sondern der Selbsthelfer Götz ist der Held des Stücks, der auf seine eigene Kraft vertraut. Goethe hatte inzwischen »einmal vor allemal« gelernt, dass »die Minnorennitaet […] sich nicht überspringen«79 lässt. Aber jetzt ist sie vorbei, liegt hinter ihm. Mag sein, dass Herder immer noch zu schnell reitet, aber der junge Dichter des »Götz« will jetzt seinen eigenen »Weeg ziehn«, und wenn sie sich wieder treffen, »so giebt sich’s weitere« – dann wird man ja sehen, wer wo steht. Mit dem Abschluss der »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen« sieht sich Goethe in seinem Streben nach Ebenbürtigkeit dem Vorbild Herder näher gerückt. Wie stark und existentiell bestimmend dieses Streben vorher war, wird deutlich an einem herausgehobenen Bekenntnisbrief, den er bald nach der gemeinsamen Straßburger Zeit, im Oktober 1771 an Herder schrieb. Goethe beantwortet darin einen nicht erhaltenen Brief Herders, in dem dieser sich of75 Goethe geht es um Cäsar, den »Innbegriff aller menschlichen Größe«, nicht, wie seinen Zeitgenossen um den Freiheitskämpfer Brutus. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 – 30. Oktober 1775 (Anm. 57), S. 882. Die Gefühlslage, aus der sich Goethe für den großen Machtmenschen interessiert, ist durchaus der vergleichbar, aus der Herder schrieb: »aut Caesar, aut nihil«. 76 Ebd., S. 251. 77 Ebd., S. 256. 78 Ebd., S. 776 (Kommentar). 79 Ebd., S. 254 (Brief an Salzmann).

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fenbar alle Kritik an seinem jungen Verehrer vom Herzen geschrieben hatte, Kritik an dessen Überschwang, unsteter Arbeitsweise, vorschneller Begeisterung bei unzureichender Erfahrung, an all dem, was aus Goethes Äußerungen über Herders Vorhaltungen bekannt ist, von denen er die berechtigten Aspekte anerkennt und sich zu Herzen nimmt. In seiner Antwort nennt Goethe Herders Brief deshalb einen »Niesewurz Brief«, einen Brief, »der wie die Nieswurz als hirnreinigendes Mittel dient«80 : Ich zwinge mich Ihnen in der ersten Empfindung zu schreiben. Weg Mantel und Kragen! Ihr Niesewurz Brief ist drey Jahre alle Tags Erfahrungen werth. Das ist keine Antwort drauf, und wer könnte drauf antworten? Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie dencken, Mann! und es vibrirt noch viel zu sehr als dass meine Feder steet zeichnen könnte. Apollo vom Belvedere warum zeigst du dich uns in deiner Nacktheit, dass wir uns der unsrigen schämen müssen. Spanische Tracht und Schmincke! Herder, Herder. Bleiben Sie mir was Sie mir sind. Binn ich bestimmt Ihr Planet zu seyn so will ich’s seyn, es gern, es treu seyn freundlicher Mond der Erde.

Ein

Aber das – fühlen sie’s ganz – dass ich lieber Merckur seyn wollte der letzte, der kleinste vielmehr unter siebnen, der sich mit Ihnen um Eine Sonne drehte; als der Erste unter fünfen die um den Saturn ziehn. Adieu lieber Mann. Ich lasse Sie nicht los. Ich lasse sie nicht! Jakob rang mit dem Engel des Herrn. Und sollt ich lahm drüber werden. Morgen soll Ihr Ossian gehn. Jetzt eine Stunde mit Ihnen zu seyn wollt ich mit / bezahlen. Ich lese meinen Brief wieder, ich muss ihn gleich siegeln. Morgen kriegten Sie ihn nicht.81

Dieser Antwortbrief stilisiert sich als unmittelbarer Ausbruch einer Empfindung und ist doch ein Meisterstück wohlkomponierter Indirektheit, um die Unerhörtheit des Inhalts abzufedern. »Ich zwinge mich Ihnen in der ersten Empfindung zu schreiben.« Gleich der erste Satz unterscheidet ein zwingendes Ich von einem empfindenden Ich. Nicht das Letztere schreibt den Brief, sondern ein Ich, das die »erste Empfindung« beherrscht und als Ausdrucksmittel einsetzt. Das nimmt der zweite Absatz auf: »Mein ganzes Ich ist erschüttert […] und es vibrirt noch viel zu sehr als dass meine Feder steet zeichnen könnte«. Der 80 Ebd., S. 766 (Kommentar). 81 Ebd., S. 246 f.

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Schreiber setzt sich vom erschütterten Ich ab, spricht von ihm in der dritten Person, doch kann und soll der Zwang des ersten Satzes sich gegen die Erschütterung nicht vollständig durchsetzen, damit die erste Empfindung sich auch im Schreiben noch abbildet, das deswegen noch nicht »steet« vollzogen wird, sondern die Vibrationen der Erschütterung teilt und mitteilt. Der Leser fragt sich, worin denn diese »erste Empfindung« besteht, die der Briefschreiber in so sorgfältiger Weise auf Abstand hält und zugleich dringend kenntlich macht. Der Leser ist Herder und der Brief teilt ihm eine Empfindung mit, von der sehr ungewiss ist, wie er sie aufnehmen wird. Denn offenbar besteht die erste Empfindung in Goethes gespaltenem Gefühl von seiner prekären Beziehung zu Herder und reflektiert diese aus der sehr unterschiedlichen Sicht beider, mit dem Ziel, Herders Sicht zu korrigieren und die eigene an deren Stelle zu setzen. Verstünde Herder den Brief recht, so käme es ihm zu, die Spaltung des Goetheschen Selbst in das Ich der »ersten Empfindung« und das Ich der diplomatischen Kalkulation zugunsten des Ersteren aufzuheben. Zunächst wird Herders Überlegenheit in mythischer Übersteigerung anerkannt, die ihn zum weisen Gott der Poeten erklärt: »Apollo vom Belvedere warum zeigst du dich uns in deiner Nacktheit, dass wir uns der unsrigen schämen müssen.« Damit ist dieselbe hohe Bildebene gesetzt, die wir schon von Herders Absetzbewegung gegenüber Hamann kennen. Aber während Herder den Freund Hamann von der Götterposition herunter zog, wählt Goethe die andere Strategie, sich zum Freund hinaufzubefördern. Er setzt zuerst Nacktheit gegen Nacktheit. Die Schönheit Apolls bedarf keiner Kleider, wohl aber muss »Spanische Tracht und Schmincke«82 der Schönheit derer aufhelfen, die sich ihrer Nacktheit »schämen müssen«. Darin steckt deutlich das Zugeständnis der Herderschen ›Superiorität‹. Aber gehört der Schreiber wirklich zu denen, die sich ihrer Nacktheit schämen, die repräsentative Kleidung und Schminke anlegen müssen, um sich unter den Großen zu behaupten? Der Anfang des Briefes hatte eine andere Fährte gelegt: »Weg Mantel und Kragen!« Der Schreiber verzichtet offensichtlich auf Geltung verleihende Amtstracht, will sich als der geben, der er ist, und erwartet das auch vom Adressaten.83 In der Mitte des Briefs steht dann der Satz, der die Beziehung zu Herder direkt anspricht: »Herder, Herder. Bleiben Sie mir was Sie mir sind.« Der Freund wird zweimal beschwörend beim Namen genannt: Jetzt soll er hören, jetzt kommt das Entscheidende und möglicherweise Anstößige des Briefs. Aber auch das 82 »[D]ie Mode des 16. und 17. Jahrhunderts für das Steife und Unnatürliche.« Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Briefe. Hist.-krit. Ausg. hg. v. Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter, Bd. 1: 23. Mai 1764 – 30. Dezember 1772. Hg. v. Elke Richter und Georg Kurscheidt, Teil 2: Kommentar. Berlin: Akademie-Verlag 2008, S. 392. 83 Möglicherweise bezieht sich die Aufforderung nicht nur auf Goethes Advokatentracht, sondern auch auf Herders »Ornat eines lutherischen Geistlichen«. Vgl. ebd., S. 391.

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schreibende Ich erscheint im Nachsatz wieder doppelt, beide Male durch Unterstreichung hervorgehoben.84 Die Differenz zwischen den beiden »mir« ist eine zeitliche: Herder soll für Goethe auch in Zukunft das bleiben, was er ihm jetzt bedeutet. Das ist aber offenbar so in Frage gestellt, dass es imperativisch eingefordert werden muss, und zwar nicht von Goethe, um dessen künftige Haltung es doch geht, sondern von Herder. Der Satz enthält eine heimliche Warnung. Wenn Herder Goethes bewundertes Vorbild (»was Sie mir sind«) bleiben will, dann muss er sich auch solcher Bewunderung entsprechend verhalten und seine abschätzige Haltung gegenüber dem Jüngeren aufgeben. Wie die folgenden Bilder zeigen, hat die Betonung des ersten »mir« aber noch einen weiteren Sinn, der klar macht, dass es in diesem Brief einzig und allein um die Bedeutung des schreibenden Subjekts geht. »Bleiben sie mir«, heißt eben auch: mir allein und nicht auch noch vielen anderen. Herder soll nicht nur seine Geringschätzung aufgeben, sondern sich als der bewunderte Apoll auch in erster Linie dem Briefschreiber zuwenden, der damit aus der Menge der Jünger herausund zu Herder emporgehoben würde. Nachdem dieser kryptische Satz das entscheidende Thema vorbereitet hat, können die nächsten Sätze das Anliegen offen aussprechen: Binn ich bestimmt Ihr Planet zu seyn so will ich’s seyn, es gern, es treu seyn freundlicher Mond der Erde.

Ein

Aber das – fühlen sie’s ganz – dass ich lieber Merckur seyn wollte der letzte, der kleinste vielmehr unter siebnen, der sich mit Ihnen um Eine Sonne drehte; als der Erste unter fünfen die um den Saturn ziehn.

Das im freien Raum des Geistesreiches selbst seine Position bestimmende, ungebundene autonome Subjekt nimmt zu diesem ganz individuellen Zweck Welt und Kosmos unter seine Verfügung. Hatte sich Herder gegen Hamann mit dem Bild von der Entdeckung der neuen Welt begnügt, so greift Goethe, um sich gegen Herder zu positionieren, gleich nach den Sternen. Hinter den bereits aufgerufenen Gott Apoll kann die Bildlichkeit nicht mehr zurückfallen und unter den Sternen weilen bekanntlich die Götter. Das erste Bild ist eher etwas resignativ gestimmt: Wenn Goethe schon um Herder kreisen muss, dann als: »Ein […] Mond« um die Erde. Das »Ein« ist groß geschrieben. Also, wenn schon ein bleibend abhängiger Jünger, dann bitte der von Herder herauszuhebende einzige für diese Stellung. Aber erst der nächste Vergleich bringt die entscheidende Wunsch-Positionierung: »lieber Merckur […], der sich mit Ihnen um Eine Sonne drehte; als der Erste unter« den fünf Monden, »die um den Saturn ziehn.« 84 Die Hamburger Briefausgabe hebt kommentarlos das erste »mir« durch Fettdruck stärker hervor als das zweite. Vgl. Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden (Anm. 68), hier Bd. 1, S. 128.

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Hier wird endgültig klar gemacht, worum es geht. Es geht allein um die Ebenbürtigkeit mit Herder um deretwillen die Sterne bewegt werden. Als gleichrangiger Planet neben Herder, nicht unter ihm, um die »Eine Sonne« kreisen, das ist das Ziel. War der einzige Mond um den Planeten Erde noch eine erwägbare Option, so wird die Möglichkeit, als ein Mond unter mehreren den Saturn zu umkreisen, ausgeschlossen. Gleichrangigkeit nur mit anderen seiner Jünger, nicht mit Herder selbst, kommt nicht in Frage. Die Wunschposition enthält aber noch einige listige Einzelheiten. Durch die »Eine Sonne«, wobei die Großschreibung die des »Ein […] Mond« wieder aufnimmt, wird Herder selbst zurückgestuft. Um ihn drehen sich zwar Monde, ob er nun Erde ist oder Saturn, aber er muss wiederum selbst um die »Eine Sonne« kreisen, die er trotz des Apollo-Vergleichs denn doch nicht ist. Aus Herders Reaktion (s. u.) geht hervor, dass er die »Eine Sonne« in Goethes Brief als Shakespeare verstanden hat.85 Weil das sehr wahrscheinlich ist, birgt die Wahl des Merkur für Goethes Position im Orbit der Sonne Shakespeares noch eine weitere List. Unter den Sonnenplaneten ist Merkur in Goethes Charakterisierung »der letzte, der kleinste vielmehr«. Warum diese scheinbar harmlose Korrektur? Also doch nicht »der letzte«? An der Oberfläche sind beide Ausdrücke Bescheidenheitsbekundungen innerhalb des Geltungsanspruchs. Aber Merkur ist zwar der kleinste, aber auch derjenige, der am nächsten und schnellsten die Sonne umkreist, viel näher als die Erde mit ihrem einen Mond und der Saturn mit seinen fünfen. Die Pointe ist also: Goethes Merkur-Positionierung ist viel näher an der Sonne Shakespeare als die für Herder bereitgehaltenen Positionen von Erde oder Saturn. Wie Herder einst mit Amerigo gegen Hamann, so versteckt auch Goethe mit Merkur ein Überlegenheitssignal gegen Herder. Das ist wohl Ausdruck des Selbstbewusstseins dessen, der zur Zeit des Briefes bereits mit der Niederschrift der von Shakespeare so stark beeinflussten »Geschichte Gottfriedens von Berlichingen« befasst ist. Noch eine Umdrehung höher wird der nächste Vergleich angesiedelt: »Adieu lieber Mann. Ich lasse Sie nicht los. Ich lasse sie nicht! Jakob rang mit dem Engel des Herrn. Und sollt ich lahm drüber werden.« Mit dieser alttestamentlichen Anspielung86 wird die Freundschaft wie bei Herders Auseinandersetzung mit Hamann zum Kampfplatz erklärt und die individuelle Konkurrenz zum Gotteskampf erhöht. Die Bibel lässt offen, wer Jakobs nächtlicher Gegner am Jabbok war, legt aber nahe, dass Gott selbst mit ihm kämpfte.87 Die Art, wie Goethe den Bibeltext zitiert, ist außerordentlich vielsagend. Schon die reine Freundschaftsbekundung: »Adieu, lieber Mann«, greift die Mose-Stelle auf, wo es heißt: 85 Darüber, ob hier Shakespeare gemeint ist, lässt sich also nicht »nur spekulieren«. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Briefe (HKA). Bd. 1/2: 23. Mai 1764 – 30. Dezember 1772 (Anm. 82), S. 393. 86 1. Mose 32,24 – 32. 87 1. Mose, 32,28: »Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen«.

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»Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach«.88 Auch der nächste Satz: »Ich lasse Sie nicht los«, scheint noch ganz auf Herder bezogen, ist aber bereits bis auf das letzte Wort Zitat und spielt die persönliche Situation gleichsam unbemerkt hinüber in das Voll-Zitat des nächsten Satzes: »Ich lasse Sie nicht!« Das sind Jakobs berühmte Worte an seinen göttlichen Gegner, als dieser sich von ihm loslösen will. Und an dieser Stelle erscheint unterschwellig die entscheidende Mitteilung an Herder in diesem Brief. Denn Goethe zitiert nur die erste Hälfte der Worte Jakobs. Sie lauten vollständig: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!«89 Das ist die heimliche Hoffnung, der Wunsch, ja die Forderung dieses Briefs. Herder soll endlich seinen Segen geben zu Goethes Rang, Können und Werk. Herder, dem natürlich der Wortlaut der Stelle präsent war, hat diese Taktik genau verstanden (s. u.). Auch der letzte Satz im Zitat: »Und sollt ich lahm drüber werden«, übermittelt dem Freund eine heimliche Botschaft. Als Jakobs nächtlicher Widerpart merkte, dass er Jakob »nicht übermochte«, ihn nicht besiegen konnte, »rührete er das Gelenk seiner Hüfte an« und es »ward über dem Ringen mit ihm verrenkt«90 und zugleich bekam Jakob am Ort des Kampfes das, wonach ihn verlangte, denn sein göttlicher Gegner »segnete ihn daselbst«.91 Dass Jakob seitdem lahm war und »hinkte«,92 war also das Zeichen dafür, dass er Gottes Segen bekommen hatte, weil er sich im Kampf mit ihm als unüberwindlich, also als ebenbürtig erwiesen hatte. Mit dem Satz: »Und sollt ich lahm drüber werden«, der nach dem Wortlaut scheinbar eine künftige Niederlage konnotiert, verlegt Goethe den eigenen Sieg und die von Herder erwartete Segensverleihung in die Zukunft. Das ist die Eröffnung des Konkurrenzkampfes mit einem für den Schreiber gewissen Ausgang und entspricht Herders einstiger Ansage an Hamann, nachdem er sich schon als Namengeber des Neuen über ihn gestellt hatte: »Stat palma in medio? qui poterit, rapiat!!!« Goethes Selbstpositionierung in diesem Brief an Herder, die alle sprachlichen und bildlichen Mittel des Kosmos und der Religion in den Dienst der individuellen Selbsterhebung innerhalb der Freundschaft stellt, war unerhört, wohl auch für Herder, obwohl er selbst mit kaum bescheideneren Mitteln einst den Weg dieser Universalisierung des Ich gebahnt hatte. Goethe tat gut daran, seine eigentliche Botschaft unter Zitaten und hinter dem Mantel des ersten Empfindungssturms zu verstecken. In diese entschuldigende Fiktion klinkt er seine sorgfältige Komposition am Schluss des Briefes wieder ein: »Ich lese meinen Brief wieder, ich muss ihn gleich siegeln. Morgen kriegten sie ihn nicht.« Im Wiederlesen des Briefes erscheint 88 1. Mose 32,24. Ebenso könnte das »Mann!« im zweiten Absatz des Briefs schon durch diesen Vers motiviert sein. 89 1. Mose 32,26. 90 1. Mose 32,25. 91 1. Mose 32,29. 92 1. Mose 32,31.

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wieder das Ich, das am Anfang den Abstand zum empfindenden Ich wahrte. Es ist das Ich ruhigeren Blutes, das weiß, dass ein solcher Brief nicht geschrieben werden sollte, das aber gleichwohl eine Technik erfand, es dennoch zu tun. Die Wucht der »ersten Empfindung«, im Verlauf des Briefs zur kalkulierten Erschütterung gedämpft, wird im Schlusssatz zum Alibi, das es erlaubt, Dinge zu sagen, die dem ruhigen Verstande verwehrt sind. Herder hat nach langem Zögern und Sträuben, schwankend zwischen Eifersucht, Neid und Einsicht in die Qualitäten des Jüngeren fast drei Jahre später erst die erwünschte Anerkennung öffentlich ausgesprochen. Dann erst nahm er den Autor des »Götz« auf unter die »Würdigen der Welt«93 und erhob ihn in den Rang Shakespeares. Freilich auch jetzt nicht ganz ohne Vorbehalte, weil er Goethes Werk ebenso wie das Shakespeares in den historischen Kontext der Vergänglichkeit auch der bedeutendsten Kunstwerke stellt. An herausragender Stelle, am Schluss seines großen Shakespeare-Aufsatzes heißt es: Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo du noch den süssen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern Ritterzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles Deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du alsdenn auch später sehen, wie unter deinem Gebäude der Boden wankt, und der Pöbel umher still steht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten Ägyptischen Geist wieder aufzuwecken vermag – dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen: Voluit! quiescit!94

Herder hat Goethes Bekennerbrief nicht vergessen. Er wusste seither genau, was sein aufstrebender Schüler von ihm erwartete, und man hat den Eindruck, dass ihm der Brief bei der Abfassung dieser öffentlichen Aufnahme Goethes unter die großen Geister vor Augen stand. Wie die »Eine Sonne« in jenem Brief, so steht hier Shakespeare im Zentrum, und Herder wird die Sonne des Briefs damit wohl zutreffend interpretiert haben, ebenso wie er die Nahstellung des Merkur zur Sonne aufzunehmen scheint, wenn er den Verfasser des Briefs dem »heiligen Bilde« des großen Dramatikers ganz nahe rückt. Auch das Freundschaftsbekenntnis – »ich lasse Sie nicht los, ich lasse sie nicht« – wird endlich angenommen und durch die Umarmung auf Augenhöhe mit dem jetzt Ebenbürtigen vor dem Bilde Shakespeares öffentlich besiegelt. Es scheint, dass Herder damit 93 Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan (Anm. 19), Bd. 5, S. 231. 94 Ebd. »[V]oluit! quiescit! […] ›Er hat gestrebt! Nun ruht er!‹ Herkunft des Zitats nicht ermittelt« Vgl. Herder, Johann Gottfried: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767 – 1781. Hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1993 (Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden [Bibliothek deutscher Klassiker 95], S. 1193.

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auch die Forderung der unterdrückten Fortsetzung des Jakob-Wortes hat erfüllen wollen: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Jedenfalls hat Goethe ihn so verstanden. Denn nach längerer Zeit der Entfremdung lenkt er wieder ein mit einem Brief, der an erster Stelle auf Herders öffentliche Anerkennung Bezug nimmt mit den Worten: »Ich dancke dir für deine Briefe und den Seegenswunsch überbracht von Ossian.«95 Über »Ossian« handelte der erste Aufsatz Herders in dem Band »Von deutscher Art und Kunst«, der auch den Shakespeare-Aufsatz mit der Goethe-Eloge enthält.96 Goethe wählt das Wort »Seegenswunsch« für Herders Worte nicht von ungefähr. Dadurch signalisiert er Herder, dass dieser die unausgesprochene Hauptbotschaft jenes Kampfbriefes richtig verstanden hat. Es ging um den Segen des Lehrers als Erweis der Ebenbürtigkeit des Schülers. Jetzt hat Herder ihn ausgesprochen, und Goethe dankt ihm dafür, dass er mit seiner freundschaftlichen Anerkennung die damalige Selbstpositionierung seines Jüngers akzeptiert hat. In der Einleitung zum zehnten Buch von »Dichtung und Wahrheit«, das von seiner Begegnung mit Herder berichtet, hat Goethe in erhellender Weise sein eigenes Verhalten zur Zeit der Herder-Begegnung historisch und sozialgeschichtlich eingeordnet. Deutlich bestimmt er die zunehmende Auflösung ständischer Bindungen als Grund für die Aufwertung des Individuums und die Notwendigkeit, sich in der Welt auf eigene Faust zu positionieren. Die Auflösung ständischer Ordnungen traf als erstes die Poeten. Denn in der neuen, bürgerlichen Welt hatten sie, »da sie nicht mehr als Gildeglieder für Einen Mann standen […] weder Halt, Stand noch Ansehn«.97 Die poetische Begabung allein konnte eine Stellung in der Welt nicht begründen. Nur wenn diese Begabung zu ständischer Gesichertheit hinzutrat wie bei dem Adeligen Hagedorn, dem städtischen Patrizier Brockes oder dem Gelehrten Haller, war sie ein zusätzlicher »Glanz« auf ihrem Leben und sie »erschienen unter den Ersten der Nation, den Vornehmsten und Geschätztesten gleich«.98 Goethe springt dann gleich in die Wunschvorstellung des Sturm und Drang, dass der Poet auch ohne diese ständischen Stützen eine angesehene Stellung behaupten könne, denn nun »sollte […] die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde 95 Goethe, Johann Wolfgang: Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 – 30. Oktober 1775 (Anm. 57), S. 275. Den Bezug dieser Worte auf die Goethe-Eloge im ShakespeareAufsatz nimmt auch der Kommentar an: »Gemeint sind wohl die Schlussworte in Herders ›Shakespear‹-Aufsatz, in denen Herder auf ›Götz‹ anspielt.« Vgl. ebd., S. 791. 96 Wenn Goethe nicht die beiden Aufsätze Herders verwechselt, was nicht wahrscheinlich ist, so wählt er mit »Ossian« wohl die andere große, problemlosere Gemeinsamkeit mit Herder aus jener Zeit. ›Überbracht von Shakespeare‹ wäre auch kaum möglich gewesen. 97 Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller (Anm. 71), S. 433. 98 Ebd.

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zu legen verstünde«.99 Hier werden die drei Aspekte genannt, welche das neue autonome Selbstverständnis begründen. Der Poet muss zunächst »sich selbst gewahr« werden, d. h. er muss das eigene Selbst zum Mittelpunkt machen, seine Regungen, Gefühle, Empfindungen registrieren und ernst nehmen – das ist das Erbe des Pietismus – und aus diesem Mittelpunkt sein Verhalten ableiten. Als nächstes muss er sich »seine eignen Verhältnisse selbst« schaffen. Damit wird ein wichtiger Zwischenschritt angedeutet. Auch das Genie kann nicht allein, sondern muss in »Verhältnisse[n]« leben. Das dürfen aber nicht mehr die vorgegebenen ständischen, sondern müssen, »selbst« geschaffene Bindungen sein. Solche Verhältnisse sind die frei gewählten, ständeübergreifenden neuen Bündnisse, unter denen der Freundschaftsbund eine besondere Rolle einnimmt. Erst innerhalb solcher Zusammenschlüsse – und in ihnen zuerst – kann der dritte Schritt vollzogen werden, nämlich durch Selbstpositionierung den »Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen«. Unter den ersten, die die genannten Aspekte in sich vereinigten, nennt Goethe Klopstock und Gleim, wobei besonders Klopstock geeignet war, »eine solche Epoche zu begründen«,100 denn er legte schon »von Jugend an, einen großen Wert auf sich selbst und auf alles was er tut«.101 Aus dieser Konzentration auf sich selbst begründet Goethe Klopstocks Streben nach Größe und aus diesem Streben dessen Entscheidung, »den höchsten denkbaren Gegenstand«,102 den »Messias«, zum Thema seines Hauptwerks zu machen. Auch die Wahl eines großen Gegenstandes hilft also, den Weg zur Größe zu bahnen. Bei Klopstock »erhöhte« die »Würde des Gegenstands […] dem Dichter das Gefühl eigner Persönlichkeit«103 und hob ihn so hoch hinaus, dass er sich »das völlige Recht [erwarb], sich als eine geheiligte Person anzusehn«.104 Das ist durchaus zustimmend gesagt und der Fortgang des Kapitels zeigt, dass Goethe in dem Werdegang Klopstocks auch seinen eigenen vor der Herder-Begegnung abbildet. So darf man parallel zur sakralen Selbsterhöhung Klopstocks durch die Wahl des Messias zum Helden seines Epos’ auch beim jungen Goethe etwa mit der Wahl Cäsars zum Helden eines geplanten Dramas den Versuch einer profanen bzw. säkularen Selbsterhöhung annehmen.105 Aber die Einleitung zur Herder-Begegnung dient dem Verfasser von »Dichtung und Wahrheit« nicht nur dazu, sein damaliges Selbstverständnis auf der Klopstock-Folie historisch, sondern auch kritisch zu sehen. Nach dem erhöhten 99 100 101 102 103 104 105

Ebd., S. 433 f. Ebd., S. 434. Ebd. Ebd. Ebd., S. 434 f. Ebd., S. 435. Nach der Begegnung mit Herder hat Goethe diesen Plan nicht weiterverfolgt.

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Selbstgefühl bringt er die zweite Komponente auf dem Wege zur Größe ins Spiel, das Bündnis, die Freundschaft der Gleichgesinnten. Denn diese sind es ja, mit denen konkurrierend die Selbstpositionierung vorgenommen wird. Sie bilden einen elitären, ständeübergreifenden Kreis, der im Erfolgsfall die Selbsterhöhung anerkennt. Aber ob sie auch außerhalb dieses Kreises gilt, wo nach anderen, weitgehend noch ständischen Maßstäben gemessen wird, das bleibt zumindest unsicher. Diese Diskrepanz zwischen hohem Selbstwertgefühl in freundschaftlicher Anerkennung und fraglicher gesellschaftlicher Bedeutung führte nach Goethes Urteil »ein eignes Übel herbei«106, nämlich die Blindheit gegenüber der eigenen realen Stellung in der Welt. Wenn man auch beide als Beispiele herangezogenen Männer, Klopstock und Gleim, »nach ihren geistigen Wirkungen, unbedenklich groß nennen [darf], so blieben sie gegen die Welt doch nur klein, und gegen ein bewegteres Leben betrachtet, waren ihre äußeren Verhältnisse nichtig.«107 Die ghettohafte Selbstbeschränkung auf den Freundesund Bekanntenkreis, auf dessen Anerkennung und wechselseitig freigebig ausgeteiltes »Lob und Ehre«,108 entfernten das Hochgefühl des Ich von den Maßstäben der realen, weiterhin ständisch verfassten Welt. Der Austausch gegenseitiger Rühmungen, dessen abgehobene Realitätsferne besonders in den Briefwechseln der Freundeskreise zutage trat, könne den neueren Beobachter nur in Verwunderung darüber versetzen, »wie vorzügliche Menschen sich an einer solchen Wechselnichtigkeit ergetzen konnten«.109 Dann macht Goethe die einsichtige Wendung auf sich selbst. Bevor er Herder traf, sei er in der gleichen Gefahr gewesen wie die Kreise um Klopstock und Gleim: [I]ch war so ziemlich auf dem Wege mit jüngeren Freunden, wo nicht auch mit älteren Personen, in ein solches wechselseitiges Schönetun, Geltenlassen, Heben und Tragen zu geraten. In meiner Sphäre konnte das was ich hervorbrachte immer für gut gehalten werden.110

Mit dieser Einstellung ging er in die Bekanntschaft und Freundschaft mit Herder und musste bitteres Lehrgeld zahlen. Alle bisher getätschelte Eitelkeit, Selbstbespiegelung, Stolz und Hochmut wurden »einer sehr harten Prüfung ausgesetzt«.111 Der übersteigerte Konkurrenzbrief an Herder innerhalb ihrer beginnenden Freundschaft lässt sich als letztes Aufbäumen der alten Haltung be-

106 107 108 109 110 111

Ebd., S. 436. Ebd., S. 436 f. Ebd., S. 437. Ebd. Hervorhebung von Hans Graubner. Ebd. Ebd., S. 438.

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greifen, nach der sich in abgehobenen Bündnissen unter Gleichen eine Selbsterhöhung ungehemmt ausleben kann. Legt man diese Wendung Goethes in seinem Selbstverhältnis vor und nach der Begegnung mit Herder zugrunde, so möchte man urteilen, dass die ganze hochfahrende, konkurrierende Selbsterhöhung innerhalb der Freundschaften des Sturm und Drang, die keine Größenphantasie auslässt, zu den eitlen »Wechselnichtigkeiten« gehören, die der Verfasser von »Dichtung und Wahrheit« anprangert. Dieses Urteil erweitert freilich den Bedeutungsspielraum der »Wechselnichtigkeit« über das in »Dichtung und Wahrheit« Gemeinte hinaus. Dort wird nur die wohlfeile gegenseitige Rühmung verurteilt, nicht aber der konkurrierenden Selbstruhm, der die frühe Freundschaftsbeziehung Herders zu Hamann und Goethes zu Herder dominiert. Deshalb ist deren dargestellte agonale Selbstpositionierung gegen den Freund auch grundsätzlich verschieden von dem kämpferischen Freundschaftsverständnis, das Hamann einst gegen die empfindsame Seelenfreundschaft gesetzt hatte. Hamanns theologisch begründete Kritik am Freund zielt auf Selbstkritik ab und schließt Selbstruhm aus. Herders Ausarbeitung des göttlichen Ebenbildes in seinem Selbst und Goethes säkulare Selbstvervollkommnung zur Größe, die beide auf der Aufklärungs-Anthropologie der Perfektibilität beruhen und darauf aus sind, den jeweiligen Freund zu übertrumpfen, fallen hingegen unter Hamanns Grundsatzkritik an der eitlen und deshalb widergöttlichen Selbstüberhebung seines Zeitalters: »Jede Lüsternheit zum Besserseyn ist der Funke eines höllischen Aufruhrs.«112

112 Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke (Anm. 38), Bd. 3, S. 298.

Jürgen Viering

Johann Salomo Semlers Auseinandersetzung mit Johann Caspar Lavater über Wunderglauben (1775/76 und 1786/87)

Es gehört zum Selbstverständnis der Vertreter der Aufklärung im 18. Jahrhundert, dass sie den öffentlich und mit Gründen geführten Streit der Meinungen als ein wesentliches Mittel, Aufklärung zu befördern, einschätzen. Freiheit des Denkens und Publizität gehören zusammen; die Teilnehmer des öffentlichen Disputs stellen sich mit ihren unterschiedlichen Meinungen dem Urteil der Instanz des Publikums, das in die Lage versetzt werden muss, selbst zu prüfen, was überzeugend ist und was nicht. Von diesem Prozess wird Fortschritt erhofft. Es gibt eine Pluralität der Meinungen; indem die Teilnehmer der allgemeinen Diskussion sich bei bestimmten Themen zustimmend oder ablehnend aufeinander beziehen, kommt es zu einer Polarisierung der Meinungen. Wo zwei Wortführer, geleitet von gegensätzlichen Grundauffassungen, sich deutlich herausheben und einander wahrnehmen, ergibt sich eine Paarkonstellation, die genauer zu betrachten für das Verständnis der gesamten Diskussion erhellend ist. Zu einer solchen Paarkonstellation finden sich 1775 Johann Salomo Semler (1725 – 1791), Professor der protestantischen Theologie in Halle, und Johann Caspar Lavater (1741 – 1801), evangelischer Pfarrer in Zürich, zusammen. Was zwischen ihnen verhandelt wird, ist die Frage nach dem Verhältnis von Aufklärung und Wunderglaube. Das ist ein Thema, das für die spätaufklärerische Diskussion im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung ist. Hier soll versucht werden, die Auseinandersetzung des Theologen Semler mit dem Theologen Lavater nachzuzeichnen, in der Erwartung, dass durch die Kenntnis dieser theologischen Positionen und vor allem auch durch die Beobachtung von deren Wandlung das Gesamtbild von der Diskussion über den Wunderglauben im 18. Jahrhundert um einige, sonst noch zu wenig beachtete Züge bereichert wird.1 1 Eine grundlegende Bedeutung für die Diskussion über den Wunderglauben im 18. Jahrhundert muss einer Predigt des protestantischen Theologen Johann Joachim Spalding zuerkannt werden, die einem breiteren Publikum in einem Sammelband seiner Predigten von 1768, dann

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Der Anstoß für die Auseinandersetzung zwischen Semler und Lavater, die im weiteren Verlauf vor allem von Semler betrieben wird, geht von Lavater aus. Am 26. März 1775 schreibt er Semler einen Brief, der sich auf Nachrichten über den in jüngster Zeit großes Aufsehen erregenden Wunderheiler Gaßner bezieht, der vorgibt, Menschen von Krankheiten befreien zu können, die durch übernatürliche Einflüsse hervorgerufen sind. Es sind Nachrichten von Adepten und Betroffenen, die Lavater erreicht und von ihrem Wahrheitsgehalt offenbar überzeugt haben: »Ich gestehe aufrichtig, daß ich für meine Person Gründe genug zu haben glaube, Gaßnern für aufrichtig und seine Wunderkraft für ächt zu halten.« Mit einem Ton der Begeisterung spricht er von einer »Wundergeschichte, nicht vor Jahrhunderten geschehn; Nein die neueste, gegenwärtigste, die möglich ist; Nicht eine, die in Asien oder Amerika sich zuträgt, sondern mitten in Deutschland, unfern von Augspurg.«2 Dass Lavater sich mit seinem Brief gerade an Semler wendet, ist begründet in dem besonderen Ruf, den Semler sich durch seine Lehrtätigkeit in Halle seit 1752 und durch seine Veröffentlichungen erworben hat. So hatte er etwa mit seiner Schrift »Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten« in Neuauflagen von 1770 und 1777 bekannt geworden ist. Es ist eine Predigt zu dem Jesuswort aus dem Johannes-Evangelium Kap. 4, Vers 48: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so gläubet ihr nicht.« Die Auslegung dieses Bibelworts führt Spalding dazu, grundsätzliche Überlegungen über »die unordentliche Begierde nach Zeichen und Wundern« (wie er selbst das Thema seiner Predigt formuliert) anzustellen. Er verurteilt diese »unordentliche«, nämlich die von Gott gewollte Ordnung der Welt nach Gesetzen überspringende, »Begierde«; das »abergläubische Vertrauen auf unnatürliche und unbegreifliche Dinge« wird abgelehnt. Vgl. Spalding, Johann Joachim: Die zehnte Predigt über die unordentliche Begierde nach Zeichen und Wundern [Joh 4,48]. In: Beutel, Albrecht / Söntgerath, Olga (Hg.): Neue Predigten (1768, 1770, 1777). Tübingen: Mohr Siebeck 2008 (Johann Joachim Spalding. Kritische Ausgabe. Abteilung 2: Predigten 2), S. 191 – 207, hier S. 202. Auf diese Predigt wie auch auf Schriften anderer »einsichtsvoller protestantischer Theologen« bezieht sich Elisa von der Recke, wenn sie in einer zwischen ihr und dem Prinzen Eugen von Württemberg in der Berlinischen Monatsschrift von 1786 ausgetragenen Kontroverse über den Wunderglauben sich zu der Auffassung dieser Theologen bekennt, dass die »Wundergabe der Apostel« in nachbiblischer Zeit »aufgehört habe«. In der Gegenwart des 18. Jahrhunderts könne Christen diese »Wundergabe« nicht mehr zuteil werden. Vgl. Elisens Antwort an Prinz Eugen von Würtemberg. In: Berlinische Monatsschrift 1786/2 (Juli–Dezember), S. 197 – 207, hier S. 200. Vgl. ebd., S. 1 – 9: »Ueber Elisens Aufsatz im Mai der Berliner Monatsschrift 1786«. Bei der großen Bedeutung, die Elisa von der Reckes Cagliostro-Schrift »Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779 und von dessen dortigen magischen Operationen« (Berlin / Stettin: Nicolai 1787) für die ganze Diskussion über den Wunderglauben erlangt hat, ist ihr Hinweis auf die Schriften protestantischer Theologen, bei denen neben Spalding durchaus auch Semler gemeint sein könnte, für die Beurteilung des theologischen Anteils an dieser Diskussion aufschlussreich. 2 Lavaters Brief wird hier zitiert nach dem Abdruck in: Semler, Johann Salomo: Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen mit eigenen vielen Anmerkungen hg. v. Johann Salomo Semler. Erstes Stück. Halle: Hemmerde 1776 (zitiert als: Samlungen 1), S. 1 – 7, hier S. 3.

Johann Salomo Semlers Auseinandersetzung mit Johann Caspar Lavater

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von 17673 allen Vorstellungen von Wunderheilungen und Wundern überhaupt eine entschiedene Absage erteilt. Seine Kernthese ist: Der überlieferte, durchaus auch in den biblischen Texten begegnende, Wunderglaube ist ganz eingebunden in fremde Zeitumstände und eine diesen entsprechende ganz »andere Denkungsart« (S. 52), die nicht mehr die des 18. Jahrhunderts ist. Diese konsequente Historisierung des Wunderbaren durch Einbindung in einen Denkhorizont, der nicht mehr der eigene ist, ist die bahnbrechende Leistung Semlers,4 deretwegen er sich von der Seite der orthodoxen Theologen scharf angegriffen sah. Es ist eben dieser deutlich als Gegner erkannte und den sogenannten Neologen zugerechnete Theologe, den Lavater mit seinem Bericht über den Wundertäter Gaßner konfrontiert. Eben weil Semler bei Lavater wie bei anderen geradezu als ein »Antagonist der Dämonologie«, »voll der tief gewurzelten Vorurteile gegen alle solche Erscheinungen« (S. 5) gilt, wendet Lavater sich an ihn mit der Aufforderung, sich doch selbst einen Eindruck von der Tätigkeit Gaßners zu verschaffen. Er tut dies offensichtlich in der Erwartung, dass Semler, wenn er sich darauf nur einlassen würde, seine bisherige Auffassung von der Unmöglichkeit von Wunderheilungen wohl doch revidieren müsste. Semler hat auf den Brief Lavaters umgehend mit einem Brief vom 12. April 1775 geantwortet,5 der schon allein durch seine Länge zu erkennen gibt, dass Semler mit Lavater jedenfalls in der Überzeugung von der Wichtigkeit der verhandelten Sache einig ist, in der Sache selbst allerdings bekräftigt er seine grundsätzliche Auffassung, dass er in der Gegenwart des 18. Jahrhunderts durch Besessenheit vom Teufel oder von Dämonen verursachte Krankheiten nicht gebe, entsprechend auch keine durch exorzistische Praktiken bewerkstelligten Wunderheilungen (S. 86). Wegen dieser seiner Grundüberzeugung (er nennt sie auch »meine Erkenntnis« [S. 81]) ist er auch keineswegs bereit, sich auf die von Lavater geforderte Untersuchung einzulassen. Das hält er schon im Ansatz (weil damit prinzipiell die Möglichkeit von Wundern schon eingeräumt wäre) für verkehrt. Im Übrigen lässt Semler es bei diesem Brief keineswegs sein Bewenden haben. Zeitgleich lässt er unter dem Datum des 13. April 1775 in den »Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen« eine Mitteilung über den Erhalt von Lavaters Brief einrücken.6 Er referiert dessen Inhalt, wobei er als Kernpunkt hervorhebt, dass 3 Semler, Johann Salomo: Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten; zur Beförderung des immer besseren Gebrauchs der Kirchenhistorie. Halle: Trampe 1767. 4 »Aufklärung durch Historisierung« – auf diese Formel bringt Marianne Schröter die Leistung Semlers; vgl. Schröter, Marianne (2012): Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums. Berlin / Boston: de Gruyter (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 44). 5 Ebenfalls abgedruckt in: Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 1 (Anm. 2), S. 78 – 86. 6 Hallische Neue Gelehrte Zeitungen 1775/30 (Donnerstags den 13ten April), S. 233 – 235 (zitiert als: Hallische Zeitungen).

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Lavater alles, was er über Gaßner erfahren habe, ansehe »als Beweise seiner Lieblingsmeinung« von der »Fortdauer der Wundergaben«, d. h. als Beweis der Auffassung, dass Wunder, wie sie Jesus und seine Apostel nach dem Zeugnis der biblischen Texte vollbracht haben, bis in die eigene Gegenwart möglich seien (S. 233 f.).7 Er referiert auch seinen eigenen Antwortbrief und lässt dieses Referat einmünden in ein wörtliches Zitat, nämlich die »dreiste Erklärung«: »es ist nicht Besitzung da«, d. h. die Vorstellung, Gaßner könne es mit Besessenen zu tun haben, die er durch eine ihm eigene Wundergabe von ihren Leiden befreie, ist schlechterdings abwegig. Semler hat damit in unmittelbarer Reaktion auf Lavaters Brief den Schritt in die Öffentlichkeit vollzogen. Dies hebt er selbst hervor. Dass er sich hier »im voraus« (d. h. noch ehe er sich im einzelnen mit Lavater auseinandergesetzt hat) »öffentlich« äußere, begründet er damit, dass das Auftreten des Wunderheilers Gaßner nicht nur bei einer »großen Menge« seiner katholischen Glaubensgenossen, sondern auch »unter Protestanten« (wofür eben Lavater ein herausragendes Beispiel ist) eine »seltsame« (d. h. ihm selbst eigentlich unbegreifliche) »Aufmerksamkeit« erregt, die »manche« schon »unter die Zeichen der Zeit« rechnen, also als symptomatisch für eine Zeittendenz begreifen.8 Gegen diese Zeittendenz meint Semler angehen zu müssen, indem er gleich bei erster Gelegenheit öffentlich seine Meinung dazu kundtut. Im Übrigen war dieser zunächst befremdende Schritt in die Öffentlichkeit in dem Brief Lavaters insofern doch bereits angelegt, als dieser Brief auch die Bitte enthielt, ihn an einen anderen Gelehrten in Halle, »Hrn. D. Nösselt« (S. 234), weiterzuleiten, der ebenfalls sein Urteil über die Gaßnerischen Wundertaten abgeben sollte. Semler hat die Zusendung von Lavaters Brief zu Recht sofort als das Ansinnen, sich auf eine öffentliche Diskussion über den Wunderglauben einzulassen, begriffen und entsprechend reagiert.9 7 Vgl. Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 1 (Anm. 2), S. 81: Wunder geschehen nach Lavaters »Einsicht« »vom ersten Jahrhundert bis jetzt«. Vgl. die gegenteilige Meinung anderer Theologen, auf die sich Elisa von der Recke beruft (Anm. 1). 8 Hallische Zeitungen (Anm. 6), S. 235. 9 Auf eine ganz ähnliche Art hatte Lavater 1769 Moses Mendelssohn genötigt, sich zur Frage des Wunderglaubens zu äußern. Er hatte ihm »Herrn Bonnets Untersuchung der Beweise für das Christenthum« (von ihm selbst übersetzt) zugeschickt mit der Aufforderung, »diese Schrift zu widerlegen« oder für sich selber die Konsequenz (gemeint: seiner ›Bekehrung‹) aus dieser Schrift zu ziehen (Johann Caspar Lavaters Zueignungsschrift der Bonnetischen philosophischen Untersuchung der Beweise für das Christenthum an Herrn Moses Mendelssohn in Berlin und Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich von Moses Mendelssohn. [ohne Ort]: Auf Kosten guter Freunde 1770, S. 13 und S. 43) Moses Mendelssohn hatte sich »außerordentlich befremdet« über Lavaters »öffentliche Aufforderung« gezeigt (S. 15) und es abgelehnt, sich »in Religionsstreitigkeiten einzulassen« (S. 17). Auf ein nochmaliges Schreiben Lavaters hin hatte er dann aber doch in einer »Nacherinnerung« sein Urteil über Bonnets Schrift abgegeben: »Nach meinen Religionslehren sind Wunderwerke« (die Bonnet als Be-

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Dass dies der Intention Lavaters durchaus entsprach, zeigt dessen »zweites Schreiben« vom »19ten May 1775«.10 Er zeigt sich leicht irritiert durch die »Declaration von Ihnen« in der »[H]allischen gelehrten Zeitung«, von der er Kenntnis erhalten hatte, irritiert allerdings nur deshalb, weil sein eigener Brief dort nicht »ganz gedruckt« worden ist, sondern eben als (aus seiner Sicht wohl zu sehr verkürzendes und auch wertendes) Referat. Im Übrigen aber hat er »keine Einwendungen« gegen die Veröffentlichung von Dokumenten seiner Auseinandersetzung mit Semler (S. 129). In der Sache äußert er sich im Verhältnis zu seinem ersten Schreiben jetzt vorsichtiger11: Auf dem »Begriff von Wunder« will er nicht bestehen, in Gaßner sei »keine Apostolische Wunderkraft« wirksam, wohl aber »Glaubenskraft«, und das sei doch allemal »untersuchenswerth« (S. 135; S. 128). Gegenüber Semler insistiert er auf der »Untersuchung der Thatsachen« (S. 132), auf dessen grundsätzliche Erwägungen lässt er sich nicht ein. So ist Lavater bereits bei seinem zweiten Schreiben klar (und war es auch wohl schon von Anfang an), dass Semlers Meinung und seine eigene »in vielen wichtigen Dingen« »verschieden«, ja geradezu »entgegengesetzt« sind (S. 127) und dass hier auch wohl keine Annäherung zu erwarten ist. Schon mit diesen wenigen Dokumenten (drei Briefen und einer Zeitungsnotiz) ist so eine Paarkonstellation begründet, die für die öffentliche Diskussion über den Wunderglauben, die hier vertretenen gegensätzlichen Meinungen, von großer Bedeutung ist. Eben weil es sich hier keineswegs um eine private Auseinandersetzung handelt, hat Semler Lavaters zweites Schreiben auch gar nicht mehr mit einem persönlichen Brief an ihn beantwortet. Er hält es jetzt »für das Beste«, den »Briefwechsel drucken zu lassen«, um so den »Zeitgenossen« ein eigenes Urteil zu ermöglichen (S. 140). Das ist die Keimzelle für eine dann 1776 sogar in zwei Teilen erscheinende umfangreiche Buchveröffentlichung12. Semler begnügt sich nämlich keineswegs mit der Dokumentation der wenigen Zeugnisse der Auseinandersetzung zwischen ihm und Lavater, er schickt der Dokumentation eine umfangreiche vom 28. September 1775 datierte Vorrede voraus, und er versieht die einzelnen Dokumente mit »Zusätzen«, »Erläuterungen«, »Anmerkungen« und »Erklärungen«, deren Umfang den Umfang der kommentierten Texte jeweise für des Christentum ansieht) »keine Unterscheidungszeichen der Wahrheit« (Antwort an den Herrn Moses Mendelssohn zu Berlin von Johann Caspar Lavater. Nebst einer Nacherinnerung von Moses Mendelssohn. Berlin / Stettin: Nicolai 1770, S. 35). 10 Ebenfalls abgedruckt in: Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 1 (Anm. 2), S. 127 – 139. 11 Vgl. Hornig, Gottfried (1996): Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen: Niemeyer (Hallesche Beitrage zur europäischen Aufklärung 2), S. 55: Lavater macht »in der Sache gewisse Zugeständnisse«. 12 Semler, Johann Salomo: Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen nebst vielen Anmerkungen herausgegeben von Johann Salomo Semler. Zweites Stück. Halle: Hemmerde 1776 (zitiert als: Samlungen 2).

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weils um ein Vielfaches übersteigt.13 Man kann sich über diese Unverhältnismäßigkeit von Dokumentation und Rahmenwerk nur wundern, begreift aber bald, dass die Dokumente für Semler nur den Anstoß liefern für eigene selbstständige Abhandlungen. Diese Abhandlungen haben durchaus noch Lavater als Gegenüber im Blick (Lavater konnte die Buchveröffentlichung als Antwort auf seinen zweiten Brief lesen), zielen im Übrigen aber auf das Publikum der Zeitgenossen insgesamt. Der Impuls für die Buchveröffentlichung ist derselbe wie der Impuls für die Zeitungsnotiz unmittelbar nach Erhalt von Lavaters erstem Brief. Wie bei der frühen Zeitungsnotiz bezieht sich Semler zur Begründung seiner Buchveröffentlichung auf die »nun einmal sehr hoch aufgereizte Aufmerksamkeit« für Gaßner bei den Zeitgenossen (S. 140). Er muss feststellen, dass die »Erzählungen und Urtheile von Gaßners Exorcismus« »immer ernsthafter und bedächtiger ausgebreitet werden; daß wirklich ein großer Theil gutmeinender Zeitgenossen schon ihren Beifall sich abgewinnen lassen; dass auch manch vorneme Personen lieber Bestätigungen wünscheten und erwarteten« (S. 122 f.). Dasselbe Phänomen beobachtet Semler nun auch bei einem anderen Wundertäter der Zeit: Schröpfer, der durch Geisterbeschwörungen Aufsehen erregt hat. Schröpfer hintergehe »nicht den dummen Pöbel«, sondern vorneme, reiche, denkende Leute« (S. 271). Was Semler offensichtlich tief beunruhigt, ist ein Mentalitätswandel, den er gerade bei den die öffentliche Meinung seiner Zeit bestimmenden Leuten beobachtet. Wenn er als »gröste Veranlassung« für die Veröffentlichung seiner Schrift gleich zu Beginn den »noch herrschende[n] Aberglauben« nennt (Vorrede), dann denkt er dabei weniger an alten Aberglauben, wie er noch bei ungebildeten Landbewohnern angetroffen wird, als vielmehr an neu auflebenden bei Leuten, die durchaus mit Aufklärung in Berührung gekommen sind und denen weder moralische Integrität (»gutmeinende«) noch Intelligenz (»denkende«) abgesprochen werden kann. Gegen diesen Aberglauben anzuarbeiten, sieht er sich aufgerufen, zumal diese neue Tendenz damit einhergeht, dass »immer mehr nachtheilige Urtheile über meine bekannten ganz andern Grundsätze« (S. 123) geäußert werden. Semler nimmt damit seine alte Auseinandersetzung mit den Vertretern der orthodoxen Theologie wieder auf. Ihnen wirft er vor, die »Auftritte der Gaßner und Schröpfer« entweder mit Zustimmung »oder doch furchtsamer Beurtheilung« begleitet und damit selbst »Ungewisheit und Aberglauben« zu erkennen gegeben zu haben.14 In dieser unentschiedenen Haltung der Theologen sieht er einen wesentlichen Grund für das Wiederaufleben des Aberglaubens. Umge13 Auf die sieben Seiten von Lavaters erstem Brief folgt eine »Vorläufige umständliche Erklärung« von 69 Seiten; auf die zwölf Seiten von Lavaters zweitem Brief folgen 38 Seiten »Anmerkungen«. 14 Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 1 (Anm. 2), Vorrede (unpaginiert).

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kehrt bezichtigen die Vertreter der orthodoxen Theologie Semler der »Ketzerey« (»Vorrede«). Es geht dabei um die Kernthese, die Semler seit jeher vertreten hat und die erneut vorzustellen der Streit mit Lavater ihm nun die willkommene Gelegenheit bietet. Als die Quellentexte sorgfältig studierender Kirchenhistoriker ist Semler zu der Überzeugung gelangt, dass unterschiedliche Zeiten unterschiedliche Glaubensvorstellungen und die Theologen entsprechend unterschiedliche Lehrmeinungen entwickeln. Dass nach dem Bericht der biblischen Texte Jesus und dann seine Apostel »Wunder« vollbracht haben, gehört in den Vorstellungszusammenhang der damaligen Zeit. »Der Zustand der Christen, die nach Christi Zeiten leben«, ist aber »nicht derjenige, worin jene abergläubischen Menschen lebten« (S. 159). »Als Christen haben wir jene jüdischen und heidnischen Meinungen nicht mehr.« (S. 172) »Meinungen unter jenen Zeiten und Gegenden« sind »keineswegs göttliche Belehrungen für uns.« (Vorrede) Es sei der Irrtum der orthodoxen Theologen, dass sie Meinungen der Vergangenheit wie die vom Zusammenhang von Krankheiten mit Einwirkungen des Teufels oder von Dämonen als für immer geltende »christliche Lehrwahrheiten« einschätzen (ebd.). Sogar große Stücke der Bibel sind »für uns« »nur Historie«, »nicht christliche Lehrsätze« (ebd.).15 Es ist diese Grundauffassung Semlers, weshalb er den ganzen »Zorn« der »orthodoxen Eifferer« tragen muss, Lavater dagegen zollen sie »Respect« (ebd.). Wortreich, mit großer Emphase, auch redundant trägt Semler diese seine Grundauffassung vor. Sie ist es, die ihm die Sicherheit gibt, über die Auftritte von Gaßner und Schröpfer zu erklären: »keine einzige solche Szene« ist »ohne Betrug« (S. 147). In der Vorrede zum zweiten Band seiner »Samlungen«16 geht Semler so weit, die Vorstellung, Menschen könnten der Einwirkung von »Geistern und Teufeln« unterworfen sein, zu einer Vorstellung zu erklären, die »der wahren christlichen Lehre« »gerade zuwider« sei. Dafür bezieht er sich hier auf das Zeugnis schon des Apostels Paulus. Als Christen seien wir schon durch ihn und erst recht »in unsern ganz andern Zeiten und Umständen« »anders belehrt«. Es könne hier »keinen Mittelweg« geben, sondern nur eindeutige Ablehnung. Eben deshalb gebe es auch keineswegs eine »Pflicht für uns« zu »Untersuchungen und bedächtigen Prüfungen« der von Gaßner [und Schröpfer] berichteten Ereignisse, wie sie Lavater von Semler verlangt. Ganz im Gegenteil mahnt Semler die Prediger des christlichen Glaubens: »Wir sind nicht berufen, alte zerfallene Dämonologien aufzubauen.« (unpaginierte Vorrede zu Samlung 2) Er selbst sieht seine Aufgabe gerade in deren Destruktion. 15 Eben darauf bezieht sich der Vorwurf der orthodoxen Theologen gegen Semler, seine Auffassung sei eine »schriftwidrige«. Vgl. Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 1 (Anm. 2), Vorrede. 16 Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 2 (Anm. 12), unpaginierte Vorrede vom 27. Dez. 1775.

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Es dient dem Zweck dieser Destruktion, dass Semler seine eigene theologische Argumentation ergänzt durch Beiträge von ganz anderen Autoren, die sich ebenfalls kritisch mit dem Zeitphänomen eines neuen Wunderglaubens auseinandersetzen. Darunter sind die wohl wichtigsten »Herrn Moses Mendelssohns Anmerkungen über einen schriftlichen Aufsatz, die Wunderthaten des berüchtigten Schröpfer betreffend«17 und »Herrn Professor Eberhards Abhandlung über die sogenannte Magie«18. Semler selbst hebt die Abhandlung von Eberhard als »so gründlich als lehrreich« besonders hervor.19 In auffallender Übereinstimmung mit Semler und mit dem gleichen Befremden charakterisiert Eberhard die eigene Zeitsituation: Man habe ja doch mit Recht Hofnung gehabt zu glauben, die Werke des Teufels auf Erden wären gänzlich zerstört, und der Aberglaube völlig besiegt. Aber leider! fängt jetzt der Aberglaube wieder an sein Haupt empor zu heben, und nicht nur Ungelehrte lassen sich durch Betieger, die sich vor Zauberer ausgeben, hinter das Licht führen, sondern so gar ansehnliche Gottesgelehrte und Aerzte fangen an, diesem Aberglauben öffentlich das Wort zu reden und das Daseyn der wahren Magie [d.i. die Möglichkeit des Wunderbaren] im ganzen Ernst zu behaupten.20

Gegen diese Zeittendenz führt Eberhard die aufklärerische, auch von Theologen wie Spalding21 geteilte Grundüberzeugung an: Gott hat »die Veränderungen des Weltgebäudes zum Nutzen der lebendigen Kreaturen, an gewisse unveränderliche Gesetze gebunden« (S. 130). Es gehört zu den Gewissheiten eines Aufklärers wie Eberhard, dass »die Naturlehre und Mathematik uns die wahren Gesetze der Körperwelt gelehrt haben« (S. 107 f.). Auftritte wie die von Gaßner und Schröpfer sind deshalb »aus natürlichen Ursachen« erklärbar (S. 108 f.). Dass der Eindruck des Übernatürlichen, Wunderbaten entstehen kann, führen Eberhard wie Mendelssohn teils auf psychologische Ursachen zurück (überspannte »Erwartungen«, die dabei wirksame, der Kontrolle durch die Vernunft sich entziehende »Einbildungskraft«)22, teils auf den Einsatz von Mitteln der »natürlichen Magie« (eine Zauberlaterne z. B.) zum Zwecke des Betrugs.23 Semler hat bei seiner Argumentation den Gedanken der durchgängigen Geltung der Naturgesetze nicht ausdrücklich thematisiert, dieser Gedanke gehört aber fraglos auch zu seinen Grundüberzeugungen, wie erkennbar wird, wenn er wie andere Aufklärer von den voraufklärerischen Zeiten als Zeiten der 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 67 – 80. Ebd., S. 99 – 203. Ebd., Vorrede (unpaginiert). Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 2 (Anm. 12), S. 109 – 112. Vgl. Spaldings Predigt zu Joh. 4,48 (Anm. 1). Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 2 (Anm. 12), S. 73 (Mendelssohn); S. 162, S. 177, S. 202 (Eberhard). 23 Ebd., S. 76 (Mendelssohn); S. 118 (Eberhard).

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»Unwissenheit« und der »Finsternis« spricht. Auch die Rede vom »Betrug« eines Gaßner oder Schröpfer basiert auf dieser Überzeugung, wie er denn auch dem abschließenden Urteil einer anonymen Schrift über die »Gaßnerischen Wunderkuren«, »daß alles ganz natürlich hergehe«, ausdrücklich zustimmt.24 Semler schließt durch die Aufnahme von Aufsätzen wie denen von Mendelssohn, Eberhard und anderen in seine Sammlung seine eigene theologische Argumentation mit der allgemein aufklärerischen zusammen.25 Er ist als Theologe Aufklärer26 und von den Zeitgenossen als solcher wahrgenommen worden. Mit der als abschließende Antwort an Lavater gedachten Schrift der »Samlungen« von 1776 ist die Auseinandersetzung Semlers mit Lavater aber nun keineswegs beendet. 1787 erscheint Semlers Schrift »Unterhaltungen mit Herrn Lavater«27. Veranlassung für diese Schrift ist eine persönliche Begegnung Semlers mit Lavater, über die er zu Beginn dieser Schrift höchst anschaulich und zum Teil auch selbstironisch berichtet. Im Juli 1786 unterbricht Lavater eine Reise nach Bremen28 für einen kurzen Aufenthalt in Halle. Es ist ein überraschender 24 Semler, Johann Salomo (1776): Samlungen 1 (Anm. 2), S. 240 f. 25 Wenn in der Folge im Zusammenhang der allgemeinen Diskussion über den Wunderglauben der Aufsatz von Eberhard einen hohen Grad an Bekanntheit erlangt hat und wieder und wieder abgedruckt (z. B. bei: Wiegleb, Johann Christian: Johann Nikolaus Martius Unterricht in der natürlichen Magie, aus allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken bestehend. Völlig umgearbeitet von Johann Christian Wiegleb. Berlin / Stettin: Friedrich Nicolai 1779, S. 1 – 48) oder zitiert wird, dann dürfte das auch mit dem Abdruck dieses zuerst 1775 in den »Hallischen Intelligenzblättern« erschienenen Aufsatzes im Zweiten Stück von Semmlers »Samlungen« von 1776 zu tun haben. 26 Vgl. Geffarth, Renko (2008): Von Geistern und Begeisterten. Semler und die ›Dämonen‹. In: Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen: Niemeyer (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 37), S. 115 – 130, hier S. 130: »Das Interesse Semlers an den Geistersehern, den Dämonen und Teufelserscheinungen war gespeist aus seinem – letztlich aufklärerischen – Bemühen, einem populären, in seiner Wahrnehmung auch unter Theologen noch verbreiteten, ›Aberglauben‹ entgegenzutreten.« 27 Semler, Johann Salomo: Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie practische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Leipzig: Weidmann und Reich 1787 (zitiert als: Unterhaltungen). Hierzu: Fleischer, Dirk (2012): Einleitung: Religion und rechtmäßige Obrigkeit. Semlers Religionsverständnis in seiner Schrift: »Unterhaltungen mit Herrn Lavater«. In: Fleischer, Dirk (Hg.): D. Johann Salomo Semlers Unterhaltungen mit Herrn Lavater, über die freie praktische Religion; auch über die Revision der bisherigen Theologie. Nordhausen: Bautz (Nachdruck Leipzig: Weidmann und Reich 1787) (Religionsgeschichte der frühen Neizeit 13), S. 9 – 56; Stengel, Friedemann (2012): Mit wem sprach Semler? »Unterhaltungen mit Herrn Lavater« (1787) [im Druck]; vgl. das Kurzrefrat in: Trauzettel, Holger : Kampf um die Aufklärung? Neue Perspektiven auf Halle im 18. Jahrhundert. 11. 05. 2012, Halle an der Saale. Tagungsbericht. In: H-Soz-u-Kult (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4309, 10. 2. 2014). 28 Lavater war in Bremen die Übernahme einer Pfarrstelle angeboten worden, er hatte es aber vorgezogen, in Zürich zu bleiben, »die St. Petergemeinde hatte ihn ausdrücklich darum gebeten«. Motiv für seine Reise war, dass er die »Freunde« sehen wollte, denen er den Ruf

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Besuch, der für ziemliche Aufregung sorgt und unter hohem Zeitdruck steht. Lavater will offenbar möglichst viele Gelehrte in Halle sehen, auch Semler, den er aber zunächst nicht angetroffen hat. Das Verhalten Semlers in dieser Situation zeigt, dass er der Begegnung mit Lavater in Erinnerung an die inzwischen allerdings über zehn Jahre zurückliegende Auseinandersetzung nicht ohne eine gewisse Anspannung entgegensieht, es zeigt zugleich hohen Respekt vor der inzwischen spürbar gestiegenen Reputation Lavaters,29 und es zeigt, wie sehr Semler an einem Gespräch mit Lavater liegt. Dafür sucht er so viel Zeit herauszuschinden, wie irgend möglich. Als Lavater und seine Begleiter auf dem Weg zu seinem Haus »ganz unten in der Straße sich zeigeten«, geht er ihm »eiligst« entgegen, »um auch noch den gewöhnlichen Anfang der Unterhaltung desto mehr abzukürzen«30. »Mit zuversichtlicher Freiheit, die je sich im Gesicht entdecken kann, sahe ich dem Mann frölich, recht frölich in die Augen; und meine Zuversicht nahm ihn gleichsam, als mir gar sehr werth, schon in Besitz« (S. 2). Das Gespräch im Haus Semlers mit Beteiligung auch anderer (»Herr Zollikofer«, »Herr Eberhard«) wechselt schnell von Gegenstand zu Gegenstand und ist schon beendet, bevor es richtig begonnen hat, ein »fliegendes Gespräch« (S. 3) nennt es Semler. Beim Aufbruch zu der Stelle im Ort, von der Lavater seine Reise fortsetzen will, weiß Semler es so einzurichten, dass er mit Lavater »etwas geschwind« vorausgeht, »um noch einige Sachen bei ihm wenigstens zum Andenken niederzulegen« (S. 5). Auch eine gerade 1786 von ihm erschienene Schrift, »das dritte Stück von ächter hermetischer Arzeney«, gibt er ihm »beim Weggehen« noch in die Hand (S. 7). Hoch zufrieden kann Semler als eine abschließende Bemerkung Lavaters über diese Begegnung mit ihm festhalten: »[E]r sey nun, nachdem er mich gesehen, im Stande meine Schriften viel besser, als unschädlich zu verstehen« (S. 6). Ebenso empfindet er es offenbar als Genugtuung, dass im Nachherein andere ihm mitteilen, Lavater hätte »ganz gewiß« von ihm ein »gütiges liebvolles Urtheil« »angenommen« (ebd.). In einem Brief an Spalding nach dieser Reise bestätigt umgekehrt Lavater, wenn auch deutlicher einschränkend, dieses positive Urteil über die Begegnung: Er habe »Semlern redlicher gefunden, als ich ihn zu halten mich berechtigt glaubte.«31 In der Tat hat das Verhältnis zwischen Semler und Lavater, wie diese Begegnung im Juli 1786 zeigt, in der Zwischenzeit gegenüber der Situation von 1775 eine Veränderung erfahren, die viel tiefer greift, als Lavaters vorsichtige Formulierungen zu erkennen geben. Semlers schroffe Ablehnung der Position Lavaters von 1775 ist hier abgelöst durch ein eher aus dem Bewusstsein der Nähe nach Bremen zu verdanken hatte. Vgl. Geßner, Georg: Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung. Bd. 3. Winterthur : Steiner 1803, S. 28 f. 29 Den Ruf nach Bremen kann man als einen ›Beweis‹ dafür nehmen. Vgl. ebd., S. 28. 30 Semler, Johann Salomo (1787): Unterhaltungen (Anm. 27), S. 2. 31 Geßner, Georg: Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung. Bd. 3. (Anm. 28), S. 45.

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als der Gegnerschaft hervorgehendes Bemühen, die eigene Position verständlich zu machen. Diese eigene Position ist offensichtlich eine andere als die von 1775, wie sehr deutlich wird, wenn man sich die wenigen Gesprächsäußerungen, die Semler mitteilt, vor allem aber die Schrift, deren drittes Stück Semler Lavater überreicht, genauer anschaut. Bei der Schrift »Von ächter hermetischer Arzenei. An Herrn Leopold Baron Hirschen in Dresden. Wider falsche Maurer und Rosenkreuzer« aus dem Jahr 1786, auf die noch im selben Jahr zwei Fortsetzungen folgen,32 geht es um eine von dem im Titel genannten Baron Hirsch nach einem ihm überlieferten Rezept aus alter hermetischer Tradition hergestellte und auch von ihm vertriebene »Universalmedizin« (S. 29), die im Rufe steht, bei ganz unterschiedlichen Krankheiten, die durch herkömmliche Medizin nicht zu heilen sind, sich als wirksam zu erweisen. Auf der Basis eigener historischer Forschungen zu »jener alten Schule«, der »hermetischen Philosophie« (S. 3; S. 25 f.), wie auch eigener Experimente mit dem »Luftwassersalz« (S. 18) tritt nun Semler mit einem Anschreiben an den Baron Hirsch vor die Öffentlichkeit, in dem er die Wirksamkeit dieser Medizin bestätigt und darüberhinaus behauptet, dass sich aus ihr auch Gold gewinnen lasse. Die »Universalmedizin« sei »trinkbares Gold« (S. 41). Semlers Interesse geht dabei über diesen besonderen Fall hinaus: Gegen den weit verbreiteten »Spott« der Zeitgenossen fordert er Respekt für »hermetische Philosophie« und »Alchymie« ein (S. 13; S. 22). Dass man diese Schrift geradezu als Gegenschrift zu seiner früheren »Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschörungen« lesen könnte, hat Semler durchaus vorbedacht. Er schickt deshalb dieser neuen Schrift »eine Art von Schutzschrift« (Hermetische Arzenei 1, S. 3) voraus, in der er daran erinnert, dass er schon sehr früh sich den »Betrügereien« von Gaßner und Schröpfer widersetzt habe (S. 11; S. 21). Auch diese Schrift will er als gegen »falsche«, als »Ignoranten« und »Betrüger« (S. 27) ausgewiesene »Maurer und Rosenkreuzer« gerichtet verstanden wissen, wie der Titel programmatisch anzeigt. Es komme darauf an, »das Wahre von dem Falschen« zu trennen (S. 13). Die Reaktion auf diese Schrift von 1786 war trotzdem überaus heftig und ist in ihrer Heftigkeit nur zu verstehen vor dem Hintergrund der allgemeinen Hochschätzung Semlers als einen herausragenden, in eine neue Richtung weisenden 32 Johann Salomo Semler : Von ächter hermetischer Arzenei. An Herrn Leopold Baron Hirschen in Dresden. Wider falsche Maurer und Rosenkreuzer. Leipzig: Beer 1786 (zitiert als: Hermetische Arzenei 1). – Ueber ächte hermetische Arzenei, zweites Stück. Zur Vertheidigung des Luftsalzwassers wider die Anzeige in der Stettinischen Zeitung und in der Berlinischen Monatsschrift, April. Leipzig: Beer 1786 (zitiert als: Hermetische Arzenei 2). – Von ächter hermetischer Arzenei. Drittes Stück. Antwort auf Herrn Hofrath Karstens Abhandlung. Leipzig: Beer 1786 (zitiert als: Hermetische Arzenei 3).

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Theologen der Aufklärung. Die wohl schärfste Entgegnung findet sich in der »Berlinischen Monatsschrift« vom April 1786.33 Unter dem Pseudonym »Thomas Akatholikus« bezeugt hier Johann Erich Biester, einer der Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift«, Semler zunächst höchsten Respekt34, weil »Deutschland« ihm »die thätigste und gründlichste Verbreitung der reinen, bessern und aufgeklärtern Begriffe in der Theologie verdankt« (S. 342). Mit der Schrift »Von ächter hermetischer Arznei« (S. 344) aber habe er nun einen »großen Fehltritt« (S. 358) getan. »Sobald man ein Wunder annimmt«, »öffnet man allem Wunderglauben, und dem ganzen Heere der tollsten Magie Thor und Thüre« (S. 359). Er sieht damit gerade jenen »Schwindelgeist des Glaubens an Wunder und an geheime Kräfte« »in unsern Zeiten« (ebd.) befördert, dem Semler mit seinen früheren Schriften sich so entschieden widersetzt hat. Die Schrift ist ein Schrei der Empörung, dass »selbst ein Semler« (ebd.) sich zu so etwas wie einem Plädoyer für eine dubiose Wundermedizin herbeilassen konnte. Schon in Erwartung kritischer Rückäußerungen hatte Semler zur »Vertheidigung des Luftsalzwassers« noch für dasselbe Jahr 1786 eine Fortsetzung seiner Schrift »Von ächter hermetischer Arzenei« geplant. In diese nimmt er als ihm wohl wichtigsten Beitrag seine »Antwort« auf den Aufsatz in der »Berlinischen Monatsschrift« auf, die er unmittelbar nach dessen Erscheinen noch im selben Monat April verfasst.35 Er bezieht sich direkt auf eine Formulierung des Akatholikus: »[D]as Unkraut« des Wunderglaubens »mus [sic] ganz ausgerottet werden« (S. 138).36 Für Semler stellt sich Akatholikus damit an die Seite der »Naturalisten«, die »allen Wunderglauben« mit »Füssen treten« (S. 141) und für die als »Regel« gelte: »[A]lle Wunder sind unmöglich« (S. 181). Das ist eine »Denkungsart«, die Semler hier nun entschieden ablehnt (ebd.). Er wendet sich dagegen, dass es in der physischen Welt gar »keine arcana« mehr geben solle (S. 153, vgl. S. 139; S. 179; S. 185) und damit dann auch »in der Religion« »kein Geheimnis« mehr (S. 185). Man müsse »arcana glauben« können, ohne als »Ignorant« »oder Fantast« abqualifiziert zu werden (S. 179). Das führt ihn, bezogen auf den aktuellen Streit über das Luftwassersalz, dazu, zweierlei »Chymie« zu unterscheiden (S. 130). Neben der »gewöhnlichen« (S. 152), »gemeinen« (S. 153), »äußern« (S. 152), »pharmakeutischen« (S. 160) »Chymie« gebe es eine »andre« (S. 144), »geheime« (S. 156), »hermetische« (S. 166). Das Luftwassersalz ist eine »hermetische Arzeney«, »von allen Apothekerproducten« »unterschie33 Ueber H. D. Semlers Empfehlung des vom Baron Hirschen verkauften Luftsalzwassers. In: Berlinische Monatsschrift 1786/1 (Januar–Juni), S. 339 – 360. 34 Ebd., S. 344: »ein Mann von großer Gelehrsamkeit und großen Verdiensten«. 35 Antwort. Auf den Aufsaz über meine Schrift von ächter hermetischen Arzeney, in der berlinischen Monathsschrift. April. 1786. In: Semler, Johann Salomo (1786): Hermetische Arzenei 2 (Anm. 32), S. 135 – 195, am Ende mit »Halle den 12 April 1786« datiert (S. 195). 36 Vgl. Berlinische Monatsschrift 1786/1 (Januar–Juni) (Anm. 33), S. 359.

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den« (S. 166), deshalb mit den Mitteln der »gewöhnlichen« Chemie auch gar nicht zu analysieren und auf seine Wirksamkeit hin zu überprüfen. Semler weigert sich, der »gemeinen« Chemie »die Ehre der Allmacht und Allwissenheit« (S. 153), also absolute Geltung zuzuerkennen. Gleichwohl ist bei Semler eine Zurückhaltung spürbar, das Luftwassersalz nun selbst geradezu ein »Wundersalz«, seine Wirksamkeit eine »Wunderkraft« zu nennen (S. 145). Er beruft sich auf die »Erfahrung« der Menschen, diese Erfahrung will er ernstgenommen wissen. »Historische täglich wiederkommende Erfahrungen« »kan doch niemand zu Undingen und Nullitäten machen.« (S. 127) Grundsätzlich die Möglichkeit des Wirkens von »geheimen Naturkräften« (S. 176; S. 178) auszuschließen und damit Menschen die Wahrheit ihrer eigenen Erfahrungen zu bestreiten, bedeutet für Semler eine Einschränkung der Freiheit der Menschen, »Sclaverey« (S. 177). Aufklärung wird, wo sie darauf besteht, »intolerant« und »despotisch« (S. 137; vgl. S. 179). Es ist vor allem dieser Vorwurf der Intoleranz und Despotie, der den Streit zwischen Semler und Thomas Akatholikus nicht zur Ruhe kommen lässt. Akatholikus antwortet darauf mit einem neuen Beitrag in der »Berlinischen Monatsschrift« vom Juni 178637, der wiederum die Veranlassung liefert für ein Schreiben Semlers nun nicht an Akatholikus, sondern an die Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift«, hier veröffentlicht im August und sofort gekoppelt mit einer Stellungnahme der Herausgeber38. Dem Schreiben an die Herausgeber legt Semler zur Weitergabe an Akatholikus das soeben erschienene Dritte Stück seiner Schrift »Von ächter hermetischer Arzenei« (das er ja auch Lavater bei dessen Besuch in Halle Anfang Juli übereignet hatte) bei. Im Vorwort, datiert vom 8. Juli 1786, setzt Semler sich ausführlich39 mit dem Aufsatz des Akatholikus vom Juni auseinander. Darauf wiederum antwortet Akatholikus, nun doch etwas verzögert, in der »Berlinischen Monatsschrift« vom Januar 1787; erst dies ist, wie er betont, seine »Letzte Erklärung«40. Bei diesem ganzen Hin und Her ist eine Veränderung der Positionen nicht zu beobachten, lediglich der Ton der Auseinandersetzung wird schärfer, und es hebt sich ein Thema als das beherrschende immer deutlicher heraus: Der Streit um Semlers Plädoyer für das Luftwassersalz des Baron Hirsch ist in Wahrheit nur der Anlass für einen 37 Nachtrag über H. D. Semlers Empfehlung des Hirschenschen Luftsalzwassers. In: Berlinische Monatsschrift 1786/1 (Januar–Juni), S. 522 – 554. Auseinandersetzung mit Semler besonders S. 541 – 554. 38 An die Herren Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift. In: Berlinische Monatsschrift 1786/2 (Juli–Dezember), S. 174 – 179. – Erklärung der Herausgeber über vorstehenden Aufsatz. In: ebd., S. 179 – 183. 39 Semler, Johann Salomo (1786): Hermetische Arzenei 3 (Anm. 32), S. V – XXIV. 40 Letzte Erklärung des Thomas Akatholikus über Herrn D. Semlers Empfehlung des Hirschenschen Luftsalzwassers. In: Berlinische Monatsschrift 1787/1 (Januar–Juni), S. 23 – 51.

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darüber weit hinausgehenden Streit über zwei unterschiedliche Konzepte von Aufklärung. Es ist auffallend, dass Thomas Akatholikus in keinem einzigen seiner Beiträge versäumt, die Verdienste Semlers um die Sache der Aufklärung zu rühmen.41 Noch in seinem allerletzten Beitrag vom Januar 1787 spricht er von dem »Dank«, den die Zeitgenossen Semler für seine früheren Schriften (vor dem »Fehltritt« »Von ächter hermetischer Arzenei«) schulden, und erkennt diesen Schriften »Wirkungen« zu, die »auf keinen kleinen Zeitraum eingeschränkt sind«, also über die eigene Gegenwart weit hinausgehen, womit er eine zweifellos zutreffende Einschätzung der historischen Leistung Semlers vornimmt. Auch die Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift« erklären in ihrer Stellungnahme gegenüber Semler, sie »hätten nie geglaubt«, dass sie bei ihrem Kampf gegen »Aberglauben« und die »immer weiter greifende Schwärmerei« (S. 182; S. 181) einmal seine »Gegner« sein könnten. Sie hätten ihn immer auf ihrer eigenen Seite gesehen, um so »unerwarteter« (S. 183) ist es ihnen nun, dass er sich mit seiner Parteinahme für »Alchymie« und »hermetische Weisheit« (S. 182), die sie als ganz unverträglich mit ihrem eigenen Begriff von Aufklärung ansehen, nun gegen sie erklärt.42 Eben dies hatte Semler in seinem kurzen Schreiben an die Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift« unmissverständlich getan. Spottend nennt er sie »übereilte Volontäre der Aufklärung« und erklärt geradezu offensiv, dass es »gar wol« »geheime, unbekannte Chymie« gebe. Er schäme sich gar nicht, in dieser Hinsicht »ganz anders zu denken« als sie.43 Überaus bezeichnend ist, dass Semler sich in diesem Zusammenhang auf seine kürzliche Begegnung mit Lavater bezieht. »Seitdem ich Herrn Lavater kenne, welche Freude ich vor wenig Tagen hatte, bin ich noch mehr gleichgültig gegen das Wort Schwärmer.« (S. 178) Mit der Nennung dieses Namens, der in enger Assoziation mit der Vorstellung vom »Schwärmer« ein Feindbild der Herausgeber der »Berlinischen Zeitung« bezeichnet (Anm. 42), zeigt Semler seinen eigenen Parteiwechsel an, auch wenn ihn weiterhin vieles von Lavater trennt. Er ist der Vertreter einer Aufklärung, die Schwärmerei toleriert, statt in ihr eine Gefahr zu sehen, aus der eine Verkehrung der Aufklärung in ihr Gegenteil erwachsen könnte. Es ist eine Aufklärung, die hermetische Traditionen 41 Mit »großer und selbst enthusiastischer Wärme« habe Akatholikus »die Verdienste« Semlers geschildert, so der Kommentar der Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift« (Anm. 38), S. 180. 42 Semler wird mit diesen Komplimenten geradezu umworben, die Erwartung, er könne in ihr Lager zurückkehren, ist noch keineswegs ganz aufgegeben, wie er denn erstaunlicherweise auch nach dem Streit über das Luftwassersalz in dem Aufsatz »Ueber das itzige Streiten mancher Schriftsteller, besonders Lavaters, gegen die Berliner« vom April 1787 (Berlinische Monatsschrift 1787/1 [Januar–Juni], S. 353 – 395) noch (oder wieder?) dem eigenen Lager zugerechnet wird: »Hr. Semler ist unser Freund« (S. 364). 43 An die Herren Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift. In: Berlinische Monatsschrift 1786/2 (Juli–Dezember), S. 174 – 179, hier S. 177.

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positiv aufnimmt, während für die Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift« Aufklärung und Hermetismus einander ausschließende Gegensätze sind. Semler verkörpert damit in seiner Person die widersprüchliche Einheit einer Aufklärung, die einerseits festhält an dem Kampf gegen puren Aberglauben und eine unkritische Wundersucht, andererseits aber sich dagegen wehrt, der Tradition hermetischen Wissens eine radikale Absage zu erteilen.44 Bei ihrer Begegnung in Halle im Juli 1786 gehört zu den wenigen »Sachen«, die Semler Lavater gegenüber kurz ansprechen kann, eben der hier skizzierte Streit mit den Herausgebern der »Berlinischen Monatsschrift«. Lavater bestätigt auf die Nachfrage Semlers hin, dass er die dort geführte Auseinandersetzung um das Luftwassersalz mitverfolgt habe. Semler gibt seinem Missfallen darüber Ausdruck, dass »in der berlinischen Monatsschrift fast in befehlendem Ton wider so genannten Wunderglauben« geschrieben werde und beschwert sich darüber, wie man dort mit ihm umgegangen sei. Lavater »verglich kurz, wie es ihm gehe«.45 In diesen wenigen Bemerkungen wird eine gemeinsame Frontstellung von Semler und Lavater gegenüber den Herausgebern der »Berliner Monatsschrift« deutlich, und offenbar reihen sich hier auch noch andere Begleiter Lavaters in Halle ein, wenn am Schluss als gemeinsames Gesprächsthema die »gewaltthätige Aufklärung« genannt wird, die sich »über gute Menschen und freie Christen« erhebe (S. 6). Lavater hätte sich hier auf seine eigene Schrift »Rechenschaft an Seine Freunde« von 178646 beziehen können, in der er verächtlich von den »Groß-Herolde[n] der Aufklärung« (Zweytes Blat, S. 67), von »wirkliche[r] Sklaverey« und einer »neue[n] Vernunfts- und Gewissenstyranney« (S. 45) spricht, die er geradezu als eine »Schande der Aufklärung« (S. 74) ansieht. In dieser Einschätzung der durch die »Berlinische Monatsschrift« repräsentierten Aufklärung könnte er sich auch bestätigen lassen durch die ihm beim Abschied aus Halle übereignete Schrift von Semler. Die im Vorwort von »Von ächter hermetischer Arzenei. Drittes Stück« (Anm. 32) geführte scharfe Auseinandersetzung mit dem hier als »anmassend [sic]« (S. XV) bezeichneten Akatholikus ist eine grundsätzliche Abrechnung mit der durch ihn vertretenen 44 Dies herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst von Reill, Peter Hanns (2008): The Hermetic Imagination in the High and Late Enlightenment. In: Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen: Niemeyer (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 37), S. 317 – 330. Reill, S. 330, zieht daraus Konsequenzen für das heutige Verständnis von Aufklärung: Die Auseinandersetzung mit Semler ist »warning us to avoid categorizing esotericists as opponents of the Enlightenment and Enlightenment figures as esotericism’s arch-enemies«. 45 Semler, Johann Salomo (1787): Unterhaltungen (Anm. 27), S. 5 f. 46 Lavater, Johann Caspar : Rechenschaft an Seine Freunde. Erstes Blat und Zweytes Blat. Winterthur : Steiner 1786. Auf diese Schrift bezieht sich der Beitrag in der »Berliner Monatsschrift« von 1787 »Ueber das itzige Streiten mancher Schriftsteller, besonders Lavaters, gegen die Berliner« (Anm. 42).

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Aufklärung. Diese Aufklärung nennt Semler »übereilt« (S. VII; S. VIII), »parteiisch« (S. XI), am Ende geradezu »falsch« (S. XVII). Was er dieser Aufklärung vorwirft, ist, dass sie »blos nach einem festgesetzten Maasstab [sic]« (S. XII) und schon mit der Vormeinung, »daß niemand anders denken soll« (S. VIII), betrieben wird. Für ihn ist das »vorsezliche Unterdrückung der menschlichen Kraft und Freiheit« (S. XIII), das Gegenteil also von dem, was wahre Aufklärung leisten sollte. Dieses andere Konzept von Aufklärung steht nun allerdings im Widerspruch zu jenem Konzept von Aufklärung, von dem sich Semler bei seiner Schrift »Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen« von 1776 hat leiten lassen. Insofern sind die Vertreter der »Berliner Monatsschrift« durchaus zu Recht irritiert. Auch sonst haben die Zeitgenossen Semler mit Blick auf sein Gesamtwerk »Inconsequenzen« vorgeworfen, er sei »von seinen Prinzipien abgegangen«.47 Dieser Wandel ist ablesbar gerade auch an seinem gewandelten Verhältnis zu Lavater. Aus einem Gegner ist ein »Freund« geworden, wie von Akatholikus 1787 nicht ohne Häme bemerkt wird.48 Erwartet man nun allerdings, daß Semler in seinen »Unterhaltungen mit Herrn Lavater« von 1787 sich eingehender mit der Position von Lavater auseinandergesetzt hätte, so sieht man sich getäuscht. Zwar begreift er seine Schrift, da bei dem Besuch selbst »keine Zeit da« war, als Gelegenheit, sich nunmehr mit Lavater »ganz ungebunden« zu »unterhalten««, ironisiert aber dieses Vorhaben selbst mit der Absichtserklärung, er wolle ihm nun »einen Vortrag nach dem andern« »thun«.49 Er wusste selbst, dass seine Schrift die (erneute) monologische Vorstellung seiner eigenen Grundauffassungen sein würde, dies durchaus mit Blick auf Lavater, aber ohne direkten Bezug auf ihn. In der dem Band vorangestellten »Zuschrift an den Herrn Prediger Zollikofer« erklärt er denn auch ganz offen, dass er im Titel mit der Nennung des Namens Lavater (wegen dessen breiter Anhängerschaft und seines hohen Renommees)50 auf eine größere Leserschaft für seine Schrift spekuliert. Explizit mit Lavater 47 Schütz, Christian Gottfried (Hg.): Joh. Salomo Semlers Letztes Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religion. Mit einer Vorrede herausgegeben von Chr. Gottfr. Schütz. Königsberg: Nicolovius 1792, S. IV und S. V. – Vgl. Soboth, Christian (2002): Die Alchimie auf dem Abtritt – Johann Salomo Semler und die hermetische Kehrseite der Neologie. In: Kaminski, Nicola (Hg.): Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Tübingen: Niemeyer (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 113), S. 67 – 99, hier S. 73: »[M]it den 1786 erschienenen Schriften zur hermetischen Arznei war Semler zur […] öffentlich umstrittenen Person geworden«. 48 Letzte Erklärung des Thomas Akatholikus (Anm. 40), S. 48: »seines neuen Freundes«. 49 Semler, Johann Salomo (1787): Unterhaltungen (Anm. 27), S. 12. 50 Ebd., S. VI: »Er hat ein großes Publikum«. Er erhofft sich für seine eigenen »Untersuchungen«, dass sie durch die Nennung des Namens Lavater »recht vieler Leser Augen auf sich ziehen« werden.

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auseinandergesetzt hat er sich in dieser Schrift nicht. Auch legt er hier Wert darauf, eine gewisse Distanz zu Lavater zu erkennen zu geben. Ich habe aber so wenig mir vorgesezt, insbesondere Herrn Lavater und seinen vielen, theils sehr warmen Freunden, ja recht gewiß zu gefallen: als wenig ich zu der andern Partei schon gehöre, welche mit den bisherigen Aeußerungen oder Grundsätzen desselben so sehr unzufrieden ist. (S. VI)

Seine eigene Position bestimmt er damit als eine Zwischenposition zwischen Lavater-Anhängern und Lavater-Gegnern. Diese Positionsbestimmung in den »Unterhaltungen mit Herrn Lavater« von 1787 hat ihre Entsprechung in der zeitnah (zwischen 1786 und 1788) erscheinenden Schrift »Unparteiische Sammlungen zur Historie der Rosenkreuzer«51, wie bereits das Stichwort »unparteiisch« im Titel anzeigt. Diese Schrift knüpft einerseits an bei der Schrift »Samlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen« von 1776. Wie es damals um die Aufdeckung des Betrugs bei Geisterbeschwörungen ging, so jetzt um die Aufdeckung der mit dem Namen der Rosenkreuzer verbundenen »vorsezlichen Betrügereyen, die mit sogenannten alchymischen und magischen Geheimnissen fast überall getrieben werden«.52 Die Ernsthaftigkeit dieser Absicht wird vielleicht durch nichts so deutlich, wie dadurch, dass Semler das »Zweite Stük« der Rosenkreuzer-Schrift von 1787 mit einer »Zuschrift an Charlotte Elisabeth von der Recke, geborne Gräfin von Medem« eröffnet, der er wegen ihrer gerade 1787 erschienenen Cagliostro-Schrift das »gröste Verdienst« »um unser Zeitalter«53 zuerkennt. Insoweit ist er mit den Vertretern der ›Berliner Aufklärung‹ ganz einer Meinung. Auf der andern Seite aber ist sein Anliegen nun doch, für eine positive Einschätzung der alten Rosenkreuzertradition, die er als Historiker erforscht hat, zu werben. Und da sieht er sich veranlasst, die »Intoleranz« von Vertretern der »Berliner«, die er auch hier »Despoten«54 nennt, zu beklagen. Worum es ihm geht, so erklärt er in den »Unterhaltungen mit Herrn Lavater«, das ist, die »geheime Chymie und heilige Theosophie« »aus der Usurpation« der »vorsezlichen groben Betrüger« zu »rette[n]«.55 Zwischen der grundsätzlichen Ablehnung allen Wunderglaubens und der Wundersucht der

51 Semler, Johann Salomo: Unparteiische Sammlungen zur Historie der Rosenkreuzer. Erstes Stük. Leipzig: Beer 1786. Zweites Stük: 1787. Drittes Stük: 1788. Viertes Stük: 1788 (zitiert als: Rosenkreuzer 1; 2; 3; 4). 52 Semler, Johann Salomo (1786): Rosenkreuzer 1 (Anm. 51), Vorrede. 53 Semler, Johann Salomo (1787): Rosenkreuzer 2 (Anm. 51), Zuschrift. Zu Elisa von der Reckes Cagliostro-Schrift vgl. Anm 1. 54 Semler, Johann Salomo (1788): Rosenkreuzer 4 (Anm. 51), Vorrede. 55 Semler, Johann Salomo (1787): Unterhaltungen (Anm. 27), S. 9.

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Anhänger eines Gaßner, Schröpfer, Cagliostro gibt es für Semler eine »ehrliche Mittelstraße«.56 Diese Mittelposition zeigt sich auch in der Art, wie Semler auf das Bewusstsein einer Krise der Aufklärung reagiert, das er ja durchaus mit den Vertretern der ›Berliner Aufklärung‹ teilt. Was den Akatholikus und seine Gesinnungsgenossen so hochempfindlich auf Semlers Öffnung für den Wunderglauben reagieren lässt, ist die wirkliche Befürchtung, die endlich erreichte Aufklärung könne wieder rückgängig gemacht werden. Weil Aufklärung als »prekär«57 beurteilt wird, darf man sich im Kampf gegen den Aberglauben keinerlei Inkonsequenz erlauben. Ganz anders Semler. Für die Befürchtung, die neu aufkommende Wundersucht, der »Geist der Schwärmerei« könne »alles Aufkommen der Aufklärung« »ersticken«, sieht er »gar keine Ursachen in unserer Zeit«.58 »Aufklärung« und »Schwärmerei« sind für ihn die Titel für zweierlei »Bemühungen der Menschen«, zwischen denen es seit jeher »ein paralleles Verhältnis gegeben hat« und auch in Zukunft »geben wird« (S. 112). Aufklärung ist das Korrektiv der »Schwärmerei«, aber »Schwärmerei« ist umgekehrt auch »Folge der Aufklärung« (ebd.), weil es nur allzu viele »Ursachen« gibt, mit der »öffentlich begünstigten, beförderten Aufklärung, keineswegs zufrieden zu seyn« (ebd.). Das Gegeneinander von Aufklärung und Schwärmerei ist nicht aufzuheben durch einen Sieg der einen über die andere Seite, es ist ein fortbestehendes Spannungsverhältnis. Der »Wunderglaube« wird als eine anthropologische Konstante begriffen , er »gehört«, wie Semler einmal abschließend formuliert, »durchaus in die Menschenwelt«.59 Das Festhalten am Wunderglauben ist nun allerdings bei Semler verknüpft mit einer für sein ganzes theologisches Denken grundlegenden Unterscheidung. Ihm ist wichtig, die »öffentliche«, »äußere«, durch die gesellschaftliche Institution der Kirche repräsentierte »Religion« mit ihren im Lauf der Geschichte 56 Vgl. die Kennzeichnung von Semlers Position in: Niemeyer, August Hermann (Hg): D. Joh. Sal. Semlers letzte Aeusserungen über religiöse Gegenstände zwey Tage vor seinem Tode. Halle: Waisenhaus 1791, S. 15: »[W]eder die Freunde noch Feinde der Aufklärung« galten ihm etwas, wenn er »Reinigkeit der Absichten« vermisste. – Auf eine erhellende Formel bringt Soboth, Christian (2002): Die Alchimie auf dem Abtritt (Anm. 47), diese Mittelposition: Semler versuche, »zwischen der Skylla einer radikalen Aufklärung und der Charybdis eines mystizistischen Obskurantismus die Mitte zu halten« (S. 93 f.). Er wende sich sowohl gegen »abgefeimte Obskuranten« als auch gegen »diktatorische Aufklärer« (S. 95). 57 So Biester in seiner Auseinandersetzung mir Garve: Berlinische Monatsschrift 1785/2 (Juli–Dezember), S. 68 – 90, hier S. 87: »Ich habe immer geglaubt, das, was wir so stolz unsere itzige Aufklärung nennen, sei nur höchst prekär«. Vgl. hierzu Hinske, Norbert (1977), Einleitung, Abschn. V.1: Der Streit der Geschichtsphilosophien. In: Hinske, Norbert (Hg.): Was ist Aufklärung. Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. 2., um ein Nachwort verm. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. LVIII – LXVI. 58 Semler, Johann Salomo (1788): Rosenkreuzer 4 (Anm. 51), S. 114. 59 Semler, Johann Salomo (1786): Hermetische Arzenei 2 (Anm. 32), S. 188.

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herausgebildeten Glaubensformeln zu unterscheiden von der »privaten«, »inneren«, auch »practischen« »Religion« der einzelnen Christen.60 Für die Berechtigung des Wunderglaubens rekurriert Semler immer wieder auf die »Erfahrung« des einzelnen Christen, der Wunderglaube ist Teil der »privaten«, nicht der »öffentlichen« »Religion«. Er ist damit verlegt in das Innere des Subjekts, als subjektive Erfahrung ist er keinerlei Rechtfertigungszwang unterworfen. In seiner »privaten« Religion ist der Christ ganz »frey und unabhängig«.61 Aufklärung muss diese Freiheit zulassen, sonst verrät sie ihre eigenen Prinzipien. Semlers »Unterhaltungen mit Herrn Lavater« sollen, so die Titelformulierung, Unterhaltungen »über die freie practische Religion« sein. Obgleich es in den »Unterhaltungen« zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit Lavater gar nicht kommt, darf man in der Titelformulierung vielleicht doch einen Hinweis darauf sehen, dass Semler eine gewisse Affinität zwischen seinem Konzept der »freien practischen Religion« und Lavaters Insistieren auf der Erfahrung des Christen gegenüber allen Einwänden von Seiten der Aufklärer wahrgenommen hat. Bei beiden dürfte darin das Erbe des Pietismus wirksam sein.62 Was Semler bei seinem hartnäckigen Beharren auf der Wirksamkeit des Luftwassersalzes wie überhaupt bei seinem Bemühen um die Anerkennung für hermetisches Wissen, die »unschädliche Theosophie«63 umtreibt, ist die Sorge, mit der Ablehnung »allen Wunderglaubens« durch die herrschende Aufklärung könne »Glaube überhaupt« verloren gehen,64 die grundsätzliche Bestreitung der Möglichkeit »wunderbarer« Erfahrungen könne auch auf grundlegende »christliche« Erfahrungen (wie z. B. die der Verbundenheit mit Gott im Gebet) 60 Der »Unterscheid der Historie und äusserlichen kirchlichen Gesellschaft der Christen […] und der jetzigen privat Religion« ist eines der ersten Themen in dem »fliegenden Gespräch« mit Lavater im Juli 1786 (Semler, Johann Salomo [1787]: Unterhaltungen [Anm. 27], S. 3). Zum Begriff der »privaten« Religion: Rieger, Reinhold (2008): »Privattheologie« – ein widersprüchlicher Begriff Johann Salomo Semlers? In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 119, S. 358 – 379. 61 Semler, Johann Salomo (1786): Hermetische Arzenei 2 (Anm. 32), S. 187. 62 Zu Semler: Fleischer, Dirk (2012): Einleitung: Religion und rechtmäßige Obrigkeit (Anm. 27), S. 50: Semler sei mit dem »Herrnhutischen Pietismus« schon in früher Jugend in Berührung gekommen. An der Universität Halle habe der »Pietismus – trotz Baumgartens Wirken – noch immer einen maßgebenden Einfluss« besessen. Zu Lavater : CaflischSchnetzler, Ursula (2007): Im Spannungsfeld zwischen Pietismus und Aufklärung. Johann Caspar Lavater »auf dem öffentlichen Schauplatze der Welt«. In: Gleixner, Ulrike / Hebeisen, Erika (Hg.): Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus. Korb: Didymos (Perspektiven in der neueren und neuesten Geschichte. Kultur, Wissen, Geschlecht 1), S. 193 – 211. 63 So die Benennung eines weiteren Themas in dem »fliegenden Gespräch« mit Lavater. Semler empört sich darüber, dass er die »Theosophie« »ganz ernstlich wider Spöttereien vertheidigen müste«, und setzt bei Lavater offenbar Verständnis für diese Empörung voraus. Unterhaltungen (Anm. 21), S. 3. 64 Semler, Johann Salomo (1786): Hermetische Arzenei 3 (Anm. 32), S. IV.

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zielen. Auch wenn man aus heutiger Sicht kaum an dem Urteil vorbeikommt, dass Semler beim Streit um das Luftwassersalz »Opfer« eines »Selbstbetrugs« ist,65 von dem er sich selbst nicht zu befreien wusste, so ist als sein eigentliches Anliegen hinter dem Selbstbetrug doch anzuerkennen, dass Aufklärung die Erfahrung von Transzendenz nicht ausschließen darf. Eine die Erfahrung von Transzendenz negierende Aufklärung ist für Semler »falsche« Aufklärung, der er sich mit großer Entschiedenheit widersetzt. Im Kampf gegen diese »falsche« Aufklärung entdeckt er Gemeinsamkeiten mit Lavater, wie bei der persönlichen Begegnung mit ihm in Halle 1786 und dann bei dem Projekt der »Unterhaltungen mit Herrn Lavater« deutlich wird, auch wenn er seine frühere heftige Ablehnung Lavaters bei der Auseinandersetzung um Wundertäter wie Gaßner und Schröpfer nicht vergisst und auch weiterhin Vorbehalte gegenüber Lavater hat. Unter den »letzte[n] Aeusserungen« Semlers vor seinem Tode, die der Freund August Hermann Niemeyer in Halle (auch Teilnehmer des Treffens mit Lavater in Halle) überliefert, finden sich die: »[D]as Reich Gottes ist in uns« und »o es giebt große Blicke, wovon die armen Formelschriften [der öffentlichen Religion] nichts wissen«.66 Das sind Bekenntnisse, mit denen Semler zuletzt trotz aller Differenzen doch sehr nah bei Lavater ist.

65 Priesner, Claus (1999): Alchemie und Vernunft. Die rosenkreuzerische und hermetische Bewegung in der Zeit der Aufklärung. In: Neugebauer-Wölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg: Meiner (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 24), S. 305 – 334, hier S. 328. 66 Niemeyer, August Hermann (Hg): D. Joh. Sal. Semlers letzte Aeusserungen (Anm. 56), S. 12.

Britta Hannemann

Sophie Mereau und Clemens Brentano: »Spanische Novellen« – eine kunstvolle und subtile Gemeinschaftsarbeit

Sophie Mereau (1770 – 1806) hat in der Zeit zwischen 1794 und ihrem frühen Tod eine umfangreiche literarische Produktion hervorgebracht. Ihr Werk1 umfasst überwiegend Prosatexte, zwei Romane, Lyrik sowie Übersetzungen und Bearbeitungen aus dem Italienischen, Französischen und Englischen, welche inzwischen gründlich erforscht sind; die Ergebnisse2 liegen gedruckt vor. Im Rahmen dieser Festschrift soll anhand des Textes »Spanische und Italienische Novellen: Die lehrreichen Erzählungen und Liebesgeschichten der Donna Maria de Zayas und Sotomayor« (1804 und 1806)3 gezeigt werden, auf welche kunstvolle und subtile Art und Weise das (Ehe-)Paar Mereau-Brentano zusammengearbeitet hat. Der Vollständigkeit halber sei hier nur erwähnt, dass Sophie Mereau neben den Novellen noch folgende Übersetzung aus dem Spanischen vorgelegt hat: »Die Rückkehr des Don Fernand de Lara in sein Vater1 Ausgabe der Werke Sophie Mereaus: Mereau-Brentano, Sophie: Liebe und allenthalben Liebe. Werke und autobiographische Schriften. Bd. 1 – 3, hg. und komm. v. Katharina von Hammerstein. München: dtv 1997, mit folgenden Teilbänden: Bd. 1: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. Romane; Bd. 2: Ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt. Gedichte und Erzählungen; Bd. 3: Wie sehn’ ich mich hinaus in die freie Welt. Tagebuch, Betrachtungen und vermischte Prosa. 2 Hannemann, Britta (2005): Weltliteratur für Bürgertöchter. Die Übersetzerin Sophie MereauBrentano. Göttingen: Wallstein (Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung. N.F. 7); Hannemann, Britta (2008): Die Übersetzerin Sophie Mereau, vorgestellt an ausgewählten Arbeiten aus dem Französischen. In: Wehinger, Brunhilde / Brown, Hilary (Hg.): Übersetzungskultur im 18. Jahrhundert. Übersetzerinnen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Hannover: Wehrhahn (Aufklärung und Moderne / Forschungszentrum Europäische Aufklärung 12), S. 165 – 185; Hannemann, Britta (2008): Sophie Mereaus ›Modernisierungen‹ altdeutscher Texte. In: von Hammerstein, Katharina / Horn, Katrin (Hg.): Sophie Mereau. Verbindungslinien in Zeit und Raum. Heidelberg: Carl Winter (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen 19), S. 327 – 349. 3 Spanische und Italienische Novellen. Die lehrreichen Erzählungen und Liebesgeschichten der Donna Maria de Zayas und Sotomayor. Hg. v. Sophie Brentano. 2 Bände. Penig: Dienemann 1804 – 1806 [1805]. – Sie gehen zurück auf: Novelas amorosas, y exemplares. Compvestas por DoÇa Maria de Zayas y Sotomayor, naturale de Madrid. Primera y Segunda Parte. Con licencia, [zuerst] ZaragoÅa 1637.

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land. Eine spanische Erzählung« (1804).4 Bei dieser Erzählung, auch eine Gemeinschaftsarbeit mit Clemens Brentano, handelt es sich nur in der Kernerzählung um eine Übersetzung, im Rahmen hingegen um eine Neuschöpfung. Die systematische Durchsicht des Novellenwerks von Maria de Zayas hat nämlich ergeben, dass es sich bei der Binnengeschichte der »Rückkehr des Don Fernand« um den fünften DesengaÇo aus ihrem zweiten Novellenzyklus (»Novelas amorosas«, II,5) handelt.5 – Die Erzählung »Maria. Eine Novelle« (1805),6 welche erstmals von Dagmar von Gersdorff7 und dann von Gisela Schwarz8 sowie von Katharina von Hammerstein9 als eine Arbeit von Mereau bezeichnet wurde, kann ihr nicht zugeschrieben werden.10

1.

Entstehungsprozess und Rezeption der »Spanischen Novellen«

Es existiert keine neuere Übersetzung der »Novelas amorosas«. Vorlagen für die »Italienischen Novellen« zu finden, erübrigt sich deshalb, weil die beiden Bände »Spanische und Italienische Novellen«, die 1804 und 1806 erschienen sind, nur spanische Erzählungen enthalten, der Titel also Reihentitel ist und lediglich die 4 Die Rückkehr des Don Fernand de Lara in sein Vaterland. Eine spanische Erzählung. Von Sophie Brentano. In: Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet. Frankfurt a. M.: Friedrich Wilmans 1804, S. 87 – 158. 5 Den Hinweis auf diese Geschichte aus dem zweiten Teil der »Novelas amorosas y exemplares« hat Irene Albers (Berlin) gegeben. – In der Ausgabe Madrid 1734, findet sich diese Geschichte auf S. 287a bis 308b. Gerade in dieser Ausgabe gibt es in dem hier entscheidenden Teil mit der falschen Angabe der Nacht und dem nicht markierten Beginn der Binnenerzählung die Schwierigkeit, die Geschichte überhaupt zu finden. 6 Maria. Eine Novelle. In: Taschenbuch für das Jahr 1806. Der Liebe und Freundschaft gewidmet. Frankfurt a. M.: Friedrich Wilmans 1805, S. 47 – 84. 7 von Gersdorff, Dagmar (1984): Dich zu lieben, kann ich nicht verlernen. Das Leben der Sophie Brentano-Mereau. Frankfurt a. M.: Insel, S. 431. 8 Schwarz, Gisela (1991): Literarisches Leben und Sozialstrukturen um 1800. Zur Situation von Schriftstellerinnen am Beispiel von Sophie Brentano-Mereau geb. Schubart. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1254), S. 150, Anm. 64. 9 von Hammerstein, Katharina (1994): Sophie Mereau-Brentano: Freiheit – Liebe – Weiblichkeit. Trikolore sozialer und individueller Selbstbestimmung um 1800. Heidelberg: Carl Winter (Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte. 3. Folge 132), S. 92 f., S. 305. 10 »Maria« erscheint im gleichen Publikationsorgan wie »Die Rückkehr des Don Fernand de Lara in sein Vaterland«; die zeitliche Übereinstimmung in der Veröffentlichung mit den beiden anderen Publikationen Sophie Mereaus aus dem Spanischen ist auffällig; Sujet, Handlungsort, inhaltliche Besonderheiten begründen die Annahme, auch diese Erzählung dürfe mit Mereau in Verbindung gebracht werden. Dies hat sich aber nach eingehender Untersuchung nicht bewahrheitet.

Sophie Mereau und Clemens Brentano

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Absicht Sophie Mereaus verrät, weitere Bände erscheinen zu lassen.11 Sophie Mereau ist jedoch 1806 gestorben und der Verleger der Reihe, Dienemann in Penig, ist im selben Jahr in Konkurs gegangen. Die beiden Bändchen »Spanischer Novellen«, die Mereau 1804 und 1806 herausgibt, sind die einzige geschlossene Übersetzung der ersten acht Erzählungen von Maria de Zayas ins Deutsche. Das Titelblatt der Reihe »Spanische und Italienische Novellen« trägt den Zusatz »herausgegeben von Sophie Brentano«. Das zweite Titelblatt hat folgende Angabe: »Die lehrreichen Erzählungen und Liebesgeschichten der Donna Maria de Zayas und Sotomayor. Erster Band«. Bei Durchsicht sämtlicher Publikationen von Sophie Mereau ergibt sich ein reiches Spektrum an Selbstbezeugungen. Nur gelegentlich sind jedoch Art und Umfang der jeweiligen Tätigkeit deutlich deklariert. Das erste Titelblatt präsentiert hier also den Namen der Reihenherausgeberin, hingegen keinen eines Bandherausgebers oder Übersetzers, die auf dem zweiten hätten platziert werden müssen.12 Die Zeitgenossen haben beim Erscheinen des ersten Bandes in Mereau auch die Übersetzerin gesehen.13 Diese Zuschreibung ist in der literaturhistorischen Kontroverse um den Inhalt und die Präsentation der Novellen nicht einhellig bestätigt worden. Die Clemens-Brentano-Forschung hat seit Reinhold Steig14 (1894) Clemens Brentano als Übersetzer angenommen. Antipode in dieser Frage ist Helene M. Kastinger Riley15 (1986), für die die bisherigen Forschungsergebnisse Konsequenz männlicher Vorurteile sind. Sie schließt ihrerseits aufgrund der inhaltlichen Analyse der ersten zwei Geschichten des ersten Bandes aus, dass Brentano überhaupt ein Interesse an der Übersetzung dieser Erzählungen gehabt haben könnte.16

11 Im Folgenden daher nur noch »Spanische Novellen«. 12 Die Verhältnisse sind beim zweiten Band (1806) ganz analog, der noch ein Vorsatzblatt mit dem Text »Novellen. Zweiter Band« hat. 13 Vgl. die Rezension in »Der Freimüthige und Ernst und Scherz«. In: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke. Bd. 13: Spanische Novellen und Der Goldfaden. Hg. v. Heinz Amelung und Carl Schüddekopf. München / Leipzig: Georg Müller 1911, S. VIII – X. 14 Steig, Reinhold / Grimm, Hermann (Hg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1: Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bearb. v. Reinhold Steig. Stuttgart: J. G. Cotta 1894, S. 158. 15 Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse. Sechs Essays über künstlerisch schaffende Frauen der Goethezeit. Columbia, SC: Camden House (Studies in German literature, linguistics, and culture 8), S. 55 – 88, S. 187 – 197. 16 Ebd., S. 88: »Die beiden besprochenen Novellen sind repräsentativ für Thematik und Tendenz des von Mereau übersetzten Teils und die geringfügige Abweichung vom Original läßt darauf schließen, daß es Mereau weniger um eine Um- oder Nachschöpfung ging, sondern vor allem um eine Bekanntmachung des Sujets in deutscher Sprache.«

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2.

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Argumente für eine Zuweisung an Sophie Mereau oder Clemens Brentano

Das Namenargument Das Namenargument hat erstmals Steig (1894) als beweisstützendes Kriterium in die Diskussion um die Übersetzerschaft eingeführt. Mereau richtet am 14. September 1803 an Brentano folgende Bitte: Wir [Schiller und Mereau] besetzten die Rollen [im »Cid« von Corneille] gemeinschaftlich und waren sehr lustig; doch hat er mir versprochen, meinen Namen zu verschweigen, und außer ihm und Dir soll niemand etwas davon wissen. Ich muß nun aber wegen der Aufführung noch manches darin verändern, und das ist mir leider wieder eine neue Arbeit. Auch bitte ich Dich, als mein Orakel, zu dem ich in allen Fällen meine Zuflucht nehme, mir einen wohllautenden, spanischen, dreisilbigen weiblichen Namen17 zu verschaffen, den ich anstatt Chimene setzen kann, denn dieser will Schiller durchaus nicht gefallen. Ich erwarte diesen Namen in Deinem nächsten Brief zuversichtlich.18

Am 22. September antwortet dieser. Er entschuldigt sich fast für die geringe Auswahl: Spanische Namen der Art sind rar, folgende sind alle wirklich spanisch, Lisarda, E s t e l a , Zelima, Serena, Laurela, Clavela, Florinda, Jacinta. Weiter fällt mir jetzt keiner ein, die unterstrichenen klingen ganz artig.19

Steig und weitere Forscher nach ihm, die Sophie Mereau von der Übersetzerschaft ausschließen wollen, argumentieren, dass Mereau, sofern sie die Novellen der Maria de Zayas übersetzt habe, die Namenfrage selbst habe lösen können und müssen. Steig beendet seine Überlegungen folgendermaßen: »[U]nter den von Clemens vorgeschlagenen Namen befinden sich Lisarda und Jacinta; beide, im ersten Theile der Novellen sehr häufig, waren also der ›Herausgeberin‹ unbekannt.«20 Gegen Steig wird man einwenden müssen, weshalb Mereau sich nicht an ihren Mann wenden sollte, wenn offenbar Schiller ihre Vorschläge nicht akzeptiert hatte, aber sie seinen Vorbehalt gegen den Namen Chimene selbst nicht erledigen konnte. Das ist also kein Beweismittel gegen Sophie Mereau. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass auch Brentano die Frage für nicht einfach 17 Hervorhebung von Britta Hannemann. 18 Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau. Nach den Handschriften hg. v. Heinz Amelung. Potsdam: Rütten & Loening 1939 (Nachdruck der 1. Ausgabe Leipzig: Insel 1908), S. 197 f. 19 Ebd., S. 216. 20 Steig, Reinhold / Grimm, Hermann (Hg.): Achim von Arnim und Clemens Brentano (Anm. 14), S. 356, Anm. 158.

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erklärt und einräumt, nicht beliebige Namen nennen zu können. Er hebt nicht die beiden Namen hervor, die in den Novellen vorkommen, sondern sucht nach anderen Lösungen. Eine Beweiskraft des Namenargumentes ist nicht gegeben, wenn man überlegt, welche Namen noch in der Sammlung (mit den drei ersten Erzählungen) vorhanden sind, auf die auch Clemens Brentano nach der Argumentation Steigs hätte kommen müssen: Aminta21, Helena, Mathilda, Luisa, Maria, Marzella. Hieraus kann viel eher gefolgert werden, dass entweder die Übersetzung noch nicht begonnen wurde oder zu weit zurück lag, so dass keinem von beiden das Namenreservoir der Geschichten zur Verfügung stand. Es ist auch möglich, dass Mereau diese Namen als untauglich ansah, weil sie befürchtete, die Wünsche Schillers nicht zufrieden stellen zu können.

Sophie Mereaus Kenntnis des Spanischen Bis auf Steig ist bisher von keinem anderen Forscher bezweifelt worden, dass Mereau ausreichende Kenntnisse des Spanischen gehabt habe22 und daher als Übersetzerin aus dem Spanischen nicht in Frage komme. Dagmar von Gersdorff zählt ohne Nachweis die Sprachen auf, aus denen Sophie Mereau übersetzt haben soll: Beide Töchter23 erhielten eine für damalige Zeiten hervorragende Ausbildung. Sie wurden nicht nur im üblichen Zeichnen, Singen und Klavierspielen unterrichtet, sondern vor allem in den modernen Sprachen, so daß später beide Schwestern in der Lage waren, Literatur aus dem Französischen, Italienischen, Spanischen und Englischen zu übersetzen.24

Kastinger Riley geht auf die Spanischkenntnisse leider nur apodiktisch ein, indem sie schreibt: »Mereau übersetzte sowohl aus dem Englischen, wie aus dem Italienischen (›Fiammetta‹), aus dem Französischen, wie aus dem Spanischen.«25 Dazu gibt sie eine Fußnote, in der sie als Beleg die Erzählung »Die Rückkehr des Don Fernand de Lara in sein Vaterland« anführt. Anders jedoch als beim Italienischen und Französischen – hier sind Sophie Mereaus Sprachkenntnisse jeweils belegt, weil sie nachweislich aus diesen Sprachen übersetzt hat – verhält es sich beim Spanischen. 21 Sie ist Titelfigur der ersten der »Spanischen Novellen«. 22 Vgl. bei Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse (Anm. 15), S. 80: »Die Übersetzung Clemens’ auf eine angenommene Unkenntnis Sophies des Spanischen basieren zu wollen, wie Steig dies tut, ist ebenfalls unzulässig.« 23 Damit sind Sophie Mereau und ihre Schwester Henriette Schubart (1769 – 1832) gemeint. 24 von Gersdorff, Dagmar (1984): Dich zu lieben, kann ich nicht verlernen (Anm. 7), S. 27 f. 25 Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse (Anm. 15), S. 80.

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Das Qualitätsargument Der erste Rezensent der »Spanischen Novellen« kommt zu einem vernichtenden Urteil.26 Die Rezensenten der »Zeitung für die elegante Welt«, Clemens Brentano und sein Freund Friedrich Börsch, werben hingegen um Verständnis für die Übersetzungsgrundsätze und für die gelungene Übertragung. Der Rezensent »GL.« der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« gelangt unumwunden zum Resultat, es handle sich »um eine wahre Verdeutschung« und lastet Mängel in den Texten der Vorlage von Maria de Zayas an.27 Mit Steigs Interesse einer Inanspruchnahme der Übersetzungsleistung für Brentano ist später fast automatisch die Neigung verbunden, der Übersetzung Hochachtung zu zollen.28 Er schreibt: Auf dem Titel des Buches steht zwar, die Novellen seien ›herausgegeben‹ von Sophie Brentano, was im engsten Wortsinne richtig sein mag. Die eigentliche Arbeit aber hat Clemens Brentano gethan, dessen Kunst sich auch in den prächtigen Gedichten zeigt, die der Novelle vom gewarnten Betrogenen, der ersten des zweiten Bandes, eingefügt sind.29

In einer Fußnote bekennt Steig zwar, dass ihm, als er »das Obige schrieb, nur der zweite Theil zugänglich« war, dass er aber »mit Sicherheit sagen« könne, dass »Sophie bloß ihren Namen unter das Werk gesetzt« habe.30 Kastinger Riley hat die vielen eingestreuten Gedichte untersucht und kommt zum Ergebnis, dass es sich bis auf ein kleines, sehr schlichtes Gedicht auf St. Georg aus acht Versen31 um originale Texte von Maria de Zayas handelt, von »prächtigen Gedichten« Brentanos daher nicht die Rede sein könne.32 26 Siehe dazu weiter unten Anm. 42. 27 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1/194 (14. August 1804), Sp. 300 – 303; Abdruck in: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke. Bd. 13 (Anm. 13), S. XX – XXIV. 28 Ausdruck dieses Respekts ist auch der separate Wiederabdruck von: Die lehrreichen Erzählungen und Liebesgeschichten von Donna Maria de Zayas y Sotomayor. Mit einem Nachwort v. Julio Alvarez de Vayo. Weimar : Gustav Kiepenheuer 1918 (Liebhaberbibliothek 48). Ebenso: Erotische Novellen: Exemplarische Liebesnovellen. Maria de Zayas y Sotomayor. Aus dem Spanischen v. Clemens Brentano. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Poppenberg. Frankfurt a. M.: Insel 1991 (insel taschenbuch 1369), wobei die Weimarer Ausgabe um die erste Geschichte gekürzt ist, die von 1991 den Textbestand von 1804/ 1806 reproduziert, aber nicht die unvollständige Ausgabe Sophie Mereaus komplettiert. 29 Steig, Reinhold / Grimm, Hermann (Hg.): Achim von Arnim und Clemens Brentano (Anm. 14), S. 158. Hervorhebung von Britta Hannemann. 30 Ebd., S. 356, Anm. 158. 31 Vgl. Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse (Anm. 15), S. 80: »St. Georg der schlanke, / St. Georg der blanke, / St. Georg der kranke / Sei all mein Gedanke; / St. Georg den wilden, / St. Georg den milden, / St. Georg mit Schilden / Will ich mir einbilden.« 32 Abweichend von Kastinger Riley ergibt die Analyse, dass in die dritte Geschichte zwei umfangreiche Gedichte eingefügt sind, deren Art und Qualität aber nicht so ist, dass sich

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Auch die im Original sehr verwickelte, auf drei Erzählebenen spielende erste Novelle – offenbar wegen ihrer Komplexheit schwer zu durchschauen – erhält schlechte Kritiken, so dass Amelung überlegt, ob nicht diese Geschichte von Mereau übersetzt sein könne. Brentano hat in seiner Rezension die Grundsätze der Bearbeitung knapp dargelegt, die eher in Richtung auf eine Übertragung zielen, da er als Vorteil der Übersetzung »Abkürzung der oft gedehnten Romanzen des Originals, Weglassung ganz leerer Gesänge [und die] gemäßigtere Behandlung des Hintergrundes« geltend macht.33 Das Votum von Marlen Bidwell-Steiner in einer vergleichenden Studie fällt hinsichtlich der Übersetzerleistung insgesamt positiv aus, wenn auch von ihr kleinere Missverständnisse und Ungenauigkeiten angemerkt sind.34 Inwieweit Ungleichheiten im Übersetzungsstandard verwertbar für eine Zuweisung an Mereau oder an Brentano sind, ist fraglich: Es wird besonders die erste Geschichte, welche stark verwickelt ist, kritisiert; aber dieser Text kann sowohl für Mereau als auch für Brentano ein Übungsfeld dargestellt haben, da keiner von beiden vor den »Spanischen Novellen« Prosa aus dem Spanischen übersetzt hat.

Inhaltlich-ideologische Tendenz der Erzählungen Die zuerst von Kastinger Riley vorgenommene Betrachtung der ersten zwei Erzählungen unter dem Aspekt ihres emanzipatorischen Gehaltes und die von ihr vorgelegten Ergebnisse haben sie zu dem Schluss geführt, dass man sich nicht vorstellen könne, Brentano habe die Auswahl gerade dieser Geschichten bei bewusster Realisierung ihrer brisanten Konstellationen und Folgerungen vorgenommen. Daher muss diskutiert werden, in welcher Weise das Erfordernis einer spanischen Textvorlage, das eventuelle Fehlen einer Alternativvorlage, die Verfremdung durch Ort und Zeit (im Abstand von fast 170 Jahren) den Leser Brentano dennoch haben bewegen können, von seinen persönlichen Vorlieben bis hin zu seinen fast weltanschaulich-dogmatischen Vorstellungen von der daraus ein Schluss auf Clemens Brentano oder Sophie Mereau gründen ließe. – Vgl. auch den ersten Rezensenten »A.–«, der sich über die Gedichte aus der ersten Geschichte lustig gemacht hat (vgl. Anm. 41, 42, 43). 33 Clemens Brentano: Sämtliche Werke. Bd. 13 (Anm. 13), S. XVII. 34 Bidwell-Steiner, Marlen (2000): Text – Kontext – Intertext. Eine Rekonstruktion semantischer Verschiebungen. Von Mar†a de Zayas’ »Novelas amorosas y ejemplares« zu den »Spanischen und Italienischen Novellen« von Clemens Brentano und Sophie Mereau. Dipl.Arbeit Wien, S. 116 – 118.

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Rolle der Frau abzusehen. In der ganzen Zeit seiner Bekanntschaft mit Mereau, erst recht nach der Eheschließung 1803, hatte Brentano Anstoß an der Selbständigkeit ihrer Lebensführung, ihrer umsichtigen Beschaffung des Lebensunterhaltes, aber auch ihren freizügigen Liebesbeziehungen genommen. Kastinger Riley fasst ihre Analyseergebnisse zur zweiten Geschichte folgendermaßen zusammen: Aminta will ihr Leben selbst leben, leiten und bestimmen und entledigt sich damit der männlichen Vormundschaft. Nichts weniger als das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Person wird gefordert. Symbolisch wird das ausgedrückt, indem Aminta Männerkleidung anzieht und diese bis zur Vollendung ihrer Rache nicht ablegt.35

Es stellt sich auch die Frage, ob Sophie Mereau die Verwandtschaft mit ihren eigenen Vorstellungen erkannt hat. Weshalb haben diese beiden ›spanischen‹ Bände kein editorisches Vorwort, nicht einmal eine knappe Notiz über die Vorlage, den Stoff, die Gründe für die Übersetzung? Weshalb hat die Publikation keine Empfehlung an den Leser, wie er mit diesen Geschichten umzugehen habe? Es ist ein verwunderlicher Punkt, dass sich Mereau diese zum Teil rasanten Erzählinhalte entgehen lässt. In der Tendenz ganz verwandt den Bemühungen Kastinger Rileys konstatiert Gerhard Poppenberg36 (1991) Konstellationen in den Novellen von Maria de Zayas, wie sie ähnlich dann auch wenig später Katharina von Hammerstein37 für die originalen Dichtungen Mereaus als Leitvorstellungen erarbeitet hat. Poppenberg zieht jedoch aus seinen Ergebnissen keine Schlüsse im Hinblick auf die Übersetzerfrage. Die inhaltlich-ideologische Interpretation kann ein Argument gegen Brentano als Übersetzer liefern, weil er – nach Meinung von Kastinger Riley – doch nicht so ›blind‹ gewesen sein kann, in einer Verbreitung dieser Texte seine täglichen Bemühungen einer ›konventionellen Mäßigung‹ der Vorstellungen von Mereau derart selbst zu konterkarieren. Das setzt aber voraus, dass die Textanalyse nicht allein das Original von Maria de Zayas, sondern auch seine Umsetzung ins Deutsche einbezieht und die auftretenden Differenzen benennt, wie das Bidwell-Steiner getan hat.

35 Vgl. Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse (Anm. 15), S. 86. 36 Erotische Novellen (Anm. 28), S. 313 – 329. 37 von Hammerstein, Katharina (1994): Sophie Mereau-Brentano: Freiheit – Liebe – Weiblichkeit (Anm. 9), S. 91 – 94, bes. S. 93, Anm. 130, S. 149.

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Das Stilargument Als Einzige hat sich bisher Bidwell-Steiner systematisch mit sprachlichen Fragen im Verhältnis der acht von Mereau herausgegebenen Novellen zu den »Novelas« von Maria de Zayas beschäftigt. Sie kommt zu folgendem Resultat: Insgesamt bleibt am deutschen Text die zugrundeliegende Motivation unklar. Stellenweise wirkt er wie eine stilistische Fingerübung, dann überwiegt wieder die Lust an völligen Neuschöpfungen. Deshalb wirken die »Spanischen Novellen« auch nicht wie ein einheitliches Corpus, sondern wie eine Sammlung divergierender Texte. Wie die Analyse zeigt, ist den einzelnen Novellen auch kein durchgängiges Übersetzungskonzept anzumerken. Manche geraten so frei, daß sie am besten mit Nachdichtung charakterisiert werden, manche strapazieren die Übertragungstreue derart, daß der deutsche Text seltsam antiquiert wirkt. […] Die These von der zweifachen Autorschaft wird durch ein winziges, aber keineswegs unwichtiges Detail zusätzlich gestützt: In der zweiten Novelle wird »martes« richtig mit Dienstag wiedergegeben, in der dritten zweimal fälschlich mit Mittwoch. Freilich könnte es sich dabei um einen Flüchtigkeitsfehler handeln. Die konkreten Textstellen betreffen aber jeweils eine idente Sentenz, wonach der Dienstag Unglück bringe, weshalb eine derartige Fehlleistung kaum vorstellbar ist. Ich glaube vielmehr, daß Brentano zwar das Werk zur Gänze übersetzen wollte, aber mit der dritten Novelle begann und nach der sechsten das Interesse an der Arbeit verloren hatte.38

Die wechselnden Äußerungen Brentanos Brentano äußert sich in seinem Brief an Achim von Arnim vom Dezember 1805 völlig anders im Vergleich mit seiner Rezension vom Sommer 1804 in der »Zeitung für die elegante Welt«. Damals hatte er geschrieben: »Die talentvolle, von ihren Lesern geliebte, und von würdiger Kritik bis jetzt stets würdig behandelte Uebersetzerin begann die Verdeutschung dieser Novellen«39. Und am Ende der Rezension resümiert er : »Ich war obige Anzeige der Spanierin, der Uebersetzerin und dem Leser schuldig.«40 In seiner ausführlichen Besprechung des Buches bezeichnet Brentano noch zweimal Sophie Mereau ausdrücklich als »Uebersetzerin«. Hingegen schreibt er am 23. Dezember 1805, nach Erscheinen des zweiten Bandes, in einem mehrere Seiten umfangreichen Brief an Achim von Arnim folgende Passage:

38 Bidwell-Steiner, Marlen (2000): Text – Kontext – Intertext (Anm. 34), S. 116 f. 39 Hervorhebung von Britta Hannemann. 40 Zeitung für die elegante Welt 4/82 (10. Juli 1804), Sp. 652 – 655, hier Sp. 652, Sp. 654.

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Der spanischen Novellen zweiter Band ist endlich da, dabei meines Verlegers Klage über schlechten Abgang […], ich hoffe sie werden dich angenehmer unterhalten, als die ersten, denn ich habe sie freier gehalten, die erste [dieses Bandes] sogar hie und da mit einiger Liebe behandelt […].41

Die Lage ist unter Berücksichtigung dieser divergierenden Äußerungen Brentanos unklar. Bedauerlicherweise gibt es von Mereau keine Stellungnahme. Bereits im April/Mai 1804 (zur Frühjahrsmesse in Leipzig) entwickelt sich ein regelrechter ›Rezensentenkrieg‹ um dieses Buch. Ein Anonymus, der mit »A.« unterzeichnet, der Mereau für die Autorin der Geschichten hält, kommt im »Freimüthigen« zu einem Totalverriss. Er schreibt seine umfangreiche Rezension mit generellen Bemerkungen gegen schreibende Frauen und wendet sich auch den »Novellen« zu: »Amanda und Eduard« ist erträglich, – die Margarethenhöhle, höchst mittelmäßig, – um mich noch sehr gelind auszudrücken; – von diesen Novellen kann und muß ich zur Steuer der Wahrheit sagen, daß sie leider! recht schlecht sind.42

Brentano verzichtet in seiner Rezension in der »Zeitung für die elegante Welt« wahrscheinlich deshalb auf eine Offenlegung der verwickelten Anteile am ersten Band der Novellen, weil er seine Auseinandersetzung mit dem Rezensenten »A.« des »Freimüthigen« nicht als unmittelbar Betroffener führen will. Die Fehde zwischen dem Anonymus einerseits und Börsch / Brentano andererseits scheint nämlich auch eine Kontroverse zwischen den beiden Blättern zu sein, dem »Freimüthigen« auf der einen und der »Zeitung für die elegante Welt« auf der anderen Seite, die anlässlich der »Spanischen Novellen« ausgetragen wird oder wieder aufflammt. Der Grund dafür könnte Brentanos »Gustav Wasa« (1801) sein, denn diese Literaturkomödie ist eine Kotzebue-Persiflage auf dessen gleichnamiges Schauspiel. August von Kotzebue aber ist einer der Herausgeber des »Freimüthigen«. »Der große A.«, von Börsch in seiner Erwiderung auf »A.« als das »große A(mphibion)« apostrophiert, das sich ermutigt habe, »das 133ste abgemergelte Stückpferd seines Aristides abermals zu besteigen«, ist vermutlich August von Kotzebue selbst.43 – Steig hat folglich trotz seiner Unkenntnis des wahren Sachverhaltes mit dem Satz: »Brentano wird seine Gründe gehabt haben,

41 Schultz, Hartwig (Hg.): Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe. Bd. 1: 1801 – 1806; Bd. 2: 1807 – 1829. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 (Die andere Bibliothek), hier Bd. 1, S. 322 f. Hervorhebung von Britta Hannemann. 42 Der Freimüthige 2/118 (14. Juni 1804), S. 469 f., hier S. 469b. 43 Wahrscheinlich klärt niemand dieses Namenskürzel aus Vorsicht auf. – von Gersdorff, Dagmar (1984): Dich zu lieben, kann ich nicht verlernen (Anm. 7), S. 350, nennt in diesem Zusammenhang ohne Nachweis und ohne Präsentation des Zusammenhangs den Namen Kotzebues.

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warum er die Novellen nicht unter seinem Namen erscheinen ließ«, Richtiges getroffen.44

3.

Die unterschiedliche Entstehungssituation der Novellen-Bände

Die Widersprüchlichkeit in den Aussagen von Brentano lässt sich auflösen, wenn die Zeitpunkte und der jeweilige Band berücksichtigt werden, auf den sich die Äußerungen beziehen. Daher scheint es von vornherein angezeigt, in der Übersetzerfrage zwischen den beiden Bänden von 1804 und von 1806 (tatsächlich Dezember 1805) strikt zu unterscheiden. Den zweiten Band reklamiert Brentano für sich als eigene Übersetzung. Es gibt Gründe, welche die Richtigkeit seiner Aussage stützen können: Er macht ab August 1805 in Wiesbaden eine Kur und schreibt daher an Mereau, dass er sich »zum Zeitvertreib wieder an die Novellen […] machen« wolle.45 – Hingegen hat Mereau die Geburt ihrer Tochter am 13. Mai und deren schnell folgenden Tod am 17. Juni zu bewältigen. Außerdem ist sie bald wieder schwanger.46 Mereau und Brentano haben Achim von Arnim zu Gast und machen zusammen eine Rheinreise (8. bis 25. September 1805). – Mereau übersetzt ab Juli intensiv den umfangreichen Roman »Fiammetta« von Boccaccio und bereitet eine Reihe weiterer Publikationen vor.47 Es ist nicht wahrscheinlich, dass sie Zeit und Muße für die Übersetzung der vierten bis achten Novelle der »Spanischen Novellen« gefunden haben könnte. Anders ist die Situation beim ersten Band: Seit Ende November 1803 sind Mereau und Brentano verheiratet und leben gemeinsam in Marburg – zumindest räumlich eine gute Voraussetzung für eine enge Zusammenarbeit. Das Konzept für das Buch wird schon vor Vertragsabschluss mit Dienemann in der Weise bestanden haben, wie es dann realisiert worden ist.

44 Steig, Reinhold / Grimm, Hermann (Hg.): Achim von Arnim und Clemens Brentano (Anm. 14), S. 356, Anm. 158. 45 Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau (Anm. 18), S. 387. 46 In zwei Ehen hatte Sophie Mereau fünf Kinder, verlor aber alle außer der Tochter Hulda Mereau (aus der Ehe mit Karl Mereau). 47 Vgl. die Druckvorbereitungen zu ihren Texten: »Die Flucht nach der Hauptstadt« und »Julie von Arwian«.

276

4.

Britta Hannemann

Die zweibändige Novellenausgabe von Sophie Mereau

Die Bände, sowohl der von 1804 wie der von 1806, werden sehr karg präsentiert, indem sich die Herausgeberin darauf beschränkt, auf dem Titelblatt unmittelbar hinter dem Buchtitel den Namen der Autorin Maria de Zayas zu nennen und dann die Übersetzungen ohne jede Kommentierung abzudrucken. Es fehlt jegliches editorische Beiwerk, wie es in Gestalt einer orientierenden Vorbemerkung mit Hinweisen auf den umfassenden Reihentitel des Bandes (»Spanische und Italienische Novellen«48), auf die Autorin, die übersetzte Vorlage, Intentionen der erstmaligen Verdeutschung und Veröffentlichung, auf die Übersetzungsgrundsätze angemessen wäre. Es fehlt der Hinweis, dass es sich hier um die ersten drei aus einem Zyklus von insgesamt zehn Erzählungen handelt, die obendrein in eine Rahmenhandlung eingebettet sind. Es fehlt auch ein Hinweis darauf, dass damit eine Reihe begründet werden soll, in der weitere Bände geplant sind. Es fehlt jeglicher Hinweis auf den oder die Übersetzer. Im Prinzip liefert Brentano nachträglich mit seiner Rezension in der »Zeitung für die elegante Welt« einen wesentlichen Teil dieser dem Band fehlenden »Vorbemerkung«. Trotz extremer Sparsamkeit in den Informationen wird immerhin der Name der spanischen Autorin mitgeteilt, was kurioserweise den Verlag nicht davon abhält, den ersten Band (in Teilen der Auflage) auch noch mit dem Reihentitel »Journal von neuen deutschen Original-Romanen«49 zu versehen. Denkbar immerhin, dass die Missverständnisse des ersten Rezensenten daher rühren. Der Rezensent »GL.« der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« erwähnt hingegen diese Merkwürdigkeit am Schluss seines Beitrags.50 – Durch die unzureichende editorische Instruierung entstehen erhebliche Erschwernisse für das Verständnis der Geschichten beim Leser. Bisher ist in der Forschung primär die problematische ›technische‹ Behandlung des Rahmenzyklus der Maria de Zayas noch nicht berücksichtigt worden. Diese kunstvoll gerahmte Reihe von zehn Erzählungen, die den ersten Band der »Novelas amorosas« von Maria de Zayas bilden, wird von Mereau folgendermaßen zerstückelt: Band eins umfasst die Erzählungen eins bis drei, 48 Hervorhebung von Britta Hannemann. 49 Hervorhebung von Britta Hannemann. – Im gleichen Jahrgang als siebte Lieferung erscheint in dieser Reihe: »Nachtwachen. Von Bonaventura«. 50 Vgl. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 1/194 (Anm. 27), Sp. 303: »Wie der liberale Verleger dazu bewogen worden, dieser Schrift außer ihrem eigenthümlichen Titel noch den ›neue deutsche Original-Romane‹ beyzugeben, oder vielmehr, dieselbe unter jene Sammlung zu stecken, begreifen wir nicht. Der auf dem Umschlag angegebene Grund ist kein Grund: wie könnte auch irgend ein Grund die Verdeutschung spanischer Novellen zu einem deutschen Original-Roman machen? Und Werke einer Dichterin, wie diese, bedürfen keines merkantilischen Aushängeschildes.«

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Band zwei die Erzählungen vier bis acht; die restlichen zwei Erzählungen werden kommentarlos fortgelassen. Die beiden Bände erscheinen im Abstand von anderthalb Jahren. Wer nur die deutsche Ausgabe Mereaus betrachtet, dem entgeht ein emanzipatorischer Text, den die spanische Erstausgabe des ersten Bandes der »Novelas amorosas« von 1637 enthält, nämlich »Al que leyere«, eine Vorrede an den Leser. Maria de Zayas geht darin von einem radikalen Gleichheitsansatz in der Interpretation der Geschlechter aus und behauptet, dass es die ständig registrierbaren Unterschiede nicht gäbe, wenn man uns nämlich bei unserer Erziehung, wie man uns Nähkissen und Stickrahmen gibt, auch Bücher und andere Unterweisung gäbe […], dann wären wir gerade so geeignet für Ämter und Lehrstühle wie die Männer. Und vielleicht wäre unser Verstand sogar noch schärfer, denn er ist dem feuchten Element zugeordnet und die Frauen sind von Natur aus kälter.51

Die Vorrede nimmt einen besonderen Realitätsbezug insofern vor, als sie sich an die ›moralischen‹ Impulse älterer Literatur anschließt, aber Partei für das bisher verkannte Ingenium der Frau ergreift und soziale Gründe gegen herrschende Meinungen angibt, die Frau sei von Natur so, wie sie sozial in Erscheinung trete. Der Leser wird also im Original von vornherein mit zentralen Autorintentionen bekannt gemacht. Es wird ihm eindringlich gesagt, dass die Geschichten einen politischen Zweck verfolgen und sich nicht in ihrem Unterhaltungswert erschöpfen. Diese ›Vorrede‹ fehlt in der von Mereau und Brentano als Vorlage benutzten Ausgabe, die 1764 erschienen ist,52 so dass Erwägungen, es könne Gründe für einen Verzicht gegeben haben, sich erübrigen. Der Verzicht auf die Übersetzung des weiteren Prologs (»Prûlogo de un desapasionado«), den die Vorlage enthalten hat, entzieht dem Leser eine weitere Möglichkeit der Orientierung über die Zielsetzungen der Autorin Maria de Zayas.

51 Der Text lautet im Original: »Porque si en nuestra crianza, como nos ponen el cambray en las almohadillas y los dibujos en el bastidor, nos dieran libros y preceptores, fu¦ramos tan aptas para los puestos y para las c‚tedras como los hombres, y quiz‚ m‚s aguedas, por ser de natural m‚s fr†o, por consistir en humedad el entendimiento […].« Olivares, Juli‚n (Hg.): Mar†a de Zayas y Sotomayor. Novelas amorosas y ejemplares. Madrid: Catedra 2000 (Letras hisp‚nicas 482), S. 160. 52 Novelas exemplares y Amorosas de Donna Maria de Zayas. 1.2. Parte. Barcelona 1764. Sigle: ›Barcelona 1764‹.

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5.

Britta Hannemann

Maria de Zayas’ Novellenzyklus und Strukturskizze

In Deutschland ist Maria de Zayas mit ihren Erzählzyklen bis auf den heutigen Tag im literarhistorischen Bewusstsein kaum vorhanden. Es dominiert Cervantes heute wie um 1800, von dessen »Don Quichote« Ludwig Tieck in den Jahren 1799 bis 1801 eine erste vollständige Übersetzung vorgelegt hat; auch Calderûn wird damals dem deutschen Leser zugänglich gemacht. Insofern stellt die Präsentation der »Spanischen Novellen«, die bis dahin nur dem Spezialisten bekannt gewesen sind,53 eine besondere Tat dar. Maria de Zayas ist in den letzten Jahrzehnten mit ihren emanzipatorischen Einsichten in das Blickfeld feministischer Forschung getreten; die Erzählzyklen verdienen jedoch gleichermaßen große Beachtung unter dem Gesichtspunkt ihrer artifiziellen Faktur. Es handelt sich bei den »Novelas amorosas« von Maria de Zayas um ein kunstvoll verwobenes Geflecht aus Rahmen und einzelnen Erzählungen. Das zentrale Muster für die zyklische Rahmenerzählung ist Boccaccios »Decamerone« (1348 – 1353), worin insbesondere der Gesellschaftsbezug der Rahmenerzählung deutlich wird. Der Rahmen hält bei Boccaccios Text die sehr verschiedenen, auseinanderstrebenden Novellen als eine Einheit zusammen. Die Leser sollen ihn für eine wahre Geschichte halten. Dennoch wirkt er durch den strengen Stil als von der Realität distanziert, während die Novellen den Lesern mit allen Mitteln der Wirklichkeit nahegebracht werden. Bei Boccaccio bilden Pest und Unwetter Anlass der Zusammenkunft, bei Maria de Zayas – der Rahmen unterscheidet sich hier signifikant von den Vorbildern – ist es die Erkrankung der Gastgeberin. Den Hauptrahmen bildet die Handlung der »Introducciûn«. Für die zyklische Rahmenerzählung typisch ist das Erzählen, das ausgerichtet ist auf ein didaktisches oder unterhaltendes Ziel. Dieses haben alle Erzählfiguren im Zayas-Text gemeinsam: In der »Introducciûn« wechseln sich die Frauen mit den Männern im Vortrag der zu erzählenden Geschichten ab. Es ist Weihnachten und mehrere junge Leute – alle schön, reich und kultiviert – wollen einen Ball veranstalten, auch tanzen, singen und die erkrankte Gastgeberin Lisis aufheitern, deren Krankheit psychosomatisch erklärt wird. Lisis Mutter Laura legt die Reihenfolge der Redebeiträge fest. Sie fordert die Freundinnen von Lisis, Lisarda und Mathilde, zur Unterhaltung in der ersten Nacht auf, da ihre Tochter zu geschwächt ist. Das Rahmenerzählprinzip funktioniert an den fünf Abenden nach festge53 Brentanos Äußerungen über die Schwierigkeit, biographische Informationen zu Maria de Zayas zu gewinnen, kennzeichnen die Situation um 1800 treffend: »Von den nähern Lebensumständen der Spanierin konnte Sie, selbst durch die Beihülfe gütiger Freunde an der Göttinger und Gothaischen Bibliothek, nichts erfahren, als daß Lope de Vega, das fruchtbarste Genie Spaniens, das Andenken der Dame, in Laurei Apollinis octava sylva mit folgendem Liede gefeiert hat«. In: Zeitung für die elegante Welt (Anm. 40), Sp. 653.

Sophie Mereau und Clemens Brentano

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legten Regeln, so dass Lisarda und Mathilde in der ersten Nacht je eine Geschichte vortragen, Don Alvaro und Don Alfonso in der zweiten Nacht, Nise und Filis in der dritten, Don Miguel und Don Lope in der vierten und Laura selbst – mit der Unterstützung Don Juans – in der fünften und letzten Nacht. Es finden sich aber bei Maria de Zayas’ Text noch mehrere Rahmen bzw. Rahmenhandlungen. Insgesamt betrachtet entwirft sie Erzählperspektiven mit komplizierten Verschachtelungen, die einer mise en abyme gleichkommen. Ihre »Novelas amorosas« sind sogar vierfach gerahmt: Die beiden Prologe, »Al que leyere« und »Prûlogo de un desapasionado«, suchen die Verständigung mit dem männlichen Leser (in einem Plädoyer für die Frauen) und dem Leser überhaupt und stellen damit gleichsam den ersten Rahmen dar. Der zweite Rahmen – eine regelmäßig unterbrochene, aber dennoch sich weiterentwickelnde Erzählung, die »Introducciûn« – thematisiert den um die Gastgeberin versammelten Freundeskreis und dessen Interessen. Die Novellenumrahmung, die der Erzähler vor seinem Eintritt in ›seine‹ Geschichte an die Adresse seiner tatsächlichen Zuhörer moderierend gibt, bildet den dritten Rahmen. Jede der zehn Novellen, welche von den Freunden vorgetragen werden, stellt für sich insgesamt einen vierten Rahmen dann dar, wenn eine Figur dieser Erzählung ihrerseits an die Adresse weiterer Figuren zu erzählen anfängt. Die Erzählperspektiven sind bei allen Rahmungen unterschiedlich: In den beiden ersten Texten (»Al que leyere« und »Prûlogo de un desapasionado«) wendet sich die Autorin Maria de Zayas an ihre Leser, die sie klassifiziert. In der zweiten Rahmenerzählung, der Einleitung (»Introducciûn«), führt ein auktorialer Erzähler, der den Leser bis zur letzten Novelle begleitet, die Sprecher ein und beschreibt ihre Liebesbeziehungen untereinander. Die dritte Erzählebene ist die der Sprecher, der Freunde von Lisis also. In der vierten melden sich die Protagonisten gelegentlich selbst zu Wort und erzählen ihre Geschichten. Anlass und Thema der Erzählungen fallen in eins, denn Maria de Zayas untermauert das Thema des Liebes-engaÇos, indem sie die zehn Novellenhandlungen durch die elfte des Rahmens ergänzt (bei Mereau sind es nur acht). Die Parallelität von Rahmen und Novellen wird zusätzlich durch Blöcke lyrischer Texte akzentuiert. Sowohl die strukturelle als vor allem auch die inhaltliche Analyse der Geschichten würde den Rahmen der ganz andersartigen Fragestellung hier sprengen.54 Die zentrale Thematik ist die Liebe, doch erscheint sie so vielfältig, wie Personen der drei Handlungsebenen sich um sie bemühen. Jede Erzählung hat grundlegende Bedeutung für die anderen Erzählebenen. Die Verzahnung geschieht hier, aber auch in anderen »Novelas« dadurch, dass sich die auf un54 Vgl. Bidwell-Steiner, Marlen (2000): Text – Kontext – Intertext (Anm. 34), die zu allen zehn Geschichten ausführliche Interpretationen unter Berücksichtigung der einschlägigen Forschung vorgelegt hat.

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terschiedlichen Ebenen agierenden Figuren nicht sämtlich fremd sind, sondern die Wirklichkeit der einen Ebene in die einer anderen hineinragt. Grundsätzlich kann das nur funktionieren, weil die Erzählungen nicht immer in der Vergangenheit spielende Ereignisse wiedergeben, die also lediglich Exempelwert besitzen würden, sondern aktuell und damit mehreren Figuren anderer Ebenen bekannte Gegenwart sind. Die »Novelas« haben hinsichtlich der Handlungsebenen im Wechsel einen männlichen bzw. weiblichen Erzähler, der gelegentlich eine weitere auktoriale Erzählinstanz einsetzt. Sie handeln von der Unbeständigkeit der Frauen, von treuer und untreuer Liebe, aber auch davon, wie sich Frauen schutzlos in der Männerwelt behaupten müssen.

6.

Die »Novellen« – eine Gemeinschaftsarbeit verwickelter Art

Nach Auswertung des vorliegenden Materials und der bisherigen Klärungsansätze erscheint es wahrscheinlich, dass es sich bei der Übersetzung der »Spanischen Novellen« um eine irgendwie geartete Gemeinschaftsarbeit Sophie Mereaus mit Clemens Brentano handeln muss. Die Typen von ›Gemeinschaftsarbeit‹ könnten so aussehen: Jeder nimmt sich eine Geschichte vor und übersetzt sie komplett. Denkbar ist aber auch ein Verhältnis von Basisübersetzung des einen und Bearbeitung durch den anderen. Ebenso kann die Aufteilung darin bestehen, Prosa durch den einen, Gedichte durch den anderen zu übersetzen, was allerdings ein sehr enges Kooperationsverhältnis voraussetzt. Auch ist denkbar, dass auf eine Orientierung und erste Übersetzung eine Überarbeitung anhand einer spanischen Ausgabe gefolgt ist. Dies ist auch in Kombination sowohl mit der ersten wie mit der zweiten Möglichkeit realisierbar.55

›Romantische Symbiose‹ Poppenberg hat die These vertreten, die Suggestion eines Gemeinschaftswerkes, ablesbar bei den »Spanischen Novellen« an einem ungekennzeichneten Vermischen von Arbeitsanteilen, resultiere vielleicht aus dem Streben nach einer 55 Ein Blick auf das originale ›Gemeinschaftswerk‹ »Der Sänger« bietet möglicherweise ein Modell zum Verständnis dieses Problems. Vgl. Lubkoll, Christine (1994): Männlicher Gesang und weiblicher Text? Das Verwirrspiel der Autorschaft in Clemens Brentanos »Der Sänger«. In: Schabert, Ina / Schaff, Barbara (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin: Erich Schmidt (Geschlechterdifferenz & Literatur: Publikationen des Münchener Graduiertenkollegs 1), S. 191 – 211.

Sophie Mereau und Clemens Brentano

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»romantischen Symbiose«56. Diese These ist von ihm mit allgemeineren, nicht speziell auf die »Spanischen Novellen« bezogenen Äußerungen Brentanos gestützt worden und dient dem Bemühen, die offensichtlichen Widersprüche in Brentanos Äußerungen zu den »Spanischen Novellen« verständlich zu machen. Doch ist dem entgegenzuhalten, dass Brentano, der sehr herrschsüchtig57 und reichlich eifersüchtig auf Mereaus literarische Erfolge gewesen ist, ihr obendrein die Qualifikation für eine literarische Tätigkeit abgesprochen hatte,58 kaum darauf bedacht gewesen sein kann, an ihrem Ruhm mitzuarbeiten. Die erste, negative Rezension der »Spanischen Novellen« war ja vorher nicht absehbar. So gänzlich entgegengesetzt dem Motto, »was Dein ist, soll auch mein sein«, ist Brentanos Verhalten in der Zeit des Erscheinens des zweiten Bandes »Spanischer Novellen«. Brentano bemüht sich, Arnim als Herausgeber der »Fiammetta« zu gewinnen. Mereau arbeitet im Sommer 1805 bereits intensiv an der Übersetzung59, was Brentano wegen der Ähnlichkeit der Romaninhalte mit ihrer beider Lebensgeschichte beunruhigt. Daher veranlasst er Arnim, in seinem Auftrag beim Verleger Reimer in Berlin vorzufühlen. Aber der wehrt nach der brieflichen Aussage Arnims (26. Januar 1806) ab: Wegen dieser Fiametta habe ich mit Reimer gesprochen, ihm schien das Unternehmen lieb, nur wollte er auf jeden Fall vorher das Manuscript sehen; auch wenn er es nicht 56 Poppenberg, Gerhard (1991): Erotische Novellen (Anm. 28), führt in seinem Nachwort (ebd., S. 326 f.), als Beleg für seine These den Brief Brentanos vom 8./9. September 1803 (seinem 25. Geburtstag) an. 57 Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse (Anm. 15), S. 189, Anm. 13, zitiert aus einem Brief Charlotte von Ahlefelds folgenden Passus: »[Clemens Brentano] entbrannte in dem heftigsten Zorne gegen sie, die da gewußt hatte, daß er das Reiten für Frauen nicht liebe. […] [Er] habe sie verflucht und sich auf die Erde geworfen und die Haare ausgerissen. Nur ihr Bitten und Thränen und das Versprechen, nie wieder ein Roß zu besteigen, konnte ihn besänftigen.« – Nachdem Brentano Mereau die in Marburg angemietete Wohnung verlockend beschrieben hat, kann er es, wenige Wochen vor der Heirat (30. August 1803), nicht lassen, sie zu mahnen: »Gelt, liebes Kind, Du reitest nicht mehr, Du schminkst Dich nie wieder, mich lieben, mich beglücken, das soll Deine einzige Lust sein.« Vgl. Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau (Anm. 18), S. 157. 58 »Es ist für ein Weib sehr gefährlich zu dichten, noch gefährlicher einen Musenalmanach herauszugeben […]. Mein Scherz über die Schriftstellereien der Weiber kränkt Sie gewiß nicht, ich habe nie den mindesten Autorenstolz in Ihnen bemerkt, und Sie haben mir ja schon so vieles verziehen, soll ich nicht ein Sünder werden, weil Sie Verzeihen zum einzigen Verhältnis zu mir haben werden lassen. […] Als Sie mich noch liebten, da erschrak ich immer, wenn ich etwas Gedrucktes von Ihnen sah, und nichts war mir quälender, als etwas von Ihnen zu lesen, nicht, als wenn es mir zu schlecht sei oder gut genug, nein, es kam mir so unnatürlich vor, daß etwas, was Sie sagten, schlecht genug und gut genug sein könne, so mit dem bleiernen Buchstaben festgenagelt zu werden […], daß ich Sie liebe, wie Sie sind, […] das erkennen Sie nicht, weil Sie eine schlechte Künstlerin sind […]«. Ebd., S. 78 (10. Januar 1803). 59 Sie schreibt an Brentano am 28. August 1805: »Von Dienemann habe ich noch keinen Brief; ich will noch einmal schreiben. In der Fiammetta bin ich ziemlich fortgerückt.« Ebd., S. 389.

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nehmen könnte, so meinte er, daß es gar nicht fehlen würde, es hier gut abzusetzen. […] Bis Ostern meinte er vorläufig würde es an Druckzeit nicht genügen, doch vielleicht. Wenn Du also nicht sonst schon das Manuscript verkümmelt hast, so schick es mir. Ueberlege noch einmal mit kaltem Geblüt, welcher Name vorstehen soll, ich bin noch immer zu allem bereit, aber auch Reimer meinte, der Name deiner Frau würde besser thun oder der Deine, das merkwürdigste dabey ist immer unsre V o r m u n d s c h a f t über das arme Kind, ganz wie in der alten Komödie wird es verheirathet.60

An dem hier zur Charakterisierung der Beziehung verwendeten Begriff »Vormundschaft« wird die Sensibilität Arnims sichtbar, aber auch die irritierende Selbstherrlichkeit, die Brentano gegenüber Sophie Mereau immer noch nicht ablegen kann. Er gibt vor, mit Arnims Herausgeberschaft Mereau schützen zu wollen. Doch wenn nach seiner Ansicht die Publikation der »Fiammetta« kompromittierend ist, bleibt fraglich, welchen Sinn dann die Herausgabe der »Spanischen Novellen« und obendrein unter dem Namen seiner Frau macht, der er außerdem noch die Leistung zugesteht, die Übersetzung angefertigt zu haben.61 Ganz entgegen der Ansicht von Poppenberg kann es keinen Zweifel daran geben, dass sich keine romantische Beziehung zwischen Brentano und Mereau konstatieren lässt, dass sich vielmehr Mereau in ihren literarischen Tätigkeiten der eigenen Produktion, der Übersetzung, der Herausgabe nicht nur durch die Zeitbedingungen und ihre persönlichen Lebensumstände behindert, sondern zusätzlich auch durch Brentano eingeschränkt und bevormundet sieht. Die ›romantische Symbiose‹, angeblich von Brentano angestrebt, geht einseitig zu ihren Lasten. Deshalb wird im Folgenden nach einer anderen Möglichkeit einer ›Gemeinschaftsarbeit‹ bei den »Spanischen Novellen« gesucht.

Die Arbeitsteilung Brentano scheint in seinen feinsinnigen, vielleicht auch ein wenig ironischen Wendungen seiner Rezension auf die Besonderheit der Arbeitsteilung hinzuweisen, wenn er sagt: Die talentvolle […] Uebersetzerin begann die Verdeutschung dieser Novellen mit vielfachem Vergnügen, denn es schien ihr nicht nur nicht weniger gewagt, das Werk […] zu geben […]; sondern sie fühlte auch durch das Vergnügen, welches sinnvolle [= 60 Schultz, Hartwig (Hg.): Achim von Arnim und Clemens Brentano. Freundschaftsbriefe (Anm. 41), Bd. 1, S. 334. Hervorhebung von Britta Hannemann. 61 Kastinger Riley, Helene M. (1986): Die weibliche Muse (Anm. 15), S. 56 f., führt eine Fülle von Material an, das zeigt, wie wenig kooperativ und fördernd Brentano sich gegenüber Mereau verhalten hat.

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verständige62] Freunde durch die Lektüre des Originals geschöpft hatten, ihre eigne Freude an dieser sicher belohnenden Arbeit vermehrt.63

Auf Mereau geht also der Beginn des Unternehmens zurück. Diese bisher nicht beachtete Formulierung Brentanos deutet zugleich aber auch an, dass die Nutzung des spanischen Originals nicht Mereaus Angelegenheit gewesen ist, sondern die sachverständiger »Freunde«64. Inwiefern hatte vor der Nutzung des Originals durch »sinnvolle Freunde« Mereau eine Möglichkeit, sich am Text und an ihrer Übersetzertätigkeit zu freuen? Da bleiben nur die Übersetzungen ins Französische oder Deutsche in Berücksichtigung der befremdlichen Aufteilung der Erzählungen, aber auch des Umfangs der Vorlagen, bevorzugt die Ausgabe mit dem Titel »Nouvelles de Dona Maria Dezayas«65 von 1680 oder die 1711 in Paris erschienene66 – diese Fassung bietet in zwei separat gezählten Bänden den Text der beiden ersten Bände vom Jahr 1680 –, vielleicht aber auch Übertragungen von Paul Scarron67 übrig.68

62 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (Grimms Wörterbuch). 33 Bände. Fotomechanischer Nachdruck. Lizenzausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlages (dtv) mit Genehmigung des S. Hirzel Verlages Stuttgart. München: dtv 1984. Bd. 16, Sp. 1203. 63 Brentano, Clemens: Sämtliche Werke. Bd. 13 (Anm. 13), S. XVI; Hervorhebungen von Britta Hannemann. 64 Es erscheint aufschlussreich, dass der freundliche und wohlwollende Rezensent »GL.« in der »Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung« 1/194 (Anm. 27), Sp. 302, offenbar gut unterrichtet, schreibt: »Und dieß alles hat sie geleistet, mehr aus eigener Machtvollkommenheit ihres Geistes, als durch die Beyhülfe französischer Uebersetzungen, der [!] einzigen, von denen Rec. weiß.« 65 Nouvelles de Dona Maria Dezayas, Traduites de l’Espagnol. Tome I – V. Paris: Quinet 1680; Sigle: ›Nouvelles (1680)‹. – Diese Ausgabe ist bis heute die einzige, die beide Zyklen – im Textbestand der einzelnen Erzählungen, ohne Rahmen, ohne Liedeinlagen – weitgehend komplett in französischer Sprache präsentiert. Auch der Karlsruher virtuelle Katalog (KVK) nennt keine weitere Übersetzung ins Französische. Die Recherchen in der BiliothÀque nationale haben keine Anhaltspunkte für eine weitere Ausgabe gebracht. 66 Nouvelles amoureuses et tragiques de DoÇa maria Dezayas, contenant des Histoires les plus belles & les plus surprenantes que l’amour et les autres passions aient jamais produites. Traduites de l’Espagnol. Tome I. A Paris. Et se vend — Bruscelle, Chez A. Lemmens, Libraire me la Bergh-straet — l’Image & Jean Evangeliste 1711 [bei Bd. 2 ist das Titelblatt identisch]; Sigle: ›Nouvelles (1711)‹. 67 Die gesamten »Nouvelles tragi-comiques« wurden von Paul Scarron ins Deutsche übersetzt und sind unter folgendem Titel erschienen: Neue Schrifften des Herrn Scarron, worinnen durch angenehme Erzehlung geheimer und lustiger Begebenheiten, Die vergebliche Fürsichtigkeit, Die scheinheilige Gesellschafft, Der unschuldige Ehebruch, Das gute Bezeigen mehr in Thaten als in Worten […] vorgestellet werden. Aus dem Französischen übers. v. J. G. Schumann. Frankfurt / Leipzig: Grießbach 1742. – Das Exemplar in der Herzog-AugustBibliothek in Wolfenbüttel konnte eingesehen werden. 68 Das Verhältnis der Ausgaben ›Nouvelles 1680‹ und ›Nouvelles 1711‹ zueinander ist unkompliziert, da weitgehende Textidentität vorliegt. Ihr Verhältnis zu der älteren ScarronÜbersetzung scheint so zu sein, dass Scarron für die Straffung der Handlung Muster gewesen

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7.

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Vermittlung durch eine französische Fassung

Das Französische ist in beide Richtungen Mittler zwischen dem Spanischen und dem Deutschen: Z. B. erfolgt die erste Rezeption wichtiger klassisch-romantischer deutscher Literatur im Spanischen durch Übersetzung französischer Vorlagen von Texten Goethes und E.T.A. Hoffmanns. Hier haben wir es mit einem Beispiel in umgekehrter Richtung zu tun: Paul Scarron hatte zuerst einzelne »Novelas« von Maria de Zayas gewählt und stark bearbeitet, bevor dann 1680 in Paris beide Erzählzyklen von Maria de Zayas – ohne die Rahmengeschichten und ohne Lyrik – vollständig in französischer Sprache publiziert worden sind. Dadurch entstehen zwei unterschiedliche Rezeptionswege ins Deutsche: Die Scarron-Übersetzer verbreiten in Deutschland einige »Novelas« Maria de Zayas’, ohne ihren Namen zu kennen; die Fassung ›Nouvelles 1680‹, in einer Teilauflage ›Nouvelles 1711‹, verhilft Mereau zur Entdeckung der Spanierin. Brentano hat in seiner Rezension69 bereits auf drei Übersetzungen der »Novelas amorosas« von Maria de Zayas aus dem Spanischen ins Französische aufmerksam gemacht: ›Nouvelles 1656‹70, ›Nouvelles 1680‹, ›Nouvelles 1711‹.71 Das sind um 1800 offenbar die einzigen publizierten Übersetzungen der »Novelas amorosas«. Auch der Rezensent »GL.« spricht in seiner Rezension zum ersten Teil der Ausgabe von Mereau in der »Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung« von vorhandenen französischen Übersetzungen, ohne sie jedoch genauer zu benennen, so dass unklar bleibt, ob er weitere, z. B. solche ohne Namennennung von Maria de Zayas, gemeint hat.72 Die Lösung der Übersetzerfrage bei den »Spanischen Novellen«, deren Schlüssel sämtlich bei Clemens Brentano liegen, sieht so aus, dass die Übersetzung der »Novelas« in zwei Anläufen erfolgt ist: einmal und zuerst nach französischen Versionen durch Mereau und ein zweites Mal bald darauf unter Heranziehung der Originaldichtungen in Korrektur und Ergänzung des zunächst Erarbeiteten durch Brentano.

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ist, gelegentlich auch einzelne Wendungen, im spanischen Text ohne Vorbild, übernommen worden sind. In: Zeitung für die elegante Welt; Textabdruck in Clemens Brentano: Sämtliche Werke. Bd. 13 (Anm. 13), S. XV – XVIII. Les Nouvelles Amoureuses et Exemplaires, composes en Espagnol par cette merueille de son sexe, DoÇa Maria de Zayas y Sotto Maior. Et traduites en nostre langue par Antione [Antoine] de Methel Escuiter Sieur Douuille, Ingenieur & Geographe du Roy. A Paris, Chez Guillaume de Luynes, Libraire Iure, au Palais dans la Salle des Merciers — la Iustice. 1656 avec privilegÀ du Roy. Sämtliche Ausgaben befinden sich in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Der Ausgabe ›Nouvelles 1680‹ fehlt der erste Band, der sich dafür in Göttingen befindet. Vgl. Anm. 64.

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Brentanos Bücherbestand Brentanos verblüffende Kenntnis der französischen unter dem Namen von Maria de Zayas publizierten Ausgaben verweist auf sein offenbar großes Interesse an der Autorin und ihren »Novelas amorosas«. Zu seinem großen Bücherbesitz gehört ein Exemplar der Ausgabe ›Barcelona 1764‹73. Er verfügt hingegen nicht über eine Ausgabe von »Les dernieres Œuvres de Monsieur Scarron« von 1663 oder eine der späteren Gesamtausgaben, in der Scarrons Übersetzung von der Nouvelle »Le Ch–timent de l’Avarice«, die er aus dem Zyklus der Maria de Zayas übersetzt hat, publiziert worden ist. Der Rezensent »GL.«, der ebenfalls die Existenz französischer Übersetzungen erwähnt und sich veranlasst fühlt, Mereau in Schutz zu nehmen, stellt eine der vielen möglichen Verbindungen dar, durch die Mereau Kenntnis von der Bearbeitung dieser Erzählung durch Scarron gewonnen haben kann. Die Universitätsbibliothek Jena besitzt heute noch die zweibändige Ausgabe der »DerniÀres œuvres«, deren erster Band »Le Ch–timent de l’Avarice« enthält. Damit ist zwar noch nicht die Übereinstimmung mit der Scarron-Version technisch völlig aufgeklärt, doch plausibel gemacht, dass das Verständnis des für diese Frage zentralen Satzes in der Rezension von Brentano zutreffend ist. Die Richtigkeit der These einer zunächst französischen Vermittlung der »Novelas« wird durch das folgende Buch belegt, das zum Bestand von Brentanos Bibliothek gehört hat: ein Exemplar der französischen Ausgabe ›Nouvelles 1711‹. Der Auktionskatalog hat folgenden Eintrag: »Nr. 2538 Nouvelles amoureuses et tragiques de Donna Maria Dezayas. II tomes. Trad. de l’esp. Paris 1711. pgb.«74 Dies ist also ein Exemplar einer der beiden Ausgaben, deren erster Band gerade die ersten drei Erzählungen umfasst und außerdem den Schlussvermerk »Fin du premier Tome« hat. Brentano spricht also nicht nur von französischen Übersetzungen, sondern hat mindestens eine in seinem Besitz, die in ihren zwei Bänden die ersten sieben »Novelas« umfasst.

Die Übersetzer Brentano hatte den Schlüssel zur Lösung der Frage bereits in seiner Besprechung der »Spanischen Novellen« angeboten. Sämtliche Lösungsansätze in der Vergangenheit, welche die Frage nach dem Übersetzer alternativ sehen und ent73 Vgl. Anm. 52. 74 Gajek, Bernhard (1974) (Hg.): Clemens und Christian Brentanos Bibliotheken. Die Versteigerungskataloge von 1819 und 1853. Mit einem unveröffentlichten Brief Clemens Brentanos. Heidelberg: Carl Winter (Beihefte zum Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 6), S. 287.

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sprechend einseitig beantworten, treffen nicht das Richtige. Diejenigen, die wie Amelung einräumen, auch Mereau könne an der Übersetzung beteiligt gewesen sein und dabei vor allem an die in der Kritik unfreundlich beurteilten »Novellen« denken, Mereau also für Mängel verantwortlich machen wollen, behandeln das Problem von einer Position aus, die Brentano, dem ihrer Ansicht nach gewandteren Dichter, ungeprüft auch die besseren Sprachkenntnisse des Spanischen einräumt. Die Arbeit ist als Gemeinschaftsarbeit zu bezeichnen, in welcher die Bestandteile heute nicht mehr zu trennen sind. Aber aufgrund der Äußerung von Brentano wie der Ergebnisse ist davon auszugehen, dass Mereau auf der Grundlage französischer Ausgaben die Basisübersetzung geleistet hat, die später anhand der spanischen Vorlage ergänzt und korrigiert worden ist. Es ist auch davon auszugehen, dass zunächst die Basisübersetzung um die Teile ergänzt worden ist, die in den französischen Ausgaben fehlen: Rahmenpartien und lyrische Blöcke. Später wird die Überarbeitung der vorhandenen Teile hinzugekommen sein. Da Brentano einer derjenigen ist, die das Original übersetzen können, werden ihm (vielleicht in Verbindung mit Börsch) diese Anteile zuzuschreiben sein. Es ist auf diese Weise auch einsichtig, dass es als Folge der ursprünglichen Orientierung an der französischen Ausgabe Defizite in der Behandlung der Rahmengeschichte gibt, die anschließend wegen ihrer Vernachlässigung durch Brentano fortdauern. Sophie Mereau kommt also das besondere Verdienst zu, die Texte entdeckt und mit ihrer Übertragung ins Deutsche begonnen zu haben.

8.

Paarkonstellation par excellence

Die »Spanischen Novellen« sind das Resultat einer subtilen Form der Zusammenarbeit, die offenbar sämtliche Vorgänge der Verfertigung und Publizierung der Texte umfasst. Möglicherweise hat sogar die Frage, unter welchem Namen das bessere Honorar zu erzielen sei, bei der Entscheidung über die Gestaltung der Titelblätter eine Rolle gespielt. Mereau steht offenbar unter erheblichem Druck (familiär, gesundheitlich, publizistisch), so dass sie die Chance, die sie sich selbst eröffnet hat, nicht optimal nutzt: Sie versäumt es, in einer Vorbemerkung zum ersten Band der »Spanischen Novellen« die Autorin vorzustellen, ihre Motive für die Präsentation älterer Geschichten darzulegen und eine Einführung in das Konzept des Zyklus’ zu geben. Durch Zerlegung auf Fortsetzungsbände, deren Erscheinen ungewiss ist, ›zerstört‹ sie zudem den Rahmen. Es fehlt am Ende des ersten Bandes ein Hinweis auf die geplante Fortsetzung, wie entsprechend am Beginn des zweiten Bandes auch nicht in einer editorischen Notiz der Zusammenhang

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mit dem ersten hergestellt ist. Schon die zeitgenössische Kritik (zu Band 1) hätte besseren Einblick und mehr Verständnis für die erste Erzählung gehabt, wenn ihr von Mereau das kunstvolle Spiel auf dreifacher Erzählebene vermittelt worden wäre. Die Übersetzung des ersten Zyklus’ von Maria de Zayas’ Erzählungen ins Deutsche durch Sophie Mereau und Clemens Brentano ist bis heute die einzige geblieben; sie ist dem Leser immer wieder in größeren Abständen präsentiert worden. Bedauerlicherweise werden Versäumnisse oder Resultate ungünstiger Zeitumstände weiter fortgeschrieben: Die bisher letzte, 1991 vorgelegte Ausgabe von Gerhard Poppenberg bietet immer noch die auf acht Erzählungen beschränkte, unvollständige Fassung, der außerdem der abschließende Rahmen fehlt, der ja eine eigene Geschichte darstellt. Es lässt sich also festhalten, dass Sophie Mereaus »Spanische Novellen« in jedem Sinn bis auf den heutigen Tag weiterwirken.

Hermann Krapoth

Die Sprache des Exils. Jorge Semprún und Georges-Arthur Goldschmidt in Frankreich

Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass gerade im 20. Jahrhundert sehr viele Menschen das Schicksal des Exils zu erleiden hatten. Beschränken wir uns allein auf Europa, so lässt sich feststellen, dass die Politik diktatorischer Regime zahllose Menschen in die Emigration getrieben hat. Man denke nur an alle diejenigen, die Russland nach der Revolution von 1917 verlassen haben, an die Emigranten, die vor der Diktatur des Generals Franco aus Spanien flohen, insbesondere aber an alle die Verfolgten des Naziregimes in Deutschland, an die Juden, die sich ihrer Vernichtung ausgesetzt sahen, ebenso aber auch an die aus politischen und manchen anderen Gründen Verfolgten. Die Zahl derer, die dieser verbrecherischen Politik zum Opfer fielen, ist ungeheuer. Wer sich ins Exil in ein anderes Land retten konnte, war wenigstens mit dem Leben davongekommen. Deren Zahl ist nicht gering. Die Lebensgeschichten, die sich daraus ergaben, konnten höchst verschieden sein und verdienen unser anteilnehmendes Interesse. Ein prominentes Paar unter den Exilanten soll hier in den Mittelpunkt der Betrachtung treten. Sie sind uns beide als Schriftsteller bekannt: Jorge Semprffln und Georges-Arthur Goldschmidt. Beide kamen in noch sehr jungen Jahren in das Exilland Frankreich, der eine aus Spanien, der andere aus Deutschland. In Frankreich sind sie beide zu in französischer Sprache schreibenden Autoren geworden. Für unsere Untersuchung bedeutet es einen günstigen Umstand, dass sie beide Autobiographien veröffentlicht haben, die den Schwerpunkt auf die Kindheit im Heimatland und die frühen Jahre in Frankreich legen. Semprfflns »Adieu, vive clart¦…« (»Unsre allzu kurzen Sommer«)1 erschien 1998, Goldschmidts »La travers¦e des fleuves« (»Über die Flüsse«)2 1999. Wir beschränken 1 Semprffln, Jorge (1998): Adieu, vive clart¦… Paris: Gallimard. Für die deutschen Übersetzungen der Zitate wurde herangezogen: Semprffln, Jorge: Unsre allzu kurzen Sommer. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Nach diesen Ausgaben wird im Folgenden mit Seitennachweisen in Klammern zitiert. 2 Goldschmidt, Georges-Arthur (1999): La travers¦e des fleuves. Autobiographie. Paris: Editions du Seuil (Collection Fiction & Cie). Die deutsche Fassung der Zitate nach: Goldschmidt,

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uns auf diese beiden Werke als Hauptquellen, obwohl die autobiographischen Bezüge auch noch in anderen Texten unserer Autoren durchaus ausgeprägt sind. Jorge Semprffln wurde 1923 in Madrid geboren. Die Familie war großbürgerlich und linksliberal. 1936, während des spanischen Bürgerkriegs, verließ sie Madrid. Aus ihrem Ferienort Santander flieht die Familie in der Nacht auf einem Fischerboot nach Frankreich, den Sieg der Truppen Francos erwartend. Nach einem kurzen Aufenthalt in den Niederlanden, wo der Vater als Botschafter der spanischen Republik arbeitet, begibt sie sich 1937 ins Exil nach Paris. Der dreizehnjährige Semprffln wird Schüler des Lyc¦e Henri IV, lebt dort im Internat und studiert nach dem Baccalaur¦at Philosophie an der Sorbonne. 1941 schließt sich Semprffln der kommunistischen R¦sistance-Organisation »Francs-Tireurs et Partisans« an. 1943 wird er von der deutschen Gestapo verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert. Er kehrt 1945 nach Paris zurück und arbeitet bis 1952 als Übersetzer bei der UNESCO. Ab 1953 ist er für die spanische Exil-KP im Widerstand gegen das Franco-Regime tätig, leitet von 1957 bis 1962 in Spanien die KP-Untergrundarbeit. 1964 wird er aus der Partei wegen Abweichung von der Parteilinie ausgeschlossen und lebt seitdem als freier Schriftsteller in Paris. Von 1988 bis 1991 hat er das Amt des spanischen Kulturministers inne. Semprffln starb am 7. Juni 2011 in Paris. Der 1928 in Reinbek bei Hamburg geborene, fünf Jahre jüngere GeorgesArthur Goldschmidt stammt ebenfalls aus einer gutsituierten bürgerlichen Familie. Sein Vater war Oberlandesgerichtsrat. Die ursprünglich jüdische Familie war schon im 19. Jahrhundert protestantisch geworden. Als die Situation in Deutschland für Menschen jüdischer Abstammung immer bedrohlicher wird, entschließen sich die Eltern 1938, ihre beiden Söhne im Ausland in Sicherheit zu bringen, zunächst bei dem Ehepaar Binswanger3 in Florenz. Dies bedeutet eine endgültige Trennung von den Eltern, die sie nie wiedersehen werden. Von Florenz flüchten sie 1939 nach Savoyen in Frankreich. Sie werden in einem Internat in MegÀve unweit von Annecy untergebracht. Georges-Arthur Goldschmidt muss dort bei körperlichen Strafen besondere Gewalterfahrungen erleben, die sein Werk stark prägen. 1943/44 wird der Junge bei Bergbauern vor den nach Juden suchenden deutschen Besatzern versteckt. Nach der Befreiung kommt er in ein jüdisches Waisenhaus in Pontoise. 1948 besteht er das Baccalaur¦at und nimmt an der Sorbonne ein Germanistikstudium auf. In der Folge arbeitet er

Georges-Arthur : Über die Flüsse. Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser. Zürich: Ammann 2001. Nach diesen Ausgaben wird im Folgenden mit Seitennachweisen in Klammern zitiert. 3 Paul Binswanger (1896 – 1961), der 1933 zunächst nach Italien emigrierte, ist der Autor von: Die ästhetische Problematik Flauberts. Untersuchung zum Problem von Sprache und Stil in der Literatur. Frankfurt a. M.: Klostermann 1934.

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auch als Übersetzer, geht aber nach Bestehen des Lehramtsexamens in den Schuldienst und unterrichtet an verschiedenen Gymnasien bis 1992. Beide Autoren haben in ihren Autobiographien den entscheidenden Einfluss hervorgehoben, den jeweils eine unauslöschliche Erfahrung auf ihr gesamtes Leben und Schreiben ausgeübt hat. Bei Semprffln ist dies die Zeit im Konzentrationslager Buchenwald.4 L’exp¦rience de Buchenwald ¦tait celle de la certitude, parfois abominable, parfois rayonnante, de la mort: exp¦rience d’un partage inou. […] Depuis que j’ai ¦crit »Le grand voyage«, — quarante ans, nel mezzo del cammin della mia vita, toute mon imagination narrative a sembl¦ aimant¦e par ce soleil aride, rougeoyant comme la flamme du cr¦matoire. (S. 90) (Die Erfahrung von Buchenwald war die Erfahrung der manchmal grauenhaften, manchmal strahlenden Gewißheit des Todes; die Erfahrung einer unerhörten Teilhabe. […] Seit ich »Die große Reise« geschrieben habe, im Alter von vierzig Jahren, nel mezzo del cammin della mia vita, schien meine ganze erzählerische Phantasie magnetisch von dieser ausdörrenden Sonne, rotglühend wie die Flamme des Krematoriums, angezogen zu werden.) (S. 87 f.)

Der Titel der Autobiographie, »Adieu, vive clart¦…«, erklärt sich allein daraus, dass der hier erzählte Teil seines Lebens vor der furchtbaren Erfahrung von Buchenwald liegt. Der entscheidende Bruch in Goldschmidts Leben war die Trennung von den Eltern.5 Auf der vorletzten Seite von »La travers¦e des fleuves« (S. 326) beschwört er diese traumatische Erinnerung noch einmal. Als Beleg für diese Erfahrung diene hier aber eine Bemerkung Goldschmidts in seinen Gesprächen mit Hans-Jürgen Heinrichs: Ich habe alle meine Erinnerungen an mein Zuhause so organisiert, dass immer nur Nebensächliches in mir heraufkam, damit das Heimweh nicht zu furchtbar sei. Es galt für mich, das Heimweh nicht hereinzulassen. In mir ist der Tag der Abfahrt aus der ›Heimat‹, aus der ich als zehnjähriger Junge als unwertes Lebensmaterial verstoßen wurde (normalerweise gehörte ›das‹ vergast), ständig gegenwärtig. Die Erinnerung ist 4 Vgl. dazu vor allem Semprffln, Jorge (1994): L’Êcriture ou la Vie. Paris: Gallimard. (Semprffln, Jorge: Schreiben oder Leben. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995.) 5 In »La travers¦e des fleuves« wird dieser Abschied auf dem Hamburger Hauptbahnhof ausführlich dargestellt (S. 121 f., deutsche Fassung S. 140 f.). Frühere Fassungen dieser Szene finden sich in »Un jardin en Allemagne« (1986) und in »La forÞt interrompue« (1991). Peter von Matt zitiert die Fassung, die sich am Ende von »Un jardin en Allemagne« findet. Sie gehöre zu den großen Stellen der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts. »Auch wenn sie auf Französisch geschrieben wurde. Weil sie auf Französisch geschrieben wurde. Von einem Franzosen. Von einem deutschen Dichter in Paris.« von Matt, Peter (2003): Deutscher Dichter in Paris. Laudatio auf Georges-Arthur Goldschmidt. In: von Matt, Peter : Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur. München: Hanser, S. 233 – 240, hier S. 234 – 236.

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ein Bruch, auf einmal wurde mir die deutsche Sprache verboten, und alles Deutsche habe ich die ganze Zeit über, ungefähr bis 1949, versucht, von mir zu entfernen, damit es nicht zu weh tue.6

Im Rahmen dieses Beitrags soll und kann es nicht darum gehen, diese beiden Autobiographien im Ganzen zu untersuchen und zu vergleichen. In ihnen werden so viele Zeitumstände vergegenwärtigt, Personen porträtiert, Autoren aus Vergangenheit und Gegenwart in ihrem Einfluss beschrieben, dass eine eingehende Behandlung die hier gegebenen Möglichkeiten übersteigt. Ein besonderes Thema stellt auch die psychische Entwicklung der beiden Exilanten dar. Man denke z. B. an das in beiden Fällen auffällig hervortretende Thema der Sexualität oder auf ganz anderer Ebene an die politischen Einstellungen. Auf solche Aspekte soll hier verzichtet und dafür die Aufmerksamkeit ganz auf das Verhältnis zur Sprache oder besser zu den Sprachen gelenkt werden, denn in beiden Fällen hat das Eintauchen in die Sprache des Exillandes nicht den Verlust der eigenen Sprache zur Folge. Die Fragen richten sich im Folgenden einmal auf die Art und Weise, wie das Exil als Verlust aller bisher geltenden Lebensbedingungen einschließlich der Sprache empfunden wird, dann in einem zweiten Schritt auf den sehr komplexen Vorgang der Aneignung der fremden Sprache und schließlich auf den Zustand einer reflektierten Zweisprachigkeit. Eine Bemerkung zur Möglichkeit oder auch zur Berechtigung eines vergleichenden Vorgehens gegenüber den beiden Fällen sei noch eingefügt. Natürlich ist die Versuchung groß, Semprffln und Goldschmidt als europäisches Paar anzusehen. Der herkömmliche Begriff der nationalen Identität passt nicht auf sie. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass wenigstens Goldschmidt an dem Vergleich wenig Gefallen fand. Hans-Jürgen Heinrichs wollte Semprfflns Leben und Werk bei seinem Dialog mit Goldschmidt mit einbeziehen, stieß jedoch auf dessen Ablehnung. Wo er auch nur einen »Anflug von Establishment und Versnobtem« wahrnehme, gehe er, Goldschmidt, zum Angriff über.7 An späterer Stelle in diesen Gesprächen mit Heinrichs kommt Goldschmidt doch noch einmal auf Semprffln zu sprechen. Er bemerkt, dass er nicht wie Semprffln die Chance gehabt habe, mit der Familie zu fliehen, und es gehe auch nicht einfach um »Erinnerung«, »sondern um etwas, das man am liebsten wegschaffen möchte, weil es mit den Hitlerverbrechen zu tun hatte«.8 Wenig später sagt er : »Es ist nicht, wie Semprffln Eleganz spielt, dass man ihm ein wenig aufs Wort glauben soll. Wahrscheinlich verkleidet er seine innere Angst in Modernität.«9 Er 6 Schwarzfahrer des Lebens. Georges-Arthur Goldschmidt im Dialog mit Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2013, S. 96. 7 Ebd., S. 18. 8 Ebd., S. 121. 9 Ebd.

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bekennt im Übrigen, Semprffln nicht gelesen zu haben, und dass er ihn auch nicht lesen werde.10 Liest man diese Bemerkungen Goldschmidts, drängt sich einem allerdings eher der Gedanke auf, dass er damit zu einem Thema anregt, das bei einem Vergleich eine wichtige Rolle spielen könnte. Wir verfolgen diesen Gedanken hier aber nicht weiter, weil er allenfalls indirekt mit dem Sprachproblem in Verbindung steht.

1.

Die Verlusterfahrung im Exil

Die Klage über das Verlorene bei den Exilierten ist schon angeklungen. Wenn es erwähnt wird, zeigt es sich als eine nicht verheilende Wunde. Semprffln erinnert sich an den Beginn des Exils: C’est probablement — cette ¦poque, durant ces premiÀres semaines d’exil […], dans la tristesse du d¦racinement, la perte de tous les repÀres habituels (langue, mœurs, vie familiale), qu’est n¦e ou qu’a cristallis¦ la fatigue de vivre qui m’habite depuis lors, comme une gangrÀne lumineuse, une pr¦sence aiguÚ de n¦ant. (S. 61) (Wahrscheinlich ist in jener Zeit, während jener ersten Wochen des Exils […], in der Trauer der Entwurzelung, dem Verlust aller gewohnten Bezugspunkte (Sprache, Gebräuche, Familienleben), wahrscheinlich ist damals die Lebensmüdigkeit entstanden, die seitdem in mir schwelt wie ein leuchtender Brand, eine stechende Gegenwart des Nichts.) (S. 57 f.)

Die Sprache Semprfflns betont mit dem Vergleich am Schluss die geradezu körperliche Seite der Verlusterfahrung. Dies wird auch besonders deutlich bei der Reaktion Semprfflns auf die Nachricht vom Fall Madrids Ende März 1939. Er schreibt: Madrid ¦tait tomb¦e et j’¦tais seul, foudroy¦, le journal d¦ploy¦ devant mes yeux aveugl¦s par des larmes mont¦es du tr¦fonds de l’enfance. Madrid ¦tait tomb¦e et c’¦tait comme si on m’avait priv¦ brutalement, d’un tranchant de hache, d’une partie de mon corps. De la partie de mon –me la plus pleine d’esp¦rance et de foi. (S. 65) (Madrid war gefallen, und ich war allein, niedergeschmettert, die aufgeschlagene Zeitung vor meinen tränenblinden Augen, Tränen, die aus der Tiefe der Kindheit aufstiegen. Madrid war gefallen und es war, als hätte man mir brutal, mit der Schneide einer Axt, einen Teil meines Körpers abgeschlagen. Den Teil meiner Seele, der voller Hoffnung und Glauben war.) (S. 61)

An späterer Stelle in seiner Autobiographie erinnert sich Semprffln noch einmal an diesen Augenblick: 10 Ebd.

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Madrid est tomb¦e. La ville de mon enfance et avec elle mon enfance, ma m¦moire, ma vie. C’¦tait le jour o¾, soudain, comme un sanglot, un hoquet du corps qui remplirait l’–me d’amertume, des bribes de vers espagnols […] de Rub¦n Dar†o m’¦taient revenus en m¦moire. ¿No oyes caer las gotas de mi melancol†a? (S. 161) (Madrid gefallen. Die Stadt meiner Kindheit und mit ihr meine Kindheit, mein Gedächtnis, mein Leben. Es war der Tag, an dem mir plötzlich, wie ein Schluchzer, ein Schluckauf des Körpers, der die Seele mit Bitterkeit erfüllen würde, Bruchstücke spanischer Verse […] von Rub¦n Dar†o eingefallen waren. ¿No oyes caer las gotas de mi melancol†a?) (S. 160)

Neben dem Vergleich mit der körperlichen Dimension erscheint hier noch ein anderes wichtiges und sehr charakteristisches Element von Semprfflns erzählerischer Gestaltung, nämlich die Intertextualität, insbesondere in Gestalt eingeflochtener lyrischer Verse französischer und spanischer Autoren. Semprfflns Darstellung in »Adieu, vive clart¦…« bietet dafür eine Überfülle an Beispielen. Wie an dieser Stelle verleihen sie dem Text eine Überhöhung in eine zweite Dimension. Ein letzter Beleg zu dieser Verlustthematik sei noch angeführt. Semprffln befindet sich in Biriatou, einem Ort unmittelbar an der Grenze zu Spanien, »sur la terrasse de Biriatou qui surplombait l’Espagne – si proche: inaccessible, territoire d’une enfance disparue, d’une vie familiale annihil¦e« (S. 203) (»auf der Terrasse, die Spanien überragte – so nah: unerreichbar, Territorium einer verschwundenen Kindheit, eines zerstörten Familienlebens«) (S. 203). Die Endgültigkeit des Verlusts kann kaum schärfer ausgedrückt werden als durch das Partizip »annihil¦e«. Bei Georges-Arthur Goldschmidt ist die erwähnte Szene des Abschieds auf dem Hamburger Hauptbahnhof ganz sicher die bewegendste. Dieser letzte, absolut letzte Blick auf die geliebten Eltern bedeutet eine Verwundung, die nie mehr aufgehoben werden kann. Aber man muss sich dieser in ihrer ganzen Tiefe bewusst sein, um den folgenden Satz in der Autobiographie zu verstehen: »Mais je ne pensais pour ainsi dire jamais — mes parents, j’avais peu — peu r¦ussi — les ¦liminer de ma pens¦e, pour ne pas succomber au chagrin.« (S. 164) (»Ich dachte aber kaum an die Eltern, nach und nach hatte ich vermocht, sie aus meinem Denken zu vertreiben, um nicht vor Heimweh umzukommen.«) (S. 197) Goldschmidt übersetzt hier »chagrin« mit »Heimweh« und gibt so dem Satz im Deutschen eine verschärfte Tiefendimension. Das deutsche Wort »Heimweh« verwendet er auch noch einmal in seinem französischen Text, als er über seinen ersten Besuch in Deutschland nach dem Krieg berichtet, 1949 in der Familie seiner Schwester, die mit dem Philosophen Ludwig Landgrebe verheiratet ist: Au moment fix¦ pour mon retour — Paris, en octobre 1949, je fus soudain et de maniÀre inattendue submerg¦ d’un chagrin incoercible, comme si toutes ces ann¦es de s¦pa-

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ration irr¦parable m’assaillaient d’un coup. C’¦tait ce qu’on appelle en allemand Heimweh, le mal du pays. Je m’en jetai sur le gazon, me roulai sur le sol, rattrap¦ par tout ce que j’avais tent¦ d’oublier. C’¦tait dans toute sa violence ce chagrin d’enfance qui a d¦truit tant d’internes ou d’orphelins pour toujours. Il me submergea soudain au point que j’en hurlai de d¦sespoir. Dix ans durant, j’avais r¦ussi — le mettre sous cloche, — me faire croire qu’il ne pourrait pas m’atteindre, et voil— qu’il me coupait la poitrine et me fit — plus de vingt ans sombrer dans une d¦tresse de jeune enfant et verser des ›torrents de larmes‹. C’est alors que l’irr¦parable s¦paration eut vraiment lieu, onze ans aprÀs. (S. 269 f.) (Als der Tag kam, an dem ich nach Paris zurück sollte, im Oktober 1949, wurde ich plötzlich von einem kaum zu bewältigenden Kummer überflutet, als ob all die Jahre der Trennung mich auf einmal überfielen. Es war Heimweh, wie noch nie, ich warf mich ins Gras, wälzte mich herum, eingeholt von alledem, was ich zu vergessen versucht hatte. Es war mit aller Gewalt dieser Kinderkummer, der so viele Internatsschüler oder Waisenkinder für immer zerstört hat. Zehn Jahre lang war es mir gelungen, ihn unter einer Glocke zu halten und mich selbst glauben zu machen, daß er mich nicht mehr erreichen könne, und nun schnitt er mir die Brust entzwei und ließ mich als über Zwanzigjährigen in das Elend eines kleinen Kindes stürzen und in Tränen zerfließen. Erst jetzt, elf Jahre später, fand die irreparable Trennung statt.) (S. 331)

Goldschmidt hebt das Verborgene der Verlusterfahrung hervor, das plötzlich ans Licht drängt, und macht so die Stärke der Bindung an das Verlorene erst recht spürbar. Auch in seinen Gesprächen mit Hans-Jürgen Heinrichs ist er noch einmal auf dieses Thema in bewegender Weise zurückgekommen: Dass meine »Heimat«, das ist ein wunderbares Wort, in mir ununterbrochen gegenwärtig ist, natürlich, ich höre den Wind in den Bäumen unseres Gartens rauschen und meine Mutter rufen – nichts, nicht die kleinste Einzelheit ist davon vergangen, im Gegenteil, je älter ich werde, desto präsenter wird alles. Und das haben mir meiner Geburt wegen die Nazis weggenommen, ja wie sollte ich denn anders als aus dem Exil heraus denken. (S. 68 f.)

Semprffln wie Goldschmidt bezeugen beide in nicht so sehr verschiedener Weise, wie tief der Schmerz sitzt, den das erzwungene Exil ihnen zugefügt hat. Alles, was auf diesen Schock folgte, das Hineinwachsen in das Leben in Frankreich, ist von ihnen vor diesem Hintergrund erfahren und erlebt worden.

2.

Die Aneignung der französischen Sprache

In der Tat muss von einer wirklichen Aneignung der fremden Sprache gesprochen werden. Die in französischer Sprache geschriebenen Werke Semprfflns und Goldschmidts zeugen von einer außerordentlichen sprachlichen Meisterschaft. In ihren Autobiographien haben beide Autoren in vielfältiger Weise den Prozess

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dieser Aneignung zum Thema gemacht. Die Lebensbedingungen der beiden fünfzehn- und zehnjährigen Jungen, die nach Frankreich kamen, waren durchaus sehr unterschiedlich. Semprffln lebte in Paris und besuchte als Internatsschüler das renommierte Lyc¦e Henri IV. Goldschmidt verbrachte die Jahre von Frühjahr 1939 bis 1946 in einem Dorf in Savoyen, im Pensionat CollÀge Florimontane, bis er nach Pontoise bei Paris übersiedelte. Semprffln musste die Erfahrung machen, dass er wegen seines starken spanischen Akzents von einer Pariser Bäckersfrau auch nach der stotternden Wiederholung seines Kaufwunschs nicht verstanden wurde. Semprffln erklärt dazu, dass das Französische für ihn ausschließlich eine geschriebene Sprache gewesen sei. Diese Frau beschimpfte den jungen Spanier dann sogar : »[L]a boulangÀre invectiva — travers moi les ¦trangers, les Espagnols en particulier, rouges de surcro„t, qui envahissaient pour lors la France et ne savaient mÞme pas s’exprimer.« (S. 61) (»Und da schimpfte die Bäckersfrau […] auf die Ausländer, insbesondere die Spanier, obendrein die roten, die heutzutage nach Frankreich strömten und sich nicht einmal auszudrücken verständen.«) (S. 57). Dieses Erlebnis lässt den jungen Semprffln eine Entscheidung treffen: J’ai pris la d¦cision d’effacer au plus vite toute trace d’accent de ma prononciation franÅaise: personne ne me traitera plus jamais d’Espagnol de l’arm¦e en d¦route11, rien qu’— m’entendre. Pour pr¦server mon identit¦ d’¦tranger, pour faire de celle-ci une vertu int¦rieure, secrÀte, fondatrice et confondante, je vais me fondre dans l’anonymat d’une prononciation correcte. J’y suis parvenu en quelques semaines. Ma volont¦ ¦tait trop d¦termin¦e pour que nulle difficult¦ y f„t vraiment obstacle. (S. 79) (Ich habe den Entschluß gefaßt, so schnell wie möglich jede Spur eines Akzents meiner französischen Aussprache zu tilgen: nie wieder sollte mich jemand, wenn er mich reden hörte, einen Espagnol de l’arm¦e en d¦route nennen. Um meine Identität als Ausländer zu bewahren, sie zu einer geheimen, inneren Tugend zu machen, werde ich in der Anonymität einer korrekten Aussprache untertauchen. Innerhalb weniger Wochen habe ich es geschafft. Mein Wille war so stark, daß keine Schwierigkeit ihn wirklich hätte behindern können.) (S. 76 f.)

Bemerkenswert ist hier, wie Semprffln die Akzentfreiheit nicht einfach als Wert der Sprachbeherrschung versteht, sondern ihr die Funktion gibt, gerade seine eigentliche, nicht aufzugebende Identität als Spanier als »geheime[], innere[] Tugend« bewahren zu helfen. Dieser Gedanke wird später in der Autobiographie 11 Zitat aus Victor Hugos Gedicht »AprÀs la bataille« (Vers 7). Vgl. Hugo, Victor : Po¦sie. Mit einem Vorwort von Jean Gaulmier hg. und komm. v. Bernard Leuilliot. Bd. 2: La l¦gende des siÀcles, les chansons des rues et des bois, l’ann¦e terrible, l’art d’Þtre grand pÀre, le pape, la piti¦ suprÞme, religions et religion, l’–ne, les quatre vents de l’esprit. Paris: Seuil 1972 (Collection l’Int¦grale), S. 114.

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Semprfflns über die Aussprache hinausgeführt und auf die Aneignung der Fremdsprache im Ganzen ausgedehnt: […] il ne fallait pas que mon ¦tranget¦ s’affich–t, se f„t perceptible au premier venu. Il fallait que cette vertu d’¦tranget¦ f˜t secrÀte: pour cela il me fallait ma„triser la langue franÅaise comme un autochtone. Et mÞme, mon orgueil naturel y mettant son grain de sel, mieux que les autochtones. (S. 120) ([…] durfte meine Fremdheit sich nicht öffentlich bekunden, nicht für den Erstbesten erkennbar sein. Diese Fremdheit mußte geheim bleiben: deshalb mußte ich die französische Sprache beherrschen wie ein Einheimischer. Und sogar, dafür sorgte schon mein angeborener Stolz, besser als die Einheimischen.) (S. 119)

Wieder wird die fremdländische Identität gerade nicht aufgehoben, sondern sie soll verborgen bleiben unter der Vollkommenheit der beherrschten fremden Sprache. Vielleicht könnte man dieses Verhältnis zwischen der uneingeschränkten Hingabe an die Fremdsprache und der dadurch gesicherten und bewahrten eigenen Identität als Nicht-Franzose als dialektisch bezeichnen. In diesem anderen Sinne wäre die Identität damit »aufgehoben«. Wenn Semprfflns Autobiographie in wesentlichen Zügen Erzählung von der Aneignung der französischen Sprache ist, so heißt dies, dass er darstellt, wie ihm diese Sprache durch die Begegnung mit Autoren und Werken der französischen Literatur nahekommt und er in sie eindringt. Der ganze Text kündet vom Leben mit Literatur. Das erste große Beispiel ist Andr¦ Gide. Der Teil II von »Adieu, vive clart¦…« trägt den Titel »Je lis ›Paludes‹…«. Semprffln spricht dem Werk außerordentliche literarische Qualitäten zu: Mais celui-ci [»Paludes«], — toutes ses qualit¦s litt¦raires, qui sont exceptionnelles – extraordinaire modernit¦ formelle d’un r¦cit ¦crit il y a plus d’un siÀcle, en 1895; d¦licieuse insolence narrative; imagination d¦brid¦e; concision s¦vÀre du phras¦ et richesse lexicale, etc. –, ajoute une vertu qui lui est singuliÀre: on ne peut le concevoir ¦crit dans aucune autre langue que le franÅais. (S. 118) (Aber dieses Buch hat außer seinen außergewöhnlichen literarischen Qualitäten – außerordentliche formale Modernität einer vor über hundert Jahren, 1895, geschriebenen Erzählung; wunderbare narrative Respektlosigkeit; zügellose Phantasie; strenge Prägnanz der Phrasierung, reicher Wortschatz usw. – noch eine weitere, ganz persönliche Eigenschaft: man kann es sich in keiner anderen Sprache als der französischen vorstellen.) (S. 116)

Semprffln zitiert im Anschluss daran als Beleg noch einen Abschnitt aus »Paludes«. Wir können hier seine Kategorien nicht zu werten versuchen und uns auch nicht mit deren absoluter Bindung an die französische Sprache auseinandersetzen. Worauf es ankommt, ist die Bedeutung, die diese Lektüre für Semprffln hatte. Im Prozess der Aneignung der französischen Sprache wurde ihm »Paludes« zur unschätzbaren Hilfe:

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C’est dans cette entreprise – qui n’¦tait pas purement intellectuelle, qui avait une composante angoiss¦e, dans la d¦r¦liction de l’exil et de la perte absolue de repÀres culturels que celui-ci entra„nait, qui ¦tait aussi quelque chose de sensible, de charnel, donc – dans ce travail d’appropriation d’une langue – patrie possible, ancrage solide dans l’incertain de mon univers – que »Paludes« me fut d’un secours inestimable. (S. 120 f.) (Bei diesem Unterfangen – das nicht rein intellektuell war, sondern in der Verlassenheit des Exils und dem daraus folgenden Verlust aller kulturellen Anhaltspunkte, auch eine quälende Komponente hatte, auch etwas Sinnliches, also Fleischliches war –, bei dieser Arbeit der Aneignung einer Sprache – mögliches Vaterland, solider Anker in der Ungewißheit meiner Welt – war mir »Paludes« eine unschätzbare Hilfe.) (S. 119)

Man erkennt, wie für Semprffln die französische Sprache so etwas wie eine neue oder zweite Heimat wird, gleichsam ein Anker, dem er vertrauen kann. Jedoch betont er bei diesem Gedanken, dass die französische Sprache, »que Gide m’avait fait aimer passionn¦ment« (S. 134) (»die Gide mich leidenschaftlich lieben lehrte«) (S. 133), durch ihren universellen Charakter gekenzeichnet sei: Mais l’appropriation de la langue franÅaise – nouvelle patrie sans aucune des horreurs du patriotisme; enracinement dans l’universel et non dans un quelconque terroir; ouverture sur le ciel et non sur le clocher ; s¦r¦nit¦ d’une beaut¦ — son apog¦e, — l’heure entre toutes ¦mouvante d’un d¦clin historique pr¦visible (S. 134). (Aber die Aneignung der französischen Sprache – neues Vaterland ohne die Schrecken des Patriotismus; Verwurzelung im Universellen und nicht auf irgendeiner Scholle; Öffnung zum Himmel und nicht zum Kirchturm; Heiterkeit einer Schönheit auf ihrem Höhepunkt, zur erschütternden Zeit eines vorhersehbaren historischen Niedergangs) (S. 133).

Semprffln ist sich bewusst, dass er diese fremde Sprache liebt; sicher auch eine Vorbedingung dafür, dass der Aneignungsprozess so erfolgreich verläuft. Was den universellen Charakter der französischen Sprache ausmachen könnte, müsste erst einmal geklärt werden, aber wiederum ist der Stellenwert dieser Deutung im Denken Semprfflns von höherem Interesse. Es geht ihm bei dem neuen Vaterland in der Sprache um Abkehr von allem engstirnigen Nationalismus und Patriotismus. Es sucht nach einer Vergewisserung in einer über das Partikulare hinausreichenden Sphäre und findet sie für sich in der dichterisch gestalteten französischen Sprache. Sich dieser Sprache hinzugeben, ist für Semprffln mit einem Glücksgefühl verbunden: Mon amour du franÅais ¦tait donc d¦sint¦ress¦. Il n’y avait dans sa conquÞte nul enjeu trouble ou inavouable. Il n’y avait que du d¦sir, de la curiosit¦, une pr¦monition de plaisir. J’¦tais s¦duit, c’est tout, heureux de l’avoir ¦t¦: Åa se passait dans le bonheur. (S. 134 f.)

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(Meine Liebe zur französischen Sprache war also uneigennützig. Es lag ihrer Eroberung kein unlauteres oder nicht einzugestehendes Motiv zugrunde. Es gab nur Begierde, Neugier, ein Vorgefühl von Vergnügen. Ich war verführt, das ist alles, und froh darüber : es geschah im Glück.) (S. 133 f.)

Semprfflns erotisch gefärbte Ausdrucksweise macht die Lust spürbar, die der Umgang mit der französischen Sprache in ihm erzeugt. Beim Niederschreiben dieser Erinnerungen wird ihm auch klar, warum er sein erstes Buch, »Le grand voyage« (1963), in dem der Zugtransport der Deportierten nach Buchenwald dargestellt wird, in französischer Sprache geschrieben hat: C’est dans le travail de r¦miniscence, de reconstruction de ces quelques mois de 1939, en d¦couvrant que l’appropriation de la langue franÅaise a jou¦ un rúle d¦terminant dans la constitution de ma personnalit¦, que je comprends pourquoi j’ai ¦crit ce premier livre en franÅais. Il me fallait r¦pondre non seulement — la boulangÀre du boulevard Saint-Michel mais aussi, d’une certaine faÅon, — mon professeur de franÅais du lyc¦e Henri-IV, M. Audibert12. (S. 122) (Bei der Arbeit der Wiedererinnerung, der Rekonstruktion jener wenigen Monate des Jahres 1939, entdeckte ich, daß die Aneignung der französischen Sprache bei der Herausbildung meiner Persönlichkeit eine entscheidende Rolle gespielt hat, und ich begreife, warum ich dieses erste Buch auf französisch geschrieben habe. Ich mußte nicht nur der Bäckersfrau vom Boulevard Saint-Michel antworten, sondern in gewisser Weise auch meinem Französischlehrer im Lyc¦e Henri IV, Monsieur Audibert.) (S. 120 f.)

Es ist sehr bemerkenswert, dass Semprffln nicht nur meint, eine fremde Sprache sehr gut gelernt zu haben, sondern auch eine enge Verbindung zwischen der Aneignung des Französischen und der Entwicklung seiner Persönlichkeit erkennt. Die Sprache ist hier weit mehr als ein reines Verständigungsmittel. Sie formt auch das Wesen eines Menschen. In Semprfflns Autobiographie wird vor Andr¦ Gide ein anderer großer französischer Dichter eingeführt, der von entscheidender Bedeutung für Semprfflns Verhältnis zur französischen Sprache wurde: Charles Baudelaire. Als die Familie Semprffln sich noch in Den Haag aufhielt, zitierte Jean-Marie Soutou13 während eines Spaziergangs mit dem jungen Semprffln in der Stadt, ohne dass dieser den 12 Dieser Lehrer hatte bei der Korrektur von Semprfflns erstem französischen Schulaufsatz, den er mit »sehr gut« bewertet hatte, angemerkt, ob er nicht doch irgendwo abgeschrieben habe. Das hatte Semprffln geärgert, denn er hatte den Text wirklich ganz alleine verfasst. Vgl. Semprffln, Jorge (1998): Adieu, vive clart¦… (Anm. 1), S. 122; Semprffln, Jorge: Unsre allzu kurzen Sommer (Anm. 1), S. 121. 13 Jean-Marie Soutou (1912 – 2003), nach dem Zweiten Weltkrieg als französischer Diplomat tätig.

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Dichter gekannt hätte, einige Verse von Baudelaire (aus »Le beau navire«, »Les Fleurs du mal«, LII), die er nicht mehr vergessen konnte und dann immer wieder in der Baudelaire-Ausgabe las, die Jean-Marie Soutou ihm gegeben hatte. Die befreundete Familie Soutou hatte die Familie Semprffln nach deren Flucht zunächst beherbergt, und Jean-Marie wurde zum lebenslangen Freund Jorges, der ihm auch seine Autobiographie »Adieu, vive clart¦…« widmete. Von Jean-Marie Soutou sagt Semprffln, dass er ihn in die Geheimnisse und Schönheiten der französischen Sprache eingeweiht habe (S. 123, dt. Übers. S. 122). Die Schönheit der Verse Baudelaires hatte Semprffln tief beeindruckt (S. 56, dt. Übers. S. 52). Er bekennt: Les poÀmes de Baudelaire m’ouvrirent l’accÀs — la beaut¦ de la langue franÅaise. õ sa beaut¦ concrÀte et complÀte, j’entends: beaut¦ du son autant que du sens, prosodique autant que conceptuelle, sensuelle autant que significative. (S. 57) (Die Gedichte Baudelaires eröffneten mir die Schönheit der französischen Sprache. Ihrer konkreten und vollendeten Schönheit, das heißt: Schönheit sowohl des Klangs wie des Sinns, der sowohl prosodischen wie begrifflichen, sinnlichen wie bedeutsamen Schönheit.) (S. 53)

Baudelaire hat eine besondere Präsenz in dieser Autobiographie. Schon der Titel selbst, »Adieu, vive clart¦…« ist ein Zitat aus »Chant d’automne« (»Les Fleurs du mal«, LVI), Vers 2: »Adieu, vive clart¦ de nos ¦t¦s trop courts!«, und das ganze Buch endet mit den Versen 1 und 2 dieses Gedichts: »Bientút nous plongerons dans les froides t¦nÀbres: / Adieu, vive clart¦ de nos ¦t¦s trop courts!« (»Bald werden wir in kalte Finsternisse tauchen: / Leb wohl, strahlende Helle unsrer allzu kurzen Sommer!«14) Damit wird deutlich auf das dunkle Ende dieses in der Autobiographie dargestellten Lebensabschnitts verwiesen, auf den baldigen Kriegsausbruch und die spätere Deportation nach Buchenwald, den entscheidenden Einschnitt in Semprfflns Leben. Noch ein weiteres Baudelaire-Zitat taucht zweimal (Titel von Teil I und von dessen Unterkapitel 3) als Zwischentitel auf: »J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans« (»Spleen«, »Les Fleurs du mal«, LXXVI, Vers 1) (»Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt«15). Außerdem hat ein Abschnitt auf S. 59 (dt. Übers. S. 56) als Überschrift das Zitat »Je suis comme le roi d’un pays pluvieux« (»Spleen«, »Les Fleurs du mal«, LXXVII, Vers 1) (»Ich bin gleich dem König eines Regen-Landes«16). Verse Baudelaires haben sich Semprffln offenbar so eingeprägt, dass sie bei Gelegenheit aus dem Gedächtnis aufsteigen, mag auch 14 Eva Moldenhauer hat hier die deutsche Übersetzung von Friedhelm Kemp übernommen. Vgl. Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Friedhelm Kemp. München: dtv 1986, S. 121. 15 Ebd., S. 155. 16 Ebd., S. 157.

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beim Schreiben der Autobiographie daraus ein Darstellungsmittel werden. Es heißt an einer Stelle: Mais n’importe quel vers de Baudelaire pouvait me hanter, au cours de ce printemps, de cet ¦t¦, entre les deux guerres de mon adolescence. Toutes les occasions ¦taient bonnes, tous les lieux propices, pour me rappeler les poÀmes de Baudelaire. (S. 53) (Aber jedweder Vers von Baudelaire konnte mich heimsuchen im Laufe jenes Frühjahrs, jenes Sommers zwischen den beiden Kriegen meiner Jugend. Jede Gelegenheit war günstig, jeder Ort dazu angetan, mir Baudelaires Gedichte in Erinnerung zu rufen.) (S. 49)

Daraus spricht in jedem Falle ein hohes Maß an innerer Aneignung von Gedichten Baudelaires, die auf diese Weise Semprfflns sprachliche Zuwendung zur französischen Welt prägen. Wenn er seine Streifzüge durch Paris beschreibt, geht ihm der Bezug auf Baudelaire nicht aus dem Sinn. Einmal spricht Semprffln deutlich aus, wie er es denn gemacht habe, Baudelaire in seinem Geist diese Gegenwärtigkeit zu verschaffen: Il [Charles Baudelaire] m’avait initi¦ aux beaut¦s de la langue franÅaise, — celles de Paris, mais aussi, surtout peut-Þtre, — la beaut¦ des femmes. J’avais d¦sesp¦r¦ment cherch¦ sa passante dans les rue de Paris. J’avais scrupuleusement not¦ dans mes petits carnets ses phrases, aphorismes et notations qui m’¦clairaient sur la psychologie de la vie moderne et la nature de l’¦ternel f¦minin. (S. 233) (Er [Baudelaire] hatte mich in die Schönheiten der französischen Sprache eingeweiht, in die Schönheiten von Paris, aber auch, vielleicht vor allem, in die Schönheit der Frauen. Verzweifelt hatte ich in den Straßen nach seiner Vorübergehenden gesucht. Gewissenhaft hatte ich in meine kleinen Hefte seine Sätze, Aphorismen und Notizen geschrieben, die mich über die Welt, über die Psychologie des modernen Lebens und über die Natur des ewig Weiblichen aufklärten.) (S. 233)

Hier taucht die Frau als wichtiges Thema von Semprfflns Autobiographie auf. Auch dieses lässt sich, wie man sieht, nicht aus dem Zusammenhang mit Baudelaire herausreißen, aber es soll hier nicht einbezogen werden. Es bedürfte einer eigenen Behandlung. Von Interesse ist an dieser Stelle, dass Semprffln die Welt mit Baudelaire liest und es nicht einfach auf das Gedächtnis ankommen lässt, sondern in seinen Heften systematisch Exzerpte aus Baudelaires Texten sammelt. Sie prägen sich damit umso intensiver ein und gehen, wie man annehmen darf, in die eigene Sprache Semprfflns und in sein Denken ein. Eine äußerst dichte Durchdringung eines Gedichts von Baudelaire und Evokation einer Lebenssituation Semprfflns zeigt sich in unserem letzten Beispiel. Semprffln erklärt seine Vorliebe für das Spazierengehen in Paris, für die Fortbewegung zu Fuß auch im Rückgriff auf Baudelaire, in diesem Falle auf das bekannte Sonett »õ une passante« (»Les Fleurs du mal«, XCIII). Er versetzt sich

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gleichsam in die Rolle des Flaneurs.17 Semprffln beginnt, aus den beiden Quartetten zu zitieren, die Terzette lässt er, zunächst wenigstens, aus: »J’en rÞvais: la rue assourdissante autour de moi hurlait; longue, mince, en grand deuil.« (S. 160) (»Ich träumte davon: Betäubend würde die Straße rings um mich heulen; hochgewachsen, schlank, in tiefer Trauer.«) (S. 158) Dann aber setzt gleich eine auf das erzählende Ich bezogene Bemerkung dazu ein: »[M]a pr¦f¦rence pour les femmes minces, gain¦es de noir, bras et jambes, buste et hanches vient de l—: facile — deviner!« (S. 160) (»[M]eine Vorliebe für schlanke Frauen mit schwarz umhüllten Armen und Beinen, Brüsten und Hüften, rührt daher : leicht zu erraten!«) (S. 158) Er zitiert weiter das Ende des ersten Quartetts: »la main fastueuse balanÅant le feston et l’ourlet« (»die Hand, die üppig des Kleides wellenhaften Saum hob und wiegte«). Erneut bricht das Zitat ab, und der Erzähler kommentiert, dass heute nur noch die Mannequins der Haute Couture so schritten. »[J]e savais bien que ce n’¦tait plus possible, que Åa ne se faisait plus dans la vie de tous les jours, tant pis!« (»[I]ch wußte wohl, daß das nicht mehr möglich war, daß das im alltäglichen Leben nicht mehr vorkam, sei’s drum!«) Nur bei der letzten Zeile des zweiten Quartetts nimmt er die Möglichkeit einer unmittelbaren Übertragung in seine Gegenwart an: Mais l’essentiel, les mots qui me br˜laient la gorge en les disant, l’–me en m’en souvenant: la douceur qui fascine et le plaisir qui tue […], ces mots-l— correspondaient encore — une v¦rit¦, — une incarnation pensable d’une beaut¦ passagÀre, n’importe o¾, dans n’importe quelle rue de Paris que j’arpenterais, un jour de sortie quelconque. (Aber das Wesentliche, die Wörter, die mir in der Kehle brannten, wenn ich sie sprach, und in der Seele, wenn ich mich ihrer erinnerte: la douceur qui fascine et le plaisir qui tue, »die Süße, die betört, die Lust, die tötet« […], jene Wörter entsprachen noch immer einer möglichen Wahrheit, der denkbaren Verkörperung einer vorübergehenden Schönheit, irgendwo, in irgendeiner Straße von Paris, die ich an einem beliebigen schulfreien Tag durchschritt.)

Etwas später erzählt Semprffln von der Begegnung mit einer Pariserin, die sich ihm zugewandt, deren Einladung er aber nicht angenommen hatte. An dieser Stelle greift er nun das Sonett »õ une passante« wieder auf und zitiert aus den beiden Terzetten: »Ce n’¦tait pas une fugitive beaut¦, jamais je n’aurais pu lui crier : ú toi que j’eusse aim¦e, jamais.« (S. 162) (»Es war keine fugitive beaut¦, keine flüchtige Schönheit, niemals hätte ich ihr zurufen können: ú toi que j’eusse aim¦e, ›o du, die ich geliebt hätte‹, niemals.«) (S. 161) Lebenssituationen können nur so eng auf eine literarische Folie bezogen werden, wenn deren sprachliche Wirklichkeit, hier das Gedicht Baudelaires, im Leben ohnehin eine beherrschende Rolle spielt. Dass sie es bei Semprffln tat, 17 Vgl. dazu Stierle, Karlheinz (1993): Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München: Hanser, bes. S. 800 f.

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dürfte auch damit zusammenhängen, dass er gerade über die Literatur sich die französische Sprache aneignete.18 Daraus ergab sich für Semprffln eine Art Kompensation für das Verlorene, wie er einmal resümiert: [C]e souci constant […] avait ¦t¦, sinon effac¦, du moins compens¦ – en quelque sorte, relativis¦ – par le succÀs de mon appropriation de la langue franÅaise, qui m’avait introduit dans une communaut¦ id¦elle o¾ personne ne me demandait de montrer mes piÀces d’identit¦. Ni Gide, ni Giraudoux, ni Guilloux, ni Malraux, ni Sartre, ni Martin du Gard, ni Leiris n’exigeaient un passeport pour m’ouvrir leurs pages pleines d’¦merveillements, pour m’introduire aux exigences austÀres de la litt¦rature. (S. 203 f.) ([D]ennoch war diese ständige Sorge […], wenn nicht ausgelöscht, so doch wettgemacht – gewissermaßen relativiert – worden durch meinen Erfolg beim Erlernen der französischen Sprache, der mich in eine ideelle Gemeinschaft eingeführt hatte, wo mich niemand nach meinen Ausweispapieren fragte. Weder Gide noch Giraudoux noch Guilloux noch Malraux noch Sartre noch Martin du Gard noch Leiris verlangten einen Paß, um mir ihre wundervollen Seiten zu öffnen, mich in die strengen Ansprüche der Literatur einzuführen.) (S. 203 f.)

Georges-Arthur Goldschmidt hatte schon bei dem Aufenthalt in Florenz von Mai 1938 bis März 1939 bei den Binswangers, die dann nach Neuseeland aufbrachen, Erfahrungen mit dem Sprechen einer Fremdsprache gemacht: Au bas du podere se trouvait une ferme o¾ j’allai souvent jouer, regarder et bientút bavarder, car je ne tardai pas — parler suffisamment d’italien pour pouvoir ¦changer au moins quelques mots enfantins avec les gens qui m’entouraient – les enfants apprennent trÀs vite les mots essentiels de la vie quotidienne. (S. 128)19 (Unterhalb des Podere befand sich ein Bauernhof wo ich oft zum Spielen und zum Schauen hinging und bald auch Plaudern, denn sehr rasch lernte ich genug Italienisch, um mindestens einige kindliche Worte mit den Leuten, die mich umgaben, austauschen zu können. Kinder, wie man weiß, lernen sehr schnell die wesentlichen Wörter des alltäglichen Lebens.) (S. 149)

Offensichtlich zeigt sich hier Sprachbegabung bei dem zehnjährigen Jungen. Die Aneignung der Fremdsprache aber vollzieht sich ohne systematisches Lernen nur im alltäglichen Umgang mit Muttersprachlern. Für seine Sprachbegabung sprechen aber auch seine Lust am Italienischen und seine Beobachtungen zu Eigenarten dieser Sprache: 18 Der Titel des dritten Hauptteils der Autobiographie, »Voil— la Cit¦ sainte, assise — l’occident…« (S. 137) (»Seht sie liegen, die heil’ge Stadt, wie sie im Abendlande ruht…«) (S. 135), ist ein Zitat aus Rimbauds Gedicht »L’Orgie parisienne ou Paris se repeuple« (Vers 4). Vgl. Rimbaud, Arthur : Œuvres complÀtes. Hg. und komm. v. Rolland de Ren¦ville und Jules Mouquet. Paris: Gallimard 1963 (BibliothÀque de la Pl¦iade 68), S. 81 – 83. 19 Goldschmidt, Georges-Arthur (1999): La travers¦e des fleuves (Anm. 2); Goldschmidt, Georges-Arthur : Über die Flüsse (Anm. 2).

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J’aimais parler italien, je me plongeais avec d¦lices dans l’¦coulement sonore et doux — la fois de cette langue qui permettait tant de jeux de bouche, dont on pouvait moduler les syllabes, les tenir en suspens et les prolonger ou les affaiblir — sa guise. (S. 129) (Ich liebte Italienisch, ich tauchte mit Wonne in den lauten und zugleich weichen Sprachfluß, der so viele Mundspiele erlaubte, eine Sprache, deren Silben man modulieren konnte, verlängern, anhalten oder abschwächen, wie man wollte. Diese Sprache war ein Mundgenuß.) (S. 150)

Im Gegensatz zu Semprffln konnte der eben auch fünf Jahre jüngere Goldschmidt noch gar kein Französisch, als er 1939 nach MegÀve in Savoyen kam. Die Namen der Städte, die er auf einer Michelin-Karte fand, schienen ihm unaussprechbar. Buchstabenverbindungen wie -eaux, -quen, -on, -ien waren ihm vorher noch nie begegnet (S. 139). Der Erwerb der französischen Sprache vollzieht sich nun so wie vorher der des Italienischen. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang für ein Kind, das jetzt in einer französischsprachigen Umgebung lebt. »Je ne garde cependant presque aucun souvenir de mon apprentissage du franÅais et de tout ce qui se passa entre 1939 et 1943«. (S. 139) (»Jedoch erinnere ich mich kaum an mein Erlernen des Französischen und auch recht wenig an das, was zwischen 1939 und 1943 passierte«.) (S. 164) Eines Tages stellt er fest, dass er fast alles versteht: Je sais simplement qu’en novembre 1939 un de mes camarades de pension dit tout — coup: »Les premiers flocons!«, gr–ce — la similitude avec le mot allemand Flocken, je m’aperÅus soudain que je comprenais d¦j— tout, depuis un certain temps, sans m’en Þtre vraiment rendu compte et de faÅon tout — fait naturelle. (S. 140) (Ich weiß nur, daß im November 1939 einer meiner Mitschüler plötzlich gesagt hat »Les premiers flocons«, und dank der Ähnlichkeit mit dem Wort »Flocken« stellte ich auf einmal fest, daß ich seit einiger Zeit schon, ohne es wirklich wahrgenommen zu haben, alles ganz von selbst verstand.) (S. 164 f.)

In seiner Autobiographie schließt Goldschmidt gleich einen Kommentar dazu an: La compr¦hension d’une langue ne doit rien — la traduction, on n’apprend jamais dans l’enfance une langue en la faisant passer par l’autre, bien au contraire. Le franÅais, d’embl¦e, a pris place en moi, et aucune tournure, aucun mot jamais ne me parurent ¦trangers, ils m’¦taient familiers comme depuis toujours. (S. 140) (Das Verstehen einer Sprache hat nichts mit der Übersetzung zu tun, in der Kindheit lernt man nie die eine Sprache durch die andere, ganz im Gegenteil. Das Französische hat sich auf Anhieb eingestellt, und kein Wort, keine Wendung schien mir je fremd, sie waren mir alle vertraut, wie schon seit immer.) (S. 165)

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Goldschmidt hat einen wachen Sinn für die Einbettung der Sprache ins Leben: Le franÅais se mit en place autour d’images, de gestes, de sensations corporelles, de d¦parts en excursion, d’attente de repas, de la pr¦sence des autres pensionnaires, c’est certainement par eux que me vint l’essentiel de la langue franÅaise. (S. 141) (Das Französische legt sich um Bilder, um Gesten und leibliche Empfindungen. Die Ausflüge, das Warten auf Mahlzeiten und die Gegenwart der anderen Internatsschüler wurden zum Inhalt der Sprache. Von letzteren übernahm ich bestimmt das Wesentlichste des Französischen.) (S. 166)

Einen Bereich hebt Goldschmidt in diesem Zusammenhang besonders hervor, nämlich den Wortschatz der Sexualität: Ce qui donna, en tout cas, au franÅais son caractÀre de langue d’enfance, sinon de langue maternelle, c’est le vocabulaire de la sexualit¦ enfantine, — travers lequel l’apprentissage linguistique devient infaillible. Le sexuel (en d¦pit de la laideur du mot) est instantan¦ment compr¦hensible et compris, c’est lui, en fait, qui ouvre les portes de la langue seconde […]. Qui n’a pas v¦cu ses premiers grands ¦mois sexuels dans cette langue ne l’acquiert probablement pas tout — fait du fond de son Þtre mÞme. (S. 141) (Was ihm [dem Französischen] nämlich die Eigenschaft einer Sprache der eigenen Kindheit, wenn nicht der Muttersprache gegeben hat, das war der Wortschatz der kindlichen Sexualität, durch welche das Sprachelernen unfehlbar wurde. Das Sexuelle (trotz der Häßlichkeit des Wortes) wird augenblicklich verständlich und verstanden. Das Sexuelle, eigentlich, öffnet alle Tore der Zweitsprache […]. Wer nicht seine ersten sexuellen Verwirrungen in einer Zweitsprache erlebt hat, wird jene Sprache wahrscheinlich nie vom Grund seines Wesens auf beherrschen.) (S. 166 f.)

Man versteht diese Bemerkung, wenn man sich der Bedeutung bewusst ist, die die sexuelle Sphäre in Goldschmidts Autobiographie spielt.20 Wenig später spielt Goldschmidt auf eine schwierige Situation an, in der er aber alles, was gesagt wurde, vollkommen verstand. Er resümiert dann: »donc, en deux ou trois mois, j’avais acquis l’essentiel de la langue, ce qui prouve une fois de plus l’utilit¦ des ›bains linguistiques‹.« (S. 142) (»Also in drei, vier Monaten hatte ich mir schon das Wesentliche der Sprache angeeignet, was einmal mehr die Nützlichkeit der ›Sprachbäder‹ beweisen dürfte.«) (S. 168) Erneut kommentiert Goldschmidt diese Erfahrung beim Erwerb der französischen Sprache: Ce sont de telles situations qui mettent d’embl¦e un enfant au sein de la v¦rit¦ de la langue, au point que tout y est compris d’un coup, sans qu’il y ait apprentissage. La langue se met en place d’un bloc ou pas du tout, le reste n’est plus qu’¦lucidation progressive. (S. 142) 20 Eine ähnliche Bemerkung findet sich übrigens bei Semprffln, Jorge (1998): Adieu, vive clart¦… (Anm. 1), S. 106 (Semprffln, Jorge: Unsre allzu kurzen Sommer [Anm. 1], S. 104).

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(Solche Situationen werfen ein Kind auf einmal mitten in die Wahrheit der Sprache, so daß alles sofort ohne Lernzeit und auf Anhieb verstanden wird. Die Sprache ist auf einmal blockartig da oder gar nicht. Alles übrige ist nur noch progressive Auslegung des bereits Geahnten.) (S. 168)

Es ist deutlich, wie sehr sich hier die kindliche Aneignung der Sprache von der Orientierung an literarischen Werken bei Semprffln unterscheidet. Auch das Hören von Radiosendungen bringt Goldschmidt weiter in der Kenntnis der französischen Sprache. Er hört mit größtem Interesse Radio London und damit auch die Reden de Gaulles: »Ces voix dont nous ne connaissions pas les identit¦s, je les aspirais, je les laissais descendre en moi sans rien en perdre, c’¦taient elles qui perfectionnaient encore plus mon franÅais.« (S. 164) (»Diese Stimmen, deren Identität wir nicht kannten, die sog ich in mich ein, ich ließ sie in mir hinunter, ohne etwas zu überhören, sie waren es, die mein Französisch noch leichter und geläufiger werden ließen.«) (S. 197) Natürlich fehlt auch bei Goldschmidt nicht der Einfluss der Lektüre literarischer Texte auf die Aneignung des Französischen. Wie bei Semprffln gibt es ein leidenschaftliches Hingezogenwerden zur Literatur : »Les textes litt¦raires me passionnaient, j’y voyais appara„tre les personnages, je les entendais parler, ils roulaient en carosse sous les arbres de l’automne.« (S. 165) (»Die literarischen Texte begeisterten mich, ich sah da Menschen aus alten Zeiten erscheinen, die ich reden hörte, sie fuhren in hohen Karrossen unter den herbstlichen Bäumen dahin.«) (S. 198). Die Texte wurden in der Schule gelesen, sie waren gesammelt als »Morceaux choisis« der französischen Literatur und enthielten Auszüge aus Mme de S¦vign¦, Bossuet, La BruyÀre, La Fontaine, Pascal und Cardinal de Retz. Goldschmidt war erstaunt, dass er alles verstand: [Je] situais tout de suite les auteurs et en appr¦ciais les mots, qui tombaient juste. Je comprenais ainsi des termes que je n’avais encore jamais entendus et me trompais rarement sur leur sens. Celui-ci s’en v¦rifiait vite par l’usage dans le texte. (S. 165) ([Ich situierte] sofort die Autoren […] und schmeckte die so genau treffenden Worte wie mit der Zunge ab. Ich begriff auf diese Weise Wörter, die ich noch nie gehört hatte und über deren Bedeutung ich mich selten irrte. Ihr Sinn bestätigte sich dann beim weiteren Gebrauch in selben oder anderen Texten.) (S. 198)

Die französische Sprache faszinierte Goldschmidt. Einen ganz besonderen Eindruck auf ihn machte die Lektüre von Blaise Pascals »Pens¦es«: Une exp¦rience d¦terminante et v¦ritablement foudroyante fut la d¦couverte, alors que je ne devais guÀre avoir plus de quinze ans, des extraits des »Pens¦es« de Pascal, certaines d’entre elles produisirent en moi un v¦ritable choc physique, une ¦motion et un enthousiasme particuliers que ma langue maternelle ne m’avait jamais donn¦ de ressentir. (S. 166)

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(Eines der entscheidenden und wirklich erschütternden Erlebnisse, wo man wie vom Blitz getroffen steht, war die Entdeckung, in einem Lesebuch, von Auszügen aus den »Pens¦es« (Gedanken) von Pascal, gewisse unter ihnen verursachten in mir einen richtigen körperlichen Schock, eine besondere Aufregung und eine Begeisterung, die mir meine Muttersprache nie Gelegenheit zu empfinden gegeben hatte, man hatte sie mir verboten, nichts vielleicht würde sie mir unversehrt zurückschenken.) (S. 199)21

Es dürfte so sein, dass Goldschmidt hier sowohl von den Gedanken Pascals als auch von der Sprache stark beeindruckt war. In jedem Falle zeigt diese Stelle, wie sehr er schon ganz in der französischen Sprache lebte. Die genannte Textanthologie, die für den Unterricht in katholischen Schulen gedacht war, ging nicht über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus und warnte zugleich vor ›gefährlicher Lektüre‹: »Presque — toutes les pages on nous mettait en garde contre Voltaire, Diderot, Rousseau et les libertins; on nous en donnait pour ainsi dire la liste: les Saint-Êvremont, Mirabeau ou Laclos qu’il ne fallait surtout pas lire et qui n’en ¦taient que plus all¦chants.« (S. 166) (»Auf fast jeder Seite warnte man uns vor Voltaire, Diderot oder Rousseau und den Libertins; man stellte uns deren Liste sozusagen auf, alle die Saint-Êvremont, Mirabeau oder Laclos, die man auf keinen Fall lesen durfte, die aber um so anregender waren.«) (S. 199 f.) Goldschmidt erwähnt noch manche Lektüre französischer Literatur in seiner Autobiographie, aber das Interesse gilt ganz ihrem Inhalt und ihrer Thematik und nicht so sehr der Sprache als anzueignendem Vorbild. Als Beispiel sei nur die Entdeckung der »Confessions« Jean-Jacques Rousseaus angeführt. Das Werk bildete einen Teil des Baccalaur¦at-Programms im Jahre 1946. Für Goldschmidt war die Lektüre wie ein wahrer Donnerschlag (S. 204, dt. Übers. S. 248). Aber er betrifft nur die Entdeckung des Inhalts, die Sprache bleibt gänzlich unberücksichtigt. Goldschmidt ist überwältigt von der Erkenntnis, dass ein anderer Mensch dasselbe empfunden hat wie er, als er von der Lehrerin mit Schlägen auf den bloßen Hintern bestraft wurde und dabei zugleich sexuelle Lust erlebte. Dies ist ein sehr wichtiges Thema bei Goldschmidt und wird an dieser Stelle ausführlich behandelt (S. 204 – 209, dt. Übers. S. 247 – 254). Es führt uns jedoch von unserem Sprachthema weg und soll nicht weiter verfolgt werden. Für Goldschmidts Aneignung der französischen Sprache ist schließlich die Rolle seiner französischen Frau, Gymnasiallehrerin und wie er am Lyc¦e von Saint-Denis tätig, von ganz besonderer Bedeutung. Im Juni 1956 hatten sie geheiratet. In seiner Autobiographie hebt er ihren Anteil an seinem immer intensiver mit der Sprache Vertrautwerden gebührend hervor: Ma femme ne tarda pas — me suivre au mÞme lyc¦e comme professeur de lettres. C’est — elle que je dois, parmi tant de choses et de patience, de compr¦hension et d’intuition, 21 Goldschmidt hat in seiner deutschen Übersetzung den letzten Satz hinzugefügt.

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non pas la connaissance du franÅais, mais, bien plus que cela, la d¦couverte, gr–ce — son sens tout particulier de l’appropriation et de la justesse des mots, de la langue franÅaise, car la pr¦cision des termes entrouvre, — condition de viser juste, sur des horizons de pens¦e qui n’apparaissent pas peut-Þtre au premier abord mais que la connaissance de la langue qu’avait ma femme me r¦v¦la. Le cadre urbain mat¦rialisa en somme, plus encore que les s¦jours campagnards pr¦c¦dents, les modalit¦s mÞmes de la langue. (S. 315 f.) (Bald kam mir meine Frau als Französisch- und Lateinlehrerin nach. Ihr verdanke ich unter so vielem anderen, so vieler Geduld, Verständnis und Einfühlung, nicht die Kenntnis des Französischen, sondern viel mehr als das, und zwar dank ihrer besonderen Gabe, die Entdeckung der Richtigkeit und Genauigkeit der Wörter, die Entdeckung der Tiefsinnigkeiten des Französischen, den22 die Genauigkeit der Termini eröffnet unter der Bedingung, daß man richtig auf Horizonte des Denkens zielt, die einem nicht auf Anhieb erschienen, die mir aber die Kenntnis der Sprache, die meine Frau hatte, offenbarte. Das Stadtbild konkretisierte eigentlich mehr noch als meine vorherigen Aufenthalte auf dem Lande, die Wesenszüge der Sprache.) (S. 389)

Offenkundig erlebte Goldschmidt durch seine Frau das große Glück, die hohe Schule des immer tieferen Eindringens in die französische Sprache vermittelt zu bekommen. So konnte Goldschmidt in den Gesprächen mit Hans-Jürgen Heinrichs bekennen: »Wählen tue ich keine Sprache. Ich schrieb jahrelang nur Französisch, weil Französisch meine Leib-, meine Wesenssprache, auch meine Lebenssprache ist.«23 Er verdankt seiner Frau auch das wirkliche Heimischwerden in Frankreich: »C’est en marchant avec elle dans les paysages que ceux-ci ont cess¦ de m’appara„tre comme plus ou moins interdits, c’est elle qui me les a faits miens.« (S. 324) (»Erst im Spazierengehen mit ihr zusammen haben die Landschaften aufgehört, mir mehr oder weniger verboten zu erscheinen, sie hat sie zu den meinigen werden lassen.«) (S. 400)

3.

Reflektierte Zweisprachigkeit

Wie sehr auch bei beiden Autoren die Faszination durch die französische Sprache hervorgehoben werden muss, liegt darin doch nur die halbe Wahrheit. Semprffln und Goldschmidt haben ihre Herkunftssprachen, das Spanische und das Deutsche, im Exil nicht verloren. Bei Semprffln war es eine selbstverständliche Folge der Tatsache, dass er in Verbindung mit seiner Familie blieb, dass er in die KP Spaniens eintrat und später fünf Jahre lang die Untergrundarbeit in

22 Hier müsste in der Übersetzung wohl eher »die« statt »den« stehen. 23 Schwarzfahrer des Lebens (Anm. 6), S. 130.

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Spanien selbst leitete.24 Einmal kommt er in seiner Autobiographie auf das Verhältnis zu seiner Muttersprache ausdrücklich zu sprechen: La langue espagnole ne cessa pour autant d’Þtre mienne, de m’appartenir. De sorte que je ne cessai jamais d’Þtre — elle – travers¦ par elle, soulev¦ par elle –, de lui appartenir. Je ne cesserai pas d’exprimer avec ses mots, sa sonorit¦, sa flamboyance, l’essentiel de moi-mÞme, — l’occasion. En somme, du point de vue de la langue, je ne devins pas franÅais mais bilingue. Ce qui est tout autre chose, de bien plus complexe, on peut l’imaginer. (S. 135) (Dennoch hörte die spanische Sprache nicht auf, die meine zu sein, mir zu gehören. So daß ich nie aufhörte, der ihre zu sein – von ihr durchdrungen, von ihr aufgerichtet. Ich werde nicht aufhören, mit ihren Worten, ihrem Klang, ihrem Leuchten, das Wesentliche von mir auszudrücken, gelegentlich. Kurz, im Hinblick auf die Sprache wurde ich nicht französisch, sondern zweisprachig. Was etwas ganz anderes, Komplexeres ist, wie man sich denken kann.) (S. 134)25

Er führt das leider nicht weiter aus, aber es ist schon bemerkenswert, dass er der Zweisprachigkeit einen eigenen Status zuspricht. In einer Person treten gleichberechtigt zwei Sprachen in Beziehung zueinander und stehen sich nicht ohne wechselseitigen Kontakt isoliert gegenüber. Die eine Sprache wird immer begleitet von der anderen und profiliert überhaupt das Sprachbewusstsein. Es sei noch bemerkt, dass Semprffln in Madrid als Kind auf Wunsch seines Vaters als erste Fremdsprache Deutsch gelernt hatte (S. 57 f.). Als Reiseführer für seine Streifzüge durch Paris hatte er sich einen deutschen Baedeker beschafft, in dem er die für ihn nützlichsten Auskünfte erhielt. (S. 142) Als Paul-Ludwig Landsberg26 ihn in einem Pariser Caf¦ einer Gruppe von deutschen Emigranten vorstellt, bemerkt er über Semprffln: »Er spricht ganz nett Deutsch.« (S. 241) Im Blick auf die Zweisprachigkeit bietet Goldschmidt einen komplizierteren Fall als Semprffln. Das hängt einmal damit zusammen, dass bei ihm nicht zwei romanische Sprachen im Spiel sind, sondern eben Französisch und Deutsch, die aufgrund des größeren Abstands zueinander stärker zu Beobachtungen über Kontraste Anlass geben. Zum anderen ist bei Goldschmidt sein Verhältnis zur deutschen Sprache in nicht geringem Maße davon bestimmt, dass er bei dieser 24 Vgl. dazu die in spanischer Sprache von Semprffln geschriebenen Bücher »Autobiografia de Federico S‚nchez« (1977) und »Veinte aÇos y un d†a« (2003). (Semprffln, Jorge: Zwanzig Jahre und ein Tag. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.) 25 Semprffln, Jorge (1998): Adieu, vive clart¦… (Anm. 1) (Semprffln, Jorge: Unsre allzu kurzen Sommer [Anm. 1]). 26 Paul Ludwig Landsberg (1901 – 1944), deutscher Philosoph und Soziologe aus jüdischer Familie. 1933 emigrierte er über die Schweiz nach Frankreich. Er war wie Semprffln in Verbindung zur R¦sistance getreten, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und starb am 2. April 1944 im KZ Sachsenhausen.

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Sprache immer die politische Situation, insbesondere seine eigene Vertreibung aus Deutschland durch das Naziregime mitdenkt. Goldschmidt ist selbst darüber erstaunt, dass er sein Deutsch bewahrt hat. Er bemerkt für die Zeit nach Kriegsende: »A ma grande surprise, ma langue maternelle me restait tout — fait familiÀre, je n’en avais rien oubli¦, je la parlais sans aucun accent avec la plus grande facilit¦.« (S. 209) (»Zu meiner großen Überraschung war mir meine Muttersprache völlig vertraut geblieben.«) (S. 255)27 Diese Zweisprachigkeit fasst er als selbstverständliche Gegebenheit auf. Er kann darauf bauen, als er kurz nach Kriegsende als Dolmetscher beim Besuch eines Lagers mit deutschen Kriegsgefangenen herangezogen wird (S. 203, dt. Übers. S. 246). Im Zusammenhang mit der Zweisprachigkeitsthematik bezieht er auch das Übersetzen mit ein. Bekanntlich hat Goldschmidt Handke ins Französische übersetzt. Dazu gibt es eine interessante Stelle in den Gesprächen mit Hans-Jürgen Heinrichs: Handke übersetzen hat bestimmt meine Schreibart geändert […]. Handke führte mich beim Übersetzen zu einer viel bescheideneren, einer vollkommen visuellen, unverzerrten, ironielosen Sprache zurück, aus der ich dann meine eigene entstehen ließ. Das verdanke ich dem Übersetzen. Überhaupt, wenn man das Glück der Zweisprachigkeit schon hat, sollte das Schreiben mit dem Übersetzen anfangen.28

Gemeint ist doch wohl eine wechselseitige Beeinflussung beim Übersetzen, in der einen wie in der anderen Sprache. 1991 hat Goldschmidt zum ersten Mal eine in deutscher Sprache geschriebene Erzählung, »Die Absonderung«, publiziert, und seine in eigener Übersetzung erschienene Autobiographie (2001) darf man gewiss auch zu seinen deutschen Werken rechnen. Goldschmidt macht sich auf seine Weise bestimmte Unterschiede zwischen den beiden Sprachen bewusst. Er richtet seine Beobachtungen insbesondere auf den Satzbau und auf Eigentümlichkeiten des Wortschatzes: La langue franÅaise me fascinait, les phrases ¦taient toutes comme transparentes et faciles — dominer du regard, elles ¦taient moins serr¦es, moins touffues que les phrases allemandes. Les mots avaient un visage un peu myst¦rieux, on ne les comprenait que par le contexte, ils n’¦taient pas comme la plupart des mots compos¦s allemands, dont on saisissait le sens rien qu’— les regarder et qui en perdaient, du coup, toute po¦sie, ils n’avaient pas cet aspect envelopp¦, cach¦, des mots franÅais. (S. 165) (Die französische Sprache faszinierte mich, die Sätze waren wie transparent und leicht zu übersehen, sie waren weniger gedrängt, wucherten nicht so aus, wie die deutschen. Die Wörter sahen ein wenig rätselhaft aus, man verstand sie erst durch ihre Umgebung, 27 Goldschmidt, Georges-Arthur (1999): La travers¦e des fleuves (Anm. 2); Goldschmidt, Georges-Arthur : Über die Flüsse (Anm. 2). In seiner Übersetzung hat er den zweiten Teil des Satzes ausgelassen. 28 Schwarzfahrer des Lebens (Anm. 6), S. 126.

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sie waren nicht wie die meisten deutschen zusammengesetzten Wörter, deren Sinn man sofort verstand, bloß wenn man sie anschaute, und die daher sofort all ihre Poesie verloren, sie hatten nicht dieses umhüllte, verborgene Aussehen der französischen Wörter.) (S. 198)

Es sind Beobachtungen eines Menschen, der mit beiden Sprachen eng vertraut ist und das, was er im Umgang mit ihnen unmittelbar empfindet, festhält. Natürlich hat er dabei keine wissenschaftlichen Absichten, aber man versteht sofort, was er meint. Es ist nicht möglich, hier auch auf die beiden wichtigen Bücher Goldschmidts zu Freud »Quand Freud voit la mer« (1988) und »Quand Freud attend le verbe. Freud et la langue allemande II« (1996) einzugehen. Es geht dort allerdings auch um das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Sprache. Auffällig ist bei Goldschmidts Vergleichen zwischen Französisch und Deutsch eine sehr harsche Kritik an der Sprache deutscher Geisteswissenschaftler und deutscher Philosophen nach Kant bis ins zwanzigste Jahrhundert. Am Französischen beobachtet und bewundert er : La briÀvet¦, la pr¦cision du style, cette faÅon d’aller droit au but, c’¦tait comme une antimatiÀre de tout ce que je connaissais, cela allait vite c’¦tait incisif et fluide. C’est par le franÅais que je fis connaissance avec la concentration, qu’on confond si volontiers avec l’abstraction. Cela faisait penser — ces fleurs japonaises que ma mÀre avait un jour fait se d¦ployer devant moi, dans le lavabo du vestibule. (S. 166) (Die Kürze, die Präzision des Stils, diese Art und Weise, ins Schwarze zu treffen, das war alledem entgegengesetzt, was ich bis dahin kannte, es war rapide, bissig und flüssig. Durch das Französische erfuhr ich, was Konzentration ist, die man so oft mit Abstraktion verwechselt. Das erinnerte mich an diese japanischen Blumen, die meine Mutter einmal im Waschbecken des Ankleideraums vor mir sich hat aufbauschen lassen.) (S. 200)

Dagegen setzt Goldschmidt deutsche Texte, die für die Agr¦gation ausgewählt worden waren: Ces ¦crits ¦taient — la fois compliqu¦s et d¦risoires, entortill¦s et simplets, ¦crits par de gros enfants, dans une langue qui parlait toujours de ›haute spiritualit¦‹, avec des mots — rallonge benÞts et emberlificot¦s. D’un coup je les connus tous, ces Gundolf, ces Korff, ces Spengler et autres nafs prolixes. (S. 211) (Solches Geschriebene war zugleich kompliziert und belanglos, verschroben und einfältig, von dicken Kindern verfaßt, in einer Sprache, welche stets von ›hoher Geistigkeit‹ redete mit dummdreist-verschnörkelten ausdehnbaren Wortklaubereien. So lernte ich auf einmal alle diese Gundolfs, diese Korffs, Spenglers und andere solch geschwätzige Einfaltspinsel kennen.) (S. 256 f.)

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In den Augen Goldschmidts konnte dieser Kontrast offenbar nicht größer sein. Man spürt eine Voreingenommenheit, die sich zu pauschaler Herabsetzung hinreißen lässt. Sie zeigt sich auch gegenüber deutschen Denkern seiner Gegenwart: Cinquante ans plus tard, d’innombrables lectures n‹ont jamais pu apporter le moindre d¦menti — cette toute premiÀre impression. Le th¦orique formul¦ en allemand est, d’une faÅon ou d’une autre, catastrophique. Qu’ils se nomment Adorno, Habermas ou comme on voudra, ce ne sont que de redoutables bavardeurs incapables de s’exprimer avec aisance et justesse. J’en conÅus, dÀs cette ¦poque, une l¦gÀre d¦fiance pour l’intellectualit¦ d’expression germanique. (S. 211) (Fünfzig Jahre später haben unzählige Lektüren diesen allerersten Eindruck nicht im geringsten Lüge strafen können. Theoretisches auf deutsch formuliert ist, wie dem auch sei, katastrophal. Wie sie auch heißen29, es sind alle fürchterliche Schwätzer, unfähig, sich gebunden und geschmeidig auszudrücken. Bereits von dieser Zeit an entstand in mir ein leises Mißtrauen gegenüber deutschsprachiger Intellektualität.) (S. 257)

Auch Goldschmidts Urteil über große deutsche Philosophen nach Kant ist nicht weniger undifferenziert und mündet in eine ungeheuerlich anmutende Bilanz: [J]’avais lu Kant avec ¦merveillement. DÀs que je mettais le nez dans des textes post¦rieurs, en allemand: Hegel, Schelling, Fichte ou plus tard von Hartmann ou Max Scheler, une m¦fiance, une crainte me retenaient de d¦couvrir l’essence fondamentalement m¦tallique et dure, impitoyable et froide de tous ces textes, ce que la lecture ult¦rieure et effrayante du sinistre Heidegger ne fera que confirmer. Jamais aucune traduction ne rendra compte du ton imp¦rieux, ¦pais et impitoyable de l’ensemble des textes philosophiques de langue allemande, comme s’ils en ¦taient vraiment l’expression la plus pervertie, comme si, en effet, la philosophie allemande avait entra„n¦, et c’est le cas, le suicide de l’Europe. (S. 279 f.) ([I]ch hatte Kant mit Bewunderung gelesen, sobald ich aber die Nase in spätere Texte steckte, von Hegel, Schelling oder später von Nicolai Hartmann30 oder Max Scheler, hielt mich die Furcht zurück, immer die grundlegend metallene, harte, unbarmherzige und kalte Natur all dieser Texte zu entdecken, was mir die spätere und erschreckende Lektüre des unseligen Heidegger nur bestätigen sollte. Niemals wird irgendwelche Übersetzung den herrscherischen, dichten und erbarmungslosen Ton der philosophischen Texte deutscher Sprache wiedergeben können, als wären sie deren pervertiertester Ausdruck, als ob die deutsche Philosophie, und es ist der Fall, den Selbstmord Europas mit sich gebracht hätte.) (S. 344 f.)

29 An dieser Stelle hat Goldschmidt die Namen von Adorno und Habermas in seiner Übersetzung unterdrückt. 30 Meint Goldschmidt hier wirklich Nicolai Hartmann oder doch eher den Philosophen Eduard von Hartmann, wie es die französische Originalfassung nahelegt?

Die Sprache des Exils

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Goldschmidts Bewertung geht hier weit über eine kritische Auseinandersetzung mit deutscher Philosophie hinaus. Vielleicht darf man die Erklärung für dieses Urteil in dem Trauma suchen, das er durch die von den »barbarischen Naziidioten« (S. 280, dt. Übers. S. 345) erzwungene Trennung von den Eltern und seiner Heimat erlitten hatte. Dieses Trauma lastet so schwer auf ihm, dass es sein ganzes Denken beherrscht. Nach der Lektüre deutscher Philosophen aber entdeckt Goldschmidt Kafka: Mais je ne lus »Le ProcÀs«31 qu’un an plus tard, en 1950, et cette fois dans un jardin aux environs de Kiel. Ce livre me foudroya litt¦ralement. Cette prose pr¦cise, d’une absolue limpidit¦, ¦tait sans pr¦c¦dents. Ce r¦cit, c’¦tait l’aventure humaine, qui d¦place son trajet avec elle-mÞme, au fur et — mesure qu’elle avance et suscite les obstacles auxquels elle se heurte. Tout n’appara„t que quand Joseph K. est l— et n’existe pas en dehors de lui. […]. J’y lus […] l’ensemble de ses ¦crits et un grand apaisement me gagna j’avais retrouv¦ ma langue maternelle humaine, pr¦cise, ouverte, poignante et d’une ironique rigueur, enfin lib¦r¦e de ses wagn¦riennes lourdeurs. (S.280 f.) (Ich las den »Prozeß« aber erst ein Jahr später, 1950, diesmal in einem Garten in der Kieler Umgebung. Als ich dieses Buch zu lesen anfing, war es mir, als treffe mich der Blitz. Solch eine präzise Prosa von einer absoluten Durchsichtigkeit hatte ich noch nie gelesen. Diese Erzählung war das Abenteuer an sich des Menschen, der seinen Weg mit sich selber fortsetzt, ihn verlängert, indem er ihn abschreitet und selber die Hindernisse aufstellt, an denen er sich stößt. Alles erscheint erst, wenn Josef K. da ist, und gibt es nicht in seiner Abwesenheit. […] Da las ich in einem ständigen Zustand der Exaltation alle seine Schriften, und ein großer Frieden kam in mir auf, ich hatte meine Muttersprache wiedergefunden, menschlich, präzise, offen und ergreifend, von ironischer Strenge, endlich befreit von ihrer wagnerischen Schwerfälligkeit.) (S. 346)

Kafkas Prosa offenbart sich Goldschmidt als präzise und von absoluter Durchsichtigkeit. Es sind Qualitäten, die er auch an der französischen Sprache hervorhebt. Von besonderer Bedeutung aber ist, dass er damit auch seine Muttersprache wiederfindet, ein Deutsch, das nicht von den »Nazis und ihren miserablen Nachfahren« »besudelt, verseucht, vielleicht für immer unkenntlich« wurde.32 An anderer Stelle in den Gesprächen mit Heinrichs betont Goldschmidt, dass er Frankreich auch die Möglichkeit verdanke, »deutsch zu schreiben, das Französische hat mir das Deutsche unversehrt zurückgegeben«.33 In diesen Zusammenhang muss man auch die Passage über die Entdeckung und die Lektüre Kafkas rücken. Wie bei Semprffln formuliert also Goldschmidt auch in paradoxer Weise den Gedanken der Rettung der eigenen Sprache durch das Französische. 31 1983 erschien Goldschmidts französische Übersetzung von »Der Prozeß« in Paris: Kafka, Franz: Le ProcÀs. Traduit par Georges-Arthur Goldschmidt. Paris: Presses Pocket 1983. 32 Schwarzfahrer des Lebens (Anm. 6), S. 64. 33 Ebd., S. 199.

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Blickt man bei beiden Autoren auf die Sprache des Exils, in der sie uns als Schriftsteller vor allem vertraut sind, so sind wir beeindruckt durch die besondere sprachliche Leistung, die uns in ihren Werken entgegentritt. Zu vergessen ist dabei aber nie, welchen Preis diese Exilanten dafür in ihrem Leben zu bezahlen hatten. Bei allen Unterschieden stehen sich darin diese beiden Zeitzeugen nahe. Ihrem Europäertum bleibt die grausame jüngere Geschichte unauslöschlich eingeschrieben.

Irmela von der Lühe

»Sinnwandel«. Christa Wolf im Dialog mit Thomas Mann

Im Jahre 1975, aus Anlass des hundertsten Geburtstages, brachte der FischerVerlag eine Broschüre zu »Wirkung und Gegenwart«1 Thomas Manns heraus, die neben Beiträgen von Albrecht Goes, Günter Grass, Manfred Hausmann, Walter Jens, Uwe Johnson, Marie Luise Kaschnitz, Luise Rinser und Gabriele Wohmann auch einen zweiseitigen Text von Christa Wolf enthält. Er trägt den Titel »Sinnwandel«2 und ist eine komplexe poetisch-politische Reflexion jener Sätze des »Zauberberg«-Erzählers, mit denen dieser den möglichen Tod Hans Castorps auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs kommentiert: »Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht […] und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen«.3 An diese Sätze, so erzählt Christa Wolf, habe sich eine seinerzeit achtzehnjährige Freundin erinnert, als sie in Auschwitz »im Waschraum auf die feinen Öffnungen der Duschen« blickte und nicht wusste: »Was kommt – Wasser oder Gas?« (S. 198) Es habe also – so Christa Wolf im Geburtstagsartikel für Thomas Mann – die Erinnerung an ihre »Zauberberg«-Lektüre der Freundin zu Gelassenheit verholfen; mehr noch, aus den Worten des »Zauberberg«-Erzählers habe sie die Einsicht gewonnen, »man dürfe sich nicht so wichtig nehmen« (ebd.). Diese Einsicht habe sie nachgerade beruhigt. Tief beunruhigt und erschreckt zeigt sich hingegen Christa Wolf von dem »verkehrte[n] Gebrauch, den ein an humanistischer Literatur erzogenes jüdisches Mädchen an solchem Ort von seiner Bildung machen muß« (S. 199). Christa Wolfs Hommage für Thomas Mann ist eine ebenso knappe wie konzentrierte Analyse ihres Erschreckens über die Wirkung eines Lektüreerleb1 Thomas Mann – Wirkung und Gegenwart. Aus Anlass des hundertsten Geburtstags am 6. Juni 1975. Hg. v. S. Fischer-Verlag. Red.: Wolfgang Mertz. Frankfurt a. M. 1975: S. Fischer. 2 Wolf, Christa (1980): Sinnwandel. In: Wolf, Christa: Lesen und Schreiben. Neue Sammlung. Essays, Aufsätze, Reden. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand (Sammlung Luchterhand 295), S. 198 f. 3 Ebd., S. 198.

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nisses, die Thomas Mann selbst nicht geplant haben konnte, die aber doch integraler Bestandteil einer bildungsbürgerlichen Kunstbegeisterung ist, die durch Auschwitz nicht etwa negiert, sondern auf irritierende, weil erzwungene Weise bestätigt wird. Indem Christa Wolf ihrem eigenen Erschrecken nachspürt, legt sie die abgründigen Implikationen eines Kunst- und Bildungsethos’ frei, das auf die humanisierenden Potenziale der Kunst entschieden vertraut und zugleich Trost findet in der Vorstellung, es komme auf den Einzelnen nicht wirklich an. Die kleine Geschichte, die Christa Wolf zu Thomas Manns hundertstem Geburtstag erzählt, handelt freilich nicht nur von der Pervertierung einer humanistischen Tradition, die sich im Innern des Subjekts als Bereitschaft vollzieht, das eigene Leben und Überleben nicht so wichtig zu nehmen und aus einer solchen lektüregestützten Bereitschaft Trost und Stärke zu beziehen. Sie handelt nicht nur von einer fatalen Fehllektüre, die die verbrecherische Fatalität des historischen Geschehens in Auschwitz in die Einsicht münden lässt, »man dürfe sich nicht so wichtig nehmen«. Vielmehr durchleuchtet Christa Wolf wie in einer Allegorese die Bedeutung einer Episode, die eine philologische, eine historische, eine moralische, eine poetische und schließlich eine politisch-lehrhafte Dimension hat. Ein Zitat aus dem Ende des »Zauberberg« steht am Anfang (»Wo sind wir? Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dämmerung, Regen und Schmutz, Brandröte des trüben Himmels« [ebd.]); es sind die zwischen Vision und realem Kampfgeschehen oszillierenden Bilder von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, die der Erzähler entwirft und die – auch dies wird bei Christa Wolf zitiert – in der Feststellung enden: »[E]s ist das Flachland, es ist der Krieg«. Der Evokation dieser hinlänglich bekannten Passagen aus Thomas Manns Roman lässt Christa Wolf nun die Aussage der Frau folgen, die ihr erzählt hatte, »Thomas Mann habe ihr, der damals Achtzehnjährigen, geholfen, Auschwitz zu überstehen« (ebd.). Die Aussage des Erzählers, es sei nicht so wichtig, ob er [Hans Castorp] überlebt, habe sie »ruhig – sie sagte ›ruhig‹ – auf die feinen Öffnungen der Duschen blicken« (ebd.) lassen. Nun findet sich – der philologische Beweis ist schnell erbracht – eine solche Aussage im Roman zwar wörtlich nicht; wohl aber finden sich nach nochmaligem Studium des Textes »die Sätze, die sie [die Auschwitzüberlebende] sich für ihren Zweck zurechtgemacht hatte: ›Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht… und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst. Ehrlich gestanden, lassen wir ziemlich unbekümmert die Frage offen.‹« (Ebd.) Nicht ob die junge Jüdin in Auschwitz den Text missverstanden, ob sie ihn sich in tröstender Absicht hatte zurechtbiegen wollen, steht für die Erzählerin Christa Wolf zur Debatte. Zur Debatte steht vielmehr – und dies ist nach der philologisch-literalen die poetisch-moralische Dimension der Deutung – die schockierende Diskrepanz zwischen der Kälte des erzählerischen Blicks in Thomas Manns Roman und der historischen

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Realität eines jungen Mädchens, das in Auschwitz jenen »verkehrte[n] Gebrauch […] von seiner Bildung machen muß« (S. 199). In Thomas Manns Roman ruft der Erzähler, der sich »schamhaft in Schattensicherheit« befindet, also das Kriegsgrauen mit seinem Helden nicht teilt, den »Geist der Erzählung« auf, um romanintern die Visionen vom Blutvergießen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu plausibilisieren. Er praktiziert damit poetisch den berühmten ›kalten Blick‹, in den Worten Christa Wolfs: eine »rigorose, rücksichtslose Berufsneugier« (S. 198). Es handelt sich um jene zwischen Voyeurismus und Wahrheitstreue, zwischen moralischer Indifferenz und ästhetischer Faszination angesiedelte Erzähllust, die nicht nur den Erzähler des »Zauberberg« charakterisiert. Wie angedeutet, werden die Sätze, die Christa Wolfs Freundin und Auschwitzüberlebende nur vage in Erinnerung hatte und die doch offenbar zur Überlebensmaxime wurden, in Christa Wolfs Text zunächst philologisch und anschließend interpretatorisch überprüft. Die Aussage des »Zauberberg«-Erzählers, es kümmere ihn kaum, ob der Held seines doch immerhin tausendseitigen Romans als Soldat im Ersten Weltkrieg überleben werde oder nicht, ist mit dem erzählerischen Konzept des Romans direkt verknüpft. Denn Hans Castorp, »des Lebens treuherziges Sorgenkind«,4 erscheint in der Perspektive des Romans und seines Erzählers stets als Objekt welt- und ideengeschichtlicher Zusammenhänge und Kontroversen, pädagogischer Bemühungen auch des Erzählers und nicht nur der Kontrahenten Naphta und Settembrini; um der »Geschichte« willen – so der Erzähler auf den Schlussseiten des Romans – nicht um seiner selbst willen wurde erzählt und deswegen auch ist von nachgeordneter Bedeutung, ob Hans Castorp überlebt oder nicht. Zwischen Ironie und Pathos, kaltem Gleichmut und heftigen Hoffnungsbildern bewegen sich die letzten Sätze eines Romans, der in der Höhenluft der Schweizer Berge den Untergang einer Epoche, in der sanatorialen Luxuswelt von Tuberkulose-Kranken die untergangsselige europäische Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs porträtiert. Nun besteht wahrlich keinerlei Verbindung zwischen dem von den europäischen Mächten und insbesondere von Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich herbeigeführten Ersten Weltkrieg und der Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Regime. Der auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs mit großer Wahrscheinlichkeit zu Tode kommende literarische Held aus Thomas Manns Roman und die achtzehnjährige Jüdin, die in Erinnerung an einige kurze Sätze aus diesem Roman, den »feinen Öffnungen der Duschen« in Auschwitz »ruhig« entgegenblickt, sie 4 Mann, Thomas: Der Zauberberg. Hg. v. Michael Neumann. In: Detering, Heinrich u. a. (Hg.): Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 5.1. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2002, S. 1085.

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haben rein gar nichts miteinander zu tun. Außer eben dem für die Erzählerin Christa Wolf so bestürzenden Umstand eines »verkehrten Gebrauchs« von jener »humanistischen Literatur«, die mit dem Namen Thomas Manns verbunden ist. Freilich ist – wie Christa Wolf nachdrücklich betont – dieser »verkehrte Gebrauch« erzwungen. Er ist erzwungen, weil er an einem Ort erfolgt, der auf die Auslöschung des menschlichen Lebens angelegt, weil er ein Ort der voraussetzungslosen Vernichtung ist. In solcher Lage sich auf das »rigorose[] Desinteresse an sich selbst« zu besinnen und eben daraus Überlebenszuversicht zu beziehen, das bedeutet nicht nur die Pervertierung jener humanistischen Ideale, die unter anderem im Werk Thomas Manns repräsentiert sind, es ist in gewissem Sinne auch ein Akt der Unterwerfung unter das System der Vernichtung. Der philologisch-historischen schließt sich in Christa Wolfs kurzer poetischer Hommage eine moralisch-politische Reflexion an, die den erzwungen »verkehrten Gebrauch« humanistischer Bildung am Ort der Vernichtung auf ein ideengeschichtliches und ein ästhetisches Konzept mit langer Tradition zurückführt. Es ist die Vorstellung, dass »rigoroses Desinteresse an sich selbst« (S. 199) die »Bedingung des – auch geistigen – Überlebens« (ebd.) sei. Und dies mit der Begründung: »Der einzelne ist nicht so wichtig« (ebd.). In doppelter Verkehrung erscheint dieses Konzept in Christa Wolfs kleinem Text: Zum einen negiert es die Tradition des aufklärerisch-humanistischen Denkens, dem die Freiheit des Ichs, seine Entfaltung und Vervollkommnung, höchstes Gut ist und das im Horizont dieser Entfaltung und Vervollkommnung auch das Beste für die gesellschaftliche Ordnung hofft gewährleisten zu können. Damit ist die Überzeugung verbunden, dass im Raum der Kunst, in der Welt des Romans, jene Traditionen bewahrt und zugleich gestaltet werden, deren tatsächliche gesellschaftliche Verwirklichung mit so viel Enttäuschung und Schrecken verbunden ist. Zum andern aber – und hier liegt in meiner Sicht der entscheidende Perspektivwechsel, den Christa Wolf mit diesem kleinen Text erprobt – ergibt sich aus der poetischen Befragung eines pervertierten Gebrauchs von humanistischer Bildung gleichsam ein literarisch-politischer Auftrag. Tatsächlich endet Christa Wolfs Geburtstags-Hommage für den Autor des »Zauberberg« in gut allegoretischer Tradition mit den folgenden Sätzen: Falls diese Geschichte eine artikulierbare Lehre enthält, so gewiß nicht die, daß der Erzähler seine Aufmerksamkeit dem einzelnen zu entziehen habe. Eher schon eine andere: Er habe zu Verhältnissen beizutragen, die das Interesse des einzelnen an sich selbst und seinesgleichen hervorbringen und benötigen. (Ebd.)

Man wird unterstellen dürfen, dass in dieser mit mehrfachen Einschränkungen und Fragen formulierten Lehre weder eine Kritik am Autor des »Zauberberg« und seinem erzählerischen Konzept noch eine Infragestellung jener Äußerungen enthalten ist, die dem kleinen Text zugrunde liegen; also der Erzählung von

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Christa Wolfs Freundin. Im Jahre 1974, da der Text entstand, waren die Komplikationen, denen sich Christa Wolf als Autorin und Kandidatin des ZK der SED gegenüber sah, einigermaßen groß; spätestens seit »Nachdenken über Christa T.« hat Christa Wolf in immer neuen erzählerischen Versuchen und essayistischen Entwürfen an einem Selbstverständnis als Autorin gearbeitet, das sich – bei aller Skepsis gegenüber den politischen Entwicklungen in der DDR – vom Projekt eines sozialistischen Staates nicht verabschieden wollte. Worauf der Schlussgedanke in dem hier behandelten kleinen Text hinausläuft, ist mithin historisch ziemlich präzise zu beschreiben. Es ist ein als Geburtstagsgruß für Thomas Mann camoufliertes Bekenntnis zur Selbstverpflichtung des Erzählers, also wohl doch auch des Autors bzw. der Autorin, sich für »Verhältnisse« einzusetzen, die das »Interesse des einzelnen an sich selbst und seinesgleichen hervorbringen und benötigen«. Idealerweise wären dies Verhältnisse, die weder auf der Verzichtsbereitschaft des Individuums zugunsten des großen Ganzen noch auf einer staatlich erzwungenen Unterordnung individueller Perspektiven im Namen eines übergeordneten Ziels basieren. In welchem Umfang das Ideal persönlichen Verzichts und individuellen Desinteresses an »sich und seinesgleichen« in diktatorischen Systemen pervertiert und zur Maxime parteikonformen Handelns sowie als Garant persönlichen Aufstiegs und Erfolgs umgebogen werden konnte und umgebogen wurde, das stand Christa Wolf ziemlich deutlich vor Augen. In der Selbstverpflichtung des Schriftstellers auf gesellschaftliche Verhältnisse, die dieses pervertierende und pervertierte Desinteresse des Subjekts an sich selbst nicht nur nicht benötigen, sondern die von ihrem Gegenteil, von selbst- und verantwortungsbewusst agierenden Individuen abhängen, wird jene humanistisch-aufklärerische Tradition aufgerufen, der Christa Wolf sich insgesamt verpflichtet weiß und um die sie – auch im Dialog mit Thomas Mann – mit immer neuen literarischen Projekten und unter immer schwierigeren politischen Umständen bis zu ihrem Lebensende gerungen hat. Die Spuren ihrer Thomas-Mann-Lektüre lassen sich im Werk Christa Wolfs relativ gut verfolgen, auch wenn die Forschung sich dieses Themas erst sehr vereinzelt angenommen hat.5 Insbesondere der »Zauberberg«, aber auch »Doktor Faustus« haben Christa Wolf immer wieder beschäftigt; Thomas Manns Tagebücher aus dem amerikanischen Exil spielen neben »Doktor Faustus« in ihrem letzten Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«6 eine wichtige Rolle, und Thomas Manns Briefwechsel mit Karl Ker¦ny wird eine wichtige Quelle für »Kassandra«, mehr noch für die Frankfurter Poetik-Vorle-

5 Eine wegweisende Ausnahme liefert Auerochs, Bernd (2011): Ein Zauberberg bei Lübeck. Thomas Mann, Christa Wolf, Uwe Johnson. In: Johnson-Jahrbuch 18, S. 79 – 96. 6 Wolf, Christa (2010): Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp.

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sungen des Jahres 1983 »Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra«.7 »Schreiben ist auch ein Versuch gegen die Kälte«, heißt es dort an prominenter Stelle,8 und fast könnte man in diesem Diktum ein Leitmotiv für Christa Wolfs Auseinandersetzung mit Thomas Mann und seinem Selbstverständnis als Künstler sehen. Dabei liegt die Betonung auf »Versuch«, auf einer poetischen und politischen Selbstsuche und Selbstbefragung, die das schreibende Ich nicht länger zum »Komplize[n] der Selbstzerstörung«, sondern im Sinne des eingangs erwähnten Geburtstagsgrußes für Thomas Mann als Modus und Medium kritischen Interesses an sich selbst versteht. Mit der Erzählstimme des Romans »Stadt der Engel« muss freilich gefragt werden: »Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet?«9 Ob es sich im Falle von »Stadt der Engel« wirklich um einen Roman oder in Abwandlung von »Kindheitsmuster« um eine autobiographische Spurensuche nach »Lebensmuster[n]« handelt, ob um eine Lebensbeichte oder einen intellektuellen Rechenschaftsbericht, ob – unabhängig von der Gattungszugehörigkeit – der Text in persönlicher, moralischer, politischer und ästhetischer Hinsicht gelungen oder misslungen, glaubwürdig oder anmaßend ist, ob er das längst fällige Irrtumseingeständnis oder die fortdauernde Neigung zum politisch-moralischen Gutmenschentum bekundet, ob er als Klage über das eigene Versagen oder als Anklage gegenüber den globalen Mächten der Zerstörung angelegt ist: All diese ebenso gegensätzlichen wie urteilsfreudigen Stimmen zu Christa Wolfs letztem Roman sollen an dieser Stelle nicht erörtert werden. Die im Feuilleton und in zahlreichen wissenschaftlichen Sammelbänden seit den frühen neunziger Jahren genüsslich traktierte Frage, ob Christa Wolf, die seit Bekanntwerden ihrer knapp dreijährigen IM-Tätigkeit in den späten fünfziger Jahren und seit ihrem Roman »Was bleibt« einen nach ihr benannten Literaturstreit ausgelöst hat, in dessen Verlauf eine einstmals insbesondere im Westen umschwärmte DDR-Autorin über Nacht ihren Status als politisch-moralischästhetische Ikone verlor und zum Inbegriff einer verwerflichen Loyalitätsbindung an einen immer schon existierenden Unrechtsstaat wurde, ob also Christa Wolf sich mit diesem Roman nun mal endlich umfassend und überzeugend ihrer Vergangenheit stellte, darüber gehen die Meinungen heftig auseinander. Dies soll hier weder erörtert noch entschieden werden. Vielmehr geht es um wichtige Merkmale der Komposition und um die Präsenz Thomas Manns in diesem Roman.

7 Wolf, Christa (1983): Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand. 8 Ebd., S. 110. 9 Wolf, Christa (2010): Stadt der Engel (Anm. 6), S. 214. Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe.

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1. Der Roman arbeitet ähnlich wie »Nachdenken über Christa T.« und »Kindheitsmuster« mit einer doppelten Erzählinstanz und damit zugleich mit mehreren Zeitebenen. In der Erzähl- und Schreibgegenwart spricht ein »Ich«, das im Jahre 1992/93 mehrere Monate als fellow im Getty-Center in der Nähe von Los Angeles lebt, um dort den Spuren einer deutschen jüdischen Emigrantin nachzugehen, deren Briefe an eine nicht emigrierte Kommunistin die Ich-Erzählerin erhalten hatte. Schon dies ist eine literatur- und kulturgeschichtlich höchst spannende Motivik; mit ihr macht Christa Wolf die wissenschaftsgeschichtliche Ausgangssituation der Exilforschung zur Literatur. Denn die Erforschung des deutschsprachigen Exils hat mit ähnlichen Suchaktionen, Archivreisen, gefundenen oder dramatisch aufgespürten Manuskripten begonnen, und Briefe waren in diesem Zusammenhang häufig der Beginn. Dass Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte wie nebenbei zum zentralen Thema eines literarischen Textes werden können, dafür ist Christa Wolfs letzter Roman ein höchst anschauliches Beispiel; und für die Wirksamkeit einer solchen romaninternen Literaturgeschichtsschreibung und damit für eine besondere Form der Intertextualität ist wiederum Thomas Mann ein gutes Beispiel. Christa Wolfs letzter Roman ist als literarische Arbeit an den politischen Voraussetzungen, den doktrinären Verwerfungen und den folgenreichen Irrtümern eines epochalen Experiments, nämlich der Gründung und dem Untergang der DDR, zu verstehen. Und in diesem literarischen Verstehensakt, der vor allem ein Akt skrupulöser Selbstbefragung ist, greift die Ich-Erzählerin wie von ungefähr zu Thomas Manns Tagebüchern aus den 1940er Jahren, ohne dass die entsprechenden Lektüren das bewirkten, was klassischerweise zur Poetologie lesender Romanhelden gehört. Die Lektüre verschafft Orientierung oder Ablenkung, Hilfe oder Trost. Nichts davon bei Christa Wolf, hier machen die Lektüren den schmerzhaft erlebten Dschungel sich überlagernder »Zeitschichten« noch dichter. 2. Damit ist das zweite Stichwort gefallen: denn der Gegenwart der IchErzählerin korrespondiert ein Du, in dem das vergangene, frühere Ich der Erzählerin angesprochen ist. An dieses Du richten sich nun alle Fragen, Zweifel und radikalen Selbsterkundungen, die das eigentliche Zentrum der Komposition bilden. Man mag diese proto-dialogische Form für allzu forciert halten, es artikuliert sich mit ihr freilich jene Dialektik von Fremdheit und Nähe, von Selbstverlust und Souveränität, der die Protagonistin insgesamt ausgesetzt ist. Das im Du adressierte vergangene Ich ist dem Ich, das in Los Angeles auf den Spuren der deutschen Emigranten geht, das selbst eine exiltypische Recherche plant, das den amerikanischen Kultur- und Intellektuellen-Betrieb kennenlernt, auf folgenreiche Weise fremd geworden: Es wird von ihrer eigenen verdrängten Vergangenheit eingeholt. Die Nachrichten von der Täter-Akte, von ihrer Arbeit für die Stasi zwischen 1959 und 1962 brechen über das Ich herein und zwingen es gleichsam obsessiv und repetitiv zu der Frage: ›Warum habe ich das vergessen‹.

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Damit aber ist das gleichermaßen politische wie poetische Programm von »Stadt der Engel« benannt; in den Worten des Romans ist es das Programm, »[m]einer eigenen Fremdheit nachzugehen« (S. 120). Im Zentrum des letzten Romans von Christa Wolf steht mithin ein weibliches Ich, das Walter Benjamins berühmtes romanpoetologisches Credo radikalisiert und aktualisiert: Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann.10

Das Ich in »Stadt der Engel« ist freilich nicht nur einsam, es ist sich selbst fremd geworden, gänzlich abhanden gekommen; es geht damit um eine Alteritätserfahrung, die das Ich nicht nur ratlos macht, sondern die es als schuldhaft, als individuelles und kollektives Versagen empfinden muss. Es steht weit mehr auf dem Spiel als der Verlust persönlicher Ich-Gewissheit und subjektiver Identität; im Gegenteil: Die Verlust- und Fremdheitserfahrung betrifft eine ganze Generation, sie löst mehr aus als eine persönliche, sie zielt auf eine generationelle, eine kollektive Befragung. 3. Im Erleben, Denken und Schreiben der Ich-Erzählerin überlagern sich mehrere »Zeitschichten«. Dies sind die frühen Jahre der Ich-Erzählerin als Studentin und Aktivistin, die spektakulären Jahre im Umfeld des 11. Plenums des ZK der SED (1965), die Biermann-Ausbürgerung (1976), die Ereignisse vom November 1989, darüber hinaus natürlich die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945, das kalifornische Exil, und schließlich eine Gegenwart der frühen neunziger Jahre, in der die Protagonistin ihren Aufenthalt in Los Angeles mit einem Besuch im Reservat der Hopi-Indianer beendet. Aus den Zeitschichten, die sich wie architektonische Platten im Kopf der Erzählerin verschieben und die zu ordnen ihr nicht gelingen will, soll diejenige etwas näher betrachtet werden, in der das kalifornische Exil, das ›Weimar am Pazifik‹, eine zentrale Rolle spielt. Die Erzählerin ist fasziniert davon, dass sie sich ständig auf den Spuren der Emigrantenkolonie von Hollywood und Pacific Palisades bewegt; an Orten, wo Brecht und die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Ludwig Marcuse, Carl Zuckmayer und Leonard Frank, Erich Maria Remarque und Curt Goetz gelebt haben; dort wo Brecht an seinem »Galilei« gearbeitet hat. In Antiquariaten und im Internet besorgt sich die Ich-Erzählerin die Bücher der Emigranten, in die sie sich nächtelang vertieft, deren Sogwirkung sie sich nicht entziehen kann. Denn in diesen Texten trifft sie auf eine Erinnerungsarbeit, 10 Benjamin, Walter (1966): Krisis des Romans. Zu Döblins »Berlin Alexanderplatz«. In: Benjamin, Walter : Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 437 – 443, hier S. 437.

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die der ihren ähnlich ist, die freilich noch mit dem verborgen utopischen Impetus geschrieben wurden, es könnten die Leser dieser Texte und die Welt, von der diese Texte erzählen, aus ihnen einen historischen Auftrag, ja die Gewissheit beziehen, dass die Welt eine andere werden müsse. »Ein Sog ging von diesen Büchern aus«, heißt es (S. 345) wörtlich, und tatsächlich enthält der Roman eine implizite, nein, eine explizite Literaturgeschichte des deutschsprachigen Exils in Kalifornien; dargestellt als Lektüregeschichte einer Protagonistin, die sich mit dem Untergang desjenigen Staates konfrontiert sieht, der auch Folge dieses Exils war ; und poetisch reflektiert von einer weiblichen Intellektuellen, die sich sämtlicher intellektueller und politischer Gewissheiten beraubt sieht, denn sie ist sich ihrer selbst nicht mehr gewiss. An die Stelle von Gewissheiten treten Fragen, buchstäblich grundstürzende Fragen, wie etwa diejenige nach den Spuren des jüdischen Gedächtnisses in der DDR; eines Gedächtnisses, an dem die Bücher der Emigration ja bereits gearbeitet hatten. Im Amerika der frühen neunziger Jahre, nach der Begegnung mit jüdischen Überlebenden in Kalifornien, fragt die Erzählerin: Wie sollen die Überlebenden damit leben. Wie sollen wir Deutschen damit leben. Es ist eine Last, die von Jahr zu Jahr schwerer wird. Da gibt es nichts zu verarbeiten, nichts aufzulösen, keinen Sinn zu finden. Da gibt es nichts als ein jedes Maß sprengendes Verbrechen auf unserer Seite und ein jedes Maß sprengendes Leid auf ihrer Seite. (S. 81)

In Majuskeln stehen diese Sätze mitten in einem Kapitel und es folgen weitere, nicht minder brisante Fragen: Und wie lange haben wir gebraucht »unser« zu sagen, unser Verbrechen. Und wie lange haben wir, habe ich mich an Angebote geklammert, die versprachen das ganz Andere zu sein, der reine Gegensatz zu diesen Verbrechen, eine menschengemäße Gesellschaft, Kommunismus. (S. 81 f.)

Immer wieder finden sich in »Stadt der Engel« Bezugnahmen auf Thomas Manns Tagebücher und auf »Doktor Faustus«. In einem Falle trifft die Erzählerin auf eine Stelle, die sie leicht auf ihre, der Ich-Erzählerin eigene Situation im Jahre 1992 beziehen könnte, ohne dass sie es freilich tut. Im Gegenteil, dem Zitat aus Thomas Manns Tagebuch vom 15. Oktober 1949 geht eine längere Passage voraus, in der die Erzählerin von ihrer körperlichen Reaktion auf wichtige Lebensereignisse berichtet. Stets verliere sie in Krisen-und Katastrophenzeiten ihre Haare; so auch im Jahre 1989, da ihr die Haare büschelweise ausgingen, woraus sich lernen lasse, dass die Hormone auf »Gefühlsstürme reagieren, die an die Wurzeln der Existenz gehen« (S. 168). Das nun folgende Zitat aus Thomas Manns Tagebuch lautet: Brief an einen Deutschen, der mir Liebeserklärung an Serenus Zeitblom schickte […] Die Wahrnehmung tut mir doch wohl, daß es in Deutschland auch Leute gibt, die an

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dem Werk meines Alters, und an meinem Werk überhaupt, etwas zu lieben – und nicht nur zu mäkeln – finden. Im Grunde ist es dumm von den Deutschen, daß sie immer das Beste, was sie gerade haben, und was sie vor der Welt anständig vertritt, herunterzerren und schimpfieren müssen. Das tut kein anderes Volk (S. 168 f.).

Der philologischen Korrektheit wegen sei angemerkt, dass Christa Wolf hier romanintern eine nicht gekennzeichnete Zitatmontage vornimmt, denn nur der erste Satz stammt aus dem Tagebuch, die letzten, entscheidenden Passagen hingegen aus einem Brief Thomas Manns an den deutschen Leser des »Doktor Faustus«.11 Für den vorliegenden Zusammenhang ist freilich etwas anderes entscheidend: Zwischen dem Selbstbericht der Ich-Erzählerin in »Stadt der Engel« über chronischen Haarausfall in Zeiten heftiger Gefühlsturbulenzen und dem dann folgenden Thomas Mann-Zitat gibt es keine Verknüpfung. Ohne Überleitung, ohne irgendeinen Hinweis auf mögliche verborgene Bezüge zwischen dem politisch symbolträchtigen Haarausfall der Ich-Erzählerin und Thomas Manns brieflichem Erstaunen über die durch und durch unpassende Neigung der Deutschen, ihr »Beste[s]«, also ihre wichtigen Autoren, in den Schmutz zu ziehen, stehen diese Passagen nebeneinander. Der wohlmeinenden oder auch missgünstigen Spekulation des Lesers ist dieses Montageverfahren anheim gegeben, das auch in andern Fällen mit Thomas Manns Tagebüchern praktiziert wird. Dass auch die Ich-Erzählerin, dass auch die Autorin Christa Wolf sich im Deutschland nach der Wende »herunter gezerrt« und »schimpfiert« gefühlt hat, steht außer Frage; dass sie dies romanintern durch die Montage epistolarischer oder diaristischer Äußerungen Thomas Manns hätte abwehren wollen, ist kaum anzunehmen; auch nicht, dass sie sich als heftig kritisierte »Staatsdichterin« der DDR im Verweis auf Thomas Mann hätte entlasten wollen. Es besteht erkennbar ein Bruch zwischen Erzählung und Zitat und dieser wiederum verweist auf eine gleichermaßen politische wie poetische Diskrepanz: Das Zitat aus Thomas Manns Tagebuch bzw. Brief verschafft gerade keine Orientierung, gerade keinen Trost und keinen Halt mehr. Bruchlos stehen die Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkriegs und der Untergang der DDR neben einander ; ein integratives, hoffnungsfrohes Erzählen von diesen epochalen historischen Ereignissen verbietet sich, auch wenn die Ereignisse in der Sicht der Ich-Erzählerin in einem Zusammenhang stehen. Denn von der deutschsprachigen Emigration in Kalifornien, auf deren Spuren sie im Winter 1991/92 geht, führt durchaus ein Weg in die DDR und in deren Untergang. Ein Weg freilich, dem man nicht mit den Mitteln einer linearen, ich-zentrierten Erzählung und auch nicht mit modellbildenden Erzählverfahren beikommen kann, aufgrund 11 Mann, Thomas: Tagebücher 1949 – 1950. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1991, S. 113, S. 471 f.

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derer in einem früheren Textstück – im vorliegenden Falle also den Zitaten aus Thomas Manns Tagebüchern – die Muster zur Erklärung und Deutung späterer Ereignisse gefunden werden können. Eher schon könnte man von einer Leerstellen-Poetik sprechen, die Christa Wolf mit Thomas Manns Tagebüchern in »Stadt der Engel« praktiziert hat; etwas wird zitiert, aber Funktion und Semantik des Zitierten bleiben offen; ein Verfahren im Übrigen, das der Roman auch mit anderen Erzählschichten und intertextuellen Materialien praktiziert und dessen romanpoetologisches Konzentrat in dem mehrfach variierten Satz begegnet: »Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet?« (S. 214) Im Ringen um einen Ort, von dem her das Ich sprechen und sich so der eigenen und der kollektiven Geschichte eines inzwischen untergegangenen Staates stellen kann, in diesem Ringen spielen die Autoren und Autorinnen des deutschsprachigen Exils eine herausragende Rolle; und vor allem Thomas Mann spielt eine herausragende Rolle. Freilich nicht im Sinne einer verlässlichen Instanz, auf die man sich berufen, die man wohl gar für sich in Anspruch nehmen könnte, aus der man Selbstentlastung ableiten und so eigene Verfehlungen an historische Vorbilder zurückbinden könnte. Die Bezüge zu Thomas Mann leisten nicht, was sie leisten sollen, sie sind Bestandteil einer poetischen Versuchsanordnung, die – ganz im Sinne des notorischen Thomas-Mann-Antipoden Bertolt Brecht – Möglichkeiten des Verstehens erprobt, Positionen zu Diskussion stellt, aber nicht und schon gar nicht normativ entscheidet. »Doktor Faustus« und Thomas Manns Tagebücher des kalifornischen Exils erscheinen in Christa Wolfs letztem Roman »Stadt der Engel« als Signale ohne Wirkung; obwohl Thomas Mann in keinem Werk Christa Wolfs so präsent ist wie in »Stadt der Engel«, obwohl immer wieder der Eindruck erweckt wird, die Ich-Erzählerin suche Orientierung und Halt, Legitimation und Perspektive im Rekurs auf Thomas Manns Tagebücher bzw. »Doktor Faustus«, so verweist die Komposition, die brüske Montage, auf das Scheitern solcher Versuche; was in früheren Werken Christa Wolfs mit Thomas Mann noch möglich war, ihn nämlich exemplarisch zum Medium einer kritischen Sicht auf die uneingelösten Versprechen einer sozialistischen Gesellschaft zu machen,12 das ist in »Stadt der Engel« nicht mehr möglich. So wie diese Gesellschaft untergegangen ist, so wie die Ich-Erzählerin selbst sich in skrupulöser Introspektion den Ursachen dieses und auch ihres eigenen Scheiterns konfrontiert, so sind auch die Möglichkeiten verschwunden, im Rekurs auf literarische Helden die Auswege oder wohl gar die Alternativen zu den individuellen und globalen Katastrophen zu finden.

12 Vgl. hierzu vor allem die Bezugnahme auf »Mario und der Zauberer« in »Kindheitsmuster« oder auf »Tonio Kröger« in »Nachdenken über Christa T.« sowie die von Bernd Auerochs (Anm. 5) überzeugend analysierten Befunde zum »Zauberberg« in »Kindheitsmuster«.

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Diese erkennbar pessimistische Bilanz ist freilich nicht Christa Wolfs letztes Wort über Thomas Mann und seine Bedeutung für ihr Werk und ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin. In ihrer Dankesrede13 anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck und der Bayrischen Akademie der Wissenschaften am 24. Oktober 2010, also ein Jahr vor ihrem Tode, hat Christa Wolf über die Geschichte ihrer Thomas-Mann-Lektüren genau Auskunft gegeben. Sie habe im Jahre 1950 im dritten Semester ihres Germanistik-Studiums an der Universität Jena den obligatorischen Schein in Sprecherziehung mit Thomas Manns Schiller-Erzählung »Schwere Stunde« erworben. Dabei sei es naturgemäß nicht um den Inhalt der Erzählung gegangen, sondern um die Korrektur von Sprachfehlern oder einer allzu starken »thüringische[n] oder sächsische[n] Lautfärbung« (S. 13). Auch an die Ermahnung der Seminarleiterin, das /i/ im Wort »Milch« nicht berlinisch zu artikulieren, erinnerte sich Christa Wolf nach eigenem Eingeständnis genauer als an den Inhalt eines Textes, von dem sie im Jahre 2010 zu Recht betont, er enthalte »›in der Nußschale‹ die wichtigsten Probleme […], die seinen Autor über Jahrzehnte hin begleiten sollten« (S. 14). Für Christa Wolf ist es vor allem die »quälende[] Mühe mit der Schreibarbeit« (ebd.), also die »schwere Stunde«, die Thomas Mann den am »Wallenstein« verzweifelnden Schiller durchleben und im Bekenntnis zum Lebensopfer für die Kunst überwinden lässt; die »ichsüchtige« (ebd.) Klage also, die den Künstler in die Distanz zum Leben und zur Liebe zwingt. Es ist das Thema des »Tonio Kröger«, des »Tod in Venedig«, des »Doktor Faustus«. Vor allem aber ist die Dankesrede ein Kommentar zu ihrer, Christa Wolfs, Begegnung mit dem »Doktor Faustus«. Früh habe sie ihn zum ersten Male gelesen: Ich könnte nicht mehr genau sagen, wann. Aber er gehörte zu den Büchern, die mir halfen, in das Wesen, vielmehr Unwesen des deutschen Faschismus einzudringen und mich, die ich zu der Generation gehörte, die als Kinder und Jugendliche nicht einmal den Namen Thomas Mann kennen sollten, gegen dieses Unwesen zu immunisieren. Benennen hätte ich diese Wirkung damals wohl nicht können, aber ich spürte, »welche Unmenschlichkeit das Buch des Endes kalt durchweht«. Das nicht! dachte ich. So nicht. (S. 15)

Es muss an dieser Stelle nicht erörtert werden, ob der »Doktor Faustus« tatsächlich vom »Unwesen des deutschen Faschismus« handelt. Zu den definitorischen Voraussetzungen dieses Begriffs gehört für Christa Wolf, dass im ökonomischen System des Kapitalismus die entscheidende Ursache für die Eta13 Wolf, Christa (2012): Zeitschichten. Zu Thomas Mann. In: Wolf, Christa: Rede, daß ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche. Berlin: Suhrkamp, S. 13 – 25. Seitenangaben im nun folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

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blierung der nationalsozialistischen Diktatur gesehen wird. Von vielerlei höchst komplexen politischen, sozialen, mentalen, kulturellen und ästhetischen Verwerfungen handelt der »Doktor Faustus«, aber gewiss nicht von dem für sie prioritär ökonomischen Konnex, der mit der Verwendung des Faschismus-Begriffs aufgerufen wird. Das mag dahin gestellt bleiben, denn wichtiger ist, dass Christa Wolf sich im Jahre 2010 an eine »Faustus«-Lektüre erinnert, die nun in der Tat dem zentralen Verbot gilt, unter dem das Künstlertum Adrian Leverkühns steht: Es ist das Verbot zu lieben. Wo immer er diesem Verbot entgegen handelt und zu empfinden beginnt, da vollzieht sich eine Katastrophe: Beginnend mit Hetaera Esmeralda, die ihn trotz eindringlicher Warnung vor ihrem Körper syphilitisch infiziert, über gescheiterte Heirats- und Freundschaftsversuche bis hin zum grässlichen Tod des kleinen Nepomuk Schneidewein. Des Erzählers Kommentar gleich zu Beginn des Romans steht auch am Anfang von Christa Wolfs Reminiszenz an den Roman im Jahre 2010, die sich auch auf ihre Wiederbegegnung mit dem »Doktor Faustus« im Jahre 1992/93 bezieht. Gemeint ist das Bekenntnis des Erzählers, Biographen und Freundes Serenus Zeitblom, ein »herzpochendes Mitteilungsbedürfnis« diktiere ihm die Feder, so dass er sich für sein Schreibprojekt kaum fähig oder gar legitimiert sehen könnte, gäbe es da nicht dieses eine ebenso starke wie schwierige Gefühl: »Ich habe ihn geliebt, mit Entsetzen und Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hingebender Bewunderung.« (S. 20) Weiterhin unterstreicht Christa Wolf im Kommentar zur Wiederbegegnung mit dem Roman im Jahre 1992/93 und im Jahre 2010 die ebenfalls schon zu Beginn des »Doktor Faustus« formulierte Gesamtdeutung der Person Adrian Leverkühns: Seine Gleichgültigkeit war so groß, daß er kaum jemals gewahr wurde, was um ihn her vorging… Ich möchte seine Einsamkeit einem Abgrund vergleichen, in welchem Gefühle, die man ihm entgegenbrachte, lautlos und spurlos untergingen. Um ihn war Kälte. (Ebd.)

Das Motiv der Kälte beherrscht bekanntlich nicht nur Leben und Person Adrian Leverkühns, seine Kunst und seine intellektuelle Welt, es bezeichnet die spezifische ›Unmenschlichkeit‹ des Romans. Im berühmten Teufelsgespräch des 24. Kapitels umweht ein eisiger Luftzug den von seinem Besucher überraschten Adrian; in vielerlei Gestalt durchziehen den Roman Kältemetaphern. Genau davon spricht Christa Wolf, wenn sie hörbar irritiert konstatiert, »welche Unmenschlichkeit das Buch des Endes kalt umweht«, und hinzufügt: »Das nicht! dachte ich. So nicht.« (S. 15) In der Kälte-Motivik treffen sich die Künstlerthematik und die Untergangsthematik des Romans. Nur der ›kalte Künstler‹, der Künstler, dem zu lieben und am Leben teilzuhaben, verboten ist, der es sich im Modus abgründiger Gleichgültigkeit zu verbieten vermag, kann jenen ästhetischen Durchbruch erzielen,

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nach dem Adrian Leverkühn strebt. Dieses Streben Adrian Leverkühns ist in der Sicht Thomas Manns selbstverständlich keine subjektive Marotte, keine individuelle Passion. Die kalte Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben ist vielmehr konstitutiv für eine Ästhetik der Moderne, die Thomas Mann im »Doktor Faustus« bekanntlich vor allem musikalisch, musikgeschichtlich und musiktheoretisch illustriert. Dem drohenden oder bereits erfahrenen Verlust von Originalität und der Gefahr versiegender kreativer Kräfte begegnet diese Ästhetik mit der Bereitschaft zum Lebensopfer ; mit einem schöpferischen Leistungsethos also, das seine Würde aus der Kälte und seine Originalität aus der Indolenz gegenüber der Welt bezieht. Welche fatalen Konsequenzen diese kältegestützten Kreativitätsvisionen haben, welchem ideen-kultur-und-politikgeschichtlichen Suprematiedenken sie entstammen und zugleich zuarbeiten, darüber wird in keinem Roman des 20. Jahrhunderts so präzise und komplex erzählt wie im »Doktor Faustus«. Wie angedeutet, berichtet noch die achtzigjährige Christa Wolf davon, dass der »Doktor Faustus« ihr geholfen habe, sich gegen das »Unwesen des Faschismus« zu »immunisieren« (S. 15); freilich wird im rückschauenden Lektürebericht diese Funktion des Romans durch einen bezeichnenden kritischentsetzten Ausruf ergänzt: »Das nicht! dachte ich. So nicht« (ebd.), ruft Christa Wolf im Zusammenhang mit dem Adrian Leverkühn auferlegten Liebesverbot aus. Man muss in dieser Passage eine tief verankerte Scheu, eine radikale Abwehr gegenüber jenem Gebot der Kälte sehen, das doch zum Kern nicht nur der Persönlichkeit Adrian Leverkühns und seiner ästhetischen Visionen, sondern zugleich zum geschichtsphilosophischen Kern des Romans gehört. Genau das aber irritiert Christa Wolf, eben davor scheut sie zurück und eben gegen dieses Kälte-Paradigma, dem auf je unterschiedliche Weise alle Künstlerfiguren Thomas Manns unterworfen sind, scheint sie aufzubegehren; mit Thomas Mann aufzubegehren. Das epochendiagnostische Potenzial des »Doktor Faustus« – wie im Übrigen auch dasjenige des »Zauberberg« – gilt einem Vernichtungsgeschehen, gegen das der Erzähler Serenus Zeitblom am Ende zwar mehrfach gebrochene Liebesund Versöhnungshoffnungen zu setzen versucht: Freilich dementieren diese Hoffnungen sich auch stets selbst. So wenn von der »Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit« die Rede ist und wenn als Chiffre für diese »Transzendenz der Verzweiflung« das hohe g eines Cellos als »pianissimo-Fermate« langsam vergeht.14 Die Metaphorik solcher Formulierungen erlaubt keine apologetische Lektüre, im poetischen Wort wird wenn nicht widerrufen, so zumindest in Frage 14 Mann, Thomas: Doktor Faustus. Hg. v. Ruprecht Wimmer. In: Detering, Heinrich u. a. (Hg.): Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe (Anm. 4). Bd. 10.1. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2007, S. 711.

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gestellt, was wohlfeiler oder anmaßender Zukunftsoptimismus so gern hören möchte. Mit der berühmten Schlussfrage aus dem »Zauberberg«, ob aus dem »Weltfest des Todes […] einmal die Liebe steigen« werde, endet auch Christa Wolfs Dankesrede; sie bekräftigt diese Fragen aus dem Schluss des »Zauberberg«, glaubt sogar, solche Sätze würden auch »unser Atomzeitalter« (S. 25) überdauern. Zum pathetischen Plädoyer für ein humanistisches Hoffnungsdenken, das aus der Trauer erwächst, passt ihr Einspruch gegen das über Adrian Leverkühn verhängte Liebesverbot durchaus. Ob hier die »preußische Protestantin«15 spricht, als die Christa Wolf sich gelegentlich bezeichnet hat, und ob sie in dieser Position einem Thomas Mann nahe steht, dessen entschiedene Sympathien für die amerikanisch-protestantischen Unitarier kürzlich entdeckt wurden,16 sei dahingestellt. Festhalten möchte ich allerdings, dass die späte Christa Wolf, also die Christa Wolf von »Stadt der Engel« und die Thomas Mann-Preisträgerin des Jahres 2010, einer bis heute andauernden Debatte nicht nur in der Thomas-Mann-Forschung literarische Gestalt gegeben hat: Es ist der Konflikt um die Frage, ob ein protoreligiöser Optimismus, ein Residuum vorsichtig frommer Hoffnung, ob also die Umrisse einer Religion der Humanität das »Werk des Endes«, also den »Doktor Faustus«, bestimmen oder ob radikale Negativität am Ende steht: Adrian Leverkühns Widerruf des ›Guten und Edlen‹, der »Neunten Symphonie«. Der »Doktor Faustus« endet mit einem Gattungswechsel, der Erzähler und Biograph Serenus Zeitblom wählt für die Schlussworte die Form des Gebets. Christa Wolfs Roman »Stadt der Engel« endet mit einem Ortswechsel. Der Besuch in der Enklave der Hopi-Indianer bringt der Protagonistin die Begegnung mit völlig anderen Lebens- und Denkmöglichkeiten und mit völlig anderen Formen des künstlerischen Ausdrucks. Auf eine eigentümlich ins rousseauistisch Exotische tendierende Versöhnlichkeit trifft man hier, die den in ihrer erzählerischen und geschichtsphilosophischen Struktur doch so unversöhnlichen Romanen Thomas Manns radikal entgegensteht. Die Christa Wolf, die unter dem Eindruck der ›Wende‹ und auf den Spuren der deutschsprachigen Emigration in Kalifornien noch einmal »Doktor Faustus« liest und mit ihrem letzten Roman und der Dankesrede von dieser Lektüre Rechenschaft ablegt, spricht fast harmonisierend von einem Werk, das wie kaum ein anderes die Verstrickung der deutschen Künstler und Intellektuellen in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts durchleuchtet; Verstrickungen, die ursäch15 Zit. bei März, Ursula: Selbstversuch unter kalifornischer Sonne. Zu Christa Wolfs »Stadt der Engel«. In: Deutschlandfunk v. 20. 6. 2010 (http://www.deutschlandfunk.de/selbstsucheunter-der-sonne-kaliforniens.700.de.html?dram:article_id=84615, 1. 3. 2014). 16 Detering, Heinrich (2012): Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Frankfurt a. M.: S. Fischer.

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lich mit jenem ästhetischen, moralischen und politischen Ideal der Indolenz, der kalten Könnerschaft verknüpft sind, das mit heißer Leidenschaft fürs ArchaischBrutale bestens übereingeht. Nicht seine paradoxen Schlussbilder von der Transzendenz der Verzweiflung machen die Brisanz des »Doktor Faustus« aus, sondern die umfassende poetische Demontage eines ästhetischen und politischen Kältekults, der im Vernichtungsgeschehen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah seinen grausigen Höhepunkt fand. Der »Sinnwandel«, von dem in Christa Wolfs Geburtstags-Text für Thomas Mann im Jahre 1975 die Rede ist und der in allegorischer Verdichtung von einer epochentypischen Perversion aufklärerisch-humaner Traditionen erzählt, er spiegelt sich auch im Titel ihrer Dankesrede zur Verleihung des Thomas-MannPreises. Denn »Zeitschichten« bestimmen nicht nur das Kompositionsprinzip von Christa Wolfs letztem Roman, sie prägen auch ihre Lektüre und Interpretation des Thomas Mann’schen Werkes. Dass dem Vernichtungsgeschehen des 20. Jahrhunderts die Perversion humanistischer Postulate und Hoffnungen zugrunde liegt, die ihrerseits mit einem politisch und / oder ästhetisch propagierten Heroismus der Kälte einhergeht, das haben Thomas Mann und Christa Wolf unter jeweils unterschiedlichen historischen Bedingungen erfahren und ästhetisch zu verarbeiten versucht. Auch wenn man in Christa Wolfs Aufschrei17 gegen ein Kältegebot, dem die poetische Epochendiagnostik des »Doktor Faustus« gerade auf die Spur zu kommen versucht, eine unzulässige Vereindeutigung der entsprechenden Passagen des Romans sehen kann, den Schlusssätzen des 1975 veröffentlichten Textes über den »Zauberberg« hätte dessen Autor gewiss nicht widersprochen. Denn auch für Thomas Mann hatte der Erzähler »zu Verhältnissen beizutragen, die das Interesse des einzelnen an sich selbst und seinesgleichen hervorbringen und benötigen«.18

17 »Der Verzicht auf das Leben, dazu war ich nie bereit«, erklärte Christa Wolf mit Verweis auf den »Doktor Faustus« im Jahre 2005 in einem Interview. Vgl. Wolf, Christa (2012): Rede, daß ich dich sehe (Anm. 13), S. 184. Eine ähnliche Formulierung findet sich bei Simon, Jana (2013): Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf. Berlin: Ullstein, S. 233. 18 Wolf, Christa (1980): Sinnwandel (Anm. 2), S. 199.

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Parallelstrukturen und Sinnkontraste: »Dinggedichte« von Günter Eich, Richard Weiner und Hans Magnus Enzensberger Als am 8. Mai 1945 in Deutschland fast alle Waffen schwiegen und nur noch versprengte Amokläufer des Tausendjährigen Reichs auf einen Feind schossen, der von manchen Deutschen als Befreier begrüßt wurde, war trotz allen Siegestaumels der Alliierten der vorherrschende Eindruck die plötzliche Stille.1

So hat Dieter Lattmann den Erlebniswechsel am Ende des Zweiten Weltkriegs beschrieben. Der Zusammenbruch in die plötzliche Stille war auch der Zusammenbruch einer in Grund und Boden diskreditierten Sprache. Man kennt ihren Ton aus den Reproduktionen von Wochenschauen und Rundfunkaufnahmen. Er war im totalen Staat, der keine leeren Stellen freizulassen gesonnen war, und in dem von ihm propagierten totalen Krieg überall, auch im Persönlichsten noch, gegenwärtig: »Für den Führer und Großdeutschlands Zukunft gab in höchster Pflichterfüllung im Osten […]«. »In freudigem Einsatz für Führer und Reich, […] ist getreu seinem Fahneneide für Führer und Vaterland gefallen.«2 In dieser hochemotionalisierten – und manchmal bewusst emotionalisierenden – Sprache des Dritten Reichs kommt die weit zurückreichende Tradition der Sakralisierung des Nationalen auf ihren hysterischen Höhepunkt. Er manifestiert sich im ausschließenden, totalisierenden Superlativ : ›aus tiefstem Herzen‹, ›bedingungslose Gefolgschaft‹, ›zu allem bereit‹, ›bis zum letzten Atemzug‹ – im Aufgebot der Rauschwörter und Gewaltmetaphern: Nation, ›Willensblock‹, Schicksal – in der Durchsetzung des Textes mit umgewerteten religiösen Begriffen: ›der Glaube an den Führer‹, ›der Glaube an den Sieg‹, ›das Gebot der Stunde‹, ›die heiligste Pflicht‹, die ›innere Aufrichtung‹ als ›Auferstehung des Volkes‹, das ›Bekenntnis‹ und ›Opfer‹ – und in einer eschatologischen Naherwartung des ›endgültigen Sieges‹, bei dessen Erringung der ›Sinn der Weltgeschichte‹ selbst auf dem Spiel steht.

1 Lattmann, Dieter (1973): Die Stunde Null, die keine war. In: Lattmann, Dieter (Hg.): Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart: Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. München / Zürich: Kindler (Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart 1), S. 10 – 17, hier S. 10. 2 Völkischer Beobachter vom 14. 3. 1943.

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Ich setze diesen Sprachhandlungen jetzt einen anderen Text entgegen. Es ist das Gedicht »Inventur« von Günter Eich.3 Es ist eine Zeit lang vielleicht der berühmteste literarische Text der Nachkriegsliteratur. Inventur Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge. Im Brotbeutel sind ein Paar wollene Socken und einiges, was ich niemand verrate, so dient es als Kissen nachts meinem Kopf. Die Pappe hier liegt zwischen mir und der Erde. Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch dies ist mein Zwirn.

Fanatismus, Macht- und Opferrausch, die Pathetik der letzten Dinge haben ausgedröhnt. Einer spricht über seine letzten Dinge in einem anderen, in konkretem und handgreiflichstem Sinn. Er vergewissert sich seiner verbliebenen, seiner einfachsten, überlebensnotwendigen Bestände. Und wie spricht er darüber? Indem er sie benennt, indem er sie mit Demonstrativpronomina, Pos3 Günter Eich. Gesammelte Werke. Hg. v. Ilse Aichinger u. a. Bd. 1: Die Gedichte. Die Maulwürfe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 35.

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sessivpronomina, Ortsadverbien zu sich ins Verhältnis setzt: »Dies ist«, und dabei auch seinen eigenen Ort zwischen diesen Dingen beschreibt. Die Sprechart ist lapidar. Schmucklos. Reimlos. Zweihebige Kurzverse in vorherrschend daktylischem Rhythmus. Zu vierzeiligen Strophen gebunden. Ohne jede Metapher. Einfache Aussagesätze, parataktisch gereiht, gelegentlich elliptisch verkürzt und zweimal mit leichten, an poetische und rhetorische Traditionen gemahnende Inversionen: »Geritzt hier«. »Die Bleistiftmine / lieb ich am meisten«. An diesen Stellen finden sich auch zwei andere rhetorische Figuren aus dem Vorrat der Poeten: die Synekdoche (die einen Teil verselbständigend für das Ganze setzt: die »begehrlichen / Augen« für die begehrlichen Mitgefangenen) und die Metonymie (bei der eine Sache als Ursache erscheinen kann, so dass die »Bleistiftmine« auch den vertritt, der sie führt: »tags schreibt sie mir Verse«). Und an diesen Stellen erfolgen auch die einzigen affektiven Wertungen des Gedichts: der »kostbare[] Nagel«, und gesteigert: »die Bleistiftmine / lieb ich am meisten«. Die Wertungen beziehen sich auf Schreibgräte. Eben da, wo der Text mit Inversionen, Synekdoche, Metonymie und wertender Subjektivierung formal auf sich selbst aufmerksam macht, schlägt er inhaltlich das Motiv des Schreibens an. Wer hier über die Beziehung der Dinge, Benennung seiner letzten Dinge, auch seine eigene Position bestimmt, ist einer, der schreibt, dem auch die armen Mittel des Schreibens kostbar und lieb sind. Der Dichter als Dichter dieses Gedichts. Seine Kunstlosigkeit ist Kunstprodukt, seine Kargheit ist hergestellt. Sie ist die ästhetisch angemessene Antwort auf die Reduktion der Bestände. Das Gedicht wurde 1945 in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager bei Remagen am Rhein geschrieben. Es wurde zu einem Identifikationstext für Autoren der ›Jungen Generation‹: zu dem einen immer wieder berufenen Beispiel für radikalen literarischen Neuanfang nach gründlichem ›Kahlschlag‹. Wolfgang Weyrauch hat die ›Kahlschlag‹-Formel 1949 erfunden, Hans Werner Richter hat sie zustimmend aufgegriffen, beide haben sie mit Eichs Gedicht illustriert: Die Kahlschlägler fangen in Sprache, Substanz und Konzeption von vorn an […] ganz von vorn, bei der Addition der Teile und Teilchen der Handlung, beim A-B-C der Sätze und Wörter […]: »Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen.«4

Was Weyrauch, Richter und andere Sprecher der Jungen nicht wussten, was erst viel später Ralph-Rainer Wuthenow herausgefunden hat: Die Rückbezüglichkeit des Gedichts auf sich selbst als Kunstprodukt enthielt eine verborgene Pointe. 4 Richter, Hans Werner (1962): Fünfzehn Jahre. In: Richter, Hans Werner / Mannzen, Walter (Hg.): Almanach der Gruppe 47. 1947 – 1962. Reinbek: Rowohlt (Rowohlt-Paperback 14), S. 8 – 14, hier S. 9.

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Auch dieser Text des Neubeginns hat einen 30 Jahre älteren Gegentext, auf den er sich beziehen lässt. Der Text ist von dem tschechischen Autor Richard Weiner (1884 – 1937) verfasst und 1916 in einer Übersetzung von J. V. Löwenbach in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Reihe »Die Aktions-Lyrik« erschienen.5 Jean Baptiste Chardin Dies ist mein Tisch, Dies meine Hausschuh, Dies ist mein Glas, Dies ist mein Kännchen. Dies meine Etagere, Dies meine Pfeife, Dose für Zucker, Großvaters Erbstück. Dies ist mein Eßzimmer, Dies meine Ecke, Dies ist mein Hund, Dies meine Katze. Hier ist mein Wedgewood, Dort ist mein SevrÀs. Das lustige Bildchen, Fragos Geschenk. Bläuliche Schalen Hab’ ich sehr gern. Blumen im Fenster Liebe ich sehr. Fuchsien aber Seh ich am liebsten. Meine Charlotte Liebet den Flieder. Täglich um elfe Frühstücken wir. Abends um achte Deckt man zu Tisch. Esse am liebsten Spargel mit Sauce, Wildpret auf Pfeffer, Erdbeer mit Creme. 5 Hinweis auf Wuthenows Fund bei: Müller-Hanpft, Susanne (1972): Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich. München: Hanser (Literatur als Kunst), S. 36.

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Und die Charlotte Liebt ihre Austern, Hühnchen auf Schwammerln, Hummerragout. Gut ist’s zu Hause, Sehr gut zu Hause. Dies meine Ecke, Dies meine Hausschuh. Glattes Email Glanzüberquillt. Dies ist mein Weib. Dies ist mein Bild.6

Die Ähnlichkeit der Gedichte fällt in die Augen. Strophenbau, Satzbau, der Gestus der Benennung, die Bewertungen sprechen für sich. Augenfällig ist aber auch der Gegensatz. Weiners Gedicht bezieht sich in seinem Titel auf einen der bedeutendsten Stillleben-Maler des 18. Jahrhunderts, Jean Baptiste Chardin (1699 – 1779), und arbeitet gewissermaßen aus seinen Bildern die Atmosphäre und das Weltverhalten – diese Kunst nachempfindend – heraus. Er vermittelt den Eindruck feierabendlicher Geborgenheit, in der auch die Kulturgüter (das Wedgewood-Porzellan [blau mit weißen Relieffiguren im klassizistischen Stil], das SÀvres-Porzellan [in ›bleu du roi‹ oder ›Rose pompadour‹, mit Schäferszenen dekoriert], das Bildchen des Rokokomalers Fragonard, und die Blumen [Fuchsien, Flieder]) als Teile der wohnlichen Kleinwelt in ein sinnliches, persönliches Verhältnis zum Sprecher gesetzt werden. Hier hat sich einer wohlig in seine Ecke gekauzt. Der philiströse Zug ist nicht zu übersehen. »Dies meine Ecke, / Dies meine Hausschuh«. »Gut ist’s zu Hause, / Sehr gut zu Hause« ist seine Summe. Die Grade des Genießens werden ausgekostet. Die aufgezählten Dinge sind die reiche Ausstattung eines geschlossenen, auch durch sie geschlossenen Lebensrahmens, der eine weitere Außenwelt gar nicht in den Blick kommen lässt. Das gilt erst recht für die Schlussverse: »Dies ist mein Weib. / Dies ist mein Bild.« Kulinarische Domestizierung der Frau durch das Possessivverhältnis und, daran angeschlossen, Domestizierung auch der Kunst. »Jean Baptiste Chardin« steht drüber, »Dies ist mein Bild« steht unten wie »pinxit« oder »fecit«. Insofern wäre auch dies ein rückbezügliches, kunstreflexives Gedicht.

6 Weiner, Richard: Jean Baptiste Chardin. Ins Deutsche übers. v. J. V. Löwenbach. In: Pfemfert, Franz (Hg.): Jüngste tschechische Lyrik. Eine Anthologie. Berlin-Wilmersdorf: Verlag der Wochenschrift »Die Aktion« 1916 (Die Aktions-Lyrik 2), S. 113 f. (http://www.ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/worte_zum_tag/2008_08/20080824.htm, 14. 2. 2014).

336

Manfred Karnick

Wenn ich mir die wenigen Informationen, die ich über die Person des Dichters Richard Weiner habe, nämlich dass er im Krieg 1915 einen Nervenzusammenbruch erlitten hat und dass er von schweren Verstörungen und Depressionen heimgesucht wurde, vermutungsweise auszuwerten erlauben darf, dann ergibt sich eine eigene Folgerichtigkeit. Ein Hochgefährdeter formuliert unter der Deckung der Rolle und der leisen Selbstironie ein Wunsch- und Sehnsuchtsbild des harmonischen Beisich- und Zuhauseseins. Er entwirft ein Rollen-Ich: »Gut ist’s zu Hause, / Sehr gut zu Hause«, das sich doch hinter seiner reichen Ausstattung und in der Vielfalt der Genüsse verschanzt. Alles ist um ihn her aufgebaut, ordentlich, regelmäßig und sicher! Selbst das Gedicht ist am Ende noch geschlossen rückbezüglich zugemacht: »Dies ist mein Bild.« Von dieser Wunschwärme und Behaglichkeit hebt sich Eichs Gedicht schroff ab. Er baut das Stilllebenmuster aus ärmsten Beständen als Überlebensschutz nach. Der Text ist gegenwärtig in jedem Sinn. Weder von Vergangenem, dem eben beendeten Krieg, noch Künftigem, Wünschen, Hoffnungen, Befürchtungen, ist die Rede, und nichts räumlich Abwesendes kommt ins Spiel. 1945 ist eine Zäsur, über die hinweg für einen sprachbewussten, sprachgeübten, kreativen Autor der Reichtum vergangener Sprachleistungen, auch die Beispiele lakonischen Sprechens, nach wie vor als Vorrat und Anregungspotential verfügbar bleibt.7 In diesem Sinne ist »Inventur« nach Peter Horst Neumann eine »›Kontrafaktur‹ der Weinerschen Verse.«8 Jetzt das dritte Gedicht. Es ist nach einem langen und einem sehr langen Gedicht ein kurzer Text. Er ist von Hans Magnus Enzensberger und steht in der Sammlung »blindenschrift« von 1964. Es heißt »nänie auf den apfel«. »Nänie« ist der Klaggesang an einer Leiche. nänie auf den apfel hier lag der apfel hier stand der tisch das war das haus das war die stadt hier ruht das land.

7 Günter Eich am 28. 10. 1945 an Hermann Kasack: »Ansonsten versuche ich, mir meine Lieblingsgedichte aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Ich habe nicht gewusst, wie sehr ich mit Gedichten zu leben gewohnt war […]«. Zitiert nach: Ott, Ulrich (1988) (Hg.): Günter Eich, 1907 – 1972. Bearb. v. Joachim W. Storck. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft (Marbacher Magazin 45), S. 29. 8 Neumann, Peter Horst (1981): Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 63.

Parallelstrukturen und Sinnkontraste

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dieser apfel dort ist die erde ein schönes gestirn auf dem es äpfel gab und esser von äpfeln.9

Die Sprechweise ist uns bekannt. Es ist der Gestus der Inventar-Poesie. Wir haben ihn von Günter Eich (1945) und Richard Weiner (1916) im Ohr. Weiner : »Dies ist mein Tisch // […] // Esse am liebsten«. Eich: »Dies ist meine Mütze, // […] // dies ist mein Zwirn.« Warm, wohlig, kulinarisch eingekauzt das lyrische Ich bei Weiner, ausgesetzt auf der bloßen Erde zwischen Pappe und Zeltbahn das lyrische Ich bei Eich. Und nun bei Enzensberger? Die Ortsbestimmung ist hier auf die Zeitbestimmung mit angewiesen. Nicht im Präsens, sondern im Präteritum wird gesprochen: Es »lag der apfel« – er liegt nicht mehr. Es »stand der tisch« – er steht nicht mehr. »[D]as war das haus« – es ist nicht mehr. »[D]as war die stadt« – sie ist nicht mehr. Nur das Land »ruht« noch, wie bei Paul Gerhardt: »Nun ruhen alle Wälder, / Vieh, Menschen, Städt’ und Felder, / es schläft die ganze Welt«. Allerdings von diesem aufgehobenen, behüteten Schlaf darf hier bei Enzensberger nicht gesprochen werden. Er wird nur polemisch, aus dem Gegensatz, heranzitiert. Das Wort »ruht« bewahrt etwas auf, was es eigentlich nicht mehr gibt – wie Apfel, Tisch, Haus, Stadt im Präteritum. Es gibt keine Ruhe und keine Unruhe des Landes, nichts, was sich so von den Menschen her beschreiben ließe, weil die Menschen fehlen. Die Fortsetzung zeigt es, und sie lässt auch hervortreten, dass der Ort des Beschreibenden, im Unterschied zu Eich und Weiner, nicht fest, sondern beweglich zu denken ist, vom sehr Nahen zum sehr Fernen, vom Inneren, vom Platz am früheren Tisch, über den Standort, von wo aus man ihn im Zimmer hätte ins Auge fassen können, nach außen (»das war das haus«) und nach oben (»das war die stadt«) und noch weiter (»hier ruht das land«). Und nun bis in die Weltraumferne, aus der die Erde apfelklein erscheint. Mit der Rückkehr zum Präteritum geht der Blick in wenigen Zügen in die Nähe zum Ausgang zurück, wo »es äpfel gab / und esser von äpfeln.« Die Erfindung ist schlagend. Sie verfremdet den Gegenstand durch die phantasierte Veränderung des Perspektivpunkts und der Zeit: Was er als unsere Vergangenheit vorstellt, wird als unsere mögliche Zukunft kenntlich.

9 Enzensberger, Hans Magnus (1964): nänie auf den apfel. In: Enzensberger, Hans Magnus: Blindenschrift. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 48.

Julia K. Schlichting

Zweifel und Selbstbehauptung eines ungleichen Paares. Das erinnernde und das erinnerte Ich in »Beim Häuten der Zwiebel« von Günter Grass

1.

Problemaufriss Erinnerung ist – so verschwommen und lückenhaft sie erscheint – mehr als das auf Genauigkeit zu schulende Gedächtnis. Erinnerung darf schummeln, schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als unbestechlicher Buchhalter auf. Doch wissen wir, daß mit dem Alter das Gedächtnis abnimmt, während in der Erinnerung all das, was lange verschüttet war – die Kindheit –, nun nahe gerückt erscheint, oft zu Glücksmomenten verdichtet. […] Der Schriftsteller erinnert sich professionell. Als Erzähler ist er in dieser Disziplin trainiert. Er weiß, daß die Erinnerung eine oft zitierte Katze ist, die gestreichelt sein will, manchmal sogar gegen den Strich, bis es knistert: dann schnurrt sie. So beutet er seine Erinnerung aus und notfalls die Erinnerung frei erfundener Personen. Erinnerung ist ihm Fundgrube, Müllhalde, Archiv. Er pflegt sie, wie man nachwachsenden Schnittlauch pflegt.1

Dieses Zitat stammt von Günter Grass aus seiner Rede über »Die Zukunft der Erinnerung« aus dem Jahr 2001. In der Rede spricht der Autor über seine persönlichen Erinnerungen an seine Kindheit, über die Art und Weise des Erinnerns und über den Prozess, die Tragweite und die Bedeutung von Erinnerung für den Erinnernden. Fünf Jahre später veröffentlicht Günter Grass mit »Beim Häuten der Zwiebel« (2006) ein Buch, das sich mit der Erinnerung beschäftigt. Anhand der Lebensgeschichte eines erinnernden Subjekts werden die Erinnerungsleistung und das (Un-)Vermögen dazu erprobt und problematisiert, das erinnernde Subjekt findet seine früheren Selbstbilder wieder und erfindet sie zugleich. Günter Grass hat ein artifizielles, manieristisches und ästhetisches Kunstwerk von literarischem Wert geschaffen.

1 Grass, Günter (2001): Ich erinnere mich. In: Wälde, Martin (Hg.): Günter Grass, Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Tomas Venclova: Die Zukunft der Erinnerung. Göttingen: Steidl, S. 28 f.

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Julia K. Schlichting

In »Beim Häuten der Zwiebel«2 geht es im Kern um die Aufarbeitung eines Versäumnisses, dessen sich das erinnernde Subjekt seiner Ansicht nach während der Zeit des Nationalsozialismus schuldig gemacht hat. Es sind die nicht gestellten Fragen zu alltäglichen Begebenheiten wie dem Verschwinden von Menschen aus dem Stadtbild und der Schule, aus der Familie3 und aus der Militärtruppe, die als der schwerwiegendste Fehler nachwirken, der als fortwährendes Versäumnis das ganze Leben bestimmt. Wie nachhaltig fortwährend dieses Versäumnis in das Werk eingeschrieben ist und gerade zu Beginn immer wieder thematisiert wird, machen folgende beispielhaft zitierte, besonders pointierte, aber längst nicht auf Vollständigkeit abzielende Textpassagen aus dem Anfangskapitel deutlich. So heißt es: »Als ich Fragen verschluckte« (S. 211), »weil ich nicht gefragt, wieder einmal keine Fragen gestellt hatte« (S. 223), »[m]ir gilt leserlich die knappe Inschrift: Ich schwieg« (S. 235) und »[e]r war, sah, hat, sagte, er schwieg… Und zwar in sich hinein, wo viel Platz ist für Versteckspiele.« (Ebd.) Dieses Eingeständnis, mit der vorgegebenen Realität einverstanden zu sein und nichts hinterfragt zu haben, wiegt schwer. Man könnte erklären, dass es sich um einen Jugendlichen handelte, der sich eben nicht um die politischen Belange seines Landes kümmerte, etwas, das für einen Heranwachsenden nicht ungewöhnlich ist. Es ist ein passives Verhalten, eines, das aus Desinteresse und aus jugendlicher Naivität heraus geschieht. Und auch ich habe, wenngleich mit Beginn des Krieges meine Kindheit beendet war, keine sich wiederholenden Fragen gestellt. Oder wagte ich nicht zu fragen, weil kein Kind mehr? Stellen, wie im Märchen, nur Kinder die richtigen Fragen? Kann es sein, daß mich Angst vor einer alles auf den Kopf stellenden Antwort stumm gemacht hat? Das ist die winzigtuende Schande (S. 217 f.).

Dagegen ist es eine aktive Entscheidung, geschwiegen zu haben, etwas nicht zu tun, weil man eine Antwort vermutet, ahnt oder fürchtet. Dieser Akt des bewussten Schweigens ist das Versäumnis, das als schwerer Fehler beurteilt werden kann: Zugegeben: ein Schmerz von nur minderer Pein. Doch Klagen wie, ach, hätte ich doch einen standhaften Vater wie Wolfgang Heinrichs4 gehabt und nicht einen, der bereits sechsunddreißig, als im Freistaat Danzig der Zwang noch mäßig war, in die Partei eintrat, sind billig und haben als Echo allenfalls jenes Gelächter zur Folge, das der 2 Zit. nach: Grass, Günter (2007): Werke. Göttinger Ausgabe, Bd. 10. Göttingen: Steidl; »Beim Häuten der Zwiebel« hier S. 206 – 638. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit Seitenzahlen in Klammern zitiert. 3 »Der erschossene Onkel, Franz Krause, hinterließ Frau und vier Kinder« (S. 218). 4 Die für den Kontext relevante Information liefert folgendes Zitat: »Das wurde, bei aller Verblüffung, hingenommen, denn Fragen, woher er, Wolfgang Heinrichs, sein fabelhaftes Wissen habe, stellten wir nicht, stellte ich nicht.« (S. 226)

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Spötter in mir freigibt, sobald vergleichbare Ausreden laut werden: Hätten wir damals… Wären wir damals… Doch der Zeuge […] mag allenfalls erstaunt gewesen sein. Mehr nicht. So beflissen ich im Laub meiner Erinnerungen stochere, nichts findet sich, das mir günstig wäre. Offenbar haben keine Zweifel meine Kinderjahre getrübt. (S. 226, Hervorhebung von Julia K. Schlichting)

Irgendwo zwischen diesen beiden Beurteilungen des Verhaltens liegt das Versäumnis des Jugendlichen mit seiner Naivität und Unbekümmertheit, aber auch mit seinem Enthusiasmus einer propagandageprägten Generation. Das erinnernde Subjekt bringt es auf einen Begriff, der als roter Faden im Werk in unterschiedlichen Darstellungsformen aufbereitet wird: »Kein Zweifel kränkte den Glauben, nichts Subversives, etwa die heimliche Weitergabe von Flugblättern, kann mich entlasten.« (S. 242) Oder : »[I]ch verpasste die Gelegenheit, in erster Lektion das Zweifeln zu lernen, eine Tätigkeit, die mich viel zu spät, dann aber gründlich befähigte, jedweden Altar abzuräumen und mich jenseits vom Glauben zu entscheiden.« (S. 288) Es ist der Zweifel, der den zentralen Ausgangspunkt in »Beim Häuten der Zwiebel« markiert, und zwar auf den Ebenen Werk, Erzählung und Autorschaft: Auf der Ebene des Werks ist das In-Zweifel-Ziehen strukturell verankert, sowohl in der Konzeption der Erzählung als auch in der Thematisierung von Erinnerungsleistung und ihrem Wahrheitsgehalt, den Akt des Erinnerns darzustellen. Ebenso werden autobiographische Fakten des Autors eingewoben, für die man Günter Grass bei der Veröffentlichung kritisiert hat. Die autobiographischen Züge gehören zur Komposition des Werks; dadurch ist »Beim Häuten der Zwiebel« aber nicht als Autobiographie im Sinne des Genres zu verstehen; da man ansonsten wesentliche Merkmale des Werks unterschlagen würde: Von den ineinandergreifenden Topoi der manieristischen Darstellung der Zwiebel als Dingsymbol und Metapher zugleich über den Bernstein als sichtbares Symbol der konservierten Zeit bis hin zu den Versionen des Selbst als Erzählinstanz unterliegt »Beim Häuten der Zwiebel« den Gesetzen der literarischen und zeichnerischen Künste und nicht der faktengetreuen Nachzeichnung eines Lebenswegs. Auf der Ebene der Erzählung ist der frühe fehlende Zweifel die Triebfeder des erinnernden Subjekts, das In-Zweifel-Ziehen als Handlungsmaxime auszuüben. Es schämt sich, nicht an der Richtigkeit des Systems gezweifelt zu haben, und empfindet Schuld, da es theoretisch hätte zweifeln können. Es gab Gelegenheiten, die zu kritischen Fragen hätten führen können. Diese Schuld kann nicht geringer werden, sie verjährt nicht,5 sie bleibt ein Leben lang bestehen, und das erinnernde Subjekt kann dieses Versäumnis nicht abmildern. Es hat nur die Möglichkeit, sich an der Tatsache abzuarbeiten, nichts hinterfragt zu haben. 5 Vgl. Grass, Günter : Beim Häuten der Zwiebel (Anm. 2), S. 246: »die unverjährte Schuld«.

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Dagegen sind die Offenbarungen wie die der Mitgliedschaft in einer SS-Division oder der Glaube an den Endsieg für das erinnernde Ich nicht so problematisch, sondern folgerichtig für den Heranwachsenden im nationalsozialistischen System: Noch während der letzten Jahre der Freistaatzeit – ich zählte zehn – wurde der Junge meines Namens durchaus freiwillig Mitglied des Jungvolks […]. Zwar kann ich mich nicht erinnern, besonders begeistert gewesen zu sein, mich als Wimpelträger auf Tribünen gedrängt, jemals den Rang eines schnürengeschmückten Jungzugführers angestrebt zu haben, aber mitgemacht habe ich fraglos selbst dann, wenn mich die ewige Singerei und das dumpfe Getrommel anödeten. Nicht nur die Uniform lockte. (S. 227)

Auf der Ebene der Autorschaft mag man einwenden, dass für den Schriftsteller Günter Grass Gleiches zutrifft wie für das erinnernde Subjekt: Grass bezeichnet sich selbst als jugendlichen Anhänger des Nationalsozialismus, der an den Endsieg glaubte.6 An den nicht gestellten, unterlassenen Fragen bezüglich eines Systems, das in sich nicht so schlüssig gewesen ist, als dass es keine entlarvenden Fragen hätte geben können, arbeitet sich Günter Grass Zeit seines Lebens ab. Davon zeugen besonders seine schriftstellerischen Werke, aber auch sein zeichnerisches Oeuvre. Dieses Versäumnis des fehlenden Zweifels sei seine Schuld und könne nicht getilgt werden, der Schriftsteller spricht öffentlich von der »nachwachsenden Scham« (S. 127), ein Begriff, den auch das erinnernde Subjekt verwendet. Ebenfalls sind die Eckpfeiler im Leben von Günter Grass und sein schriftstellerisches Werk Bestandteil des Lebens des erinnernden Subjekts. Es gibt Fakten, die nachprüfbar richtig sind: »Doch da mein Verlag samt Druckerei in Göttingens Düsterer Straße seinen Sitz hat, ist mir Göttingen aus mehr als einem Grund immer wieder eine Reise wert.« (S. 425) Des Weiteren entgeht dem geübten Leser nicht, dass die Großtante Anna das erinnernde Subjekt wie folgt begrüßt haben soll: »›Na Ginterchen, bist aber groß jeworden.‹« (S. 219) Während der Autor zu Anfang der Publikation7 nicht von einer Autobiographie sprach, tat er es nach der skandalheischenden Rezensionswut einiger Literaturkritiker, sodass man beobachten konnte, dass der Schriftsteller sogar öffentlich8 »Beim Häuten der Zwiebel« im Konvolut mit »Die Box« (2008) und »Grimms Wörter« (2010) als seine Autobiographie lancierte. Man kann ein6 Das bestätigte auch ein persönliches Gespräch mit Günter Grass in seiner Schreibwerkstatt in Behlendorf am 7. 4. 2008. Aber auch in öffentlichen Auftritten und Diskussionsrunden gibt der Autor seine jugendliche Haltung immer wieder preis. Zuletzt tat er dies öffentlich am 23. 1. 2014 in Osnabrück anlässlich einer Lesung und Diskussion zu »Die Hundejahre« mit Volker Neuhaus. 7 Es gibt keine offizielle Gattungsbezeichnung, weder vom Schriftsteller noch vom Verlag. 8 So zum Beispiel auf der Lesung von Günter Grass zu »Grimms Wörter« (2010) im Hörsaal der Georg-August-Universität Göttingen am 3. 9. 2010 unter der Leitung von Heinrich Detering.

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wenden, dass Grass kein Literaturwissenschaftler ist und daher keine strenge Gattungskunde betreiben muss, sondern sein Werk benennen kann, wie er es möchte. Da sich Grass einerseits immer gegen das Verfassen einer Autobiographie gewandt hat und andererseits – wie sonst üblich bei Grass – ein bewusst fiktionales Ich hätte erinnern lassen können, ist das sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, ein Konstruktionselement des Textes und muss deswegen auf der Ebene des Werkes behandelt werden.

2.

Vom »Häuten der Zwiebel« zum Aufdecken von Vergangenem

Im Folgenden werden die zentralen Konstruktionselemente auf der Ebene des Werkes und ihre Umsetzung auf der Erzählebene analysiert, um die spezifische Konzeption von »Beim Häuten der Zwiebel« theoretisch und textimmanent darzulegen. Dabei ist auch der Autor Grass als »zeichnender Schreiber«9 relevant. Auf der Ebene des Werks geht es in »Beim Häuten der Zwiebel« darum, über den bewussten Prozess und Akt des Erinnerns Vergangenheit wiederzufinden und zu erfinden. Erinnerung – als Erzählung der Selbstzensur unterworfen – gibt vor, Vergangenheit zu beschreiben und diese festzuhalten. Erinnerung beschwört aber auch Vergangenheit, indem sie Vergegenwärtigung von Vergangenem ist. Das tut sie innerhalb der Koordinaten von historischer Wahrheit. Erinnerung als Prozess, die Vergangenheit zu verstehen, beschreibt damit viel weniger den Ist-Zustand des Damaligen, als sie etwas über die Gegenwart aussagt, in der sich ein Ich erinnert. Maurice Halbwachs stellt dazu Folgendes fest: Die Folge der Erinnerungen, selbst der allerpersönlichsten, erklärt sich immer aus den Veränderungen, die in unseren Beziehungen zu den verschiedenen kollektiven Milieus entstehen, das heißt letztlich aus den Veränderungen jedes einzelnen dieser Milieus und ihrer Gesamtheit.10

Die Koordinaten der historischen Wahrheit befinden sich demnach im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses, in dem neben den klaren Fakten viel Raum für Selbstdarstellung und das Zurechtrücken eigener Erinnerungen entsteht. Wenn also die Erinnerung spricht, spricht sie weder wahr, noch lügt sie. In der Psychotherapie wird der Ansatz vertreten, dass erinnerte Erfahrungen, die eine Zeit lang in Vergessenheit geraten sind, dabei aber nicht ausgelöscht 9 Vgl. Schlichting, Julia K. (2011): Zeichnendes Schreiben als Bewältigung von Scham in Günter Grass’ »Zunge zeigen« und »Totes Holz«. In: Phrasis. Studies in Languages and Literature 52/1, S. 95 – 138. 10 Halbwachs, Maurice (1985): Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a. M.: S. Fischer, S. 32.

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wurden, gerade durch diesen latenten Vergessensprozess als ›frisch‹ und ›authentisch‹ konserviert werden. Sie sind zu normalen Erfahrungen und gegenwärtigen Bildern inkommensurabel, sodass keine Überlagerung stattfinden kann.11 Denn die Erinnerungen stehen immer in direktem Bezug zur Gegenwart und zur spezifischen Sozialsphäre. Kritisch zu hinterfragen ist in diesem Zusammenhang die Art von Echtheit und Authentizität der damit verbundenen Skepsis und das In-Zweifel-Ziehen von Erinnerungsleistung, die in dem radikalen Satz von Christa Wolf deutlich wird: »Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.«12 Wahrheit und Wahrhaftigkeit von Erinnerungen müssen angezweifelt werden. Dieser Sachverhalt mündet in die Fragestellung, in welcher Weise Erinnerungen als Grundlage kritisch reflexiver Darstellungskunst eingesetzt werden und wie ihre Umsetzung und Umsetzbarkeit aussehen können. Aleida Assmann stellt fest, dass der, der über Erinnerung spricht, nicht ohne Metaphern auskommt, da erst diese Sprachbilder Vorstellungen von Erinnerung und Gedächtnis illustrieren. Das Erinnern bildhaft zu fixieren, erweist sich jedoch als schwierig. Beispielsweise hat Platon das Bild der Wachstafel verwendet, um einen Vergleich mit dem Gedächtnis herzustellen, und damit »eine Art Archetypus der Gedächtnismetapher«13 geschaffen. In diese Wachstafel werden die Erinnerungsinhalte eingeprägt. Sigmund Freud übernimmt das Bild der Wachstafel, weitet es aber insofern aus, als er das Kinderspielzeug meint, bei dem man »mit einem Wisch« alles Eingeschriebene löschen kann. Damit symbolisiert er die gleichzeitige Präsenz von Vergessen und Erinnern. Gleichzeitig verfügt die Freudsche Wachstafel über eine tiefere Zelluloidschicht, die dauerhaft Spuren aufnimmt. In der jüngeren Literatur haben beispielsweise W. G. Sebald mit »Austerlitz« (2001) und Uwe Tellkamp mit »Der Schlaf in den Uhren« (2004) und »Der Turm« (2008) auf das Motiv der Eisenbahnschienen als Gedächtnisspuren der Geschichte zurückgegriffen. Der ähnlich wie bei Proust, Tellkamp und auch bei Grass in besonderer Weise vorherrschende Realismus – beispielsweise stellt in »Beim Häuten der Zwiebel« das Erfühlen der Kniehose ein »Realvehikel in die Vergangenheit«14 dar – ist Impuls für diese Reise zu bestimmten Orten in der Kindheit. 11 Vgl. Singer, Wolf (2000): Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 9. 2000, S.10. 12 Dieser Satz aus »Nachdenken über Christa T.« diente als Motto einer Ausstellung über Christa Wolf anlässlich ihres 75. Geburtstages 2004 in der Akademie der Künste in Berlin. Vgl. Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 (Suhrkamp Taschenbuch, 3913), S. 79. 13 Draaisma, Douwe (1999): Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 36. 14 Ich danke Ludger Grenzmann für seine langjährige Förderung; er hat den Begriff in einer Diskussion meines Vortrages geprägt, den ich 2011 in seinem seit fast 40 Jahren bestehenden

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Günter Grass wählt neben der Zwiebel als Erinnerungsmetapher auch folgende Dingsymbole, die hier nur der Vollständigkeit halber genannt seien: das Insekt im eingeschlossenen Bernstein als Bild für konservierte Zeit und den Splitter in der Schulter als Symbol für die Schuld, die man nicht los wird, aber mit der man zu leben lernt. Auf der Ebene des Autors ist Günter Grass ein zeichnender Schreiber und ein schreibender Zeichner. Das Zeichnen ist in einem tieferen Sinn mit dem Schreiben verbunden, und dieser Prozess ist nicht nur das Nebeneinander zweier Ausdrucks- und Darstellungsformen: Bilder, die das Wort nicht fassen könnte, werden nicht einfach freigesetzt; Zeichnen grenzt nicht ab, sondern dient dem Schriftsteller als Katalysator.15

So skizziert er die Beschaffenheit des naturwüchsigen Gewächses klar und prägnant in Form von Rötelzeichnungen, die den Verlauf des Häutens bildlich festhalten. Die literarische Zwiebel ist ihrem Urbild künstlerisch entwachsen, was vordergründig an der Beschreibung der Häute deutlich wird: Wenn den »jüngsten Häuten« (S. 235) die Schuld eingeschrieben steht, weil sie diejenigen Häute sind, die nur mühsam freigelegt werden und am tiefsten innerhalb der Zwiebel versteckt sind, dann gilt dies für die literarische Zwiebel. Denn umgekehrt zur natürlichen Zwiebel repräsentieren gerade die inneren Schichten die weit zurückliegenden Erinnerungen und sind bildlich gesprochen von vielen anderen Erinnerungen überlagert. Außer in der chronologischen Reihenfolge der Häute unterscheidet sich die literarische Zwiebel im Vergleich zu ihrem Pendant in der Natur auch in weiterer Hinsicht. So besitzt sie auch hinsichtlich anderer Eigenschaften eine Schichtstruktur. Zwar treiben beide Zwiebeln beim Hacken Tränen, doch nur die literarische Zwiebel »spricht wahr« (S. 211), besteht aus Häuten, denen »in Großbuchstaben, mal als Nebensatz oder Fußnote, mal deutlich lesbar, dann wieder in Hieroglyphen« (S. 235) Informationen eingeschrieben sind, die kleingeschriebene Randnotizen aufweisen, die wiederum »allzu beredsam mit Anekdoten und milieugesättigten Vertälljens von dem ablenken wollen, was vergessen sein will.« (S. 299) Diese wahrsprechende, auskunftsfreudige Zwiebel zeichnet sich gleichzeitig durch phantastische Züge aus, die in ihrer Bildlichkeit märchenhaft anmutet. Die literarische Zwiebel ist eine »imaginierte Zwiebel« (S. 262). Dabei tragen die phantastischen Elemente dem Credo von Grass Rechnung, die »Phantasie als Existenznotwendigkeit«16 zu begreifen.

Göttinger Literatur- und Arbeitskreis über die Erinnerungsanlässe in »Beim Häuten der Zwiebel« halten durfte. 15 Schlichting, Julia K. (2011): Zeichnendes Schreiben (Anm. 10), S. 97. 16 Grass, Günter : Phantasie als Existenznotwendigkeit. Ein Gespräch mit Siegfried Lenz. In:

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In dem so betitelten Gespräch mit Siegfried Lenz aus dem Jahr 1981 sagt Grass im Zusammenhang mit dem Schreibprozess von »Die Blechtrommel«, dass er die Vergangenheit als Geröllhalde begreift und er sich über Jahre auf einer solchen beschäftigen muss, ehe er seinen Stoff zusammenhabe. Weiter heißt es: Und als ich dann dabei war – bei der Blechtrommel, meine ich – da war die Geröllhalde eines Tages abgetragen, und es blieb die Zwiebel. Die Zwiebel, die immer noch eine neue Haut hat. Meinem eigenen Vermögen, mich zu erinnern, war dann keine Grenze mehr gesetzt. Es lag immer noch etwas unter der nächsten Haut gab immer noch etwas Neues, das durch kleine Anstöße, auch durch Augenschein zu entdecken war.17

Günter Grass hat sich über Jahrzehnte mit dem Motiv der Zwiebel beschäftigt und sie als Erinnerungsmetapher in unterschiedlichen Kontexten ausprobiert. Beispielsweise lässt Grass sein fiktives männliches Personal in »Die Blechtrommel« in den Zwiebelkeller gehen, damit es dort mithilfe der Zwiebel und ihrem tränentreibenden Saft die Vergangenheit beweinen kann. 25 Jahre später zeigt sich die Weiterentwicklung der Metapher : Der Saft der Zwiebel dient nicht mehr als Vehikel dafür, ungestört weinen zu können; vielmehr trübt er die Augen nun ein, sodass der Blick auf das, was erinnerbar wäre, verschwimmt und unklar wird: »Was auf ersten Blick täuscht: beim Häuten der Zwiebel beginnen die Augen zu schwimmen. So trübt sich ein, was bei klarer Sicht lesbar wäre.« (S. 407) Günter Grass’ Zwiebel steht für die kritische Reflexion von Erinnerungsleistung(en), was im Folgenden anhand der Darstellung auf der Erzählebene gezeigt wird. Das Motiv der Zwiebel steht in Analogie zu den Erinnerungen des erinnernden Subjekts und der Prozess des Häutens ist analog zum Akt des Erinnerns: Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gleicht die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonstwie verrätselt. Unter der ersten, noch trocken knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum gelöst, feucht eine dritte freigibt, unter der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als die Zwiebel noch keimte, verschlüsseln wollen. (S. 210 f.)

Das Zwiebelmotiv ist kein neues in der Literatur, interessant ist aber, unter welchen Vorzeichen es verwendet wird. Während beispielsweise Henrik Ibsens lyrische Figur dem Kern der Zwiebel auf den Grund gehen will und schlussNeuhaus, Volker (Hg.): Günter Grass. Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. 10: Gespräche mit Günter Grass. Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 255 – 281, hier S. 258. 17 Ebd.

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endlich enttäuscht erkennen muss, dass die Zwiebel eben diesen nicht besitzt, sondern »bloß Häute«18, steht die Zwiebel im Grass’schen Werk für etwas Produktives: »Die Zwiebel hat viele Häute. Es gibt sie in Mehrzahl. Kaum gehäutet, erneuert sie sich. Gehackt treibt sie Tränen. Erst beim Häuten spricht sie wahr.« (S. 211) Das Häuten der Zwiebel legt zurückliegende Ereignisse frei, die auf den Häuten in unterschiedlicher Lesbarkeit eingraviert sind, und über die neue Häute gewachsen sind, denen wiederum neuere Erfahrungen eingeschrieben sind – fast im Sinne des umgangssprachlichen Ausdrucks: Gras(s) über etwas wachsen lassen. Die Häute und damit die Erfahrungen überlagern sich, verdecken einander und scheinen im doppelten Wortsinn aufgehoben. Erst beim Schälprozess werden alte Häute freigelegt. Am Beispiel der Schuld, nicht gezweifelt zu haben, wird das Häuten der Zwiebel folgendermaßen beschrieben: Sie [die Schuld (Anmerkung Julia K. Schlichting)] hat von früh auf gelernt, gebeichtet in einer Ohrmuschel Zuflucht zu suchen, sich als verjährt oder längst vergeben kleiner als klein, zu einem Nichts zu machen, und steht dann doch, sobald die Zwiebel Pelle nach Pelle geschrumpft ist, dauerhaft den jüngsten Häuten eingeschrieben: mal in Großbuchstaben, mal als Nebensatz oder Fußnote, mal deutlich lesbar, dann wieder in Hieroglyphen, die, wenn überhaupt, nur mühsam zu entziffern sind. (S. 235)

Die Grass’sche Zwiebel symbolisiert den diffizilen, kognitiv abstrakten Vorgang des Erinnerns und fordert in ihrer Beschaffenheit eine skeptische Haltung gegenüber dem Akt des Erinnerns und dem Anspruch auf ›verlässliche‹ oder ›wahrheitsgetreue‹ Erinnerung. Auf der Ebene der Erzählung nutzt das erinnernde Subjekt die Zwiebelmetapher, um zu demonstrieren, dass es sich der Problematik von Erinnerungen bewusst ist. Unbewusst versucht es, seine Erinnerungen zu kategorisieren und verschiedenen Selbst-Versionen zuzuordnen, was einen eigenen Diskussionsgegenstand in dieser Darstellung ausmacht.

3.

Das Gedächtnis als unsichere Speicherungsinstanz

In literarischen Werken, aber auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, werden die Begriffe Erinnerung und Gedächtnis sehr unterschiedlich gebraucht und häufig unscharf voneinander getrennt verwendet. Nach dem »Duden« umfasst das Gedächtnis 18 Ibsen, Henrik: Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht, übersetzt von Christian Morgenstern, Fünfter Akt, Pfingstsonnabend. – Im Hochwald. In: Elias, Julius (Hg.): Henrik Ibsen. Sämtliche Werke. Volksausgabe in fünf Bänden, Bd. 2. Berlin: S. Fischer 1907, S. 421 – 590, hier S. 563.

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die Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen oder psychische Vorgänge (im Gehirn) zu speichern, sodass sie bei geeigneter Gelegenheit ins Bewusstsein treten können; [es stellt] das Vermögen [dar], Bewusstseinsinhalte aufzubewahren, zu behalten, zu speichern und sich ins Bewusstsein zurückzurufen, sie wieder zu beleben.19

Dagegen benenne der Begriff Erinnerung »die Fähigkeit, sich an etwas zu erinnern«20, an sich und bezieht den Prozess mit ein, dass ein Erlebnis mit jemanden oder an etwas wieder lebendig und wach werden kann. Alte Erinnerungen können aufgefrischt und ausgetauscht werden. Das erinnernde Subjekt trifft diese Unterscheidung: Das Gedächtnis wird nur vereinzelt thematisiert, dann aber, im Sinne des neurowissenschaftlichen Forschungsstandes,21 als Speicherungsquelle, der es skeptisch gegenüber steht: »Was bleibt, sind des Zufalls spontane Schnappschüsse, die das Gedächtnis archiviert.« (S. 428) Es sind also nicht, wie man meinen könnte, die nachhaltigsten oder die größten Ereignisse, und schon gar nicht alle je gehabten Sinneswahrnehmungen, die das Gedächtnis speichert, es sind vor allen Dingen nach unbewussten Kriterien ausgewählte Sinneswahrnehmungen, die plötzlich scheinbar unwillkürlich zum Vorschein kommen. Das letzte Zitat trägt der neurowissenschaftlichen Forschung Rechnung, die nur das Langzeitgedächtnis als dauerhafte Speicherungsinstanz ausweist, aber auch diese Instanz ist aufgrund ihrer begrenzten Kapazität22 nicht in der Lage, alle Wahrnehmungen zu speichern. Dem erinnernden Subjekt ist demnach bewusst, dass die Gedächtnisleistung beschränkt ist. Kritisch zu sehen ist in diesem Zusammenhang allerdings das Verb ›archivieren‹, assoziiert man mit einem Archiv doch eher das zeitlich unbegrenzte Aufbewahren und die jederzeit abrufbaren und zumeist chronologisch sortierten Informationen. Gerade das leistet das Gedächtnis nicht. Auch müssen es nicht immer die Ereignisse von bedeutungsschwerer Symbolkraft sein, es sind beliebige Momentaufnahmen, die das Gedächtnis langfristig – was aber nicht zeitlich unbegrenzt heißt – aufbewahrt. Das »Auffüllen späterer Gedächtnislücken« (S. 314) sowie die Aussagen wie: »Das Gedächtnis beruft sich gerne auf Lücken. Was haften bleibt, tritt ungerufen, mit wechselnden Namen auf, liebt die Verkleidung« (S. 369), veranschaulichen, dass das erinnernde Subjekt die Fähigkeit des Gedächtnisses als unzuverlässige Speicherungsinstanz realistisch einschätzt. Damit wird die Bedeutung des Erinnerbaren nicht geschmälert, aber es wird klar, dass das Erinnerbare nicht 19 Duden – Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim u. a.: Dudenverlag 2001, S. 608, Sp. 3. 20 Ebd., S. 483, Sp. 3. 21 Das Gedächtnis verfügt über ein Filtersystem, das Informationen jeweils unterschiedlich speichert und zwar ins Ultrakurzzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis bzw. Arbeitsgedächtnis bis hin zum Langzeitgedächtnis. 22 Aus physikalischer Hinsicht ist es dem Gehirn und den Sinnesorganen nicht möglich, alle Sinneswahrnehmungen zu speichern. Die Kapazität des Gehirns ist endlich.

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notwendigerweise das Wesentliche der erinnerten Situation darstellt: »Was das Gedächtnis speichert und verdickt in Reserve hält, fügt sich zur mal so, mal so erzählten Geschichte und kümmert sich nicht um Herkunft und andere Fragwürdigkeiten.« (S. 428) Das Gedächtnis arbeitet in gewisser Weise autonom und ist hinsichtlich der unwillkürlichen Speicherung von Sinneseindrücken nur bedingt bewusst zu lenken. »Und auch ich werde wohl einer jener tapferen Maulfechter gewesen sein, deren Phrasen das Gedächtnis, dieser Müllschlucker, dankenswerterweise nicht gespeichert hat.« (S. 511) Das Nicht-Speichern und das Vergessen von Wahrnehmungen stellt die andere Seite der Medaille Erinnerung dar ; dieser Sachverhalt ist dem erinnernden Subjekt in Form der benannten »Lücken«23 geläufig. Die skizzierte Beschaffenheit des Gedächtnisses wird dem Rezipienten im gesamten Textverlauf immer wieder durch ähnliche Äußerungen veranschaulicht. So schafft sich das erinnernde Subjekt die Grundlage, auf der es jede Erinnerungsleistung mit Skepsis betrachten muss. »Ich weiß, das klingt kaum glaubhaft und riecht zu sehr nach Lügengespinst.« (S. 339) Das Erinnerungsbuch von Günter Grass lebt von der Auseinandersetzung des erinnernden Subjekts mit seinen Erinnerungen. Besonderes Augenmerk verdient dabei die Art der kritischen Reflexion, mit der das erinnernde Subjekt seine eigenen Lebenserinnerungen betrachtet, kommentiert und bewertet. Die Formulierung: »Die Erinnerung setzt Varianten frei« (S. 516) zeigt die Einschätzung des erinnernden Subjekts, das seine erzählten Erinnerungen nicht als einzigartig auffasst, sondern in Varianten erzählt. Die Erinnerung fungiert dabei als Medium, das diese Varianten freisetzt. Man müsste eigentlich meinen, dass das erinnernde Subjekt diese Variantenvielfalt bereithält, hier ist es aber die Erinnerung, die somit personifiziert und als aktiver Part dargestellt wird. In dieser Rolle produziert und offenbart die Erinnerung Varianten ihrer selbst. Das erinnernde Subjekt ist diesen Erinnerungsvarianten teilweise ausgesetzt und hat nur die Möglichkeit, mit ihnen zu jonglieren. Die folgende Aussage deutet dies ebenfalls an, bezieht das Subjekt allerdings wieder stärker mit ein, wenn es postuliert, »[w]as alles zu Erzählstoff wird.« (S. 461) Dieser Erzählstoff muss erzählt werden und dies ist zwar unausgesprochen, aber dennoch im weitesten Sinne auf das erinnernde Subjekt bezogen. Die Aussagen der wahrsprechenden Zwiebel, die Erinnerungen preisgibt, sind hingegen anders konnotiert, was eingangs bereits dargelegt wurde. Die Variationen von Erinnerungen empfindet das erinnernde Subjekt als Erzählstoff, den es im weiteren Verlauf des Werkes erzähltechnisch arrangiert. Es versteckt sich jedoch nicht hinter dieser Erzählmasse und einem Erzählstil, der die Problematik des Erinnerns verschweigt, sondern stellt jeder dieser Lebensgeschichten, 23 Vgl. Grass, Günter : Beim Häuten der Zwiebel (Anm. 2), S. 369.

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»die ich […] zu oft und in zu vielen Variationen erzählt habe, um mich jetzt für die richtige entscheiden zu können« (S. 528), seine kritische Haltung entgegen. Hierin steckt zweierlei: Zum einen ist die ursprüngliche Erinnerungssituation schon mehrfach erzählt und zu einer schlüssigeren Geschichte geformt worden, als es die ursprünglichen »Erinnerungsschnipsel« (S. 409) jemals hätten ausdrücken können. Zum anderen ist es dem erinnernden Subjekt kaum noch möglich, aus den Erzählvarianten die ursprüngliche Erinnerungssituation herauszufiltern, weil Fakten und Fiktionen nach mehrmaligem Erzählen so verschmelzen, dass sie nicht mehr voneinander zu trennen sind. Man glaubt seiner Phantasie besonders gerne dann, wenn sie Erinnerungslücken so auffüllt, dass zu vermutende Brüche geglättet werden und im Ergebnis ein konstanteres, in sich logischeres Bild von sich gezeichnet wird. Diesem Problem widmet sich das erinnernde Subjekt auf vielfältige Weise. Besonders deutlich wird es in dem folgenden Textauszug: Später habe ich mir einige Situationen […] so lange in Erinnerung gerufen, bis sie sich zu Geschichten rundeten, die im Verlauf der Jahre immer griffiger wurden, indem sie darauf bestanden, bis ins Einzelne glaubhaft zu sein. Doch alles, was sich als im Krieg überlebte Gefahr konserviert hat, ist zu bezweifeln (Hervorhebung von Julia K. Schlichting), selbst wenn es mit handfesten Einzelheiten in Geschichten prahlt, die als wahre Geschichten gelten wollen und so tun, als seien sie nachweislich wie die Mücke im Bernstein. (S. 335)

Das Problembewusstsein wird mehrfach formuliert: »Und jegliche Pointe hatte den Tauschwert von drei geopferten Wahrheiten.« (S. 340) Die Kritik des erinnernden Subjekts geht diesmal deutlich über die angebrachte Skepsis von allgemeiner Erinnerungsleistung hinaus. Es kritisiert die Faktengläubigkeit und gibt zu bedenken, dass selbst scheinbare Fakten der Phantasie entsprungen sein können, so objektivierbar und theoretisch nachprüfbar sie auch anmuten. Damit macht das erinnernde Subjekt deutlich, dass es müßig ist, entscheiden zu wollen, was Dichtung und Wahrheit ist, und folgt einer übergeordneten Wahrheit, die als Kunstwahrheit verstanden werden kann: Es geht darum, den Zweifel zu lehren. Die Erinnerungsbegierde ist dabei nur das Substrat und die Materie, in der es den Zweifel an Fakten und (Schein-)Wahrheiten produktiv umsetzt und lebt. »Aus freien Stücken und gratis macht die Erinnerung nun Angebote im Dutzend – so viel ereignete sich gleichzeitig – und überläßt dem Erzähler die Auswahl« (S. 464). Das erinnernde Subjekt nimmt sich dieser Erinnerungsflut an, indem es Versionen seiner selbst konstruiert, die das erinnerte Leben in Teilstücken zusammenfügen.

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Die Selbst-Versionen arrangieren das Leben in Sequenzen

Das erinnernde Selbst erzählt (vordergründig) seine Lebensgeschichte anhand erinnerbarer Fakten und Imaginationen seiner früheren Selbstbilder. Dieses Verfahren ermöglicht es, die Problematik des Erinnerns darzustellen und gleichzeitig kritisch reflektiert den eigenen Anspruch auf Erinnerung zu problematisieren. Dabei stößt die Suche nach einem Selbstverständnis auf enorme Schwierigkeiten, da der Selbsterkenntnis Grenzen gesetzt sind. Das Selbst wird begrifflich häufig mit Identität gleichgesetzt, auch andere Begrifflichkeiten wie Selbstwert, Selbstkonzept, Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung sind Varianten eines im Kern synonym gebrauchten Begriffs unterschiedlicher Urheber.24 Es wird im Folgenden von Selbstkonzeptforschung die Rede sein, wenn die wissenschaftliche Auseinandersetzung gemeint ist, und von Selbst, wenn es um den Sachverhalt bzw. die Instanz geht. Die entscheidende Kategorie für die folgende Argumentation stellt das Selbst dar, ein Begriff, der eng verbunden mit der Vorstellung von William James25 steht, der das Selbst bereits 1890 untersucht hat und dessen Forschungsergebnisse bis heute als zentral für die Psychologie gelten. So wird seine Differenzierung in »kognitive Bestandteile, affektive Aspekte und Handlungskonsequenzen des Selbst« weitgehend auch heute noch vorgenommen.26 »Das Selbst ist ein dynamisches System (Markus & Wulf, 1987)27, das einerseits auf die jeweilige Person bezogene Überzeugungs- und Erinnerungsinhalte in hochstrukturierter Form und andererseits die mit diesen Inhalten und Strukturen operierenden Prozesse und Mechanismen umfasst.«28 Mittels Introspektion kann der Mensch zum einen sich selbst sehen, beschreiben, bewerten und verstehen, im sozialen Kontext einordnen und »retrospektiv rekonstruieren«29 und daraus resultierend Verhalten modifizieren.30 Gleichzeitig speisen sich daraus Erwartungen und Hoffnungen. Zum anderen geht es »um die 24 Vgl. Greve, Werner (Hg.) (2000): Psychologie des Selbst. Weinheim: Beltz, PsychologieVerlagsUnion. 25 James, William (1890): The principles of psychology. New York: Holt (Nachdruck New York: Dover 1950). 26 Vgl. Greve, Werner (2000): Die Psychologie des Selbst – Konturen eines Forschungsthemas. In: Greve, Werner (Anm. 24), S. 15 – 36, hier S. 17. 27 Markus, Hazel / Wurf, Elissa (1987): The dynamic self: A social psychological perspective. In: Annual Review of Psychology 38, S. 299 – 337. 28 Ebd., S. 17. 29 Greve, Werner (2007): Selbst und Identität im Lebenslauf. In: Brandtstädter, Jochen / Lindenberger, Ulman (Hg.): Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer, S. 305. 30 Ebd.

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Mechanismen und Prozesse, die, überwiegend ohne unser Zutun, meist ohne unser Wissen – unser Selbstverständnis und unser Selbstwertempfinden aufrechterhalten und entwickeln«31. Hierin verbirgt sich eine »unvermeidliche Reflexivität, wenn der Gegenstand der Betrachtung das Sich-selbst-Betrachten ist«32. Demzufolge bewerten Sozialpsychologen die Introspektion nur als einschränkend sinnvoll, da der Mensch in hohem Maße dazu tendiert, selektiv Eigenschaften, Gegebenheiten und Gefühle zu erinnern bzw. zu betrachten, und daran interessiert ist, einen zumeist positiveren und vor allem konsistenteren Eindruck von sich selbst aufzubauen und aufrechtzuhalten. Besonders Cohler33 betont in seinen Studien das Bemühen um die »Darstellung von Konsistenz und Kontinuität«, außerdem das Bemühen um »Selbst-Integrität«34. Merkmale, die nicht in das Bild passen, werden ausgeklammert, ignoriert und verdrängt. Weiterer Kritikpunkt an der Introspektion ist die Tatsache, dass Informationen, Erinnerungen und Situationen einer Person nicht zu jeder Zeit abrufbar sind und »implizite« Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen oder Sachverhalten sich weitgehend dem bewussten Zugang entziehen.35 Dieser Prozess führt eher dazu, ein stimmiges, positives Selbstbild zu entwerfen, als – wenn nicht allumfassende, dann aber auch – kritikwürdige Informationen über das Selbst zu erlangen. Das »Selbst« einer erwachsenen Person ist ein Produkt, das im Laufe der Entwicklung von Identität, Selbstbild und Selbstwertgefühl entsteht und lebenslang weiterentwickelt wird. Greve macht deutlich, dass »die differenzierten Strukturen, die das Selbstbild einer erwachsenen Person ausmachen, […] sich vielmehr erst allmählich, und mit ihnen die Fähigkeit zur reflexiven Selbstbetrachtung«36 entfalten. Diese differenzierten Strukturen sollen kurz skizziert werden, damit der im alltagssprachlichen Gebrauch undifferenziert benutzte und selten in seiner Komplexität erfasste Begriff beleuchtet wird. Für das Selbst spielt erstens die zeitliche Dimension eine Rolle: Das Selbstbild umfasst die ganze Biographie und eben nicht nur aktuelle Eigenschaften und Fähigkeiten, Eigenarten und Kompetenzen, einschließlich der zukünftigen Aussichten. Die zweite Dimension macht die Unterscheidung zwischen realem und möglichem, wünschenswertem Selbst. Greve verweist darauf, dass »der potentielle Umfang 31 Ebd., S. 305 f. 32 Ebd., S. 305. 33 Vgl. Cohler, Bertram (1982): Personal narrative and life course. In: Life-span development and behavior 4, S. 206 – 224. 34 Mummendey, Hans Dieter (1995): Psychologie der Selbstdarstellung. 2., überarb. und erw. Aufl. Göttingen u. a.: Hogrefe, S. 27. 35 Vgl. www.psychologie-studium.info/literaturincludes (30. 1. 2014). 36 Greve, Werner (2007): Selbst und Identität (Anm. 29), S. 306.

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des möglichen Selbst wesentlich größer als das reale Selbst ist (meiner faktischen Biographie steht eine Unzahl möglicher Alternativen gegenüber), aber die Person wird nur einen Teil davon tatsächlich für möglich halten bzw. überhaupt je erwogen haben. Welche Aspekte davon dann jeweils psychologisch relevant, identitätsbestimmend oder aktuell bedeutsam sind oder werden, ist ebenso wie die sich hieraus ergebenden dynamischen Spannungen und Entwicklungsverläufe«37 bei jeder Person unterschiedlich. Die dritte Dimension umfasst die Bewertung der Aspekte, die durch die beiden vorangegangenen Dimensionen deskriptiv ermittelt wurden. Beispielsweise ist man nicht so ehrlich, wie man sein wollte, und muss dieses Verhalten für sich und das Selbst bewerten. Der Bewertungsmaßstab variiert von Person zu Person. Dabei spielen Abwehrmechanismen, die nach Anna Freud (1936)38 selbst-stabilisierende und selbstverteidigende Wirkung haben, (wieder) eine große Rolle in der aktuellen Selbstkonzeptforschung und können grob in drei Gruppen zusammengefasst werden: erstens in Prozesse der Wahrnehmungsvermeidung (z. B. Leugnung)39, zweitens in Dynamiken der Umdeutung und kognitiven »Neutralisierung« und drittens in Prozesse der »Immunisierung«.40 Greve weist darauf hin, dass die selbst-stabilisierenden Prozesse weit umfangreicher sind, als es durch die Gruppierung den Anschein hat. Er schlägt eine erweiternde Taxonomie vor, die allerdings für diese Argumentation nicht von Bedeutung ist, geht es hier doch um die grundsätzliche Ausrichtung des »Selbst« als Instanz. Über diese Dimensionen hinausgehend ist das »Selbst« stets an soziale Situationen gebunden (ob adressatenspezifisch oder rezipientenorientiert) oder an Themen (beispielsweise Kriegserfahrungen von Überlebenden) orientiert. Es gibt kein einheitliches Selbst einer Person; was nach Mummendey »eine selbstverständliche Grundlage und ein immer wieder bestätigtes Ergebnis sozialpsychologischer Forschung« darstellt.41 Die wissenschaftliche Untersuchung des Selbst basiert auf experimentellen und empirisch-psychologischen Befunden, die wiederum durch die Aussagen der Probanden und den Rezipienten der jeweiligen Selbstdarstellung gewonnen werden. Ohne die Qualität und Güte der so gewonnenen Ergebnisse dezidiert beurteilen zu wollen, besteht ein erhebliches methodologisches Problem, da die Selbst-Darstellung auch in Messsituationen nicht zu vermeiden ist und Probanden auf viele Facetten des Selbst keinen Zugriff haben. Die Messinstrumente, mit denen die Selbstpräsentation erhoben 37 Greve, Werner (2000): Psychologie des Selbst (Anm. 26), S. 19. 38 Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen. 22. Aufl. Frankfurt a. M.: FischerTaschenbuch 2012. 39 Vgl. Breznitz, Shlomo (Hg.) (1983): The denial of stress. New York: International University Press. 40 Greve, Werner (2000): Psychologie des Selbst (Anm. 26), S. 22. 41 Mummendey, Hans Dieter (1995): Psychologie der Selbstdarstellung (Anm. 34), S. 276.

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werden soll, sind in ihrer Validität nicht unproblematisch. Zwar ist die Theorie der Selbst-Wirksamkeits-Erwartung sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der klinischen immer weiterentwickelt und verbessert worden,42 die »doppelte Rolle des Selbst als Agens und Produkt«43 bleibt allerdings als Problem bestehen. Man kann Probanden einer psychologischen Diagnostik nicht der geplanten Lüge bezichtigen, denn sie verfälschen oft nicht absichtlich und sind sich ihres Konsistenzbemühens zumeist nicht bewusst. Inwieweit sich die psychologische Forschung aus diesem Dilemma befreien kann bzw. unter welchen Prämissen es mitgedacht wird, soll hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein. Es führt jedoch zu dem literaturwissenschaftlichen Bemühen, Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten zu wollen. Besonders augenscheinlich wird dieses Bestreben bei der literarischen Gattung Autobiographie, obwohl bereits Johann Wolfgang von Goethe in seiner »Dichtung und Wahrheit« schreibt: Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.44

Die zumeist kunstvoll arrangierte Identitätsbildung ist innerhalb des autobiographischen Gedächtnisses sehr wichtig, das sich psychotherapeutischen Grundannahmen zufolge in »Ich-Gedächtnis« und »Mich-Gedächtnis«45 unterscheiden lässt. Aleida Assmann führt dazu aus, dass das »eine [sie meint: IchGedächtnis] verbal und deklarativ ist, während das andere [sie meint: MichGedächtnis] flüchtig und diffus, dabei jedoch nicht ohne Prägnanz ist, es appelliert eher an die Sinne als an den Verstand«.46 Die therapeutische Prämisse basiert auf der Vorstellung, dass wir die Geschichten sind, die wir von uns selbst erzählen. Die Identität wird damit durch das Ich-Gedächtnis konstruiert, indem sich das Ich aus dem Fundus autobiographischer Erinnerungen bedient und sie bedeutungsvoll nach eigenen und sozialen Maßstäben zusammensetzt. Dieser zutiefst aktive Prozess bedarf der Distanz zu sich selbst, man muss »eine dia42 Vgl. Mielke, Rosemarie (1984): Lernen und Erwartung. Zur Selbst-Wirksamkeits-Theorie von Albert Bandura. Bern / Stuttgart / Wien: Huber. 43 Klauer, Thomas: Das Selbst und die Nutzung sozialer Ressourcen. In: Greve, Werner (Hg.) (2000): Psychologie des Selbst (Anm. 24), S. 150. 44 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. In: Apel, Friedmar (Hg.): Goethe. Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 5. Frankfurt a. M. / Leipzig: Insel 1981 (Lizenzausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998), S. 439. 45 Randall, William Lowell (1995): The stories we are: An Essay on Self-Creation. Toronto: University of Toronto Press, S. 210 – 223. 46 Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck, S. 120.

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logische Haltung einnehmen und Position beziehen«47. In der Psychologie und auch im Teilbereich der Philosophie des Ich bzw. Selbst werden diese Annahmen ausgeführt, dagegen spielt das »Mich-Gedächtnis« in diesen Disziplinen keine allzu große Rolle. In der literarischen Konstruktion dagegen ist nach Assmann gerade aber das vorbewusste, unsortierte »Mich-Gedächtnis« entscheidend; sie verweist auf Schriftsteller wie Marcel Proust und eben auch Günter Grass.48 Proust literarisiert durch diese Form des Gedächtnisses in seinem monumentalen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«49 nicht nur Erinnerung als sinnliche, reale Präsenz, sondern bezeichnet dieses Phänomen selbst als »m¦moire involantaire«50, mit dessen Hilfe er in tief vergrabene Vergangenheitsmomente gelangt. Assmann zu Folge besteht die »Meisterschaft des Autors« darin, dass er verschiedene Ebenen der Erinnerung aufruft und miteinander verknüpft sowie selbst den Prozess des Erinnerns in ein prägnantes Bild fassen kann. Gleiches gilt nach Assmann für Günter Grass, was in diesem Aufsatz bereits dargelegt wurde. Überträgt man die theoretischen Annahmen zum Selbst auf das Werk »Beim Häuten der Zwiebel«, erkennt man, dass sich das erinnernde Subjekt figurativ und fiktional in Versionen des Subjekts, also des Selbst, aufgliedert. Zumeist an Altersangaben bzw. an der Zeitheimat orientiert, versucht es, sich in die jeweilige Selbst-Version hineinzuversetzen und aus dieser heraus zu erinnern. Das erinnernde Subjekt der Gegenwart unternimmt diesen Kunstgriff, weil ihm bewusst ist, nicht alles erinnern zu können, und es somit die Selbstbilder früherer Zeiten sprechen lässt. Es wäre zu simpel, würde man die Erzählhaltung nur in erzähltes Ich und erzählendes Ich unterteilen, da es ein komplexeres Erzählen ist. Die vielschichtigen Ich-Konstruktionen erinnern an Autoren wie Christa Wolf, die das Phänomen des »Ich und der andere«51 oder aktueller ausgedrückt: »Wer bin ich – und wenn ja wie viele?«52, literarisch aufgearbeitet haben. Wolf lässt in »Was bleibt«53 beispielsweise eine Ich-Erzählerin einen ständigen inneren Monolog 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Prousts Hauptwerk, in sieben Bänden erschienen, ist eine fiktive Autobiographie mit raffinierter Struktur : Ein anonymes Ich, von dem nur an einer Stelle des Romans erwähnt wird, dass sein Name »Marcel« sein könnte, erzählt von seinen zum Teil vergeblichen Versuchen, sich an seine Kindheit und Jugend zu erinnern. 50 Proust, Marcel: õ la recherche du temps perdu. Hg. v. Jean-Yves Tadi¦ u. a. Neuausgabe in 4 Bänden. Paris: Gallimard 1987 – 1989 (BibliothÀque de la Pl¦iade 100 – 102, 356), Bd. 4, S. 277. 51 Gidion, Heidi (2004): Bin ich das? Oder das? Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 9. 52 Precht, Richard D. (2007): Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise. München: Goldmann. 53 Wolf, Christa (1990): Was bleibt. Frankfurt a. M.: Luchterhand.

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führen, in dem sie sich teilweise in Du, Ich und noch ein Drittes spaltet. Allerdings wird hier auf eine theoretische Einordnung des Erzählvorganges verzichtet, und stattdessen werden Textbeispiele diskutiert, die die Aufspaltung des Selbst veranschaulichen. Auf der Ebene des Textes beginnt das erinnernde Subjekt zunächst, sich in zwei Selbst-Versionen aufzuspalten, die den Bezugsrahmen markieren: Ich bereits angejahrt, er unverschämt jung; er liest sich Zukunft an, mich holt Vergangenheit ein; meine Kümmernisse sind nicht seine; was ihm nicht schändlich sein will, ihn also nicht als Schande drückt, muß ich, der ihm mehr als verwandt ist, nun abarbeiten. (S. 249)

Das eine Selbst ist jung, unvoreingenommen zukunftsorientiert und damit interessiert an Zukunft, als könne man sie in Form von Büchern konsumieren. Aus der Kontrastsetzung zum älteren Selbst ergibt sich, dass dieser in Bezug zu der politischen und gesellschaftlichen Lage unbekümmert ist und nicht erkennt, dass sein Verhalten schändlich ist. Das andere Selbst ist alt, zumindest im Verhältnis zum jungen Selbst. Es plagt sich mit Kümmernissen herum, und muss das, was dem jungen Selbst nicht als folgenschwerer Fehler vorkommt, der ein Leben lang nicht wettzumachen sein wird, als Vergangenheit eingestehen und damit umzugehen lernen. Während der erwachsene Sammler von Einzelheiten […] abschreibt, und bevor ihn zum wiederholten Mal mehrspaltige Greuelberichte erschrecken […], sieht er sich selbst, nein, dem Jungen zu, der anhand der Knackfuß-Bände zuerst Klingers Vielseitigkeit […] bewundert«. (S. 250)

Das erinnernde Subjekt versucht sich in der Aufspaltung seines Selbst, indem es sich als »erwachsene[n] Sammler« bezeichnet und sich mit Quellen befasst, die das jüngere Selbst nicht gehabt hat, und verbalisiert zugleich die Schwierigkeit, von sich zu abstrahieren. Die Aussage, »er sieht sich selbst, nein, dem Jungen zu« (ebd.), zeigt, in welchem Maße das erinnernde Subjekt zwischen sich selbst im gegenwärtigen Zustand und dem damaligen Jungen unterscheiden will und durch die eigene Verbesserung andeutet, dass es ihm nicht leicht fällt. Das erinnernde Subjekt muss sich erst an dieser Art und Weise, zu berichten, herantasten und so findet man insbesondere im ersten Drittel des Werks viele dieser Selbst-Korrekturen. Es ist für das erinnernde Subjekt nicht einfach, sich mit dem Jungen von einst zu identifizieren, und zugleich liegt in diesem »gedoppelte[n] Ich« (S. 216) die Spannung, die die Lebenserzählung wie einen roten Faden durchzieht. Die Ambivalenz, sich einerseits diesem Jungen so nah zu fühlen und im nächsten Moment Gegenteiliges zu empfinden, drückt das erinnernde Subjekt an vielen Stellen implizit aus (»jener Junge, der anscheinend ich war« [S. 212]). Das Herantasten an den Jungen verläuft zumeist über die Kontrastsetzung – »ich

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oder der Junge« (S. 255) – und zeigt den Kampf des erinnernden Subjekts, sich mit dem alten Ich auseinanderzusetzen, auch wenn es diesen Willen explizit hat und sich deswegen in das Projekt Lebenserinnerungen gestürzt hat. Gestürzt deswegen, weil das erinnernde Subjekt zu Anfang wesentlich mehr Schwierigkeiten hat, zumindest thematisiert. Zum Ende des Werks findet man diese Distanzierungselemente viel seltener. Das erinnernde Subjekt hat seinen Modus des Erzählens gefunden. Zudem hat es sich vorher ausreichend häufig in Distanzierungsversuchen geübt. Neben dieser fiktional umgesetzten Schwierigkeit, sich mit seiner damaligen Persönlichkeit auseinanderzusetzen und zu identifizieren, ergibt sich daraus auch eine inhaltliche Distanzierung für das erinnernde Subjekt: »[D]er Junge meines Namens [wurde] durchaus freiwillig Mitglied des Jungvolks« (S. 227). Die Tatsache, freiwillig der Aufbauorganisation der Hitlerjugend beigetreten zu sein, stellt eine Realität dar, der sich das erinnernde Subjekt stellt. Es schafft allerdings über die bereits skizzierte Distanzierung einen inhaltlichen Abstand zu dieser Handlung und entsprechend auch zur Haltung, die mit den ›Pimpfen‹ verbunden war. Dem dargestellten Fremdfühlen mit dem Jungen, das auch schon allein aus der zeitlichen Distanz und der Unmöglichkeit des genauen Erinnerns herrühren kann, wird eine Komponente hinzugefügt, die typisch für Weltkriegserinnerungen und deren Aufarbeitung ist. Die Aufspaltung der Persönlichkeit (wie bereits beschrieben) in der Junge oder ich macht es möglich, dass der Junge dies oder jenes getan hat, nicht aber das gegenwärtige Ich. Das ist viel einfacher zu erzählen, und die Persönlichkeit kann hinter dem Gestus der fiktionalen Erzählung eher verschwinden. Die Korrektursetzung »meines Namens« und »also mich« zeigt dann wieder die Aufspaltung des Selbst in Versionen: »Um den Jungen und also mich zu entlasten, kann nicht einmal gesagt werden: Man hat uns verführt! Nein, wir haben uns, ich habe mich verführen lassen.« (S. 243) Dieser Textausschnitt zeigt die Steigerung der versuchsweise abgelegten Distanzierung. Zuerst wird die bereits beschriebene Kontrastsetzung gewählt, dann ist es das »wir«. Es wird die Gemeinschaft benannt, in der das erinnernde Subjekt sich einordnet und auch einschließend meint, es kann sich allerdings in der Masse verstecken. Am Ende ist es das »[I]ch« des erinnernden Subjekts, das sich hat verführen lassen. In dieser Klimax schafft das erinnernde Subjekt von der sich wiederholenden Kontrastsetzung die völlige Übereinstimmung mit der eigenen Person, die zu sich »ich« sagen kann. Diese Übereinstimmung hat Seltenheitswert in dem Werk, da es dem erinnernden Subjekt nur mit enormer Kraftanstrengung möglich ist, sich mit dem früheren Selbst vollständig zu identifizieren. Daher zitiert das erinnernde Subjekt im späteren Verlauf Selbstbilder herbei. Dabei ist bemerkenswert, dass die theoretischen Annahmen zu Selbstbildern in

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der fiktionalen Welt des Erinnerns werden. So entwirft das erinnernde Subjekt eben kein Gesamt-Selbstbild, sondern ist sich der steten Wandlung seines Selbstbildes bewusst und nutzt diese wissenschaftlich fundierte Tatsache für seine Lebenserzählungen. Unterschiedliche Selbstbilder fokussieren auf bestimmte Einstellungen, Wünsche oder Antriebe, dieses oder jenes zu tun. Die inhaltliche Differenzierung – welches Selbstbild welche Handlungen und Versäumnisse in sich vereint – soll hier nicht dargestellt werden. Es geht an dieser Stelle darum, die Einbettung der Selbstbilder und die kritische Auseinandersetzung zu beleuchten: In einigen Passagen kommt ungenannt ein früheres Selbstbild zum Ausdruck, wenn es beispielsweise heißt: »der maßlose Junge, der als Entwurf meiner selbst weiterhin zu entdecken ist« (S. 241). Der »Entwurf meiner selbst« ist sicherlich als Selbstbild zu interpretieren, gleichzeitig ist dieser Ausdruck noch abgrenzend und distanzierend zu verstehen. Der Entwurf ist etwas, das auch zu verwerfen ist, sobald ein neuer Entwurf vorhanden ist. Dieser Begriff impliziert nicht zwangsläufig das Aufeinanderaufbauen, das Ergänzende, die Weiterentwicklung. Im weiteren Verlauf schafft das erinnernde Subjekt eine Annäherung an seine früheren Selbstbilder, die mehr als die »Entwürfe des Selbst« als Versionen des Selbst zu verstehen sind. »Ich versuche, ihn zu beruhigen, und bitte ihn, mir beim Häuten der Zwiebel zu helfen, aber er verweigert Auskünfte, will sich nicht als mein frühes Selbstbild ausbeuten lassen.« (S. 236) In Staffelung werden mehrere Selbstbilder skizziert, die zuerst noch scheinbar ohne inhaltliche Prägnanz und Tiefenschärfe sind. »Allenfalls gelingt es mir, mit Hilfe weniger Fotos […] ein weiteres Selbstbild des Heranwachsenden zu entwerfen.« (S. 248) Im Verlauf werden die Selbstbilder an bestimmte Fakten und Fiktionen geknüpft. Dementsprechend sind sie auch zeitlich festgelegt, was sich meist aus dem Kontext der Erzählepisode ergibt: »Ein Selbstbild aus diesen Tagen gäbe mich gut ernährt wieder.« (S. 296) An dieser Formulierung ist der Konjunktiv interessant, der sonst nicht häufig gebraucht wird. Es macht deutlich, dass die Selbstbilder auch nur Produktionen sind und nicht real existierende Versionen des Selbst. Die Selbstbilder sind natürlich imaginiert und entstehen aus den erinnerten Wahrnehmungen des erinnernden Subjekts, das zu jedem Zeitpunkt seines Seins unterschiedliche Aufmerksamkeitsstrukturen hatte und demnach bestimmte Dinge im Gedächtnis gespeichert hat und andere eben nicht. Diese zeitliche Beschreibung passt häufig nur im Kontext der Binnenerzählung, sodass mehrere neue Selbstbilder mit verschiedenen älteren Selbstbildern genannt werden: »Alles paßte. Was mein neustes Selbstbild betrifft, muß ich tiptop anzusehen gewesen sein«. (S. 465) Es erfordert ein aufmerksames Lesen, um die Zeitebenen und den jeweiligen Erzählhorizont klar zu erkennen.

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Nicht daß er mir fremder als mittlerweile gewohnt wird, doch hat es den Anschein, als wolle mein uniformiertes Selbst sich davonstehlen. Sogar seinen Schatten gibt es auch und will sich, beliebig deutbar, zu den Minderbelasteten zählen. (S. 299)

Das Selbst hat einen Schatten bekommen, gerade so, wie eine reale Person bei entsprechendem Sonnenstand einen Schatten besitzt. Sich dieses Schattens wieder entledigen zu können, mag hier vielleicht auf Peter Schlemihls Schatten anspielen, der zwar nur dessen dimensional reduzierte Version darstellt, die zwar entbehrlich und überflüssig erscheint, ohne die die reale Person aber nicht gut leben kann und die daher als Teil der Persönlichkeit (seines Selbst) anzusehen ist. »[W]er keinen Schatten hat, gehe nicht in die Sonne, das ist das Vernünftigste und Sicherste«.54 Es gibt auch Textbeispiele, in denen das erinnernde Subjekt keine Distanzierung zu seinen Selbstbildern wählt, die hier nur genannt seien, um die inhaltliche Thematisierung von Versionen des Selbst zu untermauern. Denn es wäre dem Schriftsteller auch möglich gewesen, in dieser folgenden Weise einen durch und durch fiktionalen Roman zu schreiben: »Bald vierzehn zählte ich, als Sondermeldungen […] Bericht gaben.« (S. 243) Auch Erzählerkommentare der folgenden Art: »Was aber ging im Kopf eines Siebzehnjährigen vor, der körperlich als ausgewachsen gelten mochte« (S. 372), wären möglich gewesen. Denn über einen solchen Erzähler hätte die Problematik des Erinnerns auch veranschaulicht werden können.

5.

Der zwiebelnde Zweifel tut weh und not

Günter Grass sagt von sich, dass er keine Dubletten schreibe. Nicht zuletzt deswegen hat er keine Neuauflage einer fiktionalen Figur gewählt, die in einer Heil- und Pflegeanstalt sitzt und 500 Blatt Papier erbittet, um ihr Leben aufzuschreiben. Stattdessen hat er einen polyphonen Chor von Stimmen aus der Vergangenheit auftreten lassen, durch den Lebenserinnerungen plastisch und Ereignisse lebendig werden. Die figurähnlichen Selbstbilder geben Ausschnitte aus dem Leben des erinnernden Subjekts wieder – entstanden ist ein PatchworkTeppich, der so, aber auch anders hätte zusammenmontiert werden können. Zu wenig ist dingfest zu machen. […] Kein Ereignis gibt mich als handelnde oder leidende Person zu erkennen. Auch erinnere ich mich nicht, an was ich mich damals bis ins schmerzhaft Einzelne erinnert habe. Die Zwiebel verweigert sich. Nur zu vermuten 54 von Chamisso, Adelbert: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. In: Perfahl, Jost / Hoffmann, Volker (Hg.): Adelbert von Chamisso. Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand und den Handschriften. Bd. 1. München: Winkler, S. 13 – 67, hier S. 29.

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Julia K. Schlichting

bleibt, was außerhalb des Schülerateliers und der karitativen Behausung geschah. Und auch mich selbst sehe ich nur als eine von vielen Skizzen, entfernt ähnlich dem Original. (S. 509)

Dieses Zitat fasst die wesentlichen Topoi dieses Werks und damit auch dieses Aufsatzes zusammen. Die ineinander verwobenen Problematisierungsstrategien führen dazu, die Vergeblichkeit von »wahrer« Erinnerung zu demonstrieren und münden zwangsläufig darin, Erinnerungen grundsätzlich in ihrer Wahrhaftigkeit als Abbildung von Realität anzuzweifeln. Günter Grass entwirft mit »Beim Häuten der Zwiebel« ein Kunstwerk, in dem auf allen Ebenen der Zweifel produktiv umgesetzt wird. Das erinnernde Subjekt fühlt sich schuldig, nicht früh genug das Zweifeln gelernt zu haben, und zeigt auf vielfältige Weise, dass das Zweifeln seine Handlungsmaxime geworden ist. Durch das Häuten der Zwiebel, das den Blick verschwimmen lässt, durch die Entwürfe von Selbstbildern und Phantasien von Tischgesellschaften anderer Jahrhunderte und durch Imaginationen in längst verstrichene Zeiten mithilfe von Erinnerungsmetaphern wird das Zweifeln zu einer zentralen Kategorie erhoben.55 Ein als Poetologie des Zweifels begriffenes Schreibkonzept enthält implizit die Frage, inwieweit »Beim Häuten der Zwiebel« als autobiographische Schrift zu verstehen ist. Das Spiel mit den Fakten aus dem Leben des Autors Günter Grass ist als Teil des poetologischen Konzepts zu verstehen, das den Leser auch auf der Verstehensebene fordert, zu (be)zweifeln, was ihm dargeboten wird. Denn, wenn »Beim Häuten der Zwiebel« auf eine Gesamtaussage zu bringen ist, dann könnte sie folgendermaßen lauten: Die einzige Selbstbehauptung des Geistes ist es, zu zweifeln – an Wirklichkeiten und Wahrheiten, an Wahrnehmungen und Wunschbildern, eben an der Welt im Ganzen und den Visionen des Einzelnen.56

55 Vgl. Schlichting, Julia K. (2013): Die Nach-Vergangenheit als neues Zeitfenster und die Bedeutung des Siebzehnjährigen – Zur Poetologie des Zweifels. In: Ossowski, Miroslaw (Hg.): Günter Grass. Werk und Rezeption. Gdansk: Wydawn. Uniw. Gdanskiego (Studia Germanica Gedanensia 28), S. 65 – 74. 56 Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen meines Dissertationsprojektes »Poetologie des Zweifels – Erzählen und generationelle Erinnerung im relativen Spätwerk von Günter Grass«, betreut von Heinrich Detering (Georg-August-Universität Göttingen).