Dimensionen systemischer Familienrekonstruktion: Lebensentwürfe in familiärem, historischem und politischem Kontext [1 ed.] 9783666453816, 9783525453810


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German Pages [241] Year 2016

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Dimensionen systemischer Familienrekonstruktion: Lebensentwürfe in familiärem, historischem und politischem Kontext [1 ed.]
 9783666453816, 9783525453810

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V

Tobias von der Recke/Ursula Wolter-Cornell

Dimensionen systemischer Familienrekonstruktion Lebensentwürfe in familiärem, historischem und politischem Kontext

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 12 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-45381-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: © Ernst Reifgerst »Herrenlehen« © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort von Stephan Marks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.1 Wozu dieses Buch? Notwendigkeit und Nutzen für Kolleginnen und Kollegen, die beraterisch-therapeutisch arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2 Wie wir zur Familienrekonstruktion kamen – autobiografische Meilensteine: Von der Politik zur Familienrekonstruktion und wieder zurück . . . . . . . . . . . . 23 2 Familienrekonstruktion als systemische Methode: theoretische Fundierung, historische, aktuelle und eigene Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2.1 Ein persönlicher Weiterbildungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theoretisch Nützliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive . . . . . . . 2.4 Ziele der Familienrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch? Von der individuellen Vorbereitung bis zu den »Risiken und Nebenwirkungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

3.1 Der gute Ort für Familienrekonstruktionen und die erforderliche Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Vorbereitung und Recherche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Chronologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Genogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 VIP-Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Überlebensregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3 Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus . . . . . . . . . . . 77 3.3.1 Arbeit in den Dreiergruppen (Triaden) . . . . . . . . . . . 79 3.3.2 Das Vorgespräch mit dem Star, seiner Kleingruppe und dem Therapeutenteam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3.3 Ausgewählte Methoden: Skulptur, Aufstellung, Lebenslinie, Geburtinszenierung, Zurückrutschen, Chor, Verantwortungsrückgabe, Schicksalswürdigung, Gesprächsrunde, »unmögliche« Gespräche, neue Wirklichkeiten, Zauberladen, historische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.3.4 Nach dem Abschluss einer Rekonstruktion und zum Ausklang der Woche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.3.5 Aus der Packungsbeilage: Risiken und Nebenwirkungen einer Familienrekonstruktion . . . . 111 4 Wie wirkt Familienrekonstruktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

4.1 Allgemeine Bemerkungen und ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . 4.2 Versöhnung, Befriedung und Heilung alter Wunden . . . . . 4.3 Verankerung – Verwurzelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kräfte – Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Grenzen ziehen – Klären der Verantwortung . . . . . . . . . . . 4.6 Realitäten herstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Lebendige Beziehungs- und Handlungssysteme herstellen 4.8 Zusätzliche Entwicklungschancen für Weiterbildungs­ teilnehmende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

5.1 Therapie und gutes Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.2 Frauenworkshop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.3 Männer sind anders und Frauen auch . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.4 Familienrekonstruktion in der Supervisionsweiterbildung 144 5.5 Rekonstruktion im Rahmen von Teamsupervision und Organisationsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.5.1 Sucht- und Drogenberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.5.2 Universitätsbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Inhalt

6 Wie lassen sich die Erkenntnisse aus der Rekonstruktions­ arbeit politisch umsetzen – jenseits vom therapeutischen ­Setting? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 7 Was ich als Therapeut oder Therapeutin bei der Familien­ rekonstruktion wissen und können sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Anhang 1: Fallbeispiele und ihre thematischen Schwerpunkte 169

Bericht 1: Als Tochter und Frau im Familienunternehmen . . . Bericht 2: Nachbeelterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 3: Zerstörerische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 4: Spätfolgen eines Euthanasieverbrechens . . . . . . . . . . Bericht 5: Transgenerationale Weitergabe von Schuldgefühlen Bericht 6: Eine Frau entdeckt die Liebe zum toten Vater und gibt Verantwortung zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 7: Eine Bindung nur über Strukturen und ihre Umwandlung in Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 8: Eine bäuerliche, erstgeborene Tochter findet zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 9: Der Krieg ist vorbei! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 10: Sexueller Missbrauch und Verlust von Mitgefühl . Bericht 11: Schamweitergabe und die Kraft der Rekonstruktionsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 12: Flucht aus der DDR – Entwurzelung und aberkannte Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 13: Konstruktion von Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 14: »Gehirn aus, Herz an!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bericht 15: Zur Wirkung auf die Therapeutenpersönlichkeit . .

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Anhang 2: Auszüge aus den Ethik-Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) e. V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Anhang 3: Gesellschaftspolitische Grundwerte der DGSF . . 237

Inhalt

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Geleitwort von Stephan Marks

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich die deutsche Gesellschaft einen Umgang mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit erarbeitet, der anzuerkennen ist: Das Geschehene wurde und wird geschichtswissenschaftlich erforscht; Orte wurden geschaffen, um der Opfer zu gedenken, an unseren Schulen werden die Fakten, Daten, Namen, Zahlen über den Nationalsozialismus und die Leidensgeschichten seiner Opfer vermittelt. Viel über die Geschichte zu lernen, ist notwendig und unverzichtbar. Etwas anderes ist es jedoch, aus der Geschichte zu lernen. Dies lässt sich vergleichen mit dem Lernen über einen entfernten Gegenstand, der uns nicht betrifft – gegenüber einem Lernen aus einem begangenen Fehler, der uns verändert und prägt, so dass wir ähnliche Fehler künftig nie wieder begehen. Dies wäre ein Lernen, das uns, die Nachkommen der Anhänger, Mitläufer und Täter des Nationalsozialismus nicht nur kognitiv informiert, sondern auch verändert. Ein solches Lernen ist ein komplexer Prozess, der für unsere Gesellschaft noch aussteht. Wie könnten solche kollektiven Lernprozesse initiiert und begleitet werden? Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, dass in der westlichen Welt Individuum und Gesellschaft traditionell als getrennt gedacht werden, dass Heilung privatisiert und isoliert von gesellschaftlicher Veränderung betrachtet wird. Diese Trennung zwischen seelischer Arbeit mit Emotionen (»innerer Weg«) und politischem Engagement (»der Weg durch die Institutionen«) lässt beide beschädigt zurück. 9

Ursula Wolter-Cornell und Tobias von der Recke zeigen, wie beide »Wege« zusammenfinden können, denn, so die Autoren, »kollektive Traumatisierung bedarf kollektiver Möglichkeiten ihrer Aufarbeitung – eben auch aus psychotherapeutischen Erwägungen und nicht nur aus politisch-historischer Sicht. Die Seele eines Einzelnen, aber auch die ›Familienseele‹ ist damit überfordert, Ereignisse wie den Ersten oder Zweiten Weltkrieg mit all seinen katastrophalen Anteilen (Gewalt, Vernichtung, Verlust) individuell zu verarbeiten« (S. 14). »Dimensionen systemischer Familienrekonstruktion« ist endlich ein Buch, das zusammendenkt und zusammenführt, was zusammengehört. Das begründen die Autoren zuallererst an ihrer eigenen Geschichte: von politischem Engagement und Friedensbewegung zur systemischen Theorie und Familienrekonstruktion und wieder zum politischen Engagement. An einer Fülle bewegender Schicksale belegen die Autoren, wie traumatische Erfahrungen – mit den damit verbundenen Emotionen wie Scham, Schuldgefühlen, Angst und deren »Speicherung« im Körper – transgenerational weitergereicht werden und dass dennoch, Jahrzehnte später, endlich Heilung gelingen kann. Über 15 Jahre haben die Autoren gemeinsam etwa 75 systemische Familienrekonstruktionen durchgeführt; ihren reichen Schatz an Erfahrungen geben sie den Leserinnen und Lesern durch dieses Buch weiter. Es ist illustriert mit persönlichen Berichten von Teilnehmenden, berührend, herzöffnend; in vielen der geschilderten Erfahrungen habe ich mich wiederfinden und mittrauern können. Ursula Wolter-Cornell und Tobias von der Recke vermitteln eine Fülle an kreativen Methoden für die systemische Familienrekonstruktion. Besonders angesprochen hat mich ihr Angebot, die familiäre Atmosphäre durch Situationen am Tisch zu rekonstruieren. Denn die Art und Weise, wie gesprochen (oder geschwiegen) wird und wurde, bringt/brachte die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion einer Familie, so die Autoren, »mit ihren Regeln, Überzeugungen, Tabus usw. einschließlich der dazu gehörenden Stimmung sehr deutlich zum Ausdruck« (S. 140). Das Buch vermittelt praktische Anleitungen für die Praxis; was mich aber noch mehr beeindruckt, ist die Haltung der Autoren, die 10

Geleitwort von Stephan Marks

ich auch in unseren persönlichen Begegnungen erfahren durfte und die sich durch das Buch zieht: ihre liebevolle, gelassene Haltung, ihr grundlegender Respekt gegenüber den Teilnehmenden ihrer Workshops, etwa in Bezug auf deren Grenzen (»jeder darf – niemand muss«) wie auch bezogen auf ihre eigene Begrenztheit. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung. Ich bin sicher, dass es zu einer konstruktiven Aufarbeitung unserer Geschichte beitragen wird, zu einem Lernen aus unserer Vergangenheit. Stephan Marks

Geleitwort von Stephan Marks

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Vorwort

Mit diesem Buch schließt sich der Kreis unserer Beziehung: Erstmals begegneten wir uns, Autorin und Autor, im Rahmen eines Workshops auf dem Weltkongress für Familientherapie in Düsseldorf vom 15. bis 20. Mai 1998. Otto Felix Hanebutt berichtete in diesem Workshop über die Folgen des Nationalsozialismus sowie des Zweiten Weltkriegs für die Nachkommen der zweiten und dritten Generation. In der anschließenden Diskussion erzählte ich, Tobias von der Recke, von meinen Erfahrungen bei einer familientherapeutischen Weiterbildung, die ich 1997 in Moskau für Ärzte, Psychologen und Lehrerinnen begonnen hatte. Der Zweite Weltkrieg und Gefühle der Schuld und Scham hatten mich dort sehr bewegt; besonders dann, wenn wir mit den Teilnehmenden deren Familien rekonstruierten und feststellten, dass es praktisch keine Familie gab, in der nicht Großeltern, Eltern oder zumindest andere Verwandte durch den Krieg der Deutschen in Russland zu Schaden gekommen waren. Das Stichwort Moskau brachte uns im Anschluss ins Gespräch und führte letztendlich dazu, dass wir nach einigen beruflichen »Testläufen« auf deutschem Boden im Dezember 2000 nach Moskau reisten, um dort ein familientherapeutisches Einführungsseminar zu halten. Nachdem wir auch dieses Projekt Schulter an Schulter und erfolgreich hinter uns gebracht hatten, waren wir sehr entschlossen, auch in Zukunft immer wieder zusammenzuarbeiten, sodass wir heute auf 15 kollegiale Jahre und unter anderem etwa 75 gemeinsam durchgeführte Familienrekonstruktionen zurückblicken. 13

Der Anfang war also geprägt von historischen und politischen Themen, und uns war ohne viele Worte klar, dass wir systemische Familientherapie nicht ausüben und lehren können, ohne diese Themen zu berücksichtigen. Uns war klar: Wir müssen die Wirkung dieser Themen darauf in den Blick nehmen, wie Menschen und Familien ihre Lebensentwürfe konstruieren. Die Idee, darüber auch zu schreiben, kam uns schon sehr früh. Was uns immer wieder bremste war, dass wir die praktische Arbeit lieber machten, als die Erfahrungen in eine schriftliche Form zu bringen. Mittlerweile sind wir auch damit beschäftigt, jüngeren Kolleginnen und Kollegen zu vermitteln, wie man Familienrekonstruktionen machen kann und was es unseres Erachtens dafür braucht. Das hat uns zusätzlich angetrieben, endlich dieses Buch zu schreiben. Und wir waren beide froh, damit erneut nicht allein zu sein, sondern es gemeinsam machen zu können. Mit diesem Buch schließen sich weitere Kreise: von der politischen Arbeit über die Friedensbewegung zur systemischen Therapie und von der Familienrekonstruktion über die historischen Zusammenhänge wieder zum politischen Engagement. Individuelle Lebensentwürfe werden im Kontext gesellschaftlicher, historischer und politischer Prozesse entwickelt. Weil diese Prozesse auch von kollektiven, traumatischen bzw. traumatisierenden Ereignissen und Perioden (wie Krieg) geprägt sind, stoßen Individuen und Familien hier immer wieder an die Grenzen der Überforderung. Mit anderen Worten: Kollektive Traumatisierung bedarf kollektiver Möglichkeiten ihrer Aufarbeitung – eben auch aus psychotherapeutischen Erwägungen und nicht nur aus politisch-­ historischer Sicht. Die Seele eines Einzelnen, aber auch die »Familienseele« ist damit überfordert, Ereignisse wie den Ersten oder Zweiten Weltkrieg mit all seinen katastrophalen Anteilen (Gewalt, Vernichtung, Verlust) individuell zu verarbeiten. Familienrekonstruktion verstehen wir vor diesem Hintergrund als einen Beitrag zur kollektiven Aufarbeitung, die ja eigentlich einer »Gesellschafts-Rekonstruktion« bedürfte. So etwas gibt es freilich nicht im engeren Sinne. Initiativen wie etwa Aktion Sühnezeichen 14

Vorwort

nach dem Zweiten Weltkrieg sehen wir aber durchaus als einen wichtigen Teil einer solchen »kollektiven Rekonstruktion«. Wir haben in unseren Familienrekonstruktionen immer wieder Menschen getroffen, deren Lebensentwürfe wie heldenhafte (im besten Sinne des Wortes) Versuche anmuten, menschliche und (wieder) gutmachende Antworten auf historische, aber auch aktuelle politische Ereignisse deutscher Geschichte zu geben. Wir haben diese »Helden« immer als solche gewürdigt und gesehen (und gefühlt), mit wie viel Verzicht, Überforderung und anderen einschränkenden Konsequenzen dies verbunden ist. All das kennen wir auch gut aus unseren eigenen Biografien. So gut und wichtig es ist, Wiedergutmachung, Versöhnung und Frieden ins Leitbild des persönlichen Lebensentwurfs zu integrieren, so problematisch erscheint uns gleichzeitig die Verlockung, aus diesem Engagement eine zu große Bedeutung für den eigenen Lebenssinn zu schöpfen. Wenn in individuellen Lebensentwürfen kollektive Themen zu stark bestimmend waren oder sind, besteht zum einen die große Gefahr, das nicht allzu lange durchzuhalten (Burnout, Depression) und darüber auch zu vereinsamen, zum »Spinner« zu werden. Die andere Gefahr ist die einer manischen (»größenwahnsinnigen«) Entwicklung, wie wir sie bei verschiedensten »Helden« der deutschen (Nachkriegs-)Geschichte annehmen, deren Start immer auch einen guten Kern im Sinne der aufrechten Suche nach Alternativen hatte (Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Otto Muehl und viele andere). Natürlich erklären kollektive Themen nicht ausschließlich individuelle Entwicklung; natürlich ist immer auch die Frage, wie sich der familiäre Mikrokosmos entwickelt hat, mit welchen Ressourcen und Nöten Mutter und Vater ihre Beziehung und die Elternschaft angetreten haben. Und es ist immer die Frage, welche (subjektiven) Entbehrungen, Enttäuschungen und Verletzungen das genau in dieser Familie groß werdende Kind einladen, sich mit den großen, kollektiven Themen zu beschäftigen oder eben weniger oder auch gar nicht. Unsere Hypothese ist, dass sich Menschen sehr unterscheiden, was ihre »Durchlässigkeit« angeht. Die einen grenzen sich sehr robust, manchmal auch rigide von allem ab, was nicht unmittelbar die eigene Existenz und die nächsten Mitmenschen betrifft – was Vorwort

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immer auch als Überlebensstrategie gesehen werden kann und muss. Andere nehmen sich die Dinge in der Welt (zu) sehr zu Herzen, so wie es eine Teilnehmerin formuliert hat: »Jedes Leid wird an meine Ufer gespült«. Mit unseren etwa 75 Rekonstruktionen bei ca. 900 Teilnehmenden sehen wir uns gewissermaßen immer wieder an der Schnittstelle von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung. Unsere Vision ist, dass die Menschen, die zu uns kommen, für die kollektiven Themen und ihre Folgen sensibilisiert werden, wenn sie davon noch ganz unberührt sind oder sein wollen, und dass die, die zu viel davon tragen, auch von den Ersteren entlastet werden. In guter Verbindung mit allen, die Psychotherapie wie wir auch als eine (­ friedens)politische Arbeit verstehen, könnte darüber eine Bewegung werden, die zunehmend erfolgreicher einen Beitrag dafür leistet, dass kollektive Katastrophen immer unwahrscheinlicher werden. Wir sind sehr dankbar für die vielen Jahre dieser intensiven Zusammenarbeit, die wir immer wieder als Geschenk erlebt haben und erleben. Wir danken unseren Ehepartnern sehr, dass sie diese professionelle »Liebschaft« immer wieder wohlwollend begleitet haben. Und wir haben vielen anderen zu danken: Ich, Ursula Wolter-Cornell, danke vor allem meinen Lehrern und da im Besonderen Gisal Wnuk-Gette und Werner Wnuk. Durch sie konnte ich meine politischen mit meinen therapeutischen Ambitionen verbinden. Von ihnen habe ich das Instrument Familienrekonstruktion gelernt und die Bedeutung von Flucht, Vertreibung, Schuld und Kriegsverbrechen für die Familien und unsere Arbeit. Und meinem Mann bin ich dankbar für seine Geduld, seine Fürsprache und seinen immerwährenden Appell, dass dieses Buch geschrieben werden muss. Ich, Tobias von der Recke, danke meinem Lehrer Martin Kirschen­baum, der meine Therapeutenidentität nachdrücklich geprägt hat; und ebenso meinem Lehrer an der Universität Professor Heiner Keupp, der mich gelehrt hat, Psychotherapie in ihrer historischen und politischen Dimension zu verstehen und zu praktizieren. Ich danke meinem Chef in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Professor Joest Martinius, der meine ersten sys16

Vorwort

temischen Schritte großzügig begleitet und gefördert hat. Und aus tiefem ­Herzen bedanke ich mich bei meiner Frau für ihre Liebe, Fürsorge, kritischen Hinweise und klugen Reflexionen. Besonders danken wir Imke Heuer vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihre großartige Unterstützung und Peter Manstein für das gewissenhafte Lektorat. Gemeinsam sprechen wir allen Teilnehmenden unseren Dank aus, die uns durch ihr großes Vertrauen tiefe Einblicke in ihre Geschichte gewährt haben. Durch sie haben wir unendlich viel gelernt. Und schließlich: Ein Dankeschön an alle Kolleginnen, Kollegen und Teilnehmenden, die uns durch ihre Familienrekonstruktionsberichte erst ermöglicht haben, dieses Buch zu schreiben! Ursula Wolter-Cornell und Tobias von der Recke

Vorwort

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1 Einleitung

1.1 Wozu dieses Buch? Notwendigkeit und Nutzen für Kolleginnen und Kollegen, die beraterischtherapeutisch arbeiten Seit einigen Jahren sind wir mehr und mehr damit beschäftigt, jüngeren Kolleginnen und Kollegen zu vermitteln, wie systemische Beratung, Familientherapie und Supervision gelernt werden können. Familienrekonstruktion, also die gute Erkundung autobiografischen Terrains, ist ein wichtiger Baustein innerhalb dieser Lehre. Ähnlich wie in anderen therapeutischen Schulen geht es darum, das eigene Großwerden in der Herkunftsfamilie aufrichtig zu untersuchen, offene Fragen zu identifizieren und, so gut es geht, zweckmäßige Antworten darauf zu finden. Beraterinnen, Coaches, Therapeuten und Supervisorinnen sollten auch deshalb eine gute Landkarte ihrer Autobiografie entwickeln, um im professionellen Kontext nicht ihre Klienten mit der eigenen Geschichte zu verwechseln. Therapeutisches Arbeiten birgt ja immer die Verführung in sich, Klienten etwas zuteilwerden zu lassen, was wir selbst in unserem Großwerden so vermisst haben (so gebraucht hätten). Dabei kann es zu Missverständnissen kommen, die Klienten eher schaden als nutzen. Wer beispielsweise die Trennung seiner Eltern als schmerzhaften und leidvollen Einschnitt erlebt hat, wird als Therapeut womöglich die anstehende Trennung eines Klientenpaars eher verhindern

als konstruktiv unterstützen wollen. Und wer eigene Traumatisierungen nicht bearbeitet hat, wird an dieser Stelle möglicherweise blinde Flecken entwickeln, die professionelles Arbeiten mit ähnlich traumatisierten Klienten einschränken. Und schließlich geht es auch darum, für sich zu klären, mit welchen Klienten (Einzelnen, Paaren, Familien) ich gut arbeiten kann und mit welchen vielleicht eher nicht, weil sie mich zu sehr an eigene Erfahrungen heranbringen und meine professionelle Souveränität einschränken (z. B. bei Themen wie Gewalt oder sexuellen Missbrauch). Mit anderen Worten: Wer ein guter Berater, Therapeut oder Supervisor werden möchte, sollte mindestens einmal auch ein »guter Klient« gewesen sein. Auf die Bedeutung der Familienrekonstruktion als ein wichtiges Verfahren der Selbsterfahrung in diesem Sinne hinzuweisen, ist ein Ziel dieses Buches. Das Instrument Familienrekonstruktion bietet einen profunden Zugang zu den bis ins Heute wirkenden alten Lebenssituationen, zu einengenden frühkindlichen Erfahrungen, Tabus und zu dem Leid vergangener Generationen ebenso wie zu den tragenden Kräften der eigenen Biografie. Im lebendigen Verbinden und in respektvoller Auseinandersetzung mit Ressourcen und Abgewehrtem lassen sich diese Lebenssituationen transformieren und in einen neuen Wahrnehmungsrahmen setzen. Wachstum und Entwicklung, die den vorherigen Generationen nicht möglich waren, werden nun freigesetzt. »Erst die Akzeptanz, das Annehmen und die Aussöhnung mit der Geschichte und den Vermächtnissen der Familie macht es möglich, eigene Entscheidungen zu treffen und eigene Wege zu beschreiten« (Stierlin, 1982, zit. n. Conen, 1993, S. 48). Ein zweites Ziel ist, die Familienrekonstruktion in ihrer theoretischen und praktischen Entwicklung zu verstehen und historische Meilensteine dieser Entwicklung kennenzulernen (Kapitel 2). Verschiedene systemische Konzepte wie der Konstruktivismus, narrative Ansätze, strukturelle und erlebnisorientierte Ansätze, Aufstellungsarbeit, aber auch Anleihen aus anderen Schulen (Psychodrama, Gestalttherapie, Hypnose und Körpertherapie) spielen hier eine wichtige Rolle, die wir im Dienste einer Theorie der Familienrekonstruktion integrieren können. Schließlich geht es uns auch darum, Familienrekonstruktion 20

Einleitung

an ihren Schnittstellen zu anderen, sehr aktuellen theoretischen Modellen zu beschreiben: Stephan Marks’ Arbeiten zum Thema Scham, Luc Ciompis Beiträge zur Affektlogik, ­psychoanalytische Konzepte wie Arno Gruens Arbeiten und neurobiologische Erkenntnisse der letzten Jahre, wie sie z. B. von Gerald Hüther veröffentlicht wurden. Ein drittes Ziel ist es, Familienrekonstruktion als praktisches Konzept in all seinen Facetten vorzustellen, sodass Kolleginnen und Kollegen eine Idee davon bekommen, wie sie Familienrekonstruktion ganz praktisch leisten können (Kapitel 3). Hier beschreiben wir den gesamten Prozess einer Familienrekonstruktion von der individuellen Vorbereitung der Teilnehmenden über die zweckmäßigen Rahmenbedingungen (Ort und Zeit) und die Kleingruppenarbeit im Rahmen der Familienrekonstruktion sowie die verschiedensten Möglichkeiten der Durchführung der Familienrekonstruktion im Plenum bis hin zu den Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen von Familienrekonstruktionen. Ein weiteres Ziel ist die Beschreibung der Wirkung von Familienrekonstruktion anhand von Beispielen im Hinblick auf bestimmte »Themen des Lebens« wie z. B. Schuld, Selbstsabotage und -verletzung, Leistungsdruck, Bindung und Bindungslosigkeit. Und schließlich ist unser Ziel, eine wesentliche Dimension der Familienrekonstruktion zu beschreiben: Die historische und die politische Dimension dieser Arbeit hatte in der Geschichte der Familienrekonstruktion und auch in unserer Arbeit zunächst eine eher untergeordnete Bedeutung, was sich aber für uns in den letzten Jahren sehr verändert hat. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wie die aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und ihre Wirkungen auf individuelle und familiäre Entwicklungen sind sehr in den Fokus unserer Arbeit gerückt. Es erscheint uns als sehr wichtig, dass Kolleginnen und Kollegen historische und politische Fakten in der Arbeit mit Familienrekonstruktionen berücksichtigen und erkennen, dass individuelle und familiäre Schicksale nicht ausschließlich auf individueller und familiärer Ebene verarbeitet und gelöst werden können. Für kollektive Schicksale wie in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs bedarf es eines über das Individuelle und Familiäre Wozu dieses Buch?

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hinausgehenden Kontextes im Sinne von Zeugenschaft und Verteilen des Schicksals auf viele Schultern. Im Laufe all der Jahre haben wir als Therapeuten viele Erfahrungen sammeln können und überzeugende Erfolge mit dieser geschichtlichen Kontexterweiterung. Und auch das Wissen um transgenerationale Weitergabe von Problemen hat längst Einzug in die Therapie(forschung) gehalten. Familienrekonstruktion ist ein therapeutisches und auch friedenspolitisches Instrument, das den Verlust des Mitgefühls, den Kampf um Demokratie, gegen Gewalt und Terror ebenso zum Gegenstand hat wie psychische Gesundheit, Seelenfrieden, Selbstwertstärkung und Schamgefühle. Inzwischen liegen viele Publikationen vor über die Auswirkungen von gesellschaftlichen Bedingungen auf Einzelne. Ereignissen wie Krieg, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder destruktiver Umgang mit Kindern in Kinderheimen der 1960er und 1970er Jahre sind in diesem Zusammenhang ebenso wie Prügel als Erziehungsmethode (Müller-Münch, 2012) untersucht. Die Einzelnen leiden und mit ihnen deren Familiensysteme. Daneben belegen Therapiestudien die katastrophalen Auswirkungen auf traumatisierte Menschen wie Überlebende des Holocaust oder Kinder von NS-Tätern. Wir wissen mittlerweile viel über die Auswirkungen von kollektiv entstandenen Themen und Problematiken. Doch immer wieder zeigen uns die Familienrekonstruktionen, wie Menschen mit ungeheurem Kraftaufwand versuchen, diese gesellschaftliche Not individuell oder familiär zu lösen. Hier bietet Familienrekonstruktion ein Instrument, um die kollektive Geschichte mit ihren individuellen Verletzungen wieder in einen größeren Zusammenhang zu stellen. In dieser Betrachtung wird persönliches Leid bearbeitbar, individuell gescheiterte Lösungsversuche werden verständlich und das individuelle Bemühen wird gewürdigt. Diese kollektive, gesellschaftliche und politische Betrachtung erweitert das Verständnis persönlicher Probleme und kann sehr viel zu deren Bewältigung beitragen. Mit der Kraft einer Gruppe, deren Zeugenschaft, Anteilnahme, Berührung, Empörung und Mitmenschlichkeit, wird eine neue Qualität der Solidarität erfahren, die die Bewältigungsversuche der Teil22

Einleitung

nehmenden würdigt und sie darin unterstützt, eigene Entwicklungsziele anzustreben. Wir möchten mit diesem Buch einen Beitrag leisten, die aus unserer Sicht vernachlässigte Dimension der gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Bei vielen Problemen zeigen sich Wurzeln in früheren Generationen, die ihrerseits überfordert reagierten und bemüht waren, ihr Lebensschiff auf Kurs zu halten. Eine solche Kontexterweiterung eröffnet politische Dimensionen unserer Behandlungsräume. Deren Komplexität entsprechend müssen wir unsere therapeutisch-beraterischen Kompetenzen für die Arbeit der Familienrekonstruktion um politische, geschichtliche und soziologische Kenntnisse erweitern, damit wir die familiären Systeme unserer Teilnehmenden, die Entstehung von Problemen und Entwicklung von Überlebensstrategien im zeitlichen Kontext verstehen können. Wenn Familienrekonstruktion ein guter Rahmen für diese Perspektive ist – und davon sind wir zutiefst überzeugt –, dann bekäme diese Arbeit in ihrer Wirkung auch eine historische und politische Perspektive. Anhand von Beispielen aus unseren Rekonstruktionen werden wir diese Perspektive verdeutlichen und uns an dieser Stelle wieder mit Stephan Marks, Luc Ciompi, Arno Gruen und Gerald Hüther verbinden, in deren Vorschlägen für ein besseres Miteinander in der Gesellschaft und zwischen den Nationen wir uns mit unserer Arbeit durchaus wiederfinden. Mit ihnen teilen wir unsere tiefe Überzeugung von einem humanistischen Menschenbild.

1.2 Wie wir zur Familienrekonstruktion kamen – autobiografische Meilensteine: Von der Politik zur Familienrekonstruktion und wieder zurück Tobias von der Recke: Meine Mutter, geboren 1923, war in meiner Erinnerung immer zutiefst sozialdemokratisch. Ihre Begeisterung für Hitler und den Nationalsozialismus konnte ich erst Briefen an ihre Eltern entnehmen, die ich lange nach ihrem Tod gelesen habe. Darin hat sie sich unter anderem massiv über die »Schmierereien« der Weißen Rose empört. Das hat mich sehr erschrocken, und wie Wie wir zur Familienrekonstruktion kamen

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um meine Mutter auch nach ihrem Tode zu schützen, habe ich all die Briefe (die übrigens ansonsten sehr unpolitisch waren) sofort weggeschmissen. Rückblickend denke ich mir: Wie viel Scham muss diese reflektierte Frau darüber empfunden haben, vom »Führer« wie sehr viele andere begeistert gewesen zu sein, und wie viel Kraft muss es sie gekostet haben, diese Scham für sich zu behalten bzw. abzuwehren. Und welche Bedeutung hatte das für mich und mein Großwerden? Hängen mein friedenspolitisches Engagement, meine Kriegsdienstverweigerung und meine beruflichen Planungen damit zusammen? Mein Vater, geboren 1929, ist im Alter von 15 Jahren mit einem der letzten Trecks aus Schlesien geflohen. Erzählt hat er immer nur von der gleich nach dem Aufbruch verlorenen Wurst und seinem damals gefällten Beschluss, in Zukunft nur noch 1. Klasse zu reisen. Mit der ganzen Angst, die mein Vater in dieser Zeit erlebt hat, bin ich erst Jahrzehnte später in Berührung gekommen. Erst dann habe ich verstanden, dass seine Ordnungsliebe (nicht nur von mir gerne auch als zwanghaft beschrieben) sein erfolgreicher Versuch war, derlei bedrohliche Ängste für den Rest seines Lebens auszuschließen. Es ist ihm nach meiner und seiner Einschätzung auch ziemlich gut gelungen. Als Einzel- und Scheidungskind ging mein Blick schon früh nach oben, aufmerksam habe ich verfolgt, was meine Eltern tun und vor allem, wie sie es miteinander machen. So war ich bald mit der Frage beschäftigt, was es brauchen würde, dass sich erwachsene Menschen besser verstehen und vergnüglicher miteinander kooperieren. Rückblickend betrachte ich diese Frage als meine erste große Leidenschaft, und sie ist mir bis heute geblieben. Zwischendrin fanden meine Eltern selbst auch ganz gute Antworten, sodass ich wusste, dass es grundsätzlich möglich sein muss. Aber diese Antworten hatten keine lange Halbwertszeit und so war die spätere Trennung folgerichtig, wenn auch nicht schmerzfrei. Ich bin bei meiner Mutter verblieben und habe mir flankierend elterliche Figuren außerhalb der Familie gesucht, insbesondere Jugendgruppenleiter und später Jesuiten im Rahmen eines kirchlichen Jugendverbandes. Auch in der Jugendarbeit habe ich mich intensiv mit Beziehungen beschäftigt, vor allem dann, wenn sie nicht funktionierten oder sich destruktiv entwickelten. 24

Einleitung

Parallel zur Beziehungsarbeit auf vielen Ebenen engagierte ich mich stark in der Friedensbewegung und für die Möglichkeiten des gewaltfreien Widerstands – quasi Beziehungsarbeit auf einer anderen Ebene. Ich verweigerte den Kriegsdienst aus Gewissengründen, was damals noch mit einer ziemlich abstrusen »Gewissensprüfung« verbunden war. Die Begegnungen mit Protagonisten des Widerstands im »Dritten Reich«, namentlich der Weißen Rose, haben mich sehr berührt und nie wieder losgelassen. Nach dem Studium der Psychologie habe ich zehn Jahre in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Dort habe ich mit Freude und wachsender Bescheidenheit versucht, meine in der Weiterbildung frisch erworbenen systemischen Kenntnisse als Familientherapeut in den Dienst der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien zu stellen. Meine erste systemische Weiterbildung als Lehrender habe ich für Psychologen und Ärzte über knapp drei Jahre in Moskau (mit Simultanübersetzung) durchgeführt. Insbesondere dort ist mir wieder die enge Verwobenheit von Familiengeschichten mit historischen und politischen Entwicklungen sehr deutlich geworden. Unvergesslich ist mir ein Genogramm mit etwa 25 Kreuzen in der elterlichen und großelterlichen Generation, alles Menschen, die im Krieg gegen Deutschland gestorben sind, viele von ihnen von deutschen Panzern überrollt. Die besagte Begegnung mit meiner Koautorin Ursula WolterCornell hat das Bewusstsein für Politisches und Historisches gestärkt und unsere Zusammenarbeit im Rahmen der Familienrekonstruktion hat dem einen guten Platz gegeben. Wieder schließen sich Kreise: Politisches, Historisches und Systemische Therapie kommen zusammen. Ursula Wolter-Cornell: Meine Eltern, beide Jahrgang 1927, sind Erstgeborene. Meine Mutter ist Tochter eines Kommunisten und einer eher demütigen Mutter, mein Vater ist Sohn eines SS-Offiziers und ­KZ-Aufsehers in Sachsenhausen und einer sehr dominanten Mutter. Bis heute kann ich mir nicht vorstellen, wie die beiden Familiengeschichten hätten weitergehen können ohne die Flucht meiner Eltern mit uns vier Kindern in den vermeintlich »goldenen« Westen, weit Wie wir zur Familienrekonstruktion kamen

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weg von all dem gemeinsam Erlebten in einer Stadt in Thüringen. Der Vater meiner Mutter sprach nach der Flucht bis zu seinem Tod nie wieder mit ihr. Er hat sich nach der zweiten Bodenreform vor Enttäuschung über den Weg der DDR und den Weggang seiner einzigen Tochter erhängt. Die anderen Großeltern unterstützten den Weggang. Ich glaube, damals wurden bei mir die Weichen gestellt für mein späteres Eintreten für Gerechtigkeit und meinen starken inneren Trieb, etwas wiedergutmachen zu müssen. Ich fühlte mich ständig irgendwie schuldig, ohne bewusst sagen oder empfinden zu können, wofür. Von meinem Vater weiß ich, dass er im Laufe meiner Kindheit und Jugend immer sozialdemokratisch gewählt hat. Er war ein großer Anhänger von Willy Brandt. Zum Kniefall in Warschau hat er jedoch nie etwas gesagt, obwohl bei uns zu Hause viel über Politik gesprochen wurde. Er hat die Ausschreitungen während der Novemberpogrome 1938 in seiner Heimatstadt auch dann noch geleugnet, als ich ihm die Bilder von zerstörten Geschäften im Heimatmuseum gezeigt Abbildung 1: Überlebende des habe. Er behauptete bis zu seinem Außenkommando Mühldorf, einem Außenkommando des Tod, dass sein Freund (Mitglied der KZ Dachau1 Weißen Rose) aus dem KZ Buchenwald wohlgenährt nach Kriegsende zurückgekehrt sei, selbst noch, als ich ihm Fotos von seinem Freund zeigte, auf denen dieser in einem erbarmungswürdigen Zustand in KZ-Lumpen zu sehen war (siehe ähnliche Abbildung 1).1

1 Quelle: George Mallinder, United States Army (United States Holocaust Memorial Museum) [Public domain], via Wikimedia Commons. Q ­ uelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3A%C3%9Cberlebende_ KZ_M%C3%BChldorf.jpg

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Einleitung

Er habe das alles nicht gewusst, er sei nur Flakhelfer gewesen und sein Vater nur Wärter im Gefängnis Oranienburg. »Wie lebt man mit so einer Schuld und Scham?«, habe ich mich gefragt. Bei meinem Großvater habe ich nie auch nur ein Wort von alledem gehört, einzig sein Hass auf die Kommunisten und das Land, in dem er leben musste, waren verdeckte Anzeichen seines Wissens davon. Meine Mutter, die 1963 verstarb, war wohl zeitlebens eine Sozialdemokratin und Humanistin. Sie war in ihrer Jugend mit Walter Jens befreundet, der ihr viel bedeutete. Ihr Vater war ein harter, unzugänglicher Mann, der für seine kommunistischen Überzeugungen bis zur Selbstschädigung gegangen war, mit einer verbitterten und devoten Frau an seiner Seite. Meine Mutter hat die politische Haltung ihrer Eltern geschätzt, sich aber gegenüber einer davon abgeleiteten rigiden Lebenspraxis zur Wehr gesetzt. Heute frage ich mich, was sie zu einem Foto gesagt hätte, auf dem sie als BDM-Mädchen zu sehen ist. Leider habe ich mit meiner Mutter nicht genauer über all dies reden können. Aber ich lebe im Gefühl, großenteils ihr »Erbe« angetreten zu haben mit sich daraus ergebenden Weiterungen: ȤȤ in der Fremde, nach der Flucht aus der DDR, heimatlos zu sein; ȤȤ als Jugendliche und junge Frau die politische Heimat bei den Kommunisten zu suchen, vor allem nach Begegnung mit ehemaligen Mitgliedern der Weißen Rose; ȤȤ sich der Friedensbewegung verbunden zu fühlen; ȤȤ ein Studium der Sozialwissenschaften als logische Konsequenz der politischen Haltung absolviert zu haben; ȤȤ nach Heirat, Muttersein, Trennung, beruflicher Tätigkeit und späterer Familientherapieausbildung die politische Haltung und therapeutisches Arbeiten miteinander verbinden zu können.

Wie wir zur Familienrekonstruktion kamen

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2 Familienrekonstruktion als systemische Methode: theoretische Fundierung, historische, aktuelle und eigene Entwicklungen

Wenn man das menschliche Leben als heilig betrachtet – so wie ich das tue –, dann wird die Familienrekonstruktion zu einer spirituellen Erfahrung und führt zu Erkenntnissen, die die menschliche Energie aus den Fesseln der Vergangenheit zu befreien und den Weg zur vollen menschlichen ­Entfaltung zu öffnen vermag. (Virginia Satir, 1985)2

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der Geschichte der Familienrekonstruktion, ihrer theoretischen und praktischen Entwicklung und einigen flankierenden theoretischen Arbeiten, die wir in unsere Form der Familienrekonstruktion integriert haben. Wir wollen also transparent machen, wie wir Familienrekonstruktion verstehen, und dabei insbesondere die historische und politische Dimension dieser Arbeit darstellen.

2.1  Ein persönlicher Weiterbildungsbericht Unseren Ausführungen voranstellen möchten wir den persönlichen Bericht einer Teilnehmerin, die im Rahmen ihrer Weiterbildung zur systemischen Beraterin 2012 an einer Familienrekonstruktion teilgenommen hat, denn einige der uns wichtigsten Aspekte der Familienrekonstruktion werden darin angedeutet: 2 Zit. n. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOTHERAPIE/Systemische-Familientherapie.shtml

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Juli 2012 Es ist Dienstagabend, es ist unsäglich heiß, und wir sitzen bereits den dritten Tag mit 18 Kursteilnehmern in einem großen Seminarraum im Dachgeschoss. In der Ecke leiert müde ein Ventilator chancenlos vor sich hin. Hier passiert Gutes. Und hier passiert Wichtiges. Hier sitzen 18 Menschen, die sich entschlossen haben, für einiges mehr in ihrem Leben selbst die Verantwortung zu übernehmen, als sie es bisher getan haben. Sie alle haben irgendwann an einem Punkt in ihrem Leben erkannt, dass es hilfreich sein kann, sich von alten Denkmustern und Glaubenssätzen zu lösen: Den persönlichen Resetknopf zu drücken. Sich so weit wie möglich zu befreien aus (vermeintlichen) Zwängen und familiären Verpflichtungen. So manches Päckchen wieder an denjenigen oder diejenige abzugeben, von dem sie es bekommen – oder es unaufgefordert an sich genommen haben. Und zu hinterfragen, warum in ihrem Leben sich manches im Kontakt mit ihren Eltern und Großeltern nicht rund und gesund anfühlt. Warum mancherorts so viel gegenseitiges Unverständnis im Vordergrund steht. Manche hier wollen Frieden machen. Manche wissen noch gar nicht so richtig, was sie hier wollen, aber sind an den wichtigen Fragen und Themen des Lebens interessiert. Und am Leben selbst. Und viele wollen die Chance nutzen, da weiterzugehen, wo es wehtut. Diese Menschen sind alle ziemlich mutig, wie ich finde. Sie stellen sich. Hier finden sie die besten Voraussetzungen dafür. Jeder von uns hat sich als Vorarbeit für diese Woche intensiv mit seiner Familiengeschichte, insbesondere dem Leben der Eltern, befasst und Informationen gesammelt. Manche haben Fotos mit dabei oder alte Familiendokumente, die uns ein bisschen eintauchen lassen in die Vergangenheit. Jeder hat einen möglichst umfassenden Lebenslauf seiner Mutter, seines Vaters und von sich selbst angefertigt und bringt ihn in Kleingruppenarbeit nochmals in eine für die gesamte Gruppe repräsentable Form und Größe. Meine Informationen über meinen Vater sind dürftig und aus zweiter Hand. Ich habe (gewollt) keinen Kontakt zu meinem Vater. Ich halte ihn für einen Despoten und Familientyrannen. Auch für diese wichtige Sache wollte (konnte?) ich zunächst nicht auf ihn zugehen. Und trotzdem ahne ich jetzt, nach allem, was ich bisher hier erleben durfte, dass sich hier eine Chance bietet. 30

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Familienrekonstruktion kann geraderücken. Sie kann aufdecken und lösen. Und sie kann Klarheit bringen. Bisher konnte ich von allen Themen innerhalb jeder einzelnen der bisher acht stattgefundenen Familienrekonstruktionen uneingeschränkt profitieren. Jedes Thema beinhaltete einen anderen, tragenden Grundgedanken in sich und brachte jeweils eine Saite in mir zum Schwingen, bildete einen harmonischen Ton in einem großen Ganzen. Als wäre ein Mosaiksteinchen an seinen Platz gerutscht. Und jedes Mal hat sich ein bisschen was an meinen inneren Wahrheiten verändert. In mir regt sich leise im Hinterkopf die Frage, wie es sein kann, dass fast jedes unserer Themen oder Fragestellungen für alle anderen ebenso bedeutsam ist. Wie fühle ich mich nicht mehr verantwortlich für das Wohlergehen meiner Mutter? Wie kann ich in meinem Leben mir selbst die Liebe schenken, die mir vonseiten meiner Eltern fehlt? Wie schaffe ich es, mich in bestimmten Situationen souveräner zu fühlen und nicht so verlassen? Was muss passieren, dass ich eine wahre Daseinsberechtigung im Leben habe? Warum trage ich so viel Ballast mit mir herum, von dem ich das Gefühl habe, er gehört zu meiner Mutter/meinem Vater? Wie schaffe ich es, nicht mehr um die Anerkennung meiner Eltern buhlen zu müssen? Sind es schlicht die Themen des Lebens? Oder ist es in Anbetracht der Zeitspanne, in der all die Eltern der Teilnehmer hier aufgewachsen sind, eine Generationenfrage? Alle Großeltern der Teilnehmer hier im Raum haben zwei Kriege erlebt. Fast alle Eltern (oder zumindest ein Elternteil) einen Krieg und die Nachkriegszeit in Deutschland. Mein eigener Vater ist 1937 in Berlin geboren. Mein Großvater väterlicherseits arbeitete an Propagandafilmen mit und landete in russischer Kriegsgefangenschaft, die er überlebte. Ich habe ihn bis zu seinem Tod 1987 nie kennengelernt, weil er mit seinen beiden Söhnen völlig zerstritten war. Was das für die Kindheit, Jugend und das Aufwachsen meines Vaters bedeutet haben muss, kann ich nur im Ansatz erahnen. Die Vorarbeiten habe ich entsprechend schluderig ausgeführt. Etwas in mir scheint zu ahnen, dass ich diese Informationen momentan noch gar nicht in ihrer Tragweite verkraften kann. Dennoch bin ich sehr angetan von den Berichten der anderen, die diese Vorarbeit und die Gespräche mit ihren Eltern, das ehrliche Interesse und die Ein persönlicher Weiterbildungsbericht

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Begegnung auf Augenhöhe als große Bereicherung beschreiben. Ich spüre, dass hier Wertvolles passiert ist. Viele der Eltern haben zum ersten Mal ihr Schweigen gebrochen. Als wären die aufrichtigen Fragen ihrer erwachsenen Kinder die ersehnte Legitimation gewesen. Meine eigene Familienrekonstruktion am Mittwoch ist ein emotionaler Wellenritt. Die Szenerie ist sorgfältig ausgewählt, es gibt natürlich einen Stellvertreter für meinen Vater. Was würde auch anderes bei mir Sinn machen? Bei mir, die sich als Opfer ihres Aufwachsens mit viel emotionaler Gewalt und der Erziehung ihres Vaters sieht. Und doch ermöglicht mir die Rekonstruktion eine Auseinandersetzung – eine gefahrlose Auseinandersetzung auf sicherem Terrain, getragen durch wohlwollende Energien und gute Menschen im Raum. Das ist eine neue Erfahrung für mich, und das erste Mal in meinem Leben spüre ich bewusst: In meinem Vater steckt noch jemand ganz anderes als der, für den ich ihn halte. Er ist tief traumatisiert und niemals hat sich je einer gekümmert, er selbst schon gar nicht. In ihm steckt von Kindestagen an ein Trümmerfeld voller Bombenkrater. Vielleicht hat er versucht, mit seinen acht Kindern die Ruinen zu begrünen. Auch, wenn er gar nicht real anwesend ist, spüre ich: Alles, was hier gesprochen wird, kommt der Wahrheit ziemlich nahe. Weil es sich für mich schlüssig anfühlt. Die Mosaiksteinchen kullern nur so. Die Tränen auch. Es gibt im Verlauf eine Schlüsselsituation: Heute weiß ich, sie gibt die Initiation zu einem längeren Prozess der aufrichtigen inneren Befriedung. Der Einladung des Stellvertreters meines Vaters »Du kannst mich alles fragen, was du möchtest« folge ich nach einer langen, stillen Pause mit der Frage: »Warum behandelst du alle deine Kinder immer so schrecklich und beschimpfst sie als ›den letzten Dreck‹?« Die Antwort lautete: »Damit meine ich eigentlich immer mich selber.« Für mich wird in dieser Stunde mehr erfahrbar und spürbar, visualisierbar und nachvollziehbar, weil transparent gemacht, als mein Vater je persönlich mir gegenüber dazu imstande gewesen wäre, es mir darzustellen. Weil Unaushaltbares nicht kommunizierbar ist. Stattdessen musste er sein Leben lang verzweifelt um sich schlagen, kämpfen, gegen die Menschen, die Welt, seine Familie, seine vielen Kinder und am allermeisten gegen sich selbst. 32

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Im weiteren Verlauf der Woche wird offenbar, dass die meisten der Eltern eine Kriegsgeschichte in sich tragen. Und alle Teilnehmer direkt oder indirekt von den Erlebnissen ihrer Eltern betroffen sind. So darf ich noch bei mehreren, direkt Kriegsgeschehen betreffenden Rekonstruktionen »Trittbrettfahrer sein«. Unter anderem begegne ich als Zuschauerin einem ebenfalls schwer kriegstraumatisierten Vater, der als Kind im Wald eine Gruppe totgefrorener Soldaten findet. Und jede Rekonstruktion, auch die, an denen ich nicht als Stellvertreterin beteiligt bin, löst irgendwo in meinem Kopf ein sehr leises »Klick« aus. Und wieder rutscht ein Mosaiksteinchen an seinen Platz. Und wieder erklingt eine Saite mehr. In der Folgezeit meiner Familienrekonstruktion beschäftige ich mich umfassend und immer wieder (zugegebenermaßen auch mit punktueller therapeutischer Unterstützung und einer eigenen Therapieausbildung) mit den Folgen von Krieg und Vertreibung. Mal in homöopathischen Dosen, mal häppchenweise und auch mal richtig tief ins Thema einsteigend. Ich bekomme – soweit als sekundär Betroffene überhaupt möglich – eine Vorstellung von den kollektiven Traumata auf der Welt. Und deren Folgen für die Sozialisation der nachfolgenden Generationen. Ich vergieße stellvertretend für meinen Vater und meine Großeltern viele Tränen. Und begreife, dass Verurteilen der schlechteste Weg ist. Stattdessen befinde ich mich in einem Prozess der vollständigen Übernahme der Verantwortung für mein Lebensglück, weg von einer Opferhaltung, hin zum Schöpfersein. Und ich kann mich heute innerlich in Frieden und Dank zu meinem Vater hin verneigen. Weil ich heute weiß, dass ich in meiner Kindheit und Jugend, so schwierig die Bedingungen auch waren, den Grundstein legen konnte für viele sehr gute und schöne Eigenschaften von mir. In der Rückschau sehe ich meine Familienrekonstruktion bei all ihrer Schwere als einen der wichtigsten Bausteine auf meinem Weg zum Frieden, den ich seitdem gehe. Auch und vor allem dadurch, dass die Erfahrung innerhalb einer Gruppe sehr wertvoll ist, die Leiden mitträgt und Zeugenschaft ablegt, und die sich zur Verfügung stellt, Blockaden spür- und somit lösbar zu machen.

Ein persönlicher Weiterbildungsbericht

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April 2016 Viele der Teilnehmer, mit denen ich noch längere Zeit im Austausch war, haben mir berichtet, dass sich durch ihre Familienrekonstruktion das vorher oft konfliktbelastete Verhältnis zu ihren Eltern entspannen konnte. Ihnen erging es ähnlich wie mir. Zu verstehen, wie das persönliche Erleben der Eltern uns prägt, schafft Erleichterung, wenn wir erkennen: Wir dürfen selbst entscheiden, ob ihre Wahrheiten auch die unseren sind. Und wir dürfen uns anders entscheiden, ohne sie verurteilen zu müssen. Jeder handelt nur nach seinen Möglichkeiten. Familienrekonstruktion setzt Energien frei. Als Kinder kriegsbelasteter Eltern können wir – und sollten vielleicht sogar? – dieses Instrument nutzen. So oder so schafft es einen Dialog der Generationen. Mein Mosaik ist mittlerweile sehr bunt und reich. In mir klingen unzählige Saiten. Heute, fast 33-jährig (ich bin tatsächlich eine sehr junge »Kriegsenkelin«) bin ich mittlerweile an einer Station eines Weges angelangt, der mich befähigt hat, zu meinem Vater wieder einen sanften Kontakt herzustellen. Dieser Kontakt, der so lange nicht möglich schien, nicht im Ansatz denkbar war, so sehr musste ich mich vor ihm schützen, scheint für meinen Vater heilsam. Ich spüre, dass durch mein Verzeihen Energien frei werden, die ihn spüren lassen: Der Krieg ist endgültig vorbei.

Was ist das Gute, was ist das Große, das hier passiert? Bevor wir etwas ausführlicher die Geschichte der Familienrekonstruktion beschreiben, können wir einleitend zusammenfassen: Familienrekonstruktion ist ein Raum, in dem sich Menschen in sehr offener Weise und vertrauensvoll mit ihren persönlichen Geschichten und Themen begegnen, kennen- und verstehen lernen. Gleichzeitig ist es ein Raum, in dem diese Geschichten und Themen veränderbar werden und so neue, verträglichere Geschichten entstehen können. Und drittens ist es ein Raum, in dem über Individuen und Familiengeschichten hinausgehende Themen wie Krieg, Rassismus, Ausgrenzung, Flucht u. A. erlebbar und besprechbar werden. Es ist also auch ein politischer Raum, in dem es letztlich um die Frage geht: Wie machen wir Menschen es miteinander, was bringt uns weiter, wenn wir mit solchen kollektiven Themen in der Gruppe in Berührung kommen? Das halten wir für etwas Großes und Wichtiges. 34

Familienrekonstruktion als systemische Methode

2.2  Theoretisch Nützliches Virginia Satir gilt als die Erfinderin der Familienrekonstruktion als gruppentherapeutische Methode, die sie insbesondere für die Ausbildung von Familientherapeutinnen und -therapeuten sowie für die Stärkung ihrer Therapeutenpersönlichkeit entwickelt hat. Auf der Basis ihres zutiefst humanistischen Menschenbildes hat sie sich insbesondere mit der menschlichen Kommunikation und ihrem Zusammenhang mit Selbstwert beschäftigt (Satir, 1975; Nehrin, 1989; Kaufmann, 1990) und mit großer Leidenschaft daran gearbeitet, Menschen bei der Entfaltung ihres ganzen Potenzials zu unterstützen. Mit der Familienrekonstruktion hat Satir eine wunderbare Möglichkeit geschaffen, die Themen des Lebens in familiären Systemen auf die Bühne zu bringen, sie besser zu verstehen und Möglichkeiten zu entwickeln, persönliche Lebensentwürfe in größerer Freiheit zu gestalten und die eigenen Ressourcen stärker ins Leben zu bringen. Freiheit ist für sie ein zentraler Begriff, was sie in der Formulierung der »fünf unveräußerlichen Freiheiten« sehr schön zum Ausdruck bringt (Satir, 1989, S. 27): »– die Freiheit zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist – anstatt das, was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird; ȤȤ die Freiheit, das auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke – und nicht das, was von mir erwartet wird; ȤȤ die Freiheit, zu meinen Gefühlen zu stehen – und nicht etwas anderes vorzutäuschen; ȤȤ die Freiheit, um das zu bitten, was ich brauche – anstatt immer erst auf Erlaubnis zu warten; ȤȤ die Freiheit, in eigener Verantwortung Risiken einzugehen – anstatt immer nur auf »Nummer sicher zu gehen« und nichts Neues zu wagen.« Diese fünf Freiheiten sind die Essenz des humanistischen Menschenbildes von Virginia Satir, das auch unserer Arbeit zugrunde liegt. Wir sind zutiefst überzeugt, dass Menschen auf der Welt sind, um ihre Talente und Wünsche ins Leben zu bringen und gleichzeitig anderen Menschen nah zu sein und mit ihnen gute und tragende Beziehungen zu unterhalten. Wo dies blockiert oder gebremst wird Theoretisch Nützliches

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und letztlich nicht oder nur eingeschränkt gelingt, machen wir uns auf die Suche nach den »guten Gründen«, die wir letztlich wieder in den Systemen sehen und den in und zwischen diesen Systemen entstehenden und sich entwickelnden Beziehungen. Dabei ist uns klar, dass Menschen und Systeme nicht losgelöst von ihrem jeweiligen Kontext betrachten werden können, und wir haben entsprechend unseren Blick auf diese Kontexte erweitert. In Deutschland wurde die Familienrekonstruktion zunächst von Maria Bosch im Weinheimer Institut (IF Weinheim) in die Praxis familientherapeutischer Weiterbildung integriert, das »Weinheimer Modell« orientiert sich dabei weitgehend am Vorgehen von Satir. Der Begriff »Familienrekonstruktion« setzt sich aus den lateinischen Wörtern »familia« und »reconstruere« zusammen. »Familia« bedeutet so viel wie Familie, Geschlecht, Sippe oder Stamm. »Recon­ struere« heißt nachbilden oder wiederherstellen. Es geht also um eine Nachbildung der eigenen Familiengeschichte, der Geschichte der Sippe und der eigenen Rolle darin. Familienrekonstruktion ist mithin eine Methodik der Selbsterfahrung und Selbstgestaltung. Sie dient dazu, »das Selbstverständnis von Familien und ihren Mitgliedern mit dem Ziel zu reflektieren, passendere Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktionen für gegenwärtige und zukünftig zu bewältigende Anforderungen zu entwickeln« (Schmidt, 2003, S. 12). In der Familienrekonstruktion werden familienspezifische Beziehungsmuster und Rollenverhältnisse räumlich-bildlich dargestellt. Nähe und Distanz, Machtverhältnisse, Verantwortungsübernahme, Delegationen, Grenzen und Abgrenzung werden anschaulich gemacht. Die immer wieder auch überraschenden Erkenntnisse aus diesem Prozess haben eine ganz praktische Bedeutung für die Interpretation der eigenen aktuellen Situation, aber auch zukünftige Modifikationen des eigenen Lebensentwurfs. In der Familienrekonstruktion wird zunächst allein und dann in der Gruppe erforscht, was die Eltern oder Großeltern ihrerseits in ihrer Herkunftsfamilie gelernt und möglicherweise an ihre Kinder weitergegeben haben. Das von Martin Schmidt entwickelte und 2003 veröffentlichte »Münchner Modell« der systemischen Familienrekonstruktion bezieht sich auf Virginia Satirs Arbeiten und wurzelt insbesondere im Konstruktivismus und in narrativen Ansätzen. 36

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Ein zentrales Ziel der systemischen Familienrekonstruktion ist die Herstellung von Sinn durch eine Veränderung der ursprünglichen Geschichte in eine neue, passendere. Die dargestellte Lebensgeschichte einer Person wird durch systematisches Fragen dekonstruiert, d. h. ins Wanken gebracht. Mittels Perspektivenwechsel, der Suche nach alternativen Bedeutungen und Interpretationen wird nach und nach eine neue Geschichte aufgebaut. Nach der Dekonstruktion erfolgen somit eine Rekonstruktion der eigenen Position in der Herkunftsfamilie und eine Rekonstruktion der eigenen Zukunft und Lebensziele. Familienrekonstruktion bedeutet so den Versuch, individuelle und familiäre Wirklichkeitskonstruktionen sichtbar zu machen, sie gemeinsam zu überprüfen und – wo es sinnvoll oder notwendig erscheint – zu modifizieren. Und schließlich geht es auch darum, Wirklichkeit neu zu konstruieren, um neue Freiheiten, Wahlmöglichkeiten und Perspektiven zu eröffnen. Systemtheoretisch formuliert, sollen die Teilnehmenden einer Familienrekonstruktion eigene Erfahrungen und die der Eltern unter Berücksichtigung der jeweiligen (kulturellen, historischen, politischen, ökonomischen) Kontexte systematisch rekonstruieren. Dabei entstehen nicht Abbildungen einer sogenannten »objektiven Realität«, sondern individuell und systemisch entwickelte Wirklichkeitskonstruktionen. Dies geschieht im Wesentlichen durch Bedeutungen, die Ereignissen und Prozessen gegeben werden sowie durch »Interpunktionen« von Ereignissen. Diese Bedeutungsgebungen und Interpunktionen setzen Ereignisse in einen gewissen Zusammenhang, sie sind aus systemtheoretischer Sicht eine Komplexitätseinschränkung eines Systemmitgliedes und sie sind bezogen auf die Bedeutungsgebungen und Interpunktionen der anderen Systemmitglieder sowie die vom System definierte Umwelt. Interpunktionen setzen Ereignisse in eine Reihenfolge und schaffen individuelle Kausalzusammenhänge. Diese sollen in der Rekonstruktion zunächst offengelegt und dadurch bewusst gemacht werden. Ereignissen Bedeutungen zu geben und Ereignisse in diesem Sinne zu interpunktieren, heißt in menschlichen Systemen vor allem das Erzählen von Geschichten. Mit diesem Erzählen erzeugen Personen und Systeme (Familien) Kultur, Tradition und Sinn, d. h., mit Theoretisch Nützliches

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dem Erzählen von Geschichten wird soziale Wirklichkeit geschaffen und gestaltet. Aus dieser konstruktivistischen Sicht wird klar, dass unserer Arbeit in der Familienrekonstruktion keine bestimmte optimale und wahre Familienstruktur zugrunde liegt. Die eigene Identität und die Einbindung in die Herkunftsfamilie werden vielmehr dauernd als Geschichte neu konstruiert. Die Realität wird von Schmidt »als ein Multiversum von Bedeutungen aufgefasst, das im Gegensatz zu einer einzig richtigen, eine Vielfalt widersprüchlicher Deutungen ermöglicht« (Schmidt, 2003, S. 28). Dabei ließe sich lange und trefflich diskutieren, wo die Grenzen dieser konstruktivistischen Betrachtung liegen. Wir teilen uneingeschränkt die Auffassung, dass eine Vielfalt auch widersprüchlicher Deutungen immer Ziel unserer Arbeit sein sollte, die sich ja dem Imperativ verpflichtet fühlt, die Freiheitsgrade zu erhöhen. Wir wissen aber auch, dass ökonomische, historische oder politische Bedingungen die Freiheit, Wirklichkeit individuell oder kollektiv zu konstruieren, erheblich beeinflussen und einschränken können. Und wir wissen, dass es Konstruktionen sozialer Wirklichkeit gibt, die auf der Basis unsere ethischen Prinzipien nur schwer oder auch gar nicht zu akzeptieren sind (siehe Anhang 2 und 3: Auszüge aus den Ethikrichtlinien der DGSF und Gesellschaftspolitische Grundwerte der DGSF). Im Sinne narrativer Ansätze bedeutet Familienrekonstruktion, einen Raum zu schaffen, in dem Lebens- und Familiengeschichten erzählt und inszeniert werden können. Es geht dann darum, diese Geschichten im Kontext der Familiengeschichte, aber auch im jeweils historischen und gesellschaftspolitischen Kontext zu verstehen. Davon ausgehend versuchen wir dann, neue und zweckmäßigere Geschichten (Narrative) zu entwickeln. Neben den skizzierten konzeptionellen Ansätzen Virginia Satirs, der konstruktivistischen Haltung und den narrativen Ansätzen spielen in der von uns praktizierten Familienrekonstruktion noch einige andere theoretische Konzepte eine wichtige Rolle. In Deutschland war es Helm Stierlin (1982, 2001), hier sicherlich der Pionier systemischen Denkens und Handelns, der vor dem Hintergrund seiner psychoanalytischen Ausbildung einen fruchtbaren Boden für die Arbeit mit systemischer Familienrekonstruktion bereitet hat. 38

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Seine Idee der bezogenen Individuation umfasst ein dialektisches Konzept menschlicher Beziehungsdynamik: Individuation bedeutet die Ausbildung individueller Eigenschaften und psychologischer Grenzen und damit die Möglichkeit, sich als eigenständige, autonome Person erleben zu können. Bezogenheit meint die Fähigkeit, mit einem Gegenüber, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, wie Individuation ist sie eine basale Notwendigkeit menschlichen Lebens. Ziel ist die gute Ausgewogenheit zwischen beiden Prinzipien. Auch Bindung und Ausstoßung sind zwei entgegengesetzte Kräfte, die Stierlin zur Beschreibung der Trennungsdynamik zwischen Eltern und Kindern nutzt: Herrscht in Familien die Kraft der Bindung vor, werden die Kinder länger im »Nest« bleiben, die Autonomieentwicklung verzögert sich oder wird gar blockiert. Umgekehrt bewirkt das Vorherrschen der Kraft der Ausstoßung eine zu frühe (Pseudo-)Autonomie und – aufgrund der erfahrenen Härte und Kälte und des Gefühls, nicht wichtig zu sein – Formen von Beziehungslosigkeit und Bindungsunfähigkeit. Beim Bindungsmodus unterscheidet Stierlin Es-, Ich- und ­Über-Ich-Bindung. Bei der Es-Bindung geht es um eine affektive Bindung, in der kindliche Abhängigkeitsbedürfnisse manipuliert und ausgebeutet werden, was zu einer abhängigen und ansprüchlichen Haltung führen kann. Die Ich-Bindung drückt dem Kind auf kognitiver Ebene das Ich der Eltern auf, etwa unter dem Motto »ich weiß besser, was gut für dich ist«. Die Über-IchBindung bewirkt eine überstarke Loyalität des Kindes, verbunden mit dem Gefühl, das psychologische Überleben seiner Eltern hänge von ihm ab. Eigene Autonomiebestrebungen werden dann rasch schuldhaft erlebt, das Kind bleibt in »unsichtbaren Bindungen« (­Böszörményi-Nagy, 1981) gefangen. Damit eng verbunden ist das Konzept der Delegation. Das lateinische Wort »delegare« hat zwei, wiederum einander entgegengesetzte Bedeutungen: 1. aussenden und 2. mit einem Auftrag, einer Mission betrauen. Beide Bedeutungen spielen in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern eine bedeutende Rolle. Delegation ist zunächst ein ganz normaler Prozess, der dann schwierig wird, wenn der Auftrag der Eltern den Möglichkeiten und Grenzen des Kindes nicht gerecht wird (z. B. »mein Sohn soll Arzt werden«). Theoretisch Nützliches

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Delegationen können sich (und sie tun es wahrhaftig) über mehrere Generationen ausdehnen. Besonders problematisch wird es, wenn sich die Aufträge an eine Person, z. B. die der Eltern an den Sohn oder die von Vertretern unterschiedlicher Generationen an ein junges Familienmitglied, einander widersprechen und die Person in eine gespaltene Loyalität strukturieren: Mit jeder Entscheidung in die eine Richtung verletzt die Person die Loyalität zur anderen Richtung. Iván Böszörményi-Nagy (1981) hat diese Mehrgenerationenperspektive in seinen Ansatz integriert und sieht familiäre Prozesse im Spannungsverhältnis zwischen Vermächtnis und Verdienst: Die Erfüllung eines Vermächtnisses erbringt einen Verdienst und damit eine Anspruchsberechtigung. Über mehrere Generationen hinweg werde über den »Verdienst« Buch geführt und Symptome könnten ihre Wurzel entsprechend unter Umständen in Generationen zurückliegenden Versäumnissen oder Schulden haben. Wir halten dieses Konzept, auch für die Betrachtung größerer Systeme in ihrem historischen Zusammenhang, für sehr bedeutend. Beispielsweise ist es eine sehr wichtige Frage, wie sich die Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf die erste, zweite und dritte Nachkriegsgeneration unseres Landes auswirkt und welchen Beitrag eine Generation zur Wiedergutmachung leisten kann. Die strukturelle Familientherapie (Minuchin, 1977) hat uns maßgebliche Erkenntnisse über Systeme, Subsysteme und ihre Binnenund Außengrenzen ermöglicht, die wir auch heute für die Betrachtung von Familiensystemen für bedeutend halten. Beispielsweise geht es hier um die Folgen diffuser Grenzen innerhalb eines Familien­ systems für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Auch der Begriff der Parentifizierung entspringt Minuchins Arbeit und beschreibt das Phänomen, dass ein Kind oder Jugendlicher in die Rolle eines Elternteils geht oder gerät, um so zum Überleben der Familie beizutragen. In der »vaterlosen Gesellschaft« (Mitscherlich) war dies wohl eher die Regel als die Ausnahme und ist für Heranwachsende mit einem hohen Maß an Verzicht verbunden. Wenn wir uns in Rekonstruktionen mit Verantwortung beschäftigen, geht es dann oft um die Frage, wie eine solche Parentifizierung wieder aufgelöst werden kann. 40

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Das Psychodrama ist eine von Jacob Levy Moreno in Wien und New York entwickelte gruppentherapeutische Methode (Moreno, 1957, dt. 1997) mit vielen Bezügen zu tiefenpsychologischen, systemischen und gestalttherapeutischen Konzepten. Von zentraler Bedeutung ist wie im Theater die Bühne, auf der konflikthafte Beziehungen ebenso inszeniert werden können wie Lösungsbilder oder Visionen. Entscheidend sind dabei immer die Rollen des Klienten und deren Entwicklung und die spezifischen Bedingungen des eigenen Großwerdens in der Familie in ihrem Kontext. Die eigene Entwicklung in der Herkunftsfamilie kann im Psychodrama anschaulich gemacht werden, die innere Landkarte des Großwerdens wird gewissermaßen externalisiert und von außen betrachtbar. Daraus ergeben sich – ganz im Sinne systemischen Denkens – Variationen und Aspekte von Rollenveränderung oder auch neuer, heute vielleicht angemessenerer Rollen. Was innerlich festgefahren und erstarrt erlebt wird, kommt auf der Bühne in Bewegung, und verinnerlichte Glaubenssätze mit ihrer oft rigiden Wirkung können dadurch verflüssigt werden. Hilfreich ist immer die Möglichkeit des Perspektiven- und Rollenwechsels; so können auch Einstellungen und Verhaltensweisen anderer Mitglieder des Systems in einem neuen Licht erscheinen, neu gedeutet oder auch für eigene Perspektiven genutzt werden. Im sogenannten Soziodrama kommen auch über das Familiensystem hinausgehende Themen (z. B. gesellschaftliche Probleme, Konflikte zwischen größeren Systemen) auf die Bühne und können spielerisch neu beleuchtet und in Rollen- oder Planspielen mit neuen, weiterführenden Ideen gelöst werden. Im Verstehen von Lebensläufen und Familiengeschichten und ihrem individuellen Erleben helfen uns die Annahmen und Forschungsergebnisse der Bindungstheorie, die sich auch in der praktischen Rekonstruktion niederschlagen, wenn es etwa darum geht, fehlende Bindungserfahrungen in aller Achtsamkeit im Nachhinein zu ermöglichen. So hat Karl-Heinz Brisch, der sich mit der Entstehung von Bindungsprozessen und ihren Störungen in der frühkindlichen Entwicklung beschäftigt, viele unserer Annahmen bestätigt. Seine Arbeiten beruhen insbesondere auch auf den Erkenntnissen zur transgeneraTheoretisch Nützliches

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tionalen Traumatisierung. Die gute Verarbeitung eigener Kindheitstraumata bei den Eltern sieht er als wesentliche Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung zwischen Eltern und Kind. Andernfalls komme es aufgrund einer Re-Inszenierung des Traumas zu Störungen in der Entwicklung des Bindungsverhaltens bei den Kindern (Brisch u. Hellbrügge, 2003). In »Bindungsstörungen« beschreibt Brisch (2015) eindrücklich, wie die Bindungstheorie in verschiedenen therapeutischen und gruppentherapeutischen Settings genutzt und beginnende Bindungsstörungen therapeutisch behandelt werden können. In verschiedenen Settings schafft er einen Raum, in dem eine Art »Nachbeelterung« möglich und die Entwicklung von Empathie und Mitmenschlichkeit gefördert wird. Die zentralen Annahmen seiner gruppentherapeutischen Arbeit decken sich in wesentlichen Punkten mit unserer therapeutischen Haltung, jedoch unterscheiden sich die Herangehensweise und die Zielgruppen (siehe Kapitel 6). Zu den bindungstheoretischen Erkenntnissen gehören unseres Erachtens sehr eng körpertherapeutische Konzepte, wie sie etwa von George Downing (1996) und Albert Pesso (1999) entwickelt und angewandt wurden. Kernidee dieser Konzepte ist es, dass sich Erfahrungen ab frühester Kindheit in verschiedensten Teilen unseres Körpers abspeichern und so Einfluss auf unsere Körperhaltung, Mimik, Gestik und unser gesamtes Bewegungsverhalten ausüben. Auch feste Überzeugungen und Glaubenssätze finden ihren Niederschlag in unserem Körpergefühl und der Art und Weise, wie wir uns bewegen. Beispielhaft erwähnen wir die gebückte Haltung, die leise Stimme und ein eher verlangsamtes Bewegungsverhalten von Menschen mit Depressionen und einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl. Ziel körpertherapeutischer Interventionen ist es, die in unserem Körper verankerten Erfahrungen wieder bewusst zu machen und dadurch unser Bewegungsrepertoire und dann auch die Möglichkeiten unseres Denkens, Fühlens und Handelns zu erweitern. Alles, was wir heute über Traumata, ihre Entstehung, die Möglichkeiten ihrer Verarbeitung und auch ihre z. T. jahrzehntelange Wirkung wissen, ist fester Baustein unseres Konzeptes, darauf kommen wir noch einmal zurück, wenn wir über Traumata in ihrer kol42

Familienrekonstruktion als systemische Methode

lektiven Dimension sprechen. Zu den Erkenntnissen der Psychotraumatologie gehören wesentlich die in den letzten Jahren intensiv erforschten neurobiologischen Sachverhalte. Wie wirken Traumata im Gehirn des Menschen, wie beschränken sie die Möglichkeiten von Wahrnehmung, Denken, Entscheidung und Handeln? Das sind erkenntnisleitende Fragen, die in Familienrekonstruktionen mit Strategien der Stressverarbeitung zu tun haben.3 Und natürlich sind wir uns in der Familienrekonstruktion (vielleicht auch gerade dort) der Erkenntnisse der Tiefenpsychologie bewusst, angefangen mit ihren Beiträgen zur Entwicklungspsychologie bis hin zum Konzept der Übertragung und Gegenübertragung, das im Rahmen einer immer intensiven »Reko-Woche« (Rekonstruk­tionswoche) eine sicher noch größere Rolle spielt als in anderen Settings der Beratung oder Therapie.

2.3  Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive Was uns in den letzten zehn Jahren im Rahmen von Familienrekonstruktionen immer mehr bewegt und beschäftigt, sind die historischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge, in denen sich individuelle Lebensentwürfe und Familiengeschichten entwickeln. Entsprechend haben wir uns intensiv mit Autorinnen und Autoren beschäftigt, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit diesen Zusammenhängen auseinandersetzen. Aus dieser Beschäftigung heraus hat sich unsere Haltung zur Familienrekonstruktion noch einmal stark verändert, und wir sind mittlerweile überzeugt, dass diese Arbeit eine extrem politische ist. Sie ist nicht nur politisch, weil sie historische und politische Aspekte deutlich mehr als 3 Auch das Verfassen dieses Buches hat uns wenig erfahrene Autoren mit Stress in all seinen Varianten in Berührung gebracht. Im Verlauf unseres Schreibens haben wir entsprechend die uns bekannten Stressverarbeitungsstrategien bemüht, um den Stress zu managen: Verdrängung, Rückzug in die sich ständig anbietenden alltäglichen Verpflichtungen, Reduzierung der Ansprüche (»Wir müssen das Rad nicht neu erfinden«) oder Flucht zum »Geschafftpunkt« (Was werden wir nicht alles tun, wenn das Buch endlich fertig ist!). Aber das nur am Rande … Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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in unseren Anfängen mit Rekonstruktionsarbeit berücksichtigt. Wir halten sie auch für politisch, weil sie in ihrer Praxis – und hoffentlich auch in ihrer Wirkung – deutlich über die individuelle und familiäre Perspektive hinausgeht. Wenn wir die gesellschaftspolitische Folie über unsere Arbeit legen und das transparent machen, leistet Familienrekonstruktion – so unsere Hoffnung – auch einen friedenspolitischen Beitrag. Beginnen wir diesen historisch-politischen Exkurs mit einem Zitat aus »Die Akte Odessa« von Frederick Forsyth: »Vor dem Krieg kannte nahezu jedermann in Deutschland einen Juden. Tatsache ist, dass in Deutschland kaum jemand etwas gegen die Juden hatte, bevor Hitler kam. Die jüdische Minderheit hatte bei uns in Deutschland nachweislich einen weit besseren Stand als in jedem anderen europäischen Staat. Es ging ihnen besser als in Frankreich, besser als in Spanien, unendlich viel besser als in Polen und Russland, wo die schrecklichsten Pogrome stattgefunden hatten. Dann fing Hitler an, den Leuten zu erzählen, dass die Juden am Ersten Weltkrieg, an der Arbeitslosigkeit und an allen Mißständen überhaupt schuld seien. Die Leute wußten bald nicht mehr, was sie glauben sollten. Nahezu jeder kannte einen Juden, der ein anständiger und netter Mensch war. Oder doch zumindest harmlos. Die Leute hatten jüdische Freunde, gute Freunde; jüdische Arbeitgeber, gute Arbeitgeber; jüdische Angestellte, fleißige Angestellte; die Juden hielten sich an Gesetze und taten niemandem etwas Böses. Und dann kam Hitler und behauptete, die Juden seien an allem schuld. Als dann die Lastwagen kamen und die Juden abholten, taten die Leute nichts. Sie hielten sich aus allem heraus und schwiegen. Und sie fingen an, der Stimme, die am lautesten schrie, Glauben zu schenken. So sind die Menschen nun einmal, und insbesondere wir deutschen. Wir sind ein sehr gehorsames Volk. Darin liegt unsere größte Stärke und zugleich unsere größte Schwäche. Das hat uns mit das Wirtschaftswunder ermöglicht, während die Engländer lieber streiken – und andererseits sind wir aus Gehorsamkeit einem Mann wie Hitler verzückt in ein einziges großes Massengrab gefolgt. Jahrelang haben die Leute nicht danach gefragt, 44

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was mit den Juden in Deutschland geschah. Sie verschwanden, ­Punktum. Es ist schlimm genug, bei jedem Kriegsverbrecherprozess in der Zeitung lesen zu müssen, was mit den gesichts- und namenlosen Juden aus Warschau, Lublin, Białystok, den unbekannten, anonymen Juden aus Polen und Russland geschah. Und da wollen Sie den Leuten obendrein noch haarklein erzählen, was mit ihren eigenen Nachbarn geschah? Begreifen Sie jetzt? Diese Juden – er wies auf das vor ihm liegende Tagebuch Salomon Taubers – diese Menschen hatten sie gekannt, sie hatten sie auf der Straße gegrüßt, sie hatten in ihren Läden gekauft, und sie hatten keinen Finger gerührt, als man sie abholte« (Forsyth, 1973, S. 77 f.). Wie konnte das geschehen? Dieser Frage sind u. a. Arno Gruen, Luc Ciompi und Stephan Marks intensiv nachgegangen und haben Hypothesen entwickelt und Antworten ermöglicht, die uns nachhaltig beeindruckt haben. Von deren Gedanken soll im Folgenden die Rede sein, bevor wir uns der Frage zuwenden, wie sich individuelle und kollektive Traumatisierungen von einer Generation auf die nächste Generation übertragen. Diese sogenannte transgenerationale Weitergabe (Drexler, 2013; Radebold, Bohleber u. Zinnecker, 2008) erleben wir in Familienrekonstruktionen immer wieder und sehen hier ebenfalls eine Chance, entsprechende Traditionen zu unterbrechen und neue, zuträglichere Entwicklungen zu ermöglichen. Nach Erich Fromm hat sich wohl kaum ein namhafter Psychotherapeut so intensiv wie Arno Gruen mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Bedingungen sich menschliche Destruktivität und Gewalt entwickeln und Menschen ihr Mitgefühl verlieren. Der im Oktober 2015 mit 92 Jahren verstorbene Psychoanalytiker ist in Berlin geboren und mit seiner Familie 1936 nach New York emigriert. Dort studierte er Psychologie, durchlief seine psychoanalytische Ausbildung und praktizierte, bis er 1979 in die Schweiz zog, wo er seinen Lebensabend verbrachte und seine wichtigsten Bücher publizierte. Zentral in seinen Arbeiten ist die These (Gruen, 1997, 2013), dass es immer mehr gesellschaftliche Tradition geworden ist, menschliches Leiden, Schmerz und Trauer zu exkommunizieren und als nicht akzeptabel abzuspalten. Am Beispiel des Nationalsozialismus hat er Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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diese Phänomene eindrucksvoll an Protagonisten dieser Zeit wie Hans Frank, Rudolf Heß, Hermann Göhring oder Adolf Hitler erläutert. Diese Entwicklung hat freilich nach Gruen nicht mit dem Nationalsozialismus begonnen, sondern nimmt ihren Anfang in Zeiten, in denen sich mit Newton, Kant und anderen großen Denkern und Wissenschaftlern die »Vernunft« gegenüber Religion und Glauben als Leitkategorie durchzusetzen begann. Unzweifelhaft hat diese kopernikanische Wende die Entwicklung der Menschheit und ihrer Gesellschaften positiv nach vorne gebracht, naturwissenschaftliche Quantensprünge ermöglicht und menschenfreundlichere Staatsformen denkbar gemacht. Gleichzeitig gerieten die Gefühle über diese Entwicklung in ein Terrain der Irrationalität und mussten fortan gezügelt, gemaßregelt und, wenn nicht anders möglich, abgespalten werden. Gruen spricht von einer Entwicklung, die unser menschliches Wesen durch die Vorherrschaft der Kontroll- und Dominanzbedürfnisse reduziert hat. Wahrnehmungs- und handlungsleitend ist nach seiner Einschätzung das »männliche Bewusstsein« im Gegensatz zu »weiblicher Empathie«. Diese Entwicklung geht einher mit einer zunehmenden Dominanz der linken gegenüber der rechten Hälfte unseres Gehirns. Das Denken übernimmt die Führung und setzt sich gegen das Fühlen durch. Fühlen und Denken geraten in eine Konkurrenz, in der im Zweifelsfall der »Vernunft« der Vorzug zu geben ist. Gefühle werden zweitrangig und insbesondere Gefühle wie Angst, Trauer oder Ärger sind dann nicht mehr akzeptabel und im Laufe der Erziehung zu begrenzen, zu zügeln und – wenn sie der »Vernunft« zu sehr im Wege stehen – auch abzuspalten. Die »männliche« Bewusstseinsreduktion spaltet demnach ab, sie führt zu einer Dissoziation und schließlich zu einer wirklichen Spaltung. Leiden und Denken sind dann unversöhnlich voneinander getrennt. Der Preis für die Entwicklung dieser Reduktion ist hoch und besteht darin, dass Kinder sehr früh lernen, was sie fühlen sollen, aber nicht, ihre eigenen Gefühle als richtig zu erleben, ihnen zu vertrauen und sie so als Teil eigener Identität integrieren zu können. Wir werden dann nicht mehr dafür geliebt, was wir sind, sondern dafür, was wir tun. Darüber entsteht erstens Angst davor, nicht zu schaffen, was von uns gefordert wird, wobei diese Angst exkommuniziert bleibt. Zweitens resultiert daraus Aggression gegenüber 46

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den Eltern, nicht um seiner selbst geliebt zu werden, die aber verleugnet werden muss, um weiter gut dazuzugehören. Und drittens entwickelt sich darüber Gehorsam als wertvolles Ziel, erzeugt über Belohnung und Lob (Gruen, 2014). Gruen geht noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt: »So verhält es sich auch mit unserer Vorstellung von Realität. Realitätssinn ist nicht die Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern die Anpassung an die Verhaltensnormen einer Gesellschaft, die sich über das Wesen der Liebe selbst belügt und die diese Lüge zur Wahrheit erhoben hat. Menschen, die sich dagegen auflehnen, werden für psychisch krank gehalten« (Gruen, 1997, S. 38). Das Tragische ist, dass darüber das den Menschen zutiefst eigene Mitgefühl, die Empathie verloren zu gehen droht und in vielen Fällen auch verloren geht. Ganz eng mit dem Mitgefühl verbunden ist die menschliche Fähigkeit, Trauer und Schmerz zu empfinden. Wenn diese Gefühle aber abgespalten werden, weil sie von außen auf keine angemessene Resonanz, sondern eher auf strafende Blicke oder abwertende Kommentare stoßen, dann geht darüber auch das Mitgefühl verloren. Das geschieht auch deshalb, weil das Kind auf seine Zugehörigkeit angewiesen ist und keine Wahl hat, außer sich dem System, in dem es lebt, anzupassen. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« und »Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker« sind geflügelte Worte in diesem Prozess, der den gesunden Bezug zum eigenen Schmerz zunehmend verhindert. Im weiteren Verlauf kommt es insofern zu Aggression und Hass, als diese Gefühle im Außen bekämpft werden: Weil ich die eigenen Gefühle des Schmerzes als Ausdruck nicht hinzunehmender Schwäche abgespalten und zu hassen gelernt habe, bekämpfe ich sie, wann immer ich ihnen bei anderen Menschen begegne. Der diesem Kampf innewohnende Hass wurzelt in einem Selbsthass, in dem Hass auf das eigene Opfersein, der allerdings geleugnet werden muss (Gruen, 1997, S. 34). Dem begegnen wir in Familienrekonstruktionen immer wieder, so etwa, wie es die Teilnehmerin (in dem bereits zitierten Weiterbildungsbericht) beschrieben hat: »›Warum behandelst du alle deine Kinder immer so schrecklich und beschimpfst sie als »den letzten Dreck«?‹ Die Antwort lauDie historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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tete: ›Damit meine ich eigentlich immer mich selber.‹ Für mich wird in dieser Stunde mehr erfahrbar und spürbar, visualisierbar und nachvollziehbar, weil transparent gemacht, als mein Vater je persönlich mir gegenüber dazu imstande gewesen wäre, es mir darzustellen.« Und auch dieser Vater konnte das in seinem bisherigen Leben nicht anders ausdrücken, weil ihm der gesunde Bezug zu seinem eigenen Opfersein verloren gegangen ist. Wenn Menschen diesen Bezug verloren haben, können sie letztlich nur eine bruchstückhafte, eine gebrochen Identität entwickeln, weil maßgebliche Teile ihres Erlebens nicht integrierbar sind. Menschen, die ihr Leben nicht vor dem Hintergrund einer eigenen ausgereiften Identität entwerfen und gestalten können, identifizieren sich dann über die Maßen mit Menschen, Dingen und Ideen von außen, die ihnen vermeintlich identitätsstiftende Angebote machen. Das können Führungspersönlichkeiten sein, das kann der Besitz eines Autos sein und das kann die Idee der Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse sein, beispielsweise den sogenannten »Ariern«. Ein gutes Beispiel ist auch, was sich zunehmend in und um Fußballstadien abspielt. Fan eines Fußballvereins zu sein, Niederlagen zu betrauern und Siege zu feiern, ist das eine, eine Niederlage wie den existenziellen Angriff auf das eigene Leben zu erfahren und sich dann an gewaltsamen Ausschreitungen gegen den Schiedsrichter oder die Fans der anderen Mannschaft zu beteiligen, ist das andere. Die Niederlage meiner Mannschaft entscheidet dann über mein Lebensgefühl und meinen Selbstwert, und wenn das derart existenzielle Ausmaße annimmt, wird es explosiv und gefährlich. An diesem Beispiel wird auch schon deutlich, dass es sich hier nicht um individuelle Phänomene handelt, sondern um kollektive Prozesse. Es geht nicht nur um individuelle psychische Einschränkungen oder Schicksale, sondern die beschriebenen Phänomene lassen sich im Kontext großer Kollektive wiederfinden. Damit hat sich der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Luc Ciompi über viele Jahre beschäftigt und mit seinem Konzept der Affektlogik (Ciompi, 1998) hat er einleuchtend dargelegt, wie Fühlen 48

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und Denken zusammenspielen. Affektlogik ist die Lehre vom gesetzmäßigen Zusammenwirken von Fühlen und Denken. In »Gefühle machen Geschichte« (Ciompi u. Endert, 2011) wird dieses Konzept in einen gesellschaftspolitischen Rahmen gestellt und an Beispielen wie dem Nationalsozialismus, aber auch der Situation in den USA bei der Wahl Barack Obamas belegt, welchen wesentlichen Beitrag Gefühle zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen leisten. Ciompi und Endert beschreiben sehr eindrücklich, dass Menschen eben nicht ausschließlich ihrer Vernunft folgen, sondern ihr Denken und auch ihr Handeln immer affektlogisch geleitet und von sogenannten affektiv-kognitiven Eigenwelten geprägt sind. Menschliches Denken ist demnach nicht logisch, sondern eben affekt­logisch strukturiert, und das gilt in Kollektiven noch stärker als für Individuen. Affektgeleitete Schienen oder Bahnen vereinen sich mit der Zeit zu umfassenden Fühl- und Denkwelten oder Mentalitäten (individuell, Gruppe, Gesellschaft), deren Konstanz überlebenswichtig ist (Wert- und Orientierungssystem, Weltbild, Identitäts- und Selbstwertgefühle). Gefühle beschreibt Ciompi in seinem Konzept als Energien, emotionale Energien sind die treibenden Kräfte (Motoren) hinter allem psychischen Geschehen. Sprunghafte Veränderungen geschehen vor diesem Hintergrund immer dann, wenn Systeme aufgrund zunehmender energetischer Spannung an die Grenzen ihrer Verarbeitungskapazitäten geraten. Nach Ciompi ist es immer ein Überschuss emotionaler Spannung, der zu Veränderungen führt, wobei sich diese Veränderungen dann entweder eher an einer Logik des Friedens oder des Krieges orientieren können. In welche Richtung es geht, ist sehr von der Qualität der Affekte geprägt und natürlich von der Frage, wie diese Affekte kollektiv geteilt, besprochen, genutzt, ausgenutzt oder missbraucht werden. Gefühle und die damit verbundenen Gedanken können nur dann kontrolliert und bearbeitet werden, wenn sie bewusst sind. Vor allem Gefühle der Scham und Erniedrigung, der Trauer oder Wut werden aber häufig sowohl individuell als auch – womöglich noch stärker – auf der kollektiven Ebene nicht selten verdrängt. Deshalb ist es ein erstes Ziel fast aller Techniken der Konflikt- und Traumabearbeitung, solche unterdrückten Gefühle allen Beteiligten mit geeigneten Methoden erst einmal zum Bewusstsein zu brinDie historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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gen. Und »kollektive Traumen verlangen nach kollektiven Traumabekämpfungsmethoden«, zitiert Ciompi (2011, S. 239) Jack Saul (2005), der sich als Traumatherapeut mit den Folgen des verheerenden Anschlags in New York am 11. September 2001 auseinandergesetzt hat. Wir teilen diese Einschätzung uneingeschränkt und müssen uns dann natürlich fragen, wie es um die Kollektive bestellt ist, die kollektiv ihre Traumatisierungen verarbeiten sollen. In einer zunehmend individualisierten Lebenswelt stehen stärkende Kollektive ja nicht automatisch zur Verfügung, es sieht so aus, als müssten wir sie erst wieder erschaffen. Nach dem Bedeutungsverlust der Großfamilie und der abnehmenden und vielen Menschen fehlenden Verbundenheit mit und in Gruppen des Gemeinwesens wird die Verarbeitung von Trauer, Schmerz und Trauma zunehmend »outgessourced« und in die Verantwortung professioneller Fachleute übertragen. Der schöne Satz: »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen«, bedeutet natürlich, dass ich selbst zu diesem Dorf gehören muss, die Dorfgemeinschaft muss mich als dazugehörig erleben und die Einzelnen müssen genauso wie diese Gemeinschaft ein vitales Interesse an meinem Kind und mir haben. Es bedeutet auch, ich muss mich der sozialen Kontrolle aussetzen, muss meine Scham überwinden, wenn ich über meine Nöte und Sorgen spreche. Das kann nur gut gelingen, wenn ich »das Dorf« als mitfühlende, liebevolle und an meinem Wohlergehen interessierte Gemeinschaft erlebe. Und da gibt es noch viel zu tun, damit die klassischen Sozialisierungsinstanzen Familie, Nachbarschaft, Gemeinde oder Schule im Hinblick auf Zusammengehörigkeit, Solidarität und gegenseitige Unterstützung wieder gestärkt werden. Coping-Strategien zur Bewältigung schwieriger Stresssituationen sind in unserer Kultur in der Regel sehr auf Abgrenzung fokussiert, ganz nach dem Motto: ich muss allein da durch. Mit Unterstützung im Sichern oder Fördern wird kaum noch gerechnet. Die natürlichen sozialen Gefüge sind sehr brüchig geworden. Häufig korreliert steigende Not mit wachsender Einsamkeit. Gleichzeitig fühle ich mich auch nicht für die Bewohner »meines Dorfes« zuständig und verantwortlich, wenn ich kein Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gruppe verspüre. 50

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Boike Rehbein und Jessé Souza (2014) belegen in ihrer Arbeit über die »Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften«, dass die Verbreitung des Kapitalismus und der Demokratie weltweit zu einer Zunahme sozioökonomischer Ungleichheit und gleichzeitig zu einer immer stärkeren Individualisierung führt. Die Wir-Identität schrumpft zusehends zugunsten von individuellen Perspektiven, die dem Einzelnen materiellen Erfolg und Statuszuwachs in Aussicht stellen. Die Autoren beschreiben eindrücklich, dass es Mitgliedern der kapitalistischen Gesellschaft wichtiger erscheint, sozialen Aufstieg zu erreichen, als mit ihren sozialen und familiären Bezügen verbunden zu bleiben. Die Zerstörung der familiären, sozialen und gesellschaftlichen Bezüge ist weltweit zu beobachten. Im Vormarsch der Individualisierung und im Voranschreiten der Globalisierung sehen Rehbein und Souza einen unmittelbaren Zusammenhang. Mit der Familienrekonstruktion schaffen wir jeweils ein kleines Dorf auf Zeit und beobachten hier immer wieder die große Bedeutung der Gruppe. Die Sicherheit, die ein guter Platz in einer Gruppe bietet, kann ein einzelner Mensch nicht allein für sich herstellen. Auch einzeltherapeutische Settings vermögen diese Wirkung nicht auszuüben. Natürlich entsteht dieses Dorf nicht von allein und bedarf eines verlässlichen Rahmens und einfühlsamer Fürsorge, sodass in der Gruppe die Erlaubnis wächst, auch über schwere Themen ins Gespräch zu kommen und sich mit seinen Schmerzen und Nöten zuzumuten. Dabei haben wir es natürlicherweise immer wieder auch mit Scham zu tun und im Vorfeld oder zu Beginn der Rekonstruktionswoche auch mit verschiedenen Schamabwehrstrategien. Scham spielt im Leben jedes Einzelnen eine große und oft unterschätzte Rolle, sie erschwert gute Kontakte in jeder Gruppe und Gemeinschaft und kann sich zwischen Menschen, Gruppen und größeren Systemen sehr verheerend auswirken. Scham ist wohl eine der schwierigsten Emotionen, zumal dann, wenn sie ein gesundes Maß (Scham ist ja auch eine Fähigkeit, die mithilft, soziales Verhalten zu steuern) überschreitet und dann traumatisierende Wirkung hat. Stephan Marks hat sich mit diesem Thema intensiv beschäftigt und seine Arbeiten haben uns nachhaltig beeinflusst. Sein Ausgangspunkt war die Frage, wie es sein konnte, dass in Deutschland in der Weimarer Republik und dann verstärkt ab 1933 so unglaublich viele Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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Menschen für die Ideen Hitlers und der NSDAP zu begeistern waren. Die Marks zunächst zur Verfügung stehenden Antworten reichten ihm nicht aus. Gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe führte er eine qualitative Untersuchung durch, in der ehemals überzeugte Nationalsozialisten befragt wurden (Marks, 2011). Eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Forschungsarbeit ist, dass offensichtlich Scham bzw. deren Abwehr eine der wesentlichen Ursachen für die nationalsozialistische Begeisterung war. Für das (auch kollektive) Empfinden von Scham gab es im Deutschland der 1920er Jahre verschiedenste Gründe. Der verlorene Erste Weltkrieg mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, der Versailler Vertrag mit seinen erdrückend wirkenden Reparationsforderungen, die Hyperinflation mit ihrem Höhepunkt 1923, die politisch sehr schwach wirkende junge Demokratie der Weimarer Republik sowie schließlich die Weltwirtschaftskrise und ihre massiven Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft mit über sechs Millionen Arbeitslosen, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Die traumatischen Auswirkungen des Krieges taten ihr Übriges und schufen gesellschaftliche Rahmenbedingungen (ähnlich wie der Zweite Weltkrieg), in denen eine kollektive Bearbeitung dieser Traumata in ihrem kollektiven Ausmaß genauso wenig möglich war wie die Bearbeitung der dazugehörenden Gefühle. Diese Gefühle wurden (wie oben beschrieben) abgespalten und so war auch der Umgang mit der in ihrem Ausmaß unerträglichen Scham. Dafür gibt es verschiedene Schamabwehrstrategien, die sich letztlich in der nationalsozialistischen Bewegung und der Machtübertragung an sie 1933 bündelten. Eine dieser Strategien ist schlicht die Verleugnung, eine weitere, die Schuldigen an anderer Stelle zu suchen. Im Rahmen der »Dolchstoßlegende« wurden nicht mehr der Irrsinn der deutschen militärischen Strategie, sondern »Verräter« im eigenen Land (Sozialdemokraten und andere) für den verlorenen Krieg verantwortlich gemacht. Diese Suche nach Schuldigen wurde in der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten fortgeführt. Die eigene, abgewehrte Scham wird anderen zugefügt, was sich am leichtesten durch Missachtung und (zunehmend) systematische Ausgrenzung bewerkstelligen lässt. Juden, Sinti, Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle und andere wurden ihrer Rechte beraubt, 52

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auch durch jede mögliche Missachtung von Grenzen der Intimität terrorisiert und schließlich massenhaft ermordet. An die Stelle des menschlichen Gewissens war der Gehorsam getreten, gepaart mit der Aussicht auf Zugehörigkeit zu einer starken Bewegung und einer vermeintlich allen anderen überlegenen Rasse.4 Die Scham als treibende Kraft (Ciompi) hinter dieser menschenverachtenden Politik und ihrer vernichtenden Wirkung zu identifizieren, halten wir für einen wichtigen Beitrag historischer Sozialforschung, der mit den oben beschriebenen Konzepten von Gruen und Ciompi in Einklang steht. Seit der Lektüre von Stephan Marks’ Büchern und einigen Workshops mit und bei ihm hat uns das Thema Scham auch in unserer Arbeit verstärkt begleitet und wir fokussieren es nicht nur in individuellen Lebensgeschichten, sondern eben auch in seinem historischen und politischen Kontext, zumal die Scham mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht von der Erde verschwunden ist. Noch einen historisch-psychologischen Aspekt wollen wir im Folgenden beschreiben: Die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung (Drexler, 2013; Radebold, Bohleber u. Zinnecker, 2008), die uns in Familienrekonstruktionen immer wieder sehr eindrucksvoll begegnet. »Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich – ich glaube wir sind verloren« (Remarque, 1929/1959, S. 111). In diesem Satz drückt sich allumfassend aus, wie erschüttert Kriegsheimkehrer waren, ganz gleich ob aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg. In der Erforschung der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf das eigene Leben und das der Kinder und Enkel hat Sabine Bode (2016) durch zahlreiche Interviews den Nachweis erbracht, dass der Krieg nicht aufhört, wenn die Waffen schweigen. Ganz gleich, ob Großeltern und Eltern die nächsten Generationen mit ihrem Erlebten nicht belasten wollten 4 Dabei war die Überzeugung von der »arischen« Rasse ursprünglich eine reine Erfindung des französischen Diplomaten und Schriftsteller Arthur de Gobineau, der den Begriff aus der Sprachwissenschaft entnahm und daraus erste Ideen über die Ungleichheit der menschlichen Rassen entwickelte. Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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und eher geschwiegen haben oder auch schweigen mussten oder sich bei ihnen durch Erzählungen entlastet haben – es hat Spuren hinterlassen. Dazu ein Beispiel aus einem Teilnehmerbericht:5 Meine ersten zwanzig Lebensjahre verbrachte ich in einer emotional immer instabilen Familie. Meine Eltern wuchsen beide, wie ich aus ihren Erzählungen und aus denen ihrer noch greifbaren Vorfahren weiß, selber in ähnlichen Verhältnissen auf. Eine wirklich stabile und liebevolle Kindheit hatten sie nicht im Berlin der 30er Jahre und in den daran anschließenden Wirren des Zweiten Weltkrieges. Vor dem Krieg gab es da Armut, Arbeitslosigkeit und prekäre, unsichere Arbeitsverhältnisse, im Krieg eine Jugend ohne Väter, Bombennächte und Eltern, die sich eher gleichgültig waren, als dass sie sich mochten oder gar liebten. Beispielhaft sei erwähnt, dass die Mutter meiner Mutter irgendwie fast froh schien, dass ihr Mann in Russland geblieben war, das ersparte die Scheidung. Die Eltern meines Vaters ließen sich in den Jahren nach dem Krieg scheiden, beide nur noch durch einen kleinen Betrieb verbunden und weniger durch die noch gerade jugendlichen Kinder. Meine Mutter, sie war Einzelkind, wuchs in den letzten Jahren des Krieges bei den Großeltern in Schlesien auf, die schon wenig Zuwendung für ihre eigenen Kinder übrig hatten. In den letzten Kriegswirren floh sie über Umwege mit ihrer angereisten Mutter wieder zurück ins völlig zerstörte und geteilte Berlin. Einen Beruf lernte sie dort nicht, sie wurde als Näherin angestellt, lebte extrem beengt in einem Zimmer mit ihrer Mutter und lernte jung, mit um die 18, meinen späteren Vater kennen. Mein Vater, ein Jahr jünger, arbeitete zunächst in der elterlichen Wäscherei, die zur selben Zeit aufgegeben wurde wegen der Scheidung der Eltern, und ging dann in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Frankreich in die Kohlengruben von Lille arbeiten. Die aus der Entwurzelung geborene Einsamkeit trieb ihn zurück. Meine zukünftige Mutter und er versuchten, so verstehe ich ihre Geschichten, sich gemeinsam Halt zu geben, indem sie sich eine Familie selber gaben, die das erfüllen sollte, was ihnen immer 5 Die vollständigen Berichte befinden sich in Anhang 1. Alle Fallbeispiele wurden von uns anonymisiert.

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gefehlt hatte und im Kino der Kriegs- und Nachkriegszeit oft genug gezeigt wurde. Ihre eigene Familiengeschichte konnte da keine Vorbildfunktion bieten. Da trafen zwei junge Menschen erwartungsvoll zusammen, die Liebe, Geborgenheit, Verständnis, Akzeptanz und viele andere Dimensionen des guten Zusammenlebens suchten. Meine Mutter wurde schnell und mehrfach hintereinander schwanger, das Geld reichte nie, die schwere Arbeit meines Vaters wurde schlecht bezahlt, er war ja nur angelernter Arbeiter, und dann versuchten meine Eltern mit den ersten drei Kindern einen Neustart als Bauern in einer LPG. Eine meiner späteren Schwestern, so hieß es, war ein Kind von verunfallten Freunden, in Wirklichkeit glaubte mein Vater, sie sei sein Kind aus einer schnellen Nebenbeziehung. Diese Frau hatte das Kind in ein Kinderheim gegeben, kaum war es abgestillt. Später stellte sich heraus, sie war nicht die Tochter meines Vaters. Das Kind wurde dann adoptiert, meine Mutter nahm das Ganze hin und versorgte auch diese Schwester nicht anders als uns alle. Nein, ich weiß nicht, wie meine Mutter dieses schon frühe Hintergangenwerden verkraftet hat, sie hat alle Kinder einfach nur, so gut es ging, versorgt. Da sie nur wenig an emotionaler Sättigung bekommen hatte, konnte sie uns auch nichts davon weitergeben. Mein Vater warf ihr ewig emotionale Kälte vor, er selber war emotional immer sehr instabil. Innerhalb von kürzester Zeit konnte er sich wandeln vom zugewandten Vater zum jähzornig schlagend strafenden Richter oder einfach nur gleichgültigen Familienoberhaupt (siehe Bericht 3, Anhang 1).

Luise Reddemann legt in ihrem Buch »Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie« (2015) uns Therapeuten sehr eindringlich nahe, über die eigene Familiengeschichte und Vergangenheit Bescheid zu wissen, um unseren Klienten besser helfen zu können. Hartmut Radebold (2010) und Luise Reddemann plädieren dafür, gerade bei älteren Klienten nicht nur die aktuellen privaten Gegebenheiten zur Problembewertung zugrunde zu legen, sondern auch nach ihrer (Kriegs-)Kindheit zu fragen. Viele ältere Menschen kommen oft erst dann mit inneren Nöten und Anteilen in Kontakt, die aufs Engste mit den zeithistorischen Ereignissen und den daraus Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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resultierenden Erlebnissen verbunden sind. Radebold und Reddemann weisen auch nach – und das deckt sich in großen Teilen mit unserer Erfahrung –, dass die Kinder solcher Eltern während ihres Großwerdens parentifiziert wurden und häufig noch sind, sich zu verantwortlich fühlen, sich sehr um ihrer Eltern sorgen oder unter diesen sehr belasteten Eltern ihr ganzes Leben gelitten haben. Eine Auseinandersetzung der Eltern mit ihren Nöten, soweit dies überhaupt möglich ist, kann da eine große Entlastung bedeuten. Beide Autoren beschreiben die Grenzen, die nicht selten im einzeltherapeutischen Setting bei kollektiv entstandenen Traumata gegeben sind, und wie viel Zeit es braucht, sich das erlittene Leid einzugestehen und es anzuerkennen. Da kann unseres Erachtens nach die Familienrekonstruktion als gruppentherapeutisches und damit im Kleinen auch kollektives Setting von Vorteil sein. Uns ist es in der Familienrekonstruktion sehr wichtig geworden, in diesem Rahmen mehr zu berücksichtigen, was vorangegangene Generationen erlebt haben, ihre Traumatisierung zu würdigen und den dazugehörigen (kollektiven) Gefühlen einen Raum zu geben. Wir meinen, durch diese Erweiterung des Kontextes Prozesse der Selbstentfremdung unterbrechen zu können oder, um es mit Arno Gruen zu formulieren: »Wenn wir […] uns selbst mit all unseren Schwächen und unserem Selbst annehmen und die Schwächen anderer akzeptieren, dann können wir uns selbst und andere wieder lieben lernen« (Gruen, 2013, S. 174). Dazu schreibt eine Teilnehmerin: Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass dieses intensive Konzept der Familienrekonstruktion direkte Friedensarbeit ist. Die Familien haben eine Chance, Traumata oder destruktives Verhalten generationsübergreifend aufzudecken und einen neuen Umgang damit zu entwickeln. Dabei gibt es kein vorgegebenes Muster, wie eine Versöhnung auszusehen hat oder ein Loslassen geschehen sollte. Die Familienmitglieder selbst erarbeiten in ihrem Prozess die nächsten Schritte und werden dabei von der Gruppe getragen, geschützt und geachtet. Die Teilnahme an den Rekonstruktionen war für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die mir auch bei der Erziehung meiner Kinder geholfen hat. Ich kann nun erleben, wie sie, frei von belastenden 56

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Familienerlebnissen, ihren ganz eigenen Weg gehen und neue Arten von Familienbeziehungen und -strukturen entwickeln. Dabei entsteht viel Liebe, Freiheit und Leichtigkeit, was mich immer wieder zum Staunen bringt (siehe Bericht 5, Anhang 1).

Der Dalai Lama drückt es so aus: »Paradoxerweise können wir uns selbst nur helfen, wenn wir dem Anderen helfen […]. Die Voraussetzung für das Überleben unserer Spezies sind Liebe und Mitgefühl, unsere Fähigkeit, anderen beizustehen und ihren Schmerz zu teilen […]. Leid zu verstehen […] bedeutet wirkliche Empathie zu verstehen […]. Das Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen kann nur erreicht werden, wenn wir erkennen, dass wir alle vereint und voneinander abhängig sind« (Dalai Lama, 2004, zit. n. Gruen, 2013, S. 173). Und damit schließt sich wieder ein Kreis zu Virginia Satir, deren Überzeugung es war, dass wir Menschen alle auf der Welt sind, um mit anderen Menschen in Verbindung zu sein. Diese Überzeugung war der Motor ihrer Arbeit und auch uns treibt diese Überzeugung an: Dafür zu sorgen, dass Menschen mit sich, mit ihren Familien und allen anderen, mit denen sie zu tun haben, in guter Verbindung sein können, auf privater, auf professioneller und eben auch auf politischer Ebene. Die Neurobiologie und ihre prominenten Vertreter wie der Hirnforscher Gerald Hüther (2012, 2014) oder der Psychiater und Psychosomatikprofessor Joachim Bauer (2008, 2015) haben in den vergangenen Jahren einige wichtige Erkenntnisse veröffentlicht, die dieser Perspektive Rückenwind geben können. Wir denken da zum einen an die »Rehabilitation« des freien Willens, über den Menschen sehr wohl innerhalb jenes Korridors verfügen, der durch die genetische Ausstattung und die sozialen Bedingungen gebildet wird. Zum anderen denken wir an die neurobiologischen Forschungsergebnisse, die nachweisen, dass sich durch psychotherapeutische Prozesse auch im Gehirn des Menschen Veränderungen (neue Verschaltungen und damit neue Bilder und Gedanken) einstellen. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür scheint zu sein, dass es in der Psychotherapie gelingt, so etwas wie Begeisterung zu entfachen. In größeren (politischen) Zusammenhängen bedeutet dies, so beschreibt es Hüther Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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(2014, S. 104), ein gemeinsames utopisches Leitbild zu entwickeln als die einzige Strategie, die einen Kollaps oder Zusammenbruch in menschlichen Gemeinschaften zu verhindern vermag: »Es ist der Versuch, eine gemeinsame, für alle Menschen und alle Gemeinschaften unterschiedlichster Entwicklungsstandards gleichermaßen gültige und attraktive Vision zu schaffen, ein sich global verbreitendes und im Gehirn des Menschen verankertes inneres Bild zu erzeugen. Ein Bild, das zum Ausdruck bringt, worauf es im Leben, im Zusammenleben und bei der Gestaltung der Beziehungen zur äußeren Welt wirklich ankommt: auf Vertrauen, auf wechselseitige Anerkennung und Wertschätzung, auf das Gefühl und das Wissen, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich zu sein.« In Familienrekonstruktionen leisten wir immer einen Beitrag dazu, so ein Bild zu schaffen und dies ist gleichzeitig ein bedeutender Motor unserer Motivation. Fazit

Durch die in vielen hunderten Familienrekonstruktionen gemachten Erfahrungen haben wir folgende Gründe zur Einbeziehung politisch-historischer Entwicklungen herausgearbeitet: 1. Um mit seiner Vergangenheit in der eigenen Herkunftsfamilie in einen Frieden zu kommen, scheint es uns unabdingbar, Eltern und Großeltern auch im Kontext ihrer Zeit zu verstehen. Zentral geht es uns um ein Verständnis dafür, dass Eltern und Großeltern vielfach nicht anders konnten und aus vielerlei Gründen in der Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse und ihrem Umgang damit eingeschränkt waren. Das ist die versöhnliche Dimension von Familienrekonstruktion und damit grenzen wir uns ein Stück von Arno Gruen ab, dessen Arbeit wir überaus schätzen: Es reicht nicht, die Erwachsenen als Täter zu identifizieren und dafür zu verurteilen. Wirkliche Versöhnung kann nur gelingen, wenn wir auch ein Mitgefühl für ihr Leben entwickeln. Wir sind uns bewusst, dass diese Haltung auch an ihre Grenzen stößt, wenn wir es etwa mit Nazitätern in Herkunftsfamilien zu tun bekommen, die sich auf eklatante Weise schuldig gemacht haben. Es bleibt beispielweise eine offene Frage, ob dem Sohn 58

Familienrekonstruktion als systemische Methode

2.

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von Hans Frank, Generalgouverneur in Polen bis 1945 (»Judenschlächter von Krakau«), Möglichkeiten einer Versöhnung mit seinem Vater zur Verfügung stehen oder zur Verfügung gestellt werden können; vielleicht ist es die einzige Möglichkeit, sich in aller Nachhaltigkeit von der Geschichte des Vaters abzugrenzen oder – wie ein weiterer Sohn – psychisch krank zu werden. Und doch bleiben sie beide die Söhne dieses Vaters – wie gesagt, die Frage bleibt offen. Werte, die Eltern auch in der Erziehung ihrer Kinder wichtig waren, wie Ordnung, Pünktlichkeit, Leistung oder Wohlstand, lassen sich vor dem Hintergrund von komplexen Traumatisierungen im Krieg als stressbedingte Überlebensstrategien verstehen, in denen die Liebe der Eltern zu ihren Kindern freilich sehr verklausuliert vermittelt wird. Ein Verständnis dafür ermöglicht es oft, sozusagen die Liebe »dahinter« zu sehen und zu spüren. Die Literatur über die Weitergabe von Traumata an die nächste Generation ermöglicht in der Familienrekonstruktion, Themen wie Schuld und Verantwortung ordnend zu bearbeiten. In vielen Rekonstruktionen geht es darum, Schuld und Verantwortung wieder denen zurückzugeben, denen sie gehören. Das ist die entlastende Dimension der Familienrekonstruktion. Krieg, Judenverfolgung oder Flucht und Vertreibung (Beer, 2011; Burk, Feese, Krauss u. a., 2013) sind historische Geschehen, die ausschließlich auf individueller Ebene nicht heilsam zu beantworten sind. Kollektive Traumata bedürfen kollektiver Formen ihrer Verarbeitung (Ciompi), und die Familienrekonstruktion ist eine gute Möglichkeit, kollektive Traumatisierungen im Kontext authentischer Zeugenschaft zu bearbeiten. Oft haben wir erlebt, dass es dafür alle Beteiligten braucht. Die Einbeziehung historischer Entwicklungen halten wir für eine bedeutende Voraussetzung, auch aktuelle politische Themen achtsam und angemessen zu betrachten (etwa die Flüchtlingsthematik oder die Zunahme ausländerfeindlicher Initiativen und Ausschreitungen).

Uns ist der Hinweis wichtig, dass wir Familienrekonstruktionen mit politischen und historischen Ansprüchen nicht überfrachten sollten, Die historisch-gesellschaftspolitische Perspektive

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um genug Platz dafür zu lassen, dass sich Lebensentwürfe immer auch jenseits historischer Umstände entwickeln. Unser Menschenbild ist ja nicht, dass wir ausschließlich »Opfer« der jeweils historischen Gegebenheiten sind, sondern immer auch (heute deutlich mehr als etwa in den 1950er Jahren) ein gutes Maß an freiem Willen haben, der uns ermöglicht, selbstständig Entscheidungen zu treffen, wie wir unser Leben gestalten wollen. Gleichzeitig ist es auch für die Gruppe der Rekonstruktionsteilnehmenden wichtig, den eigenen Lebensentwurf nicht ausschließlich unter historischen Bedingungen zu betrachten, auch wenn es in Deutschland keine Familie gibt, die nicht vom Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg, der Nachkriegszeit oder anderen wichtigen historischen Entwicklungen betroffen wäre.

2.4  Ziele der Familienrekonstruktion Vor dem Hintergrund der Zusammenfassung unserer theoretischen Überlegungen lassen sich für die Familienrekonstruktion folgende Ziele formulieren, die handlungsleitend für unsere Arbeit sind: Versöhnung und Befriedung

Familienrekonstruktion ermöglicht den Teilnehmenden, die Beziehung zu ihren Eltern und ihrer Familie neu zu sehen. Dabei ist das Ziel, mit der Geschichte der Familie und ihren Mitgliedern so weit wie möglich in einen Frieden zu kommen. Im Hinblick auf die Familien des Vaters und der Mutter können neue Einsichten und Vorstellungen entwickelt werden, darüber können den Eltern und schließlich auch sich selbst gegenüber andere Gefühle entgegengebracht und empfunden werden. Unsere Haltung den Eltern gegenüber ist dabei grundsätzlich versöhnlich, versöhnlich in dem Sinne, dass Eltern sich auch unter möglicherweise denkbar ungünstigen Umständen getraut haben, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Und das Leben, das die Rekonstruktionsteilnehmenden nun mal ihren Eltern verdanken, ist ja schon mal eine ganze Menge, mithin ein großes Geschenk, auch wenn es sich nicht in jeder Lebensphase so anfühlt. 60

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Häufig geht es in den Rekonstruktionen darum, die Liebesbotschaft der Eltern zu entdecken, die Teilnehmenden in ihrem Erleben häufig sehr verborgen geblieben ist. Die »Währungen« der Liebe sind sehr verschieden. Beispielsweise haben wir bei Eltern, die ihre Kinder in der Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren bekommen haben, immer wieder festgestellt, dass berufliche Leistung und materielle Sicherheit die wichtigsten Währungen der Liebe waren, übermittelt in der Botschaft »Meine Kinder sollen es einmal besser haben!«. In der Rekonstruktion entwickelte neue Narrative lassen dann die in so einer Botschaft transportierte elterliche Liebe durchaus erlebbar machen und ermöglichen es den Teilnehmenden, gestärkter ins Leben zu gehen. Sie können mit der erlebten Versöhnung aufhören, das Leben als ständigen Beweis zu fristen, von ihren Eltern nicht gut und nicht richtig versorgt worden zu sein. Dabei werden auch immer wieder Ähnlichkeiten zu den Eltern oder einem Elternteil deutlich, die bisher abgewertet oder abgespaltet werden mussten. Neue Möglichkeiten einer tragenden Bindung werden möglich, letztlich geht es um das Annehmen von Beziehungs- oder Verbundenheitsgefühlen hin zu einem Zustand von Ausgeglichenheit. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist häufig, ob es darum geht, den Eltern zu verzeihen. Wir glauben, dass Eltern zu verzeihen in der Regel eine problematische Verdrehung der strukturellen Bedingungen ist und dass es Kindern nicht zusteht, den eigenen Eltern zu verzeihen, sich mithin über die Eltern zu stellen. Mit so einer überheblichen Haltung gehen in der Regel auch nicht endende Versuche einher, die Eltern noch verändern zu wollen – ein immer wieder hoffnungsloses Unterfangen. Und diese Versuche bringen es mit sich, weiter in kindlicher Abhängigkeit zu verharren, wo es eigentlich darum geht, sich selbst zu verändern und in die erwachsene Autonomie und Selbstbestimmung zu kommen. Diese Abhängigkeit kann auch bei Erwachsenen ein existenzielles Ausmaß annehmen und findet sich gehäuft bei Menschen mit süchtigem Verhalten oder anderen psychischen Auffälligkeiten. Natürlich wissen wir auch, dass die Möglichkeiten einer versöhnlichen Haltung und einer Befriedung mit der Vergangenheit ihre Grenzen haben. Insofern müssen wir vorsichtig sein, dieses Ziele der Familienrekonstruktion

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Ziel nicht zu einer Norm erstarren zu lassen. Es gibt Eltern, Mütter und Väter, die ihren Kindern derart schlimme Verletzungen und Demütigungen angetan haben, dass es für die Kinder schon ein Erfolg ist, das eigene Leben überhaupt als lebenswert anzusehen. Dann geht es darum, die Verantwortung der Eltern klar zu benennen und für das eigene Leben nach anderen Ressourcen und Menschen zu suchen, mit denen sich gute und tragende Bindungen leben lassen. Verankerung – Verwurzelung

Hier geht es darum, anzunehmen, woher ich komme, also die gute, stärkende Verbindung zu meiner Herkunftsfamilie, ihren Traditionen, Werten und ihrer Heimat. Dafür ist es wichtig, die Geschichte der eigenen Herkunft möglichst gut zu kennen, um sich mit dem darin liegenden Schätzenswerten verwurzeln zu können. Dieser Prozess der Verwurzelung ist oft mühselig, und es kann dann nur langsam herausgefunden werden, was jemand annehmen kann oder will. Hilfreich und wichtig bei diesem Prozess ist, die Frage der Verwurzelung nicht auf die Eltern zu beschränken, sondern das gesamte familiäre Umfeld zu betrachten. Immer wieder finden sich dabei doch noch »Perlen«, z. B. ein bisher wenig berücksichtigter (oder gar ausgegrenzter) Onkel oder eine kraftvolle Urgroßmutter, deren Kompetenzen für das eigene Leben von großer Bedeutung werden können. Für die Möglichkeit einer kräftigenden Verwurzelung kann die Einladung hilfreich sein, sich vorzustellen, die Eltern und Großeltern hätten so gekonnt, wie sie eigentlich wollten (also ohne die existenziellen Beschränkungen ihrer Zeit). Auch die Heimat oder die durch Flucht und Vertreibung oder Krieg verlorene Heimat (Burk, Fehse, Krauss u. a., 2013) spielt hier immer wieder eine wichtige Rolle. So kann es sehr kräftigend wirken, sich noch einmal mit der »pommerschen Scholle« zu verbinden, die über Generationen von der Familie beackert und bepflanzt wurde und ihr Auskommen sicherte. Dieser Aspekt ist auch immer dann besonders wichtig, wenn wir Rekonstruktionen mit Menschen aus anderen Ländern durchführen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen von ihren heimatlichen Wurzeln abgeschnitten fühlen. 62

Familienrekonstruktion als systemische Methode

Letztlich geht es bei der guten Verwurzelung darum, die Kräfte und Ressourcen der eigenen Herkunft zu nutzen und darüber seinen Selbstwert zu stärken. Kräfte und Ressourcen

In einer systemischen Familienrekonstruktion ist die Suche nach allen und die Entdeckung und Integration aller zur Verfügung stehenden Ressourcen natürlich ein zentrales Anliegen. Dabei geht es um die Annahme aller Talente, Fähigkeiten, Möglichkeiten und guten Eigenschaften der Mitglieder der Herkunftsfamilie und damit um die Option, die eigenen Möglichkeiten im Leben zu erweitern und den Reichtum zu entdecken, den das Leben noch bereithält. Systemische Haltung heißt bei diesem Ziel auch, Ressourcen dort zu entdecken, wo sie bisher noch nicht als solche erkennbar und erlebbar waren. Das beginnt bei eigenen »Symptomen« oder Verhaltensweisen, die wir als problematisch, dumm oder krank bewerten, in denen sich aber in der Regel zweckmäßige Strategien verbergen, mit bedrohlichen oder beschränkenden Lebensbedingungen umzugehen. Und mit dieser positiv umdeutenden Haltung lassen sich natürlich auch die »Marotten« aller wichtigen Familienmitglieder betrachten (wie die »Zwanghaftigkeit« meines Vaters, die ich – Tobias von der Recke – als strukturierende Kraft ins eigene Leben integrieren konnte). Und immer wieder sind Symptome auch verklausulierte Botschaften, die auf eine unerfüllte Sehnsucht hinweisen und so zu einer wichtigen Ressource werden können. Grenzen ziehen, Klärung der Verantwortung

Durch das Erwachsenwerden verändern sich die Grenzen zwischen Kindern, Eltern und Großeltern. Es sind nicht mehr Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern, sondern zwischen Erwachsenen und Erwachsenen. Es gilt dementsprechend für die Rekonstruktionsteilnehmenden, neue funktionale und akzeptable Grenzen zu finden. Oft setzt man zu schnell strikte Grenzen fest oder vermeidet Grenzziehungen, und die Frage ist hier: Welche Grenzen in Bezug auf meine Herkunft sind für mich als Erwachsener gegenwärtig passend? Da kann es ein gutes Ziel sein, bisherige Konflikt- und AbwerZiele der Familienrekonstruktion

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tungsmuster gegenüber der Herkunftsfamilie aufzulösen und die dadurch frei werdenden Energien für den eigenen Lebensentwurf zu nutzen. Ein weiteres wichtiges Ziel ist in sehr vielen Rekonstruktionen die gute Klärung der Verantwortung. Kinder haben ein großes Talent, Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die von den Eltern oder Großeltern nicht gut geklärt wurden oder geklärt werden konnten. Die angesprochene transgenerationale Weitergabe (Drexler, 2013; Radebold, Bohleber u. Zinnecker, 2008) ist hier ein wichtiger Faktor. In den Rekonstruktionen geht es dann darum, herauszufinden, wer eigentlich die Verantwortung trägt, und dann diese Verantwortung (symbolisch) zurückzugeben. Das ist oft kein leichter Schritt, weil mit der Zurückgabe von Verantwortung natürlich auch ein Verlust an eigener Bedeutung verbunden ist. Gunthard Weber (1995) spricht bei diesem Prozess so schön und passend von »Gesundschrumpfen«.6 Realitäten herstellen

Bei der Herstellung von Realitäten handelt es sich um zweierlei: Zum einen geht es um eine möglichst genaue Einordnung familiärer Geschichten in ihren historischen und gesellschaftspolitischen Kontext. Schon in Vorbereitung auf die Rekonstruktion ist deshalb auch »Forschung« gefragt, und auch während der Rekonstruktion recherchieren wir immer wieder nach Informationen über bestimmte Ereignisse und Entwicklungen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Orten oder Regionen. Das heißt, auch Wissen ist wichtig. Kann beispielsweise die überlieferte Geschichte eines Großvaters wahr sein, dass er als Soldat an der Ostfront nie von der Waffe habe Gebrauch machen müssen? Im Dienste des Überlebens werden in Familien immer wieder Geschichten erfunden und weitergegeben, die mit historischer Realität nur wenig zu tun haben. Im Dienste einer Klärung kann es dann wichtig sein, solche Mythen zu korrigieren und die Geschichte der Familie und auch die eigene im Lichte dieser Erkenntnisse zu betrachten.

6 Mündliche Mitteilung im Verlauf eines Seminars.

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Familienrekonstruktion als systemische Methode

Über die Einordnung der Geschichte in die damals bestehenden Zusammenhänge kann die innere Landkarte der Herkunft erweitert werden, und so werden neue Möglichkeiten des Verstehens, aber auch der Versöhnung und Abgrenzung generiert. Zum anderen geht es im konstruktivistischen Sinne um den Prozess von Dekonstruktion und Neukonstruktion: Früh geerbte oder entwickelte Glaubenssätze und Glaubenssysteme können reflektiert, erweitert oder auch verändert werden, wenn sie für die Vergangenheit verstehbar, für die Gegenwart aber als nicht mehr zweckmäßig erkannt werden. In diesem Prozess geht es meist auch um den Abschluss von Unerledigtem. Verdrängte Gefühle – zum Beispiel die Trauer über einen Verlust, die Entdeckung einer verborgenen Wut oder die Konfrontation mit den Schmerzen der Kindheit – werden erfahrbar, im Kontext ihrer Entstehung verstehbar und können jetzt als Teil der eigenen Realität gelebt und integriert werden. Sie müssen nicht länger verdrängt werden, um dann unbewusst den eigenen Lebensfluss zu bremsen oder zu behindern. Fazit: Lebendiges Beziehungs- und Handlungssystem herstellen

Zusammengefasst handelt es sich bei der Familienrekonstruktion darum, das Selbstwertgefühl zu stärken, indem wir die menschlichen Schwächen in den Beziehungen mit unseren Eltern und der Herkunftsfamilie erkennen und verstehen. Familienrekonstruktion hilft dabei, sich von hinderlichen Überlebensbotschaften aus der Kindheit zu befreien und diese im Kontext der Familie und den jeweiligen historischen Zusammenhängen als Überlebensstrategien zu verstehen. Heute können wir diese Überlebensbotschaften neu überprüfen und verändern; wir haben heute andere Möglichkeiten, zu entscheiden, welche Bedeutung wir positiven und negativen Erfahrungen geben und wie wir dies für unser eigenes Leben nutzen können. Die Familienrekonstruktion ebnet den Weg zu mehr Lebendigkeit im Verhalten und Erleben, zu einer möglicherweise realistischeren Einschätzung der eigenen Stärken und Möglichkeiten und zu einem Mehr an Möglichkeiten in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung. Dabei geht es immer auch um die Förderung von persönlicher Autorität im Familiensystem, mithin um die Förderung des Erwachsenwerdens. Die Kunst besteht letztlich darin, in Anerkennung der Ziele der Familienrekonstruktion

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tiefen Bindungen an die Mitglieder der Herkunftsfamilie auf die eigenen Füße zu kommen und einen sicheren und guten Stand im Leben zu entwickeln. Persönliche Autorität setzt die Emanzipation von kindlicher Abhängigkeit voraus, ohne auf die Verbundenheit zur Herkunftsfamilie zu verzichten – was letztlich auch gar nicht möglich ist, da die inneren, unbewussten Verbindungen trotzdem weiterwirken. Damit handelt es sich in den Familienrekonstruktionen im Dienste der Anliegen der Teilnehmenden immer auch um den Blick in die Zukunft oder auch, wie es Gunter Schmidt (2002) gerne in Seminaren formuliert, von der Herkunfts- zur »Hinkunftsfamilie« und damit um die Fokussierung auf künftige Vorhaben.

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Familienrekonstruktion als systemische Methode

3 Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch? Von der individuellen Vorbereitung bis zu den »Risiken und Nebenwirkungen«

In diesem Kapitel vermitteln wir einen möglichst detaillierten Werkstatteinblick und wollen denen, die Familienrekonstruktionen durchführen, aber auch möglichen Teilnehmenden beschreiben, wie wir es machen. Dabei gehen wir chronologisch vor. Einleitend formulieren wir ein paar Gedanken über den guten Ort für Familien­ rekonstruktionen.

3.1 Der gute Ort für Familienrekonstruktionen und die erforderliche Zeit Grundsätzlich empfehlen wir, Familienrekonstruktionen an einem Ort durchzuführen, an dem die Teilnehmenden einen guten Abstand zu ihrem persönlichen und professionellen Alltagsleben haben. Die intensive Beschäftigung mit der eigenen Herkunftsfamilie erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, das auch für die Rekonstruktionen der anderen Gruppenmitglieder gebraucht wird. Für so ein Projekt ist es sinnvoll, sich in ein Seminarhaus zurückzuziehen, in dem es auch Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Dieser Ort muss nicht dort sein, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, aber ein bis zwei Stunden Entfernung zum Wohnort der Teilnehmenden sind für alle hilfreich, um Abstand vom Alltag zu bekommen. Telefonisch sollte der Ort erreichbar sein, auch eine funktionierende Internetverbindung ist wünschenswert, weil sie sowohl den 67

Leitenden als auch den Teilnehmenden die Möglichkeit gibt, noch unter der Woche zu recherchieren und/oder sich Materialien, wie Fotos, senden zu lassen. Um es noch etwas kraftvoller zu formulieren: Wir haben in der Wirklichkeit unseres Alltags gar nicht so viel und oft Gelegenheit, uns intensiv mit den tiefer gehenden Dingen des Lebens zu beschäftigen, und wenn wir schon die Gelegenheit haben, sollten wir sie möglichst ungestört nutzen. Für eine Familienrekonstruktion mit einer Gruppe von 12 bis 18 Teilnehmenden rechnen wir mindestens sechs Tage mit sechs Übernachtungen. Mit weniger Zeit entstünde ein Zeitdruck, der für so eine Arbeit gar nicht hilfreich ist.

3.2  Vorbereitung und Recherche Drei bis sechs Monate vor der Familienrekonstruktion bereiten wir die Teilnehmenden ausführlich vor und vermitteln ihnen, welche Vorbereitungen zu treffen sind und wie das am besten zu tun ist. Bei Weiterbildungsgruppen findet diese Vorbereitung im Rahmen der Weiterbildung statt (zwei Blöcke vor der Rekonstruktion), Teilnehmende an einer offenen Familienrekonstruktion laden wir zu einem eigenen Informationsabend ein. Neben den inhaltlichen Fragen zur Vorbereitung gehen wir gerade auch in der Vorbesprechung darauf ein, dass Teilnehmende vor einer Familienrekonstruktion durchaus unterschiedliche Gefühle haben bzw. haben können. Da denken wir auch immer daran, wie es uns selbst gegangen ist, als dieses Seminar in unserer Weiterbildung bevorstand. Womit kann man rechnen? Auf jeden Fall mit einer guten Portion – auch angemessener und normaler – Aufregung. Dann auch mit Ängsten, dass in der Familienrekonstruktion Dinge zur Sprache kommen könnten, die bisher noch niemand oder nur sehr wenige Menschen erfahren haben. Eine Teilnehmerin schreibt:

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Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Bei der ersten Reko war die Sammlung der Informationen sehr schwierig, weil ich zu dieser Zeit keinen Kontakt zu meinen Eltern hatte. Es gab einige Fotos von mir und wenige von meinen Geschwistern und Eltern. Die Lebensläufe waren bruchstückhaft und von erinnerten Erzählungen geprägt. Dazu kamen massive Widerstände in mir, sich pünktlich zum Beginn der Rekonstruktion um Informationen und Material zu kümmern (siehe Bericht 5, Anhang 1).

Möglicherweise gibt es bei den Teilnehmenden auch Gefühle der Scham und unterschiedlichste Strategien, diese Scham abzuwehren. Für den einen oder anderen kann das in gehörigen Stress ausarten, zumal wenn es auch noch schwierig wird, sich diese Woche freizuhalten und alle möglichen privaten oder beruflichen Anforderungen diesem Termin unterzuordnen. Nach unserer Erfahrung ist es wichtig, all diesen möglichen emotionalen Reaktionen in der Vorbereitung einen guten Raum zu geben und für eine gewisse Beruhigung zu sorgen. Wir machen das, indem wir unsere Haltung formulieren und noch einmal die Ziele deutlich herausstellen, für die wir die Familienrekonstruktion durchführen. Besonders wichtig ist da unser Leitsatz, dass wir sie praktizieren, um Menschen zu stärken, sie noch besser mit ihren Ressourcen und Talenten in Kontakt zu bringen, und dass wir uns gemeinsam mit ihnen bemühen werden, mögliche Bremsen und Blockaden in ihrer Entwicklung im Dienste der eigenen Vorhaben und Ziele zu lösen. Und wichtig ist das schöne Motto: »Jeder darf – keiner muss!« Damit meinen wir die jederzeit für jeden bestehende Möglichkeit, Hypothesen zu verwerfen, methodische Vorschläge von uns auch abzulehnen und immer selbst zu entscheiden, wer was erfahren soll oder auch nicht. Wir sind tatsächlich der Überzeugung, dass es bei einer Rekonstruktion nicht entscheidend ist, wie viel jemand von sich preisgibt, sondern ob das, was wir gemeinsam miteinander tun und erleben, hilfreich und stärkend ist oder nicht. Manchmal eilen Familienrekonstruktionen auch Gerüchte voraus, z. B. dass dort die ganze Woche geweint wird. Ja, es ist gut möglich, dass auch geweint wird, wenn es darum geht, etwas Trauriges zu betrauern, aber erfahrungsgemäß gibt es im Laufe einer FamilienVorbereitung und Recherche

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rekonstruktion auch immer viel zu lachen. Und im Gegensatz zu den Zeiten der berühmten »Encounter-Gruppen« der 1980er Jahre misst sich die Qualität heute und für uns nicht mehr in Millilitern vergossener Tränen. Was ist für die Rekonstruktion vorzubereiten? Zusammengefasst sind es die Chronologien des Lebens der Mutter, des Vaters und des eigenen Lebens. Dazukommt jeweils ein Genogramm für die Familie der Mutter, des Vaters und der eigenen Familie. Und dann ist es noch die sogenannte VIP-Karte, eine grafische Abbildung der eigenen wichtigen Bezugspersonen und der Beziehungen zu ihnen in den ersten 18 Lebensjahren. Die unter 3.2.4 beschriebenen Überlebensregeln führen wir meist erst vor Ort (im Seminarhaus) ein. Jetzt beschreiben wir alle zu erstellenden Materialien im Einzelnen. 3.2.1 Chronologien

Für die Rekonstruktion bitten wir die Teilnehmer, folgende familiengeschichtliche Datensammlungen vorzubereiten: ȤȤ eine Chronologie der Herkunftsfamilie Ihrer Mutter, ȤȤ eine Chronologie der Herkunftsfamilie Ihres Vaters, ȤȤ eventuell auch Ihrer Großeltern, ȤȤ eine Chronologie der Herkunftsfamilie, in der Sie aufgewachsen sind. Die Teilnehmenden sollen versuchen, jeweils Daten für die Familie ihrer Mutter, ihres Vaters, evtl. ihrer Großeltern und ihrer Herkunftsfamilie von der Geburt der Mutter, des Vaters und eventuell der Großeltern und ihrer eigenen Geburt bis in die Gegenwart zusammenzutragen. Wichtig sind dabei Wendepunkte, wie Heirat, Geburten, Berufswahl und -wechsel, Todesfälle, Totgeburten, Abtreibungen, Unfälle, Krankheiten, chronische Krankheiten, Kündigungen, Umzüge, Arbeitslosigkeit, Kriegserfahrungen, Flucht oder Vertreibung der Familie, Euthanasie etc. Die Teilnehmenden sind eingeladen, Dokumente, Fotos, Landkarten, Erinnerungen und Informationen von innerhalb und außerhalb der Familie zusammenzusuchen. Hilfreich dabei sind Interviews mit Verwandten, Bekannten und Zeitzeugen (evtl. Tonaufzeichnungen für das eigene Archiv). 70

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Am besten ist es, chronologisch vorzugehen. Man beginnt beim Zeitpunkt der Geburt und sieht dann Jahr für Jahr, was man über die jeweilige Lebensgeschichte in Erfahrung bringen kann. Dabei ist damit zu rechnen, dass die Nachfragen die Familienmitglieder zunächst erstaunen, irritieren, erschrecken oder bei ihnen eine ablehnende Haltung auslösen. Wird den Befragten deutlich, dass das Interview von aufrichtigem Interesse geleitet ist und keine »Schuldsuche« bzw. »Schuldzuweisung« beabsichtigt, kann das schon der Beginn einer Veränderung der Beziehung zu diesen Personen sein. Hilfreich ist immer eine respektvolle Neugierde, auch wenn die zu befragende Person Haltungen und Werte vertritt, die nicht die eigenen sind oder den eigenen widersprechen. Gerade dann ist es gut, auf die eigenen Grenzen zu achten, gegebenenfalls Pausen zu machen oder eine Befragung auch abzubrechen. Immer wieder kommt es vor, dass sich eine Befragung nicht ermöglichen lässt (Tod eines Elternteils, zu große Entfernung, abgebrochene Beziehung o. a.). Da weisen wir schon vorbereitend darauf hin, dass das völlig in Ordnung ist. Die Vollständigkeit der Geschichte ist mitnichten ein Qualitätskriterium (wie manche Teilnehmende womöglich zunächst annehmen). Gut ist, so viel wie möglich zu erfahren, aber eben auch, nicht mehr als möglich erfahren zu wollen. Und über bestimmte Dinge oder Phasen nichts zu erfahren, ist auch eine wertvolle Information. Dann besteht in der Familienrekonstruktion immer die Möglichkeit, gerade über diese Teile der Geschichte neue Hypothesen zu entwickeln und manchmal auch neue Erkenntnisse zu gewinnen. 3.2.2 Genogramme

Zusätzlich soll für jede Person (Mutter, Vater, Teilnehmerin/Teilnehmer) ein Genogramm erstellt werden. Das Genogramm ist eine grafische Abbildung der Familie, ähnlich einem Stammbaum. Es soll allerdings zusätzliche Informationen, wie in den aufgeführten Beispielen (siehe Abbildung 4 und 5) enthalten. Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Hinweise zur Erstellung eines Genogramms zusammen (die üblichen Symbole zeigen Abbildung 2 und 3):

Vorbereitung und Recherche

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männliche Familienmitglieder



weibliche Familienmitglieder



Totgeburt

Abtreibung  

Fehlgeburt verheiratet geschieden Zusammenleben

Trennung nach Zusammenleben

* Geburtsdatum † Sterbedatum

Abbildung 2: Die wichtigsten Beziehungssymbole in Genogrammen (nach McGoldrick, 2003; McGoldrick, Gerson u. Petry, 2009)

Frau

Mann

verheiratet

mit Haustier zusammenlebend

getrennt

Frau verstorben

unbekanntes Geschlecht

Zwillinge zweieiig

Zwillinge eineiig

Mann verstorben

Abbildung 3: Standardisierte Symbole in Genogrammen (Quelle: McGoldrick, 2003)

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Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Karl-Anton Meyer * 13.10.09 † 29.08.71

Heirat 03.09.45

kath. selbst. Schlossermeister Pommern Karl-Friedrich * 10.11.46 † 17.08.47

Berta Stühr * 12.07.23 † 14.01.80 kath. Schneiderin Hamburg

1948 Elvira Berta * 19.12.49 kath. Lehrerin

Abbildung 4: Beispiel für ein Genogramm der Familie M. (vertikal)

Es gibt zwei verschiedene Darstellungsformen (siehe Abbildung 4 und 5), die verwendeten Symbole sind identisch. ȤȤ Die Generationen sind jeweils in einer Linie von oben nach unten angeordnet. ȤȤ Kinder werden den einzelnen Beziehungen zugeordnet, jeweils altersmäßig von links nach rechts. ȤȤ Personendaten werden in die entsprechenden Symbole geschrieben (Geburtstag, Todestag). ȤȤ Auf den Beziehungslinien (zusammenlebend, verheiratet, ge­ trennt) werden die Daten (von … bis …) vermerkt. ȤȤ Die Personen, die zusammenleben, werden gestrichelt umkreist. ȤȤ Verbindungen der Systemmitglieder untereinander können nach ihrer erlebten Qualität farbig gekennzeichnet und somit differenziert dargestellt werden ȤȤ Frühere Lebensgemeinschaften und Ehen werden bei den entsprechenden Systemmitgliedern aufgenommen und mit Namen und Daten versehen. ȤȤ Verstorbene oder verschollene Mitglieder gehören zum System, ebenso Fehlgeburten und Abtreibungen.

Vorbereitung und Recherche

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Karl-Anton Meyer * 13.10.09 † 29.08.71

Berta Stühr * 12.07.23 † 14.01.80

Heirat 03.09.45

kath. selbst. Schlossermeister Pommern

Karl-Friedrich * 10.11.46 † 17.08.47

kath. Schneiderin Hamburg

Elvira Berta * 19.12.49 1948

kath. Lehrerin

Abbildung 5: Beispiel für ein Genogramm der Familie M. (horizontal)

3.2.3 VIP-Karte

Ergänzend zum Genogramm wird eine VIP-Karte, d. h. eine Netzwerkkarte mit relevanten Bezugspersonen, erstellt. Die wichtigsten Menschen aus Kindheit und Jugend (bis zum Alter von 18 Jahren) werden dort nach Nähe bzw. Entfernung vom Mittelkreis, d. h. dem Raum der eigenen Person, vermerkt. Zu den Personen werden die Namen, ihre Rollen (z. B. Mutter) sowie zwei empfundene Botschaften geschrieben, die sie an die Person im Mittelkreis aussenden: 1. eine Zuschreibung/Bewertung, z. B. »Du bist mein Lieblingskind«; 2. eine Erwartung, z. B. »Bleib immer bei mir«. Ein Beispiel für eine VIP-Karte zeigt Abbildung 6.

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Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Familie

Freunde

Mutti

Ina

Du bist ein gutes Kind. Lass mich nicht allein!

Du bist eine tolle Freundin. Bleib mir treu! Ich

Pastorin Du bist so schüchtern. Trau dich mehr! Zeig dich! Profis

Onkel Rolf Du bist unwichtig. Geh mir aus dem Weg. weitere Verwandtschaft

Abbildung 6: Beispiel für eine VIP-Karte

3.2.4 Überlebensregeln

Überlebensregeln sind (oft nonverbal) erlebte Botschaften, die in der Herkunftsfamilie bzw. in frühen Bezugssystemen vermittelt wurden und mitunter bis heute als lebensgestaltende Glaubenssätze wirksam sind. Die Überlebensregeln drücken häufig aus, wie Menschen sich als Kind in ihrer Familie eingepasst bzw. verhalten haben, um das Familiengefüge zu unterstützen, um darin leben bzw. überleben zu können. Was damals hilfreich und als notwendig empfunden wurde, kann im späteren Leben zur Belastung und Behinderung bei der Erreichung eigener Lebensziele werden. Zu jedem der auf der nächsten Seite genannten Satzanfänge werden mindesten drei Sätze aufgeschrieben, die spontan in den Kopf kommen, z. B. »Ich muss immer hilfreich sein!«, »Ich darf nie an mich denken!«, »Eigentlich sollte ich ein Junge sein!«. Im zweiten Schritt ist zu überlegen, von wem diese gespürten Botschaften am ehesten stammen (z. B. Vater, Mutter oder Großvater), entsprechende Abkürzungen (V, M, GV) werden am Ende des Satzes vermerkt. Vorbereitung und Recherche

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Ich muss immer … Ich muss immer … Ich muss immer …

V/M V M

Ich darf nie … Ich darf nie … Ich darf nie …

M M M

Eigentlich sollte oder müsste ich … Eigentlich sollte oder müsste ich … Eigentlich sollte oder müsste ich …

GV/M V V/M …

…, um geliebt und geschätzt zu werden (und gut dazuzugehören). Ein Beispiel zeigt Abbildung 7.

Abbildung 7: Beispiel für Überlebensregeln

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Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

3.3  Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus Die Familienrekonstruktion findet, wie gesagt, in einem Seminarhaus statt. Die Teilnehmenden reisen an, bringen ihre Unterlagen mit und sind gewöhnlich in sehr unterschiedlicher Stimmung. Da gibt es ängstlich nervöse Anspannung, Erleichterung, dass es endlich losgeht und verschiedene Gefühle, die mit den Erfahrungen der Vorbereitung zusammenhängen. Es gibt immer Teilnehmende, die aus eigener Sicht noch nicht fertig geworden sind und Nachtschichten planen, um Informationen einzuholen und/oder zu ordnen. Gelegentlich kommen Menschen zu spät, weil sie sich verfahren haben. Auf jeden Fall ist es gut, zum Start eine ausführliche Eingangsrunde zu machen, um sich und der Gruppe einen guten Überblick über die Stimmungslage zu verschaffen (bei den offenen Rekonstruktionen ist dies auch für manche ein erstes Kennenlernen der Gruppe – nicht alle können zum Vorbereitungstreffen kommen und haben die nötigen Informationen nur über Telefonate oder E-Mails eingeholt). Die Eingangsrunde ist immer auch ein wichtiger Akt der Verbindung. Häufig bedarf es einiger beruhigender Sätze der Leitung, etwa im Sinne von »Es ist gut so, wie es ist, und den Rest machen wir gemeinsam!«. In der Eingangsrunde informieren wir auch noch einmal über den konkreten Ablauf der Woche, die Arbeitszeiten (täglich acht Stunden in der Kleingruppe bzw. im Plenum), die Essenszeiten und die wichtigen Gegebenheiten im Seminarhaus. Danach werden die Kleingruppen gebildet, dann die Reihenfolge innerhalb der Kleingruppen festgelegt und schließlich die Reihenfolge in der Gesamtgruppe. Dies gilt für die offenen Rekonstruktionen und ist ein in aller Regel unproblematisch verlaufender Prozess, der sich nicht vorher realisieren lässt, weil es ja oft das erste Zusammentreffen dieser Gruppe ist. Die Gruppe besteht meistens aus 12 bis 18 Teilnehmenden und wird, wenn möglich, in Dreiergruppen aufgeteilt. Aus rein arithmetischen Gründen sind neben den Dreier- manchmal auch Vierergruppen erforderlich, größer sollten sie aber auf keinen Fall sein. In Weiterbildungsgruppen, die wir als Leitung ja schon kennen, übernehmen wir die Einteilung der Gruppen und auch die Reihenfolge der Rekonstruktionen, um der ganzen Gruppe mögliche Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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zusätzliche gruppendynamische Stolpersteine zu ersparen, die sich in schon bestehenden Gruppen gerne einstellen, wenn es noch einmal um die Bildung von Subsystemen geht. Wir hängen diese Einteilung und Festlegung der Reihenfolge nicht so hoch, beherzigen aber in der Regel intuitiv einige empfehlenswerte Kriterien: ȤȤ Wenn es neben Dreier- auch Vierergruppen gibt, muss jemand aus der Vierergruppe starten, weil sie ja insgesamt mehr Zeit braucht als die Dreiergruppe. ȤȤ Als Erste(r) sollte jemand dran sein, der oder dem wir die Rolle des »Pioniers« zutrauen, das Gleiche gilt für die letzte bzw. den letzten in der Gruppe, die/der ja lange warten muss. Das heißt, für diese Positionen wählen wir Personen mit, zumindest nach unserem Eindruck, guter psychischer Stabilität. ȤȤ Personen, bei denen wir durch Vorinformationen und/oder die bisherigen Erfahrungen in der Weiterbildung mit eher schweren Themen rechnen (z. B. der frühe Verlust der Mutter oder traumatische Erfahrungen in der Kindheit/Jugend) sollten in dieser Woche eher in der Mitte dran sein. Nach der Eingangsrunde bzw. der Gruppenaufteilung und Festlegung der Reihenfolge werden die Kleingruppenräume besichtigt und verteilt, und dann startet die Arbeit in den Kleingruppen. Jeder Kleingruppe steht für den gesamten Zeitraum ein geschützter Arbeitsraum zur Verfügung. Wichtig ist, allen Kleingruppen nachdrücklich mitzuteilen, dass sie sich jederzeit an uns als Leitung wenden können, wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten ergeben. Bei der intensiven Beschäftigung mit den Familiengeschichten kann es zu gruppendynamischen Prozessen kommen, die dem Ziel der Arbeit nicht dienlich sind. Zum Beispiel können in der Gruppe gerade die Stressverarbeitungsmuster aktiv werden, die Teilnehmende früh in ihrer Herkunftsfamilie gelernt haben, und diese können den Arbeitsprozess unnötigerweise ins Stocken bringen. Da ist es gut, frühzeitig Hilfe von außen zu erbitten, was dann wiederum für diejenigen schwierig sein kann, die wenig gute Erfahrungen mit Unterstützung gemacht haben. Insofern ist es uns auch immer wichtig, vor allem am Anfang einen Rundgang 78

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

durch die Gruppen zu machen und zu sehen, wie sie ins Arbeiten kommen. Schwierigkeiten lassen sich nach unserer Erfahrung dann immer relativ schnell und durch kleine Empfehlungen oder Interventionen beheben. 3.3.1  Arbeit in den Dreiergruppen (Triaden)

In den Dreiergruppen findet ein wichtiger Teil des Rekonstruktionsprozesses statt. Hier werden von jedem in der Gruppe die drei Familiengeschichten ausführlich nacheinander erarbeitet. In dieser Kleingruppe stehen jedem »Star« fünf bis sechs Stunden Zeit zur Verfügung (im Weiterbildungskontext zum systemischen Berater/ Therapeuten zwei bis drei Stunden, da viele dieser Vorbereitungen schon in der Weiterbildung erfolgt sind). Jeder in der Kleingruppe ist einmal der Star, die Reihenfolge, in der das erfolgt, wird von den Teilnehmenden der Kleingruppe festgelegt. Für den Prozess in der Kleingruppe gibt es jeweils drei Rollen, die wir im Folgenden beschreiben (hier haben wir uns an der Form orientiert, wie sie Virginia Satir entwickelt hat). Rollen

Der »Star« ist die Person, die gerade an der Reihe ist, ihre Geschichte mit allen Materialien einzubringen und mithilfe der anderen eine persönliche Fragestellung für sich an die Familienrekonstruktion zu entwickeln. Der Star sollte immer die Hoheit über den Prozess in der Kleingruppe haben, der ja im Dienste seines Anliegens verlaufen soll. Der »Guide« ist direkter Betreuer des Stars und steht diesem während der gesamten Rekonstruktion zur Seite. Der Guide hilft dem Star beim Sortieren und Dokumentieren des Materials und befragt ihn mithilfe des »Beobachters«, um Anteil zu nehmen und die Geschichte genau kennenzulernen. Später unterbreitet er eventuell dem Therapeuten bzw. der Therapeutin einen Vorschlag, in welchem der verschiedenen Familiensysteme die Rekonstruktionsfrage des Stars bearbeitet werden sollte. Der Guide ist so für die Therapeuten Daten- und Hypothesenhelfer. Der »Beobachter« unterstützt den Guide in seinen Aufgaben, schreibt z. B. Genogramme, die VIP-Karte und Chronologien auf Wandzeitungen, ordnet Fotos zu usw. und bereitet so die PräsentaDie Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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tion im Plenum vor. Er achtet auf das Gespräch zwischen Guide und Star und macht darauf aufmerksam, wenn etwas fehlt, sich wiederholt oder an einer Stelle zu ausgedehnt besprochen wird. Er unterstützt, wenn Gefühle aufkommen, und weist auf die mögliche Hinzunahme von Hilfe aus dem Therapeutenteam hin. Außerdem ist er der Hüter der Zeit und achtet darauf, dass sie jeweils zu einem Drittel für die Geschichte der Mutter, die Geschichte des Vaters und die Geschichte des Stars verwendet werden sollte. Er unterstützt den Guide auch insofern, als er sich z. B. um eventuell noch nachzuschlagende historische Informationen oder die Recherche spezieller Musik aus der Region, wichtiger Zeitabschnitte oder besonderer Ereignisse der »Star-Familien« kümmert. Die Rollen rotieren in der Dreiergruppe wie in Abbildung 8 dargestellt. Star A

Guide B

Beobachter C

Abbildung 8: Rollenrotation in der Dreiergruppe

Im letzten Schritt der jeweiligen Kleingruppenarbeit soll ein Anliegen des Stars an die Familienrekonstruktion entwickelt werden (eine Frage, ein Wunsch, ein spezieller Fokus wie z. B.: »Warum haben die Frauen in unserer Familie immer wieder auf die eigene berufliche Karriere verzichtet? Und steht es mir zu, hier eine neue Tradition zu beginnen?«).

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Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

3.3.2 Das Vorgespräch mit dem Star, seiner Kleingruppe und dem Therapeutenteam

Wenn der »Star« mit der Vorbereitung in seiner Kleingruppe fertig ist (alle Materialien sind in Wandzeitungsgröße vorhanden, siehe Abbildung 9, S. 84), werden die Ergebnisse bestehend aus Genogrammen, Chronologien, VIP-Karte, Überlebensregeln und die Frage an die Rekonstruktion im Seminarraum aufgehängt. Bevor das Vorgespräch beginnt, hat das Therapeutenteam (in der Regel ein Therapeut und eine Therapeutin, evtl. noch ein oder zwei Assistenten) alles gelesen und sich damit einen ersten Eindruck verschafft. Dabei leiten uns vor allem folgende Punkte: ȤȤ das Anliegen, der Auftrag; ȤȤ die Hypothesen, die beim Lesen entstehen und im Vorgespräch überprüft werden; ȤȤ das Gelesene möglicherweise um Dimensionen zu erweitern, die noch nicht enthalten sind (Geschichte, politische Ereignisse usw.). Danach erfolgt das Vorgespräch mit dem Star und der Kleingruppe, das in der Regel eine Stunde dauert. Folgende Themen werden im Vorgespräch behandelt: ȤȤ Wie geht es dir denn jetzt gerade?7 In der Regel ist der »Star« aufgeregt, nervös, manchmal auch ängstlich und unsicher, weil es für ihn neu ist, anderen Menschen so viel aus seiner Geschichte und Familiengeschichte preiszugeben. Und natürlich haben Stars oft Fantasien darüber, was die Therapeuten wohl jetzt alles in diesen Materialien »entdecken« könnten. ȤȤ Wie ging es dir in deiner Kleingruppe? In aller Regel wird diese Zusammenarbeit als sehr vertrauensvoll und unterstützend beschrieben. ȤȤ Wie geht es dir mit mir? Hier wird der Kontakt mit jedem Einzelnen des Therapeutenteams geprüft, um die bestmögliche Unterstützung während der Familienrekonstruktion zu sichern – z. B. kann es für die Rekonstruktion sinnvoll sein, dass jemand eher im Hintergrund bleibt, 7 Falls sich kein Widerspruch erhebt, bieten wir allen Teilnehmenden das Du an. Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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etwa weil sie oder er Ähnlichkeit mit einem problematischen Verwandten hat. Nach den Antworten sagen auch wir jeweils, wie es uns mit dem Star geht, auch das stiftet Sicherheit und Vertrauen. Worauf bist du stolz in deiner Familie? Diese Frage ist für viele Teilnehmenden ganz neu und gar nicht so einfach zu beantworten, weil Stolz in der Geschichte der Familie eher zensiert als unterstützt wurde, etwa mit dem Spruch »Eigenlob stinkt«. Manch einer oder eine müssen erst daran erinnert werden, dass man auch auf Leistungen im eigenen Leben stolz sein kann. Gibt es etwas, wo du Verlegenheit oder Scham empfindest? Scham spielt in Lebensläufen immer wieder eine sehr tragende Rolle und wirkt sich, wenn sie zu stark wird, sehr begrenzend und isolierend im eigenen Leben aus. Schamerleben anderen Familienmitgliedern gegenüber könnte ein Hinweis für die Rekonstruktion sein, dass ein Star zu viel Verantwortung für andere Familienmitglieder auf seinen Schultern trägt, z. B. wenn ein Elternteil alkoholabhängig war oder ist. Gibt es etwas, wo du Wut, Angst oder Freude empfindest? Hier sind wir neugierig, welche Lebensereignisse oder Phasen mit besonders intensiven Gefühlen verbunden sind, sowohl im Hinblick auf Schmerzen und Not als auch Kräften und Ressourcen. Gibt es etwas, das du am liebsten verstecken möchtest? Diese Frage zielt darauf ab, ob bestimmte Themen oder Aspekte möglicherweise in der Rekonstruktion nicht thematisiert werden sollen, andererseits können Antworten auf diese Frage auch ein Hinweis darauf sein, dass es gerade dieses Thema ist, das einer Würdigung vor Zeugenschaft bedarf – hier braucht es eine gute Sensibilität und gelegentlich ein »Aushandeln«, auf welchem Weg wir uns in der Rekonstruktion begeben wollen. Gibt es so etwas wie einen gefühlten Auftrag an dein Leben aus deiner Sippe? Solche Aufträge aus der Sippe oder einer einzelnen Familien­ linie sind oft nicht ausgesprochen, werden aber mehr oder weniger deutlich gefühlt. In der Rekonstruktion kann es dann darum gehen, diese Aufträge – z. B. »Du sollst es einmal besser haben« oder »Lebe das Leben, das mir zu leben nicht möglich war« – Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

vor dem Hintergrund der Familiengeschichte zu verstehen und hinsichtlich ihrer Erfüllbarkeit und aktuellen Sinnhaftigkeit zu überprüfen. ȤȤ Wenn ich deinen Vater (deine Mutter, dich; evtl. auch die Großeltern) fragen würde, was der Sinne seines (ihres, deines) Lebens ist, was würde er (sie, würdest du) antworten? Hier geht es oft darum, die Lebensentwürfe der Eltern vor dem Hintergrund der historischen Bedingungen zu betrachten – z. B. kommen Antworten wie »Überleben«, »Wohlstand zur Sicherung der Familie mehren« – und zu sehen, was davon möglicherweise »vererbt« wurde. Dann wäre zu schauen, welche Wirkung dieses Erbe hat und ob die Ablehnung einer solchen Erbschaft eine sinnvolle Option sein kann. ȤȤ Was ist dein Wunsch, dein Anliegen, dein Ziel mit deiner Frage an die Rekonstruktion? Das ist letztlich die uns wichtigste Frage, weil wir uns den Anliegen der Stars verpflichtet fühlen. Spannend wird die Klärung dieser Frage dann, wenn der Star kein Anliegen hat oder uns eines mitteilt, das uns unrealistisch, zu bescheiden oder angesichts der Lebensgeschichte(n) nicht wirklich passend erscheint. Dann verweilen wir bei dieser Frage länger und versuchen, uns in einem gemeinsamen Prozess auf einen Fokus zu verständigen, mit dem der Star gut mitgehen kann. Die Fragen im Vorgespräch verstehen sich insgesamt als Vorschläge und sie dienen in erster Linie der guten Klärung und Sicherung des Rahmens, in dem die Rekonstruktion dann stattfinden kann. In ganz wenigen Fällen haben wir uns im Vorgespräch auch darauf verständigt, die Rekonstruktion nicht in der ganzen, sondern nur in einer Teilgruppe durchzuführen oder die bzw. manche Materialien vor der Rekonstruktion wieder abzuhängen, weil es für den Star nicht vorstellbar war, die ganze Gruppe alles lesen zu lassen. Natürlich bekommen die Leitenden im Vorgespräch auch immer noch ganz wichtige weitere Informationen, etwa durch folgende ergänzende Fragen: ȤȤ Wenn du auf die ganze Geschichte schaust, gibt es da Punkte, die dich richtig ärgerlich oder zornig machen? Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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ȤȤ An welchen Stellen in deinem Lebenslauf hast du das Gefühl, auf etwas verzichtet zu haben, was dir eigentlich sehr wichtig war? ȤȤ Was wünscht dir denn deine Liebste (dein Liebster) für diese Rekonstruktion? ȤȤ Auch die anderen Mitglieder der Triade fragen wir regelmäßig, was sie ihrem Star für die Rekonstruktion wünschen. Die Familienrekonstruktion im Weiterbildungskontext beinhaltet einige Unterschiede zu dem bisher vorgestellten Verlauf. Die Teilnehmenden haben sich möglicherweise nicht aus eigenem Antrieb zur Rekonstruktion angemeldet und kommen nicht unbedingt mit einem eigenen Anliegen. Für sie sind die anderen Teilnehmenden keine unbekannten, sie treffen sich danach wieder, kennen sich möglicherweise auch noch aus anderen Kontexten, wie z. B. der Arbeit. Die dadurch möglichen Vorbehalte lösen sich in der Regel im Laufe der Rekonstruktionswoche auf. Ergänzende Fragen bei Weiterbildungsteilnehmenden können sein: ȤȤ Wie ist es für dich, vor deiner Weiterbildungsgruppe die Rekonstruktion zu machen? ȤȤ Was braucht es noch von der Gruppe, damit die Rekonstruktion für dich eine gute Erfahrung wird? ȤȤ Sollen und können alle Teilnehmenden bei deiner Rekonstruktion anwesend sein?

Abbildung 9: Teilnehmende beim Lesen der Chronologien und Genogramme (Foto: Tobias von der Recke)

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Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Während des Vorgesprächs mit einem Star arbeiten die anderen Kleingruppen parallel weiter. Nach dem Vorgespräch zieht sich das Therapeutenteam zur Beratung und Planung zurück, und alle anderen Teilnehmenden lesen bis zum Plenum die Materialien des Stars (siehe Abbildung 9). Danach beginnt die Rekonstruktion im Plenum, die zwischen einer und zweieinhalb Stunden dauert, was in erster Linie von der gewählten Methode abhängig ist. 3.3.3 Ausgewählte Methoden: Skulptur, Aufstellung, Lebenslinie, Geburtinszenierung, Zurückrutschen, Chor, Verantwortungsrückgabe, Schicksalswürdigung, Gesprächsrunde, »unmögliche« Gespräche, neue Wirklichkeiten, Zauberladen, historische Informationen

In Familienrekonstruktionen kommt eine Vielzahl systemischer Methoden zur Anwendung, aber auch Ideen, Methoden und Techniken aus anderen therapeutischen Traditionen, insbesondere des Psychodramas, der Gestalt- und Körpertherapie. Bei der Auswahl der Methode orientieren wir uns in erster Linie am Anliegen des Klienten. Insbesondere bei Rekonstruktionen im Weiterbildungskontext ist es uns auch wichtig, viele verschiedene Methoden anzuwenden, so können die Teilnehmenden damit Erfahrungen »am eigenen Leib« machen und im weiteren Verlauf entscheiden, welche Methoden sie in ihrer eigenen Arbeit nutzen wollen. Im Sinne der Gesamtchoreografie achten wir darauf, dass intensivere, regressionsfördernde Methoden (wie körpertherapeutische »Entpanzerungsarbeit«, Arbeit mit Szenen aus der frühen Kindheit oder am Anfang des Lebens) eher in der Wochenmitte zur Anwendung kommen. Zum Ende der Woche unterstützen wir auch methodisch eher die autonomen Kräfte und zukunftsorientierte Perspektiven. Diesem Interesse dient auch, dass wir in der zweiten Hälfte noch mehr versuchen, jeweils die Gruppe der Teilnehmenden in die Rekon­ struktionen einzubeziehen (z. B. durch Chöre, Parts Party oder Feste). In den ersten Jahren unserer Arbeit haben wir eher ein festes methodisches Programm genutzt, später sind wir, weil es uns flexibler schien, mehr und mehr dazu übergegangen immer wieder neue methodische Varianten anzuwenden und zu entwickeln. Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Die aus unserer Sicht wichtigsten methodischen Zugänge stellen wir im Folgenden vor. Auf die Möglichkeit, sie immer wieder zu variieren und für spezielle Situationen zu modifizieren, möchten wir schon an dieser Stelle hinweisen. Skulpturarbeit

Die Skulpturarbeit ist eine von Virginia Satir in den 1970er Jahren entwickelte Methode, um die Wahrnehmung der Familienbeziehungen von einzelnen Familienmitgliedern in eine menschliche Skulptur zu externalisieren, sichtbar zu machen und nochmals zu erleben und um sie dabei de- und neu rekonstruieren zu können. Die Skulptur ist eine Abbildung der erlebten, subjektiv wahrgenommenen Beziehungen in einem System. Satir hat dabei auch Ideen und Erfahrungen aus dem Psychodrama (Jacob Levy Moreno) übernommen, aber die »Familienskulptur« zweifellos erst zu ihrer großen Bedeutung geführt. Bei der Skulptur geht der Star in die Rolle eines Bildhauers und wählt für sein Werk aus der Gruppe Stellvertreter für die Mitglieder des Systems, das in der Skulptur abgebildet werden soll (z. B. Mutter, Vater, Schwester, Bruder und jemanden für sich selbst). Vorher wird geklärt, in welchem Lebensalter des Stars die Skulptur spielen soll (z. B. »als ich acht Jahre alt war und meine Mutter krank wurde«). Alle ausgewählten Protagonisten erfahren ihr Alter und bekommen sehr knapp gehaltene Beschreibungen der Rolle, die sie übernehmen (z. B. »beruflich sehr ehrgeizig und zu Hause wenig präsent«). Dann formt der Star seine Skulptur der Familienbeziehungen mit dem lebendigen Material und achtet bei den Stellvertretern jeweils auf die Körperhaltung, Gestik, Mimik, Blickrichtung und die Abstände zu den anderen Beteiligten. Die Protagonisten können liegen, hocken, sitzen oder stehen, auch Materialien (Podeste, Decken, Tücher usw.) können zusätzlich verwendet werden, um das Beziehungssystem zu veranschaulichen. Der Star soll sich bei dieser Arbeit Zeit lassen und wird eingeladen, die fertige Skulptur nochmals von allen Seiten anzuschauen und womöglich zu verändern. Wenn er fertig ist, darf er sich setzen, und die Protagonisten werden gebeten, die Skulptur für eine Minute einzufrieren. Anschließend fragen die 86

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Leiter alle Protagonisten nach ihrem körperlichen und emotionalen Befinden, aber auch nach ihren Gedanken und möglichen Impulsen. Der Star wird gefragt, wie es ihm mit den Echos der Protagonisten geht, vielleicht nimmt er dann kurz auch noch seinen Platz in der Skulptur ein (anstelle seines Stellvertreters). Im Anschluss daran lässt sich je nach Situation und Bedarf auf vielfältige Weise mit der Skulptur weiterarbeiten. Man kann die Protagonisten einladen, ihren Impulsen nachzugehen. Man kann den Star bitten, die Skulptur so zu verändern, wie er es sich gewünscht hätte. Man kann mit Teilen der Skulptur weiterarbeiten, wenn es z. B. darum geht, insbesondere eine Beziehung zu fokussieren, oder wir fassen die für den Star aus der Skulptur gewonnenen Erkenntnisse zusammen und arbeiten mit einer anderen Methode weiter. Familienaufstellungen, Strukturaufstellungen und ihre Varianten

Familienaufstellungen sind durch die Arbeit Bert Hellingers in den 1990er Jahren bekannt geworden, gleichzeitig ist darüber eine z. T. stark kontroverse Diskussion in Gang gekommen, was insbesondere Hellingers Anspruch, seine »Ordnungen der Liebe«, betrifft (Hellinger, 1996; Weber, 1995). Wir wollen diese Diskussion hier nicht aufgreifen, gleichwohl sie unseres Erachtens gerade unter politischen Gesichtspunkten spannend und wichtig ist: Wie gefährlich wird es, wenn Therapeuten normative Ordnungen formulieren? Unseres Erachtens ist das Bedürfnis nach solchen »Ordnungen« in unserem Lande und allen westlichen Ländern in den letzten zwanzig Jahren enorm angestiegen, was den Erfolg auch noch so fragwürdiger Führungsfiguren mit ihren vereinfachenden und verführerischen Postulaten erklärt. Andererseits glauben auch wir, dass Ordnungen und Strukturen in Systemen nicht vollkommen beliebig sind und dass auch die Methode der Familienaufstellung hilfreich ist, im Dienste des Stars etwas »in Ordnung zu bringen«. Die Familienaufstellung ist eine Abbildung der erlebten Struktur des Familiensystems, bei der es im Wesentlichen um den Platz geht, den die Systemmitglieder innerhalb des Systems haben. Aus ihrer Position heraus erleben die Stellvertretenden Gefühle und Gedanken, die denjenigen der repräsentierten Personen aus dem Familiensystem des Klienten in gewissem Maß entsprechen. Dieses Phänomen Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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wird als »repräsentierende Wahrnehmung« bezeichnet. Die Angehörigen des Klienten bzw. der Klientin werden im so strukturierten Raum der Wahrnehmungen gleichsam zu psychisch Anwesenden. Dabei werden Verstrickungen offengelegt: Aufgaben, die dem Klienten (unbewusst) aufgebürdet worden sind (Delegation) oder eine Systemdynamik, die er unbewusst (aus Loyalität zum System) selbst entwickelt hat und die sein Leben dysfunktional prägen. Wir starten Familienrekonstruktionen gelegentlich mit einer Aufstellung, weil sie dem Star und uns in relativ kurzer Zeit einen guten Einblick in die Struktur des Systems gibt und z. B. erlebte Verstrickungen oder diffuse Generationsgrenzen im Familiensystem zeigt. Die Stellvertreter übernehmen in Aufstellungen die Positionen der entsprechenden Familienmitglieder und ermöglichen so eine oft sehr eindrucksvolle Externalisierung des Erlebten. Zunächst klären wir mit dem Star, welches System aufgestellt werden soll. In Familienrekonstruktionen ist es meist das Herkunftssystem (Vater, Mutter, Star und Geschwister). Wie bei der Familienskulptur wählt der Star Stellvertreter für sich und die Mitglieder des Systems. Viele Informationen über die Personen sind hier nicht erforderlich, es reichen Name, Alter und Rolle im System. Im nächsten Schritt wird der Star ermutigt, ein inneres Bild seiner Herkunftsfamilie entstehen zu lassen und dann die einzelnen Personen an der Schulter zu fassen und so aufzustellen, wie es seinem inneren Bild entspricht. Anschließend werden die Protagonisten wie bei der Skulptur nach ihrem Empfinden gefragt, und je nach den Antworten gibt es wieder verschiedenen Möglichkeiten, weiterzuarbeiten. Wir können die Protagonisten sich ihren Impulsen überlassen und sehen, ob sich daraus ein neues Bild ergibt. Ziel der Aufstellung ist es in der Regel, zu einem Lösungsbild zu kommen. Dabei sind wir auch gerne behilflich, wenn wir z. B. die Eltern und die Kinder einander gegenüberstellen und dabei die Kinder in der Reihenfolge ihres Alters. Oft macht es Sinn, den Stellvertreter des Stars den Eltern oder einem Elternteil gegenüberzustellen, wenn wir etwa den Eindruck haben, dass es hier noch etwas zu klären gibt (Verantwortung zurückgeben, eine alte, unerfüllte Sehnsucht zum Ausdruck bringen oder ein altes Hadern beenden). Dazu ein Beispiel: 88

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Die Aufstellung meiner Familie in der Familienrekonstruktion war für mich ein intensives Erleben. Am Anfang fühlte es sich fast wie etwas Verbotenes an, im Hinterkopf kam bei mir der leise Gedanke auf, ich würde meine Familie verraten. Ich suchte mir aus der Gruppe Stellvertreter und stellte sie dann als meine beiden Eltern, meine drei Geschwister und mich auf, weiterhin baten die Therapeuten mich, noch jemanden als Stellvertreter für das Familienunternehmen aufzustellen. Sodann befragten die Therapeuten alle sieben Stellvertreter, wie es ihnen dort auf dieser Position gehe. Die Antworten der drei Stellvertreter meiner Geschwister waren für mich sehr einleuchtend und gaben in etwa das wieder, was ich auch fühlte. Dennoch war es für mich eine neue Erkenntnis. Meine Geschwister waren bisher nicht wirklich in meinem Fokus gewesen, ich hatte nie darüber nachgedacht, wie sie ihr Verhältnis zu unseren Eltern sahen. In den Antworten der Stellvertreter wurden Gefühle geäußert, die den meinigen sehr ähnlich waren, sie sprachen von dem Gefühl, sich zurückgewiesen und isoliert zu fühlen. Der Stellvertreter meines Vaters sprach von der hohen Verantwortung, das Familienunternehmen und die Familie im Blick zu haben. Der Stellvertreter des Familienunternehmens fühlte sich wohl, bedeutend, im Zentrum, eingekreist von allen. An die Antwort meiner Stellvertreterin und der Stellvertreterin meiner Mutter kann ich mich nicht erinnern. Dann wurde ich eingewechselt gegen meine Stellvertreterin, nun stand ich mit in der Aufstellung. Meine Therapeutin bat mich, die Stellvertreterin meiner Mutter zu fragen: »Warum warst du nicht für mich da, als ich dich brauchte?« Ich wiederholte den Satz, obwohl es mir sehr unangenehm war. Einen solchen Satz zu sprechen, kam mir viel zu intim vor als auch anmaßend. In meinem Aufwachsen war es mir nicht erlaubt gewesen, Liebe für mich einzufordern. In den letzten Jahren meiner Schulzeit kam es zu einigen Versuchen meiner Mutter, mir persönliche und intime Fragen zu stellen, was ich dann nicht mehr zuließ, es kam mir irgendwie verspätet und nicht mehr passend vor. Ich war es nicht gewohnt, in meiner Familie über Gefühle zu sprechen. Auch meine Eltern sprachen nie über ihre Gefühle. Mein Elternhaus war zwar offen und gastfreundlich, in Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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bestimmter Hinsicht auch tolerant und frei. Gefühle und Liebe wurden aber nicht gezeigt und schon gar nicht verbalisiert. Zuwendung gab es durch Strukturen, wie gemeinsames Essen, Rituale beim Zubettgehen oder in der Weihnachtszeit. Auf diese Frage hin »Warum warst du nicht für mich da, als ich dich brauchte?« brach die Stellvertreterin meiner Mutter in Tränen aus und sagte, dass es in diesem Umfeld mit dem Familienunternehmen und der ganzen Organisation der großen Familie und den vielen Menschen nicht gegangen sei, mir die Liebe zu geben, die ich bräuchte. Sie hätte dafür nach Hamburg in eine Wohnung ziehen müssen, weg von dem Familienunternehmen und der Schwiegermutter und allem. Diese Antwort war für mich überwältigend und brachte mir eine wirklich neue Erkenntnis. Obwohl es »nur« die Antwort einer Stellvertreterin war und meine Mutter das so bestimmt nie ausgedrückt hätte, gab die Reaktion mir eine Antwort auf meine Eingangsfrage. Denn ich verstand das erste Mal, wie sehr meine Mutter von ihrem Umfeld und vom Familienunternehmen beeinflusst und beengt gewesen war. In dem Umfeld war es ihr nicht möglich gewesen, ihre Liebe zu uns zu zeigen, ihre Leidenschaft zu leben und frei zu agieren. Sie hat von ihrem Umfeld viel Abwertung erfahren und hat diese Abwertung auch an ihre Töchter weitergegeben (siehe Bericht 1, Anhang 1).

Wenn wir den Eindruck haben, bei einer möglichen Lösung gelandet zu sein, bitten wir den Star, seinen Platz im System einzunehmen und selbst zu spüren, wie es für ihn jetzt an diesem Platz ist. Wenn es sich stimmig anfühlt, folgt häufig noch eine Art Ritual in Form eines Satzes, einer Berührung oder Umarmung oder auch der Übergabe eines Verantwortungspaketes, das eigentlich zur Mutter, zum Vater oder zu beiden Eltern gehört. Immer wieder kommt es auch vor, dass wir noch zusätzliche Protagonisten einbeziehen. Wenn sich etwa die Eltern an ihrem Platz sehr schwach fühlen bzw. sich ein Elternteil an seinem Platz so fühlt (z. B. in Verbindung mit einem eigenen schweren Schicksal, wie früher Verlust der Eltern, Flucht, Vertreibung oder andere Traumatisierungen), stellen wir deren bzw. seine Eltern als Unterstützung dahinter. 90

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Häufig begegnet uns im Vorgespräch, dass ein Teilnehmer erkennt, wie viel Verantwortung er bereits in der Kindheit für seine Eltern übernommen hat und wie unmöglich es ihm bisher erschien, diese den Eltern zurückzugeben. Das Elternbild ist derart mächtig, dass er ihnen nicht zutraut, dass sie ihre Verantwortung tragen können. In diesem Fall ist es gut, nicht nur die Großeltern, sondern eine ganze Ahnenreihe aufzubauen und erst mal den Elternteil von wiederum seinen Eltern nähren zu lassen. Das kann durch Umarmung, Halten, Trost, Anteilnahme geschehen. Danach ist es dem Teilnehmer viel eher möglich, sich selbst dem gestärkten Elternteil zuzumuten. In so einem Fall füllen wir gewissermaßen »von hinten« auf. Wir haben darüber hinaus die Möglichkeit, nicht nur Menschen, sondern auch Themen oder Begriffe wie »die Heimat« mit aufzustellen. Die Heimat (z. B. Ostpreußen) ist immer dann relevant, wenn die Eltern oder Großeltern fliehen mussten und ihre Heimat (den Hof, die Scholle, das gesamte Bezugssystem) verloren haben. Wenn es um eine Suchtthematik geht (z. B. ein alkoholabhängiger Vater), ist es immer wieder hilfreich, auch das Suchtmittel (hier den Alkohol) mit aufzustellen. Auch hier geht es um die Externalisierung des Erlebten, dem Alkohol wird eine Stimme verliehen, vertreten durch einen Protagonisten. Dadurch entstehen neue Sichtweisen, die befrieden können oder dem Lebensentwurf des Stars eine größere Freiheit ermöglichen. Womit wir in Familienrekonstruktionen auch immer wieder zu tun haben, sind Ambivalenzen. Auch diese lassen sich gut im Sinne einer Strukturaufstellung bearbeiten. Ein Star hat beispielsweise große Sehnsucht nach einer Partnerschaft, andererseits so etwas wie eine innere Gewissheit, dass ihm so etwas ohnehin nie gelingen wird. Dann können wir aufstellen: einen Vertreter für den Star, einen Vertreter für die Sehnsucht und eine Stimme für die »innere Gewissheit«. Aus dem Zusammenspiel der drei Protagonisten und ihren Impulsen ergibt sich in aller Regel für den Star ein neues Bild, indem eine neue Bedeutung erfahrbar und neue Möglichkeiten einer Integration erlebbar werden, wo vorher nur die Unvereinbarkeit war. Auch das Tetralemma (Sparrer u. Varga von Kibéd, 2009) ist eine Form der Strukturaufstellung zur Bearbeitung von Ambivalenzen, wobei hier zum »Entweder-oder« das »Sowohl-als-auch« und das Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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»Weder-noch« dazukommen und zusätzlich noch ein »Joker« (keines von den vier Möglichkeiten, sondern etwas ganz anderes). Gerade diese Form der Aufstellung ist eine schöne Metapher für systemisches Arbeiten, weil die Erhöhung der Freiheitsgrade der Methode immanent ist. Grundsätzlich halten wir es bei der Arbeit mit Aufstellungen für bedeutend, dass wir genügend Distanz zu unseren eigenen Hypothesen haben, damit wir mit dem gehen können, was sich in der Aufstellung zeigt und sie nicht durch unsere eigenen Gewissheiten manipulieren. Das ist nicht immer leicht, vor allem dann nicht, wenn sich in der Aufstellung zunächst einmal größere Abgründe auftun, als wir vorher vermutet haben. Lebenslinie mit Mutter und Vater

Diese Methode lässt sich als eine wirksame Form der »Nachbeelterung« beschreiben. Ben Furmans schöner Buchtitel »Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben« (1999) wird hier sozusagen als Methode realisiert. Nachdem die Therapeuten eine Linie quer durch den Raum mit Klebeband oder einem Seil markiert haben (beides sollte mindestens acht bis zehn Meter lang sein), wird das eine Ende der Linie als Geburt festgelegt, das andere Ende weist in die Zukunft (als Blick in die Zukunft bietet sich immer ein Fenster im Raum an). Auch ein Jetzt-Zeitpunkt wird auf der Linie so festgelegt, dass noch ausreichend Zukunft übrig bleibt (siehe Abbildung 10). Der Star wird eingeladen, sich die Linie als seinen bisherigen Lebensverlauf vorzustellen und mit den Therapeuten zusammen diese Linie entlangzugehen und sich das jeweilige Alter zu vergegenwärtigen. Die Idee ist, dass es zu jedem Zeitpunkt, an dem Abbildung 10: Lebenslinie es im Empfinden des Stars etwas 92

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

anderes gebraucht hätte, als es Mutter/Vater/Familie zur Verfügung stellen konnte, im Hier und Jetzt etwas davon zur Verfügung steht. Die Leitfrage ist also: Was hätte es hier eigentlich gebraucht? Der Star startet am Beginn der Linie, also bei seiner Geburt, möglicherweise auch schon vorher und geht mit seinem Gefühl: Immer, wenn er auf seinem Lebensweg etwas (schmerzlich) vermisst hat, kann der Star kurz etwas zur jeweiligen Situation erzählen, und gemeinsam versuchen wir dann, zu inszenieren, was in dieser Situation gut gewesen wäre. Das kann z. B. sein, dass der Vater die Verantwortung für die Sucht der Mutter übernimmt, die Eltern das Kind aus der Verantwortung für ihr eigenes Glück bzw. Unglück entlassen oder dass jetzt erstmals ein Kindergeburtstag gefeiert wird. Handlungsleitend für uns ist, dass das Kind/der Jugendliche erlebt, von den Eltern gegenüber anderen Menschen oder Institutionen geschützt und verteidigt zu werden, und Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit und Zugehörigkeit erfährt. Diese Methode braucht Zeit (bis zu 90 Minuten), und es wichtig, den Star immer wieder einzuladen, in seinem Tempo zu gehen. Als Variation ist es möglich, die Methode dahingehend zu beschränken, dass sich der Star drei oder fünf Situationen aussuchen kann, an denen etwas anderes als das tatsächlich Erfahrene notwendig gewesen wäre. Beeindruckt hat uns beispielsweise die Rekonstruktion eines Teilnehmers, der im Alter von 15 Jahren seiner Homosexualität gewahr wurde, sich damit innerhalb der Familie aber vollkommen allein und entsprechend überfordert fühlte, was damals immer wieder bis zu suizidalen Impulsen ging. Die Scham über seine sexuelle Orientierung und die Fantasie, damit die Zugehörigkeit zu seiner Familie aufs Spiel zu setzen, hatte ihn in eine existenzielle Krise gestürzt. In der Rekonstruktion konnte er jetzt offene und aufgeschlossene Eltern erleben, die sich wohlwollend und engagiert für die Veränderungen im Leben ihres Sohnes interessierten. Mit dem jetzt ausgesprochenen und erlebten Segen der Eltern für seine Homosexualität erfuhr der Teilnehmer eine große Erleichterung, die auch noch ein Jahr nach der Rekonstruktion einen spürbaren Platz in seinem Leben hatte. Hier noch ein Beispiel aus dem Bericht einer Teilnehmerin: Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Ich wurde dazu eingeladen, die Stationen meines Lebens abzulaufen von der Geburt bis zum Erwachsensein. Die Therapeuten baten mich, dabei in den Momenten innezuhalten, an denen mir – gefühlt – gute und liebevolle Eltern gefehlt haben. Ich ging mit den Therapeuten an meiner Seite mein Leben im Alter von 0 bis ca. 25 Jahre ab und hielt an ca. 5–6 Momenten an. Nun spielten die beiden Therapeuten meine Eltern in der Form von Wunscheltern. Sie gaben mir dadurch die Möglichkeit, zu erleben, wie es auch hätte sein können und wie es gewesen wäre, mit liebevollen und fürsorglichen Eltern aufzuwachsen. Sie kamen und trösteten mich, wenn ich weinte. Sie spielten mit mir. Sie ließen mich nicht alleine, sondern organisierten Babysitter. Sie waren für meine Fragen über das Erwachsenwerden da, sie akzeptierten meine Freunde. Sie spielten wunderbare Eltern, bei denen ich mich rundum aufgehoben fühlte. Durch dieses Erleben bedingungsloser Unterstützung und das Interesse an meiner Person wurde mir bewusst, auf was ich alles habe verzichten müssen und auf was ich eigentlich ein Anrecht gehabt hätte. Ich konnte mir nun vorstellen, dass früher eigentlich jemand hätte da sein müssen, wenn ich weinte und verzweifelt war. Diese Vorstellung half mir künftig in Momenten von Traurigkeit. Ich hatte nun erfahren, wie es sich anfühlt, als Kind getröstet zu werden. So lernte ich, mich quasi selbst zu trösten. Auch verstand ich durch die Familienrekonstruktion, dass das Ausmaß meiner Traurigkeit daher rührte, dass sich die Streitsituationen so anfühlten, wie das Alleingelassenwerden als Kind, und sich bei mir damit ein Gefühl existenzieller Bedrohung einstellte. Durch dieses Verstehen gelang es mir besser, auf der Erwachsenenebene zu bleiben und mir den Zugang zu meinen Ressourcen zu erhalten (siehe Bericht 2, Anhang 1).

Eine schöne Variante der Arbeit mit der Lebenslinie ist ein Ausflug in die Zukunft, auf dem sich der Star mit seinen Visionen und Entwürfen vertraut machen und spielerisch damit experimentieren kann. »Wenn du ein Ziel hast, musst du ein Bild davon haben«, sagen ja die Buddhisten, und über diese Methode entwickeln sich erfahrbare Bilder von den persönlichen Zielen, die dann durchaus auch Wirklichkeit werden können wie in folgendem Beispiel: 94

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Mithilfe eines Zeitstrahls bin ich in die Zukunft gereist. Dort war ich mit meinem Liebsten und mit meiner Tochter (durch Stellvertreter repräsentiert). Die ganze Zeit hatte ich die Zuversicht im Rücken (»eine Stellvertreterin«), die uns begleitet hat. Meine verstorbene Oma (die Mutter meines Vaters, dessen Name ich trage) hat auf uns geschaut und sich gefreut. Mein Vater hat auch durch Stellvertretung einige Worte zu mir gesagt. Die Szene war sehr emotional und anrührend. Ergebnis: Ich habe 2,5 Jahre später geheiratet, bin sehr glücklich, unsere kleine Tochter ist am 9. Juni 2016 zur Welt gekommen (siehe Bericht 13, Anhang 1).

Diese Familienrekonstruktion fand im Dezember 2012 statt, und die Tochter kam an meinem (Tobias von der Reckes) Geburtstag zur Welt, was mich natürlich besonders gefreut hat … Die Inszenierung von Geburt und/oder Taufe (Willkommen!)

Es kommen immer wieder Teilnehmende in die Familienrekonstruktion, die mit dem Gefühl groß geworden sind, nicht gewollt und eine Zumutung zu sein, sich über Gebühr anpassen oder alles hinnehmen zu müssen, was ihnen widerfährt. Wir laden dann die Teilnehmerin ein, mit uns Therapeuten als Eltern eine Willkommenssituation zu inszenieren, in der die Eltern alle Möglichkeiten haben, sich auf ihr Kind zu freuen, mit allen guten Zukunftswünschen und liebenden Hoffnungen für ihre Familie und ihr Kind. So entwickelt sich eine Situation, wie sie eigentlich jedem Kind zusteht, ganz gleich, wie die Welt sich gerade dreht. Wir »spielen« den Start ins Leben neu: halten das Neugeborene im Arm, freuen uns, sind glückliche und ganz erfüllte Eltern. Wir bieten Schutz, versorgen und ermöglichen damit die alternative Erfahrung, erwartet und willkommen in eine Familie hineingeboren zu werden. Gelegentlich inszenieren wir dann auch noch eine Tauffeier: Alle Kleingruppen bekommen etwa 15 Minuten Zeit und überlegen sich ein kleines Geschenk für die Taufe: z. B. eine Kerze, ein Gedicht, einen Taufspruch, ein Lied, einen Glücksbringer.

Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Zurückrutschen

Auch diese Methode zielt auf Themen früher Bindungserfahrungen ab, die als schwierig, brüchig oder unterbrochen erlebt wurden. Kinder, die oft enttäuscht wurden durch Zurückweisung, unterlassene Unterstützung, Beschämung, Schläge usw., leisten häufig den Schwur, nie wieder etwas zu erwarten, nie wieder etwas anzunehmen, nie wieder etwas zu brauchen. Dadurch erheben sie sich über die Eltern, auch wenn sie den erlittenen Schmerz auf diese Weise nicht verwinden und damit nicht friedlich werden können. Um dies nachträglich zu korrigieren, kann es helfen, noch mal in die kindliche Perspektive zurückzugehen und aus dieser heraus Trost, Anerkennung, Liebe und Zuwendung durch die Gruppe zu erfahren. Im Unterschied zur Lebenslinie mit Mutter oder Vater oder der Neuinszenierung von Geburt oder Taufe berücksichtigen wir hier mehr die autonomen Impulse des Stars. Das Gefühl, nicht willkommen gewesen oder immer wieder nur unzureichend versorgt worden zu sein, mündet häufig in eine Überbetonung autonomer Bestrebungen, die z. B. in einem Glaubenssatz wie »Letztlich kann man sich auf keinen Menschen wirklich verlassen« zum Ausdruck kommen. Menschen, die früh gelernt haben, im Zweifelsfall allein entscheiden zu müssen und sich nicht auf Unterstützung von anderen verlassen zu können, würden durch die beiden zuvor beschriebenen Methoden schnell unter Druck und Stress geraten. Mit der Methode des Zurückrutschens versuchen wir, der Ambivalenz zwischen unerfüllter Sehnsucht einerseits und erlernter und bewährter Autonomie andererseits gerecht zu werden. Das Prozedere ist wie folgt: Die Therapeutin sitzt als Mutter an der Wand angelehnt und lädt den Star ein, sich genau in dem Abstand, der für ihn im Moment der richtige ist, mit dem Rücken zu ihr auf den Boden zu setzen. Dann kann der Star in seinem Tempo stückchenweise zurückrutschen und jeweils überprüfen, ob der Abstand dann noch in Ordnung und erträglich ist. Das geht so lange, bis der Star entscheidet, dass es jetzt genug ist, und so behält er die Freiheit und Autonomie. Für die Therapeutin ist es dann wichtig, diese Entscheidung gebührend zu respektieren und keinen Druck dahingehend auszuüben, 96

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

dass es wirklich erst dann gut ist, wenn der Star in den Armen der Mutter landet. Für den Star ist dies eine Möglichkeit, mit der eigenen Ambivalenz zu spielen und zu überprüfen, wie viel mehr gute Abhängigkeit möglicherweise auch die eigene Autonomie stärken könnte. Auch für diese Methode ist es wichtig, achtsam im Tempo zu sein und ausreichend Zeit (etwa 30 Minuten) einzuplanen. Das Nutzen eines Chores

Diese Methode haben wir einem wunderbaren Workshop mit Jochen Schweitzer entnommen, den er unter dem Titel »Rhythm and Blues in der Systemischen Supervision« angeboten hat. Wenn z. B. in einem Star die Überlebensregeln seines Heranwachsens noch sehr mächtig sind und gewünschter Weiterentwicklung im Wege stehen, versuchen wir, mithilfe eines Chores den inneren Stimmen eine Bühne zu geben. Dabei werden von der ganzen Gruppe im Chor die Überlebensregeln bis zur Unerträglichkeit laut gesprochen. Aus den Reaktionen des Stars ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten für das weitere Vorgehen. Der Star kann aufgefordert werden, die Überlebensregeln so zu verändern, bis sie seiner Weiterentwicklung nicht mehr im Wege stehen. Wichtig ist dabei, diese nicht radikal zu verändern. Aus einer Regel »Ich muss immer auf meine Mutter achten« kann erfahrungsgemäß nicht werden »Ich muss nie auf meine Mutter achten«. Dieser Schritt wäre oft zu groß und würde auch nicht der erlebten Notwendigkeit Rechnung tragen, eher lässt sich daraus eine Regel formulieren wie »Ich muss nicht immer auf meine Mutter achten« oder »Ab und zu kann ich auch mal nur auf mich achten«. Eine weitere Möglichkeit, mit dem Chor zu arbeiten, besteht darin, dass der Star Dirigent des Chores wird, der als »Zukunftschor« die jeweiligen Sätze so spricht oder singt, dass sie einer konstruktiven Zukunftsgestaltung nicht mehr im Wege stehen. Dies geschieht durch lauteres und wieder leiseres Sprechen, in der Art variierter Aussprache und im Verlauf sich verändernder Sätze. Die finale und für den Star passende Fassung nehmen wir auf, sodass der Star seinen Chor später bei Bedarf zur Verfügung hat.

Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Verantwortung und Schuld externalisieren und zurückgeben

Das ist eine Methode, die wir oft anwenden, wenn Menschen sich für das Leben, Schicksal und Unglück von Geschwistern, Eltern oder Großeltern verantwortlich oder auch schuldig fühlen. Hierzu wird der Star gebeten, sich vor die jeweilige Chronologie zu stellen und in deren Verlauf nachzuspüren, für welches Ereignis, für welchen Schicksalsschlag und für welche Menschen er Verantwortung (Schuld) spürt. Symbolisch stapelt er jeweils die Menge an Holzklötzen oder Steinen auf, die seinem inneren Erleben dem Gewicht dieser Verantwortung entsprechen. Wenn das für alle bedeutsamen Familienmitglieder erfolgt ist, werden die Klötze bzw. Steine in Taschen, Rucksäcke oder Decken gepackt und der Star wird aufgefordert, diese Last durch den Raum zu tragen. Es ist sehr eindrücklich, wie viel Menschen tragen können. Häufig wird dem Star jetzt deutlich, dass ihm für Freude, Lust, Spaß und die Verantwortung für sich selbst oder auch für die eigenen Kinder kaum oder keine Kraft mehr bleibt. Im nächsten Schritt wird der Star eingeladen, Stellvertreter für die jeweiligen Familienmitglieder auszuwählen und ihnen nacheinander die Last der Verantwortung bzw. Schuld in Liebe zurückzugeben. Das ist sehr oft ein schwerer Gang, denn einerseits muss der Star darauf vertrauen, dass das Familienmitglied die Verantwortung übernimmt und trägt. Sollte dies nicht der Fall sein, ist dennoch zu erkennen, dass es nicht die seine ist. Unsere überwiegende Erfahrung ist jedoch, dass Stellvertreter Verantwortung, die ihnen in der Rolle gehört, gerne zurücknehmen. Es scheint in uns ein gutes und fundiertes Wissen darüber zu geben, wer wofür Verantwortung zu tragen hat. Dieses Wissen ist oft unbewusst und den Menschen im realen Leben nicht immer zugänglich. In der Anwendung dieser Methode wird es aber in aller Regel erfahrbar. Andererseits verliert der Star über diese Entlastung auch an Bedeutung, möglicherweise auch einen wesentlichen Sinn seines Lebens. Insofern ist es gut, darauf zu achten, in welcher Dosierung die Klötze bzw. Steine zurückgegeben werden und nicht unnötigen Druck unter dem Motto »Je mehr, desto besser!« aufzubauen. Und dann ist es im Anschluss an diese Methode natürlich wichtig, nach guten Alternativen zu suchen, die zum Lebensentwurf des Stars pas98

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

sen, z. B. liegen gebliebene Vorhaben aufgreifen, verlorene Leidenschaften reaktivieren oder beruflichen Visionen wieder mehr Raum geben. Das Zurückgeben von Verantwortung oder Schuld kann auch am Ende einer Skulptur- oder Aufstellungsarbeit sinnvoll sein. Ein Beispiel: Das zweite Bild: Ich trage einen Rucksack. Ich gehe im Kreis. Nach jeder gegangenen Runde wird mein Rucksack schwerer. Der Therapeut füllt ihn mit Steinen. Nach jeder Runde werden es mehr. Ich spüre das Gewicht nicht. Ich schaue in die Runde der anderen Teilnehmer. Die meisten weinen. Aus Mitgefühl. Ich spüre nichts. Nur wenn ich in die Gesichter der anderen schaue, nehme ich etwas wahr. Und der Therapeut beschwert meinen Rucksack. Mehr und mehr. Ich spüre nichts. Nicht die Last. Nicht die Schwere. Es ist vielmehr ein vertrautes Gefühl. Ich kenne es seit meinem ersten Atemzug. Ich kenne das Gefühl, den Kopf schon früh selber halten zu müssen, nicht um Hilfe zu bitten, Verantwortung zu tragen. Für meine traumatisierte Mutter, die mir nie eine nährende Mutter sein konnte. Und für meinen Vater, der seine innere Leere und Sprachlosigkeit mit Alkohol versuchte zu lindern. Und der Rucksack wurde noch schwerer. Die Steine waren verbraucht. Ich spüre die Schwere noch immer nicht. Die Gruppe weint. Ich bin irritiert über ihr Mitgefühl. Habe ich doch für mich selber keins. Ich soll den Rucksack meinem Vater zurückgeben. Er soll gefälligst tragen, was er zu tragen hat. Ich tue, wie mir der Therapeut empfiehlt. Noch kann ich es nicht fühlen. Die Erleichterung. Die Befreiung. Noch ist es eher im Kopf, nicht im Herzen. Das Schlussbild: Ich schaue in die Zukunft. Sie ist befreit. Meine Schultern sind leicht. Ich darf mich um mein Leben kümmern. Das alte bleibt hinter mir. Und ein Entschluss: Mit mir soll dieses Muster enden. Meine Kinder sollen ihr Leben leben. Nach vorne schauen. Leicht. Ich fange an, zu spüren, wie das Leben ohne einen Rucksack sein kann (siehe Bericht 6, Anhang 1).

Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Traumatische Schicksale (Migration, Heimatverlust, Not, Gewalt, Verluste) inszenieren, würdigen, teilen, Zeugenschaft herstellen

Solche Familienschicksale sind häufig mit einer gewissen Sprachlosigkeit verbunden und am unaussprechlichen Leid darf nicht gerührt werden. Es scheint nicht aushaltbar und Erstarrung das geringere Übel. Bindung findet dann häufig über Struktur und nicht mehr über Beziehungsgesten statt. Beispielsweise erzählte mir (dem Autor) ein Onkel von einem der schrecklichen Bombenangriffe auf seine Heimatstatt Hamm. Unterwegs in der Stadt konnte er sich in letzter Minute in einen Bunker retten und überlebte den Angriff mit einigen Schrammen. Danach irrte er zunächst orientierungslos durch die verwüsteten Straßen, überall Tote und Verletzte – ein einziges Bild des Elends. Um 19.10 Uhr erreichte er sein Zuhause und öffnete die Tür. Seine Mutter saß am gedeckten Tisch und – noch erstarrt von Angst – brachte nur noch den Satz über die Lippen: »Wir essen um 19.00 Uhr!« Oftmals begegnet uns dann eine »verkehrte Welt«: Kinder kümmern sich emotional um ihre Eltern, stellen keine Ansprüche mehr und machen sich unsichtbar. Der erste Schritt der Bearbeitung solcher Themen passiert schon bei der Recherche der Chronologie der Familie, durch das Erzählen in der Kleingruppe, das Dokumentieren in Form von Wandzeitungen und im Vorgespräch mit den Therapeuten. Es wird deutlich, wie schlimm es wirklich erlebt wurde. In der Familienrekonstruktion im Plenum wird dann ein Stück der Geschichte szenisch nachgespielt, z. B. die Flucht der Eltern als Kinder aus Ostpreußen, die Ankunft als unbegleiteter Jugendlicher allein in Hamburg 1945, die Beerdigung eines geliebten Elternteils. Durch den Trost und die Empathie der Teilnehmer und Therapeuten kommt etwas von der Erstarrung, Versteinerung, Abspaltung in Bewegung, wird lebendig und dadurch integrierbar. Immer wieder geht es darum, sich selbst zu glauben, dass es wirklich schlimm war, und dafür Resonanz aus der Gruppe zu bekommen. Die Gruppe als Ausdruck von Zeugenschaft spielt eine entscheidende Rolle, und immer wieder wird deutlich, dass es zur guten Verarbeitung solch traumatischer Erfahrungen kollektiver Bemühungen bedarf. Und die Gruppe ist dafür ein passendes Modell. Gerade wenn es um Erfahrungen des Krieges (Bomben, Flucht, Tote) geht, entzünden wir am Ende solcher Inszenierungen immer 100

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

wieder viele Kerzen, um das damals entstandene Leid gemeinsam zu würdigen. Ausgewählte Gesprächsrunden

Eine ganz ähnliche Intention wie mit der (Re-)Inszenierung verfolgen wir mit einer anderen, weniger aufwendigen und ähnlich wirksamen Methode. Ein Star mit einem besonders einschneidenden bzw. belastenden Erlebnis (oder mehreren solcher Erlebnisse) in der Familiengeschichte oder im eigenen Leben wählt sich aus der Gruppe einige Mitglieder und bildet mit ihnen in der Mitte des Plenums einen Sitzkreis auf dem Boden. In diesem Kreis erzählt der Star den anderen von seinen Erlebnissen oder dem Schicksal der Familie. Die anderen im Sitzkreis hören aufmerksam zu und geben anschließend der Reihe nach ein mitfühlendes Echo. Die anderen Gruppenteilnehmenden sitzen im Außenkreis und sorgen gemeinsam metaphorisch für einen sicheren Rahmen. Beispielsweise erzählte eine aus England stammende Teilnehmerin über ihre schwierigen Erfahrungen am Anfang ihrer Zeit in Deutschland und nutzte hierfür ihre Muttersprache. Darüber entstand eine sehr berührende und tragende Zeugenschaft auch für die Gruppenmitglieder, die kaum Englisch verstanden. Eine andere Teilnehmerin, deren Familie am Ende des Krieges aus Polen geflüchtet war, berichtete erstmals über die Missbrauchserfahrungen ihrer Großmutter, Mutter und Tante und sprach sich sichtlich die ganze Not der Frauen ihrer Familie von der Seele. Und noch ein Beispiel: Roswitha8, geboren 1976, ist das jüngste von fünf Geschwistern. Ihr Vater ist 1939 geboren, ihre Mutter 1941, beide sind also Kriegskinder. Sie bewirtschaften den Bauernhof, dem die Mutter entstammt. Dieser Hof brennt 1961 ab, im gleichen Jahr lernen sich die Eltern kennen. 1988, Roswitha ist zwölf Jahre alt, brennt der Hof erneut ab, eine für sie traumatische Erfahrung, die wir in der Rekonstruktion bearbeiten. 8 Alle Namen von Teilnehmenden an den Familienrekonstruktionen sind geändert. Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Roswitha wünscht sich im Vorgespräch, dass es mit ihrer eigenen »kleinen Familie« (sie ist verheiratet und hat eine 2001 geborene Tochter) gut weitergeht. Im Vorgespräch zeigt sie sich als eine Frau, die sehr früh gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen und sich sehr für die Verbindung der Menschen (nicht nur der Mitglieder in ihrer Familie) zuständig zu fühlen. Das bringt uns auf die Idee, in der Rekonstruktion dafür zu sorgen, dass sie mit anderen in gute Verbindung kommt. Wir lassen Roswitha vier Personen aus der Gruppe aussuchen. Mit denen setzt sie sich in die Mitte des Raumes auf den Boden und wird von uns eingeladen, dieser Gruppe davon zu erzählen, wie es ihr damals ergangen ist, als sie von der Schule heimkommend den brennenden Hof sah. Dabei hat sie mit ihren Zeuginnen der Geschichte noch einmal Gelegenheit, das Erlebte zu teilen und zu betrauern. Die anderen hören zu, nehmen Anteil und gehen der Frage nach, was Roswitha damals gebraucht hätte. Im Erleben damals fühlte sie sich mutterseelenallein. Wir erzählen zum Abschluss von der »kleinen Roswitha«, die in gewisser Weise mit zwölf erstarrt und »stehen geblieben« ist, und regen sie an, diesen Teil ihrer selbst immer mal wieder liebevoll fürsorglich an die Hand zu nehmen, ihm Sicherheit zu geben, sich um ihn und seine Bedürfnisse zu kümmern.

Unsere Idee war, dass Roswitha damals, als der Hof abbrannte, sehr einsam war und sie jetzt noch mal Gelegenheit bekommt, diese Erfahrung mit anderen, ihr wichtigen Menschen zu teilen. Ganz offensichtlich waren ihre Eltern damals nicht in der Lage, ihre jüngste Tochter zu trösten und in ihrer Not zu sehen. Schon der Brand des Hofes, der die Existenz der gesamten Familie bedrohte, hat sie in einen Stressverarbeitungsmodus im Dienste des eigenen Überlebens versetzt. Wie ihre kindlichen Erfahrungen mit kriegsversehrten und bereits einmal »abgebrannten« Eltern noch dazu beigetragen haben, haben wir in dieser Rekonstruktion gar nicht eruiert. Wenn ein Kind so ein Erlebnis hat, kommt es oft vor, dass dieser Anteil quasi zu dem Zeitpunkt »einfriert« und nicht älter wird. Es ist dann so, als würde es immer noch oder immer wieder brennen, als wäre es immer noch in dieser Angst erstarrt. Zu schnell erwachsen 102

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

zu werden (»das Ende der Kindheit«), ist dann häufig die Folge. Jetzt gemeinsam noch einmal auf diese Szene zu schauen, heißt dann, »zu schmelzen«, was eingefroren ist und in der Folge die Option, sich selbst bzw. seinen Kindern liebevoll vermitteln zu können, dass das Leben gut weitergegangen ist. Solche Runden belegen eindrucksvoll die alte Erfahrung, dass Leiden geringer wird, wenn es geteilt wird. Und die Möglichkeit dieses Teilens hat eine sehr stärkende und entlastende Wirkung, das Leid wird gewissermaßen kollektiv getragen. Gespräche führen, die nicht stattgefunden haben bzw. nicht stattfinden konnten

Eine Frage im Vorgespräch lautet: Gibt es eine (oder mehrere) nicht gestellte Frage(n) an eine oder mehrere Personen, die nicht mehr leben oder denen aus anderen Gründen diese Frage(n) nicht gestellt werden kann (können)? Wenn sich in einer solchen nicht gestellten Frage Bedeutung, exponierte Stellung oder zentraler Wert eines Elternteils oder eines anderen Familienmitglieds für den Star zeigt, simulieren wir ein Gespräch zwischen Star und der entsprechenden Person. Der Star sucht sich im Raum einen stimmigen Platz und richtet sich für das Gespräch ein mit allem Erforderlichen, wie Stühle, Lampe, Tisch usw. Einer der Therapeuten nimmt die Rolle des Elternteils bzw. der wichtigen Person ein und spricht aus der Rolle des Vaters, der Mutter usw. mit dem Star. Das Ziel dieses Gespräches ist, auszusprechen, was nicht gesagt oder gefragt werden konnte oder durfte, die Annahme des eigenen Schicksals, Frieden zu finden, gehört zu werden, wirklich aus der Rolle des Kindes sprechen zu können und nicht aus einer übergeordneten bewertenden. Der Elternteil (bzw. die sonstige wichtige Person) rechtfertigt sich nicht für das Geschehene, sondern erzählt möglicherweise, wie es ihm damals gegangen ist, übernimmt jetzt Verantwortung für seine Anteile und gibt Rückmeldungen über das Gehörte. Verharrt ein Star in der Anklage, könnte eine elterliche Rückmeldung sein: »So ziehe ich mich zurück und kann dir nicht nah sein, auch wenn du es dir so wünschst.« Ist alles gesagt, kommt es zur Verabschiedung. Meist mit einer anderen Kontaktmöglichkeit, als sie vor dem Gespräch Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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bestand. Oft ist jetzt Blickkontakt, reduzierter Abstand, Berührung, manchmal auch eine Umarmung möglich. Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Rita ist 1952 geboren, ihr Bruder 1954, ihre Mutter 1919, ihr Vater 1910. Der Vater war 1939 bis 1945 im Krieg (Polen, Frankreich, Italien und Russland). Offensichtlich musste er nicht lange in Kriegsgefangenschaft und arbeitete ab 1946 als Lehrer. Rita beschreibt ihn als vom Krieg deutlich gezeichnet und in der Familie nur wenig präsent. Rita schildert im Vorgespräch zwei Szenen, in denen dies deutlich wird: Im Alter von etwa acht Jahren ist sie mit ihrem Vater auf dem Spielplatz und verletzt sich am Schienbein an der Schaukel an einer Eisenstange. Ihre heftigen Schmerzen behält sie für sich und lässt sich nichts anmerken. Offensichtlich folgt sie einem inneren Glaubenssatz, ihren Vater nicht mit eigener Not zusätzlich belasten zu dürfen. Mit 14 Jahren wird sie von einem »Freund der Familie« sexuell missbraucht, wieder behält sie die Erfahrung für sich, zum einen, um ihre Eltern nicht zu belasten, zum anderen, weil sie sich offensichtlich keine Unterstützung erhofft, selbst wenn sie ihre Erfahrung berichten würde. Als ihr Anliegen formuliert sie, dass es in ihrem Leben etwas leichter werden solle, sie wolle souveräner werden und sich sicherer fühlen.

In der Vorbereitung dieser Rekonstruktion sehen wir vorrangig den Vater, gefangen in seinen Überlebensstrategien aus dem Krieg, die ihn gewissermaßen blind und taub für die Schmerzen der eigenen Tochter machen. Deshalb entscheiden wir uns für einen Dialog zwischen ihm (vertreten durch mich, den Autor) und ihr. In diesem Dialog gibt es eine gewissermaßen psychoedukative Komponente, nämlich eine plausible Information darüber, wie ich als stellvertretender Vater durch meine Erfahrungen im Krieg das Mitgefühl für die Menschen in meiner Umgebung verloren habe: »Durch meine Kriegserfahrungen wurden Kontrolle-und-Fassung-Bewahren zur entscheidenden Überlebensstrategie und die ist mir (leider) auch nach dem Krieg geblieben. Bis zum Ende meines Lebens habe ich gebraucht, wirklich zu erfassen, dass der Krieg vorbei ist. Was ich 104

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aber auch mit Sicherheit immer wieder tun würde: deine Mutter heiraten, denn das war eine glückbringende Entscheidung, die uns zwei wunderbare Kinder beschert hat.« Im weiteren Dialog mit der Tochter habe ich drei Steine mitgebracht, Symbole dafür, was ich im Leben getragen und wahrscheinlich »meiner« Tochter unbewusst übertragen (»vererbt«) habe. Deshalb gebe ich sie ihr. Ich bitte »meine Tochter«, mir mindestens einen dieser Steine zurückzugeben, weil er zu mir gehöre und ich nicht möchte, dass ihr Leben weiter von dieser Last beschwert werde. Ich schildere ihr, dass ich, wo ich jetzt bin, gemeinsam mit vielen Leidensgenossen etwas anderes mit diesen Steinen tue: Wir bauen damit schöne Häuser und gestalten rituelle Feuerstellen. Dann sitzen wir ums Feuer und teilen miteinander all die Geschichten, die zu teilen wir zu Lebzeiten leider nicht in der Lage waren. Und am Feuer erzählen wir auch gerne, dass es mit unseren Kindern und Kindeskindern gut weitergegangen ist. Abschließend gebe ich »meiner Tochter« gerne meinen Segen für den Weg, den sie auf der Erde noch vor sich hat, und mein absolutes Einverständnis, dass sie es sich auf diesem Weg auch etwas leichter als bisher machen kann. »Meiner Tochter« überlasse ich die Regie für den Abschluss und sie wünscht sich eine innige Umarmung mit »ihrem Vater«, die sie dann auch gut annehmen kann. Wenn wir wie hier in die Rolle eines Elternteils (oder anderen Verwandten) gehen, haben wir immer die Vorstellung, dass diese Menschen jetzt sagen können (sich so verhalten können), wie es ihnen im realen Leben aufgrund welcher Umstände auch immer nicht möglich war, also wenn sie so könnten, wie sie es eigentlich gewollt haben. In diesem Fall: Der Krieg ist vorbei und die Überlebensstrategie des Vaters, nämlich Fassung und Kontrolle bewahren, ist nicht mehr notwendig. In dieser Rekonstruktion starte ich mit den Satz »Ich sehe dich und ich bin stolz auf dich«, was ich zum Ende der Rekonstruktion auch noch einmal wiederhole. Das scheint im Kern zu treffen, was Rita so vermisst hat. Inhaltlich habe ich dann die beiden Szenen, die Rita im Vorgespräch berichtet, genutzt und sie in unserem VaterTochter-Dialog so neu inszeniert, wie es sich eigentlich gehört hätte: »Natürlich sehe und fühle ich den großen Schmerz an der Schaukel, Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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nehme dich in den Arm und tröste dich, bis die Tränen getrocknet sind. Und dann gehen wir beide ein schönes Eis essen.« Zum sexuellen Übergriff durch diesen fragwürdigen »Freund der Familie« sage ich: »Wahrscheinlich hätten wir ihn gar nicht als Freund akzeptiert und es wäre zu dem Übergriff auf dich gar nicht gekommen, weil wir ein wachsames Auge auf dich gehabt hätten. Und wer immer sich an den Grenzen der Intimität meiner Tochter bewegt hätte, hätte es schnell mit mir zu tun bekommen!« So werden der Schmerz der Tochter und ihre damaligen Gefühle gesehen und gewürdigt. Und die Gefühle bekommen ihre Berechtigung und müssen nicht länger in Selbstzweifel transformiert werden. Auch aus solchen kindlichen und jugendlichen Erfahrungen erwachsende Glaubenssätze (oft regelrecht Erbstücke aus den Erfahrungen traumatisierter Eltern) werden obsolet: »Ich muss es allein tragen«, »Ich muss es für mich behalten« oder »Ich darf keine Schwäche zeigen« bleiben nicht länger Überschriften für den eigenen Lebensentwurf. Schmerz als zum Leben gehörend muss nicht länger abgespalten werden und wird mit einer heilsamen Erfahrung gekoppelt: Der Schmerz wird kleiner und geht auch wieder schnell weg, wenn er mit wichtigen Bezugspersonen geteilt werden kann. Erfinden und Inszenieren neuer Wirklichkeiten: Parts Party, Märchen, Feste

Die Parts Party (aus dem Methodenkoffer Virginia Satirs) geht von der begründeten Annahme aus, dass es funktional voneinander abgrenzbare »Teile« in der Psyche des Menschen gibt, die nach Selbstausdruck und Verwirklichung ihrer Funktion streben. Sie sollten nicht unterdrückt werden, da sie elementare Bestandteile der Ganzheit des Selbst sind. Blockieren sich solche Teile gegenseitig, so ist es das Ziel der Parts Party, ihre Beziehung untereinander zu einer wechselseitigen Kooperation zu transformieren. Dafür werden diese Teile durch Prominente repräsentiert und in Szene gesetzt. Teilnehmende nehmen dann diese Rollen ein, verkleiden sich entsprechend und äußern einen prägnanten Satz aus dieser Rolle heraus, der das Ziel des Stars unterstützt. Diese Kräfte sollen einander nicht ausschließen oder blockieren, sondern durch ein konstruktives Zusammenspiel die Zukunftsvisionen des Stars unterstützen und befördern. Dazu ein Beispiel: 106

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Im dritten Teil sollte ich einmal beschreiben, wie für mich eine tolle erwachsene Frau sei. Ich nannte Beispiele und Adjektive und beschrieb Vorbilder. Daraus wurde eine ganz persönliche Theatervorführung für mich entwickelt. Die Frauen aus der gesamten Rekonstruktionsteilnehmerrunde verkleideten sich u. a. als Kleopatra (»Die Welt soll mir zur Füßen liegen«), Sophia Loren (»Ich liebe meine Lust«), Clara Schumann (»Musik ist meine Leidenschaft«) und Marie Curie (»Ich stelle mich meinem Verstand«). Ich bekam die Sätze auf Karten geschrieben überreicht und musste sie so lange dem »Auditorium«, bestehend aus den Männern der Teilnehmerrunde und dem Therapeutenteam, vorsprechen, bis sie sie mir glauben konnten (siehe Bericht 11, Anhang 1).

Beim Märchen kann die Geschichte des Stars in eine Märchenmetapher gekleidet werden und seine Geschichte dahingehend umgedeutet werden, dass eine geglückte Zukunft erfunden und in der Inszenierung auch erlebt wird. Das Ganze kann unter Zuhilfenahme der anderen Teilnehmenden im Rollenspiel erlebt werden. Ein Fest zu begehen, kann dann hilfreich sein, wenn es beispielsweise darum geht, das Ende eines Krieges zu feiern, der nun im Erleben wirklich zum Ende gekommen ist. In dieser Form lässt sich auch eine nicht vollzogene Würdigung nachholen oder feierlich der Amtsantritt der Person begehen, die man ist und eben nicht die, die man sein sollte. Der Zauberladen

Der Zauberladen ist eine sehr schöne Methode, mit der sich die Idee des Konstruktivismus kreativ für die Veränderung und Neukonstruktion von Wirklichkeit nutzen lässt. Die Methode entstammt dem Psychodrama und wird ausführlich von Hilarion Petzold (1971) beschrieben. Wir haben den Zauberladen im Rahmen eines Workshops mit Ulf Klein 2012 in Essen kennengelernt und nur zu gerne in unser Repertoire aufgenommen. An seinem Arbeitspapier orientieren wir uns im folgenden Vorgehen: Der Therapeut als Regisseur richtet symbolisch einen Laden ein, am besten mit einem Tisch als Ladentheke vor sich, einer Pinnwand hinter sich und einem Stuhl für seine »Kunden« vor dem Tisch. Das Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Ganze ist so ausgerichtet, dass die Zuschauer die Szene gut überblicken. Auf dem Tisch liegen zwei verschiedenfarbige Stapel von Moderationskarten und dicke Filzstifte. Zu Beginn stellt sich der Therapeut in der Rolle des »Ladenbesitzers« vor und spricht den Star, für den wir diese Methode gewählt haben, als potenziellen Kunden an: »Herzlich willkommen hier in meinem Zauberladen, mit dem ich jetzt schon einige Jahre unterwegs bin. In meinem Zauberladen kannst du erwerben, was du sonst nicht und nirgends kaufen kannst: Kraft, Liebe, Ausgeglichenheit, Mut und vieles andere, was du für dein Leben gut brauchen kannst.« Dann beginnt ein intensives und durchaus ernstes Verkaufs­ gespräch, in dem mit dem Star geklärt wird, was er im Laden gerne erwerben würde. Wenn er sich für ein »Produkt« entschieden hat, geht es darum, aus einer beratenden Position heraus einige wichtige Fragen zu stellen: Was verspricht sich der Star vom Erwerb genau dieses Produktes? Was würde sich nach dem Erwerb in seinem Leben verändern, was würde er dann womöglich mehr, was womöglich weniger tun? Mit welchen Risiken und Nebenwirkungen ist bei der gut dosierten Anwendung dieses Produktes zu rechnen und sind diese möglichen Nebenwirkungen akzeptabel? Wer beispielsweise ein Stück Bescheidenheit erwerben möchte, muss wahrscheinlich damit rechnen, dass er auch ein Stück an Bedeutung verliert. Im Rahmen dieses Gesprächs kann sich die Auswahl des Produktes durchaus noch einmal verändern, möglicherweise kommt sogar noch ein zweites Produkt auf den Wunschzettel. Wenn der Ladenbesitzer mit dem Kunden übereinkommt, dass der Erwerb des gewünschten Produktes sinnvoll ist (das kann schon mal 20 Minuten dauern, bis das Ganze wirklich gut besprochen und abgewogen ist), geht es in die Preisverhandlung. Auch im Zauberladen gibt es nichts umsonst, allerdings ist die Bezahlung mit Bargeld oder Kreditkarte hier nicht möglich. Der Ladenbesitzer muss also erfragen, was der Kunde ansonsten für den Erwerb seines Wunschproduktes zu geben bereit ist. Gerne bieten Kunden dann etwas an, was der eigenen Perspektive im Wege steht oder zu stehen scheint. Wer etwa Mut kaufen will, bietet erst mal gerne Feigheit, und wer ein Stück Ehrgeiz erwerben will, möchte gerne hierfür seine Faulheit geben. Solche Angebote sind natürlich nicht akzeptabel, was man 108

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

mit dem Hinweis deutlich machen kann, dass Feigheit und Faulheit zu Ladenhütern werden, die man nie wieder an den Mann oder die Frau bringen kann (und schließlich muss auch ein Zauberladenbesitzer von seinem Geschäft leben!). Es braucht also eine Gegenleistung, die wiederverkäuflich ist, der Kunde muss etwas von seinem Gewinn abgeben, damit es ein guter Handel wird. Beispielsweise könnte der Erwerb von Mut ein Stück Konfliktfreiheit oder Harmonie kosten, für Bescheidenheit könnte die Bezahlung mit Ehrgeiz angemessen sein. Da gilt es also durchaus gut und hartnäckig zu verhandeln. Zeichnet sich hier ein Ergebnis ab, gilt es noch, über die Packungsgröße zu sprechen. Hier ist es sinnvoll, sich auf eine im Moment passende Menge (in Gramm, Litern oder Kubikzentimetern) zu verständigen, möglich sind Großpackungen, Normalgrößen oder auch Probefläschchen. Am Ende des Verkaufsgesprächs kommt oft eine Einigung auf der Basis von Anteilen zustande (z. B. 40 % Mut für 40 % Harmoniebedürfnis). Am Ende steht dann der Geschäftsabschluss, Produkt und Zahlungsmittel werden auf Moderationskarten geschrieben und ausgetauscht. Auch hier sind noch alle möglichen Variationen wie Ratenzahlungen, Leihverträge o. ä. denkbar. Wir verweisen gerne auch auf Neuerungen des Handels über Internet, die eine Modifikation des Geschäfts oder die Vereinbarung eines neuen Handels auch nach der Familienrekonstruktion ermöglichen. Tatsächlich haben Teilnehmende davon schon Gebrauch gemacht. Informationen zum historischen Kontext

Informationen zum historischen Kontext sind nicht eine eigene Methode, aber nach unserer Erfahrung in Familienrekonstruktionen immer wieder für alle Beteiligten sinnvoll und nützlich. Dann lesen wir z. B. einen kurzen Abschnitt über die Erfahrungen von Flüchtlingen aus Ostpreußen im Winter 1944/45 oder die spezifische Situation eines Ortes in Oberbayern im Januar 1945 oder den Augenzeugenbericht eines Zeitzeugen über den Feuersturm in Hamburg 1943. Wissen über historische Entwicklungen und Ereignisse kann helfen, Verhaltensweisen von Menschen besser einzuordnen, und hat so oft eine entlastende Wirkung. Es waren dann womöglich nicht psychopathologische Symptome einzelner Menschen, die zu einem Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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abstoßenden Verhalten oder schwer verständlichen Entscheidungen geführt haben, sondern es waren schlicht die Zeit und die entsprechenden Umstände, die Wahlmöglichkeiten erheblich eingeschränkt oder auch gänzlich verhindert haben. 3.3.4 Nach dem Abschluss einer Rekonstruktion und zum Ausklang der Woche

Nach dem Abschluss jeder Rekonstruktion machen wir eine kurze Feedbackrunde, in der es darum geht, dass alle Teilnehmenden mitteilen können, an welchen Stellen sie selbst berührt wurden und welcher Teil des eigenen Lebens in dieser Rekonstruktion angesprochen wurde (»Sharing«). Es geht also weder darum, die gerade erlebte Familienrekonstruktion auf einer Metaebene zu reflektieren, noch zusätzliche Hypothesen oder Ratschläge an den Star zu formulieren oder methodische Fragen zu klären. Es geht einfach um das Teilen der Gefühle und Anmutungen, die gerade im Raum sind, und da ist es gut, wenn jeder ausschließlich von sich zur Gruppe spricht und gar nicht unmittelbar an die Adresse des Stars. Der Star hat dann immer das Schlusswort und teilt der Gruppe mit, was er noch sagen möchte. Dann ist diese Rekonstruktion beendet und alle Materialien werden von der entsprechenden Kleingruppe abgehängt. Die nächste Kleingruppe kann dann aufhängen und mit ihr wird der Start des nächsten Vorgesprächs geklärt und mit der ganzen Gruppe, wann sie die Materialien des nächsten Stars lesen kann und wann es dann im Plenum weitergeht. Bei Familienrekonstruktionen im Weiterbildungskontext laden wir die ganze Gruppe schon zu Beginn der Woche ein, ihre methodischen und theoretischen Fragen zu notieren. Wir bestimmen dann einen bestimmten Zeitraum im Verlauf der Woche, den wir zur Beantwortung dieser Fragen im Plenum nutzen. Für Weiterbildungskandidatinnen und -kandidaten ist es natürlich wichtig, sich auch auf der Metaebene zu begegnen und Methodisches und Theoretisches gemeinsam zu reflektieren, so dass die Erfahrungen und Erlebnisse im Sinne des Curriculums erfahrbar und nutzbar werden und nicht ausschließlich in der Kategorie Selbsterfahrung verbleiben. Dieser Prozess kann natürlich in den verbleibenden Seminaren 110

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

der Weiterbildung, insbesondere dem Seminar nach der Familienrekonstruktion fortgesetzt werden. Wenn die letzte Rekonstruktion erfolgt ist, geht die Woche langsam ihrem Ende entgegen, häufig verbunden mit dem Wunsch der Gruppe, zum Abschluss einen geselligen Abend mit uns zu verbringen, an dem gemeinsam gegessen, getrunken, gesungen, gespielt und getanzt wird. Diese Abende sind ein nicht zu unterschätzender Bestandteil solcher Seminare und sie schaffen nicht zuletzt eine liebevoll-humorvolle Distanz zur großen Intensität der ganzen Woche, die wir schmunzelnd auch gerne als »Psychocamp« bezeichnen. Immer wieder haben wir an solchen Abenden auch großartige kabarettistische Einlagen erlebt, die diesen Effekt in bester Weise unterstrichen haben. Und eine Gruppe hat uns sogar zum Abschluss der Weiterbildung mehrere Exemplare eines selbst zusammengestellten Songbooks überreicht, damit künftige Gruppen ausreichend Texte und Akkorde zum Singen haben. Die haben wir gerne und oft genutzt und laden alle Gruppen in der Vorbereitung ein, Musikinstrumente zur Rekonstruktion mitzubringen. Am letzten Tag kommt dann die obligatorische Abschlussrunde. In dieser Runde formulieren wir die Gedanken zu den Risiken und Nebenwirkungen von Familienrekonstruktionen (siehe nächster Abschnitt). Ansonsten machen wir es gerne folgendermaßen: Jede(r) Teilnehmer(in) hat zehn Minuten Zeit und sucht sich draußen jeweils ein Symbol für das, was sie oder er gerne mitnehmen möchte und eines für das, was sie oder er gerne hier lassen möchte. Dann kommen wir zusammen und jeder sagt etwas zu seinen Symbolen, zum Erleben in der Woche, zur Gruppe, zur Leitung und was es sonst noch zu sagen gibt. 3.3.5 Aus der Packungsbeilage: Risiken und Nebenwirkungen einer Familienrekonstruktion

In diesem Abschnitt fassen wir einige wichtige Hinweise zusammen, die »Familienrekonstrukteure« ihren Teilnehmenden am Ende einer Rekonstruktion mit auf den Weg geben sollten. Beginnen wir mit einem ganz pragmatischen Hinweis: Wie vermutlich schon deutlich geworden ist, machen die Teilnehmenden im Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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Laufe einer Rekonstruktionswoche eine ganze Menge zum Teil sehr intensiver Erfahrungen. Es ist ja nicht nur die eigene Rekonstruktion, die bewegt und in der Seele arbeitet, sondern jeder ist an jeder anderen Rekonstruktion mehr oder weniger intensiv beteiligt und in jeder einzelnen Rekonstruktion ist auch mindestens ein Aspekt des eigenen Lebens berührt. Deshalb ist es gut, zum Abschluss einer Rekonstruktion darauf hinzuweisen, dass sich insbesondere Autofahrer auf dem Heimweg gut auf den Verkehr konzentrieren sollten, um so das bekannte Phänomen der Autobahntrance zu vermeiden. Vor lauter Beschäftigung mit den Gefühlen, Themen und Schicksalen, die in dieser Woche »auf die Bühne kamen«, weiß man dann gar nicht mehr, wie man von a nach b gekommen ist – kein für die Verkehrssicherheit erstrebenswerter Zustand. Aber keine Angst: Nach unserer Erfahrung reicht dieser Hinweis für ein sicheres Ankommen zu Hause. Dann ist es wichtig, zu wissen, dass Familienrekonstruktionen, was ihre Wirkung betrifft, eine relativ lange »Reifungsszeit« haben. Wirkungen können sich natürlich auch unmittelbar nach der Rekonstruktion einstellen, häufig aber auch erst ein Jahr danach oder später. Wie genau das zu erklären ist, wissen wir nicht. Wir glauben aber, dass Geist und Seele, Kopf und Herz ihre Zeit brauchen, um während der Rekonstruktion erlebte Erfahrungen zu verarbeiten und in das eigene Leben zu integrieren. Dabei ist unsere Psyche offensichtlich deutlich langsamer als die mittlerweile gewohnte sonstige Geschwindigkeit des Lebens. Mit dieser Erfahrung verbindet sich ein weiterer, wichtiger Hinweis: Wenn Teilnehmende einer Rekonstruktion nach Hause kommen, sind sie gut beraten, ersten Impulsen, gleich aktiv zu werden, in aller Gelassenheit zu widerstehen. Ein solcher Impuls könnte sein, die Mutter anzurufen und ihr ungefragt alles mitzuteilen, was man ihr schon seit Jahren sagen wollte. Oder ein anderer Impuls: In den Keller gehen und alle Gegenstände ausmisten, die mit der jetzt neu betrachteten Vergangenheit in ungutem Zusammenhang stehen könnten. Nicht, dass solche Impulse per se schlecht wären, aber die Erfahrung lehrt uns: Es ist besser, erst einmal gar nichts zu tun und die jüngsten Erfahrungen ein paar Wochen oder auch Monate gären zu lassen. Dabei kann man darauf vertrauen, dass die wichtigen Impulse nicht verloren gehen. 112

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

Interessanterweise haben viele Teilnehmende berichtet, dass sich in ihrem persönlichen oder auch professionellen Umfeld deutliche positive Veränderungen ergeben haben, auch wenn sie – vermeintlich – aktiv gar nichts dazu beigetragen haben. Solche Berichte erinnern mich (den Autor) immer an eine Geschichte, die Paul Watzlawick gerne auf Kongressen erzählt hat: Zu ihm kommt eine attraktive 45-jährige Klientin, die als Chefsekretärin in einer Gemeinschaftspraxis mit drei Ärzten tätig ist. Mit zwei dieser Ärzte habe sie ein wunderbares Auskommen, weshalb sie auch gerne in der Praxis bleiben würde. Aber mit dem dritten Doktor sei es wirklich eine Katastrophe, und wenn sich da nicht in absehbarer Zeit etwas verändere, müsse sie die Stelle kündigen, weil sie es seelisch einfach nicht mehr aushalte. Auf Nachfrage berichtet sie, dieser Doktor würde sie regelmäßig vor Patienten »zur Schnecke« machen und so abwertend behandeln, dass sie mittlerweile kaum an etwas anderes denken könne, unter massiven Schlafstörungen leide und eben bereits eine Kündigung erwäge. Paul Watzlawick hört sich die Geschichte in Ruhe an und sagt nach einigem Nachdenken: »Ich hätte da schon eine Idee, aber ich bin nicht sicher, ob ich sie Ihnen sagen soll.« Die Klientin wird natürlich neugierig und drängt ihren Therapeuten, ihr zu sagen, was er denkt. Watzlawick zögert, so geht es eine Zeit lang hin und her, bis er ihr schließlich sagt: »Also gut, ich sage, was ich Ihnen rate. Das nächste Mal, wenn wieder so eine Situation kommt und dieser Doktor Sie vor Patienten abwertet, machen Sie Folgendes: Sie warten, bis die Patienten gegangen sind, nehmen dann Ihren ganzen Mut zusammen und gehen zur Tür dieses Arztes. Sie klopfen an, und wenn er Sie hereinbittet, atmen Sie tief durch und sagen ihm: ›Wissen Sie Herr Doktor, jedes Mal, wenn Sie mich wie gerade eben vor Patienten so niedermachen, erregt mich das wahnsinnig!‹ Soweit die Geschichte – und ihre Wirkung? Nach diesem Termin bei Paul Watzlawick kam es nie wieder vor, dass dieser Arzt die Frau vor Patienten schlecht behandelte, die Klientin kam also gar nicht dazu, Watzlawicks Rat in die Tat umzusetzen.

Zurück zu unseren Hinweisen. Partnerinnen und Partner sind natürlich oft ganz neugierig, zu hören, was ihre Liebsten bei der FamilienreDie Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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konstruktion wohl erlebt, gefühlt und gelernt haben. Möglicherweise sind sie auch ängstlich angespannt, ob Themen der Partnerschaft zur Sprache gekommen sind und die Beziehung womöglich sogar infrage gestellt wurde. Auch hier ist es für die Teilnehmenden wichtig, ob und wann sie ihren Liebsten etwas erzählen möchten. Die Partner und Partnerinnen waren am Prozess (in aller Regel) nicht beteiligt und reagieren möglicherweise in ganz anderer Weise als gewünscht oder erhofft. Man kann also ruhig sagen: »Lass mir bitte noch ein wenig Zeit, bis sich die Erfahrungen dieser Woche etwas gesetzt haben, dann erzähle ich dir gerne in aller Ruhe, was ich erlebt habe. Dann können wir auch gerne darüber reden, ob diese Erfahrungen für uns als Paar eine Bedeutung haben.« Im Sinne des Selbstschutzes ist es ratsam, die dichten Erfahrungen einer Rekonstruktionswoche fürs Erste für sich zu behalten und nicht gleich zu »veröffentlichen«. Das heißt nicht, dass gar nichts erzählt werden sollte, aber es ist gut, achtsam und sich selbst gegenüber sensibel mit Mitteilungen zu sein. Gelegentlich kommt es nach Familienrekonstruktionen zu Irritationen, Gefühlen von Konfusion und auch der Ratlosigkeit, was das jetzt alles für das weitere Leben bedeuten könnte. Solche Irritationen sind aus unserer Sicht normal, und es ist gut, Teilnehmende auf diese mögliche Nebenwirkung hinzuweisen. Gleichzeitig halten wir es im Sinne unserer Verantwortung für wichtig, dass wir nach der Rekonstruktion für die Teilnehmenden erreich- und ansprechbar sind. »Meldet euch bitte bei uns oder einem von uns, wenn euch irgendetwas komisch vorkommt! Gerne können wir dann auch zeitnah einen Termin vereinbaren und darüber reden.« Und wenn wir selbst mit solchen Irritationen rechnen oder unsicher sind, welche Wirkungen sich nach der Rekonstruktion zeigen könnten, rufen wir auch von uns aus an und fragen nach. Wir betonen auch gerne, dass Familienrekonstruktion, ä­ hnlich wie alle therapeutischen Interventionen und Selbsterfahrungssemi­ nare, durchaus mit einer großen Verantwortung verbunden sind. Sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist zweifellos eine Grundlage für diese Arbeit. Dazu gehört, dass Familienrekonstruktion immer auch ein Risiko ist, so wie es riskant ist, Kinder zu bekommen und sie großzuziehen. Wir sind Menschen und machen Fehler; manchmal übersehen wir einen wichtigen Aspekt, manchmal »verlieben wir 114

Handwerkszeug: Wie funktioniert Familienrekonstruktion praktisch?

uns« in eine eigene Hypothese, manchmal achten wir eine Spur zu wenig auf die Dynamik in der Gruppe und manchmal überfordern wir einen Teilnehmenden mit der von uns gewählten Intervention. Glücklicherweise ist uns das nur selten passiert, aber es passiert eben gelegentlich. Und da müssen wir zu unserer Verantwortung stehen, sie übernehmen und auch darüber nachdenken, wie wir nach der Rekonstruktion vorgehen, um Missverständnisse zu klären, eigene Fehler eingestehen und einen Beitrag leisten können, um möglicherweise bei der Rekonstruktion entstandene Not zu lindern und wiedergutzumachen. Wir meinen, in einem Buch, in dem beschrieben wird, wie es geht oder gehen könnte, muss immer auch zugegeben werden, dass es manchmal nicht geht und was wir dann tun können und vielleicht auch müssen. In Zeiten, in denen professionelle Beratung und Therapie eine unseres Erachtens schon zu große Bedeutung erlangt haben, gehören Bescheidenheit und Demut zum Fundament professionellen Handelns, was nicht im Widerspruch zur Überzeugung und Begeisterung steht, mit der wir diese Arbeit immer wieder tun. Wir meinen, diese Haltung ist auch dann besonders wichtig, wenn wir über die politische Dimension unserer Arbeit nachdenken. Wenn sie ein Beitrag zu einem besseren Miteinander der Menschen in größeren Zusammenhängen sein soll, müssen wir auch in gutem Kontakt mit unserer Begrenztheit sein. Das schützt uns auch vor Anflügen von Größenfantasien und beugt einer meist tragisch endenden Karriere als »Prophet« vor, die heute immer wieder schnell auf ein breites und offensichtlich bedürftiges Publikum stößt, das früher oder später dann doch mit nicht erfüllten Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht zurückbleibt – nur um auf den nächsten Propheten zu warten. Und dazu passt noch ein pragmatischer Hinweis für uns, die wir Familienrekonstruktionen leiten: Es ist auf jeden Fall ratsam, ein oder zwei Tage nach Abschluss einer Rekonstruktion wirklich freizunehmen und sich nicht gleich in die nächste Arbeit zu stürzen. Wir haben auch lange gebraucht, diese Empfehlung ernst zu nehmen und arbeiten daran, sie umzusetzen.

Die Familienrekonstruktion im Seminarhaus

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4  Wie wirkt Familienrekonstruktion?

4.1  Allgemeine Bemerkungen und ein Beispiel Wir schicken voraus, dass wir als Praktiker keine wissenschaftliche Evaluation betrieben haben. Wir formulieren also lediglich unsere Hypothesen über die Wirksamkeit und lassen einige unserer Teilnehmenden zu Wort kommen, die aus ihrer Sicht über die Wirkung sprechen. Sicher wäre es lohnenswert, die Wirksamkeit dieser Arbeit auch wissenschaftlich zu untersuchen, wir geben aber zu bedenken, dass dies zweifellos ein komplexes Unterfangen ist, weil in dieser Arbeit so viele Faktoren eine Rolle spielen, die sich wissenschaftlich wohl nur mit großer Mühe differenzieren und voneinander abgrenzen lassen. Die Teilnehmenden sind ebenso unterschiedlich wie die Gruppen, mit denen wir Familienrekonstruktionen machen. Auch wir unterscheiden uns voneinander und unsere Arbeit heute unterscheidet sich von der Arbeit, wie wir sie vor zehn Jahren gemacht haben. Dazu kommt eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden und das komplexe Systemgefüge aus einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, der Gruppe, den Therapeuten und den mannigfachen Wechselwirkungen zwischen allen Beteiligten. Und wir arbeiten mit diesem Format nicht streng standardisiert, sondern lassen uns – abgesehen von den in Kapitel 3 beschriebenen gleichbleibenden Rahmenbedingungen (Vorbereitung, Arbeit in den Triaden, Vorgespräch) – immer auch von den Menschen und ihren Anliegen führen. Martin Schmidt (2003) hat in seiner Arbeit den Versuch unternommen, die von ihm durchgeführten Familienrekonstruktionen

zu evaluieren und kommt dabei – zusammengefasst – zu folgenden Ergebnissen: ȤȤ Kurzfristige Wirkungen der Familienrekonstruktion sind nicht ausgeschlossen, aber eher selten. Das stimmt mit unseren Erfahrungen überein. Die »Reifungsszeit« einer Rekonstruktion liegt etwa bei einem Jahr, dieser Hinweis ist für Teilnehmende immer wieder wichtig. Veränderungen im Leben dauern offensichtlich länger, als es die Geschwindigkeit des Lebens heute suggeriert. ȤȤ Familienrekonstruktionen fördern die Zunahme persönlicher Autorität. ȤȤ Familienrekonstruktionen unterstützen die Autonomie der Teilnehmenden. ȤȤ Familienrekonstruktionen führen zu einer Abnahme interpersoneller Probleme. Diese Ergebnisse decken sich mit unseren Erfahrungen. Offensichtlich leisten Familienrekonstruktionen einen Beitrag dazu, dass sich Menschen eher der Gestaltungsmöglichkeiten ihres Lebens bewusst werden und sich ihrer Familiengeschichte gegenüber weniger ausgeliefert fühlen. Dabei geht es keinesfalls darum, Familiengeschichten schönzureden (auch wenn sich tatsächlich manche Erfahrungen durchaus positiv umdeuten lassen). Im Gegenteil: Nach unserer Erfahrung liegt die größte Kraft für Veränderungen da, wo der Schmerz am größten ist. Und das bedeutet, dass die Würdigung von Leid und Not vor Zeugenschaft offensichtlich ein wichtiger Schlüssel ist, für sich und sein Leben neue Perspektiven zu entdecken, zu entwickeln und ins Leben zu bringen. Gunthard Weber hat es in einem Seminar einmal so formuliert: »Man muss das Schlimme anschauen, damit etwas Gutes daraus wird.« Wenn wir über die Wirkung von Familienrekonstruktionen nachdenken, bleiben wir erneut am Begriff »Familienrekonstruktion« hängen, mit dem wir eine gewisse Mühe haben – bis jetzt konnten wir allerdings noch keinen besseren, geeigneteren, aussagekräftigeren finden: Ziel ist ja nicht, die Familie zu rekonstruieren, also wiederherzustellen. Vielmehr versuchen wir, die in der Familie entstandenen Bilder und Überzeugungen des Teilnehmers zu dekonstruieren und dabei behilflich zu sein, eine für seine Ziele 118

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

und Wünsche zweckmäßigere Fassung seiner Wirklichkeit zu konstruieren. In der Familienrekonstruktion soll der Teilnehmer eigene und die von den Eltern übernommenen Konstruktionen systematisch dekonstruieren. In unserem Heranwachsen werden wir durch die Lebensbedingungen, die wir vorfinden, mehr oder weniger stark beeindruckt. Jeder Mensch bringt unterschiedliche Vorrausetzungen für die Wahrnehmung und Verarbeitung seiner Lebensumwelt mit, d. h., je nach persönlicher Ausstattung werden wir von unseren Lebensbedingungen beeindruckt. Im Laufe unseres Lebens können wir die eine oder andere Einbuchtung, Reduktion, Deformierung überwinden, ausbeulen, weiten. Großwerden heißt dann, sich gewissermaßen durch das Nadelöhr aller uns beeindruckenden Einflüsse hindurch zu entwickeln und darüber eine eigene Identität zu bilden. Das Nadelöhr hat sich aus vielen Facetten zusammengesetzt, nicht alle stammen aus dem Kern Familiensystem, sondern gleichermaßen aus der Familienumwelt, aus dem sozialen Netzwerk wie Gemeinde, Kirchenkreis usw. und den sozialen und politischen Bedingungen, in dem dieses System existiert. Die erlebten Einschränkungen und Entbehrungen sind nicht Abbildung einer sogenannten »objektiven Realität«, sondern individuell und systemisch durch Bedeutungsgebungen und Interpunktionen von Ereignissen im Familiensystem und der Umwelt entstanden und entwickelt worden. So entstehen in der Familie und dem sie umgebenden Rahmen individuelle stabile Wirklichkeitskonstruktionen, die Sinn machen und als individuelle Strategien verstanden werden können, in der familiären Umwelt leben und überleben zu können, auch wenn diese Strategien noch so hinderlich für die eigenen Lebensziele sein mögen. Diese Wirklichkeitskonstruktion setzen Ereignisse in einen gewissen Erklärungszusammenhang, z. B. folgendermaßen: »Mein Vater, Jahrgang 1947, war Alkoholiker, weil er Sohn eines gefallenen Soldaten war. Meine Großmutter war ledig, weil er so schnell eingezogen wurde. Die Schande, ein uneheliches Kind zu sein, hat er in dem kleinen Dörfchen nicht verkraftet.« (Die Geschichte kann nicht stimmen, 1947 war in Europa kein Krieg mehr). Durch RecherAllgemeine Bemerkungen und ein Beispiel

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chen stellte sich heraus: Der Vater war Sohn des Großbauern im Ort und seine Großmutter Magd bei ihm, sie wurde hinausgeworfen, als sie schwanger wurde. Die Wirklichkeitskonstruktion, von einem Soldaten abzustammen, machte aber für das System zum damaligen Zeitpunkt Sinn. Mehr Beschämung war wohl nicht erträglich. So blieb der Großmutter etwas Würde. Für ihren Enkel war das sicher eine zweifelhafte Lösung. Die Wirklichkeitskonstruktion des Systems der Großmutter nahm ihm die Möglichkeit, sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen, sich möglicherweise zu befrieden. Die Frage des Teilnehmers lautete damals: »Wieso fühle ich mich so wurzellos und unverbunden mit der Welt, wo sie doch so überschaubar und klein ist?«

Die Bedeutungsgebung setzt Ereignisse in eine Reihenfolge, die wiederum individuelle Kausalzusammenhänge schafft. Diese werden in der Rekonstruktion zunächst offengelegt, um zu einer Antwort auf die Frage des Teilnehmers zu kommen. Die Fokussierung auf bestimmte Ausschnitte der Familiengeschichte erfolgt also auftragsgebunden. Die Therapeuten sind immer an die Anliegen der Teilnehmenden gebunden, ganz gleich, was ihres Erachtens nach auch noch eine wichtige Fragestellung, Thematik oder Problemlage des Herkunftsfamiliensystems zu sein scheint. Die im Vorgespräch formulierte Fragen der Teilnehmenden dienen der Orientierung bzw. als Wegweiser durch die Familiengeschichten auf der Suche nach möglichen Entstehungszusammenhängen für Wirklichkeitskonstruktionen des Systems, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung durchaus Sinn für den Fortbestand des System darstellten, für heute aber hinderlich für die Lebensziele der Teilnehmenden sind. Die präsentierten Familienchronologien, Genogramme und die anderen vorbereiteten Materialien betrachten wir aus dem Blickwinkel der Frage des Teilnehmers. Hypothesen werden von Therapeut oder Therapeutin aus der Position von Beobachtern aufgestellt. Sie sollen möglichst zirkulär ausgerichtet sein und verschiedene Systemmitglieder sowie den zeitlichen und geschichtlichen Kontext mit einbeziehen. In den Hypothesen werden »Wirklichkeiten« angeboten, die in der bisherigen Rekonstruktion der Familiengeschichte des Teilneh120

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

mers nicht vorkommen. Das schafft die Möglichkeit einer Neubewertung von Ereignissen. So wird die Möglichkeit zur Umdeutung angeboten. Hypothesen können von der Person bei ihrer Rekonstruktion angenommen oder auch verworfen werden. Hypothesen sind insofern als Angebot zu verstehen, andere Sichtweisen zu integrieren. System und Umwelt bedingen sich. Wer oder was zum System oder zur Umwelt gehört, wird systemintern verhandelt. Die bisherigen Grenzen, die im System gezogen wurden, stellen häufig eine einschränkende, irritierende, unverständliche Wirklichkeit dar, die wir in den Anliegen der Teilnehmenden wiederfinden. Dabei ist alles, was nicht zum System gehört, Teil der Umwelt und umgekehrt. Insofern sind System und Umwelt stets miteinander verflochten. Die Beobachtung eines Systems aus der Position der Umwelt beinhaltet also schon eine Unterscheidung. War es also in dem Beispiel für das Weiterleben der Großmutter in ihrem Dorf damals wichtig, die Wirklichkeit genau so zu konstruieren, so haben sich heute die Bedingungen geändert, und es lässt sich eine neue Möglichkeit denken, vielleicht sogar aussprechen, möglicherweise sogar veröffentlichen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist ja auch, dass durch die Tat des Großbauern, die Moral des Dorfes, die Scham der Betroffenen und das Frauenbild der damaligen Zeit ein Mensch aus seinen Wir-Bezügen herauskatapultiert und vereinzelt wurde.

Beobachter können ein System betrachten und beschreiben. Beschreibungen beinhalten Deutungen und Bewertungen, sie sind nicht objektiv, denn Beobachter nehmen schon eine Unterscheidung in System und Umwelt vor. In der Beobachtung nehmen die Beobachter für sie selbst bedeutsame Unterschiede wahr. So ist die therapeutische Betrachtung eines Familiensystems selbst subjektiv und muss deshalb reflexiv erfolgen. Soziale Systeme sind Interaktionssysteme, in denen über Kommunikation Wirklichkeitskonstruktionen geschaffen werden. Auf diese Weise können die Mitglieder eines sozialen Systems mithilfe kommunikativer Prozesse Wirklichkeiten erschaffen, die sie gemeinsam für wahr halten. Allgemeine (systemübergreifende) Allgemeine Bemerkungen und ein Beispiel

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Wahrheiten sind jedoch auf diese Art nicht zu finden. »Probleme« entstehen durch die Bewertung eines Geschehens oder einer Person als »problematisch«. Therapeuten wissen zunächst nicht, welche Bedeutung ein System einer Handlung oder einem Geschehen gibt. Sie müssen dies aus einer Haltung des Nichtwissens und der Neugier erfragen. Komplexität entsteht durch Systembildungen, in denen die einzelnen Elemente des Systems in Beziehung zueinander stehen. Je mehr Elemente zu einem System gehören, desto schwieriger wird es, jedes einzelne Element in Beziehung zu allen anderen zu verstehen: Das führt zur Selektion der Relationen. Somit werden Möglichkeiten der Beziehungen zwischen Elementen eines Systems vom System selbst ausgeschlossen. In unserem Fallbeispiel wurde vom System nicht berücksichtigt, dass dem unehelichen Sohn und damit auch dessen Sohn, dem Teilnehmer also, die Identität und damit der – wenn auch problematische – Vater bzw. Großvater genommen wurde, ebenso seine Verwandten väterlicherseits und nicht zuletzt auch sein Erbe. Auch wurde die Rehabilitation der Großmutter nie in Betracht bezogen. Durch eine Aufstellung der ganzen Familie und Repräsentanten des Dorfes wurde dem Teilnehmer diese andere Wirklichkeitskonstruktion angeboten. Die Wirkung war beeindruckend, zum ersten Mal sah er seine ganze Sippe mit all ihren zu klärenden Konflikten und die Aufgaben, vor denen sich das Dorf »gedrückt« hatte und deren Bewältigung noch aussteht.

Die gewählte Methode soll komplexitätserhaltend und -erweiternd sein, um andere Relationen in den Fokus nehmen zu können, die bisherige Deutung von Geschehnissen des Klienten soll »angemessen irritiert« werden. Im Glauben, dadurch der »Deformierung« zu entgehen, greifen nicht wenige Menschen zum Mittel des Kontaktabbruchs, gepaart mit Ärger und Zorn, Enttäuschung und Verbitterung. Dadurch lösen sich die Blessuren und Beulen aber nicht auf.

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Das lässt sich an dem Fallbeispiel eindrücklich zeigen. Infolge der Familienrekonstruktion konfrontierte der Teilnehmer seine Großmutter und seinen Vater mit seiner Vermutung, die mit viel Scham und Verzweiflung der Großmutter eingestanden wurde. Es kam darauf in der Familie zu einer bis dahin ungekannten Nähe. Der Teilnehmer suchte gemeinsam mit seinem Vater die Familie seines Großvaters (der mittlerweile verstorben war) auf. Durch Vermittlung des Dorfpfarrers kam es zu einem versöhnlichen Gespräch.

Durch die Dekonstruktion der eigenen Wirklichkeit und die Konstruktion einer neuen, hilfreicheren, lassen sich die Ziele der Familienrekonstruktion erreichen, die wir bereits in Kapitel 2.4 skizziert haben. Hier geht es darum, die tatsächlichen Wirkungen ausführlich zu beschreiben und anhand von Beispielen und Auszügen aus Rekonstruktionsberichten zu belegen.

4.2  Versöhnung, Befriedung und Heilung alter Wunden Gefühle von Verstrickung, Abhängigkeit, Ausgeliefertsein, Unterlegenheit, Verwundung und Verletzung erfahren die Möglichkeit von Veränderung, indem ich sie erst einmal externalisiere, d. h. sie wahrnehme, sie mir vorlege, mich dazu bekenne, die Scham überwinde und sie mir eingestehe. Die therapeutische Arbeit während der Familienrekonstruktion schafft Zeugenschaft der Therapeuten und der ganzen Gruppe. Dies bedeutet die Anerkennung des erlittenen Leids. Häufig tritt dadurch Versöhnung mit dem eigenen Schicksal ein und ermöglicht eine Befriedung mit den beteiligten Menschen. Ein Satz, der all dies umfasst, lautet häufig: »Ich nehme mein Leben mit allem Drum und Dran an, auch um den Preis, den es mich – und möglicherweise andere – gekostet hat.« Der Zustand der Verstrickung löst sich nicht selten zugunsten einer größeren Autonomie auf, die eine neue Bezogen- und Verbundenheit mit den Eltern und der Herkunft ermöglicht. Auch wenn Versöhnung, beispielsweise durch die Schwere der erlittenen Misshandlung, nicht denkbar ist, kann die Familienrekonstruktion zur Heilung alter Wunden beitragen, dazu ein Beispiel: Versöhnung, Befriedung und Heilung alter Wunden

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Als dann die erste Reko lief, ich an der Bearbeitung der immer noch wirkenden Themen meiner Kollegen in verschieden Rollen beteiligt war, da wurde mir sehr klar, welch wirksames Instrument diese Arbeit für den Einzelnen sein kann. Mit der großen Chance, Wunden, die immer noch schwelen, abheilen und vernarben zu lassen. Auch alle anderen erlebten in ihrer Reko etwas Heilsames, manchmal auf sehr eindrucksvolle Weise, manchmal auch ganz still. Das Team, das mit uns arbeitete hatte für jeden ein Instrument, das helfen konnte, ein einflussreiches Ereignis oder Erlebnis noch einmal aufzugreifen und über das Erzählen hinaus noch einmal greifbar und begreifbar zu machen. Alle konnten etwas, was in ihnen schmerzhaft wirkte wie ein verwachsenes Projektil, ein Stück weit erst einmal sehen, ja noch einmal fühlen, noch einmal in der geschützten Inszenierung tief durchleben, um dann – davon distanziert – den Schritt der Integration statt der Verdrängung gehen zu können. Irgendwann war es dann so weit: Ich stand mit dem Rekoteam vor meiner bildlosen plakativen Geschichte und dann fiel der Satz: »Dein Vater wollte dich ja vernichten!« Und die nächste Frage war: »Was willst du mit den schlimmen Anteilen deiner Geschichte tun?« Ich war erst einmal erleichtert, hier sollte kein Detail noch einmal hervorgeholt werden, ganz im Gegenteil, ich bekam die Absolution mit dieser Geschichte aus meiner Kindheit und Jugend, so umzugehen, wie ich wollte. Ich habe mich entschlossen, alles, was da stand, mit aller Kraft herunterzureißen und dann zu vernichten. Der Schritt, den ich schon vor so vielen Jahren unternommen hatte, wurde nun in einem feierlichen Ritual ein weiteres Mal – offen und ohne, dass ich mich rechtfertigen sollte – wiederholt, als wichtig hervorgehoben und abgeschlossen. Mir wurde ganz selber überlassen, was ich mit den zerfetzten Seiten tun wollte: Ich habe die Papierreste mit allen zusammen in einem feierlichen Ring verbrannt. Meine Reko wurde vollständig mit dem Schritt, dass mir eine neue Familie geschenkt wurde, in der alle Teilnehmer sich aussuchen konnten, wer von meinen neuen Verwandten sie sein wollten und was sie mir mit auf den Weg geben wollten. Ein Schritt, der eine neue Geborgenheit in mir entstehen ließ. Nachdem ich mich scharf und zum Selbstschutz von meiner biologischen Ursprungsfamilie getrennt hatte, habe ich immer gedacht: Du suchst dir in deinen 124

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

Freunden eine eigene Familie deiner Wahl. Jetzt war mir auch dieser Schritt der Bewältigung noch einmal tief fühlbar und ganz »offiziell« unter der Anleitung der Rekoleitung ermöglicht worden. Als Abschlussritual konnte ich mir wünschen, auf den Schultern der männlichen Teilnehmer und zweier Helfer durch den Raum getragen zu werden. Ich durfte fühlen, wie es ist, von positiver männlicher Energie angenommen und in Geborgenheit gehalten und getragen zu werden – als heilsames Gegenstück des als kastrierend erlebten aggressiven Verhaltens meines biologischen Erzeugers. Es tat gut, in der Rekonstruktion das Gefühl zu bekommen und das auch von kompetenter Seite, dass das, was du für die Rettung deiner Seele, deines Selbst und auch wohl deines Lebens als Schritt und dann in der jahrelangen Arbeit getan hast, wertvoll war und der richtige Weg. Gerade so, als hätte ich eine späte Absolution erteilt bekommen. Jetzt fällt es schwer, zu beschreiben, welche Wirkung die Rekonstruktion auf mein weiteres Leben hatte, denn ich war schon auf dem Weg. Ich kam nicht bedürftig in die Reko, mit einem verborgenen Gespenst, dass mit seinem Gift auf mein Unterbewusstsein wirkt. Mein Leben war zum Zeitpunkt der Reko schon sehr glücklich, auch wenn sich dieses Glück erst nach vielen Wirren einstellte. Die gesamte systemische Ausbildung einschließlich der Reko hat mich ruhiger, gelassener und dankbar gegenüber dem Leben gemacht. Ich darf jetzt leben, was ich lebe und das fühlt sich so an, als wenn ich nach harter Arbeit auf einem steinigen Acker, der sehr fruchtbar geworden ist, einfach nur ernte. Auch die Ernte ist noch Arbeit, aber eine wunderschöne. Die Rekonstruktion wirkt da immer noch wie ein Geschenk, ich weiß, wie wichtig es ist, loszulassen. Mir ist es wichtig geworden, meine oft sehr leidenden Klienten genau bei diesem Schritt zu helfen, damit sie dann in der sicher von ihnen beschränkten Gegenwart den Wert ihres Lebens erkennen und im Alltäglichen leben können (siehe Bericht 3, Anhang 1).

Versöhnung, Befriedung und Heilung alter Wunden

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4.3  Verankerung – Verwurzelung Im Zuge der Befriedung und Versöhnung gelingt es den Teilnehmenden meistens, ihre Zugehörigkeit zum Herkunftsfamiliensystem anzuerkennen und anzunehmen. Darüber hinaus stellt sich oftmals das Gefühl ein, trotz allem auch aus einem »guten Stall« zu kommen, der neben den Herausforderungen, die er an das Leben stellt, auch Kräfte und Ressourcen bereithält. Die Verwurzelung in der eigenen Familiengeschichte stärkt das Selbstwertgefühl und damit die Autonomie in Verbundenheit. Oft kommt es zu Aussagen wie »Ich bin auch eine Müller« oder »Ich bin auch ein bisschen wie meine Mutter/mein Vater«. Eine Teilnehmerin formulierte es einmal mit folgenden Worten: »Ich habe mich meiner Herkunft immer geschämt und mein Elternhaus verleugnet, heute bin ich stolz auf meine Eltern und darauf, dass sie mir so eine gute Bildung ermöglicht haben, sie gehören zu mir und ich zu ihnen.« Die Versuche, im Individuellen sein Glück zu finden, sind sicher dem Zeitgeist geschuldet, führen aber nicht selten zu Vereinsamung, fehlender Zugehörigkeit und Unsicherheit. Wohingegen Zugehörigkeit ohne Ausgeliefertsein ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit, Selbstwert und Sicherheit ermöglicht. Sich auf diese Weise mit der Herkunftsfamilie und seinen Wurzeln zu verbinden, stellt häufig eine große Herausforderung dar, haben doch viele Eltern und Großeltern durch Flucht, Vertreibung (Beer, 2011; Burk, Feese, Krauss u. a., 2013) und Verluste ihre Sicherheit verloren. Ihre Antwort war häufig, eher auf Sicherheit durch Strukturen zu setzen, d. h. durch Kontrolle und feste, rigide einzuhaltende Rituale. Eine neue Antwort kann dann sein: »Ich biete meinen Eltern einen lebendigen Kontakt und lasse mich nicht mehr durch Bemerkungen wie ›Nie meldest du dich‹ oder ›Warum kommt ihr nicht Heiligabend?‹ in ein schlechtes Gewissen und damit in die Abgrenzung strukturieren. Mit anderen Worten, ich frage mich, was ich für einen Ausdruck für meine Zugehörigkeit zu meinen Wurzeln möchte und stehe dafür ein.«

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Wie wirkt Familienrekonstruktion?

4.4  Kräfte – Ressourcen Die Kräfte und Ressourcen der Herkunftsfamilie zu nutzen, bedeutet, sie für meine Lebensziele einsetzbar zu machen, auch wenn meine Vorfahren diese Kräfte für Ziele gebraucht haben, die nicht meine sind. Also sie so zu nutzen, dass sie zu meinen Werten, zu meiner ethischen Haltung passen. Eine Teilnehmerin, die immer erstarrte und handlungsunfähig wurde, wenn wichtige Entscheidungen für ihr Leben anstanden, entdeckte in der Familienrekonstruktion die große Stärke ihrer Großmutter, die sehr willensstark und durchsetzungsfähig war. Sie hatte allerdings keinen guten Ruf in der Familie, da sie ihren Willen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt hat. In der Familienrekonstruktion bekannte sich die Teilnehmerin unter Zeugenschaft der ganzen Gruppe zu den Kräften ihrer Großmutter und distanzierte sich von ihrer egoistischen Nutzung. Die Gruppe war stärker als das Verbot der Herkunftsfamilie, die Großmutter auch nur in Teilen zu schätzen. Im Anschluss daran suchte sie eine Körperhaltung, in der sie sich stark und kräftig fühlte und hielt eine Antrittsrede.

Es kann gut gelingen, sich Kompetenzen der oder eines Vorfahren anzueignen (»zu erben«), was sich dann in Aussagen ausdrückt wie: »Ich will die Willenskraft, Durchsetzungsstärke, Geduld, Lebenslust, Risikobereitschaft meines Vater/meines Großvaters/meiner Großmutter übernehmen und für meine Lebensziele nutzen.« Viele Teilnehmende konnten im Laufe der auf die Rekonstruktion folgenden Jahre ein Studium aufnehmen, eine Dissertation in Angriff nehmen, Partnerschaften eingehen und sich für die Elternschaft entscheiden oder sich gegen grenzverletzendes Verhalten zur Wehr setzen.

Kräfte – Ressourcen

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4.5  Grenzen ziehen – Klären der Verantwortung Unter Grenzenziehen haben viele Teilnehmende vor der Familienrekonstruktion verstanden, sich gegenüber Erwartungen, z. B. der Eltern, abzugrenzen. Dabei waren sie häufig in einem gefühlten Alter zwischen 15 und 18 gefangen – agierten also nicht aus dem Gefühl eines souveränen Erwachsenen, der aktiv seine Grenzen definiert, sondern eher als ein Jugendlicher, der nur reaktiv rebelliert. Teilnehmende beschreiben, dass sie sich nach der Rekonstruktion in diesem Punkt mit einer inneren Klarheit ausgestattet fühlten. Vorher hatten sich viele auf große Auseinandersetzungen zur Wahrung und Verteidigung ihrer Grenzen eingestellt, dies war aber nicht nötig. Erstmalig brauchten sie keine Anstrengung aufzubringen, es gelang wie von Geisterhand, offensichtlich, so die Annahme, strahlten sie ihre Grenzziehung einfach aus. Daneben gibt es, wenn auch sehr selten, eine völlig unversöhnliche Variante. Dazu ein Beispiel: Mit 16 Jahren griff mein Vater mich zu ersten Mal direkt an. Ich hatte versucht, einer meiner älteren Schwestern zur Hilfe zu eilen, als mein Vater wieder einmal sturzbetrunken nicht zur Ruhe zu bringen war. Am nächsten Tag, er hatte sich im Suff verschiedene Verletzungen zugezogen, die er mir zuschrieb, drohte er mir: »Wenn ich das nächste Mal betrunken bin, dann nimm dich in acht!« Als es nach Wochen dazu kam, schloss ich mich in mein Zimmer ein und er wollte hinein. Am Ende schlug er die Tür gewaltsam ein, und ich floh mitten in der Nacht mit meinem Moped. Ich wusste nicht wohin. Meine Freunde traute ich mich nicht zu wecken, also verbrachte ich den Rest der Nacht auf der Straße. Das Leben meines dominanten Vaters war durchzogen von depressiven Episoden, Tablettensucht, Alkoholexzessen, Machtmissbrauch in seiner Familie und später auch sexuellem Missbrauch an meinen Schwestern (siehe Bericht 3, Anhang 1).

Manche Familiensysteme sind für die darin lebenden Kinder so zerstörerisch, dass sie im Erwachsenenleben erst durch eine Familienrekonstruktion die Erlaubnis und Akzeptanz erfahren können, 128

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

klare Grenzen zu setzen. Das unterstützt eine gute Annahme und Integration des eigenen Schicksals. Ein Teilnehmer drückte das mit folgenden Worten aus: »Die Vorstellung, meinem mich und meine Geschwister verprügelnden, missbrauchenden, zerstörerischen Vater vergeben zu sollen, war mir eine Horrorvorstellung. Die Erlaubnis der Gruppe und der Therapeuten, meinem Vater nicht vergeben zu müssen, tat mir wirklich gut, auch wenn ich weiß, dass ich keine Erlaubnis brauche.«

4.6  Realitäten herstellen Wirklichkeitskonstruktionen in Familiensystemen haben immer auch mit Systeminteressen zu tun. Wir haben es – gefühlt – bei jeder zweiten Rekonstruktion in der Herkunftsfamilie mit Gegnern gegen das NS-Regimes zu tun. Eva Sternheim-Peters schreibt in ihrem Lebensbericht: »Habe ich denn allein gejubelt?« (2015, S. 406 f.): »Die friedliche Koexistenz von loyaler Amtswahrnehmung und klammheimlichem Widerstand erhob sich 1945 strahlend wie ein Phönix aus der Asche des Dritten Reiches. Die selbsternannten Widerstandskämpfer der ›Stunde Null‹ wussten sich so eindrucksvoll darzustellen, dass sie im öffentlichen Bewusstsein den Widerstand jener weit in den Schatten stellten, die lange ›weg von Fenster‹ gewesen waren und erst bei Kriegsende aus dem KZ, aus der Emigration oder dem Untergrund auftauchten.« Was im Großen galt, gilt auch im Kleinen. Zum Beispiel glaubte der Staatsekretär Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt in der NS-Zeit, sich allein durch seine Gesinnung in der Widerstandsbewegung zu befinden, auch wenn er aktiv nie etwas dergleichen getan hat. Solche Beispiele gibt es viele. »So gab es unter den Millionen aus den ehemaligen Ostgebieten Vertriebenen zunächst überhaupt keine Parteigenossen, sondern ausschließlich Männer und Frauen, die immer schon ›dagegen‹ gewesen waren. Mörder und Handlanger von Mördern sowie höhere Funktionäre hatten sich wohlweislich Entlassungspapiere besorgt, die auf andere Namen lauteten, und bekannten sich zu ihrer wahren Identität erst, als die ›Entnazifizierung‹ lange vorbei war und schon wieder die Mitgliedschaft in der Realitäten herstellen

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KPD und nicht in der NSDAP zu Berufsverboten führte« (Sternheim-Peters, 2015, S. 258). In den vielen Familienrekonstruktionen haben wir durch Recherchen zahlreiche erschreckende Beispiele für das oben Beschriebene gefunden. Für die Teilnehmenden machte das Verhalten der Eltern und Großeltern durch die neu rekonstruierte Realität endlich Sinn. Sie konnten sich nicht selten von der gefühlten Verantwortung und Schuld »befreien« und die Verantwortung zurückgeben. Andere Beispiele aus unserer Praxis waren z. B.: ȤȤ Geschichten, die zeitlich nicht stimmen können, ȤȤ Geschichten über Flucht und Vertreibung, Kriegsgefangenschaft, ȤȤ Legendenbildungen, ȤȤ verheimlichte Adoptionen, Berichte über Kuckuckskinder, tote Geschwister, ȤȤ Erbkrankheiten, Sucht, Verbrechen, psychische Erkrankungen usw.

Durch die sich in und durch die Rekonstruktion veränderte Wirklichkeit konnte sich häufig das Selbstbewusstsein erheblich steigern. Verständnis und damit neue Möglichkeiten für eine versöhnliche Haltung entstehen auch, wenn Geschichten der Eltern oder Großeltern in ihren historischen Zusammenhang gestellt werden und der Blick von individuellen Schwächen, Symptomen, Krankheiten oder Fehlern auf die kollektive Katastrophe gerichtet wird, vor deren Hintergrund Überlebensstrategien entstanden, die sich einschränkend und bedrückend für die Kinder dieser »Opfer« auswirkten. Flucht und Vertreibung sind Beispiele für solche Katastrophen: In einer Rekonstruktion war beispielsweise der Großvater mit Zigtausenden seiner Landsleute 1922 aus seiner griechischen Heimat umgesiedelt worden, die jetzt Teil der Türkei war. Dieser Landesteil war über 3.000 Jahre die Heimat von Griechen gewesen und allein dieser Hinweis veränderte den Blick der Teilnehmerin auf ihre Vorfahren väterlicherseits.

Zum Herstellen von Realität und ihrer Wirkung noch ein Beispiel aus der Rekonstruktion einer Teilnehmerin: 130

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

Durch meine Tante erfuhr ich erschreckende Neuigkeiten, meine geglaubte Mutter war nicht meine Mutter, mein Gefühl, es stimmt etwas nicht, bekam reale Gründe: Die Frau meines Vaters war meine Stiefmutter. Meine Mutter litt nach Aussagen meiner Tante nach der Geburt von meinem Bruder und mir (wir sind Zwillinge) unter einer starken Wochenbettdepression und wurde stationär in Ochsenzoll behandelt. Dort verstarb sie 1944. Mein Vater heiratete eine Nachbarin, die während des Krankenhausaufenthaltes meiner Mutter auf uns vier Kinder aufgepasst hatte. Meine Stiefmutter war eine gemeine, sadistische Faschistin. Sie hat uns gequält, beschämt, misshandelt, unsere Kindheit bestand nur aus Angst und Schrecken. In der Familienrekonstruktion habe ich zum ersten Mal über mein Schicksal geweint und gespürt, meine Mutter hätte mich lieben können, auch ich bin ein wertvoller Mensch. Zur Rekonstruktion hatte ich die schriftliche Benachrichtigung aus Ochsenzoll mitgenommen. Dieses Dokument und viele Fotos meiner leiblichen Mutter hatte meine Tante über die vielen Jahre aufgehoben. Meine Therapeuten forschten währen der Rekonstruktionszeit in Ochsenzoll nach und machten eine grausige Entdeckung: Meine Mutter wurde mit 167 anderen Patienten nach Hessen in eine Tötungsanstalt verbracht und umgebracht. Alle Verwandten bekamen eine identische Benachrichtigung – Todesursache Herzversagen – alle am gleichen Tag. Meine Mutter ist ein Euthanasieopfer, und ich bin es damit auch, ich habe keine endogenen Depressionen, ich bin todtraurig und wusste nie, warum. Wir haben für alle 167 Menschen eine Kerze angezündet, ich habe geweint, geweint, geweint, um all diese Menschen, um meine Mutter, um meinen Bruder und auch sehr um meine Kindheit und mein Leben. Die ganze Gruppe hat mitgetrauert, so konnte ich noch viel stärker glauben, wie schlimm es war. Nach der Rekonstruktion kam ganz langsam eine bis dahin unbekannte Kraft in mich. Ich musste nie wieder in die Klinik, manchmal war ich traurig, aber nie wieder depressiv. Meine Ehe ist oft freudlos, aber es besteht kein Grund, sie zu beenden. Wir sind Eltern und Großeltern, haben eine gemeinsame Vergangenheit. Mein Mann passte die ganzen Jahre meiner Erkrankung in seiner anspruchslosen Art sehr gut zu mir. Mit meiner neuen Lebendigkeit weiß er oft nichts Realitäten herstellen

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anzufangen, aber das macht nichts. Unsere Töchter leben in den USA. Ich traue mich heute, sie auch alleine zu besuchen, ich durfte sogar bei der Geburt meiner zwei Enkelkinder dabei sein. Was für ein Geschenk! Ich bin unendlich dankbar (siehe Bericht 4, Anhang 1).

4.7 Lebendige Beziehungs- und Handlungssysteme herstellen Menschen, die im Großwerden schwere Verluste erfahren haben, z. B. den frühen Tod oder den Unfall eines Elternteils oder Bruders, bleiben oft in dem traumatischen Erleben gefangen. Durch die häufig vom Familiensystem aberkannte Trauer – wer denkt schon an die Geschwister, welches Kind fordert Trost ein, wenn die Mutter untröstlich erscheint? – kann der Prozess des, wie Luise Reddemann es nennt, »Verwindens« nicht einsetzen. Die Trauer wird »eingefroren« und das Leben tapfer, aber auf Kosten von Lebendigkeit gelebt. Die nunmehr Erwachsenen sind wie in der Erstarrung verblieben, verbunden mit dem verlorenen Menschen im Leid und nicht in Verbindung mit ihm vor dem Verlust. So bleiben sie wie der lebendige Beweis des Dramas, zumal häufig andere Familienmitglieder in einer ähnlichen Erstarrung verharren und durch ihre unbearbeitete Trauer ein Verbot der Bewältigung ausstrahlen. Dazu ein Beispiel: In der Reko nahm einer der Leiter die Rolle meines Vaters ein und beschrieb mir aus dessen (vermutlicher) Sicht, wie es ihm ergangen war – im Krieg und danach. Er sprach über die furchtbaren Erlebnisse, über die man nicht sprechen konnte und die man auch in der Seele wegsperren musste, sonst wäre man verrückt geworden. Und über die oft gefühlte Hoffnungslosigkeit und die Fragen an sich selbst, über die Zweifel und die Verzweiflung. Und darüber, wie man sich dann über Strukturen Stabilität generiert habe, um eben nicht verrückt zu werden. Ich war wie elektrisiert: Ja, darum ging es. Um die Macht der Strukturen, die man sich schafft. Und die einem dann zwar Stabilität geben, aber auch die Seele einzwängen und einengen – und am Fühlen hindern. Denn das ist ja genau ihre Aufgabe, im Guten gesehen. 132

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

Ich hatte einen neuen Zugang zu meiner Frage: nicht nur verstanden, sondern auch gefühlt (siehe Bericht 7, Anhang 1).

Durch die Familienrekonstruktion und die Anteilnahme der Gruppe kann ein Übergewicht zur Wirklichkeitskonstruktion der Herkunftsfamilie zugunsten neuer Lebendigkeit entstehen. Wenn das geschieht, kann die Trauer langsam zugelassen und verwunden und Trost angenommen werden. Dadurch kann ein lebendiges Beziehungsgefühl zum verstorbenen Menschen oder in anderen Geschichten zu lebenden Verwandten oder auch der verlorenen Heimat entstehen. Eine häufige Auswirkung fasst folgende Aussage gut zusammen: »Früher habe ich meine Geschichte in völliger Gefühllosigkeit erzählt und alle um mich herum waren ganz ergriffen. Heute brauche ich das nicht mehr, ich glaube mir meine Geschichte und fühle die Trauer darüber, und es ist gut so, weil ich meine Liebe spüre.« Und noch ein Beispiel: Ergebnis: Ich habe das Feedback als wohlwollend, wertschätzend und aufbauend erlebt. Dieses Feedback auf der Metaebene hatte ich mir schon im Laufe der Weiterbildung gewünscht. Zum Abschluss haben wir spontan, die Arme gegenseitig um die Schultern gelegt, »All you need is Love« miteinander gesungen. Es war ein Erlebnis, welches mich mit anderen verbunden hat, und es hat Gefühle der Zugehörigkeit in mir ausgelöst. Es war eine schöne Erinnerung, dass Musik für mich ein Medium ist, das mir hilft, mich lebendiger und lockerer zu fühlen. Körperlich, vor allem im Schulterbereich, fühlte ich mich nach der Reko viel leichter und entlastet. Längerfristige Wirkung: Die Reko war ein Anstoß für mich im nächsten Jahr, mir treu zu sein, Kontakt zu meinen Mitmenschen bewusster zu suchen und mehr Nähe in meinem Leben zu erlauben. Sie hat mir auch den Mut gegeben, eine Sehnsucht zuzulassen und ein Jahr Auszeit von meinem Job, in Form von Elternzeit, zu beantragen, in dem ich ausgeglichener werden, mehr für mein Kind da sein und mich auf die Weiterbildung und das Thema Selbstständigkeit fokussieren wollte. Lebendige Beziehungs- und Handlungssysteme herstellen

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Im nächsten Jahr habe ich den Kontakt zu Familie und Freunde mehr in den Vordergrund gestellt, ich bin zum ersten Mal, seit ich England verlassen habe, für zwei Wochen am Stück mit meinem Sohn zu Besuch gewesen. Ich habe Freundschaften eine höhere Priorität als der Arbeit gegeben und mich mehr für meine Bezugspersonen geöffnet (siehe Bericht 14, Anhang 1).

4.8 Zusätzliche Entwicklungschancen für Weiterbildungsteilnehmende Für Teilnehmende der Weiterbildungslehrgänge stellt die Familienrekonstruktion eine besondere Situation dar. Möglicherweise verspüren sie keinen dringenden aktuellen Anlass für die Familienrekonstruktion, sondern nehmen teil, weil es eben verpflichtend für die Weiterbildung ist. Die Teilnehmenden sind sich keine Unbekannten, sondern kommen mit ihren vertrauten Weiterbildungskollegen und Lehrtherapeutinnen zusammen. Wir sind der Überzeugung, dass nur wer ein guter Klient war, auch ein guter Berater, Therapeut und Coach sein kann. Es ist wichtig, sich mit seiner Herkunftsfamilie zu beschäftigen, damit man nicht die eigenen Baustellen mit denen der Klienten verwechselt. Außerdem ist es gut, wenn die Teilnehmenden herausfinden, welche Prozesse sie selbst als Beraterin oder Therapeut gut begleiten können und welche eher (noch) nicht. Hier eine beispielhafte Passage aus dem Bericht einer Weiterbildungsteilnehmerin: Die Arbeit innerhalb dieser Gruppe war für mich sehr beeindruckend. Die Geschichte, mit der ich als »Guide« einer der Frauen zu tun hatte, war für mich unglaublich schrecklich und voller Gewalt, und es brachte mich teilweise an meine Grenzen, dies sorgfältig zu begleiten. Manchmal wäre ich über einige Punkte gern schneller hinweggegangen. Zum Teil konnte ich kaum glauben, was ich hörte. Es war für mich enorm entlastend, als ihre Rekonstruktion letztendlich auch dafür sorgte, dass wir die Geschichte hinter uns lassen und optimistisch und mit Lebensfreude in die Zukunft blicken konnten. Insofern war meine Rolle für mich eine lehrreiche Übung darin, 134

Wie wirkt Familienrekonstruktion?

auch als Therapeutin schreckliche Erlebnisse von Klienten zu hören, aufzunehmen und nicht zu vergessen, dass sie damit leben und auch leben können. Bis heute hilft es mir als Therapeutin in Situationen, in denen bei meinen jeweiligen Klienten alles hoffnungslos wirkt, eine Haltung zu finden, die zugleich intensiv die Situation und das persönliche Erleben würdigt und gleichzeitig von Lebensoptimismus geprägt sein darf, ohne zu beschwichtigen. Innerhalb dieser Gruppenarbeiten tauchte ich in Lebensgeschichten ein und erlebte sie wie in einem Roman oder einem Film. Das wurde mir in der zweiten Rekonstruktion deutlich bewusst. Eine Lebensgeschichte wird aus den Erzählungen rekonstruiert. Sie muss nicht übereinstimmen mit den Erzählungen anderer Familienmitglieder oder Freunde. Sie ist die mit eigenen Bedeutungen belegte Geschichte. Ich habe viel aus diesen Lebensgeschichten, die ich in meiner kleinen Gruppe, aber auch in der Großgruppe während der eigentlichen Rekonstruktion erlebt habe, gelernt. Dazu gehören auch die »Rollen«, in die ich für Skulpturarbeiten schlüpfte und für die ich ausgesucht wurde. Auch hier durfte ich mich einfühlen in Geschehen und Gefühle, die ich selbst in meinem Leben bisher nicht erlebt hatte. Mir wurden Verhaltensweisen verständlich, die ich vorher nicht verstanden oder sogar abgelehnt hatte. Mir wurde deutlicher bewusst, dass Verhalten – wie in der Kommunikationstheorie von Watzlawick et al. – eine Reaktion auf etwas ist, dass jemand mit einer bestimmten Bedeutung belegt. Ich fühle seitdem häufiger eher Interesse an mir unverständlichem Verhalten als Ablehnung. Für meine therapeutische Arbeit half mir dies, eine wertschätzende Haltung gegenüber Menschen und ihren verschiedenen Verhaltensweisen zu entwickeln, die mehr davon geprägt ist, verschiedene »Realitäten« anzuerkennen. So kann ich dadurch z. B. in Paar- oder Familientherapien leichter allparteilich bleiben (siehe Bericht 15, Anhang 1).

Zusätzliche Entwicklungschancen für Weiterbildungsteilnehmende

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5 Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

Theoretische und methodische Elemente der Familienrekonstruktion finden sich in nahezu jeder systemischen Beratung oder Therapie, deren Ziele sich ja nicht grundsätzlich von denen der Familienrekonstruktion unterscheiden. Auch hier geht es darum, eine »Landkarte« über die Geschichte eines Klienten mit ihren wesentlichen Meilensteinen, Wendepunkten, Schicksalsschlägen und ihren Folgen sowie den Zielen und Hoffnungen des Klienten zu entwickeln. Auch hier geht es darum, Klientinnen dabei zu unterstützen, im Dienste ihrer Anliegen und Ziele neue, zweckmäßigere Konstruktionen der Wirklichkeit zu schaffen und zu erproben. Gleichzeitig ist unsere Erfahrung, dass die Beschäftigung mit Familienrekonstruktionen auch unsere Arbeit mit Klienten, ihren Familien und anderen Systemen nachhaltig beeinflusst hat und uns insbesondere politische und historische Aspekte auch für diese Arbeit zunehmend wichtiger geworden sind. Unsere Arbeit mit Familienrekonstruktionen hat uns deshalb immer wieder eingeladen, diese Erfahrungen auch für andere Formate zu nutzen oder Formate zu entwickeln, die neben der Familienrekonstruktion genutzt und ausprobiert werden können. Dabei sind wir darauf gestoßen, dass es Menschen gibt, für die eine einmalige Familienrekonstruktion angesichts ihrer Lebensgeschichte möglicherweise zu wenig (oder auch überfordernd) ist. In solchen Fällen macht es Sinn, über länger dauernde Formate nachzudenken, einige davon wollen wir jetzt kurz vorstellen.

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5.1  Therapie und gutes Essen Da wir immer wieder feststellen, dass die Versorgung mit Essen und Trinken während einer Rekonstruktionswoche für alle Beteiligten (durchaus auch für uns!) von großer Bedeutung ist, haben wir uns überlegt, Essen einmal in den Mittelpunkt eines therapeutischen Angebots zu stellen. Dazu hat uns auch ermutigt, dass wir bei Familienrekonstruktionen oft feststellen können, dass Situationen am Tisch und beim Essen für manche Teilnehmende eine besondere, bei anderen überraschenderweise überhaupt keine Bedeutung haben. Diesem Thema wollten wir einmal auf den Grund gehen und haben dazu folgende Ausschreibung entwickelt: Therapie und gutes Essen Es handelt sich um eine gemischte Therapiegruppe (Frauen und Männer), die in der Verbindung von Therapie und gutem Essen über zwei Jahre an sechs Wochenenden folgende Schwerpunktthemen bearbeitet: Im Kontakt mit alter Sehnsucht und unbefriedigten Bedürfnissen geht es um neue Lösungen und womöglich »Erlösung« aus alten Verstrickungen (Liebe, »Orales«). Im Kontakt mit altem Ärger geht es um Aggressionen und ihre gute Nutzung im jetzigen Leben (»Anales«). Die Teilnehmenden sollen bereits therapeutische Erfahrungen haben und/oder sich in Weiterbildung zur Systemischen Beratung befinden. Insofern kann es auch gut um die Weiterentwicklung der eigenen Beraterpersönlichkeit gehen: Auch hier geht es ja immer wieder um Liebe und Aggression in allen ihren Facetten. »Der Herd muss stimmen!« ist das schöne Motto eines uns bekannten älteren Psychoanalytikers. Auch deshalb suchen wir schon lange eine gute Möglichkeit, unsere kulinarische Leidenschaft mit einem therapeutischen Angebot zusammenzuführen. Und uns verbindet eben neben den guten Erfahrungen intensiver Zusammenarbeit auch die Freude an leckeren Speisen, sodass wir dieses Angebot entwickelt haben. Beste Zutaten, geeignetes Werkzeug und der Herd werden uns also assistieren, wenn wir gemeinsam persönliche Anliegen bearbeiten und nach guten Lösungen suchen.

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Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

Konkret werden wir die therapeutische Arbeit des Tages mit einem Abendessen beschließen, das wir alle gemeinsam zubereiten, wobei die Rollen der Versorger und der Versorgten durchaus variieren können. Und dabei werden wir uns alte Küchengeschichten erzählen, Spannendes aus unseren Familien erfahren, neue Kochgeschichten erfinden, und wer weiß? Vielleicht duftet die Küche schon am nächsten Tag nach deinem Lieblingsgericht aus alten Kindertagen … Für unsere inhaltliche und praktische (Einkauf, Rezepte usw.) Vorbereitung ist die Beantwortung folgender Fragen hilfreich: Was esse ich unter keinen Umständen? Was möchte ich gerne mal probieren? Was habe ich als Kind gerne/am liebsten gegessen? Was bedeutet mir Essen? Welche Bedeutung hatte Essen in meiner Familie, wer war für das Essen zuständig? Was möchte ich gerne essen, wenn ich eine große Sorge los bin?

Leider konnten wir diese Seminarreihe aus zeitlichen Gründen nur einmal realisieren, haben damit aber eindrucksvolle und berichtenswerte Erfahrungen gemacht: Eine Gruppe von 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmern traf sich über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren zu insgesamt sechs verlängerten Wochenenden (Donnerstag 18.00 Uhr bis Sonntag 15.00 Uhr) im Seminarhaus. Die Reihe der Workshops war so aufgebaut, dass wir uns von den Gerichten der Kindheit (Brei, Reisbrei, Apfelmus usw.) im ersten Block bis zu einem unvergesslichen »Erwachsenen-Buffet« im sechsten Block vorgearbeitet haben. In jedem Block ging es neben der therapeutischen Arbeit an den Themen und Anliegen der Teilnehmenden zentral um die kulinarische Versorgung, die im ersten Block noch ausschließlich von den Therapeuten übernommen wurde und im weiteren Verlauf zunehmend in die Verantwortung der Gruppe überging. Durch den Aufbau der Seminare nach Lebensphasen und die in die jeweilige Phase passenden Speisen wurde der Zugang zu den altersspezifischen Themen der Teilnehmenden eindrucksvoll erleichtert, nicht nur mit positiven Begleiterscheinungen: Als wir beispielsTherapie und gutes Essen

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weise im dritten Seminar in der Pubertät landeten, kamen mehrere Teilnehmer deutlich zu spät, einer kam unentschuldigt überhaupt nicht. Aber auch diese altersspezifischen Versuche in Richtung Autonomie konnten wir in der Gruppe gut und auch humorvoll bearbeiten. Essen und die Küche als zentraler Raum der Begegnung erwiesen sich als wunderbare Einladung, der eigenen Geschichte und alten Familiengeschichten noch einmal zu begegnen und mit der Gruppe zu teilen. Gerichte wurden zu plakativen, sinnlichen Metaphern des Zeitgeistes, in den die Geschichten eingebettet waren, und so aßen wir uns durch die deutsche Geschichte – von der einfachen Kartoffelsuppe der Nachkriegszeit über mit falschem Kaviar garnierte Eier des Wiederaufbaus, die Ravioli aus der Dose aus den 1970er Jahren bis zu exotischen Speisen aus aller Herren Länder, die uns heute angeboten werden. Und natürlich wurde beim Essen geredet, bei vielen aus der Gruppe war der Esstisch seit je der Ort für die wichtigen Gespräche. Die Art, wie gegessen und gesprochen wurde, brachte die Wirklichkeitskonstruktionen der Familie mit ihren Regeln, Überzeugungen, Tabus usw. einschließlich der dazu gehörenden Stimmung sehr deutlich zum Ausdruck. Unvergesslich ist uns die Szene einer Teilnehmerin, die wir im Seminarraum nachgespielt haben: Die Familie saß am Tisch, und als die jugendliche Tochter eine Frage nach der Rolle des Großvaters im Zweiten Weltkrieg stellte, stand die Familie (Eltern, Großvater und -mutter und Geschwister) gesammelt auf und sang das Deutschlandlied mit allen Strophen. Der Großvater war als SS-Mann eine Stufe unter Heinrich Himmler für die Transporte jüdischer Familien aus Frankreich nach Auschwitz zuständig gewesen.

Gleichzeitig wurde die Küche aber auch zum Raum für neue Erfahrungen, Experimente mit der Sehnsucht und persönlichen Visionen. Unbekannte Gerichte und noch nie probierte Lebensmittel wurden zu Metaphern für die Erkundung neuer Terrains und das mutige Übertreten beengender Grenzen. Und die Küche wurde zu einer demokratischen Zone, in der frei und ohne Tabus gesagt und gefragt werden konnte, was gesagt und gefragt werden wollte. Der Esstisch 140

Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

und das gemeinsame Essen als Ausdruck freien und demokratischen Miteinanders, das ist eine schöne Perspektive. Und wenn wir wieder Zeit haben, werden wir mit »Therapie und gutem Essen« noch einmal in die Küche laden!

5.2 Frauenworkshop Diesen dreitägigen Workshop habe ich (Ursula Wolter-Cornell) im Laufe der letzten zwanzig Jahre zwanzigmal mit 8 bis 16 Frauen durchgeführt. Viele dieser Frauen haben sich zum ersten Mal mit ihrer Biografie auseinandergesetzt. Allein das zu tun, war häufig mit großer Scham, Angst, Unsicherheit und Not verbunden. Die Motive der Frauen, diesen Workshop zu besuchen, hatten meist mit ihrer Rolle als Frau und/oder Mutter, Konflikten mit der Mutter oder Sexualität zu tun. Die Vorstellung, sich im Beisein von Männern mit sich selbst auseinanderzusetzen, scheint den Teilnehmerinnen meist völlig unvorstellbar. Bei dem Workshop wird einigen Frauen erstmalig deutlich, dass es seitens des Vaters grenzverletzendes Verhalten ihnen gegenüber gegeben hat und sie diese oft abgespaltenen Erlebnisse in ihr Vaterbild integrieren müssen. Da gibt es solche Fragen wie »Darf ich meinen Vater dennoch lieben?« oder »Wie kann ich mich nach einem Vater sehnen, der so mit mir umgegangen ist?«. Dieser Workshop stellt also eine Art Annäherung an das eigene Großwerden dar. Die Frauen erfahren eindrücklich, was für eine mögliche Rolle ihre Großväter bzw. Väter in dem Leben ihrer Großmütter bzw. Mütter gespielt haben, dass Großmütter in der Kriegsproduktion gearbeitet haben und die Trümmerfrauen waren, die ihre kriegstraumatisierten Männer ertragen bzw. mit ihnen leben mussten und häufig ihre Kinder nicht angemessen umsorgen konnten. Erstmalig konnte ein Verstehen einsetzen, was ihre Mütter so hart, unnahbar, rigide oder auch depressiv und krank gemacht hat, was die Kindheit der Mutter mit oft abwesendem Vater für einen möglichen Einfluss auf ihre spätere Partnerwahl hatte usw. Dass sich das Füllen bzw. Erfüllen der Mutterrolle nicht ohne den dazugehörigen Vater erklären lässt. Viele der teilnehmenden Frauen glorifizierten Frauenworkshop

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ihre Väter und verachteten ihre Mütter. Der Vater war sehr häufig ein Mensch geblieben, nach dem sie sich sehnten. Die Methoden, mit denen dieser Workshop durchgeführt wird, sind Genogrammarbeit, Skulpturen, Aufstellungen, Inszenierungen usw. Die Frauen erarbeiten zu Beginn in einer Dreiergruppe eine Fragestellung, die dann im Plenum ca. eine bis zwei Stunden bearbeitet wird. Der Ausschreibungstext lautet: Frauenworkshop: Was haben die Frauen meiner Familie (Mutter, Großmütter, Tanten usw.) eigentlich mit meinem Leben zu tun? Thema Lebensregeln, Kommunikations- und Beziehungsmuster meiner Familie, Rolle und Funktion von Frauen in meiner Herkunftsfamilie und deren Bedeutung für meine aktuellen Erfahrungen als Frau. Inhalt Erwachsene erleben oft lange nach dem Verlassen der Familie, in der sie aufgewachsen sind, belastende Beziehungen, Verständnislosigkeit, Verwicklungen und Verstrickungen. Häufig gibt es gerade von Frauen weder eine klare Abgrenzung zu ihren Müttern noch eine Versöhnung mit ihnen. In diesem Workshop wollen wir uns vor allem die Bedeutung und das Leben der Frauen in unserer Herkunftsfamilie, ihre Botschaften für unser Frausein ansehen. Auch können Themen sein: Für welche Teile des Frauseins brauche ich eigentlich einen Partner/eine Partnerin? Wie muss er/ sie sein, damit ich das leben kann? Dieses Seminar dient in erster Linie der Selbsterfahrung, eignet sich aber auch sehr gut für Frauen, die beruflich mit Frauen zu tun haben und bei denen Beziehungsproblematik eine Rolle spielt. Grundlage der Arbeit ist die systemisch integrative Sichtweise, in der die Familie als Ganzes verstanden wird, dessen Bestandteile immer in Wechselwirkung miteinander stehen. Mögliche Themenschwerpunkte Kommunikation in der Familie, familiäre Beziehungen, Aspekte der Familienstruktur, Lebensregeln und deren Bezug zur aktuellen Lebenssituation, Umgang mit Gefühlen. Vorbereitung Fotos der Familie Ihrer Mutter, Ihres Vaters und Ihrer Familie, in der Sie groß geworden sind, Fotos Ihrer Familie, falls vorhanden. (Das ist kein Muss, kann aber helfen.)

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Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

Nach dem Besuch dieses Frauenworkshops, der unseres Erachtens nach eine »kleine Familienrekonstruktion« ist, haben viele der Teilnehmerinnen im Laufe der nächsten zwei Jahre an einer Familienrekonstruktion teilgenommen. Die Neugier auf die Sicht von Männern war gestiegen, der Mut gewachsen, die Angst geschrumpft.

5.3  Männer sind anders und Frauen auch So der lautet der Titel einer ein- bis zweijährigen körperorientierten Gruppentherapie. Die Zielgruppe sind Menschen, die über Therapieerfahrung verfügen und z. B. immer wieder in gleichen Mustern, Schleifen und Wiederholungen des Nichtgelingens der guten Selbstfürsorge landen. Menschen, die sich gegen Trigger nicht erwehren können und emotional in belastende vergangene Lebenssituationen katapultiert werden, die im Kontakt mit dem anderen Geschlecht für ihre Ziele destruktive Beziehungsversuche wiederholen, also immer wieder in den Anpassungsleistungen beim Nadelöhr Herkunftsfamilie landen. Die Gruppe bietet dann einen kontinuierlichen Ort der Anteilnahme, des Trostes, der Herausforderung, der Resonanz und Beziehung, der Erprobung von Neuem und des Feedbacks. In dieser Gruppe werden alle Phasen des Großwerdens, also von der Geburt bis zum Eintritt ins Erwachsenenleben, durchgearbeitet. Das besondere Augenmerk liegt einerseits auf dem Sollzustand: Was sind in der jeweiligen Lebensphase gute Entwicklungsbedingungen bzw. was hätte ich eigentlich gebraucht?, andererseits auf dem Istzustand: Wie satt, versorgt, sicher und gereift fühle ich mich? Schutz, Versorgung, Verlässlichkeit, Bindungsverhalten, körperliche Nähe und Verantwortungsübernahme meiner Eltern für mich als Kind sind wesentliche Themen. Diese werden in den verschiedenen Lebensphasen in dem jeweiligen altersangemessenen Ausdruck auf körperlicher, wahrnehmungsmäßiger, emotionaler und kognitiver Ebene durchgearbeitet. Daneben geht es immer wieder um folgende Fragen: ȤȤ Was hat meine Eltern gehindert, mir die elterliche Fürsorge und Verantwortung zur Verfügung zu stellen? Männer sind anders und Frauen auch

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ȤȤ Welche eigenen Verletzungen standen ihnen im Wege? ȤȤ Was braucht es heute, um mich selbst gut »beeltern« zu können? Neben dem biografischen Durcharbeiten besteht immer auch die Möglichkeit, sich mit aktuellen Themen der Teilnehmenden und möglicher Gruppendynamik zu beschäftigen. Die Gruppe besteht aus ca. 12 bis 18 Teilnehmenden. Es muss mindestens ein Schlüssel von einem Mann zu zwei Frauen bestehen. Das schreiben wir, weil sich erfahrungsgemäß mehr Frauen als Männer anmelden. Die Teilnehmenden verpflichten sich nach dem Kennenlernwochenende, für ein Jahr monatlich ein Wochenende miteinander zu arbeiten. Die Leitung haben mindestens zwei Therapeuten, ein Mann und einer Frau. Am vorletzten Wochenende wird erfragt und geklärt, wer an einem Jahr Verlängerung interessiert ist.

5.4 Familienrekonstruktion in der Supervisionsweiterbildung Hier geht es vor allem darum, die »Schätze« in der Herkunftsfamilie zu heben, die insbesondere für den möglichen beruflichen Erfolg von Bedeutung sind. In der Weiterbildung zum Supervisor, Organisationsberater und Coach nennen wir die Familienrekonstruktion »Familien- und berufsorientierte Selbsterfahrung«. Die Bezeichnung macht schon deutlich, dass der Schwerpunk sich auf Aspekte fokussiert, die Hemmnisse in der beruflichen Umsetzung von Zielen, Visionen, Wünschen und Talenten darstellen. Das Informationsmaterial zur Vorbereitung weist diesen Schwerpunkt aus:9

9 Das Vorgehen während der Familienrekonstruktion und die Durchführung unterscheiden sich ansonsten nicht von dem bisher Dargestellten.

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Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

Hinweise zur Materialsammlung für die familien- und ­berufsorientierte Selbsterfahrung Für Ihre Selbsterfahrung bereiten Sie bitte folgende familiengeschichtliche Datensammlung vor: –– eine Chronologie der Herkunftsfamilie Ihrer Mutter; –– eine Chronologie der Herkunftsfamilie Ihres Vaters; –– eine Chronologie der Herkunftsfamilie, in der Sie selbst aufgewachsen sind. Versuchen Sie, die Daten für die Familie Ihrer Mutter – von ihrer Geburt bis heute, also Geburt, Schulzeit, Auszug aus der Familie durch Heirat, Beruf oder anderes – zu sammeln. Wichtig sind dabei die W ­ endepunkte, wie Heirat, Geburten, Berufswahl und -wechsel, Todesfälle, Unfälle, Krankheiten, Kündigungen, Arbeitslosigkeit, Flucht oder Vertreibung der Familie. Die gleiche Datensammlung sollten Sie versuchen, für die Herkunftsfamilie Ihres Vaters zu erstellen. Ihren eigenen Lebenslauf setzen Sie bitte bis in die Gegenwart fort. Zusätzlich wäre es gut, wenn Sie für jede oben genannte Herkunfts­familie ein Genogramm erstellen würden. Viele der unten genannten Daten und Informationen lassen sich gut ins Genogramm schreiben oder in der Chronologie unterbringen: –– Name, Vorname, Alter bzw. Geburtsdatum oder Todesdatum; –– Datum der Heirat, evtl. auch das Kennenlerndatum, Daten von Trennung oder Scheidung; –– offizieller Beruf; –– nebenberufliche Arbeitsverhältnisse (Verein, Partei); –– Schwarzarbeit; –– gewünschter Beruf; –– Wohnorte, Herkunftsorte der Familie, Ortswechsel; –– Krankheiten, schwere Symptome, Psychiatrieaufenthalte, Todesursachen. Interessant können auch »weiche« Informationen sein: –– Drei Eigenschaften, Fertigkeiten, die der Person zugeschrieben werden. –– Ein Begriff zur Kennzeichnung der jeweiligen Familienatmosphäre. –– Tabus und »weiße Stellen« im Genogramm: Von wem ist nichts überliefert, worüber wurde nicht gesprochen? Welche Ereignisse wurden bzw. werden verschleiert? Mysteriöse Todesursachen? –– Welche beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten werden über die Personen berichtet, die sie neben ihrer Hauptarbeit (z. B. Haus- oder Feldarbeit) hatten? –– Welche Tätigkeiten wurden gerne und gut getan in Hausarbeit und Berufsarbeit?

Familienrekonstruktion in der Supervisionsweiterbildung

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–– Was wird über die berufliche Entwicklung berichtet? (Spätstarter, steile Laufbahn, Versager usw.) –– Gab es Statusverschiebungen? –– Was wird über Berufswechsel erzählt? –– Wie wird über Kündigung, Arbeitslosigkeit usw. gesprochen? –– Wie wird über besondere berufliche Erfolge bzw. Misserfolge gesprochen? –– Mythen, Tabus, Geschichten, Glorifizierungen. –– Tradierte Regeln. –– Ausgeübte und nicht ausgeübte Berufe. –– Arbeitslosigkeit. –– Multikulturelle Einflüsse und Beziehungen. –– Pensionierung/Berentung. Methodischer Vorschlag für die Datensammlung: Tragen Sie Dokumente, Fotos, Landkarten, Erinnerungen und Informationen von innerhalb und außerhalb der Familie zusammen. Hilfreich dabei sind Interviews mit Verwandten, Bekannten und Zeitzeugen (evtl. Tonaufzeichnungen für das eigene Archiv). Gehen Sie chronologisch vor. Beginnen Sie vom Zeitpunkt der Geburt an, Jahr für Jahr zu überprüfen, was Sie wissen oder darüber in Erfahrung bringen können. Sie müssen damit rechnen, dass Ihre Nachfragen die Familienmitglieder erschrecken oder eine ablehnende Haltung auslösen. Suchen Sie einen Weg für respektvolle Neugierde. Wenn Sie bei Ihren Bemühungen nicht sehr viel in Erfahrung bringen können, so ist auch dies eine wichtige Information über Ihre Familie. In der Familienrekonstruktion können auch verdeckte Familienerfahrungen immer wieder erlebbar gemacht werden.

5.5 Rekonstruktion im Rahmen von Teamsupervision und Organisationsentwicklung 5.5.1  Sucht- und Drogenberatung

In meiner Praxis erreichte mich (die Autorin) ein ganz gewöhnlich erscheinender Supervisionsauftrag. Die Ausgangslage war folgende: Ein Träger hatte an zwei unterschiedlichen Standorten ca. acht Kilometer voneinander entfernt eine Suchtberatungsstelle. Um als eine Nachsorgeeinrichtung für Sucht vom Rentenversicherungsträger anerkannt zu werden, musste eine halbe Psychologenstelle nachgewiesen werde. Das ließ sich aber nur bewerkstelligen, wenn 146

Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

beide Beratungsstellen formal zusammengelegt würden. Die Leiterin beschrieb das eine Team als fachlich hochkompetent und auch sehr gut in der Region verankert, aber als faktisch nicht leitbar. Sie berichtete: »Die machen, was sie wollen, und ich kann nichts dagegen tun, viele sind schon über 15 Jahre hier beschäftigt, und ich erst 5 Jahre. Das andere Team ist noch nicht so sehr erfahren, aber sehr willig und einsichtig. Die habe ich auch alle schon zu meinen Beschäftigungszeiten eingestellt.« Gesagt getan, dachte ich, das kann doch nicht so schwer sein. Ein angefragter Kollege arbeitete mit dem »einfacheren« Team vorbereitend für die Zusammenlegung und ich mit dem eher als »schwierig« beschriebenen. Die Arbeit war in beiden Teams gleichermaßen leicht. Alle fanden den Schritt der Zusammenlegung sinnstiftend, eine Weiterentwicklung der Beratungsstelle. Es gab keine unüberwindlichen Animositäten von einzelnen Mitgliedern der verschiedenen Teams, also alles bestens, dachte ich. Die erste gemeinsame Sitzung endete im Chaos. Die bis dahin professionelle Sachlich- und Fachlichkeit war dahin. Das Team mit den alteingesessenen Mitarbeitenden zerredete jeden kooperativen Gedanken, von sinnstiftend konnte keine Rede mehr sein, die Beziehungen untereinander schienen fast feindlich. Ich brach die Sitzung ab, konnte mich aber mit dem Team wenigstens zu einer Folgeveranstaltung verabreden. Was war da los? Was hatte ich übersehen? Es konnte weder am Auftrag liegen, den hatten alle als vernünftig erachtet, an den Beziehungen auch nicht, die mochten und schätzten sich größtenteils, und ihre Autonomie als Team war auch nicht grundsätzlich in Gefahr, sie sollten ja nur eine Organisationseinheit werden. Als Familientherapeutin würde ich in einem vergleichbaren Fall immer in der Geschichte der Familien nach Gründen der Unvereinbarkeit suchen. Für die nächste Sitzung hatte ich mir vom Träger die Erlaubnis eingeholt, mich um warmes Essen und Getränke zu kümmern, außerdem hatte ich die Erlaubnis, die Sitzung so lange durchzuführen, wie sie eben dauert, notfalls bis zum Ende der Arbeitszeit, also 4,5 Stunden (und nicht 1,5 Stunden wie sonst). Ich startete damit, dass ich eine chronologische Struktur vorschlug. Jeder sollte seine Geschichte in der Suchtarbeit beschreiben Rekonstruktion im Rahmen von Teamsupervision

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und wie er oder sie an die Beratungsstelle kam. Alle waren einverstanden. Die Erste, die berichtete, war 62 Jahre alt und seit 34 Jahren mit dem Thema Sucht beruflich beschäftigt. Sie erzählte folgende Geschichte: Sie war mit einem Arzt verheiratet und hatte als Krankenschwester in der Landarztpraxis ihres Mannes mitgearbeitet. Sie hatten zwei Söhne. Durch die Auseinandersetzung mit ihren Söhnen und deren Freunden erfuhr sie immer mehr über die verehrenden Auswirkungen von Suchtmittelkonsum. Auch in der Praxis ihres Mannes spielte das Thema keine unwesentliche Rolle. Sie erkannte sehr frühzeitig, dass die zur Verfügung stehenden Institutionen völlig überfordert waren, es gab im ganzen Landkreis damals keine Suchtberatungsstelle. Sie gründete einen Verein, sammelte Spendengelder, bildete sich fort und suchte mit ihren suchterkrankten Schützlingen Ärzte auf. Die ersten Methadonvergaben sind ihr zu verdanken. Sie stritt auf der politischen Ebene, setzte den Politikern und Ärzten zu. Überall, wo es etwas für ihr Anliegen zu holen gab, war sie präsent. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde ihr der organisatorische Teil der Tätigkeit zu viel, der Verein konnte sich dank der Spenden mittlerweile vier ganze Stellen leisten. Sie hatte eine und die drei anderen waren mit Kollegen besetzt, die jetzt auch in ihrem Team arbeiteten, lediglich eine Kollegin war hinzugekommen. Sie verhandelte mit der ortsansässigen kirchlichen Familienberatungsstelle über eine Fusion, der Pfarrer, der die Einrichtung leitete, war ein guter Freund. Alles ging gut, die Suchtberatung wurde ein Teil der Familienberatungsstelle. Ihr reichte, da sie sich vom Leiter gewürdigt fühlte, eine normale Mitarbeiterstelle. Auch hatte sie es finanziell nicht nötig, mehr zu verdienen, kannte sie doch auch finanzielle Engpässe in sozialen Institutionen nur zu gut. Dann ging der Leiter in den Ruhestand und ein junger Kollege von extern übernahm die Leitung. Er kannte die Geschichte nicht und behandelte die Kollegin, wie man eben eine Mitarbeiterin behandelt: freundlich und mit eigenen Ideen für die Weiterentwicklung der Abteilung. Aber schon der Versuch, mit ihr eine Zielvereinbarung zu erarbeiten, endete im Fiasko. Sie war mittlerweile 16 Jahre beim Träger beschäftigt, 54 Jahre alt und ließ sich vom neuen Leiter ebenso 148

Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

wenig sagen wie ihre Mitstreiter. Er verließ die Einrichtung nach weiteren zwei Jahren, und es kam ein neuer junger Leiter. Mittlerweile gab es den vierten Leiter, immer Männer, immer mit guten neuen Ideen, ohne Frage, aber niemand hat sie jemals wieder gefragt, was sie davon hält. Hier endete die Geschichte der Kollegin.

Es war so still im Raum, man hätte eine Nadel fallen hören. Die Kollegen aus der anderen Beratungsstelle hatten ausnahmslos Tränen in den Augen, diese Geschichte kannten sie nicht. Ich bat die Anwesenden um eine Auszeit von 15 Minuten, eilte zum Wochenmarkt, der sich in unmittelbarer Nähe befand und erstand einen riesigen Blumenstrauß. Zurück in der Gruppe bat ich die gesamte Kollegenschaft aus beiden Beratungsstellen, sich mit mir gemeinsam vor die Kollegin zu stellen. Ich hielt im Namen des Landrates und des Landesbischofs eine Dankesrede an die Kollegin, in der ich ihr für die außergewöhnlichen Verdienste für unser Gemeinwesen dankte und ihren vorbildlichen Einsatz würdigte. Die Kollegin brach in Tränen aus. Später beim Essen berichtete sie, sie habe immer, wenn es neue Vorschläge gab, ihre eigene Pionierarbeit und die der Kollegen der ersten Stunde herabgewürdigt gesehen, das hätte sie nicht zulassen können. Das Gesamtteam brauchte nicht mehr viel Unterstützung, um die formale Zusammenlegung zu bewältigen. Mein Auftrag endete, nachdem ich noch ein langes Gespräch mit dem Leiter hatte und er versprach, die Geschichte der Abteilung an den nächsten möglichen Nachfolger weiterzugeben. In dieser Geschichte wird deutlich, wie wichtig es auch in Institutionen ist, auf die Geschichte zu schauen. Sogenannte Störungen geben oft einen Hinweis auf in der Vergangenheit liegende, unbewältigte und schwere Erfahrungen, aber auch auf bisher ungewürdigte, großartige Pioniertaten. 5.5.2 Universitätsbibliothek

Die Anfrage für Supervision, Teamentwicklung kam von der Bibliothek einer Universität. Die Belegschaft bestand aus ca. vierzig Mitarbeitern. Es standen Umstrukturierungen an, und viele langjährige, eher gewerblich und handwerklich ausgebildete, unkündbare KolRekonstruktion im Rahmen von Teamsupervision

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legen verweigerten die Mitarbeit, machten Dienst nach Vorschrift. Ein anderer Teil der Belegschaft, vorwiegend jüngere und auch eher akademisch ausgebildete Kollegen drängte auf rasche Veränderung. Schließlich gehe es um die Anpassung an die digitalen Erfordernisse einer modernen Universitätsbibliothek. Wohin aber mit den vielen Buchbindern, Lageristen usw.? Hier entschied ich mich, mit einer Kollegin zusammen eine sogenannte Zukunftswerkstatt durchzuführen. Wir baten die Bibliotheksmitarbeitenden, sich zu jeweils Fünfjahresgruppen zusammenzufinden: Wann wurde die Institution gegründet und wer waren die Mitarbeiter der ersten fünf Jahre? Dann die Kollegen und Kolleginnen der nächsten fünf Jahre usw. Sie sollten sich miteinander austauschen, wie sie jeweils ihre Fünfjahresgeschichte erzählen wollten, was ihnen besonders erwähnenswert und wichtig war. Danach präsentierten sie den gesamten Kollegen ihre Geschichte. Die Bibliothek bestand seit dreißig Jahren und umfasste also sechs Berichte. Nach dem jeweiligen Bericht bestand die Möglichkeit zum Nachfragen und zur Resonanz. Die jungen Kollegen hatten keine Ahnung, wie viel Herzblut, Lebensleistung, Einrichtungs- und Engagement der Kollegen der ersten Stunde in dieser Bibliothek steckte: Wie die Kollegen die ersten Regale selbst gezimmert hatten, die Unmengen Kartons mit Büchern, also die Erstausstattung, übers Wochenende etikettierten und sortierten usw. Die älteren Kollegen konnten von den jüngeren erfahren, mit welchen innovativen Ideen sie diese Arbeit angetreten haben und wie schwer es sei, die normalen Standards umzusetzen; wie gerne auch sie ihren Beitrag leisten würden zur guten Weiterentwicklung. Gemeinsam entwarfen sie dann Visionen, wie ihre Bibliothek wohl in fünf Jahren aussehen könnte, wenn sie sie erfolgreich voranbringen würden. Am Ende der Veranstaltung gab es ein großes Einvernehmen, dass Weiterentwicklung im Sinne aller Beteiligten ist und die Anpassung an die neuen Anforderungen nicht die in der Geschichte der Institution geleistete Arbeit herabwürdigen soll. Gemeinsam wurden Beschlüsse gefasst, sodass die Kollegen, die noch jung genug waren, sich bereitfanden, an einer Anpassungsqualifikation zur Bedienung der EDV-Ausgabeplätze teilzunehmen. Und die Kollegen, die in den 150

Wie kann Familienrekonstruktion in anderen Kontexten genutzt werden?

nächsten ein bis drei Jahren in den Ruhestand gehen würden, sollten mit der Leitung nach einer geeigneten Form suchen, wie die Geschichte der Bibliothek dokumentiert werden könnte. Alles in allem eine gelungene Veranstaltung, es gab nur noch drei Treffen im Anschluss, um das Ergebnis dieser Zukunftswerkstatt zu sichern. Auch hier war es wichtig, die Vergangenheit zu würdigen, um mit dem Segen der »Alten« gut weiterzukommen.

Rekonstruktion im Rahmen von Teamsupervision

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6 Wie lassen sich die Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit politisch umsetzen – jenseits vom therapeutischen Setting?

Die frühen Anmutungen in unserer Arbeit, dass dieser Arbeit auch eine politische Dimension innewohnt, haben sich zu einer starken Überzeugung verdichtet: Mit Arno Gruen glauben wir, dass die demokratische Perspektive ohne Solidarität, Empathie, Kooperation und gegenseitige Anerkennung der emotionalen Lage unmöglich sein wird (Gruen, 2013). Mit dieser Überzeugung erlauben wir uns, ein paar Visionen zu formulieren, und schließen mit einem Erfahrungsbericht, der belegt, dass Visionen wahr werden können. Erstens: Schule

Eine Idee, die uns durch den Kopf geht, ist, Familienrekonstruktion als Schulfachergänzung in die Lehrpläne der Oberstufe, namentlich den Geschichtsunterricht (aber auch anderen Fächern wie Sozialkunde, Ethik/Religion, Biologie oder Sprachen) einzuführen. Das passt für uns sehr gut zu unseren aktuellen Bemühungen, die Konzepte von Haim Omer und Arist von Schlippe (2016) zum gewaltfreien Widerstand und der »Neuen Autorität« in schulischen Kontexten zu implementieren. Curriculare Bestandteile dieser Idee könnten sein: ȤȤ Historische Epochen deutscher Geschichte seit 1900: Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und Verarbeitung der Zeit 1933 bis 1945 (die deutsche »Vergangenheitsbewältigung«), Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, deutsche Teilung (Leben und Lebensgefühle in Ost und West), Versuche antiautoritärer Kon153

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zepte, Friedensbewegung, ökologische Initiativen und Frauenbewegung, Wiedervereinigung und die Folgen, Globalisierung und Liberalismus der Wirtschaft, gegenwärtige politisch-ökonomisch-soziale Lage. Wie haben die Menschen diese Epochen beeinflusst und gestaltet und wie haben diese Epochen die Menschen und ihre Lebensentwürfe geprägt bzw. wie prägt uns die heutige Situation? Eine Rekonstruktion der Schule als Bildungsagentur von 1900 bis heute: Was waren in den verschiedenen Epochen die konzeptionellen Grundlagen der Bildung von Kindern und Jugendlichen? Welche Menschenbilder lassen sich dabei jeweils identifizieren. Welche Rollen wurden den Schülern und Lehrkräften zugewiesen? In welchen Lehrplänen lassen sich Werte wie Empathie, Kooperation und Solidarität identifizieren? Wie könnten sich diese Werte in einer Schule der Zukunft in Lehrplänen niederschlagen? Supervision und Familienrekonstruktion für Lehrerinnen und Lehrer, die sich unserer Meinung nach bereits während ihrer universitären Ausbildung mit der psychosozialen Dimension ihrer späteren Berufstätigkeit auseinandersetzen müssten. Das Thema Scham und Beschämung wäre hier besonders wichtig, und zwar sowohl auf Lehrer- wie auf Schülerseite. Was wissen wir über das Großwerden unserer Eltern und Großeltern? Welche Werte gab es in den Familien unserer Eltern und Großeltern, welche Glaubensätze haben sie daraus abgeleitet? Wie sollte sich in diesen Familien idealerweise ein Mann, wie eine Frau entwickeln? Welche dieser Traditionen spielen in meinem Leben und Lebensentwurf eine wichtige Rolle, welche nicht? Welche Konsequenzen ergeben sich aus den gesammelten und vermittelten Inhalten für uns als Klassengemeinschaft? Wie wollen wir miteinander umgehen? Was braucht es, dass wir in dieser Schule ein gutes Lernklima haben? Wie gehen wir mit Unterschieden um? Wie können wir Inklusion und interkulturelle Herausforderungen konstruktiv und für alle gewinnbringend gestalten?

Nur zu gerne würden wir uns beteiligen, wenn in Kultusministerien über solche Perspektiven nachgedacht würde. 154

Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit

Zweitens: Politik

Politik wäre ein weiteres Feld des Transfers, Familienrekonstruktion für Politiker eine sicherlich spannende und herausfordernde Sache. Fragen dabei wären etwa: Wie bin ich Politiker(in) geworden? Was waren die für mich entscheidenden Motoren und Perspektiven? Welchen familiären Traditionen bin ich dabei treu geblieben, von welchen habe ich mich abgegrenzt? Welche Rolle spielen Gefühle in meiner politischen Arbeit? Einen Ausblick, dass so eine Perspektive Wirklichkeit werden könnte, beschreibt Sabine Bode in ihrem jüngsten Buch »Kriegsspuren« (Bode, 2016) unter der Überschrift »Sternstunde im Bundestag«. Das bezieht sich auf die Bundestagsdebatte im März 1997 über die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht«: »Als die Sitzung begann, erwartete man, die seit Monaten andauernde Polarisierung der Standpunkte werde sich fortsetzen. Die Grünen, glaubte man, würden die Kritiker der Ausstellung zu Ewiggestrigen abstempeln und im Gegenzug würde der Rechtsaußen der CDU, Alfred Dregger, die Ehre der Wehrmachtsangehörigen hochhalten. Genau das geschah auch. Doch dann kam es während der Debatte zu einer bewegenden Wende, ausgelöst durch einige sehr persönliche Beiträge. Otto Schily sagte über einen Onkel, einen Oberst der Luftwaffe: ›Er suchte aus Verzweiflung über die Verbrechen des Hitlerregimes bei einem Tieffliegerbeschuss den Tod.‹ Schilys älterer Bruder war mit schweren Verwundungen – unter anderem hatte er ein Auge verloren – aus Russland heimgekommen. Dann aber kam der Politiker mit aller Deutlichkeit zu seiner entscheidenden Aussage: Der einzige in seiner Familie, der sein Leben für eine gerechte Sache eingesetzt habe, sei der Vater seiner Frau gewesen, der als jüdischer Partisan in Russland gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte. Freimut Duve erinnerte daran, wie seine jüdische Großmutter als alte Frau von kroatischen Ustaschas unter dem Schutz deutscher Soldaten auf einen Lastwagen geworfen worden sei. Er sprach auch von den beiden Brüdern seiner Mutter, die am Russlandfeldzug teilgenommen hatten. Beide, stellte er fest, habe der Krieg bis Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit

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zu ihrem Tod nicht verlassen. Und er wandte sich an den gesamten Bundestag, als er sagte: ›Ich glaube, uns alle wird dieser Krieg bis zu unserem Tod nicht verlassen.‹ Christa Nickels wiederum drückte die Liebe zu ihrem Vater aus und gleichzeitig das Entsetzen darüber, wie spät ihr aufgefallen war, dass er auf dem einzigen Foto, das aus seiner Militärzeit existierte, eine Uniform der Waffen-SS trug. ›Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Vater in den fünfziger Jahren – er war ein gestandener Mann, der sein ganzes Leben schwer gearbeitet hat – keine Nacht bei offenem Fenster geschlafen und jede Nacht furchtbar von Feuer und Kindern geschrieen hat.‹ Die Debatte war so kostbar, weil sie zeigte, dass es möglich ist, öffentlich über Schuld, Scham und Leid zu sprechen, auch über einen Vater, den die Bilder eines Massakers nicht mehr losließen, und weil diese Offenheit Beifall aus allen Parteien auszulösen vermochte. ›Die Zeit‹ kommentierte das Ereignis so: ›Es waren die persönlichen Bemerkungen von Otto Schily, Freimut Duve, Christa Nickels, an denen sinnfällig wurde, wie unangemessen die ritualisierte Konfrontation mit dem Thema sein musste. Plötzlich bestimmten Fairness und Verständigungsbereitschaft die Debatte, die am Ende auch Alfred Dregger zu nachdenklichen Tönen bewegte‹« (Bode, 2016, S. 273 f.). Solche Begegnungen auf politischer Ebene könnten wir mehr gebrauchen, der Lösung so wichtiger Probleme wie der »Flüchtlingskrise« (siehe Abbildung 11) wären sie zuträglicher als die erlebte, zunehmende Polarisierung. Drittens: Brennende Fragen

Eine dritte Perspektive wäre, wie wir die Erfahrungen der Familienrekonstruktion in aktuelle Diskurse über brennende Fragen der Politik und Gesellschaft einbringen können. Beispielsweise stellt uns die Flüchtlingsthematik und damit leider einhergehendes Wiedererstarken rechtsextremer Bewegungen vor große Herausforderungen. An welchen Stellen können wir humanes Denken und Handeln unterstützen und haben wir im Umgang mit rechtsextrem denkenden, fühlenden und handelnden Menschen etwas Wichtiges beizutragen? 156

Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit

Abbildung 11: Flüchtlinge in Ungarn auf dem Fußweg zur österreichischen Grenze entlang der Autópálya M1 (4. September 2015)10

Welche Kontexte lassen sich konstruieren, in denen solche Themen mit dieser Zielgruppe in einen konstruktiven Austausch gebracht werden, der nicht bei Begriffen wie »Mob« und »Pack« stehen bleibt? Lässt sich hier konstruktiv mit den Behörden der Justiz und der Polizei zusammenarbeiten? Wie lassen sich rechtextreme Lebensentwürfe verstehen und in demokratische verwandeln? Wie und in welchen Kontexten können wir unsere Erfahrungen, aber auch die in diesem Buch angesprochenen Arbeiten über Scham, Affektlogik, Selbstentfremdung und Neurobiologie vermitteln?10 Eine weitere brennende Frage sind die (vor allem) sexuellen Missbräuche an Kindern und Jugendlichen, die in Institutionen begangen worden sind – auch in der evangelischen Kirche. Der Aufklärung und möglicherweise Wiedergutmachung dient hier z. B. die Arbeit der »Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen im Gebiet der ehemaligen Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, heute Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland«: 10 Quelle: photog_at from Österreich (20150904 163) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons. Es wurden keine Änderungen an der Abbildung vorgenommen. Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit

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Ich (Ursula Wolter-Cornell) bin beratendes Mitglied dieser Kommission. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich zu dieser Mitarbeit bereit erklären konnte. Ich war skeptisch, wie ernst die Institution Kirche es tatsächlich meint und ob es überhaupt möglich ist, innerhalb einer Institution Derartiges zu bearbeiten, oder ob sie sich nicht nur »reinwaschen will«. Die damaligen Worte der Bischöfin Kirsten Fehrs »Die Kirche hat eine Bringschuld des Vertrauens, nicht die Betroffenen, wir müssen beweisen, dass man uns wieder vertrauen kann« haben mich sehr erreicht und letztlich überzeugt, es zu versuchen. Die nunmehr vierjährige Arbeit hat mich tatsächlich mehr als überzeugt: Wenn Amtsträger glaubhaft die Verantwortung für das erlittene Leid übernehmen, kann etwas Neues entstehen. Aber auch hier braucht es Geduld, Mitgefühl, Anteilnahme, Zeugenschaft, Trost, Würdigung. Das alles ist natürlich abhängig von den handelnden Personen, was in dem Fall der Kommission einfach geradezu genial ist. Die große Herausforderung wird sein, nach einer Evaluation der geleisteten Arbeit diese in eine institutionalisierte Form zu überführen. Bis heute bin ich zutiefst berührt von dem Mitgefühl der anderen Mitglieder der Kommission, dem Feingefühl und der radikalen Bereitschaft, alles zu tun, was den Betroffenen hilft. Hier ein Auszug aus einem Artikel von Bischöfin Fehrs: »Die Arbeit in dieser Kommission ist mehr als intensiv; sie rüttelt auf, macht uns traurig: ›Wir stehen oft unter Wasser‹, sagt dazu eines der ehrenamtlichen Kommissionsmitglieder. Die Kommission ist in ihrer unjuristischen, unbürokratischen, auf Vertrauen und Kommunikation basierenden Arbeitsweise immer auch ein Wagnis. Ein Wagnis, weil die Begegnungen uns ohne Netz und doppelten Boden mit den Traumata schwer verletzter Menschen konfrontieren. Mit zerstörerischer Macht und zutiefst verschämten und beschämten Menschen. Und mit unserer eigenen Scham und Vergebungsbedürftigkeit. Und so sind alle vor jedem Gespräch so aufgeregt: die Betroffenen, weil sie Angst haben, dass diese ›Kommission‹ ihnen nicht glaubt und von oben herab behandelt. Und wir sind aufgeregt, weil wir Angst haben, dass sie uns womöglich genau so erleben. Und dass es uns nicht gelingt, Vertrauen aufzubauen. In jedem Fall merken wir, wie sehr wir hier Neuland betreten. Wir machen auch Fehler, nicht alles lässt und ließ sich konzeptionell im 158

Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit

Vorwege erfassen. Deshalb ist es unbedingt wichtig, diese Arbeit zu evaluieren; die ersten Schritte dazu sind bereits eingeleitet. Neben einer in Traumatherapie erfahrenen Therapeutin, die uns als hochkompetente Fachberaterin zur Seite steht, besteht die Kommission neben mir aus zwei weiteren Mitgliedern. Sie machen dies ehrenamtlich und voller aufmerksamer Sensibilität. Wir vier sind, je länger wir diese Arbeit tun, überzeugt, dass wir nicht aufhören dürfen, uns auseinanderzusetzen. Weil wir jedes Mal dazu lernen. Und weil es so viele versöhnliche, uns sehr anrührende Momente gegeben hat, in denen die Betroffenen uns die Hand reichten« (Fehrs, 2015, S. 73 f.). Ausblick

Wir hoffen, mit diesen Perspektiven, Menschen und Gruppen einzuladen, eigene Visionen zu entwickeln und ins Leben zu bringen. Erst während der finalen Endredaktion haben wir noch von einer weiteren geeigneten Anwendungsmöglichkeit gehört. Im Kinderdorf Duisburg führt der Psychotherapeut Eberhard Jung seit vielen Jahren gemeinsam mit einer Kollegin therapeutische Biografiearbeit für Jugendliche durch. Sieben Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren bilden dabei eine Gruppe, die ein Jahr mit Genogrammen und verschiedensten biografischen Themen arbeitet. Das jeweils ein Jahr dauernde Projekt startet mit einer Reise nach Holland und endet mit einem Seminar in Italien zur abschließenden Arbeit an der eigenen Identität und den damit verbundenen Zukunftsvisionen. Diese Idee finden wir großartig und nachahmenswert. Letztlich geht es darum, dass wir uns in alten und neuen Kollektiven zusammentun, uns mit unseren Geschichten auseinandersetzen und deshalb wieder mehr zumuten können für die Gegenwart und Zukunft. Durch die Erfahrung von Solidarität, Trost und Stärkung sollte es uns möglich sein, humane Geschichten zu schreiben, die wir heute und morgen sehr gebrauchen können.

Erkenntnisse aus der Rekonstruktionsarbeit

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7 Was ich als Therapeut oder Therapeutin bei der Familienrekonstruktion wissen und können sollte

Therapeutinnen und Therapeuten, die mit dem Instrument der systemischen Familienrekonstruktion arbeiten wollen, brauchen unserer Erfahrung nach einige spezifische Kenntnisse: ȤȤ Fundierte Kompetenzen als systemische Therapeuten im Bereich Theorie, Methoden, Selbsterfahrung und Selbstreflexion. ȤȤ Umfangreiche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftsfamilie, und da auch mit den politischen, historischen, sozialen, ökonomischen Aspekten. Wie ist meine Familie durch die Zeit der Nationalsozialismus gekommen? Welche Wirklichkeitskonstruktionen wurden entwickelt, um mit der möglichen Scham und Schuld umgehen zu können? ȤȤ Nötig sind Recherchekompetenz und historisches Verständnis. Das bedeutet, aus wenigen biografischen Angaben in den Genogrammen und Chronologien der Familienmitglieder der Teilnehmenden Hypothesen bilden und überprüfen zu können. Zum Beispiel die Aussage: »Mein Vater/Großvater, Jahrgang 1921, ist 1939 eingezogen worden, war aber nur Flakhelfer.« Es gab jedoch erst ab 1943 Flakhelfer und es betraf nur die Jahrgänge 1926 bis 1928 (Herweg, 2013). Oder die Aussage: »Mein Großvater war von 1935 bis 1945 nur Gefängniswärter. Erst im Gefängnis Esterwegen und ab Ende 1936 im Gefängnis Oranienburg.« Und auf Fotos ist er eindeutig in einer SS-Uniform zu sehen. Mit dem Gefängnis Oranienburg kann nur das KZ Sachsenhausen gemeint sein (Sachsenhausen ist ein Teil

von Oranienburg), was 1936 u. a. durch Gefangene aus dem 1936 aufgelösten KZ Esterwegen errichtet wurde.

Anders gesagt: Auch bei angeblichen Fakten und Daten ist es notwendig, sie auf ihre Bedeutung für das Leben und Weiterleben der Familie, z. B. nach dem Krieg, zu befragen und zu untersuchen, was dadurch gleichzeitig auch verdrängt, abgeschnitten und exkommuniziert wurde. Wichtig hierbei ist immer, dass das Aufarbeiten und Aufdecken dieser Teile der Familiengeschichte unmittelbar mit der Not bzw. mit dem Anliegen des Teilnehmers zusammenhängen muss. Im Fall des »Gefängniswärters« hatte die Teilnehmerin immer das Gefühl, Wiedergutmachung leisten zu müssen – bis zur Selbstaufgabe. Erst die Erkenntnis, das ihr Großvater in der SS war und in Esterwegen und Sachsenhausen an Gräueltaten direkt oder zumindest indirekt beteiligt war, stellte die Geschichte für sie auf die »Füße«. Sie konnte daran arbeiten, ihrem Großvater die Verantwortung für das Vergangene zurückgeben und sich ihrer Verantwortung für die Zukunft zuwenden, an der sie genug zu tragen hat.

Ein historisches Verständnis bedeutet, nicht nur die systemische Perspektive einzunehmen, z. B. zu wissen »Niemand ist allein krank«, sondern im Auge zu behalten: In welcher Zeit und Generation sind die Menschen groß geworden, welcher sozialen Schicht gehörten sie an, welchen Beruf haben sie ausgeübt, wie waren sie religiös gebunden, lebten sie auf dem Land oder in der Stadt, welche politische Orientierung hatten sie und woran macht der Teilnehmer oder die Teilnehmerin das fest? Radebold (2010, S. 13) beschreibt es wie folgt: »Als Therapeuten müssen wir also folgende Frage stellen: Zu welchem Jahrgang gehören Sie (oder Ihre Eltern) und was haben Sie erlebt?« Welche Wirklichkeitskonstruktionen des Systems waren für welche Sinnbildung wann wichtig, behindern oder blockieren aber heute das Wachstum der Teilnehmerin oder des Teilnehmers? Welche möglichen transgenerationalen Themen verbergen bzw. zeigen sich in der Problemsicht des Teilnehmers? 162

Therapeut oder Therapeutin bei der Familienrekonstruktion

Hierzu ist es unseres Erachtens wichtig, die Konzepte von Rolf Ritscher (2001), Hartmut Radebold, Luc Ciompi, Stephan Marks, Arno Gruen sowie Boike Rehbein und Jessé Souza zu kennen. Das heißt, es ist wichtig, sich für historische und politische Zusammenhänge zu interessieren, ihre möglichen Auswirkungen auf die sozialen Systeme, in denen Familien eingebunden sind, zu kennen und sie mit in der therapeutischen Arbeit zu berücksichtigen. Was die jüngere deutsche Geschichte betrifft, sind hierzu in den vergangenen Jahren sehr viele empfehlenswerte Bücher erschienen. Die Veröffentlichungen von Sabine Bode (Bode, 2004, 2009, 2011, 2016) zählen hier ebenso dazu wie Publikationen über Vertriebene (Burk, Fehse, Krauss u. a., 2013), Flucht (Schmidt, 2011), Bombenkrieg (Friedrich, 2002) oder Nachkriegszeit (Müller-Münch, 2012), um nur einige Beispiele zu nennen. Man muss nicht jedes Buch lesen, um Familienrekonstruktionen durchführen zu können, aber sicher ist es hilfreich, sich über einschlägige Literatur oder auch Filme mit der Zeit und dem Zeitgeist vertraut zu machen, der die Lebenszeit der Eltern und Großeltern geprägt hat. Und noch ein letzter wichtiger Punkt: Unserer Erfahrung nach sollte die Familienrekonstruktion von zwei Therapeuten unterschiedlichen Geschlechts geleitet werden. Und sie sollten in ihrer Zusammenarbeit erprobt und sicher sein.

Therapeut oder Therapeutin bei der Familienrekonstruktion

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Literatur

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Literatur

Anhang 1: Fallbeispiele und ihre thematischen Schwerpunkte

Die hier aufgeführten Berichte von Teilnehmenden haben wir – bis auf Rechtschreibkorrekturen – unverändert übernommen und lediglich mit einer Überschrift und einzelnen Kommentaren versehen.

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Bericht 1: Als Tochter und Frau im Familienunternehmen Menschen, die in Familien groß geworden sind, die zugleich Familie und Familienunternehmen sind, haben mit über die üblichen Themen hinaus besonderen Wirkfaktoren zu ringen. Die Existenz der Familie ist mit der Existenz des Unternehmens untrennbar verbunden. Die Beiträge einzelner Familienmitglieder beziehen sich auch immer auf das Unternehmen. Alle Mitglieder sind meistens mehr oder weniger öffentliche Personen. Die Fragestellung, mit der ich zu der Familienrekonstruktion gegangen bin, war das in meinen Augen herzlose und distanzierte Verhalten meiner Mutter und meines Vaters. Ich konnte nicht verstehen, warum meine Eltern mir gegenüber so wenig Wärme und Verständnis entgegenbringen konnten. Von der Familienrekonstruktion habe ich mir Klärung in diesen Fragen erwartet als auch mehr emotionale Unabhängigkeit von meinen Eltern. Zu dem Zeitpunkt der Rekonstruktion war meine Mutter seit einem Jahr verstorben und bereits seit 11 Jahren nicht mehr im früheren Sinne anwesend, da sie nach einem schweren Unfall geistig und körperlich schwer behindert war. Mit meinem Vater hatte ich einen großen Konflikt. Er hatte mir – gefühlt – beinahe meine Lebensgrundlagen entzogen. Mein Vater hatte mich erst gebeten, sein Unternehmen fortzuführen, um es mir, als ich mit meiner Familie zu ihm zog und wir dadurch unser gesamtes früheres, unabhängiges Leben in einer völlig anderen Umgebung aufgaben, dann doch nicht anzuvertrauen. Emotional und finanziell war das für uns schwer zu verkraften. Ich war zu der Zeit seit 17 Jahren mit meinem Mann zusammen, seit 13 Jahren mit ihm verheiratet, unsere Kinder waren 11, 9 und 3 Jahre alt. Die Aufstellung meiner Familie in der Familienrekonstruktion war für mich ein intensives Erleben. Am Anfang fühlte es sich fast wie etwas Verbotenes an, im Hinterkopf kam bei mir der leise Gedanken auf, ich würde meine Familie verraten. Ich suchte mir aus der Gruppe Stellvertreter und stellte sie dann als meine beiden Eltern, meine drei Geschwister und mich auf. Wei170

Anhang 1: Fallbeispiele

terhin baten die Therapeuten mich, noch jemanden als Stellvertreter für das Familienunternehmen aufzustellen. Sodann befragten die Therapeuten alle sieben Stellvertreter, wie es ihnen dort auf dieser Position gehe. Die Antworten der drei Stellvertreter meiner Geschwister waren für mich sehr einleuchtend und gaben in etwa das wieder, was ich auch fühlte. Dennoch war es für mich eine neue Erkenntnis. Meine Geschwister waren bisher nicht wirklich in meinem Fokus gewesen, ich hatte nie darüber nachgedacht, wie sie ihr Verhältnis zu unseren Eltern sahen. In den Antworten der Stellvertreter wurden Gefühle geäußert, die den meinigen sehr ähnlich waren, sie sprachen von dem Gefühl, sich zurückgewiesen und isoliert zu fühlen. Der Stellvertreter meines Vaters sprach von der hohen Verantwortung, das Familienunternehmen und die Familie im Blick zu haben. Der Stellvertreter des Familienunternehmens fühlte sich wohl, bedeutend, im Zentrum, eingekreist von allen. An die Antwort meiner Stellvertreterin und der Stellvertreterin meiner Mutter kann ich mich nicht erinnern. Dann wurde ich eingewechselt gegen meine Stellvertreterin, nun stand ich mit in der Aufstellung. Meine Therapeutin bat mich, die Stellvertreterin meiner Mutter zu fragen: »Warum warst du nicht für mich da, als ich dich brauchte?« Ich wiederholte den Satz, obwohl es mir sehr unangenehm war. Einen solchen Satz zu sprechen, kam mir viel zu intim vor als auch anmaßend. In meinem Aufwachsen war es mir nicht erlaubt gewesen, Liebe für mich einzufordern. In den letzten Jahren meiner Schulzeit kam es zu einigen Versuchen meiner Mutter, mir persönliche und intime Fragen zu stellen, was ich dann nicht mehr zuließ, es kam mir irgendwie verspätet und nicht mehr passend vor. Ich war es nicht gewohnt, in meiner Familie über Gefühle zu sprechen. Auch meine Eltern sprachen nie über ihre Gefühle. Mein Elternhaus war zwar offen und gastfreundlich, in bestimmter Hinsicht auch tolerant und frei. Gefühle und Liebe wurden aber nicht gezeigt und schon gar nicht verbalisiert. Zuwendung gab es durch Strukturen, wie gemeinsames Essen, Rituale beim Zubettgehen oder in der Weihnachtszeit. Auf diese Frage hin »Warum warst du nicht für mich da, als ich dich brauchte?« brach die Stellvertreterin meiner Mutter in Tränen Bericht 1: Als Tochter und Frau im Familienunternehmen

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aus und sagte, dass es in diesem Umfeld mit dem Familienunternehmen und der ganzen Organisation der großen Familie und den vielen Menschen nicht gegangen sei, mir die Liebe zu geben, die ich bräuchte. Sie hätte dafür nach Hamburg in eine Wohnung ziehen müssen, weg von dem Familienunternehmen und der Schwiegermutter und allem. Diese Antwort war für mich überwältigend und brachte mir eine wirklich neue Erkenntnis. Obwohl es »nur« die Antwort einer Stellvertreterin war und meine Mutter das so bestimmt nie ausgedrückt hätte, gab die Reaktion mir eine Antwort auf meine Eingangsfrage. Denn ich verstand das erste Mal, wie sehr meine Mutter von ihrem Umfeld und vom Familienunternehmen beeinflusst und beengt gewesen war. In dem Umfeld war es ihr nicht möglich gewesen, ihre Liebe zu uns zu zeigen, ihre Leidenschaft zu leben und frei zu agieren. Sie hat von ihrem Umfeld viel Abwertung erfahren und hat diese Abwertung auch an ihre Töchter weitergegeben. Durch diese Aufstellung bekam ich viel mehr Verständnis für meine Mutter auf der Erwachsenenebene. Nun konnte ich, die ja selbst Mutter war, eine andere Mutter verstehen mit ihren Schwierigkeiten und in ihren systemischen Zusammenhängen. Ich konnte meine Mutter das erste Mal auf Augenhöhe betrachten und ihr auf Augenhöhe begegnen, auch wenn eine wahre Begegnung nicht mehr möglich war. Durch die Blicköffnung auf die Bedürfnisse und die unerfüllten Wünsche meiner Mutter verlor sie ihre Macht über mich. Ihre Abwertungen und ihre Kritik konnten mich in meinen Gedanken nicht mehr schrecken, da ich nun dahinter ihre erlittenen Verletzungen und ihre eigene Hilflosigkeit sehen konnte. Sie fiel sozusagen in meinen Augen von ihrem hohen (Kritik-)Ross. Die Bindung über negative Gefühle zu meiner Mutter wurde aufgelöst. Manchmal bedaure ich, dass es nicht mehr möglich war, eine neue positive Bindung auf Augenhöhe aufzubauen. Aber ich bin jetzt frei in meinem Handeln und meinem Denken. Verbote und Vorstellungen von früher haben ihre Macht über mich verloren, ich bin von meinem Elternhaus emanzipiert. So kann ich meine Energie für mein jetziges Leben und meine heutige Familie nutzen.

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Anhang 1: Fallbeispiele

An dieser Geschichte wird deutlich, dass die Mutter der Teilnehmerin ihr Muttersein in diesem repräsentativen, unternehmerischen Kontext und mit der alles bewertenden Schwiegermutter nicht leben konnte. Sie hätte gemäß dem Gefühl der Repräsentantin in der Aufstellung, das auf eine stimmige Wahrnehmung der Teilnehmerin traf, dafür mit der Kernfamilie vom Unternehmen und den Herkunftsfamilienbezügen wegziehen müssen. Das war unvorstellbar. Auch in der Folge war dem Vater die Angst vor dem Misslingen seiner Tochter als Nachfolgerin bedeutsamer als die Beziehung zu ihr und ihrer Familie. So mächtig können Traditionsunternehmen sein!

Bericht 1: Als Tochter und Frau im Familienunternehmen

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Bericht 2: Nachbeelterung In nahen Beziehungen, z. B. zum Partner, erleben Menschen, die eine tiefe Bindung eingehen, selbstverständlich auch Abhängigkeitsgefühle. Ob die als Ausgeliefertsein erlebt werden, hängt sehr häufig von ihren Vorerfahrungen als Kind ab. In dieser Zeit waren sie ja tatsächlich existenziell abhängig und dem elterlichem Verhalten ausgeliefert. Da spielt es auch keine Rolle, aus welchen Gründen meine Eltern mir keine genügende Fürsorge zur Verfügung stellen konnten. Wenn ich also nicht »satt« bin von elterlicher Fürsorge, kann das Abwenden im Streit von meinem Partner genau diese alte »Trace« mobilisieren. Dann braucht es kräftigere, neue Bilder, die die alten ersetzen können. Wenn ich mich mit meinem Ehemann stritt, kam es immer wieder vor, dass ich in ein tiefes Loch der Verzweiflung fiel. Dabei ging es nie auf der Sachebene um große Themen oder Differenzen, die Streitigkeiten entstanden immer aufgrund bestimmter Dynamiken zwischen uns auf der Beziehungsebene. Es fühlte sich für mich dann nicht mehr an, wie »nur irgendein Streit«. Es fühlte sich an, als würde meine Welt zusammenbrechen. Ich verlor in diesen Momenten jeglichen Kontakt zu meinen Ressourcen und konnte nichts Positives mehr spüren. Obwohl ich ansonsten recht glücklich und zufrieden mit meinem Leben war, meinen Ehemann sehr liebte und viele glückliche und schöne Erlebnisse über Jahre mit ihm teilen konnte, war ich, wenn wir uns so stritten, nicht mehr in der Lage, darauf zurückzugreifen. Durch die Familienrekonstruktion wollte ich herausfinden, warum ich aufgrund solcher geringen Anlässe in eine solche Verzweiflung kommen konnte, warum das Loch, in das ich fiel, so tief und so schwarz war. Die Therapeuten wählten den Lebensfluss. Dabei wurde ich dazu eingeladen, die Stationen meines Lebens abzulaufen von der Geburt bis zum Erwachsenensein. Die Therapeuten baten mich, dabei in den Momenten innezuhalten, an denen mir – gefühlt – gute und liebevolle Eltern gefehlt haben. Ich ging mit den Therapeuten an meiner Seite mein Leben im Alter von 0 bis ca. 174

Anhang 1: Fallbeispiele

25 Jahre ab und hielt an ca. 5–6 Momenten an. Nun spielten die beiden Therapeuten meine Eltern in der Form von Wunscheltern. Sie gaben mir dadurch die Möglichkeit, zu erleben, wie es auch hätte sein können und wie es gewesen wäre, mit liebevollen und fürsorglichen Eltern aufzuwachsen. Sie kamen und trösteten mich, wenn ich weinte. Sie spielten mit mir. Sie ließen mich nicht alleine, sondern organisierten Babysitter. Sie waren für meine Fragen über das Erwachsenwerden da, sie akzeptierten meine Freunde. Sie spielten wunderbare Eltern, bei denen ich mich rundum aufgehoben fühlte. Durch dieses Erleben bedingungsloser Unterstützung und von Interesse an meiner Person wurde mir bewusst, auf was ich alles habe verzichten müssen und auf was ich eigentlich ein Anrecht gehabt hätte. Ich konnte mir nun vorstellen, dass früher eigentlich jemand hätte da sein müssen, wenn ich weinte und verzweifelt war. Diese Vorstellung half mir künftig in Momenten von Traurigkeit. Ich hatte nun erfahren, wie es sich anfühlt, als Kind getröstet zu werden. So lernte ich, mich quasi selbst zu trösten. Auch verstand ich durch die Familienrekonstruktion, dass das Ausmaß meiner Traurigkeit daher rührte, dass sich die Streitsituationen so anfühlten, wie das Alleingelassenwerden als Kind und sich bei mir damit ein Gefühl existenzieller Bedrohung einstellte. Durch dieses Verstehen gelang es mir besser, auf der Erwachsenenebene zu bleiben und mir den Zugang zu meinen Ressourcen zu erhalten.

Bei dieser Arbeit geht es nicht darum, die Eltern zu beschämen oder ihnen zu vergeben (das kann durchaus ein Effekt sein), sondern eher darum, die eingefrorenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, anzuerkennen, Anerkennung zu erleben und Bilder (unter Zeugenschaft der gesamten Gruppe) davon zu entwickeln, was es gebraucht hätte.

Bericht 2: Nachbeelterung

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Bericht 3: Zerstörerische Familie Es kommt ganz selten vor, dass der erste Impuls beim Erfassen einer Familiengeschichte ist: Hier haben die Eltern ihr Elternrecht verwirkt. Hier ist jegliches Elterliches, also schützendes, versorgendes, behütendes, anteilnehmendes, liebevolles, bedachtsames Verhalten abgestorben, zerstört. Das Mitgefühl für die Eltern und ihre schwere Geschichte verlangt dem Teilnehmer Verständnis für diese zerstörerische Energie ab. Das kostet ihn viel Kraft, die ihm für die Gestaltung seines Lebens fehlt. Vor allem wenn es zu keinem Zeitpunkt einem der Elternteile möglich war, die Verantwortung für ihr Handeln oder Nichthandeln anzunehmen. Da scheint es eher um Frieden und Achtung für die eigene Geschichte zu gehen und die Erlaubnis, unabhängig bzw. in Abgrenzung von seiner Herkunftsfamilie seinen Weg zu gehen. Mit der Rekonstruktion in Babke begann wieder einmal die Frage nach der Bedeutung meiner Kindheit und ihre Wirkung auf mich, ihre Wirkung auf meine Gegenwart und meine schon zu diesem Zeitpunkt gefühlte lebenslange Auseinandersetzung damit. Meine ersten zwanzig Lebensjahre verbrachte ich in einer emotional immer instabilen Familie. Meine Eltern wuchsen beide, wie ich aus ihren Erzählungen und aus denen ihrer noch greifbaren Vorfahren weiß, selber in ähnlichen Verhältnissen auf. Eine wirklich stabile und liebevolle Kindheit hatten sie nicht im Berlin der 30er Jahre und in den daran anschließenden Wirren des Zweiten Weltkrieges. Vor dem Krieg gab es da Armut, Arbeitslosigkeit und prekäre, unsichere Arbeitsverhältnisse, im Krieg eine Jugend ohne Väter, Bombennächte und Eltern, die sich eher gleichgültig waren, als dass sie sich mochten oder gar liebten. Beispielhaft sei erwähnt, dass die Mutter meiner Mutter irgendwie fast froh schien, dass ihr Mann in Russland geblieben war, das ersparte die Scheidung. Die Eltern meines Vaters ließen sich in den Jahren nach dem Krieg scheiden, beide nur noch durch einen kleinen Betrieb verbunden und weniger durch die noch gerade jugendlichen Kinder. Meine Mutter, sie war Einzelkind, wuchs in den letzten Jahren des Krieges bei den Großeltern in Schlesien auf, die schon wenig Zuwendung für ihre eigenen Kinder übrig hatten. In 176

Anhang 1: Fallbeispiele

den letzten Kriegswirren floh sie über Umwege mit ihrer angereisten Mutter wieder zurück ins völlig zerstörte und geteilte Berlin. Einen Beruf lernte sie dort nicht, sie wurde als Näherin angestellt, lebte extrem beengt in einem Zimmer mit ihrer Mutter und lernte jung, mit um die 18, meinen späteren Vater kennen. Mein Vater, ein Jahr jünger, arbeitete zunächst in der elterlichen Wäscherei, die zur selben Zeit aufgegeben wurde wegen der Scheidung der Eltern, und ging dann in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Frankreich in die Kohlengruben von Lille arbeiten. Die aus der Entwurzelung geborene Einsamkeit trieb ihn zurück. Meine zukünftige Mutter und er versuchten, so verstehe ich ihre Geschichten, sich gemeinsam Halt zu geben, indem sie sich eine Familie selber gaben, die das erfüllen sollte, was ihnen immer gefehlt hatte und im Kino der Kriegs- und Nachkriegszeit oft genug gezeigt wurde. Ihre eigene Familiengeschichte konnte da keine Vorbildfunktion bieten. Da trafen zwei junge Menschen erwartungsvoll zusammen, die Liebe, Geborgenheit, Verständnis, Akzeptanz und viele andere Dimensionen des guten Zusammenlebens suchten. Meine Mutter wurde schnell und mehrfach hintereinander schwanger, das Geld reichte nie, die schwere Arbeit meines Vaters wurde schlecht bezahlt, er war ja nur angelernter Arbeiter, und dann versuchten meine Eltern mit den ersten drei Kindern einen Neustart als Bauern in einer LPG. Eine meiner späteren Schwestern, so hieß es, war ein Kind von verunfallten Freunden, in Wirklichkeit glaubte mein Vater, sie sei sein Kind aus einer schnellen Nebenbeziehung. Diese Frau hatte das Kind in ein Kinderheim gegeben, kaum war es abgestillt. Später stellte sich heraus, sie war nicht die Tochter meines Vaters. Das Kind wurde dann adoptiert, meine Mutter nahm das ganze hin und versorgte auch diese Schwester nicht anders als uns alle. Nein, ich weiß nicht, wie meine Mutter dieses schon frühe Hintergangenwerden verkraftet hat, sie hat alle Kinder einfach nur, so gut es ging, versorgt. Da sie nur wenig an emotionaler Sättigung bekommen hatte, konnte sie uns auch nichts davon weitergeben. Mein Vater warf ihr ewig emotionale Kälte vor, er selber war emotional immer sehr instabil. Innerhalb von kürzester Zeit konnte er sich wandeln vom zugewandten Vater zum jähzornig schlagend strafenden Richter oder einfach nur gleichgültigen FamilienoberBericht 3: Zerstörerische Familie

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haupt. Das Leben meines dominanten Vaters war durchzogen von depressiven Episoden, Tablettensucht, Alkoholexzessen, Machtmissbrauch in seiner Familie und später auch sexuellem Missbrauch an meinen Schwestern. Nach außen war er sehr unsicher, ja ängstlich im Umgang mit Offiziellen, und nur großartig und großtuerisch, wenn er wieder einmal betrunken war. Meine Kindheit fand in diesem Spannungsnetz statt. Mal war ich als einziger Sohn die große Hoffnung, mal der verweichlichte und wenig Stolz bietende Sohn. Mal wollte er mir alles beibringen, was er konnte, und hoffte, ich würde einfach so mehr werden als er selber, dann wieder schlug und trat er ungeduldig nach mir, weil ich nicht so spurte, wie er wollte. Mit zunehmendem Alter war ich dann in seinen Augen so etwas wie eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit und Zuwendung seiner Frau und meiner Mutter. Außer dass meine Mutter mal anders für uns Kinder kochte, konnte ich kaum Ausnahmen in der Zuwendung von Gefühlen erkennen. Meine Mutter blieb immer nur die relativ farblose Versorgerin, die ihn ertrug und uns im Zweifelsfalle, wenn er uns strafte oder sonst für seine Zwecke missbrauchte, nicht offen beistand. Oft genug beschwichtigte sie das Ganze mit der Aussage: »Da warst du/wart ihr sicher auch nicht ganz unschuldig an dem Geschehen!« Tief in mich eingegraben hat sich ganz früh der Wunsch, auf keinen Fall so zu werden wie dieser Mensch. Nicht so zu leben wie meine Eltern. Als Jugendlicher und junger Mann war ich vor allem damit beschäftigt, die Antithese zu meinem Vater zu sein und auf keinen Fall die Widersprüchlichkeiten zu leben, die ich erlebt hatte. Ich wusste vor allem, wie es nicht geht. Wie ich mich selber in Freundschaften und später in Beziehungen verhalten konnte, das hatte auch ich nie gelernt. Seelisch war ich wohl ein sehr sensibles Kind, und das sehr schnell wechselnde Verhalten meines Vaters trainierte mich in der Achtsamkeit auf andere. Es war fast überlebenswichtig, die Zeichen zu erkennen, die auf die Stimmungen meines Vaters schließen ließen, damit ich mich in Sicherheit bringen oder angepasst verhalten konnte. Dieses Training hat mich bis heute geformt und meine Umgebung wird von mir fortwährend intensiv erfasst. Meine Mitmenschen werden fast immer mit allen Sinnen beobachtet, unbewusst 178

Anhang 1: Fallbeispiele

beurteilt und sind allerdings schon lange einfach nur interessant für mich. Um nicht so zu leben wie meine Vorfahren, habe ich gelernt, mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen, eine andere Möglichkeit, um emotional zu überleben, gab es für mich nie. Immer wenn ich wieder versuchte, nur einfach so zu leben, dann wurde mein Leben oft – gefühlt – sehr kompliziert und alle Versuche, einfach nur mit mehr Anstrengung und »Gutsein« lösten die sich auftuenden Probleme nicht. Ich hatte zum Glück Freunde, die sich für mehr als die Oberfläche interessierten, die wissen wollten, warum ich was tat, wie ich denkend fühlte und fühlend dachte. Mit 16 Jahren griff mein Vater mich zu ersten Mal direkt an. Ich hatte versucht, einer meiner älteren Schwestern dabei zur Hilfe zu eilen, als mein Vater wieder einmal sturzbetrunken nicht zur Ruhe zu bringen war. Am nächsten Tag, er hatte sich im Suff verschiedene Verletzungen zugezogen, die er mir zuschrieb, drohte er mir: »Wenn ich das nächste Mal betrunken bin, dann nimm dich in acht!« Als es nach Wochen dazu kam, schloss ich mich in mein Zimmer ein und er wollte hinein. Am Ende schlug er die Tür gewaltsam ein, und ich floh mitten in der Nacht mit meinem Moped. Ich wusste nicht wohin. Meine Freunde traute ich mich nicht zu wecken, also verbrachte ich den Rest der Nacht auf der Straße. Mit 21, ich war in der Ausbildung zum Krankenpfleger, kam es, als meine Freundin zu Besuch war, zu einer ähnlichen Szene. Auch dieses Mal wollte er unbedingt zu uns in mein Zimmer, ich wollte meiner Freundin die peinliche Begegnung mit meinem Vater ersparen. Er jedoch bestand darauf, mit mir gerade jetzt reden zu wollen, ich kannte diese besoffenen Gespräche ohne Ende, mit mitleidheischender Selbstumrundung und stetiger Selbstbeweihräucherung bis ins Fremdschämen hinein. So versuchte ich, diese Begegnung zu vermeiden und ließ meinen Vater nicht ins Zimmer. Mit der Folge, dass er nach einigen Schimpftiraden anfing, die Zimmertür zu traktieren. Er wollte sie dann wieder einschlagen, meine Freundin war sehr irritiert und bekam sichtlich Angst. Ich selber hatte jetzt keine mehr, da konnte ich auf meine eigene körperliche Kraft vertrauen. Dann drohte mein Vater, die Polizei zu rufen, um mich aus seiner Wohnung entfernen zu lassen. Tatsächlich wurde ich dann nach Bericht 3: Zerstörerische Familie

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deren Eintreffen gefragt von den Polizisten, die schnell die Situation mit dem aggressiven volltrunkenen Mann überblickten, ob sie ihn in Gewahrsam nehmen sollten. In dieser Nacht habe ich dann die Wohnung meiner Eltern verlassen, und nachdem ich meine Habe am nächsten Morgen abgeholt hatte, nie mehr betreten. Meiner Mutter, die zu diesem Zeitpunkt in einer Kur war, und auch meiner Großmutter fiel nur ein, dass ich sicher an dem Konflikt selber mit schuld war. Nach dieser letzten Episode habe ich deutlicher als je davor gemerkt, dass ich nicht in diese Familie gehöre und dann beschlossen: Lieber keine Familie zu haben als diese, in die ich auch schon lange zuvor nicht hineingepasst hatte. Alle Menschen, die mich und meine Lebensgeschichte kannten, verstanden meine Reaktion sofort. Der Beschluss, mich selber zum Waisen zu machen, war eine starke Befreiung von der schädlichen weiteren Auseinandersetzung mit diesen in sich selbst verstrickten, unsensiblen, andere schädigenden und missbrauchenden Menschen. Die Wirkung ihrer Erziehung im weitesten Sinne war damit nicht beendet und bedeutete noch über viele Jahre, ja Jahrzehnte intensive Seelenarbeit, lange Gespräche, therapeutische Beratungen und auch immer wieder Scheitern durch die eigenen Unzulänglichkeiten und Instabilitäten. Der Schnitt war sehr radikal, und dennoch gab es keine Zeit in meinem Leben, in der ich diesen Schritt wieder revidieren wollte. Diese Entscheidung galt auch nur für mein Leben, und niemandem anderen wünschte ich je, ähnlich handeln zu müssen. Parallel dazu fühlte ich mich als Gast in jeder Familie sehr wohl, in der der Umgang miteinander normal, ja vielleicht sogar verständnisvoll und liebevoll war. Irgendwann war mir klar, für ein anderes Leben als das erlebte, ist es notwendig, die Vergangenheit zu bearbeiten, damit diese nicht ständig in der Gegenwart wirkt. Fast so, als hätte ich negatives emotionales Kapital geerbt, war es notwendig, um zu überleben, anders als meine Vorfahren zu leben und auch glücklich zu sein, die »geerbten Schulden« abzuarbeiten. Bourdieu spricht von der Bedeutung des kulturellen Kapitals, das man entsprechend seiner Herkunft/ Schichtzugehörigkeit erbt und welches einem den Weg und Umgang in der Gesellschaft erleichtern oder erschweren kann. Ich selber dachte sofort, als ich darüber nachdachte, dann gibt es ebenso ein 180

Anhang 1: Fallbeispiele

seelisches Kapital, dass wir ebenso und ohne die Möglichkeit, dieses Erbe auszuschlagen, erben. Wie jedes Erbe kann es einem das Leben leichter oder schwerer machen, weil es vielleicht überschuldet ist. Mit dieser gelebten Geschichte, mit der ich mich immer wieder und oft auch leidvoll erinnert intensiv und lange auseinandergesetzt hatte, ging ich in die systemische Beraterausbildung. Ich hatte nichts dagegen, über mein Leben zu erzählen, glaubte, lange und stark genug an mir selber gearbeitet zu haben, mit der Einschränkung und dem Wissen: Damit ist es, solange ich lebe und erinnere, nie vorbei. Mir war klar, diese Geschichte ist mit mir verwoben, hat immer auch ihren Einfluss gehabt und wird ihn auch immer haben. Allerdings hatte ich, als die Aufgabenstellung zur Familienrekonstruktion gestellt wurde, keine Lust, diese ganze leidvolle Geschichte nun auch noch tief, kreativ, mit Bildern und Interviews unterstützt plakativ aufzubereiten. Nein, nicht so und nicht mit diesem umfassenden Auftrag! Diese Arbeit schien mir verschwendet. Ich sah ein, mit dem, was ich wusste und selber durchlebt hatte, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie ist, ich hatte es ja in den letzten vierzig Jahren immer wieder getan in allen möglichen Kontexten. Nur jetzt war das Geschichte oder sollte nur noch dann Gegenstand meines Lebens sein, wenn ich selber spürte, da ist noch etwas abzuarbeiten, weil es mich behindert oder in einer Weise beeinflusst, dass mein gegenwärtiges Leben dadurch gestört wird. Zur Zeit der Aufgabenstellung war genau das Gegensteil der Fall, mein Leben war sehr ausgeglichen, ich lebte in einer glücklichen Beziehung und fühlte mich sehr verwöhnt vom Leben. Also schob ich die Aufgabe vor mir her und wurde, je näher die Fahrt nach Babke kam, immer unwilliger, die Vorbereitungsarbeit in Angriff zu nehmen. Ich wollte im Grunde dem Leben in meiner Ursprungsfamilie nicht mehr diese Aufmerksamkeit und Energie geben, zumal es so gar keinen Leidensdruck gab, wieder in die Erinnerung abzutauchen und schon gar nicht auch noch den Gespenstern aus der Vergangenheit live zu begegnen, um diese zu interviewen. In Babke dann wurde mir klar: Für die Arbeit in meiner Vorbereitungsgruppe war es notwendig, auch meine Geschichte zur Verfügung zu stellen, einfach als Übungsfeld für die anderen Gruppenmitglieder. Dagegen hatte ich ja gar nichts, zu keiner Zeit, denn meine Bericht 3: Zerstörerische Familie

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Geschichte hatte ich so oder anders in Teilen schon oft erzählend bearbeitet. Nur die Ehre der kreativen Darstellung des ganzen Mistes ging mir entschieden zu weit. Als dann die erste Reko lief, ich an der Bearbeitung der immer noch wirkenden Themen meiner Kollegen in verschieden Rollen beteiligt war, da wurde mir sehr klar, welch wirksames Instrument diese Arbeit für den Einzelnen sein kann. Mit der großen Chance, Wunden, die immer noch schwelen, abheilen und vernarben zu lassen. Auch alle anderen erlebten in ihrer Reko etwas Heilsames, manchmal auf sehr eindrucksvolle Weise, manchmal auch ganz still. Das Team, das mit uns arbeitete, hatte für jeden ein Instrument, das helfen konnte, ein einflussreiches Ereignis oder Erlebnis noch einmal aufzugreifen und über das Erzählen hinaus noch einmal greifbar und begreifbar zu machen. Alle konnten etwas, was in ihnen schmerzhaft wirkte wie ein verwachsenes Projektil, ein Stück weit erst einmal sehen, ja noch einmal fühlen, noch einmal in der geschützten Inszenierung tief durchleben, um dann – davon distanziert – den Schritt der Integration statt der Verdrängung gehen zu können. Irgendwann war es dann so weit: Ich stand mit dem Rekoteam vor meiner bildlosen plakativen Geschichte und dann fiel der Satz: »Dein Vater wollte dich ja vernichten!« Und die nächste Frage war: »Was willst du mit den schlimmen Anteilen deiner Geschichte tun?« Ich war erst einmal erleichtert, hier sollte kein Detail noch einmal hervorgeholt werden, ganz im Gegenteil, ich bekam die Absolution mit dieser Geschichte aus meiner Kindheit und Jugend, so umzugehen, wie ich wollte. Ich habe mich entschlossen, alles, was da stand, mit aller Kraft herunterzureißen und dann zu vernichten. Der Schritt, den ich schon vor so vielen Jahren unternommen hatte, wurde nun in einem feierlichen Ritual ein weiteres Mal – offen und ohne, dass ich mich rechtfertigen sollte – wiederholt, als wichtig hervorgehoben und abgeschlossen. Mir wurde ganz selber überlassen, was ich mit den zerfetzten Seiten tun wollte: Ich habe die Papierreste mit allen zusammen in einem feierlichen Ring verbrannt. Meine Reko wurde vollständig mit dem Schritt, dass mir eine neue Familie geschenkt wurde, in der alle Teilnehmer sich aussuchen konnten, wer von meinen neuen Verwandten sie sein wollten 182

Anhang 1: Fallbeispiele

und was sie mir mit auf den Weg geben wollten. Ein Schritt, der eine neue Geborgenheit in mir entstehen ließ. Nachdem ich mich scharf und zum Selbstschutz von meiner biologischen Ursprungsfamilie getrennt hatte, habe ich immer gedacht: Du suchst dir in deinen Freunden eine eigene Familie deiner Wahl. Jetzt war mir auch dieser Schritt der Bewältigung noch einmal tief fühlbar und ganz »offiziell« unter der Anleitung der Rekoleitung ermöglicht worden. Als Abschlussritual konnte ich mir wünschen, auf den Schultern der männlichen Teilnehmer und zweier Helfer durch den Raum getragen zu werden. Ich durfte fühlen, wie es ist, von positiver männlicher Energie angenommen und in Geborgenheit gehalten und getragen zu werden – als heilsames Gegenstück des als kastrierend erlebten aggressiven Verhaltens meines biologischen Erzeugers. Es tat gut, in der Rekonstruktion das Gefühl zu bekommen und das auch von kompetenter Seite, dass das, was du für die Rettung deiner Seele, deines Selbst und auch wohl deines Lebens als Schritt und dann in der jahrelangen Arbeit getan hast, wertvoll war und der richtige Weg. Gerade so, als hätte ich eine späte Absolution erteilt bekommen. Jetzt fällt es schwer, zu beschreiben, welche Wirkung die Rekonstruktion auf mein weiteres Leben hatte, denn ich war schon auf dem Weg. Ich kam nicht bedürftig in die Reko, mit einem verborgenen Gespenst, dass mit seinem Gift auf mein Unterbewusstsein wirkt. Mein Leben war zum Zeitpunkt der Reko schon sehr glücklich, auch wenn sich dieses Glück erst nach vielen Wirren einstellte. Die gesamte systemische Ausbildung einschließlich der Reko hat mich ruhiger, gelassener und dankbar gegenüber dem Leben gemacht. Ich darf jetzt leben, was ich lebe und das fühlt sich so an, als wenn ich nach harter Arbeit auf einem steinigen Acker, der sehr fruchtbar geworden ist, einfach nur ernte. Auch die Ernte ist noch Arbeit, aber eine wunderschöne. Die Rekonstruktion wirkt da immer noch wie ein Geschenk, ich weiß, wie wichtig es ist, loszulassen. Mir ist es wichtig geworden, meine oft sehr leidenden Klienten genau bei diesem Schritt zu helfen, damit sie dann in der sicher von ihnen beschränkten Gegenwart den Wert ihres Lebens erkennen und im Alltäglichen leben können.

Bericht 3: Zerstörerische Familie

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Mir (der Autorin) ist vollkommen klar, dass die beiden Lebensgeschichten überhaupt nicht zu vergleichen sind, und dennoch musste ich beim Lesen der Familienchronologie immer wieder an Niklas Frank denken, den Sohn von Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen, im Nürnberger Prozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und zum Tode verurteilt. Niklas Frank hat sein ganzes Leben mit der Bürde gelebt und gekämpft, ein Nachkomme dieses Mannes und dessen Frau zu sein. Menschen, von denen er sagte, sie hätten das Recht auf Leben verwirkt, es seien zutiefst schlechte Menschen. Niklas Frank schreibt dazu: »Es gibt Väter, die zeugen einen täglich neu. So, wie der meine mich. Ich schlug mich mit ihm herum, ein Leben lang. Erst innerlich. Dann exhibitionierte ich, schrieb einen wüsten Text, ungefiltert durch bürgerlichen Geschmack, genauso ekelhaft, wie deutsche und österreichische Bürger während des ›Dritten Reiches‹ ihren Verbrechen nachgingen, oder Hitler und seine Verbrecher schützten, stützten, verehrten, liebten – und die große Zeit bis heute nicht vergessen haben. […] Wenn man seinen Vater verfolgt, wie ich, wenn man in sein Hirn hineinkriecht, wie ich, wenn man seine Feigheiten studiert, und sie wiederfindet, wie ich bei mir, wenn man bei den Recherchen sieht, welch Gierzapfen meine Mutter war, wie sie das Generalgouvernement Polen als Supermarkt auffasste, in dem sie als ›Frau Generalgouverneur‹ die Preise selbst bestimmen konnte, wenn man, wie ich mit ihr, durch die Gettos fuhr und Pelze auflud aus den jüdischen Geschäften, deren Inhaber fälschlicherweise glaubten, durch Brigitte Frank ihr Leben retten zu können, dann kann aus all dem Leid und Hass zwischen den Leichenbergen nur eines entstehen: Die Groteske« (Frank, 1987).11

11 Zit. n. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Niklas_Frank. Abgefragt am 12.09.2016.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 4: Spätfolgen eines Euthanasieverbrechens Krieg, Faschismus, Gewaltherrschaften zerstören bzw. beschädigen nachhaltig Beziehungen in Familien. Das betrifft auch den Umgang dieser Systeme mit Kranken und Menschen mit Behinderungen und vor allem auch mit abweichendem Verhalten: Was in diesen Systemen nicht systemkonform ist und damit als abweichend, krank, unwert, verrückt usw. diffamiert wird, kann auch vernichtet, weggesperrt, misshandelt werden. In der Lebensgeschichte von Lisa (Jahrgang 1943) wird deutlich, wie ein Kriegskind sich durch die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte Zugang zu unbewussten Teilen erarbeiten und dadurch psychisch wachsen kann. Ich lernte die Therapeutin durch einen Vortrag kennen. Das Thema war »Bei scheinbar unüberwindlichen Eheproblemen ist Trennung nicht das beste Mittel der Wahl«. In meiner Ehe war ich schon viele Jahre unglücklich, litt unter starken Depressionen, verbrachte ca. einmal im Jahr 4–8 Wochen in der Klinik. Diagnose »endogene Depression«. Ich wollte verstehen, wie es kam, dass ich mich immer wieder versuchte zu trennen, und wenn ich eine Wohnung gefunden hatte und der Auszug anstand, suchte mich erneut die Depression heim. Diese Therapeutin vertrat die Ansicht, dass meine Depression einen Sinn macht, den ich noch nicht verstanden hatte, ich sei also nicht verrückt, ich müsse mich, wenn ich mehr verstehen wolle, auf die Suche nach dem Sinn meiner Not machen. So begann im Jahr 1999 unsere Zusammenarbeit. Ich begann, mich mit meiner Familiengeschichte zu beschäftigen. Die fühlte sich furchterregend, grau, gewalttätig und todtraurig an. Es lebten noch eine alte Tante und zwei Cousinen, die 10 und 14 Jahre älter sind als ich, meine Eltern waren schon lange gestorben. Mein Zwillingsbruder lebt damals schon acht Jahre nicht mehr, er hatte den Freitod gewählt, er litt auch an einer Depression und ging ins Wasser. Zu meinen zwei jüngeren Geschwistern habe ich keinen Kontakt, die leben auch im Ausland. Bis dahin hatte ich nie mit jemandem, auch nicht mit meiner Tante und meinen Cousinen, über die Vergangenheit gesprochen. Bericht 4: Spätfolgen eines Euthanasieverbrechens

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Durch meine Tante erfuhr ich erschreckende Neuigkeiten, meine geglaubte Mutter war nicht meine Mutter, mein Gefühl, es stimmt etwas nicht, bekam reale Gründe: Die Frau meines Vaters war meine Stiefmutter. Meine Mutter litt nach Aussagen meiner Tante nach der Geburt von meinem Bruder und mir (wir sind Zwillinge) unter einer starken Wochenbettdepression und wurde stationär in Ochsenzoll behandelt. Dort verstarb sie 1944. Mein Vater heiratete eine Nachbarin, die während des Krankenhausaufenthaltes meiner Mutter auf uns vier Kinder aufgepasste. Meine Stiefmutter war eine gemeine, sadistische Faschistin. Sie hat uns gequält, beschämt, misshandelt, unsere Kindheit bestand nur aus Angst und Schrecken. In der Familienrekonstruktion habe ich zum ersten Mal über mein Schicksal geweint und gespürt, meine Mutter hätte mich lieben können, auch ich bin ein wertvoller Mensch. Zur Rekonstruktion hatte ich die schriftliche Benachrichtigung aus Ochsenzoll mitgenommen. Dieses Dokument und viele Fotos meiner leiblichen Mutter hatte meine Tante über die vielen Jahre aufgehoben. Meine Therapeuten forschten währen der Rekonstruktionszeit in Ochsenzoll nach und machten eine grausige Entdeckung: Meine Mutter wurde mit 167 anderen Patienten nach Hessen in eine Tötungsanstalt verbracht und umgebracht. Alle Verwandten bekamen eine identische Benachrichtigung – Todesursache Herzversagen – alle am gleichen Tag. Meine Mutter ist ein Euthanasieopfer und ich bin es damit auch, ich habe keine endogenen Depressionen, ich bin todtraurig Wir haben für alle 167 Menschen eine Kerze angezündet, ich habe geweint, geweint, geweint, um all diese Menschen, um meine Mutter, um meinen Bruder und auch sehr um meine Kindheit und mein Leben. Die ganze Gruppe hat mitgetrauert, so konnte ich noch viel stärker glauben, wie schlimm es war. Nach der Rekonstruktion kam ganz langsam eine bis dahin unbekannte Kraft in mich. Ich musste nie wieder in die Klinik, manchmal war ich traurig, aber nie wieder depressiv. Meine Ehe ist oft freudlos, aber es besteht kein Grund, sie zu beenden. Wir sind Eltern und Großeltern, haben eine gemeinsame Vergangenheit. Mein Mann passte die ganzen Jahre meiner Erkrankung in seiner anspruchslosen Art sehr gut zu mir. Mit meiner neuen Lebendigkeit weiß er oft nichts anzufangen, aber das macht nichts. Unsere Töchter leben in den 186

Anhang 1: Fallbeispiele

USA. Ich traue mich heute, sie auch alleine zu besuchen, ich durfte sogar bei der Geburt meiner zwei Enkelkinder dabei sein. Was für ein Geschenk! Ich bin unendlich dankbar.

Die Zusammenarbeit mit Lisa mündete in einer ca. halbjährigen Begegnung, in der sie immer wieder über ihr Erlittenes und Erreichtes berichten wollte. Für sie war es wichtig, sich dadurch ihr Schicksal immer wieder glauben zu können. Wir hatten verabredet, dass sie über einen guten Abschluss unserer Zusammenarbeit nachdenken wollte. Nach vier Monaten erreichte mich (die Autorin) ihr Anruf aus der Universitätsklinik Hamburg, in dem sie beschrieb, dass sie sich kurz nach unserem letzten Termin schlapp, müde, niedergeschlagen und erschöpft gefühlt habe. Ihr behandelnder Arzt verbuchte die Symptome auf Grundlage der Vorgeschichte und wies sie wieder in die Psychiatrie (Ochsenzoll, wie ihre Mutter) ein, Diagnose »endogene Depression«. Nach einem achtwöchigem Aufenthalt teilte man ihr im Entlassungsgespräch mit, sie möge ihren Hausarzt konsultieren, mit ihren Blutwerten stimme etwas nicht. Es wurde eine aggressive Form von Leukämie festgestellt, und die Behandlung kam zu spät. Wir haben viel telefoniert, sehen konnte ich sie nicht mehr. Besuche waren wegen der Infektionsgefahr zu gefährlich. Im letzten Telefonat vor ihrem Tod berichtete sie mir, dass in ihrer Geschichte immer noch ein Gefühl verdrängt, angstbesetzt, verbannt war. Durch die Festschreibung auf das Krankheitsbild Depression sei sie so zornig und damit auch heiler geworden. Lisa starb im Beisein ihrer ganzen Familie. Für mich als ihre Therapeutin ist sie eine der wichtigsten Begegnungen in meinem Berufsleben, ich bin sehr dankbar dafür!

Bericht 4: Spätfolgen eines Euthanasieverbrechens

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Bericht 5: Transgenerationale Weitergabe von Schuldgefühlen Ich habe an zwei Familienrekonstruktionen teilgenommen. Bei der ersten Reko war die Sammlung der Informationen sehr schwierig, weil ich zu dieser Zeit keinen Kontakt zu meinen Eltern hatte. Es gab einige Fotos von mir und wenige von meinen Geschwistern und Eltern. Die Lebensläufe waren bruchstückhaft und von erinnerten Erzählungen geprägt. Dazu kamen massive Widerstände in mir, sich pünktlich zum Beginn der Rekonstruktion um Informationen und Material zu kümmern. Trotzdem wurde das Abbild meiner Familie rund, auch deshalb, weil ich mit meiner begleitenden Gruppe viel gesprochen habe. Ihre Fragen und Anmerkungen haben mir geholfen, immer wieder in mich hineinzuspüren und zu reflektieren, welche Erinnerungen ich in meinen Gedanken und Gefühlen hatte. Das Ganze dann aufgeschrieben an der Wand zu sehen, hat diesen Prozess zusätzlich verstärkt. Diese intensive Aufmerksamkeit, die ja mehrere Tage anhielt, war für mich zunächst sehr ungewohnt. Nur weil ich mir sicher war, dass Ursula Wolter-Cornell und ihre Kolleginnen und Kollegen alles schützten und ich mich jederzeit mit meinen Schwierigkeiten an sie hätte wenden können, ließ ich mich auf diese neue Erfahrung ein. Im Rückblick kann ich sagen, dass dieses starke Hinsehen auf meine Familie nicht nur mir, sondern auch meinen Familienmitgliedern einen anderen Status gegeben hat. Die Wertschätzung für und der Respekt vor sämtlichen Bewältigungs- und Lösungsversuchen, die meine Familie für ihre Probleme bis dahin entwickelt hatte, waren jederzeit spürbar und haben sich auf mich übertragen: Eine sehr entlastende Erfahrung, die die Scham über die eigene Familie verringert hat und dazu motivierte, sich weiter mit diesem Thema zu beschäftigen. Aus heutiger Sicht war die erste Rekonstruktion der Start einer mehrjährigen Aufarbeitung von Familien- und Kriegstraumata, von Moralvorstellungen und tradierten Glaubenssätzen oder Regeln. Sie machte es außerdem möglich, eine Vergewaltigung und eine Alkoholerkrankung zu enthüllen. Denn nicht nur ich war mit Erinnerungen und Fragen beschäftigt. Auch meine Geschwister, die z. T. nichts von 188

Anhang 1: Fallbeispiele

meiner Teilnahme wussten, erzählten in der Vorbereitungszeit und während der Rekonstruktion, plötzlich wichtige Details. Es hat mich immer wieder beeindruckt, wie sich das Spielen einer bestimmten Rolle oder Person auf mich als Darstellende oder Betrachtende ausgewirkt hat. Teil einer Situationsrekonstruktion zu sein, hatte zur Folge, dass ich Gefühle und Gedanken, die zu der jeweiligen Familie gehörten, tatsächlich wahrnehmen konnte und somit der betroffenen Person klare Rückmeldungen geben konnte. Offensichtlich hatte die intensive Beschäftigung mit einer Familie und das Rekonstruieren einer Situation es möglich gemacht, dass sich die dazugehörigen Gefühle und Gedanken verstärkt haben. Trotzdem konnte ich genau spüren, ob eine Wahrnehmung mehr mit mir, also mit meinen Lebenserfahrungen zu tun hatte, oder ob sie durch die Geschichte der fremden Familie ausgelöst wurde. Als Betrachtende einer rekonstruierten Situation aus meiner eigenen Familie habe ich viele Erkenntnisse über Beziehungsstrukturen und Verhaltensmuster erlangt. Da meine Familie groß und von Missbrauch jeder Art geprägt ist, war das für mich sehr wichtig. Ebenso war es gut und heilsam, Stellvertretern und Stellvertreterinnen Fragen stellen oder die eigene Meinung sagen zu können. Die Folge dieser intensiven Arbeit war unter anderem, dass sich so manches in meiner Familie in der Realität veränderte, wie z. B. ein neuer Umgangston, Strukturveränderungen oder ein anderes Gefühl gegenüber der Schwester oder dem Bruder. Eineinhalb Jahre später hatte ich wieder Kontakt zu meinen Eltern. Auch hierbei hatte mir die Erfahrung der Familienrekonstruktion geholfen. Als ich weitere zwei Jahre später an der zweiten Rekonstruktion teilnahm, konnte ich nun Vater und Mutter in der Vorbereitung direkt befragen. Allerdings waren das nicht nur Fragen zu ihrem Lebenslauf sondern auch welche zu ihren Einstellungen, zu ihren Gefühlen und Rollen und natürlich zu meinem persönlichen Leben. So konnte ich von meiner Mutter bestätigt bekommen, dass ich in den ersten Lebenstagen für eine Woche in ein Kinderheim gekommen war. Sie musste operiert werden und niemand stand für meine Versorgung zur Verfügung. Ich konnte auch meinen Vater genauer zu seinen Erlebnissen als Soldat im Zweiten Weltkrieg befragen und mit beiden über ihre Einstellung gegenüber den Nazis sprechen. Bericht 5: Transgenerationale Weitergabe von Schuldgefühlen

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Ich habe dieses Gespräch nur mit meinen beiden Eltern geführt. Niemand hat uns gestört, und ich bin sehr glücklich über diesen einzigartigen Moment in meinem Leben. Möglich wurde er nur durch die vorherige Rekonstruktion. Durch die intensive Vorbereitungszeit hatte ich diesmal viel mehr Material und Informationen zur Verfügung. Alles wurde von meiner Begleitgruppe auf große Papiere geklebt und für die gesamte Gruppe zur Ansicht an die Wand gehängt. Das war für mich ein sehr schwerer Moment, den ich nur mit der Unterstützung von Ursula Wolter-Cornell ausgehalten habe. Für alle war meine merkwürdige Familie nun sichtbar, und ich musste feststellen, dass niemand durchgedreht ist oder mich verurteilt hat. Es war einfach eine Familie unter all den anderen Familien. Das hat in mir viel Mut für spätere Betrachtungen meines Familiensystems ausgelöst. Da beide Rekonstruktion schon über zehn Jahre her sind, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, bei welcher Rekonstruktion die Beerdigung meines Onkels nachgestellt wurde. Der Bruder meiner Mutter war im Zweiten Weltkrieg in Frankreich ums Leben gekommen und meine Großmutter hatte den Verlust ihres Sohnes nie verarbeiten können. Ihre Traumatisierung wirkte sich direkt auf meine Mutter, die noch ein Schulkind war, aus und störte deren psychische Gesundheit. Dies wiederum hatte Auswirkungen auf mich und meine Geschwister, was sich u. a. darin zeigte, dass meine Mutter viel über den Tod des Bruders sprach und sie immer wieder von ihrer traurigen Mutter erzählte. Nachdem die Beerdigung meines Onkels gespielt worden war, hatte ich das Gefühl, dass ich einerseits für meine Mutter den Bruder erneut losgelassen und andererseits für mein Leben mit diesem Trauma aufgeräumt hatte. So konnte es nicht mehr in meiner Generation oder in der meiner Kinder wirken. Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass dieses intensive Konzept der Familienrekonstruktion direkte Friedensarbeit ist. Die Familien haben eine Chance, Traumata oder destruktives Verhalten generationsübergreifend aufzudecken und einen neuen Umgang damit zu entwickeln. Dabei gibt es kein vorgegebenes Muster, wie eine Versöhnung auszusehen hat oder ein Loslassen geschehen sollte. Die Familienmitglieder selbst erarbeiten in ihrem Prozess die nächsten Schritte und werden dabei von der Gruppe getragen, geschützt und 190

Anhang 1: Fallbeispiele

geachtet. Die Teilnahme an den Rekonstruktionen war für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die mir auch bei der Erziehung meiner Kinder geholfen hat. Ich kann nun erleben, wie sie, frei von belastenden Familienerlebnissen, ihren ganz eigenen Weg gehen und neue Arten von Familienbeziehungen und -strukturen entwickeln. Dabei entsteht viel Liebe, Freiheit und Leichtigkeit, was mich immer wieder zum Staunen bringt.

Bericht 5: Transgenerationale Weitergabe von Schuldgefühlen

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Bericht 6: Eine Frau entdeckt die Liebe zum toten Vater und gibt Verantwortung zurück Diese Teilnehmerin eines Beratungskurses kam immer wieder in Situationen, in denen sie ihre Bedürfnisse nicht fühlte. Sie verhielt sich sehr bescheiden, stand für andere immer klaglos zur Verfügung und brachte große Emphatie für sie auf. Für sich selbst kann sie kaum Unterstützung einfordern, lässt sich aber selbst sehr fordern und ist für andere immer da. Das erlebt sie selbst als unangemessen. Mein Vater war seit sechs Monaten tot. Er starb innerhalb weniger Wochen. Eine besonders heimtückische Krebsart. Ich war die einzige, die damals wusste, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hatte. Meine Mutter wollte es nicht hören. Nicht wahrhaben. Und ich war damals zu feige, es ihm zu sagen. Meinen Kindern – seinen Enkeln – habe ich es dann erzählt. Wir drei haben Abschied genommen. Heimlich. Ohne ihm etwas zu sagen. Heute erscheint es mir wie ein Verrat. Ein halbes Jahr war vergangen. Es war kurz vor Ostern. Ich wollte verstehen. Ich wollte ihn verstehen. Mich verstehen. Unsere Beziehung verstehen.Ich wollte verstehen, warum ich mir die immer gleiche Art von Männern an meiner Seite wählte. Ich wollte verzeihen. Gesehen werden. Frieden finden. Dem Pastor, der im Herbst die Trauerrede gehalten hatte – ein Freund –, konnte ich nichts Positives über meinen Vater erzählen. Monate später hat mich das beschämt. Wo war dieser Vater? Versteckt hinter all seiner Sprachlosigkeit? Seiner Depression. Seinem Schweigen. Seiner Strenge. Seiner Unfähigkeit, mich in den Arm zu nehmen. Seinem Vermeiden von Gefühlen. Da muss doch etwas gewesen sein. So konnte ich ihn nicht gehen lassen. Ich war auf der Suche. Auf der Suche nach meinem Vater. Ich begann zu recherchieren. Meine Mutter – kriegstraumatisiert wie mein Vater – konnte mir nur wenig helfen, Erinnerungen hervorzukramen, neue Puzzlestücke zu entdecken, ein Gefühl für das Wesen meines Vaters zu bekommen, ihm näher zu sein. Wenn schon nicht zu Lebzeiten, so doch wenigstens nach dem Tod. 192

Anhang 1: Fallbeispiele

Sie hat das Bild des humorvollen, fürsorglichen, liebenden Ehemannes und Vaters bekräftigt. Alles andere hätte sie zerstört. Es gab nicht mehr viele, die ich hätte fragen können. Nur noch die Schwester. Meine Tante. Die einzig noch Lebende aus der Herkunftsfamilie meines Vaters. Sie hat mir neue Seiten meines Vaters geschenkt. Er sei ein liebevoller Bruder gewesen. Ein fürsorglicher Sohn. Die Mutter habe er über alles geliebt. 1928 ist er geboren. Als der Krieg ausbrach war er elf. Ein Junge mit großen Träumen. Er hat Musik geliebt. Meiner Großmutter hat er abends auf einer mit Zwirn bespannten Walnusshälfte Lieder gespielt. Er wollte reisen. Einen Beruf ausüben, bei dem man die Welt erobert. Meine Tante erzählt. Und weint. Ganz langsam entsteht ein anderes Bild von meinem Vater. Ich habe davon nichts gewusst. Ich fange ganz sanft an, zu verstehen. Da gab es noch einen anderen Mann. Wir gucken uns Fotos an. Meine Tante weint. Sie hat gemeinsam mit ihrem Bruder die Bombenangriffe auf Hamburg überlebt. Den Hamburger Feuersturm (siehe Abbildung 12). Sie erzählt von der Narbe an seinem Handgelenk. Ein Bombensplitter war in das Zimmer der Geschwister geschossen. Mein Vater hatte sich schützend über seine Schwester geworfen. Dabei wurde er verletzt. Sie blieb unversehrt. Die Narbe hat er nie bewusst gezeigt. Genauso wenig wie seine seelischen Wunden. Meine Tante erzählt von meinem Großvater, der im Winter 1945/46 auf dem Balkon stand und sich das Leben nehmen wollte. Er wusste nicht mehr, wie er die Familie ernähren sollte. Meine Großmutter ging mit ihren Kindern Kohlen und Kartoffeln klauen. Mein Großvater kam körperlich ohne große Wunden nach Kriegsende in die Stadt zurück. Seine Seele hatte er an der Front gelassen. Mein Vater hat ihn damals vor dem Freitod bewahrt. Auch das wusste ich nicht. Meine Tante weint. Und ich kann mich ganz langsam berühren lassen, von dem neuen Bild eines Vaters. Von einer Seite, die ich bislang nicht kannte. Die mir verschlossen war. Ich würde sie gerne in mich aufnehmen. Sie spüren. Ich wünschte, sie würde mich innere Vollständigkeit fühlen lassen. Den Vater in mir warm werden lassen. Bericht 6: Eine Frau entdeckt die Liebe zum toten Vater

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Abbildung 12: Skulptur »Hamburger Feuersturm«, Teil des »Mahnmals gegen den Krieg« von Alfred Hrdlicka, Denkmalanlage Dammtordamm in HamburgNeustadt12

Schon jetzt hatte sich viel verändert. Schon die Spurensuche war eine Annäherung. Die Gespräche. Die Fotos. Die Briefe. Die Abende, an denen ich das Genogramm meiner Familie erstellte. Weinte. Um den Verlust. Die Trauer, die endlich da sein durfte. Die verpassten Chancen. Der Vater, den ich nicht wirklich gekannt hatte. Die Tochter, die ich nicht wirklich sein durfte.12 Ich war offen für den nächsten Schritt. Vulnerabel für das nächste Bild. Gespannt und neugierig. Offen und ängstlich für neue Gefühle.

12 Bild: © Ajepbah/Wikimedia Commons/[CC BY 2.0 (http://creativecommons. org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons. Es wurden keine Änderungen an der Abbildung vorgenommen. Quelle: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File%3ADenkmale_Dammtordamm_(Hamburg-Neustadt).Mahnmal_ gegen_den_Krieg.Hamburger_Feuersturm.12023.ajb.jpg

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Anhang 1: Fallbeispiele

Angst, mich alten Verletzungen stellen zu müssen. Alte Wunden wieder aufreißen zu lassen. Zwei erfahrene Therapeuten begleiten mich durch den Prozess. Ich vertraue mich an. Vertraue mich auch den anderen aus der Gruppe an. Sie kennen meine Geschichte aus den Vorbereitungen. Und ich die ihre. Wir sitzen alle im selben Boot. Die Gruppe ist mittragend, mitfühlend. Ich kann mich anvertrauen. Zumuten. Ich kann mich in meine Geschichte fallen lassen. Mein Großvater wird aufgestellt. Ein traumatisierter, einsamer, trauriger Mann. Ihm gegenüber mein Vater. Ein traumatisierter, einsamer, trauriger Mann. Sie reden miteinander. Erst der Alte. Dann der Junge. Der Junge hat den Vater vermisst. Er spürt die ganze Last des Krieges auf seinen Schultern. Er weint um den Vater, der kein Vater war. Er weint über den Verlust der Jugend. Der Träume. Er klagt den Vater an. Der vergibt ihm. Entlastet ihn von der Verantwortung. Gesteht sich die eigene Schwäche ein. Weint um den Verlust des eigenen Lebens. Bittet um Vergebung dafür, dass er kein starker Vater sein konnte. Mein Vater kann endlich all die Last, die er getragen hat, loslassen. Er gibt sie dem eigenen Vater zurück. Schwere Holzklötze wechseln stellvertretend den Besitzer. Mein Herz ist geöffnet. Ich fange an zu verstehen. Mehr und mehr. Fange an zu verstehen, was die Sprachlosigkeit verursacht hat. Fange an zu verstehen, welch Schmerz vom Vater zu dem Sohn weitergegeben wurde. Ich sehe und spüre die Hilflosigkeit dieser beiden Männer. Und ich hasse den Krieg, der so viele Träume zerstört und so viele Gefühle in den Untergrund verbannt hat. Und noch jetzt – lange Zeit nach der Rekonstruktion – weine ich über diese beiden Männer und über den verlorenen Vater. Damals habe ich mich getraut, hinzuspüren. Zum ersten Mal in dieser Weise. Das zweite Bild: Ich trage einen Rucksack. Ich gehe im Kreis. Nach jeder gegangenen Runde wird mein Rucksack schwerer. Der Therapeut füllt ihn mit Steinen. Nach jeder Runde werden es mehr. Ich spüre das Gewicht nicht. Ich schaue in die Runde der anderen Teilnehmer. Die meisten weinen. Aus Mitgefühl. Ich spüre nichts. Nur wenn ich in die Gesichter der anderen schaue, nehme ich etwas wahr. Und der Therapeut beschwert meinen Rucksack. Mehr und mehr. Ich spüre nichts. Nicht die Last. Nicht die Schwere. Es ist Bericht 6: Eine Frau entdeckt die Liebe zum toten Vater

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vielmehr ein vertrautes Gefühl. Ich kenne es seit meinem ersten Atemzug. Ich kenne das Gefühl, den Kopf schon früh selber halten zu müssen, nicht um Hilfe zu bitten, Verantwortung zu tragen. Für meine traumatisierte Mutter, die mir nie eine nährende Mutter sein konnte. Und für meinen Vater, der seine innere Leere und Sprachlosigkeit mit Alkohol versuchte zu lindern. Und der Rucksack wurde noch schwerer. Die Steine waren verbraucht. Ich spüre die Schwere noch immer nicht. Die Gruppe weint. Ich bin irritiert über ihr Mitgefühl. Habe ich doch für mich selber keins. Ich soll den Rucksack meinem Vater zurückgeben. Er soll gefälligst tragen, was er zu tragen hat. Ich tue, wie mir der Therapeut empfiehlt. Noch kann ich es nicht fühlen. Die Erleichterung. Die Befreiung. Noch ist es eher im Kopf, nicht im Herzen. Das Schlussbild: Ich schaue in die Zukunft. Sie ist befreit. Meine Schultern sind leicht. Ich darf mich um mein Leben kümmern. Das alte bleibt hinter mir. Und ein Entschluss: Mit mir soll dieses Muster enden. Meine Kinder sollen ihr Leben leben. Nach vorne schauen. Leicht. Ich fange an, zu spüren, wie das Leben ohne einen Rucksack sein kann. Es ist eine Zeit vergangen. In meiner Küche hängt ein Foto von meinem Vater und mir. Ich vermisse ihn. Ich hätte ihn gerne früher verstanden. Ich wäre ihm gerne begegnet ohne all die Rucksäcke. Ich glaube, er hat mich geliebt. Heute kann ich es spüren. Es ist warm. Die Aufstellung wirkt. Ich habe mein Herz geöffnet. Mich dem Schmerz gestellt. Ich fange an, in Frieden zu sein. Mein Vater hat einen Platz in meinem Herzen. Und ich bin stolz auf ihn und auf mich.

Diese Familienrekonstruktion hat bei allen Teilnehmerinnen große Spuren hinterlassen. Sie hat ein wichtiges Genderthema berührt. Die Frauen, die als Mädchen in ihrem Großwerden den Vater nicht hatten, die mit Bedürfnislosigkeit und früher Verantwortungsübernahme für ihr eigenes und das Leben ihrer Eltern aufwuchsen, waren tief bewegt.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 7: Eine Bindung nur über Strukturen und ihre Umwandlung in Gefühle Menschen, die traumatisierende Erlebnisse wie schwere Verluste, lebensbedrohliche Krankheiten, grauenvolle Kriegserlebnisse erlebt und erlitten haben, verlieren oft innere Sicherheit, Zuversicht, Vertrauen. Eine häufige Reaktion ist es dann, sich über Strukturen mit der Welt wieder zu verbinden. Nicht die gefühlte Verbindung zu z. B. den eigenen Kinder sichert die Beziehung, sondern dass sie z. B. jeden Sonntag um 18.00 Uhr anrufen. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen. Meine Eltern, beide Mitte der zwanziger Jahre geboren, haben mich – für die damalige Zeit spätgeboren, meine Mutter war bereits über vierzig, als ich zur Welt kam. Mein Vater – als Handwerker im lederverarbeitenden Bereich erfolgreich – war ein lebenslustiger, anpackender Mann mit einem feinen Sinn für Schönheit, Form und Qualität. Seine Arbeiten, von denen ich Einzelstücke bis heute aufbewahrt habe, waren von bestechender Perfektion, Eleganz und Zeitlosigkeit. Meine Mutter hatte sich über die Jahre bis zu meiner späten Geburt im kaufmännischen Bereich hochgearbeitet und war der organisierende Kopf unserer kleinen Familie. Sie führte das Haushaltsbuch, regelte alle Geldangelegenheiten und war stets der mahnende und warnende Kopf in der Planung aller Familienangelegenheiten. Ich kann mich an meine Kindheit und frühe Jugend nicht wirklich erinnern. Alles verschwimmt in einem Nebel, Details und Zusammenhänge erschließen sich über die Fakten, aber nicht im Gefühl der Erinnerung. Sehr wenig erscheint klar, zuordnenbar, beschreibbar. Erst mit Beginn der Pubertät und der aggressiven Abgrenzung von meinen Eltern kann ich Bilder abrufen, Gefühle, Situationen, Erfahrungen. Fotografien meiner frühen Kindheit zeigen ein fröhliches und ausgeglichenes Kind – beim Spielen im Garten, bei die Pflege des Hasen, im Kinderwagen im Wald, beim Krabbeln auf Lederhosen auf dem Rasen usw. Und vor allem: viel Lachen. Scheinbar war ich gewollt, geliebt und geschätzt. Als ich etwa sieben Jahre alt war, endete meine Kindheit von heute auf morgen. Bei meinem Vater wurde Krebs diagnostiziert. Es folgte Bericht 7: Eine Bindung nur über Strukturen und ihre Umwandlung in Gefühle

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eine komplizierte und lange OP, bei der er auch so viel Blut verloren hatte, dass er als Ersatz Bluttransfusionen bekommen musste. Und einer dieser Transfusionen war mit Hepatitis infiziert, mit der er bis an sein Lebensende zu tun hatte. Ich erinnere mich noch gut an einen Besuch bei meinem Vater auf der Intensivstation – die vielen Schläuche, die aus seinem Körper kamen und sein Zustand haben sich bis heute eingeprägt. Vielleicht hätten wir damals diesen Krebs und die Hepatitis evtl. noch verarbeiten können, wäre dies nicht der Auftakt für eine lebenslange Serie von Erkrankungen gewesen, die unmittelbar folgen sollten. Sowohl Vater als auch Mutter erkrankten in kurzer Abfolge und über die folgenden 15 Jahre an den verschiedensten Krebsformen, an Schlaganfällen, Herzinfarkten, Hirnblutungen usw. Das Leben wandelte sich, der Zeithorizont schrumpfte auf die nächsten drei Monate – bis zur nächsten Nachsorgeuntersuchung. Angst, Unsicherheit und Verzweiflung bestimmten mehr und mehr den Alltag. Und meine Eltern zerbrachen an der Last. Und ein Teil von mir in gewisser Weise auch. Erst viele Jahre später verspürte ich die Neugier und den Mut, mich mit den Geschehnissen und deren Auswirkung auf mich tiefer auseinanderzusetzen. Meine Eltern – beide damals hoch betagt und gesundheitliche Wracks – waren zu dem Zeitpunkt leider nur noch bedingt bereit und fähig, mit mir hierzu in Kontakt zu gehen, ich war weitestgehend auf mich alleine gestellt. Beide starben auch einige Jahre später. Zunächst galt meine Aufmerksamkeit vor allem der Beschäftigung mit meiner Mutter. Durch die Beschäftigung mit ihr erhoffte ich mir Antworten: Wieso hatte ich mich immer so alleine gefühlt, so auf mich selbst gestellt? Warum war ich in Beziehungen immer auf Abgrenzung bedacht, konnte mich nicht wirklich »einlassen«? Wofür stand meine Schwierigkeit, mich selbst zu »spüren«? In vielen Prozessen und Sitzungen gelang es mir, meine »Wunde« zu erkennen, zu spüren und zu versorgen. Nur eine Frage war immer irgendwie offengeblieben: Warum konnte ich nicht fröhlicher sein, mich auf Dinge freuen und das Leben genießen? Ich hatte es relativ weit gebracht, war erfolgreich und übte einen tollen, vielseitigen und fordernden Beruf aus. Gesundheitlich war ich topfit, von den wenigen üblichen Kinkerlitzchen abgesehen. 198

Anhang 1: Fallbeispiele

Und auch privat war ich in einer guten, stabilen und erfüllenden Beziehung mit einer liebenden Frau. Für meinen eigenen Sohn verspürte ich eine alles umfassende Liebe – auch wenn ich mich von seiner Mutter früh getrennt hatte, so hatten wir doch ein gutes Betreuungssystem etabliert und er war regelmäßig – und gerne – bei mir. Ich hatte meinen Alltag »im Griff« und gut organisiert: Warum also gelang es mir nicht, das Leben mehr zu genießen? Bald begann ich, mich auch intensiver mit meinem Vater zu beschäftigen. Er war im Nationalsozialismus groß geworden und als junger Mann mit 17 in den letzten Kriegsjahren noch zur Ostfront eingezogen worden, das wusste ich. Nach Kriegsende war er ein Jahr in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen, von dieser Zeit hatte er manchmal Schreckliches erzählt. Die Prägungen aus der Zeit hatten sein Denken und Handeln zwar wesentlich bestimmt, ich erinnere ihn jedoch nicht als einen »Ewiggestrigen« oder als »alten Nazi«. Im Gegenteil, er hatte sich immer deutlich von jedweder politischen Äußerung distanziert und wirkte eher desinteressiert, eher enttäuscht über die selbst erfahrene Täuschung. Ich habe ihn eher als gebrochenen und desillusionierten Mann erfahren. In der Beschäftigung mit den Erfahrungen, die er in diesen jungen Jahren machen musste, begann sich für mich mehr und mehr die Grausamkeit des Erlebten auch für die Soldaten abzuzeichnen. Ich begann, eine Ahnung davon zu bekommen, was die Kriegserfahrung an der Ostfront und die Kriegsgefangenschaft danach für Spuren und Wunden in der Seele meines Vaters hinterlassen haben mussten. Beim zweiten Hinschauen entdeckte ich plötzlich weiche, verletzliche Gesichtszüge in den Portraitaufnahmen in Uniform – und der feinsinnige, fast künstlerisch tätige Lederhandwerker wurde sichtbar. Ich begann, mich auch ein wenig für mein Verhalten ihm gegenüber in den letzten Jahren zu schämen – leider zu spät für eine Versöhnung, da er zwischenzeitlich verstorben war. Ich begann, mich mit dem Thema »Transgenerationale Traumatisierung« intensiver zu beschäftigen. Ich studierte Fachbücher, verschlang Berichte und Erzählungen von Beteiligten und stellte eigene Nachforschungen zur Kriegsvergangenheit meines Vaters an. Es wurde mir immer klarer, dass ich anscheinend einen Teil in mir trug, Bericht 7: Eine Bindung nur über Strukturen und ihre Umwandlung in Gefühle

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den ich von meinem Vater übernommen hatte, der nicht originär zu mir gehörte, nicht dem entsprach, der ich sein sollte oder sein könnte. Als im Rahmen meiner Weiterbildung zum systemischen Berater eine Familienrekonstruktion anstand, beschloss ich, die noch immer offene Frage als Anliegen einzubringen. Ich erhoffte mir einen neuen, anderen Zugang zu meinem Thema, eine neue Erfahrung, ein neues Spüren. In der Reko nahm einer der Leiter die Rolle meines Vaters ein und beschrieb mir aus dessen (vermutlicher) Sicht, wie es ihm ergangen war – im Krieg und danach. Er sprach über die furchtbaren Erlebnisse, über die man nicht sprechen konnte und die man auch in der Seele wegsperren musste, sonst wäre man verrückt geworden. Und über die oft gefühlte Hoffnungslosigkeit und die Fragen an sich selbst, über die Zweifel und die Verzweiflung. Und darüber, wie man sich dann über Strukturen Stabilität generiert habe, um eben nicht verrückt zu werden. Ich war wie elektrisiert: Ja, darum ging es. Um die Macht der Strukturen, die man sich schafft. Und die einem dann zwar Stabilität geben, aber auch die Seele einzwängen und einengen – und am Fühlen hindern. Denn das ist ja genau ihre Aufgabe, im Guten gesehen. Ich hatte einen neuen Zugang zu meiner Frage: nicht nur verstanden, sondern auch gefühlt. In der Reko formulierte der Leiter dann noch einen Abschiedswunsch: Er wolle – als mein Vater – so gerne wieder eine größere, positivere Rolle in meinem Leben – und in dem seines Enkels – spielen. Nur ich könne ihn dazu einladen, er selbst habe ja leider keine Chance mehr, auf mich zuzugehen. Dieser Gedanke fühlte sich irgendwie richtig an. Ja, es ist an der Zeit, neu auf meinen Vater zuzugehen.

Sich wieder oder wie in diesem Fall erstmals auf eine tragfähige Beziehung mit dem Vater einzulassen, öffnet eine Schatztruhe der Sicherheit, Geborgenheit, Zuversicht und des Vertrauens.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 8: Eine bäuerliche, erstgeborene Tochter findet zu sich selbst Ich bin als älteste Tochter in einem bäuerlichen Großfamiliensystem (Urgroßeltern, Großeltern, Onkel und Tante) vier Kilometer abseits vom Dorf aufgewachsen. Nach mir sind kurz aufeinander zwei Schwestern geboren worden, mein Bruder mit zwölf Jahren Abstand zu mir. Alle Impulse nach kindlichen Aktivitäten waren dem Arbeitsrhythmus und dem Erhalt des kleinen, durch meinen Großvater verschuldeten Hofes, der seit 1666 in Familienbesitz ist, unterworfen. Der Hof ging erst in die Hände meines Vaters über, als ich bereits in der Pubertät war. Die finanzielle Situation verbesserte sich ein wenig, wodurch mein Vater zu mehr Initiative und Energie fand. Es hat 35 Jahre und einige besondere, etwas einträglichere Projekte meines Vaters gebraucht, bis der Hof schuldenfrei verkauft wird und die Eltern sich ihre Rente sichern können. Die gefühlten Rollen und Aufträge meiner Mutter (Jahrgang 1932), die als Schwiegertochter in dieser Familie lebte, an mich, dienten hauptsächlich ihrer Entlastung. So lernte ich, dass es vorrangig ist, auf meine Geschwister zu achten, für sie einen großen Teil Verantwortung zu spüren und zu den Großeltern hin für Entspannung zu sorgen. Meine ständig sprudelnden Ideen und das stetige Streben nach Neuem richtete ich auf die Nutzbarkeit für den Familienalltag aus. Ich lernte, mich zufrieden zu geben und zu bescheiden. Auf gar keinen Fall durfte ich das Leben meiner Mutter mit meinen Wünschen oder Forderungen oder gar Streit noch mehr komplizieren. Sie, ein mittleres Kind ebenfalls von einem Bauernhof, war oft mit dem Schwiegersystem, der schweren körperlichen Arbeit auf dem Hof, dem Garten und der Versorgung ihrer Kinder überfordert und unglücklich. Alle meine Versuche, sie glücklich zu machen, konnten nicht gelingen, und ich fühlte mich hilflos und schuldig. Sie hat durch Krankheiten und Unfälle immer wieder mal die Fürsorge und Ruhe erlebt, für die sie im Alltag kein Recht hat fühlen können. Krankheit war auch für mich ein Weg, um meinerseits mit ihr in Verbindung zu sein und Fürsorge zu erhalten. Diesen Mechanismus habe ich noch lange nach Verlassen meines Elternhauses im Kontakt mit meiner Umwelt gelebt. Bericht 8: Eine bäuerliche, erstgeborene Tochter findet zu sich selbst

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Für meinen Vater (Jahrgang 1928) war es immer bedeutsam, stark und fröhlich zu sein, etwas zu schaffen, in der Dorfgemeinschaft Anerkennung zu haben. Ich brachte schon als kleines Mädchen meinen Fleiß, meine Eigeninitiative und meine viel zu geringe körperliche Kraft ein, um alle zu unterstützen. Arbeiten mit Vater hat oft auch Spaß gemacht, denn wir haben viel gesungen und er hat oft Witze erzählt. Ich arbeite bis heute gerne. Ein direktes Lob gab es nur selten und wenn, dann meist im Abgleich mit den Leistungen meiner Schwestern, sodass wir häufig in Konkurrenz lebten. In der Außendarstellung hat er immer dafür sorgen können, dass ihm ein großer Teil der Anerkennung zufiel. Sehr geprägt haben auch Sätze wie »Mücken haben keinen Rücken, die haben nur ein Gelenk, wo der Arsch dranhängt«, »Eigenlob stinkt« oder »Mädchen, die pfeifen und Hähne, die krähen, den sollt man bei Zeiten den Kopf umdrehen«. Meine Wissbegierde und die vielen Fragen haben ihn in seinen Arbeitsabläufen gestört, er hat sie oft nicht beantwortet oder ins Lächerliche gezogen, bis ich verstummte. Wenn stressige Zeiten auf dem Hof waren, wobei es immer um die finanzielle Situation ging, war es wichtig, wortlos zu gehorchen, ihm nicht zu widersprechen und eigene Bedürfnisse unbedingt zurückzustellen. Wenn auch noch die Überforderung und Unzufriedenheit unserer Mutter dazukam, dann verlor er manchmal die Beherrschung und hat, besonders mich, geschlagen. In der Reihe der Geschwister war ich diejenige, die auf die Jüngeren aufpassen musste und den Eltern berichten musste, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Bei meinen Schwestern war ich deshalb nicht sehr beliebt und fühlte mich häufig allein und ausgeschlossen. Ich habe sie oft beneidet. Die Zweitgeborene, weil sie sich ungestraft widersetzen durfte, und die Drittgeborene, weil es ihr häufig gelang, vom Vater etwas zu erbitten. Mein Bruder wurde von meinem Vater oft gedemütigt und von meiner Mutter gehätschelt. Ich war diejenige, die ihm etwas zugetraut, ihn gefordert und getröstet hat. Ich lebte oft in dem Gefühl, er sei mein Kind. In der Schule setzte sich das Denken in Richtig und Falsch fort. Ich lernte, dass Auswendiglernen richtig ist, Fehlverhalten Schläge nach sich ziehen. Eine Gymnasialempfehlung schlugen meine Eltern 202

Anhang 1: Fallbeispiele

aus, und so besuchte ich die Realschule, die überwiegend mit Lehrern besetzt war, die im Krieg gewesen waren und die nicht an unseren Kinderseelen interessiert waren und uns z. T. demütigten. In mir hat sich besonders der Satz »Weibsen nach hinten, ihr seid sowieso zu blöd!« eingebrannt. Mein Gefühl von Falschsein und Angst wurde durch die Kirchenvertreter, die uns einen strafenden Gott vermittelten, sehr verstärkt und ich fühlte mich lange Zeit böse, dreckig und schuldig. Als ich mein Elternhaus verließ, hatte ich kaum Zugang zu meinen Gefühlen und ausdrücken konnte ich sie schon gar nicht. Ich war eine höchst verunsicherte junge Frau. Bis ich, insbesondere Männern, unterstellen konnte, dass sie wohlwollende und liebevolle Energien haben können und an mir als Person und Frau interessiert sind, dauerte es viele Jahre. Meine erste Begegnung mit der systemischen Sichtweise und Haltung, die dann später zu Familienrekonstruktionen führte, war ein Workshop an der VHS mit dem Titel »Dem Vater widerspricht man nicht«. Dort begegneten mir eine wertschätzende Sicht auf mich und meine Geschichte. Ich erfuhr und verstand danach mehr über die unterschiedlichen Rollen der einzelnen Personen in den Herkunftsfamilien, deren Funktionen und erkannte die Nachhaltigkeit der Wirkung, die bis zu dem Tag andauerte. Zeitgleich wurden mir auch die Veränderbarkeit deutlich und das Zutrauen in meine Ressourcen langsam geweckt. Die systemische Sichtweise und Haltung hat mich nicht mehr losgelassen, und ich habe danach in insgesamt drei Familienrekonstruktionen für mich gearbeitet. Die Dritte war im Rahmen der Weiterbildung zur systemischen Familientherapeutin. Während der Vorbereitung zur ersten Rekonstruktion, die immer die bleiben wird, die mich am tiefsten beeindruckt hat, war es sehr bedeutsam für mich, meine Eltern zu befragen. Es war das erste Mal, dass ich ihnen durch die direkten Fragen so nahegekommen bin. Mein Vater erzählte sehr bereitwillig, und ich hatte den Eindruck, dass es ihm guttat, auf Interesse zu stoßen. Drei Wochen vor seinem 17. Geburtstag sei er in Kriegsausbildung genommen worden. Ich war sehr verwirrt und sprachlos über das, was er zu erzählen hatte. Der Krieg, von dem ich bis dahin kaum Näheres erfahren hatte, begegnete mir nun, und ich begann zu ahnen, Bericht 8: Eine bäuerliche, erstgeborene Tochter findet zu sich selbst

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wie viel er mich beeinflusst hat. Der Ausbildung zum Scharfschützen, die ihm Angst gemacht habe, sei er schon nach drei Wochen entkommen. Er habe sich zum Sanitätsdienst gemeldet. Nach nur wenigen Wochen habe man ihn aufgrund seiner Reiterausbildung abgestellt, um Pferde in die Tschechoslowakei zu überführen. Er berichtete von Angst bei Gewittern in den Bergen und der Angst, als er sich morgens von den Kameraden zurückgelassen sieht. Während dieser Pferdeüberführungen sei er kurze Zeit später in russische Gefangenschaft geraten. Dort habe er nach einigen Monaten im Lager u. a. einem Offizier als Bursche dienen müssen und er habe fließend russisch sprechen können, was ihm sehr von Nutzen gewesen sei, denn er habe verstanden, wie er sich verhalten musste, um nicht in den Transport in den Osten zu geraten. Als besonders kränkend habe er erlebt, dass ihn die Mädchen bei seiner Heimkehr wegen seines kahlgeschorenen Kopfes nicht beachteten, obwohl er diesen ja auch für sie hingehalten habe. Mein Vater reist bis heute nur sehr ungern, ist froh, wenn er zu Hause auf seinem Land ist. Ein sehr heilsamer Moment für mich war, von ihm zu hören, dass es ihm leidtut, mich geschlagen zu haben. Dass er gerne eine andere Idee gehabt hätte, einen Ort oder Worte für seine Wut und den Druck, kann ich ihm glauben. In dem Gespräch habe ich viel davon verstanden, was zu seinen Wutausbrüchen geführt hat und wie viel es auch mit Liebe zu tun hatte, auch wenn es paradox erscheint. Von mir weiß er seitdem, dass ich nicht vergessen, aber verstehen kann. Meine Mutter konnte sich gar nicht mit mir an den Tisch setzen, hatte kaum Antworten auf meine Fragen oder tat ihre Geschichte als unwichtig ab. Sie hat mir jedoch bereitwillig Daten und Fotos zur Verfügung gestellt und die Befragung ihrer Geschichte dauert für mich bis heute an, mehr als bei meinem Vater. Sie war das mittlere Kind von fünf Geschwistern. Meine Oma habe ich als freudlos, schicksalsergeben und unterwürfig erlebt. Meine Mutter musste mit vier Jahren für ein Jahr ihr Elternhaus verlassen, weil es zu der Zeit zu viele tiefe gefahrvolle Wassergräben um die neu gesiedelten Höfe gab und meine Großmutter mit der Aufsicht überfordert war. Sie wurde zu ihrer Großmutter väterlicherseits gegeben, bei der sie sich wohlfühlte und die meine Oma nicht leiden 204

Anhang 1: Fallbeispiele

konnte. Bei der Rückkehr habe es sie fast zerrissen, sich für eine von beiden entscheiden zu müssen. Später bei der Arbeit auf den Feldern habe sie viele Tieffliegerangriffe erlebt und habe in Gräben flüchten müssen. Zeit, Geld und Gelegenheit für Vergnügen habe es nicht gegeben. Sie habe schöne Stoffe und Tanzen vermisst. Abwechslung und Spaß hätte es mit den Flüchtlingen gegeben. Mit Daten, Fotos und viel Aufregung mache ich mich auf zur Rekonstruktion und gerate in der Kleingruppe, in der wir die Aufstellung vorbereiten, prompt in meine alten Muster. Ich bin die Große, die sich um alles kümmert und zu kurz kommt. Mich zurückzunehmen und der Kleingruppe die Verantwortung für das Gelingen meiner Vorbereitung zu überlassen, war eine wichtige Erfahrung. Ein erster Baustein für Veränderung in meiner Geschwisterdynamik und meiner Rolle in Teams. Die eigentliche Familienrekonstruktion fand in einem sehr geschützten Rahmen statt und war zutiefst von Respekt und Achtsamkeit geprägt. Die einzelnen Präsentationen wurden der Gesamtgruppe jeweils von den Kleingruppen vorgestellt. Danach wurde gemeinsam mit den Therapeuten die persönliche Frage an die Rekonstruktion erarbeitet, die dann sehr sensibel mit therapeutischen Methoden durchgeführt wurde. Die Bearbeitung der Frage »Was hält mich davon ab, meine Lebensenergie mehr für mich zu nutzen?« war für mich ein unbeschreiblich tiefgreifendes Erlebnis, das nachhaltig mein Leben verändert hat. Ich konnte viele Aufträge, von denen ich dachte und fühlte, dass ich sie für die Familie erfüllen muss, in diesem Rahmen zurückgeben, insbesondere die Verantwortung für die Übernahme des Hofes. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich mich mehr um den Sinn meines Lebens kümmern. Ich habe danach noch zwei Rekonstruktionen mit weiteren Fragestellungen erlebt, eine davon im Rahmen der Weiterbildung zur Familientherapeutin, die mich immer weiter in die Entfaltung und Stärkung geführt haben. Sehr nachhaltig war für mich der erneute Blick auf das Genogramm und die Erkenntnis, dass die Männer aus der Linie meiner Mutter Professoren sind und dass ich wahrscheinlich auch klüger bin, als ich mich fühle. Obwohl mir immer schon bekannt war, dass Frausein und Verstand durchaus zusammengehören können, Bericht 8: Eine bäuerliche, erstgeborene Tochter findet zu sich selbst

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konnte ich ab dem Zeitpunkt beginnen, mich davon nicht mehr auszunehmen. Heute bin ich viel seltener krank. Ich widerspreche meinem Vater durchaus, was mir Beachtung einbringt. Prüfungen und Situationen, von denen ich annehme, dass ich bewertet werde, erlebe ich oft noch als übergroße Herausforderung. Dennoch konnte ich mich selbstständig machen und führe eine systemisch ausgerichtete Praxis für Frühförderung. Ich arbeite zudem als Familientherapeutin und Supervisorin, zunehmend mit dem Gefühl, erfolgreich zu sein. Der Kontakt mit meinen Geschwistern verbessert sich dahingehend, dass ich mich immer mehr dazugehörig fühle. Das macht mich glücklich.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 9: Der Krieg ist vorbei! Menschen mit stark traumatisierten, verletzten Eltern versuchen durch die Verantwortungsübernahme für das Glück der Eltern, ihnen diese schwere Last abzunehmen, sie abzumildern. Dabei verlieren sie nicht selten ihr eigenes Glück aus den Augen und überschätzen ihre Möglichkeiten, durch ihre Beiträge erlittenes Leid der Eltern vergessen bzw. ungeschehen zu machen. Meine erste Begegnung mit der Familienrekonstruktion war tatsächlich innerhalb meiner eigenen Herkunftsfamilie. Eine meiner älteren Schwestern machte vor über zehn Jahren eine nebenberufliche Weiterbildung zur systemischen Beraterin. In diesem Kontext hat sie auch an einer Familienrekonstruktion teilgenommen. Ich erinnere nicht, dass sie das seinerzeit an die »große Glocke« gehängt hat. Eines Abends, als meine Schwester bei meinen Eltern zu Besuch war, holte meine Mutter den großen alten Koffer hervor, in dem alle alten Familienfotos und -dokumente aufbewahrt wurden. Meine Schwester bräuchte für ihre Weiterbildung etwas Material und Informationen über unsere Familie, hieß es. Ich weiß nicht mehr, ob meine Eltern sich noch an demselben Abend oder ein anderes Mal mit meiner Schwester zusammengesetzt haben. Meine Schwester erzählte später nur, dass sie auch einen Teil der Verwandtschaft besucht und zur Familiengeschichte befragt habe. Über ihre Familienrekonstruktion selbst hat meine Schwester mir nichts erzählt. Wohl aber, dass sie sie als unglaublich wertvoll erlebt habe. Sie hätte so viel verstanden – von Mama und Papa, deren Leben und Familiengeschichte – und sie würde nun so Vieles mit anderen Augen sehen. Und in der Tat erlebe ich meine Schwester seitdem im Kontext mit unserer Familie anders. Während sie – aus meiner Sicht – früher familiären Anlässen entweder ferngeblieben ist oder diese irgendwann mit einem ihrer berüchtigten Wutanfälle »sprengte«, wirkt sie inzwischen entspannter und unbeschwerter. Vielmehr noch, sie interessiert sich für die einzelnen Familienmitglieder, sorgt und kümmert sich um deren Belange und engagiert sich aktiv im familiären Kontakt und Austausch. Bericht 9: Der Krieg ist vorbei!

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Meine zweite Begegnung mit der Familienrekonstruktion war dann meine eigene Erfahrung mit diesem Verfahren im Rahmen meiner Weiterbildung zur Systemischen (Familien-)Therapeutin. Den Teilnehmenden wurden gleich zu Beginn der Weiterbildung Hinweise zur Daten- und Materialsammlung für die Familienrekonstruktion gegeben, sodass ausgiebig Zeit und Raum für das Zusammentragen der familiengeschichtlichen Informationen bestand. Ich erinnere, dass es innerhalb der Ausbildungsgruppe im Vorfeld eine gespannte Unsicherheit gegenüber dieser Selbsterfahrungsmethode gab. Dabei bezog sich die Anspannung weniger auf die noch unbekannte Vorgehensweise bei diesem Verfahren als vielmehr auf die Wirkweise dieser familienorientierten Auseinandersetzung auf das eigene Denken, Fühlen und Handeln. Auch ich stellte bei mir in der Vorbereitung zunächst einige Vermeidungstendenzen fest, indem ich beispielsweise das Kontaktieren und Nachfragen bei Familienmitgliedern immer wieder aufschob oder meine in der Familienrekonstruktion selbst erfahrene Schwester um ihre familiengeschichtliche Daten- und Materialsammlung bat. Doch durch den Austausch mit ihr und die Erläuterungen meiner Ausbilderinnen verstand ich schließlich, dass diese eigens vorbereiteten Recherchen bereits ein wichtiger Teil der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sein können. Und dass sich die befragten Familienmitglieder durch meine Fragen nicht unbedingt belästigt, sondern durchaus auch gewürdigt und bereichert fühlen könnten. So begann ich meine Materialsammlung mit einer ersten Rundmail an meine Geschwister – mit der Bitte, mir beim Zusammentragen von Fotos, Dokumenten und Jahreszahlen zur Herkunftsfamilie unserer verstorbenen Eltern behilflich zu sein – und in der Tat löste dieser Aufruf einen regen Austausch innerhalb meiner Familie aus. Es wurden Fotoalben durchgeschaut, nach Dokumenten und Informationen gesucht, Erinnerungen und Geschichten ausgetauscht und gemeinsam versucht, die Familiendaten in eine Chronologie zu ordnen. Am Ende konnte ich so mithilfe meiner Familienmitglieder wichtige Informationen über die Herkunftsfamilien zusammentragen und diese auch noch reichlich mit Fotos und Dokumenten illustrieren. Als bedeutsamer für meine Familienrekonstruktion werte ich allerdings die persönliche Auseinandersetzung und Selbsterfahrung 208

Anhang 1: Fallbeispiele

mit Theorie und Methodik, die bereits im gesamten Verlauf meiner systemischen Weiterbildung fester Bestandteil des Lernprozesses war. Hier konnte ich mich den verschiedenen Ausbildungsinhalten nicht nur durch die theoretische Vermittlung nähern, sondern meine vorhandenen Erfahrungen und Ressourcen durch intensives Probehandeln und vertiefende Selbsterfahrung als wichtige Kompetenzen erleben und einbeziehen. Und hier entwickelte sich auch der Wunsch nach einem persönlichen Veränderungs- bzw. Wachstumsprozess, den ich mit Unterstützung der Familienrekonstruktion befördern wollte. Die eigentliche Methode der Familienrekonstruktion war für mich die bisher nachhaltigste Selbsterfahrungseinheit in meinem Entwicklungsprozess als Systemische Beraterin und Therapeutin. Zu keinem Zeitpunkt davor und danach habe ich mich so intensiv mit meiner eigenen, aber auch mit anderen Herkunftsfamilien auseinandergesetzt. Das mehrtägige Seminar fand in einem geschützten Rahmen außerhalb des Ausbildungsinstituts und fernab jeglicher Alltagsverpflichtungen statt. Alle Teilnehmenden hatten ihre jeweils zusammengetragenen Unterlagen dabei, die jeweils in Kleingruppen noch einmal zur Präsentation und anschließenden Bearbeitung vorbereitet wurden. An dieser Stelle wurde bereits deutlich, wie sensibel die Beziehungen der Einzelnen zur eigenen Herkunft sind und wie achtsam der Umgang mit dem vorhandenen Material gestaltet werden sollte. Die einzelnen Familienrekonstruktionen gestalteten sich dann so, dass die jeweiligen Familiendaten mithilfe der Kleingruppe im Plenum präsentiert wurden und den Lehrtherapeuten die persönliche Fragestellung der folgenden Selbsterfahrungseinheit genannt wurde. Anschließend wurde diese Fragestellung dann mit therapeutischen Methoden und mit Unterstützung der Gruppe bearbeitet. An die einzelnen Einheiten kann ich mich nur noch zum Teil erinnern. Sehr eindrücklich war die große Achtsamkeit und Wertschätzung, mit der jeweils gearbeitet wurde, sowie die Tiefe und Intensität der Prozesse. Auch die Wirkmächtigkeit generationsübergreifender Themen bei so vielen Teilnehmenden war sehr beeindruckend wie auch die befreiende Kraft der Erkenntnis. Bericht 9: Der Krieg ist vorbei!

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Wenn ich an meine eigene Familienrekonstruktion denke, begegnet mir sofort der Satz »Der Krieg ist vorbei!«. Gemeinsam mit den Lehrtherapeuten hatten wir uns – vor dem Hintergrund meiner persönlichen Fragestellung – zunächst das von mir zusammengestellte Material zu meiner Herkunftsfamilie angeschaut. Dabei erhielt ich eine ganz neue Sichtweise auf das Leben meiner Eltern – auf ihr Großwerden in ihren jeweiligen Familien, ihre Verstrickungen und Traumatisierungen in der Nazi- und Kriegszeit oder ihr entbehrungsreiches und schwieriges Leben danach. Diese Erkenntnis wurde in einem anschließenden Aufstellungsverfahren mittels Stellvertretenden aus der Gruppe noch einmal vertieft. Durch diese Art der Reinszenierung oder stellvertretenden Wahrnehmung konnte ich meine Eltern noch einmal anders erfahren und erleben und im weiteren Prozessverlauf mich und meine Lebenssituation dazu neu in Beziehung setzen. Für mich erweiterte sich dadurch meine Sichtweise auf meine Rolle und Funktion als »Nesthäkchen« und »Sonnenschein« innerhalb meiner Familie, und ich verstand, was diese generationsübergreifenden Dynamiken und Verstrickungen mit meinen aktuellen Entwicklungs- und Wachstumsblockaden zu tun haben könnten. Und so half mir ein abschließendes Ritual mit den Kernbotschaften »Der Krieg ist vorbei, lass das jetzt mit dem Verzichten!« und »Lebe dein Leben als Frau! Lebe deine Schönheit!« dabei, mich meinem Leben zuzuwenden und mich nicht länger für die Schwere und Not meiner Familie sowie deren Linderung verantwortlich zu fühlen. Die kollektive Kraft im Rahmen der Familienrekonstruktion war eine sehr bewegende und eindrückliche Erfahrung. Die Chance, sich mit Abstand noch einmal Beziehungen und Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie anzuschauen, die eigene Sichtweise zu erweitern, Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu erkennen und die Möglichkeit zu erhalten, neue Handlungsperspektiven für sich zu entwickeln, habe ich als unbeschreiblich kostbar erlebt. Noch heute – fünf Jahre danach – empfinde ich diese Intervention als sehr wirksam und die gemachten Erfahrungen haben mein Leben umgreifend verändert – ich durfte Verantwortung wieder abgeben und kann mich nun vollends meiner eigenen Entwicklung zuwenden.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 10: Sexueller Missbrauch und Verlust von Mitgefühl Das Erleben von sexuellem Missbrauch im Kindesalter behindert häufig die Entwicklung von Potenzialen. Andere traumatisierende Erlebnisse lassen sich durch die Anteilnahme der Umwelt verwinden, sexueller Missbrauch spielt sich in der Regel im Verborgenen ab. Das Kind wird bedroht: Es darf sich an keinen Unterstützer wenden, der ihm Schutz bieten könnte. So kann es nicht lernen, sich selbst zu beschützen und Grenzen zu signalisieren. Ende der 90er Jahre war ich an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ich meine häufig wechselnden, kurzen und enttäuschenden Beziehungen zu Männern satt hatte und mich nach mehr Nähe, Intensität, Vertrauen und Intimität sehnte. Zu dem Zeitpunkt fiel mir ein Flyer über eine Therapiegruppe zu dem Thema »Männer sind anders, Frauen auch …« in die Hände, der genau zu diesem Lebensthema passte. Ich meldete mich zu der körpertherapeutischen Gruppe an und kam mit vielen meiner Themen auf tiefer emotionaler Ebene in Berührung, was sehr schmerzhaft, aber auch sehr heilend war. Ein halbes Jahr nach Beginn dieser Gruppe lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Diese Gruppe und die Erfahrungen waren ein sehr großes Geschenk in meinem Leben und halfen mir dabei, offener mit den »verschwiegenen« Familienthemen umzugehen und mehr auf die Spur von dem zu kommen, was mich ausmacht. Nach zwei Jahren endete die Gruppe, und ich hatte das Bedürfnis, mich noch einmal intensiv mit meiner Herkunftsfamilie auseinanderzusetzen, da ich das Gefühl hatte, dass einige Themen in der Therapiegruppe zwar berührt waren, aber etwas noch fehlte. Außerdem wollte ich als Frau noch mehr Lebendigkeit finden. Ich meldete mich zur Familienrekonstruktion an, die von meiner vertrauten Therapeutin geleitet wurde. In der Vorbereitung in meiner Kleingruppe tauchten schon bekannte Themen, wie »mich nicht gesehen fühlen«, »nicht ernst genommen werden« usw., auf, mit denen die erste Auseinandersetzung stattfand. Außerdem war es für mich äußerst schwierig, so viel von meiner »angeblich blitzBericht 10: Sexueller Missbrauch und Verlust von Mitgefühl

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sauberen« Familie preiszugeben, ohne das Gefühl zu haben, einen großen Verrat zu begehen. Ich komme aus einer sehr religiösen Familie, »konservativ« evangelisch. Wir mussten als Kinder von klein auf jeden Sonntag den Gottesdienst besuchen, ein Morgengebet sprechen sowie vor den Mahlzeiten. Alles war harmonisch und immer gut. Es gab keine Konflikte und wenn, dann wurden sie ignoriert oder wir (meine Geschwister und ich) waren falsch, hatten einen schlechten Charakter oder waren schlechtem Einfluss unterlegen. Alles musste nach bestimmten Regeln und in bestimmten Bahnen ablaufen, Abweichungen waren bedrohlich. Alles, was die Familie betraf, wie Krankheiten oder Probleme, durfte nicht nach außen dringen. Ich versuchte schon früh als Kind, dieser Enge zu entkommen, hatte viele Freundinnen, wo ich viel Zeit verbrachte. Ich fühlte mich gegenüber meinen Eltern immer nicht gut genug, häufig sehr ängstlich und unzulänglich. Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich nicht so angepasst bin, wie sie es sich wünschen (nach außen so unauffällig wie möglich), dann bin ich nicht mehr ihre Tochter oder gehöre nicht mehr zur Familie. Somit war ein Grund für die Familienrekonstruktion, mich zu befreien und »meins« zu suchen. Mein Leben mehr zu finden mit allen »verschütteten« Wünschen, Bedürfnissen, Freuden, Ängsten, eine »ganze« Frau zu werden, ohne mich hinter Fassaden von »Trotz«, »Härte«, »Abwehr« zu verschanzen. Der erste Schritt in der Rekonstruktion war die Aufstellung meiner Herkunftsfamilie in meinem Alter von vier Jahren, wo wir mit meinen Großeltern in einer Wohnung lebten. Alle Familienmitglieder standen zusammen, ich auf den Knien, aufgrund meiner vier Jahre noch klein, und mein Großvater als »Patriarch« mit dem Blick auf die gesamte Familie. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, aber aus heutiger Sicht sehr kurz, dass mir schlecht wurde, ich laut angefangen habe zu schreien und zu weinen, ein Gefühl von Ekel mich überkam und diffuse Bilder in meinem Kopf auftauchten. Die Aufstellung wurde schnell aufgelöst, alle Männer verließen den Raum und ich wurde von den Frauen liebevoll umsorgt, gehalten und gewärmt. Die diffusen Bilder waren die von sexueller Grenzüberschreitung durch meinen Großvater. Ich empfand Scham. Doch gleichzeitig hatte ich das Empfinden, dass 212

Anhang 1: Fallbeispiele

viele meiner Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend wie Puzzleteile mehr und mehr ein Bild ergaben. Ich war als Jugendliche eigentlich sehr schüchtern und zurückhaltend, aber auf sexueller Ebene grenzenund schutzlos. Ich konnte kein Gefühl für mich und meinen Körper entwickeln und auch im jungen Erwachsenenalter habe ich mich immer wieder schutzlos in Gefahr begeben, ohne Gefühl für meine Bedürfnisse. Diese Erfahrung beantwortete vieler meiner offenen Fragen, wie auch die, dass ich als Kind immer unglaublich ängstlich war. Der zweite Schritt war dann die Auswahl zweier Stellvertreterinnen für meine Großmutter mütterlicherseits und meine Mutter. Ich staffierte sie mit Kleidung und Utensilien aus und beschrieb, wie ich sie als Frauen erlebt habe. Meine Großmutter hatte in den zwanziger Jahren Medizin studiert und wollte Kinderärztin werden. Sie war ein uneheliches Kind, von einem wohlhabenden Paar adoptiert. Über ihre leiblichen Eltern gab es nur Gerüchte. Sie brach dann ihr Studium ab, als sie meinen Großvater kennenlernte und mit ihm fünf Kinder bekam. Er war Arzt und der Familie mangelte es materiell an nichts. Mein Großvater trat in die NSDAP ein und blieb während des Krieges in seiner Heimatstadt als Arzt tätig. Nach dem Krieg zog sich meine Großmutter immer mehr zurück (depressiv?). Sie war in der Ehe sehr unglücklich und nie berufstätig. Meine Mutter wirkte immer wie eine »Heilige«. Sie betete viel, tat viel Gutes, ehrenamtlich, benutzte niemals Schimpfwörter, wurde niemals wütend oder laut und definierte sich über die Rolle als Mutter von wohlgeratenen Kindern. Wenn diese Kinder allerdings etwas »nicht Wohlgeratenes« taten, verstand sie die Welt nicht mehr und wandte sich ab. Sie gab ihren Beruf bei der Verlobung mit meinem Vater auf, obwohl sie zu der Zeit mehr verdiente als er. Mütterlichkeit mit Nähe, Wärme, Fürsorge und Emotionen konnte sie nicht geben, dafür war sie selbst zu bedürftig. In dieser Beschreibung und mit dem Blick auf die beiden Frauen in meiner Familie, wurde mir klar, dass es mich zu meiner Großmutter zog, die auf mich trotz Rückzugs warm und mütterlich wirkte, außerdem kraftvoll und willensstark. Mir war noch nie so bewusst, was für eine Leistung es war, als Frau in der Zeit zu studieren. Aus dieser zweiten Sequenz entwickelte sich dann eine dritte, in der ich in einer Frauenrunde gestärkt wurde und auf meine ResBericht 10: Sexueller Missbrauch und Verlust von Mitgefühl

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sourcen geguckt habe. Es tauchte der verschüttete Wunsch auf, zu studieren und beruflich ausgefüllter zu sein. Das erste Mal in meinem Leben traute ich mir das wirklich zu. Ein Jahr später kündigte ich meinen Job und begann ein Studium. Heute bin ich seit acht Jahren selbstständig, beruflich ausgefüllt und zufrieden und mit einem wunderbaren Mann verheiratet. Die Familienrekonstruktion war für mich ein wesentlicher Wendepunkt hin zu mehr Erfüllung, Authentizität und Erfolg und darüber bin ich sehr, sehr dankbar.

Dieser Bericht ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie mithilfe von Familienrekonstruktionen Kräfte für das eigene Leben in so unterschiedlichen Bereichen wie Partnerschaft, Identität als Frau und beruflicher Erfüllung freigesetzt werden können.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 11: Schamweitergabe und die Kraft der Rekonstruktionsgruppe Die transgenerationale Weitergabe vom Schuld und Scham wird in dieser Rekonstruktion eindrücklich geschildert. Die Unkalkulierbarkeit des Verhaltens der Mutter hinterließ in der Teilnehmerin ein Gefühl von: Ich bin nicht richtig, mit mir stimmt etwas nicht. Die große Kraft der Gruppe stellte ein angemessenes Gegengewicht zu dieser gewachsenen Überzeugung dar. Mit 26 Jahren begann ich eine Therapie. Ich hatte die diffuse Angst, »verrückt« zu werden. Damals war ich gerade frisch verheiratet, hatte ein Haus gekauft und einen tollen Job gefunden und war trotzdem oft verwirrt und unglücklich. Als ganz besonders schwierig empfand ich meine Beziehung zu meiner Mutter. Im ersten Jahr hatte ich Einzeltherapie, in der ich bereits einige »Familiengeheimnisse« lüften konnte und feststellte, dass ich seit dem Grundschulalter einen Zählzwang hatte. Daran schloss sich eine Gruppentherapie an und der Besuch eines Wochenendseminars zum Thema »Was haben die Frauen meiner Familie mit meinem Leben zu tun?«. Ich wollte gern mehr darüber erfahren, was meine Beziehung zu meiner Mutter so belastete. Sie war für mich unberechenbar: mal sehr liebevoll, unterstützend und freundlich und dann wieder wütend, aggressiv und verletzend. Ich litt darunter und ich konnte es mir nicht erklären. Nach allem, was ich gehört und gelesen hatte, erschien mir die Rekonstruktion als beste Möglichkeit dafür, Verständnis für das Verhalten meiner Mutter zu gewinnen. In der Rekonstruktionswoche, ich war nun 31 Jahre alt, arbeiteten wir viele Stunden in kleinen Gruppen zu unseren Familiengeschichten. Ich erzählte einem »Guide« in dieser Gruppe von meinem Leben, dem meiner Großeltern und Eltern, während zwei weitere Gruppenmitglieder alles, was ich erzählte auf große Plakate schrieben. Wir suchten Fotos aus, von denen, die ich mitgebracht hatte, und klebten sie dazu. Über mehrere Stunden erzählte ich meine Familiengeschichte und mein bisheriges Leben, so, wie ich es gehört und erlebt hatte. Bericht 11: Schamweitergabe und die Kraft der Rekonstruktionsgruppe

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Als meine Rekonstruktion an der Reihe war, wurde der »Rekonstruktionsraum« wie ein Theaterraum geschmückt mit meinen Plakaten, allen Fotos und anderen wichtigen »Requisiten«. In diesem vorbereiteten Raum trafen sich dann die Therapeuten mit mir und meiner Gruppe und befragten uns, welchen Auftrag ich für sie hätte, was aus meiner Sicht, aber auch aus Sicht der anderen Gruppenmitglieder wichtig sei, zu beachten. Meine Fragen lauteten: Warum ist meine Mutter so unberechenbar? Wie kann ich trotzdem unbeschwert glücklich sein? Und dann begann meine Rekonstruktion. Sie bestand für mich aus drei Teilen: Im ersten Teil sprachen wir darüber, in welcher Zeit meine Mutter groß geworden ist. Sie ist ein Kriegskind und im Gespräch wurde mir deutlich, dass vermutlich während des Krieges oder nach Kriegsende Dinge geschehen sind, die einem Kind nicht geschehen sollten. Was genau ihr geschah, erfuhr ich erst einige Jahre nach dieser Rekonstruktion von meiner Mutter selbst. Aber dieser erste Teil veränderte meine Sicht auf meine Mutter. Ich war nicht mehr gefangen in der kindlichen und hilflosen Sicht auf meine Mutter, sondern fand Erklärungsmöglichkeiten, die für mich als erwachsene Person Sinn machten. Im zweiten Teil arbeiteten wir daran, wie ich als erwachsene Frau einen guten Kontakt zu meiner Mutter halten kann. Was ich tun kann, um mich (oder das kleine Kind in mir) zu schützen, wie viel ich tun kann, um sie zu stabilisieren (weil ich das konnte und noch als meine Aufgabe empfand). Ganz praktisch hieß das für mich: Weniger Besuche, dafür zweimal pro Woche anrufen. Im dritten Teil sollte ich einmal beschreiben, wie für mich eine tolle erwachsene Frau sei. Ich nannte Beispiele und Adjektive und beschrieb Vorbilder. Daraus wurde eine ganz persönliche Theatervorführung für mich entwickelt. Die Frauen aus der gesamten Rekonstruktionsteilnehmerrunde verkleideten sich u. a. als Kleopatra (»Die Welt soll mir zur Füßen liegen«), Sophia Loren (»Ich liebe meine Lust«), Clara Schumann (»Musik ist meine Leidenschaft«) und Marie Curie (»Ich stelle mich meinem Verstand«). Ich bekam die Sätze auf Karten geschrieben überreicht und musste sie so lange dem »Auditorium«, bestehend aus den Männern der Teilnehmerrunde und dem Therapeutenteam, vorsprechen, bis sie sie mir glauben konnten. 216

Anhang 1: Fallbeispiele

Die Rekonstruktion hat viele Jahre nachgewirkt. Sie hat dazu beigetragen, dass ich heute schreiben kann: »Ich habe ein schönes Leben.« Der Satz von Marie Curie hat mich 15 Jahre später durch die Promotion getragen und hing über meinem Schreibtisch. Und ich habe einen guten Kontakt zu meiner Mutter.

Das Instrument Parts Party ermöglichte in diesem Bericht durch die Wahl von großen Frauenpersönlichkeiten eine lebendige Ergänzung zu den bereits vorhandenen guten weiblichen Kräften aus der Herkunftsfamilie der Teilnehmerin.

Bericht 11: Schamweitergabe und die Kraft der Rekonstruktionsgruppe

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Bericht 12: Flucht aus der DDR – Entwurzelung und aberkannte Trauer Zwischen 1949 bis 1990 haben 3,8 Millionen Menschen die DDR verlassen. Das waren zum einen 20 % der Bevölkerung dieses Landes und zum anderen viele dramatische Kinderschicksale, die mit aberkannter Trauer in ihrem Leben zu ringen hatten, waren sie doch im »goldenen Westen« gelandet und hatten das »bessere Ende der Wurst« ergattert. Über die dadurch entstandenen Bindungs(ab)brüche, den Heimatverlust, das Zerreißen von Familienbezügen konnte meistens nicht getrauert werden. Die Folge war nicht selten ein Gefühl der Entwurzelung, der Heimatlosigkeit, des Fremdseins. Das Ende meiner ersten Familienrekonstruktion empfand ich als Fiasko. Meine Frage an die Rekonstruktion lautete: Warum kann ich beim Leid anderer so sehr mitfühlen, dagegen im Kontakt mit mir selbst eher nur ein Taubheitsgefühl wahrnehmen? Nach der Rekonstruktion hatte ich Angst, meine Familie verraten zu haben, wusste aber nicht, wodurch und womit. Mir schien, dass in meiner Familie über alles gesprochen werden konnte. Naja, vielleicht nicht über alles, aber das, was nicht ging, schien mir sehr verständlich. Das Drama meines Großwerdens war mir überhaupt nicht bewusst. Ich hatte keinerlei Gefühl für mich, für meine Not und die meiner Geschwister. Ich habe mich und die Form meines Gerechtigkeitssinns nicht hinterfragt. Ich habe ihn für ganz normal gehalten. Ich konnte Menschen verstehen, die für eine »größere Sache« die eigenen Kinder in Gefahr brachten. Meine Eltern sind mit mir und meinen drei Geschwistern 1958 aus der damaligen DDR über Berlin per Flugzeug nach Hannover geflohen. Wir kamen erst mal in ein Erstaufnahmelager. In der DDR hatte unsere Familie einen bescheidenen materiellen Wohlstand, ein Haus, Freunde und viel Verwandtschaft. Mein Vater hatte als Goldschmied ein eigenes Geschäft. Wir Kinder waren ein, vier und sieben Jahre alt, von einen Tag zum anderen ohne Großeltern, Schule, Kindergarten und bekanntem Netzwerk. Bis dahin kannten wir keinen Mangel, vor allem nicht an Essen, Kleidung, Bett und Heizung. Das änderte sich schlagartig. 218

Anhang 1: Fallbeispiele

Meine, unsere Kindernot konnten wir unseren Eltern nicht zumuten, waren sie doch für unsere Zukunft geflohen, in den »goldenen Westen«, in dem alles besser war. Als Kind habe ich nicht verstanden, was an unserem Leben besser sein sollte. Meine Mutter hat uns viel allein gelassen, hat von morgens bis abends mit meinem Vater ein neues Geschäft in der nahegelegenen Kleinstadt aufgebaut. Unsere Kleidung bekamen wir per Post von meinen Großmüttern aus der DDR, so wie viele, viele Pakete mit Lebensmitteln. Warum es den Menschen in der DDR so schlecht gehen sollte und wir in der Schule Päckchen packen mussten, konnte ich nicht verstehen. Genau so wenig, wie ich begriff, wo ich war und was man von mir erwartete. Wir kamen aus dem evangelischen Thüringen und landeten in einem kleinen, sehr katholischen Dorf in NRW. Wir Kinder waren Flüchtlingskinder, mit denen man nicht spielte. Eher wurde man gehänselt und verhauen. Heute weiß ich, es gab sehr persönliche Gründe für die Flucht, die mit den politischen Verhältnissen der DDR nichts zu tun hatten. Es passte gut: Die Begründung mit den politischen Verhältnissen war wie ein argumentativer Totschläger. Denn meine Eltern waren vor der Dominanz meiner Großmutter väterlicherseits und den Anforderungen vonseiten meiner Großeltern mütterlicherseits davongelaufen. Kurz vor dem Tod meines Vaters 2011 hat er diese wirklichen Gründe für die Flucht eingestanden. In meiner ersten Familienrekonstruktion habe ich dann begriffen, dass mein Lieblingsopa väterlicherseits nicht Gefängniswärter in Oranienburg war, sondern SS-Offizier im KZ Sachsenhausen. Mein Opa mütterlicherseits war in der KPD. Als überzeugter Kommunist hatte er all seine Freunde überzeugt, der ersten LPG der DDR beizutreten. Sein Hab und Gut hatte er selbst der LPG übereignet. 1962 wählte er den Freitod, weil er seine Ideale durch den Staat verraten sah. Er hat mit meiner Mutter nach unserer Flucht aus der DDR bis zu seinem Tod nicht mehr gesprochen. Er hat ihr die Republikflucht nie verziehen. Meine Mutter starb 1963 an einer Fehlgeburt. Wir Kinder waren von da an zum großen Teil auf uns allein gestellt. Wir waren mittlerweile fünf Kinder im Alter von 2, 5, 9 und 13 Jahren. Die zentralen Erkenntnis aus meiner ersten Rekonstruktion waren: 1. Es gibt viel ungesühnte Schuld, und ich habe in meinem Bericht 12: Flucht aus der DDR

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Leben versucht, etwas davon wiedergutzumachen. 2. Ich hatte eine schwere Kindheit, die ich mit vielen Kindern von Eltern teile, die aus der DDR geflohen waren. 3. Der Verlust von Heimat und Mutter hat massive Spuren in mir hinterlassen. Um diese Spuren muss ich mich ganz behutsam kümmern. Die Bemühungen meiner Therapeuten und Ausbilder, mich mit meinen Nöten mehr zu verstehen, konnte ich damals nicht zulassen oder erkennen. Das, was ich begriffen habe, war: Nichtfühlen ist ein ganz großes Gefühl, wie eine Gnade der Natur. Die Anteilnahme der anderen Teilnehmer hat mich eher erschreckt. Dass meine Geschichte so traurig sein sollte und dass meine Eltern mir und meinen Geschwistern so viel zugemutet haben sollen, hat eher den Verteidigungsimpuls in mir wachgerufen. Meine häufig selbst gewählte Einsamkeit war gefühlt besser, als illoyal mit meiner Familie zu werden. Heute, 15 Jahre nach dieser Rekonstruktion, kann ich sagen, es war der Anfang einer langen, mühsamen Erfolgsgeschichte. Ich habe mich intensiv mit den Ereignissen im KZ Sachsenhausen auseinandergesetzt, Schuld -und Verantwortungsgefühle in einer zweiten Rekonstruktion bearbeitet. Mich hat die Kollektivierung der Landwirtschaft der DDR beschäftigt, um den Freitod meines Großvaters zu verstehen. Ich habe viele schwere Gespräche mit meinem Vater geführt. Vor allem über die Flucht, die viele Prügel, die vor allem mein Bruder und ich bekommen haben. Ich habe ihn zu seiner Kindervernachlässigung, den Tod meiner Mutter und seiner Verantwortung für ihre Schwangerschaft befragt. Auch haben wir über seinen Vater, den SS-Offizier im KZ Sachsenhausen gesprochen. In vielen Jahren Therapie habe ich den Verlust von Mutter und Heimat bearbeitet. Die Familienrekonstruktion war der Anfang und hat mir ermöglicht, zu verstehen, dass mein Schicksal durch die Zeit, die Politik und die kollektiv entstandenen Verhältnisse bestimmt war und nicht nur individuelle Schuld ist. Das hat es mir leichter oder überhaupt erst möglich gemacht, mich mit meiner persönlichen Not auseinanderzusetzen. Heute bin ich friedlich mit den Entscheidungen meiner Eltern, wenn auch immer wieder traurig über die vielen Verluste. Meine Geschwister konnten den Weg leider nicht mitgehen, für sie ist es zu schmerzvoll, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Das trennt uns – leider. 220

Anhang 1: Fallbeispiele

Erst in jüngster Zeit fangen wir an, uns mit den Folgen der Flucht und ihren oft auch schweren Folgen für die betroffenen Kinder zu beschäftigen. Der Kalte Krieg und die Bewertung des Lebens in der DDR hat jahrelang verunmöglicht, über diese Seite der Flucht zu forschen. Mit dem Fall der Mauer und der Beschäftigung mit dem Leben der Menschen in der DDR, die häufig ja auch mit ihrer Lebensleistung ein erfülltes und sinnvolles Leben gestaltet haben, ist diese Auseinandersetzung erst möglich geworden.

Bericht 12: Flucht aus der DDR

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Bericht 13: Konstruktion von Zukunft Ausgangssituation Wichtige Daten zu mir zu dem Zeitpunkt der Reko: –– Herkunft aus Bulgarien, dreißig Jahre alt, weiblich. –– Seit zwölf Jahren in Deutschland, Studium in Deutschland absolviert. –– Seit sechs Monaten in einer festen Beziehung, zuvor mehrere ein- bis zweijährige Beziehungen.

Wichtige Daten zur Familie Zum Vater: –– verlor mit fünf Jahren seine Mutter unter tragischen Umständen bei einem Traktorunfall. –– Großvater heiratet zum zweiten Mal, Beziehung von meinem Vater zur Stiefmutter ist unterkühlt. –– Großvater stirbt, als mein Vater Anfang zwanzig ist. –– Als mein Vater meine Mutter kennenlernt, ist er inzwischen »Voll­weise«. –– Mit 24 heiratet er meine Mutter. Sie wollen unbedingt Kinder, müssen ein paar Jahre darauf warten, nach einer Operation meines Vaters wird meine Mutter mit mir schwanger. –– Ab dreißig psychiatrisch auffällig, Krankheit bricht nach der politischen Wende aus und nach einer wirtschaftlichen Inflationskrise verschlimmert sich sein Zustand extrem (manischdepressiv, sehr gewalttätig). Zur Mutter: –– sehr schwierige Beziehung zur eigenen Mutter, fühlte sich nie geliebt, selten gelobt oder wertgeschätzt. –– Großmutter war eine sehr strenge und ehrgeizige Grundschullehrerin. –– Mutter wird von ihrem Vater sexuell missbraucht. –– Ehe der Großeltern ist sehr konflikthaft. –– Mutter wird ausgezeichnete Schülerin, studiert später Wirtschaftswissenschaften. Nach der Wende, nach der Scheidung 222

Anhang 1: Fallbeispiele

mit ca. vierzig Jahren macht sie Karriere beim Finanzamt (höhere Leitungsebene). –– Mit 24 verliebt sie sich in meinem Vater und heiratet ihn, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hat. –– Die Beziehung meiner Mutter zu meinem Vater war am Anfang einerseits sehr innig, andererseits sehr konfliktbeladen, und schon sehr früh war Gewalt im Familienleben präsent. Zu meinem Bruder: –– Kommt sechs Jahre nach mir auf die Welt, in einer sehr angespannten Situation: wirtschaftliche Krise, Krankheit des Vaters verschlimmert sich, er ist stark depressiv, zieht sich aus dem Familienleben zurück, Mutter fühlt sich alleingelassen. Scheidung der Eltern: –– Sowohl psychische als auch physische Gewalt des Vaters eskaliert ein Jahr vor der Scheidung. Familienleben ist für alle unerträglich. –– Zu dem Zeitpunkt bin ich 14, mein Bruder ist 8. –– Mutter verlässt meinen Vater mit uns Kindern. Wir ziehen für einige Monate zu meiner Oma.

Erleben während der Rekonstruktion Anliegen: Einige Jahre vor der Reko hatte ich Psychotherapie gemacht und für mich Einiges sortiert und verarbeitet. Durch die vielen und sehr guten Freundschaften, die mich immer begleitet haben, konnte ich schwierige Zeiten gut überstehen und verarbeiten. Mein Anliegen während der Reko bezog sich auf die Zukunft, es ging um die Angst vor Schicksalsschlägen und um den Mut, sich zu binden und eine Familie zu gründen. Verlauf der Rekonstruktion: Mithilfe eines Zeitstrahls bin ich in die Zukunft gereist. Dort war ich mit meinem Liebsten und mit meiner Tochter (durch Stellvertreter repräsentiert). Die ganze Zeit hatte ich die Zuversicht im Rücken Bericht 13: Konstruktion von Zukunft

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(»eine Stellvertreterin«), die uns begleitet hat. Meine verstorbene Oma (die Mutter meines Vaters, deren Name ich trage) hat auf uns geschaut und sich gefreut. Mein Vater hat auch durch Stellvertretung einige Worte zu mir gesagt. Die Szene war sehr emotional und anrührend. Ergebnis: –– Ich habe 2,5 Jahre später geheiratet, bin sehr glücklich, unsere kleine Tochter ist am 9. Juni 2016 zur Welt gekommen. –– Ich blicke zuversichtlicher in die Zukunft, habe weniger Ängste und bin mit meinem Leben sehr zufrieden. –– Die Beziehung zu meiner Mutter hat sich verbessert. –– Meine Mutter hat sich mehr mit meinem Vater versöhnt, war über einem Jahr mehr mit ihm in Kontakt und hat sich um ihn gekümmert. Mein Vater hat meinen Mann letzten Sommer kennengelernt und hat meine kirchliche Hochzeit mitbekommen. In dieser Zeit hatten wir ein paar sehr rührende Momente/Gespräche miteinander über uns, über meine verstorbene Oma. Wir sagten uns, dass wir uns lieben. Mein Mann war bei den Gesprächen mit meinem Vater anwesend, und ich konnte diese rührende Momente mit ihm teilen. Das war sehr schön. –– Schade war es, dass mein Vater kurz danach (September 2015) spurlos verschwunden ist. Wir waren ein paar Wochen ziemlich verzweifelt, weil wir dachten, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist. –– Nach und nach bekamen wir aber einige Hinweise, dass er sich vermutlich im Ausland (in Österreich) aufhält. Sein Lebenstraum war schon immer auszuwandern. In kommunistischer Zeit las er »verbotene Literatur« und träumte davon, im Westen zu leben. –– Meine Mutter ist sehr enttäuscht, dass er einfach verschwunden ist und uns zumutet, uns solche Sorgen zu machen. –– Ich finde es sehr schade, dass er nicht mitbekommen hat, dass seine Enkelin geboren wurde.

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Anhang 1: Fallbeispiele

Bericht 14: »Gehirn aus, Herz an!« Ausgangssituation Teilnehmerin (33) – Britin, verheiratet seit fünf Jahren mit ihrem Mann (36) – Deutsch-Amerikaner – Sohn (2)

Daten zur Familie Mutter (60), Vater (60), Schwester (31). Die Teilnehmerin ist mit 21 nach dem Grundstudium von England mit ihrem deutschen Freund (jetzt ihr Mann) nach Deutschland gezogen und lebte schon seit 12 Jahren in Deutschland. Die Eltern trennten sich, als sie 14 war, und haben sich scheiden lassen, als sie 20 war. Die Großmutter der Teilnehmerin mütterlicherseits, war Armenierin, ist in Teheran aufgewachsen und als junge Frau ohne ihre Familie nach London gezogen. Die Teilnehmerin hat eine große Familie auf der mütterlichen Seite, die sie kaum kennengelernt hat, weil ihre Mutter vor allem nach ihrer Trennung den Kontakt zu Verwandten wenig gepflegt hat.

Anliegen Die Teilnehmerin wollte das Thema »Nähe und Distanz« und ihre Ambivalenz im Kontakt mit Freunden/Bekannten anschauen. Die Sachorientierung, Detailorientierung und das Bedürfnis nach Struktur steht bei der Teilnehmerin oft im Vordergrund und schränkt den Zugang zu den Emotionen und den Kontakt auf der Beziehungsebene ein. Aus dem Grund hat sie ihr Anliegen so ausgedrückt: Sie wollte ihr Gehirn ausschalten und ihr Herz anschalten.

Bericht zur Rekonstruktion Vorgespräch: Der Seminarleiter und die Seminarleiterin haben ein Reframing für mein Bedürfnis nach Struktur angeboten – die Struktur gibt mir Halt, wo es keinen anderen Halt gibt/gab. Bericht 14: »Gehirn aus, Herz an!«

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Die Seminarleiterin hat mir mitgeteilt, dass ich auf sie meistens sehr ernst und angestrengt wirke. Aber wenn ich lächele, habe ich eine ganz andere Ausstrahlung. Auf die Frage »Worauf bist du stolz?« habe ich eine große Verbundenheit mit meiner verstorbenen Großmutter, die Armenierin war, gespürt. Ich hätte mich gerne mit ihr ausgetauscht darüber, wie es ist, Ausländerin zu sein, eine Erfahrung, die ich mit meinen Eltern und meiner Schwester leider nicht teilen kann. Verlauf: Ich wurde eingeladen, auf dem Teppich zu sitzen und fünf bis sechs andere Teilnehmer dazu einzuladen, sich mit mir über mein Thema zu unterhalten. Ich habe ganz bewusst die Menschen ausgesucht, die ich gerne näher kennenlernen wollte, mit denen ich bislang aber nicht in näheren Kontakt getreten bin. Der Seminarleiter hat mir angeboten, mich auf Englisch mit den anderen Teilnehmern zu unterhalten. Es fühlte sich für mich sehr fremd an, weil ich mit den Weiterbildungskollegen noch nie Englisch gesprochen hatte. Ich habe den anderen mit mir auf dem Teppich Sitzenden mitgeteilt, dass, wenn ich Englisch spreche, es ist, als ob ich eine andere Person bin, und dass es eine ganz andere Seite meiner Persönlichkeit gibt. Diese Seite ist definitiv lockerer, humorvoller und wirkt nicht so angestrengt. Ich habe den anderen mitgeteilt, dass ich sie gerne näher kennenlernen würde, aber dass ich mich auch gleichzeitig zurückgehalten fühle. Die eingeladenen Teilnehmer haben mir ein Feedback gegeben darüber, wie sie den Kontakt mit mir empfinden. Ergebnis: Ich habe das Feedback als wohlwollend, wertschätzend und aufbauend erlebt. Dieses Feedback auf der Metaebene hatte ich mir schon im Laufe der Weiterbildung gewünscht. Zum Abschluss haben wir spontan, die Arme gegenseitig um die Schultern gelegt, »All you need is Love« miteinander gesungen. Es war ein Erlebnis, welches mich mit anderen verbunden hat, und es hat Gefühle der Zugehörigkeit in mir ausgelöst. Es war eine schöne 226

Anhang 1: Fallbeispiele

Erinnerung, dass Musik für mich ein Medium ist, das mir hilft, mich lebendiger und lockerer zu fühlen. Körperlich, vor allem im Schulterbereich, fühlte ich mich nach der Reko viel leichter und entlastet. Längerfristige Wirkung: Die Reko war ein Anstoß für mich im nächsten Jahr, mir treu zu sein, Kontakt zu meinen Mitmenschen bewusster zu suchen und mehr Nähe in meinem Leben zu erlauben. Sie hat mir auch den Mut gegeben, eine Sehnsucht zuzulassen und ein Jahr Auszeit von meinem Job, in Form von Elternzeit, zu beantragen, in dem ich ausgeglichener werden, mehr für mein Kind da sein und mich auf die Weiterbildung und das Thema Selbstständigkeit fokussieren wollte. Im nächsten Jahr habe ich den Kontakt zu Familie und Freunde mehr in den Vordergrund gestellt, ich bin zum ersten Mal, seit ich England verlassen habe, für zwei Wochen am Stück mit meinem Sohn zu Besuch gewesen. Ich habe Freundschaften eine höhere Priorität als der Arbeit gegeben und mich mehr für meine Bezugspersonen geöffnet. Nach einer großen Lebensveränderung, habe ich mir vorgenommen, den Aufbau von neuen Beziehungen in den Vordergrund zu stellen. Trotzdem habe ich auch auf alte bekannte Muster zurückgegriffen und viel Wert auf weitere Themen, z. B. Job und Wohnsituation, gelegt.

Bericht 14: »Gehirn aus, Herz an!«

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Bericht 15: Zur Wirkung auf die Therapeutenpersönlichkeit Meine zweite Rekonstruktion hatte ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Systemischen Therapeutin. Sie war also nicht ganz so freiwillig wie die erste und war für mich mehr mit der Frage verbunden, was genau geschieht in einer Rekonstruktion? Ich wurde in eine Gruppe mit zwei weiteren Frauen eingeteilt. Jede von uns war einmal in der Rolle als »Star«, als »Guide« und als »Beobachterin«. Die Arbeit innerhalb dieser Gruppe war für mich sehr beeindruckend. Die Geschichte, mit der ich als »Guide« einer der Frauen zu tun hatte, war für mich unglaublich schrecklich und voller Gewalt und es brachte mich teilweise an meine Grenzen, dies sorgfältig zu begleiten. Manchmal wäre ich über einige Punkte gern schneller hinweggegangen. Zum Teil konnte ich kaum glauben, was ich hörte. Es war für mich enorm entlastend, als ihre Rekonstruktion letztendlich auch dafür sorgte, dass wir die Geschichte hinter uns lassen und optimistisch und mit Lebensfreude in die Zukunft blicken konnten. Insofern war meine Rolle für mich eine lehrreiche Übung darin, auch als Therapeutin schreckliche Erlebnisse von Klienten zu hören, aufzunehmen und nicht zu vergessen, dass sie damit leben und auch leben können. Bis heute hilft es mir als Therapeutin in Situationen, in denen bei meinen jeweiligen Klienten alles hoffnungslos wirkt, eine Haltung zu finden, die zugleich intensiv die Situation und das persönliche Erleben würdigt und gleichzeitig von Lebensoptimismus geprägt sein darf, ohne zu beschwichtigen. Innerhalb dieser Gruppenarbeiten tauchte ich in Lebensgeschichten ein und erlebte sie wie in einem Roman oder einem Film. Das wurde mir in der zweiten Rekonstruktion deutlich bewusst. Eine Lebensgeschichte wird aus den Erzählungen rekonstruiert. Sie muss nicht übereinstimmen mit den Erzählungen anderer Familienmitglieder oder Freunde. Sie ist die mit eigenen Bedeutungen belegte Geschichte. Ich habe viel aus diesen Lebensgeschichten, die ich in meiner kleinen Gruppe, aber auch in der Großgruppe während der eigentlichen Rekonstruktion erlebt habe, gelernt. Dazu gehören 228

Anhang 1: Fallbeispiele

auch die »Rollen«, in die ich für Skulpturarbeiten schlüpfte und für die ich ausgesucht wurde. Auch hier durfte ich mich einfühlen in Geschehen und Gefühle, die ich selbst in meinem Leben bisher nicht erlebt hatte. Mir wurden Verhaltensweisen verständlich, die ich vorher nicht verstanden oder sogar abgelehnt hatte. Mir wurde deutlicher bewusst, dass Verhalten – wie in der Kommunikationstheorie von Watzlawick et al. – eine Reaktion auf etwas ist, dass jemand mit einer bestimmten Bedeutung belegt. Ich fühle seitdem häufiger eher Interesse an mir unverständlichem Verhalten als Ablehnung. Für meine therapeutische Arbeit half mir dies, eine wertschätzende Haltung gegenüber Menschen und ihren verschiedenen Verhaltensweisen zu entwickeln, die mehr davon geprägt ist, verschiedene »Realitäten« anzuerkennen. So kann ich dadurch z. B in Paar- oder Familientherapien leichter allparteilich bleiben. Meine eigene Rekonstruktion war eine Skulpturarbeit, die mir einige Beziehungen in meiner Familie noch einmal verdeutlichte und unter anderem auch Erklärungen dafür bot, dass die Männer meiner Familie von den Frauen und Kindern oft so schmerzlich vermisst wurden. Es hatte viel mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, in dem meine beiden Großväter starben. Im Rückblick kann ich allerdings schreiben, dass gerade die intensive Vorarbeit und die Arbeit in Gruppen, welche ja eigentlich nicht »wirklich« Teil der Rekonstruktion oder Aufstellung sind, die wichtigsten Erfahrungen meiner zweiten Rekonstruktion waren. Das mag allerdings auch daran liegen, dass ich in der Zwischenzeit eine Therapie gemacht und schon viele Dinge herausgefunden und bearbeitet hatte.

Bericht 15: Zur Wirkung auf die Therapeutenpersönlichkeit

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Anhang 2: Auszüge aus den EthikRichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) e. V.

gemäß Beschluss der Mitgliederversammlung am 18.9.2003, ergänzt durch Beschlüsse der Mitgliederversammlungen am 11.10.2007 in Ulm und am 3.10.2012 in Freiburg13 Präambel

Die ethischen Richtlinien stellen Leitlinien im Sinne einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Mitglieder der DGSF und aller Fachkräfte mit DGSF-Zertifikat dar, die nicht Mitglied der DGSF sind.14 Sie beziehen sich auf jede Form eigenverantwortlichen Handelns im therapeutischen, beraterischen, supervisorischen, berufspolitischen, wissenschaftlichen und publizistischen Bereich sowie in der Fort- und Weiterbildung. Sie dienen: ȤȤ der Förderung des ethischen Diskurses innerhalb des Verbandes; ȤȤ der Handlungsorientierung der Mitglieder; ȤȤ dem Schutz der KlientInnen, SupervisandInnen und WeiterbildungskandidatInnen vor unethischem und unprofessionellem Handeln.

13 Zugriff am 23.08.2016 unter https://www.dgsf.org/ueber-uns/ethik-richtlinien.htm 14 Alle weiteren, die Mitglieder betreffenden Aussagen dieser Richtlinien gelten wie in der Präambel jeweils auch für Nicht-Mitglieder mit DGSF-Zertifikat.

Sie sind Grundlage für die Klärung von Beschwerden und Konflikten. Die ethischen Richtlinien stellen Mindestanforderungen an ein verantwortungsbewusstes Handeln dar und unterstützen dessen kritische Reflexion. Grundhaltungen

Die Grundhaltung systemischer BeraterInnen, TherapeutInnen, SupervisorInnen und WeiterbildnerInnen ist gekennzeichnet durch Achtung, Respekt und Wertschätzung gegenüber einzelnen Personen und Systemen. Dies beinhaltet die Akzeptanz einzelner als Person und die Allparteilichkeit gegenüber den zum System gehörenden Personen, unabhängig von deren Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Kultur, Status, sexueller Orientierung, Weltanschauung und Religion. Die KlientInnen werden als ExpertInnen für sich und ihre Lebensgestaltung gesehen. Sie werden zur Entdeckung und selbstbestimmten Nutzung eigener Ressourcen angeregt, dabei unterstützt und begleitet. BeraterInnen und TherapeutInnen orientieren sich in ihrem Handeln daran, die Möglichkeitsräume der KlientInnen und Systeme zu erweitern und deren Selbstorganisation zu fördern. Insbesondere nehmen sie Themen, die sich unter der Genderperspektive stellen, sensibel wahr. Dabei werden eigene Prämissen einer ständigen Reflexion unterzogen. Für Beratung und Therapie gilt das Prinzip: so kurz wie möglich, so lang wie nötig. Fachliche Kompetenz

Die Mitglieder der DGSF verpflichten sich: ȤȤ die für ihre jeweilige professionelle Tätigkeit erforderliche Kompetenz gemäß den Qualitätsstandards der systemischen Fachgesellschaften zu erwerben; ȤȤ die eigene Haltung und Handlungskompetenz einer ständigen selbstkritischen Prüfung zu unterziehen und durch regelmäßige Fortbildung sowie Studium der einschlägigen Literatur zu erweitern; ȤȤ die Qualität des eigenen professionellen Handelns durch Intervision bzw. Supervision zu sichern; 232

Anhang 2: Auszüge aus den Ethik-Richtlinien der DGSF

ȤȤ eine eventuelle Tätigkeit in der Fort- und Weiterbildung regelmäßig zu evaluieren; ȤȤ nur Leistungen im Rahmen nachweislich erworbener Kenntnisse anzubieten. Zu den fachlichen Standards systemischen Handelns gehört, im jeweiligen Kontext auch mit anderen Systemen und Fachleuten zusammenzuarbeiten sowie deren Kompetenzen und Ressourcen mit einzubeziehen. DGSF-Mitglieder sollen im Rahmen ihrer persönlichen bzw. institutionellen Möglichkeiten zur Mitwirkung an Forschungsvorhaben bereit sein. Selbstfürsorge

Reflektierte Professionalität beinhaltet einen sorgsamen Umgang mit den persönlichen und fachlichen Ressourcen und deren Pflege. Für den Einzelnen/die Einzelne heißt das: ȤȤ die Grenzen der eigenen Belastbarkeit zu kennen; ȤȤ Anzeichen rechtzeitig zu bemerken; ȤȤ institutionelle und individuelle Entlastungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen; ȤȤ eine Balance zwischen der eigener Rolle und dem Auftrag im jeweiligen Kontext zu finden; ȤȤ sich einer reflektierenden Außenwelt zu stellen (Supervision, Intervision, Fortbildung). Schweigepflicht

Die Mitglieder der DGSF verpflichten sich, alle Mitteilungen ihrer KlientInnen entsprechend den gesetzlichen Regelungen vertraulich zu behandeln, auch über den Tod hinaus. Die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen ist für jedes Mitglied des Systems zu gewährleisten. Sie müssen auch für den Fall von Krankheit, Unfall oder Tod des/der BeraterIn bzw. TherapeutIn sichergestellt werden. Diese Schweigepflicht gilt auch für Supervisionen und Intervisionen, für Veröffentlichungen und für die Fort- und Weiterbildung. KlientInneninformationen dürfen nur mit deren schriftlicher Anhang 2: Auszüge aus den Ethik-Richtlinien der DGSF

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Einwilligung oder bei gesicherter Anonymität in der Fort- und Weiterbildung oder in Veröffentlichungen benutzt werden. Die Dokumentation klientInnenbezogener Daten erfolgt unter Wahrung der Datenschutzbestimmungen entsprechend den fachlichen Standards. Information und Aufklärung

In ihrem Bemühen um Klarheit und Transparenz gegenüber den KlientInnen/KundInnen informieren die Mitglieder der DGSF in verständlicher und angemessener Form über: ȤȤ ihre berufliche Qualifikation und Verbandszugehörigkeit; ȤȤ Art und Umfang der angebotenen Leistung und deren mögliche Folgen; ȤȤ die finanziellen Bedingungen; ȤȤ die Vertraulichkeit und die Schweigepflicht; ȤȤ die Art der Dokumentation von Daten. Jede unwahrhaftige oder irreführende Werbung ist zu unterlassen. Den KlientInnen wird Gelegenheit gegeben, frei von Zeit- und situativem Druck über die Annahme der angebotenen Leistung zu entscheiden. Kann eine gewünschte Leistung nicht bzw. nicht weiterhin angeboten werden, so ist dies in für die KlientInnen geeigneter Weise zu begründen und ihnen Hilfe bei der Weitervermittlung anzubieten. […] Verbot von Diskriminierung, Ausbeutung und Ausnutzung

Systemische BeraterInnen und TherapeutInnen begegnen ihren KlientInnen mit Offenheit und Interesse, unabhängig von deren Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Kultur, Status, sexueller Orientierung, Lebensorientierung und Religion. Sie machen sich die daraus resultierenden Unterschiede zwischen sich und ihren KlientInnen bewusst. Sie übernehmen die Verantwortung für eine vertrauensvolle, geschützte und für die KlientInnen förderliche Beziehung. 234

Anhang 2: Auszüge aus den Ethik-Richtlinien der DGSF

Die Mitglieder der DGSF verpflichten sich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem besonderen Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis der KlientInnen bzw. WeiterbildungskandidatInnen. Wird dieses zur Befriedigung persönlicher, emotionaler oder sexueller, wirtschaftlicher oder sozialer Interessen missbraucht, stellt dies einen klaren Verstoß gegen die Ethik-Richtlinien der DGSF dar. Im Fall einer Konfusion zwischen professioneller Rolle und persönlichen Interessen muss diese sofort entflochten werden. Beziehungen, die die professionelle Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit gegenüber KlientInnen, SupervisandInnen oder WeiterbildungskandidatInnen einschränken, sind zu vermeiden. Dieses Abstinenzgebot gilt auch nach Beendigung der Zusammenarbeit für mindestens zwei Jahre. […] Gesellschaftspolitische Verantwortung der DGSF und ihrer Mitglieder

Systemische BeraterInnen und TherapeutInnen engagieren sich in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für die Weiterentwicklung ihrer fachlichen Standards und für die gesundheits-, sozial- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit. In ihrem fachlichen und sozialen Engagement stehen sie für das Zusammenwirken in Systemen, für Möglichkeiten und Formen der Konfliktlösung und Konsensbildung. (Stand: Oktober 2012)

Anhang 2: Auszüge aus den Ethik-Richtlinien der DGSF

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Anhang 3: Gesellschaftspolitische Grundwerte der DGSF

Die Mitgliederversammlung 2015 hat beschlossen: »Frieden – Freiheit – Gleichheit – Geschwisterlichkeit – Teilhabe – Ausgleich – Informationelle Selbstbestimmung!« Gesellschaftspolitische Grundwerte, für die die DGSF eintritt15 Präambel

Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) hat im Jahre 2013 beschlossen, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren bei Themen, in denen sie eine eigene Kompetenz besitzt und von denen die DGSF-Mitglieder und/oder deren KlientInnen betroffen sind. Mit den hier benannten sieben Grundwerten versucht die DGSF, Maßstäbe für die gesellschaftspolitische Richtungsbestimmung, für die Bewertung gesellschaftlicher Prozesse und für das eigene Handeln als Verband zu entwickeln. Solche gesellschaftspolitischen Bewertungsmaßstäbe bedürfen einer Diskussion. Sie können – da über Beratung und Therapie hinausgehend – nicht allein aus den bekannten systemtherapeutischen/beraterischen Grundhaltungen (wie Zirkularität, Allparteilichkeit, Ressourcenorientierung, Wertschätzung jeder Selbstorganisation) und/oder aus den klientenbezogenen Ethikgrundsätzen der DGSF16 gewonnen werden. 15 Zugriff am 23.08.2016 unter https://www.dgsf.org/ueber-uns/ueber-uns/ grundwerte 16 Siehe Ethik-Richtlinien der DGSF: u. a. Grundhaltungen, Verbot von Diskriminierung, Ausbeutung und Ausnutzung.

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Die DGSF setzt sich in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement für die Realisierung der sieben Grundwerte »Frieden und Gewaltfreiheit – Freiheit – Gleichheit und soziale Gerechtigkeit – Geschwisterlichkeit und Solidarität – Teilhabe und Mitbestimmung – Ausgleich/›Ökosystemische Balance‹ – Informationelle Selbstbestimmung im Zeitalter von ›Big Data‹« ein. Diese sieben Grundwerte entstammen unterschiedlichen Traditionen. Der Grundwert Frieden, verstanden als eine Entscheidung für Gewaltlosigkeit/Gewaltfreiheit, hat seinen Ursprung in pazifistischen Traditionen. In der Charta der Vereinten Nationen von 1945 werden »Frieden und Sicherheit« als Grundlage der zwischenmenschlichen Existenz und Entfaltung gesehen. Die Grundwerte »Freiheit – Gleichheit und soziale Gerechtigkeit – Geschwisterlichkeit und Solidarität« entstammen der Tradition der bürgerlichen Aufklärung, prominent formuliert in der Losung der Französischen Revolution 1789. Sie liegen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 zugrunde und lassen sich aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 ableiten, in dem das Sozialstaatsgebot ausformuliert ist: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Die Grundwerte »Teilhabe und Mitbestimmung« und »Ausgleich/ ›Ökosystemische Balance‹« entstammen demokratischen und ökologischen Denkansätzen des 20. Jahrhunderts. Die »Informationelle Selbstbestimmung« ist ein Grundrecht jüngeren Datums, das aus Artikel 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union abgeleitet ist. Wir sind uns dabei bewusst, ȤȤ dass diese Grundwerte sich überlappen und zueinander nicht trennscharf sind, und ȤȤ dass keiner dieser Grundwerte verabsolutiert werden kann. Unser Verständnis der sieben Grundwerte

Frieden und Gewaltfreiheit Sicherheit und Frieden sind ein Grundbedürfnis und ein humanes Grundrecht. Gewalt greift die individuelle, soziale und nationale Identität und Integrität der Menschen an. 238

Anhang 3: Gesellschaftspolitische Grundwerte der DGSF

Eine »Kultur des Friedens« entsteht nicht allein durch die Abwesenheit von persönlicher, struktureller und militärischer Gewalt – es bedarf vielmehr positiver, dynamischer und partizipatorischer Prozesse, in deren Rahmen die Fähigkeit und Bereitschaft zum Dialog gefördert und Konflikte im Geist eines gegenseitigen Vertrauens und Verständnisses und einer konstruktiven Zusammenarbeit gelöst werden. Dafür braucht es in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere in Erziehung, Bildung, Medien, Kunst, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft die Stärkung von Werten und Kompetenzen der Gewaltfreiheit. Diese »Logik des Friedens« kann nicht nur auf rationalen Regelungen aufbauen, sondern wird durch die Bereitschaft für zwischenmenschliches Verständnis und Respekt dem Anderen und Fremden gegenüber getragen. Freiheit Freiheit lässt sich mithilfe der Begriffe Selbstbestimmung und Eigenständigkeit umschreiben. Freie Individuen besitzen die Möglichkeit, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und ihr Leben grundsätzlich ohne Zwänge zu gestalten. Freiheit findet ihre Grenzen in den Rechten aller anderen Menschen.17 Ihr entsprechen moderne Forderungen nach Respekt vor Autonomie, Selbstorganisation/Autopoiese, Selbstkontrolle, »Self-Ownership«, Recht auf Unterschiedlichkeit (»Diversity«). Freiheit wirkt bevormundender Kontrolle entgegen, bezieht aber auch ein mögliches Scheitern ein. Individuen wird Verantwortung für ihr Handeln zugleich ermöglicht und abverlangt. Das Freiheitspostulat erfordert zudem die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen, d. h. eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und damit einhergehend die Umsetzung von »Verwirklichungschancen«.

17 Vgl. Artikel 2 des Grundgesetzes: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« Anhang 3: Gesellschaftspolitische Grundwerte der DGSF

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Gleichheit und soziale Gerechtigkeit Gleichheit hängt eng mit Gerechtigkeit, d. h. der möglichst weitgehend gleichen Verteilung von materiellen und/oder ideellen Gütern, zusammen. Gleichheit heißt einerseits Gleichheit der Rechte, Gleichheit vor dem Gesetz (»Gleichberechtigung«), andererseits auch Gleichheit der Chancen, Gleichheit in der Realität (»gleicher Zugang zu Ressourcen«, u. a. zu Nahrung, Behausung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Kultur). Ihr entsprechen moderne Forderungen wie Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit (= Chancengleichheit), Zugangsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit. Größtmögliche soziale Gerechtigkeit ermöglicht den Schwächeren einer Gesellschaft in Freiheit leben zu können und wirkt gespaltenen Gesellschaften entgegen. Gleichheit darf nicht zur »Gleichmacherei« von Lebensstilen und nicht zur Behinderung individueller Initiativen und Dynamiken führen. Geschwisterlichkeit und Solidarität Geschwisterlichkeit meint gegenseitige Unterstützung und füreinander einzustehen. Ihr entsprechen moderne Forderungen nach sozialer Unterstützung, Solidarität, Zugehörigkeit, Fürsorge, Inklusion. Geschwisterlichkeit/Solidarität darf nicht zu Bevormundung und übermäßiger sozialer Kontrolle führen. Der Grundwert Geschwisterlichkeit/Solidarität weist eine große Schnittmenge zum Grundwert Teilhabe und Mitbestimmung auf. Teilhabe und Mitbestimmung Teilhabe bedeutet, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, am Gemeinschaftsleben einer Gesellschaft und deren Teilsystemen teilzunehmen (»Inklusion«) und dieses Gemeinschaftsleben in den Grenzen ihrer Interessen und Fähigkeiten mitzugestalten und mitzuentscheiden (»Partizipation«). Teilhabe für möglichst viele setzt transparente Informationsflüsse voraus. Teilhabe als Inklusion wirkt Tendenzen zu sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung von Bevölkerungsgruppen entgegen. Teilhabe als Partizipation wirkt oligarchischen und diktatorischen Tendenzen entgegen. 240

Anhang 3: Gesellschaftspolitische Grundwerte der DGSF

Ausgleich/»Ökosystemische Balance« Ausgleich steht dafür, das einseitige Wachstum einzelner Variablen (Werte, Tendenzen, Ziele) zulasten anderer zu begrenzen, menschliche Bedürfnisse nicht unbegrenzt zulasten der Natur zu befriedigen, mögliche negative Nebenwirkungen von gutgemeinten Interventionen zu bedenken und zu begrenzen, fehlerfreundlich zu intervenieren. Der Forderung nach Ausgleich entsprechen moderne Forderungen nach Nachhaltigkeit und ökologischer Verträglichkeit. Ausgleich – als Fachterminus »Ökosystemische Balance« – schafft Rahmenbedingungen, in denen Frieden und Gewaltfreiheit, Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit und Solidarität, Teilhabe und Mitbestimmung leichter möglich werden. Ausgleich darf nicht zur Lähmung (von Initiativen) führen. Informationelle Selbstbestimmung im Zeitalter von »Big Data« Es gibt ein Grundrecht auf Datenschutz. Durch die globale elektronische Entwicklung, die zunehmende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und die mangelnde Umsetzung des Datenschutzes ist der/die BürgerIn nicht mehr in der Lage, selbst darüber zu bestimmen. Die Auswirkungen auf und Gefahren für das demokratische Gemeinwesen sind immens, neue Formen von Manipulation, Diskriminierung und Verlust von Privatsphäre entstehen. Dies ist eine Dimension von struktureller Gewalt und erfordert eine weitere kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Entwicklung.

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