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German Pages 572 Year 2013
Ekaterina Poljakova Differente Plausibilitäten
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
Herausgegeben von Günter Abel (Berlin) und Werner Stegmaier (Greifswald) Begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter und Heinz Wenzel
Band 63
Ekaterina Poljakova
Differente Plausibilitäten Kant und Nietzsche, Tolstoi und Dostojewski über Vernunft, Moral und Kunst
ISBN 978-3-11-031507-3 e-ISBN 978-3-11-031519-6 ISSN 1862-1260 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dem Andenken meines Vaters Andrej Poljakov gewidmet, der mich als Erster für die Philosophie begeistert hat
Vorwort Dieses Buch umfasst eine leicht überarbeitete Version meiner Habilitationsschrift, die ich 2011 bei der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald eingereicht habe. Dass mir als Russin die Habilitation in Deutschland und zumal im Fach Philosophie gelang, habe ich mehreren günstigen Umständen zu verdanken. Der wichtigste war, dass ich mich, als ich mein Habilitationsprojekt noch im Rahmen literaturwissenschaftlicher Studien anging, an Werner Stegmaier, den damaligen Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie in Greifswald, wandte und daraufhin von ihm eingeladen wurde, meine Studien dort im Rahmen des Fachs Philosophie fortzuführen. In Greifswald durfte ich die Atmosphäre eines Philosophierens erleben, die die große Tradition der deutschen Philosophie, gekennzeichnet durch die Namen Kant und Hegel, aber auch Nietzsche und Luhmann, für mich neu lebendig werden ließ. Der anspruchsvolle und höchst produktive Gedankenaustausch in einem Kreis von vorwiegend jungen Wissenschaftler(inne)n, die dort aus aller Welt zusammenfanden, kam meinem eigenen philosophischen Interesse so sehr entgegen, dass ich schließlich ohne Zögern und Bedauern die mir vorgezeichnete Bahn einer wissenschaftlichen Karriere in Russland aufgab (ich bekleidete von 1998 bis 2003 eine Stelle an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau und hielt Vorlesungen zur Literaturtheorie und Poetik). Ich begab mich, lange nach meiner Promotion, noch einmal in die Schülerposition und erfuhr auf atemberaubende Weise die Tiefe und Breite der philosophischen Probleme. Auf die Jahre in Greifswald blicke ich nun, nachdem die Habilitationsschrift und die Habilitation abgeschlossen sind, mit Freude und Dankbarkeit zurück. Mein besonderer Dank gebührt daher Werner Stegmaier, meinem Lehrer in der Philosophie. Aber auch ohne die erhebliche finanzielle Hilfe mehrerer Stiftungen hätte ich diesen Weg nicht gehen können. Ich möchte mich dafür v. a. bei der TrebuthStiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft bedanken, die mich nicht nur über mehrere Semester unterstützt, sondern auch einen erheblichen Beitrag zur Publikation dieser Schrift geleistet hat. Ich bedanke mich ferner für die Förderung durch das Land Mecklenburg-Vorpommern und den DAAD, die mir mehrere Forschungsaufenthalte in Greifswald ermöglichten. Außerdem bin ich der Klassik Stiftung Weimar zu Dank verpflichtet, die einen meiner ersten Aufenthalte und so auch den Anfang meiner Forschungsarbeit in Deutschland förderte, und dem Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (FIPH), das mir ein halbjähriges Forschungsstipendium zuteil werden ließ, und besonders seinem damaligen Leiter Gerhard Kruip, von dem ich ebenfalls viel gelernt habe. Ich möchte auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft meinen Dank aussprechen, für die ich zwei Jahre lang als Post-Doc im Graduiertenkolleg „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum“ tätig sein durfte. Herzlich danken möchte ich nicht zuletzt Willie Gerloff, Elisa Neuschulz, Andreas Rupschus und Mathias Schlicht, die in mühsamer Klein
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Vorwort
arbeit mein Deutsch in diesem Buch vollends in Ordnung gebracht haben. Den resultierenden Text verantworte ich gleichwohl in vollem Umfang selbst. Schließlich hat die Ernst-Moritz-Arndt-Universität mir nun durch die Verleihung des Käthe-KluthStipendiums für habilitierte Wissenschaftlerinnen die Möglichkeit eröffnet, mich für weitere drei Jahre auf die Fortsetzung meiner wissenschaftlichen Laufbahn vorzubereiten. Dafür danke ich ihr noch einmal sehr herzlich. Zuletzt noch eine persönliche Bemerkung. Alle vier Denker, von denen dieses Buch handelt, stellten, seit ich philosophisch zu denken gelernt habe, eine besondere Herausforderung für mich dar. Von den Schriften Tolstois und Dostojewskis wurde ich zuvor schon in meiner Kindheit begleitet. In den Studienjahren an der Tartu Universität habe ich Nietzsche für mich entdeckt. Kant erschloss sich mir dann vor allem in Greifswald. Je mehr ich mich in die Schriften dieser russischen und deutschen Denker vertiefte, desto mehr wurde ich, immer aufs Neue, von ihnen überrascht und irritiert. Es war kein rein „wissenschaftliches“ Interesse. Ich habe sie, wie Nietzsche es von Philosophen forderte, auf mich persönlich wirken lassen, so dass sie in meiner Lebensorientierung im Ganzen präsent blieben. In meiner kritischen Auseinandersetzung mit ihnen wurde ich jedoch nie wirklich fertig und werde es wohl niemals werden. Das macht nicht immer Freude. Manche Probleme, die sie gestellt haben, führen bis heute in immer neue Kontroversen und unlösbare Konflikte, bis in das von Nietzsche so tief angesetzte und so hoch geschätzte Tragische hinein. Selbst Nietzsche, der den Anspruch, dem Tragischen treu zu bleiben, ausdrücklich an die Philosophen richtete, suchte noch nach Möglichkeiten, ihm wenigstens gelegentlich zu entgehen. Die Niederschrift eigener Gedanken bietet eine solche Möglichkeit. Und vielleicht ist dies die einzige Möglichkeit, die Philosophen offensteht. So bin ich besonders dankbar, dass ich meine Auseinandersetzung mit vier der anspruchsvollsten Denker abschließen konnte und nun den Leser(inne)n vorlegen darf. Abgeschlossen ist sie, wie ich hoffe, nicht in dem Sinn, dass hier ein abstraktes Fazit vorliegt, sondern weil sie im Gegenteil, wie ich hoffe, auch und gerade das Irritierende, Lebendige bei jedem der genannten Denker zur Sprache bringt und das Nachfragen bis an jene Grenzen führt, wo es keine endgültigen Antworten mehr gibt. Greifswald, den 6. Juni 2013 Ekaterina Poljakova
Inhaltsverzeichnis Vorwort VI Siglen XI Einleitung 1 Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft 27 1.1 Die Moral aus Vernunft: Paradoxien und Tautologien der radikalen Kritik 38 1.2 Die moralische Urteilskraft zwischen dem „radicalen Bösen in der menschlichen Natur“ und dem „Heiligsten, was unter Menschen nur sein kann“ 47 1.3 „Ergänzungsstück“ der Moralität und das Ideal der Vollkommenheit 62 1.4 Das Schöne: Beispiel, Muster, Symbol 69 1.5 Zusammenfassung 84 Kapitel 2. Nietzsche: Kunst als Kritik einer Moral aus Vernunft 89 2.1 Nietzsches Aufklärung des kantischen Konzepts einer Moral aus Vernunft 96 Die alte und die neue Aufklärung 96 Die große Errungenschaft 103 Das große Umsonst 109 Der große Zirkel: „Vermöge eines Vermögens“ 116 Die Metapher der Schifffahrt 125 2.2 Nietzsches Aufhebung der Moral 129 Die Frage nach dem Wert 129 Vom „Selbstmorde der Vernunft“ zur „Selbstaufhebung der Moral“ 138 Der christliche Glaube und das intellektuelle Gewissen 146 Vornehmheit des Egoismus und Plausibilität des Geschmacks 160 2.3 Von der Optik der Kunst zur Optik des Lebens 187 Die Moral aus Vernunft unter der Optik der Kunst 187 Künstler und Schauspieler unter der Optik des Lebens 209 2.4 Zusammenfassung 219 Kapitel 3. Tolstoi: Moral versus Kunst 225 3.1 Die Stimme der Vernunft aus der Not des Lebens 236 Der Sinn des Lebens 236 Die Natur der Vernunft 238
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3.4
Inhaltsverzeichnis
Vernunftglaube aus dem Lebenstrieb 244 Das Unbegreifliche als Wohl der Vernunft 251 Das Gute in der Perspektive des Lebens 258 „Widerstehe nicht dem Bösen“ 258 Die Freiheit und der Endzweck des Lebens 273 Die wahre Religion versus Geschichten 281 Die gute Kunst 294 Das Gute und das Schöne 294 „Der Geist des Bösen und des Betrugs“: das Theater 301 Die Kunst im Dienste des Lebens: die Einigung der Menschheit 314 Zusammenfassung 322
Kapitel 4. Dostojewski: Schönheit versus Vernunft 329 4.1. „Pro et contra“: Dialektik der Vernunft 339 Revolte gegen Gott und Natur 339 Das vernünftige Zusammenleben und die Logik der Willkür 352 4.2 Ohnmacht des Guten aus Vernunft 372 Das Böse der Unfreiheit 372 Schuld als Befreiung 386 4.3. Die Schönheit als Erlösung der Welt 402 Die fantastische Wirklichkeit 404 Die Schönheit des Bösen 411 Die rettende Kunst 418 4.4 Zusammenfassung 428 Kapitel 5. Nietzsche als ‚russischer‘ Philosoph 437 5.1 Russische Kant- und Nietzsche-Rezeption (ein Überblick) 437 5.2 Nietzsches Entdeckung der Russen 456 5.3 Der „Typus des Erlösers“ in deutsch-russischen Reflexionen 465 5.4 Die „Bosheit“ der Russen 499 Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse 513 Literatur 523 Namensregister 553 Begriffsregister 555
Siglen Kants Werke, mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (AA, Berlin, 1900 ff.) zitiert (Bandnummern und Seitenzahlen in Klammern). Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der ersten (A) und zweiten (B) Auflage (Riga: Johann Friedrich Hartknoch, 1781, 1787, 2003 (Hamburg: Meiner)) zitiert.
Die Abkürzungen der am meisten zitierten Werke Kants sind folgende: KrV Kritik der reinen Vernunft KpV Kritik der praktischen Vernunft KU Kritik der Urteilskraft GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten MS Die Metaphysik der Sitten RGV Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AH Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Nietzsches Schriften werden mit Band- und Seitenangaben nach den folgenden Ausgaben zitiert: KSA Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York, München: Walter de Gruyter, dtv, 1980. KGW Werke: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter, Karl Pestalozzi, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1967 ff., Abteilung IX: Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription nach Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach, hg. v. Marie-Luise Haase, Martin Stingelin, in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2001 ff. KGB Kritische Gesamtausgabe Briefe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1975–2004.
Für die am meisten zitierten Werke Nietzsches werden folgende Abbreviaturen verwendet: AC Der Antichrist EH Ecce homo EH Bücher Warum ich so gute Bücher schreibe EH klug Warum ich so klug bin EH Schicksal Warum ich ein Schicksal bin EH weise Warum ich so weise bin FW Die fröhliche Wissenschaft
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GD GM GT JGB M MA NW PHG UB VM WA WL WS Z
Siglen
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift Die Geburt der Tragödie Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Unzeitgemässe Betrachtungen Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen
Tolstoi und Dostojewski werden nach den entsprechenden deutschen Übersetzungen zitiert. In den Fällen, in denen keine deutsche Übersetzung vorliegt, werden Tolstois bzw. Dostojewskis Werke, Briefe, Tagebücher und der Nachlass in meiner Übersetzung nach den folgenden Standard-Ausgaben angegeben: TGA: Лев Николаевич Толстой, Полное собрание сочинений, в 90 томах (Юбилейное издание), (Gesamtausgabe, (Jubiläumsausgabe)), Москва, Ленинград: Худ. лит., 1935–1958; DGA: Федор Михайлович Достоевский, Полное собрание сочинений, в 30 томах, (Gesamtausgabe), Ленинград: Наука, 1972–1990. Alle Hinweise stehen in Klammern (Band, Seite).
Einleitung Das Wort „Plausibilität“ steht selten im Plural. In manchen Sprachen ist es überhaupt unmöglich von „Plausibilitäten“ zu sprechen, z. B. in der russischen. Im Deutschen spricht man von der Plausibilität einer These, wenn man ihr spontan zustimmt bzw. wenn sie keiner weiteren Begründung bedarf. Das Plausible scheint dabei nur eine sinnvolle Alternative zu haben – das Unplausible, das, von dem man auch nach Begründungen nicht überzeugt ist. Wenn dies der Fall ist, nützen keine Gegenargumente. „Dies ist mir nicht plausibel“ fungiert selbst als letztes Argument: Man entzieht einer These seine Zustimmung und weist auf eine Alternative hin, die sich ihrerseits auf ihre Plausibilität beruft. Doch die Plausibilität einer These ist nicht ihre Evidenz. Zuletzt ist der Begriff paradox. Denn vom Plausiblen spricht man, als ob es selbstverständlich wäre, und dennoch ist Plausibilität, indem sie behauptet wird, nicht mehr selbstverständlich. Ist etwas plausibel, braucht man es gerade nicht zu behaupten. Man wird jedoch eventuell dazu genötigt – wenn es auf die Alternativen ankommt, wenn man also mit verschiedenen „Plausibilitäten“ konfrontiert wird. Der Begriff der Plausibilität wurde als philosophischer Begriff von Werner Stegmaier eingeführt.1 Philosophische Wörterbücher und Enzyklopädien führen ihn dagegen nicht als Stichwort. Auf diesen Mangel weist Stegmaier gerade hin. Plausibilitäten seien weder Evidenzen noch Prämissen.
Als selbstverständliche werden Plausibilitäten nicht artikuliert, nicht explizit gemacht. Sie werden fraglos vorausgesetzt. Werden sie erst artikuliert, werden sie damit Nachfragen ausgesetzt und dadurch fraglich.2
Unter dem philosophischen Begriff der Plausibilität wird damit, im Unterschied zum alltäglichen Sprachgebrauch, nicht bloß das Plausible einer These verstanden, sondern eine gewisse Annahme, ein Anhaltspunkt der Orientierung im Denken,3 eine Grundgewissheit, die selbst als These formuliert werden könnte, wenn sie nicht schon
1 Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 14 ff. Hier wird u. a. auf die philosophische Vorgeschichte des Begriffs hingewiesen, v. a. auf den Ausdruck „Bewertungsstufen von Plausibilität“ bei Peirce und seine indirekte Beschreibung bei Wittgenstein. S. Charles Sanders Peirce, Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes, S. 343 ff.; Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 8, S. 137. 2 Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 15. 3 Eine philosophische Explikation des Orientierungsbegriffs ist der eigentliche Gegenstand der Untersuchung von Stegmaier. Er wird als „ein Letzt- und Grundbegriff“ verstanden, der jedem Denken und jeder Lebenstätigkeit überhaupt vorausgeht und sie ermöglicht. Denn indem er selbst keine Definition braucht, wird er für Definitionen anderer Begriffe herangezogen (Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. XV f.). Das breite Spektrum des Sich-Orientierens und des Orientiert-Seins im Denken, die Bedingungen und Strategien der Orientierung im Alltag, deren Ziel es ist, das Grundproblem der Orientierung, die Ungewissheit, zu bewältigen, werden von Stegmaier in die Perspektive der Philosophiegeschichte gestellt und im Blick auf die aktuellen philosophischen Fragestellungen systematisch untersucht. Als wichtiger Anhaltspunkt für die philosophische Deutung des Begriffs wird Kants
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Einleitung
als selbstverständlich vorausgesetzt wäre. Das Selbstverständliche in ihr ist aber gerade der blinde Fleck der Argumentation, dessen Bedeutsamkeit von diesem Unausgesprochen-Lassen abhängig ist. Der Gegensatz zum philosophischen Begriff der Plausibilität ist somit nicht das Unplausible, sondern das Thematisierte und Begründbare. Denn indem die These ausgesprochen bzw. begründet wird, wird auch die Möglichkeit des Bezweifelns angedeutet. Die so verstandene Plausibilität kann nicht bloß in den Plural gestellt werden, sondern erhält nur im Plural ihre Bedeutung – als alternative Plausibilitäten, die gegeneinander ausgespielt und dennoch in ihren Kontroversen nicht aufgehoben werden können. Indem eine Plausibilität expliziert wird, weist sie unvermeidlich auf Alternativen hin. Auf eine Plausibilität kann man darum nur durch den Zusammenstoß verschiedener Positionen aufmerksam werden. Sie ist jedoch auch dann schwer einzusehen, da ihre Plausibilität sich durch das Zusammenstoßen gerade verschiebt. Die Kontroversen zwischen den Plausibilitäten liegen niemals auf der Hand, sondern sind nur durch feine Prozesse des „Zerstreuens“ und „Verschiebens“ der Unterscheidungen, u. a. auch der Unterscheidung zwischen Plausiblem und Nicht-Plausiblem, wahrnehmbar. Eine Untersuchung der Plausibilitäten strebt dementsprechend nicht die Destruktion bzw. die Deplausibilisierung von Plausibilitäten (dafür fehlt eine übergreifende Perspektive) an, sondern ihre Dekonstruktion bzw. die Rekonstruktion der nicht-vorhersagbaren Folgen bestimmter Annahmen für den auf ihrer Grundlage entstandenen Diskurs.4 Die so verstandene Dekonstruktion kann sich für eine systematische Untersuchung mehrerer Optionen des jeweiligen Problems gerade als besonders fruchtbar erweisen. Wie der Titel dieser Untersuchung besagt, wird hier von „Plausibilitäten“ die Rede sein, und noch dazu von „differenten“ Plausibilitäten. Damit ist einerseits die Pluralität unausgesprochener Annahmen angedeutet, deren Selbstverständlichkeit von ihrer fraglosen Voraussetzung abhängt, andererseits aber auch die Schwierigkeit, diese Pluralität aufzudecken. Sie zeigt sich erst in einem Dialog bzw. durch eine Auseinandersetzung mehrerer Perspektiven, unter denen ein Problem, in unserem Fall die Kritik einer Moral aus Vernunft, gesehen wird, und selbst dann öfters nur als latente Ausdifferenzierung, deren sich die Beteiligten selbst nicht immer bewusst sind. Denn der Fluchtpunkt ihres Denkens liegt in den Voraussetzungen, die für dieses Denken selbst unsichtbar bleiben. Die philosophische Interpretation eines solchen Dialogs kann sich daher nicht bloß mit der Feststellung der Übereinstimmung bzw. mit der des Unterschieds der jeweiligen Positionen begnügen. Ihre Aufgabe ist eine Rekonstruktion derjenigen Optionen, die im wirklichen Dialog, d. h. in einer
Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren? (1786) angesehen, in der die Orientierung im Denken als primäres Bedürfnis der Vernunft, als Bedingung ihrer Selbsterhaltung gedeutet wurde. 4 Die Begriffe des „Zerstreuens“ (dissémination) und des „Verschiebens“ (déplacement) sowie der Dekonstruktion sind hier im Sinn von Jacques Derrida zu verstehen. Vgl. Jacques Derrida, La dissémination; Jacques Derrida, Marges de la philosophie.
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Einleitung
durch historisch-philologische Forschung nachgewiesenen Rezeptionsgeschichte, eventuell nicht vollständig realisiert wurden. Ihr Ziel ist, die unauffälligen Differenzen der Anhaltspunkte bzw. der unausgesprochenen grundlegenden Prämissen herauszuarbeiten, die für die Verschiedenheit der Positionen und ihre Auseinandersetzungen sorgt. Übereinstimmungen und Kontroversen in Argumentationen können irreführend sein, weil die ihnen innewohnenden Plausibilitäten different bzw. nicht völlig unterschiedlich, aber auch nicht identisch sein können, insofern gerade über sie nicht diskutiert wird. Im Fokus der vorliegenden Untersuchung steht der Dialog, der am Ende des 19. Jahrhunderts zwischen einigen der prominentesten deutschen und russischen Denker über den kritischen Ansatz in der Moralphilosophie geführt wurde. Die Aufgabe der Selbstlegitimation der aufgeklärten Vernunft und die Kritik einer Moral, die aus dieser Vernunft begründet wird, ist mit dem Namen verbunden, der gleichzeitig einen Wendepunkt in der abendländischen Philosophie kennzeichnet – dem Immanuel Kants. Denn die Moral wurde bei Kant nicht bloß aus Vernunft, sondern durch die Kritik des ganzen Vermögens der Vernunft legitimiert und vervollkommnet. Kants kritischer Ansatz beanspruchte damit (ohne den Begriff selbst zu verwenden) über alle Plausibilitäten des Denkens aufzuklären. Nur der kritische Weg bleibe der Philosophie überhaupt noch offen (KrV B 884). An diesem ungeheuren Anspruch der Kritik, am Ansatz der Moral aus Vernunft, wurde gleichwohl deutlich, dass auch sie gegen gewisse Prämissen blind bleiben musste. Sie nötigte zur weiteren Kritik – an der Plausibilität ihrer Plausibilitäten. Als größter Entdecker der Plausibilitäten, nicht nur der Kants, sondern über Kant hinaus der Plausibilitäten des christlich-abendländischen Denkens, ging Friedrich Nietzsche in die Philosophiegeschichte ein. Er nannte sie Vorurteile, betonte aber, dass er, im Unterschied zum alten aufklärerischen Ansatz, der gegen unmündige Meinungen und den Aberglauben gerichtet war und sie mit dem Licht der Vernunft bekämpfte, sich mit den „Vorurtheilen der Philosophen“ (JGB 1, KSA 5, S. 15) konfrontieren musste. Er behauptete, dabei in mehreren Hinsichten der Erste zu sein und das Auge für die Probleme zu haben, denen sich anzunähern noch niemand gewagt habe, z. B. habe noch niemand vor ihm den Wert des Willens zur Wahrheit als Problem angesehen. Seine Kritik an der Moral aus Vernunft präsentierte er als die radikalste Kritik überhaupt, die den Begriff der Philosophie verändern sollte. Mit seiner Aufgabe der Umwertung der Werte des christlichen Abendlandes stieß Nietzsche auf jenes Denken, das einerseits aus der Sicht der sokratisch-kantischen Philosophie als befremdend anders, irritierend-irrational angesehen wurde, aber andererseits aus der Sicht seiner Kritik an der Moral aus Vernunft gerade als Ausweg aus dem Zirkel der Selbstlegitimation, als neuer Anfang verstanden werden konnte – auf die russische Moralphilosophie. Er ließ sich von den russischen Autoren faszinieren. Die Begeisterung über die Seelenverwandtschaft mit ihnen übte bekanntlich einen erheblichen Einfluss auf sein späteres Denken aus, was besonders im Antichristen zu spüren ist. Als Leser Tolstois und Dostojewskis war Nietzsche allerdings
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Einleitung
nicht bloß ein begeisterter Rezipient ihrer Ideen. Er war auch derjenige, der sie bis zu einem Punkt uminterpretierte, an dem sie eine neue Bedeutung erhielten – die Bedeutung von Alternativen zum sokratisch-kantischen Denken. Besonders bei seiner Dostojewski-Lektüre ist diese Umdeutung bemerkenswert, denn die auffallenden Gemeinsamkeiten zwischen beiden weisen zugleich auch stets auf Differenzen zwischen ihnen hin. Auch in der russischen Philosophie ist Nietzsches Faszination und Umdeutung nicht unbemerkt geblieben. Seine Kritik der Moral hat zwar ebenfalls Begeisterung ausgelöst, doch wurde er seinerseits vor dem Hintergrund der Philosophie Tolstois und Dostojewskis, der zwei unumstritten größten moralischen, aber auch philosophischen Autoritäten Russlands um die Jahrhundertwende, rezipiert. Er wurde bald als eine von vielen Stimmen in Dostojewskis pluralistisch gespaltener, polyphoner Welt, bald als eigentlicher Gegner von Tolstois christlichem Rationalismus, bald als Erneuerer der mystischen Religiosität gedeutet. Tolstoi selbst, der sich als Nachfolger Kants verstand, aber auch von Schopenhauer und noch viel stärker von Spinoza beeinflusst wurde, schätzte Nietzsche wenig und hielt ihn für einen bösen Wahnsinnigen, bis zu dem Moment, in dem er auf einen (durch dreifache Übersetzung ziemlich verzerrten) Auszug aus Nietzsches Nachlass stieß, in welchem dieser Tolstois eigenen Traktat Was ist mein Glaube? wiedergab. Erst später wurde Tolstoi klar, dass es sich kaum um eine zufällige Übereinstimmung, sondern höchstwahrscheinlich um das Ergebnis der Rezeption handelte. Den Erinnerungen seines Freundes und Nachfolgers Makowitski zufolge fragte er einmal, ob Nietzsche ihn gelesen hatte, denn er glaubte, seine eigenen Formulierungen in der Publikation wiederzuerkennen (TGA 42, S. 622). Der Zweifel war allerdings mehr als angemessen, denn seine Gedankengänge, zwar zum Teil erkennbar, erfuhren bei Nietzsche eine solche Umwandlung, dass sie jetzt befremdend, wenn nicht gar anstößig auf ihren Urheber wirkten. Aber eben so verhielt es sich auch mit Tolstois eigener Interpretation Kants, seiner Deutung einer Moral aus Vernunft, seiner „christlichen“ Lehre. In seinen letzten Schlussfolgerungen strebte Tolstoi eine Übereinstimmung mit den Denkern an, die ihm in ihren Prämissen gerade fremd bleiben mussten. Mit Nietzsche dagegen – obwohl die Divergenzen auf der Hand lagen – kam es unerwartet zu gelegentlichen Übereinstimmungen der unausgesprochenen Anhaltspunkte. Solche Widerspiegelungen und Umdeutungen bieten gerade kostbares Material für die Untersuchung der jeweiligen Plausibilitäten. Dank ihnen werden die Spielräume sichtbar, in denen das Denken sich bewegt, indem es mal zur Übereinstimmung, mal zu scharfen Kontroversen kommen kann, v. a. aber zu einem produktiven Ideenaustausch, zu einem „Gipfelgespräch“ der prominentesten europäischen Denker. Durch die Rekonstruktion dieser deutsch-russischen Reflexionen zwischen Kant, Nietzsche, Tolstoi und Dostojewski sollen nicht nur deren eigene Plausibilitäten ans Licht kommen, sondern auch die Optionen der Moralkritik sollen gezeigt werden – einer Moralkritik, die sich als neuer Anfang in der Moralphilosophie versteht und neue Anhaltspunkte für die Philosophie sucht.
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Die Aufgabe, die sich dieses Buch stellt, ist darum v. a. als systematisch-philosophische zu verstehen. Es handelt sich, das sei betont, nicht um einen „realen“, sondern um einen rekonstruierten Dialog. Denn Dostojewski las höchstwahrscheinlich weder Kant noch Nietzsche. Nichtsdestoweniger ist denjenigen Forschern Recht zu geben, die ihn als Opponenten und Gesprächspartner beider betrachten. Auch Nietzsches Kenntnisse der beiden russischen Schriftsteller waren nicht vollständig, so wie sich Tolstois Nietzsche-Lektüre auf Also sprach Zarathustra, den Antichrist und einige Seiten seiner Nachlassnotate beschränkte. Das Ausmaß der Bekanntschaft Nietzsches mit Kant ist bis heute eine umstrittene Frage. Die entsprechenden philologisch-historischen Probleme werden in den jeweiligen Kapiteln berücksichtigt. Der systematischen Untersuchung wird aber in der Reihenfolge, in welcher die Probleme angegangen werden, der Vorrang gegeben. Das heißt, dass der jeweilige moralkritische Ansatz zuerst auf seine Plausibilitäten hin untersucht und erst im zweiten Schritt die jeweilige Rezeption dargestellt wird. Das Fortschreiten von einer systematischen zu einer historisch-philologischen Fragestellung kann für die Untersuchung der Rezeption ungewöhnlich scheinen und bedarf einer vorläufigen Begründung, die, wie ich hoffe, durch den Gang der Untersuchung bekräftigt wird. Mein methodisches Postulat lautet: Vor dem Hintergrund einer systematischen Rekonstruktion der philosophischen Auseinandersetzung zwischen großen Denkern kann der historischen Frage nach der Rezeption viel produktiver und mit größerem philosophischem Gewinn nachgegangen werden. Und das nicht nur, weil es in diesem Bereich unlösbare Fragen gibt und auch eine historisch bewiesene Bekanntschaft noch keine tiefe Rezeption bedeutet, sondern auch und vor allem, weil nur eine systematische Auseinandersetzung die in Frage stehenden Plausibilitäten auffinden und die grundlegenden philosophisch-kulturellen Differenzen als Ausgangspunkte der jeweiligen Rezeption darstellen kann. Nietzsches Lektüre bspw. zeigt, was er tatsächlich von den russischen Autoren las. Aber nur die philosophisch-systematische Analyse kann zeigen, was bei der Lektüre wichtig bzw. unwichtig war, und was er dabei höchstwahrscheinlich übersehen hat. Auch nachgewiesene Übereinstimmungen in der Rezeption können sich bei näherer Betrachtung als Missverständnisse herausstellen. Darum scheint es folgerichtig, zuerst auf die wichtigsten Voraussetzungen des Dialogs systematisch einzugehen, um danach die historisch-philologische Frage in Betracht zu ziehen und sie für die systematische Untersuchung der Plausibilitäten wiederum fruchtbar zu machen. Der Ansatz dieses Buches ist darüber hinaus grundsätzlich von demjenigen zu unterscheiden, dem manche Forschungsarbeiten folgen, die die Widersprüche, Inkonsequenzen und Mängel der untersuchten Texte herausarbeiten. Dies wäre keine Untersuchung der Plausibilitäten im hier gemeinten Sinne. Schon deshalb nicht, weil es sich oft nicht um die Voraussetzungen, sondern um Schlussfolgerungen und noch öfter um die von dem jeweiligen Autor deutlich ausgesprochenen Unterscheidungen handelt. Vielmehr stellen die Untersuchungen dieser Art Versuche dar, das jeweilige Denken einer bestimmten (größtenteils als fortschrittlich angesehenen) Perspektive
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Einleitung
zuzuordnen, die den Aufgaben, die sich jenes Denken setzte, umso weniger gerecht werden kann.5 Die Untersuchung der Plausibilitäten hütet sich daher vor Widersprüchlichkeits-Annahmen und bemüht sich darum, scheinbare Widersprüche als aus dem ursprünglichen Ansatz bzw. als aus unausgesprochenen Voraussetzungen folgende Schwierigkeiten und gewollte Paradoxien zu interpretieren. Dies ist eine methodische Annahme, keine These, die begründet werden könnte. Sie scheint allerdings ein produktiverer Ansatz zu sein. Denn mit der Annahme der Widersprüchlichkeit übersieht man öfters gerade die Schwierigkeiten, mit denen sich der jeweilige Denker auseinandersetzte. Auch Paradoxien dürfen nicht als Mangel bzw. als zu vermeidende und auszugleichende Widersprüche betrachtet werden.6 Sie gelten vielmehr als Anhaltspunkte der Untersuchung, inwiefern die Plausibilitäten die Leitunterscheidungen bestimmen und für die Beweglichkeit der letzteren sorgen.7 Die so verstandenen Plausibilitäten einer Philosophie sind aus der Perspektive anderer
5 Ein anschauliches Beispiel für eine solche Herangehensweise stellt die Untersuchung von Ernst Topitsch, Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie. Kant in weltanschauungsanalytischer Beleuchtung, dar. Diese durchaus anregende Untersuchung handelt zwar auch von den „unausgesprochenen Voraussetzungen“, dennoch werden mit letzteren gerade Schwierigkeiten und „mannigfache Widersprüche“ gemeint (S. 215). Am Ende stellt sich heraus, dass der proklamierte Mangel an kritischem Geist bei Kant in den bestimmten Schlussfolgerungen besteht, die weltanschaulich zu sehr in der antik-christlichen Metaphysik verwurzelt sind, was der Autor gerade missbilligt und als überholt ansieht. Aus diesem Grund beurteilt er Kants Transzendentalphilosophie als gescheitert – eine Schlussfolgerung, zu der man nur gelangen kann, wenn man Kant bestimmte Ziele stillschweigend unterstellt, die dieser aber womöglich gar nicht verfolgte. Vgl. die These, dass Kants „transzendentalidealistische Erkenntnislehre schon im Ansatz gescheitert“ sei (S. 213 ff.). „Ein fatales Ergebnis“, so Topitsch (S. 220), wobei allerdings zu fragen wäre, ob eine „kathartische[ ] Weltüberwindung“ (S. 215) tatsächlich zu Kants Aufgaben gezählt werden kann. Auch Untersuchungen, die auf den ‚Schlüssel‘ einer jeweiligen Philosophie hinweisen, z. B. das weiter nicht begründbare und dennoch unausbleibliche „Faktum der Vernunft“ in Kants Transzendentalphilosophie, sind einem anderen Ansatz der Forschung verpflichtet als der meinige. Ihnen ist zwar Recht zu geben, insofern das Faktum als „Stein der Weisen“ bzw. als tragendes Element der Philosophie Kants zu verstehen ist (Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft), dennoch handelt es sich dabei um eine Annahme, die, wie in diesem Fall, von Kant selber ausgesprochen und als Grundvoraussetzung für seine Begründung der Moral aus Vernunft angesehen wurde. 6 Z. B. im Hinblick auf das Paradoxon des Allgemeingültigkeitsanspruchs ästhetischer Urteile, das uns im Kant-Kapitel noch beschäftigen wird, bemühen sich mehrere Forscher, Kants Begründung desselben entweder zu bestätigen oder abzulehnen. So konstatieren etwa Jens Kulenkampff (Kants Logik des ästhetischen Urteils) und Ferdinand Fellmann (Der Geltungsanspruch des ästhetischen Urteils. Zur Metapsychologie des ästhetischen Erfahrung,) das Scheitern, Andreas Heinrich Trebels (Einbildungskraft und Spiel) und Ulrich Müller (Objektivität und Fiktionalität. Überlegungen zur Kritik der Urteilskraft) hingegen das Gelingen des Begründungsvorgangs. Diese und ähnliche Diskussionen sind zwar für mein Anliegen von Bedeutung, jedoch nicht grundlegend. Die Untersuchung der Plausibilitäten betrachtet solche Ausführungen über das Scheitern bzw. das Gelingen einer Argumentation als Folge einer in den eigenen Plausibilitäten verharrenden Fragestellung. 7 Der Begriff der Paradoxie wird im Kant-Kapitel näher erörtert (s. bes. die Anm. 52). Zum philosophischen Umgang mit Paradoxien, die eine das Denken erweiternde Funktion haben, indem durch sie
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Plausibilitäten bzw. anderer Traditionen, die sie gerade als nicht plausibel betrachten, am besten zu erkennen. So werden Kants Plausibilitäten durch Nietzsches Kritik, aber auch durch die begeisterte Kant-Rezeption Tolstois und die Ablehnung kantischer Voraussetzungen bei Dostojewski sichtbar. Es dürfte schon klar geworden sein, dass im Mittelpunkt dieser Untersuchung differenter Plausibilitäten und der dadurch angestrebten philosophischen Interpretation des großen deutsch-russischen Dialogs über die Kritik einer Moral aus Vernunft Nietzsche stehen soll, als derjenige, der die Plausibilitäten des Abendlandes mit denen Russlands konfrontieren wollte. Während Kants Kritik der Erkenntnisansprüche der Vernunft deren Fundamente absichern sollte, zielte Nietzsches Kritik des Willens zur Wahrheit gerade auf diese Fundamente, nicht um sie bloß zu destruieren, sondern um sie als nicht-alternativlose Entscheidungen darzustellen. So versteht sich die Untersuchung der Plausibilitäten des großen Dialogs zwischen Deutschland und Russland vor allem als ein Beitrag zur Nietzsche-Forschung. Die Fokussierung auf Nietzsches Denken soll eine Beschränkung des umfangreichen Materials ermöglichen und begründen. Besonders Kant, aber auch Tolstoi und Dostojewski werden v. a. in der Perspektive von Nietzsches Kritik der abendländischen Moral gelesen. Nietzsches philosophischer Ansatz soll seinerseits aus der Perspektive seiner Auseinandersetzung mit Kant und den russischen Denkern neu beleuchtet werden. Als Beitrag zur Nietzsche-Forschung muss diese Untersuchung gleich zu Beginn zu deren grundlegenden Problemen Stellung nehmen. Seit Anfang der 70er Jahre, als man in einem der ersten Bände der Nietzsche-Studien konstatierte, „daß die Nietzsche-Forschung unter dem Eindruck von Werken steht, die ihren Ursprung in den 30er Jahren haben“,8 hat sich die Situation wesentlich geändert. Gemeint waren vor allem die großangelegten Nietzsche-Interpretationen von Karl Löwith, Karl Jaspers und Martin Heidegger.9 Nicht nur ihre Werke, auch die spätere Neuentdeckung Nietzsches durch Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida gehört heute zum grundlegend verarbeiteten Erbe.10 Sie hat der Nietzsche-Forschung einen mächtigen Anstoß gegeben.11 Eine philosophische Interpretation darf heute nicht mehr
neue Spielräume entdeckt werden können, s. Werner Stegmaier, Nietzsches Begriffe, Paradoxien und Antinomien. 8 Peter Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Forschung, S. 32. 9 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen; Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens; Martin Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. 10 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie; Jacques Derrida, L’Éperon: les styles de Nietzsche; Michel Foucault, Nietzsche, la généalogie, l’histoire. 11 Man denke z. B. an die Veröffentlichung der großen Diskussionen in den Bänden 8 (1979) und 10/11 (1981/1982) der Nietzsche-Studien. Ein gewisses Fazit wurde schon am Ende der 70er Jahre gezogen. S. Eugen Biser, Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik. Diese Publikation stellt eine der ersten umfassenden methodischen Reflexionen über die Nietzsche-Forschung dar. Einerseits versuche man, so Biser, einen zentralen Gesichtspunkt auf Nietzsches Philosophie zu gewinnen und so die „Spannun
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oberflächlichen Ideologisierungen bzw. Widerlegungen Nietzsches verfallen,12 v. a. nicht dem Vorurteil, er sei bloß Dichter und kein ernsthafter Philosoph gewesen oder seine Philosophie sei voller Widersprüche.13 Ebenso wenig kann sie sich Reduktionen auf schlichte Formeln leisten. Nach Wolfgang Müller-Lauter14 und Friedrich Kaulbach15 sind Nietzsches berühmte Lehren des Willens zur Macht, des Übermenschen, der ewigen Wiederkunft, des Todes Gottes entschieden perspektivisch zu deuten. Laut Werner Stegmaier sind sie als „Anti-Lehren“ zu verstehen, die auf die Unmöglichkeit der Verallgemeinerung, auf die Unvereinbarkeit der Perspektiven hinweisen und, werden sie als positive Lehrsätze formuliert, paradox werden müssen.16 Die skrupulöse philologische Arbeit, die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari angefangen und von Marie-Luise Haase und ihrer Arbeitsgruppe weitergeführt wird, mündete in der heute für jeden Nietzsche-Forscher unerlässlichen Edition des so lange umstrittenen Nachlasses Nietzsches. Die neunte Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe, die eine topographische Wiedergabe der Notizhefte Nietzsches darstellt, lässt u. a. keine Möglichkeit mehr, vom Willen zur Macht als Nietzsches Hauptwerk zu sprechen.17 Die
gen und Brüche“ in seiner „Ideenlandschaft“ auszugleichen, andererseits will man die „‚Logik‘ seiner Widersprüche und Zielsetzungen“ rekonstruieren (S. 36 f.). 12 Die in den 30er Jahren erfolgte Ideologisierung Nietzsches und deren Aufnahme in der desavouierenden Kritik z. B. bei Georg Lukács (vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des deutschen Irrationalismus von Schelling bis Hitler) wurde zu einem erheblichen Hindernis für eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung, das nur schwer zu überwinden war. Auch Thomas Mann hat mit seiner berühmten Rede (1947), wenn auch auf viel raffiniertere Weise, zur vereinfachten Deutung Nietzsches beigetragen, indem er von Nietzsches Irrtümern, z. B. der Diskreditierung aller Mitgefühle, sprach. Vgl. Thomas Mann, Nietzsche Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Zur Geschichte der De-Ideologisierung Nietzsches s. z. B. Karl Pestalozzi, Nietzsches Wiederkunft. 13 Vgl. z. B. die These Löwiths, man könne bei Nietzsche „im einzelnen finden, was immer man finden will“, weil er kein System entwickelte, sondern in Aphorismen schrieb, die voller Widersprüche sind (Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 210). Allerdings sprach Löwith auch von dem „Abgrund“, der Nietzsche von seinen letzten Verkündern trennt“ (S. 218). 14 Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Zur Bedeutung Müller-Lauters für die Nietzsche-Forschung s. Werner Stegmaier, Wolfgang Müller-Lauters Nietzsche-Interpretation. 15 Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie; Friedrich Kaulbach, Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche. 16 S. dazu Werner Stegmaier, Nietzsches Lehren, Nietzsches Zeichen; auch Werner Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 15 ff. 17 Vgl. Heideggers berühmte These, Nietzsches eigentliche Philosophie sei als „Nachlaß“ zurückgeblieben (Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 17). Zur dramatischen Geschichte der Entstehung und Rezeption dieses durch eine Kompilation entstandenen ‚Hauptwerks‘ Nietzsches s. Wolfgang MüllerLauter, „Der Wille zur Macht“ als Buch der ‚Krisis‘ philosophischer Nietzsche-Interpretation. Aber auch als die Verfälschung von Nietzsches ‚Hauptwerk‘ entdeckt wurde, konnten Nietzsche-Forscher nicht gleich darauf verzichten, es als Quelle ihrer Interpretationen zu verwenden. So stand Müller-Lauter noch keine wissenschaftlich zuverlässige Publikation von Nietzsches Nachlass zur Verfügung (vgl. seine Darstellung des Problems: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, bes. S. 4 f.). Wir sind deswegen heute im Vorteil.
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Lexika, wie z. B. das Nietzsche-Wörterbuch,18 geben Forschern überreiches Material für kontextuelle Interpretationen. Zahlreich sind auch die international bedeutsamen Zeitschriften und Jahrbücher, die die neuesten Ergebnisse der Nietzsche-Forschung zur Verfügung stellen. Wir sind heute in der Situation, die Müller-Lauter zu Beginn der 80er Jahre als vielversprechend eingeschätzt hat, in der „nicht wenige Vorurteile entfallen“ sind und einem „tiefer dringende[n] Verstehen“ nichts mehr im Wege steht. Die Fehldeutungen wie der Missbrauch gehören zwar, so Müller-Lauter bei der Eröffnung der Tagung „Aufnahme und Auseinandersetzung. Friedrich Nietzsche im 20. Jahrhundert“, auch unwiderruflich in die Geschichte der Nietzsche-Rezeption.19 Doch gerade diese außerordentlich „bewegte Wirkungsgeschichte“ Nietzsches kann nun als Zeichen einer unvergleichbaren Offenheit seiner Philosophie interpretiert werden.20 Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass die Geschichte der Nietzsche-Rezeption kaum zufällig eine höchst dramatische gewesen ist, dass sie nicht bloß politische, sondern auch und v. a. philosophische Kontroversen ihrer Zeit widerspiegelte. Denn Nietzsches Name steht für eine Krise, die möglicherweise auch das Ende der Philosophie, zumindest wie man sie bisher verstand, markiert.21 Er selber betonte mehrmals: Da er gerade der Erste sei, der manche Fragen zu stellen wagt, wird sein Name in der Zukunft in Zusammenhang mit der „tiefste[n] Gewissens-Collision“ (EH Schicksal 1, KSA 6, S. 365) gebracht – mit der Krise des Lebens, die aus der Philosophie hervor- und doch weit über sie hinausgeht.22 Sie ist als Krise aller Orientierungs- und Denkmuster, als nihilistischer Umbruch der Moderne zu verstehen, die u. a. von den russischen Denkern als verhängnisvoll und hoffnungsreich zugleich angesehen wurde. Gerade als Krisenfigur wurde Nietzsche jedoch philosophisch aufgenommen, indem man sich bemühte (und mit Erfolg), seine Philosophie als neuen Anfang zu interpretieren. Sie wurde als Philosophie des Perspektivismus bezeichnet, d. h. als Philosophie, die alle absoluten Ansprüche der Erkenntnis und der Moral zurückweist und deshalb an der Schwelle zu modernen Umorientierun
18 Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens u. Nietzsche Research Group (Nijmegen) (Hg.), Nietzsche-Wörterbuch. 19 Wolfgang Müller-Lauter, Begrüßung der Tagungsteilnehmer, S. 3 f. 20 Vgl. die methodologischen Überlegungen zum aktuellen Umgang mit Nietzsches Texten in: Werner Stegmaier, Nach Montinari. Zur Nietzsche-Philologie. 21 Die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass man sich, wie unterschiedlich die Perspektiven auch sein mögen, ob man in Nietzsche bloß ein Syndrom oder einen großen Zerstörer sehen wollte oder in ihm einen scharfen Diagnostiker und sogar einen Erlöser sieht, über diesen Punkt einig ist. Vgl. dazu Günter Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, S. 33 ff., Günter Figal, Nietzsches Philosophie der Interpretation, S. 1 f. 22 Zur Interpretation von Nietzsches Selbsteinschätzungen u. a. als Krisenfigur s. Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierung im Kontext seiner Religionskritik.
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gen im Leben der Gesellschaft und im Selbstverständnis des einzelnen Menschen steht.23 Aber auch in der aktuellen Nietzsche-Forschung tauchen Schwierigkeiten auf. Als Nietzsche-Forscher wird man heute mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Es ist nicht mehr die Ideologisierung, sondern das Risiko besteht darin, Nietzsche auf einen Vorläufer der Moderne und dann wiederum auf einen Ideologen einer auf die subjektivistisch-relativierende Toleranz umgestellten Weltanschauung zu reduzieren und ihn schließlich so zu verharmlosen. Wie Jürgen Habermas schon früher bemerkte, hat Nietzsche den Stachel des Anstößigen verloren, er hat aufgehört, uns eine Verlegenheit, eine Irritation zu sein.24 Nietzsches Pathos gegen die Herden-Moral, gegen die absoluten Ansprüche der jeweiligen Weltauslegung und gegen das Christentum sowie sein Plädoyer für den Egoismus eines souveränen Individuums sehen heute schon nicht mehr so revolutionär, zumindest nicht so radikal aus wie zu seiner Zeit.25 Dazu kommen mehrere Versuche, Nietzsche nicht nur als Fortsetzer der Tradition, als Vollender der abendländischen Metaphysik zu betrachten,26 sondern auch als Verfechter 23 Vgl. Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, Teil 1:Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel, Nietzsche. S. auch z. B. Gerd-Günther Grau, Kritik des absoluten Anspruchs: Nietzsche – Kierkegaard – Kant. 24 Habermas wies dabei mit Recht auf die Gefahr hin, Nietzsches Philosophie bloß als „Projektionswand der eigenen Philosophie“ zu nutzen (Jürgen Habermas, Nachwort, in: Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, S. 238). Vgl. die Einschätzung der späteren Situation bei Simon: „Man betrachtet Nietzsche zunehmend als einen Philosophen wie andere Philosophen auch. Ist er dies aber? Er wollte es gewiß nicht sein.“ (Josef Simon, Das neue Nietzsche-Bild, S. 1) 25 Es fehlt auch nicht an Versuchen, ihre Radikalität auch zu seiner Zeit in Frage zu stellen. Vgl. in diesem Sinn: Volker Gerhardt, Sensation und Existenz, bes. S. 104 f. 26 Dies war bekanntlich Heideggers Position. Nietzsche sei „der zügelloseste Platoniker in der Geschichte der abendländischen Metaphysik“; sein Wertgedanke sei „der späteste und zugleich schwächlichste Nachkömmling des agathon“ (Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“, S. 37). Zu Heideggers Nietzsche-Rezeption s. Wolfgang Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch. Neben Müller-Lauter ist Walter Kaufmann zu den Kritikern von Heideggers Interpretation von Nietzsche als Vollender der Metaphysik zu rechnen (Walter Kaufmann, Nietzsche; Walter Kaufmann, Nietzsche als der erste große Psychologe). Am schärfsten hat Kaufmann dieses Problem in einer an seinen Vortrag anschließenden Diskussion (polemisch gegen Jörg Salaquarda) formuliert: „Aber die Frage ist vor allem, ob Nietzsche eine Endfigur ist, die noch immer das gemacht hat, was die Philosophen von jeher, von Plato angefangen, gemacht haben, oder ob Nietzsche ein neuer Anfang ist, den Heidegger nicht gesehen hat, so daß Heidegger, wenn man historisch denkt, selbst noch in einer vornietzscheschen Position stecken geblieben und keinesfalls zu einer nachnietzscheschen vorgedrungen ist.“ (Walter Kaufmann, Nietzsche als der erste große Psychologe. Die Diskussion, S. 286). Später wird das Problem immer wieder aufgenommen, indem z. B. Jacques Derrida offenlegt, dass er an Nietzsche über Heidegger hinaus anknüpfen will (vgl. Jacques Derrida, Positionen bes. S. 43 f.). Gianni Vattimo spricht von einer in „vielen europäischen Philosophien“ stattfindenden „Hin- und Herbewegung zwischen Heidegger und Nietzsche“ (Gianni Vattimo, Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers, S. 143). Zur Auswirkung der Nietzsche-Heidegger-Auseinandersetzung auf das postmodernistische Denken s. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche und Heidegger als nihilistische Denker. Zu Gianni Vattimos ‚postmodernistischer‘ Deutung. Zur aktuellen Einschätzung von
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der christlich gefärbten Humanität bzw. der durch die stetige Selbstüberwindung angestrebten Selbstverwirklichung des Menschen.27 Diese Verharmlosung wird nicht nur Nietzsche, sondern offensichtlich auch einem unvoreingenommenen Leser nicht gerecht. Denn auch heute behalten Nietzsches Texte ihre faszinierend-irritierende Kraft. Auch heute provozieren sie noch, trotz aller Entschärfungen durch die wissenschaftliche und editorische Arbeit, eine Polemik, die ohne ernsthafte Auseinandersetzung zur bloßen Desavouierung werden kann. Eine philosophische Interpretation von Nietzsches Werk muss darum weiterhin, so scheint es mir, die Fragen nach der Begründung und Tragweite der moralischen Forderungen, nach dem Verhältnis zwischen allgemein anerkannten Normen und dem Gewissen des Einzelnen, nach den Kriterien der Unterscheidung, der Wertschätzungen und der moralischen Ansprüche eindringlich neu stellen. Eine Stellungnahme zu den alten Kontroversen der Nietzsche-Forschung, wie die Reduktionismus- bzw. Relativismus-28 oder Metaphysik- bzw. Ontologie-Debatte,29 scheint für diese Untersuchung dagegen entbehrlich zu sein. Viele der auch heute noch entstehenden Schwierigkeiten der Nietzsche-Forschung lassen sich m. E. vermeiden, wenn Nietzsches Radikalität im Einklang mit seiner eigenen Intention als primär moralkritisches Anliegen betrachtet wird, d. h. wenn die Frage nach dem Wert in den Vordergrund rückt.30 Nietzsches breiter Begriff der Moral, deren Kritik von ihm
Heideggers systematischer Nietzsche-Interpretation und deren Auswirkung s. Werner Stegmaier, Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche, S. 527 f.; Werner Stegmaier, Wolfgang Müller-Lauters Nietzsche-Interpretation, S. 478 ff. 27 Diese These wird in mehreren historisch groß angelegten Nietzsche-Interpretationen vertreten, von Karl Jaspers bis Volker Gerhardt. Vgl. Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum; Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht.. U. a. wird dabei die These untermauert, Nietzsche bleibe bloß innerhalb einer philosophischen Tradition, „die ihn auch dort noch bestimmt, wo er von ihr loszukommen glaubt“ (Gerhardt, Vom Willen zur Macht, S. 223). Nietzsches kritischer Ansatz wird damit als weniger radikal angesehen als ihm selbst gerecht wäre. Zu dieser Frage kehren wir im zweiten Kapitel zurück, in dem Nietzsches Plausibilitäten und u. a. sein Umgang mit dem christlichen Ideal untersucht werden. 28 Der Relativismus wurde schon von Hans Vaihinger als philosophischer Gewinn von Nietzsches Philosophie hervorgehoben: „Nietzsche ist Relativist, er ist Anti-Absolutist“ (Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, S. 74). Der Relativismus, der als erkenntnistheoretisches Prinzip verstanden wird, gibt allerdings vermehrt Anlass zur Kritik an Nietzsche. S. zum Thema Jörn Albrecht, Nietzsche und das „Sprachliche Relativitätsprinzip“. Der Reduktionismus-Vorwurf hängt mit dem des Relativismus eng zusammen. Vgl. Rainer Thurnher, Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche, bes. S. 55. 29 Vgl. z. B. neben der Heidegger-Diskussion die Polemik von Sarah Kofman gegen Jean Granier. Wenn Granier in seiner systematischen Untersuchung, im Gegensatz zu Heidegger, Nietzsches Denken als nichtmetaphysische Ontologie darzustellen versuchte (Jean Granier, Le problemè de la vérité dans la philosophie de Nietzsche), so bemüht sich Kofman auch dieser Art der Ontologisierung zu entgehen, indem sie Nietzsches Kritik an der Metaphysik von seiner Deutung der Metapher her als Berechtigung mehrerer Perspektiven interpretiert (Sarah Kofman, Nietzsche et la métaphore, bes. S. 176 ff., 205 ff.). 30 Mit dieser Einstellung Nietzsches wird Heideggers Vorwurf der Subjektivität als „nur noch der in Wertschätzungen des Willens zur Macht gesetzte Gesichtspunkt“ (Martin Heidegger, Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘, S. 241) vorweggenommen und ihm gewissermaßen Recht gegeben. Nach Nietzsche wäre
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als Voraussetzung jeder philosophischen Fragestellung dargestellt wird, ist als sein „radikale[r] Verzicht auf die Metaphysik“ zu verstehen, der „Immoralismus“ als „vollständige[r] Verzicht auf Metaphysik“.31 Die Frage nach der Wahrheit ist als moralische Frage der Frage nach dem Wert zuzuordnen. Es soll hier vorweggenommen und darf im Laufe der Untersuchung niemals außer Acht gelassen werden, dass Nietzsches Auseinandersetzung mit der abendländischen Moral aus Vernunft von ihm ausdrücklich als seine moralische Aufgabe präsentiert wurde, nicht etwa als eine Aufdeckung eines ‚gewissen‘ Sachverhaltes bzw. als Verteidigung der ‚Wirklichkeit‘ des Lebens gegen seine Gegner, wenn auch manche dem Kontext entrissene Aussagen und Notate Nietzsches dies nahezulegen scheinen. Auch als „Erkennender“ bleibt Nietzsche im Spannungsfeld der moralischen Fragen, er bleibt Erforscher und „Errater“ der moralischen Urteile, deren Macht, so seine tiefste Intuition, niemals zu unterschätzen ist, besonders dann nicht, wenn man glaubt, man habe sich von ihnen frei gemacht bzw. man bewege sich auf einer ganz anderen Schiene der Philosophie.32 Wie die wegweisenden Nietzsche-Interpretationen deutlich herausstellten, weist die Rede vom „Charakter des Daseins“ bei Nietzsche immer auf die Pluralität von Lebensperspektiven hin. So ist z. B. der Wille zur Macht laut Müller-Lauter zu verstehen – als Pluralität der Willen, die miteinander konkurrieren und nur vorübergehend die Oberhand über die jeweils anderen gewinnen können. Dennoch, gerade wenn wir diesem Pluralitäts-Gedanken treu bleiben wollen, dürfte der Perspektivis
jener Versuch, von dieser Art „Subjektivität“ loszukommen und nicht von „einem bloßen ‚Wert‘“ des Seins sprechen zu wollen (vgl. Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 77), wiederum der Ausdruck eines moralischen Willens, der gegenüber eigenen moralischen Intentionen blind bleibt. Taurecks Einwand gegen Heideggers Nietzsche-Kritik, Nietzsche habe das Sein im Dionysischen „jenseits wertender Subjektivität“ gedacht (Bernhard Taureck, Macht, und nicht Gewalt, S. 35), kann daher nicht, genauso wenig wie den Einwänden Heideggers, zugestimmt werden. Auch als „Wesen der Triebe“, als „Einheit von Entstehen und Vergehen“ (S. 51) kann die Macht m. E. nicht zum nietzscheschen Ersatz des Seins-Gedankens umgedeutet werden, auch Triebe sind nicht „einfach“ (vgl. S. 50) und können nicht als Art dionysischer arché interpretiert werden. Der nichtmetaphysische Charakter des Dionysischen wird u. a. in Kapitel 2 ausgeführt. 31 So äußerte sich Müller-Lauter in der Diskussion zum Vortrag von Georges Goedert: Müller-Lauter, Nietzsche und Schopenhauer. Die Diskussion, S. 22. 32 Deshalb scheinen alle Versuche, Nietzsches Philosophie nur unter dem Blinkwinkel der Erkenntnisproblematik zu betrachten, unbefriedigend zu sein. Vgl. z. B. Jochen Kirchhoff, Zum Problem der Erkenntnis bei Nietzsche. Weil er Nietzsches Kritik der abendländischen Philosophie auf die Frage nach der Erkenntnis reduziert und von seiner Kritik der abendländischen Moral abkoppelt, kommt Kirchhoff zu dem Schluss, der von Nietzsche behauptete „Wirklichkeitsgrund“ widerspreche den Tatsachen der Physik (S. 23 f.). Er widerspricht aber auch Nietzsches Kritik an der Erkenntnis als grundsätzlich moralischem Anliegen, das für sich die absolute Wahrheit beansprucht. Vgl. auch Mihailo Djurićs Vorwürfe, Nietzsche habe es unterlassen, „das Verhältnis zwischen Spekulation und Erfahrung näher zu erwägen“, und wiederum in diesem Zusammenhang die Behauptung, „Nietzsches Bruch mit der metaphysischen Tradition [sei] nicht radikal genug“ gewesen (Mihailo Djurić, Das nihilistische Gedankenexperiment, S. 172).
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mus selbst nicht als ‚wahrer‘ Charakter des Lebens bezeichnet werden. Die These, dass es keine Wahrheit des Geschehens im Sinne der alten Metaphysik gibt, muss selbst als Wahrheit fragwürdig bleiben, so wie die Ausdrücke „Wirklichkeit des Werdens“, „Realität“ und „neue Wahrheit“, die sich fast ausschließlich mit Stellen aus Der Wille zur Macht bekräftigen lassen.33 Wie mehrere Untersuchungen zu Nietzsche zeigen, kann man dieser Gefahr auch mit Hilfe der feinsten Differenzierungen nicht entgehen, man spricht immer wieder vom ‚Wirklichen‘ bzw. von Verleugnung der ‚Realität‘ bei den von Nietzsche kritisierten Denkern. Wenn es aber keine objektiven Kriterien für die Interpretationen geben kann, so kann die Entscheidung zugunsten der „Interpretativität als solche[r]“34 nicht objektiv begründet werden, und damit kann die Unterscheidung von Interpretation und Faktizität, die ja als Unterscheidung gerade für neue Interpretationen sorgt, nicht einfach getilgt werden.35 Wenn dieses Interpretationsprinzip ernst zu nehmen ist, kann auch das Postulat keine absolute Wahrheit für sich beanspruchen, demzufolge es „[d]ie Eine objektive Welt und die interpretationsfreie bzw. schema-unabhängige Betrachtungsweise“ nicht geben „kann“.36 Als Grundthese ist sie der Annahme verpflichtet, dass, wenn der Sinn des Daseins oder Gott oder ein Zweck sich als ungewiss erwiesen haben, sie damit schon widerlegt seien.37 Ein konsequenter Perspektivismus sollte dagegen auch diese Aussage relativieren.38 Die Faktizität des Werdens und die Pluralität der Perspektiven
33 Vgl. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze, S. 101, 108 f. Zwar sah MüllerLauter die Gefahr und verfiel keinesfalls in eine naive Umkehrung, sondern bemühte sich gerade darum, das Nicht-Metaphysische in Nietzsches Willen-zur-Macht-Pluralismus zu entdecken. Doch konnte auch er die Rede von dem ‚Wirklichen‘ nicht völlig vermeiden, unter dem er das „Gegeneinander der Willen zur Macht“ verstand. Er stützte diese These dennoch vorwiegend mit Zitaten aus Nietzsches Nachlass. Das Problematische der These, alles Werden sei Interpretation, wurde von ihm in seiner kritischen Analyse der Position Vattimos thematisiert. Vgl. Müller-Lauter, Nietzsche und Heidegger als nihilistische Denker, S. 68. 34 Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 456. 35 Vgl. Günter Abel, Nietzsche contra ‚Selbsterhaltung‘. Steigerung der Macht und ewige Wiederkehr. Diskussion, S. 406 f. Bezeichnenderweise macht Abel diese Unterscheidung selbst, indem er darauf besteht, bei der Lehre der ewigen Wiederkehr handle es sich nicht bloß um einen Gedanken, sondern um den „Geschehenscharakter der Willen-zur-Macht-Vollzüge.“ Wie Stegmaier überzeugend zeigt, geht in Abels Begriff der totalen Interpretation die Differenz von Interpretieren und zu Interpretierendem gerade verloren (Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, S. 313). 36 Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 447. Vgl. auch: „[…] bei einer Vielfalt von Perspektiven und Interpretationen [kann] keine die ‚wahre‘ sein“ (S. 322). 37 Vgl. bei Nietzsche das Lob von „Schopenhauer’s Stellung“, „daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern ein S t ü c k U n g e w i s s h e i t m e h r , eine Erweiterung unseres ‚leeren Raums‘, einen Zuwachs unserer ‚Oede‘ – “ (Nachlass, Mai–Juli 1885, 35[47], KSA 11, S. 533). 38 So betont Abel, dass „Mythos und Mystik“ immer „eine einheitliche und eigentliche Welt“ behaupteten, die „mit Hilfe derjenigen denkerischen Möglichkeiten, mit denen der Mensch ausgestattet ist, nicht erreichbar ist“. Der Wiederkunfts-Gedanke dagegen solle nicht die Wahrheit, sondern eine „neue Auslegung der Wirklichkeit“ „im Sinne des geschehens-logischen Interpretations-Zirkels“ auf den Höhepunkt bringen (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr,
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können als ‚Wahrheit‘ und ‚Realität‘ nur noch postuliert werden, ebenso wie die „einzige Realität“ einer dynamischen Willen-zur-Macht-Organisation, die als Nietzsches „neue Auslegung des Daseins“ dessen Grundcharakter entspräche.39 Nietzsche dagegen, indem er vom Werden sprach, vermied kaum zufällig eine solche Art des Postulierens. Seine Formeln wie „die Welt ist der Wille zur Macht“ oder „Gott ist tot“ sind gerade Ausdruck dieser Vorsicht und der gezielten Beschränkung des Aussagens. Der proklamierte „Tod Gottes“ kann bspw. gerade nicht als Stellungnahme zum alten Dilemma des Daseins/Nichtdaseins Gottes verstanden werden, sondern impliziert eine offene Überlegung zu bestimmten (nicht alternativlosen) historischen Prozessen, nämlich dem des Untergangs des christlichen Glaubens – dem Prozess, der seinerseits nicht frei von Kontroversen verläuft und nicht ohne paradoxe Folgen bleibt, z. B. einen neuen Gottesglauben40 und sogar eine Wiederbelebung des Christlichen. Man könnte dabei immer noch fragen, bei wem dieser Untergang festzustellen ist, und wer tatsächlich die Kraft hat, das Ereignis des „Loskette[ns]“ von „allen Sonnen“ auszuhalten (FW 125, KSA 3, S. 481). Die so vielfach umstrittene Wille-zur-Macht-These wird in Jenseits von Gut und Böse (d. h. in einem von Nietzsche selbst für Leser bestimmten Werk) mit einer Frage eingeführt:
Gesetzt, dass nichts Anderes als real ‚gegeben‘ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ‚Realität‘ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe […] – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander —: ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht a u s r e i c h t , um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder ‚materielle‘) Welt zu verstehen? (JGB 36, KSA 5, S. 54)
Und so wird diese Überlegung abgeschlossen: Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem. (JGB 36, KSA 5, S. 55)
S. 323). Doch als wie produktiv und überzeugend seine Nietzsche-Auslegung sich auch erwiesen hat, scheint sie von dem Anspruch auf eine erkenntnistheoretische Wahrheit doch nicht ganz frei zu sein, v. a. nicht von der Herabwürdigung des Ungewissen, soweit sie bestreitet, es könne etwas geben, was „denkerischen Möglichkeiten“ nicht zugänglich ist. Ob bestritten oder behauptet, ist dies ein Anspruch, über die „wirkliche Welt“ etwas zu sagen bzw. eine neue, wenn auch bloß negative Gewissheit zu behaupten (vgl. das Kapitel „Destruktion der ‚wahren‘ und Selbstfindung der wirklichen Welt“, S. 324–345). 39 Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 4. Vgl. auch bei Figal: „Nietzsches Philosophie der Interpretation ist eine Auslegung dieser, auch für sie selbst geltenden Faktizität“ (Figal, Nietzsches Philosophie der Interpretation, S. 9); und noch stärker bei Jörg Salaquarda, der von der „fiktive[n] Instanz“ und dem „faktische[n] Leben“ spricht: Jörg Salaquarda, Fröhliche Wissenschaft zwischen „Freigeisterei“ und neuer „Lehre“. 40 Vgl. Johann Figl, ‚Tod Gottes‘ und die Möglichkeit ‚neuer Götter‘.
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Der Gedanke der intelligiblen Welt, der in jedem Denken, das den Anspruch auf Erkenntnis erhebt, mitgedacht wird, führe zur Annahme des „Willens zur Macht“ als einzige „Realität“ (beide Ausdrücke setzt Nietzsche in Anführungszeichen). Aber auch umgekehrt, wenn es sich als bloßes Spiel der Begierden und Leidenschaften, als zufälliges Ergebnis der Auseinandersetzung mehrerer Triebe verstünde, würde das Wille-zur-Macht-Prinzip dadurch nur noch bestätigt werden. Diese Schlussfolgerung ist keine Behauptung, nicht einmal eine Auslegung, sondern eine bloße Konsequenz der Rede von der „Realität“, von dem „Gegebenen“, von dem „Willen“. So muss „die Welt von innen gesehen“ werden, wenn man die durch diese Begriffe angedeuteten Leitunterscheidungen (das Intelligible / das Materielle, der Wille / die mechanistische Welt) konsequent durchdenkt und sie wiederum auf sie selbst anwendet. Mehr lässt sich nicht behaupten.41 Das ist eine der wichtigsten Ausführungen zum Willen zur Macht, die im veröffentlichten Werk vorkommt. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich Nietzsches Strategie in der Kritik an absoluten Ansprüchen der Erkenntnis. Die alten Plausibilitäten (der intelligible Grund der Welt) werden nicht geleugnet, sondern bis zu ihren äußersten Konsequenzen geführt. Wenn wir von dem Willen überhaupt sprechen wollen, so wäre die Welt selbst als Wille zur Macht zu verstehen. Wir müssen dies aber nicht, denn es ist wohl möglich, dass es überhaupt keinen Willen gibt.42 Die Plausibilität des Willens ist jetzt als Grundannahme zu verstehen, aber gerade deshalb ist sie keine Plausibilität mehr, denn sie wurde thematisiert und als solche eingesehen, d. h.: sie wurde als eine Entscheidung in der Situation der prinzipiellen ontologisch-existenziellen Ungewissheit aufgezeigt. Für diese Entscheidung sprechen keine Gründe, die als ‚wirklich‘ angegeben werden können, auch nicht der pragmatische Nutzen, denn um dies zu behaupten, müsste man der ‚Realität‘ schon auf irgendeine Weise näher kommen. Die Vor- und Nachteile einer Entscheidung zugunsten einer bestimmten Weltauslegung lassen sich nach Nietzsche gerade nicht kalkulieren. Eine solche Entscheidung kann sich, wenn überhaupt, nur noch auf die Kriterien berufen, die grundsätzlich moralischer Art sind. In der Situation der prinzipiellen Ungewissheit über den Grundcharakter des Daseins können persönliche Entscheidungen nicht weiter begründet werden, sie können sich selbst nur als „gut“ auslegen, als das Wertvolle
41 Auf die Rolle des hypothetischen Satzanfangs („Gesetzt, dass…“, „Vorausgesetzt, dass…“) besonders in Jenseits von Gut und Böse u. a. im Unterschied zu den entsprechenden Nachlassnotaten hat van Tongeren hingewiesen: „At the moment when Nietzsche established his thoughts in written form, he felt the need to make their hypothetical, provisional, and perspectival nature explicit.“ (Paul J.M. van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture, S. 130) Man kommt darum als Nietzsche-Forscher nicht umhin, sich auf Nietzsches Nachlass zu berufen, dennoch sollte man sich immer klar machen, ob es sich um Nachlassnotate oder aber um ein von Nietzsche selbst für die Veröffentlichung bestimmtes Werk handelt. 42 Vgl. in einer Nachlassnotiz: „E x o t e r i s c h – e s o t e r i s c h 1. – alles ist Wille gegen Willen 2. Es gibt gar keinen Willen“ (Nachlass, Sommer 1886–Herbst 1887, 5[9], KSA 12, S. 187).
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schlechthin. Nur in diesem Zusammenhang lässt sich die viel zitierte Aussage Nietzsches sinnvoll verstehen: Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser. – (JGB 22, KSA 5, S. 37)
Dies ist kein literarisch eleganter Schluss, mit dem eigene Inkonsequenz zugegeben wird, um einen Gegenvorwurf zu verhindern, sondern ein Hinweis darauf, in welchem Modus des Fürwahrhaltens seine Weltauslegung zu verstehen ist: im Modus des praktischen Glaubens, der sich allerdings (im Unterschied zu dem kantischen Glauben) selber niemals gewiss sein kann.43 Nicht nur der „Tod Gottes“ und „der Wille zur Macht“, auch Nietzsches berühmte Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen als „post-nihilistische Daseinsinterpretation“, als „Übernahme der Geschehens-Notwendigkeit“, als „Triumph über eben diese Beschaffenheit der Welt“44 ist v. a. einem moralischen Anliegen verpflichtet. Sie ist, wie am Ende des berühmten Lenzer-Heide-Entwurfs deutlich wird, als Probe der eigenen Kräfte zu verstehen,45 und bleibt immer noch, wie in Jenseits von Gut und Böse über die Aufgabe der Selbstüberwindung der Moral gesagt wird, „als lebendige[r] Probirstein[ ] der Seele“ einem Philosophen „vorbehalten“ (JGB 32, KSA 5, S. 51). Als „Weltformel“ musste die Wiederkunftslehre dagegen für Nietzsche höchst fraglich bleiben. Denn sie fügte in sich alle alten metaphysischen Begriffe zusammen: „Alles“, „ewig“, „Wiederkehr“, „das Gleiche“.46 Insofern muss nicht nur den Forschern Recht gegeben werden, die auf die theoretisch-wissenschaftliche Unbeweisbarkeit von Nietz
43 Dem Problem der allumfassenden Interpretation bei Nietzsche, u. a. anhand der oben zitierten Stelle, ist die Untersuchung Johann Figls gewidmet, wobei die Frage nach der Möglichkeit, eine ‚richtige‘ Interpretation zu behaupten, in den Vordergrund rückt. Wie Figl mit Recht bemerkt, kann „der Ausdruck ‚falsch‘“ aus der „Gegenposition zu jeder nicht-interpretativen Weltsicht“ „nur eine relative Bedeutung“ haben, „insofern dadurch die Möglichkeit einer ‚richtigen‘ Interpretation abgewiesen wird“ (Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, S. 199 f.). „Das ‚Verstehen‘ wird in seiner Zirkelstruktur erkannt, und zugleich die Annahme einer rein im Bewusstsein sich vollziehenden Erkenntnis als Illusion aufgedeckt“. Dennoch darf die „Illusion“ hier nicht wiederum im Gegensatz zur „Realität“ stehen. „Solche kritische Desillusionierung kann auf der Basis der Überzeugung erfolgen, dass eben die Wirkung das faktisch Vorgängige ist.“ (S. 184 f.) Nietzsches Aufdeckung der Illusionen einer metaphysischen Weltauslegung verspreche somit überhaupt keine Sicherheiten für ihren Gegenentwurf, sondern richte eine Interpretation gegen die andere. Was hier interpretiert und ‚erkannt‘ werden soll (beide Termini nun bloß als Synonyme verstanden), ist nicht die ‚Realität‘, sondern die Wirksamkeit der Weltinterpretationen und ihre für sie eventuell nicht vorhersagbaren Folgen. 44 Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 455, vgl. auch S. 303, 345. 45 Vgl. dessen Schluss: „Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft? –“ (Nachlass, Sommer 1886–Herbst 1887, 5[71], KSA 12, S. 217). 46 Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Lehren, Nietzsches Zeichen, S. 67.
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sches „abgründliche[m] Gedanke[n]“ (EH weise 3, KSA 6, S. 268) hinweisen, sondern auch denen, die behaupten, seine erkenntnistheoretischen Explikationen verfehlten gerade seinen philosophischen Sinn.47 Diese Lehre Zarathustras, wie auch die des „Übermenschen“,48 kann jedoch sehr wohl auch jenseits der metaphysischen Ansprüche der Erkenntnis sinnvoll gedeutet werden – als Weltauslegung, die aus moralischen Gründen vorzuziehen ist. Denn weder Notwendigkeit noch Sinnlosigkeit bzw. Ziellosigkeit des Werdens49 können gewiss sein, und deshalb kann ihre Bejahung nur aus einer bestimmten moralischen Perspektive, z. B. als Triumph „jenseits des Rache
47 Man darf, Abel zufolge, Nietzsches Wiederkunfts-Gedanken nicht bloß als wissenschaftliche Theorie vertreten (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 256 ff.). Ein Zurückführen auf moralische Fragestellungen wird von Abel dennoch als „schwerwiegende Verkürzung“ des Wiederkunfts-Gedankens dargestellt. Vgl. dazu seine Polemik gegen diese Art der Argumentation bei Müller-Lauter, Bernd Magnus (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 194 f.; auch Abel, Nietzsche contra ‚Selbsterhaltung‘). Bezeichnenderweise muss sich Abel bei dieser Auseinandersetzung auf die berühmte Aussage Heideggers (den er sonst kritisiert) berufen, Nietzsches eigentliche Philosophie befinde sich im Nachlass (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 194 f.). Obwohl Abel weit davon entfernt ist, den Wiederkunftsgedanken als einen kosmologisch bzw. wissenschaftlich nachweisbaren bzw. ontologischen „im alten Sinne“ zu präsentieren, ist er am Ende genötigt, ihn zugleich erkenntnistheoretisch zu deuten, mit dem Vorbehalt, er sei wesentlich eine Interpretation und kein Mythos, keine Lösung des Geheimnisses der Welt. Mir scheint dennoch, dass auch seine erkenntnistheoretischen Explikationen (der Wiederkunfts-Gedanke sei „sinn- und interpretations-logischer Natur“ (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 248)), soweit sie das „nur“ Ethische überschreiten bzw. mehr als ein „bloß“ moralisches Kriterium für das existentielle In-der-Welt-Sein liefern wollen, seinen Sinn verfehlen. Denn auch als eine „die Urgeschichte“ symbolisierende Lehre der Endlichkeit (die letztere „als Ineinander von Faktizität und Interpretation“ verstanden) bleibt sie eine Art Mythos, wenn er auch keine „über-zeitliche […] Struktur von Welt und Sinn“ tradiert (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 322) und sich auf die Negation dieser Struktur beschränkt: „Der Beobachter ist im Wiederkunfts-Gedanken systematisch ausgeschlossen“ (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 304). Gerade als Interpretation, die über die Welt belehren soll, ist der Wiederkunfts-Gedanke nicht haltbar und soll unhaltbar bleiben. 48 Dieser wichtige Punkt, dass die berühmtesten ‚Lehren‘ Nietzsches nicht direkt, sondern von seinem Zarathustra bzw. seinen Tieren oder dem Teufel oder seinem Schatten ausgesprochen werden, wird öfters übersehen. Betont wird er z. B. bei Simon (Simon, Das neue Nietzsche-Bild, S. 7). Vgl. auch Werner Stegmaier, Nietzsche. Also sprach Zarathustra. 49 Nietzsches Argument „Hätte die Welt ein Ziel, so müsste es erreicht sein“ (Frühjahr–Herbst 1881, 11 [292], KSA 9, S. 553; Juni–Juli 1885, 36[15], KSA 11, S. 556) kann nur unter der Bedingung eines dogmatischen Verständnisses der ewigen Wiederkehr überzeugen. (Es fehlt allerdings nicht an solchen Versuchen in der Forschungsliteratur. Vgl. z. B. Dirk L. Couprie, „Hätte die Welt ein Ziel, […] so wäre es […] mit allem Werden längst zu Ende“. Nietzsche gerate mit seinem Versuch, „einen metaphysischen Satz zu beweisen“, in eine Aporie, die schon von Kant beschrieben wurde (S. 117)). Man darf nicht vergessen, dass eine Argumentation wie diese nur in Nietzsches Nachlass vorkommt. An einer Stelle fügt Nietzsche eine Überschrift hinzu: „M e t a p h y s i c a“ (Nachlass, August–September 1885, 42[3], KSA 11, S. 692).
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Syndroms“,50 nicht aber als Bejahung der ‚Wirklichkeit‘ bezeichnet werden. Wobei immer noch zu fragen wäre, warum dieses Rache-Syndrom überwunden werden soll bzw. welche moralischen Kriterien bei dieser Bewertung im Spiel sind. Doch eins ist klar: Als Verleitung zu einer besseren als der bisher erreichten Erkenntnis der Wirklichkeit können Nietzsches ‚Lehren‘, wie nuanciert deren Interpretation auch angelegt werden mag, sich nicht über ein moralisches Anliegen hinaus behaupten.51 Als eine Art von Erkenntnistheorie kann Nietzsches Philosophie, in welcher Auslegung auch immer, sich m. E. tatsächlich nicht gegen den alten Vorwurf des performativen Selbstwiderspruchs verteidigen.52 Denn, es sei noch einmal betont, auch wenn sie auf dem interpretativen Charakter allen Geschehens, auf der unvereinbaren Pluralität der Lebensperspektiven, auf der Flüssigkeit des Gegebenen besteht, wäre diese Philosophie nur noch eine Art Metaphysik des Werdens, die beteuert: Es gibt nichts, was bleibt; die Veränderung ist die einzige Realität; dem Zeitfluss kann sich nichts entziehen. Man könnte immer noch fragen: Was spricht eigentlich dafür? Und: Kann man hier überhaupt noch von Erkenntnis sprechen?53 Wenn „unser Reden dem, was wahrhaft ist, nämlich dem Werden, […] nicht angemessen ist, wie können wir von eben dieser Unangemessenheit auch nur Kenntnis haben?“54 Ein solches Reden sollte einem stetigen Selbst-Verdacht, einer sich immer weiter verschiebenden Differenzierung ausgeliefert werden.55 Nur als Verdacht gegen das
50 Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 345. 51 Vgl. einen besonderen Ansatz bei Bernd Magnus, der Nietzsches Wiederkunfts-Gedanken als existentiellen Imperativ deutet, freilich im Sinne einer nicht durch sich selbst zu bewirkenden Haltung (Bernd Magnus, Nietzsche’s Existential Imperative, bes. S. 139 ff.; Bernd Magnus, „Eternal Recurrence“). 52 Sie ist auch nicht gegen den alten Vorwurf der einfachen Widersprüchlichkeit gefeit. Vgl. die Betonung eines Widerspruchs zwischen Nietzsches Lehren, der von dem Willen zur Macht bzw. vom Übermenschen und der von der ewigen Wiederkehr, z. B. bei Karl Löwith. Wenn diese als Lehren über das Sein wie es ist bzw. als metaphysische Lehren zu verstehen sind, so kommt man nicht an dem Schluss vorbei, dass es Nietzsche nicht gelungen ist, seine Gedanken in Einklang zu bringen. Vgl. eine philosophische Interpretation des tragischen Konfliktes zwischen der Weisheit Zarathustras und seiner Liebe zum Leben, z. B. bei Gadamer (Hans-Georg Gadamer, Das Drama Zarathustras). 53 Vgl. Abels Interpretation von Nietzsches Philosophie als „Fest-Stellen des Werdens“, das als „letzte Wahrheit“ fungiert (Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 312). Schon der Formulierung nach (das Fest-Stellen dessen, was nicht fest steht) ist diese These hochgradig paradox. 54 Rüdiger Bittner, Nietzsches Begriff der Wahrheit, S. 75. Der Aufsatz geht polemisch auf verschiedene Positionen ein, die Nietzsches Bestreitung der Wahrheit aufnehmen und bis zum performativen Selbstwiderspruch weitertreiben. Bittner ist auch heute noch darin Recht zu geben, dass die NietzscheLiteratur „sich daran erstaunlich wenig“ zu stören scheint (S. 75, Anmerk. 24). Vgl. z. B. den Schluss im oben zitierten Beitrag von Figal: „Nietzsches Philosophie der Interpretation ist also auch der Entwurf eines Erkenntnisprogramms, Antwort auf die Frage, wie Einsicht jenseits der Naivität des sogenannten Realismus gewonnen werden kann.“ (Figal, Nietzsches Philosophie der Interpretation, S. 11) Die Möglichkeit einer Einsicht impliziert jedoch wiederum ein Vorverständnis der Realität. 55 Paul Ricoeur nannte bekanntlich Nietzsche, Marx und Freud die drei großen „Lehrer des Verdachtes“ (Paul Ricoeur, Freud and Philosophy, S. 32). In erster Linie ist es jedoch Nietzsche, denn indem
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„Menschliche, allzu Menschliche“, gegen „das kranke Thier“ Mensch (GM III, 13, KSA 5, S. 367) können die Behauptung des Werdens und die Leugnung des Absoluten sinnvoll funktionieren. Sie können weder einen Bezug auf die Realität noch die Vorteilhaftigkeit der eigenen Interpretation beanspruchen, ohne sich dabei sofort zu paradoxieren. Die Paradoxierung ist allerdings produktiv, aber nur im negativen Sinne: Sie kompromittiert jede Rede von Realität, jeden Anspruch auf Aufhebung der Differenz zwischen Interpretation und Wirklichkeit.56 Warum dies getan werden soll, ist jedoch gerade die Frage, die auf moralische Voraussetzungen abzielt. Und diese können ihrerseits nicht aus der ‚Realität‘ begründet werden, sondern entspringen einer bestimmten Aufgabe.57 Nietzsche gab einen Hinweis darauf, indem er in seinem letzten Buch sagte:
Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werthe ist deshalb für mich eine Frage e r s t e n R a n g e s , weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. (EH Bücher 2, KSA 6, S. 330)
Die Art der Argumentation, die ein gewisses Vorverständnis der Realität stillschweigend voraussetzt bzw. Nietzsche eine latente und unvermeidlich widersprüchliche Metaphysik unterstellt, beruft sich, wie schon gesagt, kaum zufällig nur auf Nietzsches Nachlass.58 Im veröffentlichten Werk wird dagegen immer wieder betont, dass die Wahrheit der Metaphysik nicht widerlegt, sondern ihr der Glaube gekündigt wird
er einen Verdacht gegen die ‚Wirklichkeit‘ hervorruft, will er keine neue ‚Wirklichkeit‘ behaupten, sondern gerade diese Verdoppelung der ‚Welt‘ vermeiden. Dies macht nur Sinn, wenn es sich um einen fortdauernden, immer wieder entstehenden und sich verschiebenden Verdacht handelt, v. a. um einen Selbst-Verdacht. 56 Vgl. „Nietzsche denkt nicht in Zirkeln und Ebenen, sondern in ihren Bewegungen und deren inkommensurablen Gegenbewegungen, ihren Schemata und deren irreversiblen Verschiebungen, ihren Überwindungen und fluktuanten Selbstaufhebungen im Lebensgeflecht.“ (Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 313 f.) 57 Auch die oben beschriebene Kritik von Bittner mündet in der Frage nach dem moralischen Willen, dessen Begriff er bei Nietzsche freilich unbefriedigend findet (Bittner, Nietzsches Begriff der Wahrheit, S. 89). Vgl. die These, Nietzsche habe „seiner streng immoralistischen Forderung nachträglich eine auffallend moralistische Prägung gegeben“ (Djurić, Das nihilistische Gedankenexperiment mit dem Handeln, S. 173). Dies kann als Inkonsequenz-Vorwurf verstanden werden. Denn trotz aller Bemühungen um eine nicht-metaphysische Interpretation der Handlung bleibt unklar, wie der erhoffte neue „Weg zur Vollkommenheit“ bei Nietzsche mit dem Notwendigkeitsgedanken kompatibel bzw. wie das Schöpferische überhaupt möglich sein soll, wenn die Idee des handelnden und über seine Handlung verfügenden Subjekts destruiert worden ist. Nur als Gedankenexperiment, das ins Ethische umschlagen muss, wird Nietzsches Ansatz wiederum verständlich. Dennoch muss dieses Umschlagen m. E. nicht als „nachträglich“, nicht als letzter Ausweg gedeutet werden. Es wurde bei Nietzsches Kritik des Willens zur Wahrheit immer schon beabsichtigt. 58 Dies gilt u. a. für Heideggers Interpretation von Nietzsches Deutung der Wahrheit als „Einstimmigkeit mit dem Wirklichen“ des Werdens (Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 620 ff.). S. dazu Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze, 109 ff.
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(GM III, 24, KSA 5, S. 399); dass es in der Philosophie, aber auch im Leben, immer nur ein perspektivisches Sehen geben kann (GM III, 12, KSA 5, S. 365); und dass es sich auch bei dieser ‚Realität‘ des Perspektivischen nur um eine Interpretation handelt (JGB 22, KSA 5, S. 37). Es handelt sich um einen Glauben, nicht um eine Art Gewissheit. Die Gefahr, einer oberflächlichen Idee der Realität und einem normativen Lebensverständnis zu verfallen, hat Nietzsche so von Anfang an im Blick. Er ist sich des „Befangensein[s] in tradierten Strukturen“ nicht nur völlig bewusst, sondern beansprucht, so Josef Simon gleich zu Beginn des den ersten Band der Nietzsche-Studien eröffnenden Beitrags, der erste Philosoph zu sein, der diese Selbstbezüglichkeit des Denkens „philosophisch begreift und von daher als Grundzug des Lebens bejaht“.59 Dieses Begreifen oder, um es mit Nietzsche zu sagen, dieses „Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit“ (GM III, 27, KSA 5, S. 410) ist zugleich sein philosophischer Ausgangspunkt und seine v. a. sich selbst gestellte moralische Aufgabe, diesem Ausgangspunkt treu zu bleiben. Insofern muss im Folgenden der Versuchung, eine materialistisch-flache Deutung der ‚Realität‘ des Lebens Nietzsche als seine Plausibilität zuzuschreiben, entschieden Widerstand geleistet werden. Weder die Verleugnung der Wahrheit noch die Ablehnung der Moral können als Nietzsches Plausibilitäten angesehen werden. Aus zwei Gründen: Erstens, weil sie beide von Nietzsche in einem komplexen Kontext thematisiert wurden, in dem er gerade ihre Plausibilität zur Debatte stellt; zweitens, weil sie wegen eines offensichtlichen performativen Selbstwiderspruchs gar nicht plausibel sein können. Wenn es sich bei Nietzsche um eine Art Glauben handelt, so müssen seine Plausibilitäten auch einen bestimmten Fluchtpunkt haben, der für eine gewisse Einstellung, für eine Perspektivierung, sorgt, der aber selbst nicht leicht einzusehen ist. Nietzsches Ziel war es, so meine vorläufige These, ein neues Kriterium des philosophischen Denkens ins Spiel zu bringen und die neuen Plausibilitäten als solche überzeugend darzulegen. Dennoch: Als Entdecker der „Vorurtheile der Philosophen“, als Kritiker des philosophischen Aberglaubens durfte er selber nicht einfach bei den eventuell neuen Plausibilitäten bleiben. Er wollte einen neuen Umgang mit den eigenen Plausibilitäten entwickeln. Dieser Umgang, diese Strategie Nietzsches im Umgang mit den eigenen Plausibilitäten, soll erstens durch die Untersuchung seiner Kritik an den Plausibilitäten der kantischen Moral aus Vernunft und zweitens durch die Untersuchung seiner eigenen Plausibilitäten ans Licht kommen.60
59 Josef Simon, Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition, S. 1 f. 60 Ich möchte hiermit keineswegs bestreiten, dass Nietzsches große Errungenschaft in der Philosophie gerade darin bestand, das Interpretatorische in jeder Weltauslegung zu bejahen. Die Frage ist nicht, ob mehrere Interpretationen möglich sind (dies ist ja offensichtlich) und auch nicht, ob man nicht immer einer Interpretation verhaftet bleibt (dies ist ebenso offensichtlich), sondern ob man auch als Philosoph des Perspektivismus nicht umhinkommt, ein gewisses Kriterium für die Unterscheidung der Interpretationen einzuführen und an ihm festzuhalten. Gerade dies soll als Nietzsches Strategie im
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Es muss betont werden, dass diese Untersuchung erst auf der Grundlage der langen Geschichte der De-Ideologisierung möglich geworden und sowohl den überreichen Forschungsergebnissen der immanenten Nietzsche-Interpretation als auch den Deutungen aus der philosophischen Tradition heraus verpflichtet ist. Doch nicht nur ideologische Deutungen bzw. Feststellungen der Widersprüchlichkeit, auch manche alte Forschungsstrategien sind m. E. heute als überholt anzusehen. Das zweifelsohne (im Blick auf die früheren Ideologisierungen und Missdeutungen) produktive Anliegen Müller-Lauters, der Nietzsches Philosophie als Philosophie der Gegensätze bzw. als Philosophie, die die unversöhnlichen Widersprüche der Moderne zum Ausdruck bringt und damit selbst zu einem Ausdruck der Zerrissenheit unserer Zeit wird, interpretierte,61 mündete später oft in eine philosophisch wenig anschlussfähige Methode der Selektion und Typisierung bzw. der Aussortierung von Nietzsches Gedanken im Sinne der jeweiligen systematischen Auslegung. So hat man z. B. zwischen zwei Arten des Ja-Sagens (Jesus und Dionysos) oder zwischen zwei Arten des Egoismus (christlicher und vornehmer) unterschieden.62 Typisierungen und Periodisierungen können zwar philosophische Widersprüche entschärfen, doch gerade deswegen haben sie m. E. wenig Wert.63 Denn sie beseitigen die philosophischen Schwierigkeiten gerade nicht, sondern erwecken den Verdacht, dass man sie nicht ernst genug nehmen will. Das Bemühen um Typisierungen ist darüber hinaus der Überzeugung verpflichtet, man könne Nietzsches Philosophie in eine Art System zwingen – ein Ansatz, der bis dato zu keinem überzeugenden Erfolg geführt hat. Jedenfalls war es nie ein konsistentes System, sondern der für die Philosophie viel bedeutsamere Ansatz, der an Nietzsche immer so faszinierte: eine neue Fragestellung, eine besondere Strategie in der Behandlung der bekannten Problemfelder – Moral, Wissenschaft und Kunst. Es ging Nietzsche nicht um Typen bspw. des Egoismus, der Liebe, der Vernunft oder des Geschmacks, die er bloß feststellte und unterschiedlich bewertete, sondern um die Beweglichkeit der Differenzen zwischen Egoismus und Liebe, zwi
Umgang mit den eigenen Plausibilitäten im Laufe dieser Untersuchung geklärt werden. Dies ist mein Versuch, Nietzsches „Antwort auf das Problem des Werdens und auf die Frage nach dem Wert des Daseins“ (Abel, Nietzsche contra ‚Selbsterhaltung‘, S. 406) zu formulieren. 61 Vgl. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze, S. 5. 62 Selbst Müller-Lauter bemühte sich auf diese Weise, den Widerspruch zwischen dem Ja-Sagen, dem Werden bzw. dem stetigen Wechsel einerseits und dem Willen zur „Befestigung“, zur „Verewigung seiner Herrschaft“ andererseits mit der Einführung zweier Typen des Übermenschen zu lösen: „obwohl beide Typen des Übermenschen die Wiederkehr wollen, wollen sie doch in ihr und durch sie Verschiedenes“ (Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze, S. 188). Vgl. z. B. auch George Goederts Kritik an Paul Valadier (George Goedert, Paul Valadier, Nietzsche et la critique du christianisme, S. 387, 390), in der mit zwei Typen des Ja-Sagens und mit zwei Typen des Egoismus’ argumentiert wird. 63 Für die Kontinuität in Nietzsches Werk plädiert dagegen z. B. Marco Brusotti (Marco Brusotti, Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischen Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft). Gewisse Verschiebungen vom Früh- zum Spätwerk können dabei durchaus bedeutsam sein.
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schen Vernunft und Glaube, um eine zweideutige Herkunft der moralischen Wertschätzungen, deren Infragestellung sie wieder in Bewegung versetzen sollte und allein versetzen konnte.64 Um der Nietzsche-Forschung neue Impulse zu geben, scheint so gerade das vonnöten, was Müller-Lauter, wenn auch in einer anderen Forschungssituation, missbilligte – „den Standpunkt außerhalb Nietzsches Philosophie“ einzunehmen,65 nicht etwa um sie einer desavouierenden Kritik (ein in der Nietzsche-Rezeption zutiefst kompromittierter Ansatz) zu unterwerfen, sondern um sie in einen eventuell neuen und anschlussfähigen Zusammenhang zu stellen, um so ihre Tragweite überprüfen zu können. Dies soll nicht nur für Nietzsche, sondern auch für Kant, Tolstoi und Dostojewski geltend gemacht werden. Eine schlüssige immanent-kritische Darlegung wird so zu einem unerlässlichen, jedoch nur ersten Schritt einer philosophischen Interpretation. Sie kann auch als Kritik im kantischen Sinne verstanden werden – als Markierung der Grenzen eines jeweiligen philosophischen Ansatzes. Doch dann muss er mit den anderen, nicht weniger schlüssigen Ansätzen konfrontiert werden.66 Somit steht Nietzsche nicht nur aus historisch-philologischen Gründen, nicht nur weil er für die Aufdeckung der grundlegenden Plausibilitäten der abendländischen Philosophie eine besondere Rolle gespielt hat, im Mittelpunkt dieser Untersuchung, sondern v. a. weil seine These, es gebe „keine ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft“ (GM III, 24, KSA 5, S. 400) und kein vorurteils- bzw. plausibilitätsfreies Denken, als ihr methodischer Leitfaden zu betrachten ist. Nietzsches moralkritischer Ansatz weist darauf hin, wie man in jedem Denken das Plausible entdecken kann, ohne es ins Unplausible umschlagen zu lassen, sondern um es mit anderen Möglichkeiten zu konfrontieren. Dieser Ansatz ermöglicht daher, nicht nur die Stärke jeder Position aus kritischer Distanz besser zu verstehen, sondern mit ihm wird auch eine naive Meta-Position zu den jeweiligen Problemen vermeidbar. Denn die Plausibilitäten, wie schon am Anfang angedeutet, lassen sich nur durch die bewegliche Differenz zwischen dem Plausiblen und dem Nicht-Plausiblen beschreiben, u. a. auch die Differenz zwischen dem moralphilosophischen Ansatz und jeder meta-kritischen Position ihm gegenüber, die den Anspruch erhebt, das ‚Unbewusste‘ in ihm aufzudecken. Auch diese Untersuchung kommt nicht umhin, eine solche Meta-Position einzunehmen, d. h. zu versuchen,
64 Diesem Ansatz Nietzsches werden nicht nur die erkenntnistheoretischen, sondern auch manche moralisch-systematischen Untersuchungen nicht gerecht. So bleiben die Versuche, eine Theorie des guten Handelns bzw. des guten Lebens bei Nietzsche zu rekonstruieren, zweifelhaft. Dabei wird eine „systematische Rekonstruktion“ des Denkens angestrebt, dem gerade „die Gestalt eines ethischen Systems“ (Michael Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, S. 241) nicht zu eigen ist. 65 Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze, S. VI. 66 Die Voraussetzung einer strengen Konsequenz im Denken, besonders im Falle Nietzsches, scheint für eine schlüssige Interpretation unerlässlich zu sein. Doch diese Konsequenz muss nicht unbedingt ein widerspruchsfreies System implizieren. Die eventuellen Widersprüche können aus bestimmten strategischen Gründen gerade als gewollt angesehen werden.
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einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand.67 Nichtsdestoweniger rühmt sie sich, der Gefahr, gegen bestimmte Plausibilitäten blind zu bleiben, zu entgehen, aber nur dadurch, dass sie die Perspektive, in welche der moralkritische Ansatz gestellt wird, mehrmals wechseln wird. Jede Interpretation ist für den Einwand offen, dass ihre Auslegung der ursprünglichen Intention des Autors nicht gerecht wird. Die Untersuchung der Plausibilitäten erhebt jedoch keinen Anspruch auf eine Darlegung der Philosophie des jeweiligen Denkers, die systematischer und schlüssiger sein soll, als deren Urheber es selber leisten konnte, sondern versucht auf das (in einer ausgewählten Perspektive) Wesentliche im Denken zu kommen, d. h. auf die irreduziblen Voraussetzungen, für die keine weiteren Begründungen nötig zu sein scheinen. Aber auch diese Feststellung bleibt natürlich der jeweiligen Interpretation verpflichtet, die nur eine mögliche ist. Eine Selektion ist unvermeidlich und bleibt dem Beliebigkeits-Vorwurf ausgeliefert. Mit der Frage nach den Plausibilitäten ist jedoch nicht nur ein Kriterium für diese Selektion vorgegeben, sondern es ergeben sich zumindest noch drei weitere Vorteile. Eine solche Untersuchung braucht erstens das jeweilige Denken nicht in ein System zu zwängen, nicht einmal auf eine These zu verengen, die als Fazit dieses Denkens gelten soll. Sie kann zweitens eine notwendige Distanz zu ihm behalten, indem seine Plausibilitäten mit ihren Alternativen konfrontiert werden, nicht indem sie es zu desavouieren sucht. Sie kann sich daher drittens eine Neutralität bezüglich der Frage leisten, ob dieses Denken selbst plausibel ist. Besonders was Nietzsches Philosophie angeht, erwies sich eine solche Neutralität bis jetzt als fast unmöglich: Man kann offensichtlich auch als Forscher der Versuchung kaum widerstehen, seine Philosophie in Schutz zu nehmen bzw. sie widerlegen zu wollen; eine persönliche Stellungnahme scheint praktisch unvermeidlich zu sein.68 Doch man kann trotzdem versuchen, sich auf einer anderen Ebene zu bewegen – auf der Ebene der Untersuchung der Plausibilitäten, die Alternativen haben und für die weitere Gründe nicht angegeben werden können. Gerade deswegen kann man sich zwischen ihnen entscheiden. Auch wenn solche Entscheidungen weder begründet noch widerlegt werden können, sind sie nicht als beliebig anzusehen.69 Denn die Plausibilitäten stehen einem nicht einfach zur Verfügung. Die Einsicht, die ihre Macht offenlegt, ist nur auf Grund der ernsthaftesten
67 Simon betont m. E. mit Recht, dass man nur durch einen solchen Versuch dem Autor gerecht werden kann (Simon, Das neue Nietzsche-Bild, S. 1). D. h.: Nur dadurch können seine Gedanken auch für uns von Interesse sein bzw. neue Anregungen geben. „Die Aktualität Nietzsches zeigt sich in einer neuen Art, ihn zu lesen.“ (S. 9) 68 Dies wäre auch Nietzsche wahrscheinlich recht. Vgl. „[d]ie grossen Probleme verlangen alle die grosse Liebe […]“ (FW 345, KSA 3, S. 577). Wie man die Liebe in diesem Kontext auch deutet, eines ist klar: Sie schließt die Gleichgültigkeit aus. 69 Vgl. bei Nietzsche: „Freigeworden von der Tyrannei der ‚ewigen‘ Begriffe, bin ich andrerseits fern davon, mich deshalb in den Abgrund einer skeptischen Beliebigkeit zu stürzen: ich bitte vielmehr, die Begriffe als Versuche zu betrachten, mit Hülfe deren bestimmte Arten des Menschen gezüchtet und auf ihre Enthaltsamkeit und Dauer — — — “ (Nachlass, Mai–Juli 1885, 35[36], KSA 11, S. 526).
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Auseinandersetzungen zu gewinnen. Die Entscheidung zugunsten eines neuen Ansatzes vollzieht sich, indem man den alten bis zu seiner äußersten Konsequenz verfolgt. Nur dann wird man im Stande sein, sich ihm gegenüber eine kritische Distanz zu verschaffen und folglich auch andere Möglichkeiten einzusehen. Zu dieser mühevollen, doch auch spannenden philosophischen Arbeit will die vorliegende Untersuchung der deutsch-russischen Reflexionen einen Beitrag leisten. Im ersten Kapitel wird Kants Kritik einer Moral aus Vernunft systematisch dargelegt – als in sich konsistenter Ansatz, der jedoch gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt, die einer äußersten, aus den ersten Unterscheidungen folgenden Konsequenz entspringen und immer wieder dazu nötigen, neue Unterscheidungen zu treffen und schließlich jedem weiteren Hinterfragen eine Grenze zu ziehen. Durch dieses Bemühen um eine Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft erweist sich schon bei Kant eine Perspektivierung als unumgänglich: die Perspektivierung der Moral aus Vernunft durch ein individuelles Vermögen der Urteilskraft, deren Richtschnur in Geschmacksurteilen gesucht wird und zur Untersuchung einer besonderen Tätigkeit nötigt, die weder Erkenntnis noch praktisches Verhalten ist, sondern etwas Drittes, etwas, was paradoxerweise als notwendig und kontingent zugleich gedeutet werden muss – die Kunst. Die Kunst, wie sie schon von Kant verstanden wurde, bietet eine erste Distanzierung zur Moral aus Vernunft, ohne sie zu relativieren und sogar ohne jeden Anspruch zu erheben, über ihre allgemeinen Prinzipien urteilen zu können. Kants Perspektivierung der Moral aus Vernunft durch die Kunst soll uns dementsprechend als Einleitung zum Problem der Plausibilitäten in der Moralphilosophie dienen. Die kantischen Plausibilitäten werden allerdings erst durch die anderen drei Ansätze in der Moralkritik ans Licht kommen können, wobei die Frage nach der Kunst immer mehr an Gewicht gewinnen wird. Die nächsten drei Kapitel, zu Nietzsche, Tolstoi und Dostojewski, sollen dementsprechend eine möglichst ähnliche Struktur haben: Nach der kritischen Auseinandersetzung des jeweiligen Autors mit der Moral aus Vernunft soll seine Perspektivierung der letzteren durch seine Deutung der Kunst gezeigt werden – und dies nicht bloß als eine ‚Theorie‘ über Kunst, sondern als eine gewisse Praxis im Umgang mit den philosophischen Schwierigkeiten, die er seinem moralkritischen Ansatz zu verdanken hat, als Versuch, Alternativen zu den von ihm aufgedeckten Plausibilitäten zu finden. Das zweite Kapitel untersucht Nietzsches moralkritischen Ansatz. Im ersten Abschnitt wird Nietzsches Kritik an der kantischen Moral aus Vernunft systematisch verfolgt, wobei die Plausibilitäten der letzteren sichtbar gemacht werden sollen. Nietzsches eigene Plausibilitäten bzw. sein Umgang mit den durch seine Kritik an Kant und der abendländischen Moralphilosophie ins Spiel gebrachten moralischen Kriterien sollen im zweiten Teil desselben Kapitels thematisiert werden. Die Frage, wie es möglich sein kann, nicht blind gegen eigene Plausibilitäten zu sein, ohne einem erschlaffenden Relativismus zu verfallen, wird dabei in den Vordergrund gerückt. In dem das Kapitel abschließenden Teil zur „Optik“ der Kunst soll dieses Problem in den Zusammenhang mit Nietzsches Projekt der tragischen Philosophie gestellt werden.
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Tolstoi und Dostojewski waren keine Philosophen in dem Sinne, wie man sie in Deutschland zumindest zu Kants und Nietzsches Zeit verstand. Wenn man dennoch von einer selbstständigen russischen Philosophie sprechen kann, so entstand diese zunächst in der schöngeistigen Literatur. Hier gewinnt die Frage nach der Kritik einer Moral aus Vernunft und ihrer Perspektivierung durch die Kunst eine neue Spannung. Als Künstler-Philosophen haben Tolstoi und Dostojewski eher eine Position eingenommen, die als Umkehrung der kantischen verstanden werden kann. Die „Optik“ der Kunst war für sie selbstverständlich, sie war die erste Perspektive. Und die Philosophie selbst, auch als Kritik einer Moral aus Vernunft, entsprang dieser ersten Perspektive der Kunst, u. a. verstanden als eigenes Schaffen, als eigene Weltinterpretation. Die wissenschaftlich fundierte Philosophie mit ihrem Problem der allgemeingültigen Wahrheit wurde dagegen als sekundär betrachtet und sogar als Anmaßung gegenüber dem Leben, wie es einem Künstler erscheint – als begehrenswertes und unvorhersagbares Abenteuer, als eine stetige Versuchung, als das Wertvolle schlechthin. Der wechselseitige Bezug zwischen Moral und Kunst bei den zwei großen russischen Denkern, die ihre moralkritischen Überlegungen wiederum für die Kunst fruchtbar gemacht haben, wird im dritten und vierten Kapitel systematisch dargestellt, wobei die Anknüpfungspunkte an Kants und Nietzsches moralphilosophische Ansätze besondere Berücksichtigung finden sollen. Wie oben schon angedeutet, ist für eine solche Untersuchung bzw. Rekonstruktion eines großen intellektuellen ‚Dialogs‘ eine Einschränkung vonnöten. Im vorliegenden Buch sollen beide – Kants moralkritischer Ansatz und dessen Radikalisierung bei Nietzsche – diese einschränkende Funktion erfüllen. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese Einschränkung eine gewisse Vergröberung und sogar Willkür impliziert. Denn die Kritik am kantischen Ansatz einer Moral aus Vernunft war viel umfangreicher als die hier dargestellten Zusammenhänge. Man denke nur an die Kritik Schillers, Herders, Hegels und Schopenhauers. Für Tolstois Perspektivierung der kantischen Philosophie spielte neben Schopenhauer wiederum Spinoza eine außerordentliche Rolle. Eine vollständige Darstellung all dieser zum Teil in der Forschung noch nicht erschlossenen Fragen würde den Rahmen einer einzelnen Forschungsarbeit weit überschreiten. Daher werde ich zu ihnen nur am Rande Stellung nehmen. Diese Untersuchung der Plausibilitäten der Moralkritik erhebt, indem sie ihren Ausgangspunkt in Kants Moralphilosophie setzt und Nietzsches Umgang mit den Plausibilitäten der christlich-abendländischen Moral als ihren methodischen Leitfaden betrachtet, keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der Darstellung der historischen Zusammenhänge.70
70 Das Phänomen des russischen Anti-Kantianismus sowie das der begeisterten Nietzsche-Rezeption und deren Aneignung in der russischen Philosophie um die Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jh.) wurden mehrmals Gegenstand gezielter Untersuchungen und verdienen immer noch Aufmerksamkeit. Diese Problemfelder werde ich im einführenden Teil des letzten Kapitels kurz darstellen. Sie können dennoch, v. a. wegen der Vielzahl der Autoren und der Vielfalt ihrer Bezüge auf Kant und Nietzsche,
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Einleitung
Erst wenn alle vier Ansätze in der Moral und ihre wechselseitigen Auseinandersetzungen rekonstruiert sind, werden die historischen Bezüge thematisiert. Im fünften und letzten Kapitel wird Nietzsches Rezeption der zwei russischen Künstler-Philosophen dargelegt und, als Quintessenz dieser Re-Interpretation der russischen Kritik einer Moral aus Vernunft, sein Werk Der Antichrist systematisch analysiert. Gerade in diesem Werk, mit dem Nietzsche auf höchst anstößig-irritierende Weise versuchte, seine „Umwertung aller Werte“ gegen die herrschende Moral des Abendlandes durchzusetzen, werden alle drei großen Moralkritiker (Kant, Tolstoi und Dostojewski) zusammengeführt und durch Nietzsches Deutung des „Typus des Erlösers“ verknüpft. Diese Auseinandersetzungen sollen den Schlüsselpunkt der vorgelegten philosophischen Interpretation vom Antichrist ausmachen. Die Differenz der Plausibilitäten zwischen den russischen Denkern und Nietzsches „letzter Moral“ wird im nächsten Schritt systematisch interpretiert und in ihrer Bedeutsamkeit für den ganzen ‚Dialog‘ dargestellt, u. a. für Nietzsches Einschätzung Russlands als „einzige Macht“ Europas, die „Etwas noch versprechen kann“ (GD Streifzüge, 39, KSA 6, S. 141). Ob dies eine Überschätzung war oder aber ein Hinweis auf eine Option, wie die tragende Bedeutung der Moral für das Leben neu verstanden werden könnte, in beiden Fällen war sie mit Nietzsches Projekt einer „Philosophie der Zukunft“ auf tiefste Weise verbunden. Indem er sich mal als ersten und mal als letzten Philosophen bezeichnete,71 brachte er immer wieder denselben Zweifel und dieselbe Hoffnung zum Ausdruck – den Zweifel, dass die Philosophie über ihre grundlegenden Vorurteile hinaus noch sinnvoll betrieben werden kann; die Hoffnung auf immer neue Alternativen zu den von ihm erratenen Plausibilitäten, d. h. die Hoffnung, dass das wechselseitige Spiel vom Erraten und Sich-Verraten, von De- und Neuplausibilisierung der eigenen Anhaltspunkte und der eigenen Lebensperspektive immer noch den Philosophen vorbehalten bleibt. Von dieser Hoffnung ist auch die vorliegende Untersuchung getragen. Wenn es ihr gelingt, nicht nur die deutsch-russischen Differenzen in der Moralphilosophie zur Sprache zu bringen, sondern auch den Anstoß zum Neudenken ihrer alten Fragen zu geben, wird sie ihre Aufgabe als erfüllt ansehen.
nicht ausführlich expliziert werden. Darüber hinaus sollten sie in den Kontext von Phänomenen des russischen Hegelianismus, des Marxismus oder der späteren Auseinandersetzung mit Heidegger gestellt werden. Selbst eine nur vorläufige Betrachtung all dieser Fragen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 71 Genauer gesagt nannte er sich „de[n] letzte[n] Jünger und Eingeweihte[n] des Gottes Dionysos“, der als Gott Philosoph ist (JGB 295, KSA 5, S. 238).
Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Die Ansicht, dass Kants Kritik des Vermögens der Vernunft eine radikale Wendung im Denken des Abendlandes vollbracht und die Philosophie der folgenden zwei Jahrhunderte stark geprägt hat, gilt längst als Gemeinplatz der Philosophiegeschichte. Durch die konsequente Abgrenzung des praktischen und des theoretischen Gebrauchs der Vernunft ist es Kant tatsächlich gelungen, zwar nicht ein System im klassischen Sinne, aber doch ein für theoretisch-metaphysische Angriffe unanfechtbares philosophisches „Bauwerk“ zu vollenden, ohne das eigentliche Vernunftinteresse zu opfern – das Interesse an der „objectiven Realität“ ihrer Ideen (KU, AA 5, S. 300). Das Praktische wurde dabei zum eigentlichen Kompetenzbereich der Vernunft, in dem sie nicht der steten Gefahr ausgeliefert ist, sich auf der Reise durch den „stürmischen Ozean“ des dialektischen Scheins in einer „Nebelbank“ zu verlieren (KrV A 236/B 295). Nur im Praktischen ist die Vernunft gesetzgebend und sind ihre Ansprüche berechtigt. Hier kann die Vernunft ihren eigentlichen Sitz einnehmen, ihre rechtmäßige Erbschaft einfordern: als „Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“, als Vermögen zur Handlung (MS, AA 6, S. 211). Aber auch die Synthesis des Mannigfaltigen, die unerlässliche Bedingung der Erkenntnis, bezeichnet Kant als Handlung (KrV A 77/B 102). Insofern wird der theoretische Gebrauch der Vernunft dem praktischen, d. h. der Fähigkeit, das Intelligible in der Sinnenwelt zu verwirklichen, untergeordnet, und eine Brücke zwischen dem Intelligiblen und der Welt der Erscheinungen geschlagen. Das Vermögen dazu bekommt einen weiteren Namen, der allerdings kein geringer ist:
Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben. (MS, AA 6, S. 211)
Das Leben ist mit dem Vermögen, die Vernunft praktisch umzusetzen, mit dem Vermögen, vernünftig zu handeln, für vernünftige Wesen identisch. Für unsere Fragestellung ist diese Definition des Lebens als des primären Bereichs der Vernunft von erstrangiger Bedeutung.1 Die Aufgabe der Kritik, die Möglichkeit des Praktischen vor den unrechtmäßigen Forderungen der Vernunft zu retten,
1 Zu den Einwänden gegen Kants Moralphilosophie, sie sei dem Begriff des Lebens fremd geblieben und stelle eine „Vergewaltigung des Lebens durch die Logik“ dar, vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, S. 186. Volker Gerhardt dagegen zeigt, dass die beiden Begriffe, die Vernunft und das Leben, auf eine gegenseitige Erläuterung und Begründung angewiesen sind und legt Kants Philosophie so als „Philosophie des Lebens“ aus (Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, S. 31). Vgl. dazu auch Josef Simon: „Die […] nachkritische philosophische Doktrin steht nicht mehr im Dienst des Wissens […], sondern des Lebens mit dem Zweck, einen vernunft
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
wird durch die Identifizierung des Lebens mit dem praktischen Prinzip der Vernunft hervorgehoben und erfüllt. Die Vernunft, die auf eigene theoretische Anmaßungen verzichtet, wird nicht bloß in Fragen des Lebens kompetent, sondern beansprucht auch ein exklusives Recht, das Leben zu fördern. Die Frage, was das Leben für ein unvernünftiges Wesen bedeuten könnte, lässt sich vernünftigerweise nicht stellen.2 Die Vernunft ist, sofern sie als Selbstbestimmung des Begehrungsvermögens, d. h. als praktische Vernunft, verstanden wird, die Ermöglichung des Lebens für den Menschen.3 Den Maßstab für die Lebendigkeit der vernünftigen Wesen gibt damit die praktische Vernunft bzw. der Wille.4 Der Letztere als Vermögen, sich durch die Prinzipien bestimmen zu lassen, die von der besonderen Beschaffenheit des Subjekts unabhängig sind, als Vermögen zur Reinigung eigener Triebfedern von allem Empirischen, erhebt das Unpersönlich-Allgemeine zum Kriterium der einzelnen Handlungen. Diese Identifikation des menschlichen Lebens mit dem Willen, dem die Vorstellung des Allgemeinen zur Richtschnur wird, die Identifikation der Freiheit mit der Autonomie des Willens5 und später mit der Heautonomie der Urteilskraft sind Kants wichtigste Schritte zur Vervollkommnung der Moral aus Vernunft gewesen, die dem russischen Denken jedoch als eine Vereinfachung des Rätsels der menschlichen Existenz fragwürdig erschienen. Der Begriff des Lebens wurde hier als Gegenbegriff gegen Kant, aber auch gegen die abendländische Moralphilosophie im Ganzen ausgespielt. Die Relativierung des moralischen Ansatzes der Vernunft aus der Perspektive des Lebens und das Misstrauen gegen Kants Voraussetzung der Zweckmäßigkeit der Gemütskräfte zur Auffassung des Rätsels des Lebens führten konsequenterweise zu Nietzsches Kritik der kantischen kritischen Vernunft. Insofern blieb Kant als Hauptgegner, als Spitze der Gegenbewegung im russischen Denken präsent und unersetzlich. Denn Kants Vervollkommnung der Moral aus Vernunft wurde als Ausgangspunkt der Um
gemäßen Begriff des Wissens in seiner Bedeutung für das Leben zu vermitteln“ (Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 6). 2 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA 4, S. 544. Der Begriff des Lebens ist hier, wenn auch in metaphysischer Absicht, mit Denken und Begehren identifiziert. 3 Vgl. die in der Kritik der reinen Vernunft vorkommende „transzendentale Hypothese“, „daß alles Leben eigentlich nur intelligibel sei“, die allerdings ein problematisches Urteil bleibt, das als Privatmeinung gegen „entgegengesetzte transzendente Anmaßungen“ nützlich sein kann (KrV A 789/ B 808 f.). Laut derReligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft soll die Menschheit als Naturanlage „eines lebenden und zugleich vernünftigen“ Wesens verstanden werden (RGV, AA 6, S. 26). 4 Das Begehrungsvermögen als oberes Vermögen ist der Wille oder die praktische Vernunft. Zwar sind für die Beförderung des Lebens auch die unteren Begehrungsvermögen notwendig, dennoch, so Kant, „gäbe es keine bloß formale Gesetze desselben, die den Willen hinreichend bestimmen, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können“, und der Wille könnte niemals einen berechtigten Anspruch erheben, allein der Bestimmungsgrund der Willkür zu sein (KpV, AA 5, S. 22). Das wäre so viel als zu sagen, es wäre kein Wille als solcher denkbar. 5 Vgl. „[…]denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe […].“ (GMS, AA 4, S. 450)
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
orientierung der europäischen Philosophie betrachtet: als Kontinuität des aus russischer Sicht westlich-rationalen, „optimistischen“ Gangs der Vernunft und zugleich als aus dem kritischen Ansatz folgende Diskontinuität dieses Gangs, die unvermeidlich zur „vornehmen Skepsis“ (FW 358, KSA 3, S. 603) und zum Pessimismus im Sinne Nietzsches führte.6 In dieser Perspektive treten einige Aspekte von Kants kritischem Unternehmen in den Vordergrund. Neben dem Begriff des Lebens taucht ein weiterer Schlüsselbegriff auf, der zur Vervollkommnung des kantischen Projekts der Vernunftkritik führen sollte: der des Schönen. An das Rätsel des Lebens bzw. des Organischen kann nach Kant allein die reflektierende Urteilskraft herankommen. Ihr apriorisches Prinzip findet sie jedoch weder im theoretischen noch im praktischen Bereich, sondern im Urteilen über Geschmacksachen.7 Das Schöne führt bei sich „directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens“ (KU, AA 5, S. 244), und das Erlebnis des Schönen wird von einem „belebende[n] Princip im Gemüthe“ begleitet, d. h. vom „Schwung“ eines Spiels, „welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt“ (KU, AA 5, S. 313). So kommt Kant zu dem Begriff, der eine zentrale Rolle für Hegels Auseinandersetzung mit seiner Philosophie spielen wird: zum Begriff des Geistes, allerdings mit einem einschränkendem Zusatz – „der Geist, in ästhetischer Bedeutung“. Der Geist gibt Kants Begriff des Lebens einen neuen Sinn.8 Das Leben ist nicht nur das Vermögen zu handeln, sondern auch die Freiheit des Spiels, die den Kräften (und nicht nur den Gemütskräften, sondern auch denen des Körpers, wie im Lachen oder im Hören der Musik9) zum harmonischen Miteinander, zum „Gefühl der Gesundheit“ verhilft (KU, AA 5, S. 331 ff.). Es ist die Freiheit aller Gemütskräfte, in der sich die Lebenskraft zeigt, die lebendige und vollkommene Freiheit des Geistes, die sich von der Freiheit des Willens unterscheiden lässt und ihr sogar in gewissem Sinne überlegen ist.10 So wird durch den Begriff des Lebens die Differenz zwischen der Moral und
6 Vgl. GT 18, KSA 1, S. 118. Kant selber wies bekanntlich alle Vorwürfe zurück, er habe der Skepsis die Tür geöffnet. S. z. B. Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8, S. 146. 7 Vgl. Reinhard Brandts Interpretation ästhetischer Urteile als Ausdruck der ursprünglichen Tätigkeit der Vernunft, die sich als Gefühl des Lebens in Bezug auf alles Erkennen und Begehren erweist: Reinhard Brandt, Die Schönheit der Kristalle. Überlegungen zu Kants Kritik der Urteilskraft. 8 Wie Werner Stegmaier bemerkt, führt „die Kritik der reflektierenden Urteilskraft“ „Kant über den Begriff der Vernunft hinaus zum Begriff des Geistes als einem Begriff nicht mehr nur für die Einheit, sondern für die Dynamik der Erkenntniskräfte“ (Werner Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 115). 9 Kant beschreibt ihre Wirkung physiologisch, als Übergang von den ästhetischen Ideen zum „Spiel von der Empfindung des Körpers“ (KU, 332). „D a s L a c h e n i s t e i n A f f e c t“ (KU, AA 5, S. 332), die Musik die „Sprache der Affecte[ ]“ (KU, AA 5, S. 328). 10 So deutet Kant selbst diesen Unterschied: „Denn wo das sittliche Gesetz spricht, da gibt es objektiv weiter keine freie Wahl.“ In ästhetischer Absicht ist dagegen die Einbildungskraft von allen Schranken befreit. Indem sie „mit dem Gegenstand des Wohlgefallens nur spielt“, versetzt sie das Gemüt in ein freies Spiel mit sich selbst (KU, AA 5, S. 210). Nach Birgit Recki handelt es sich im Ästhetischen und Ethischen weder um verschiedene Grade der Freiheit noch um verschiedene Begriffe der Freiheit,
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der Kunst, dem Guten und dem Schönen, der Vernunft und dem Geist bedeutsam. Auf diese Spannung geht Kant in seiner dritten Kritik ausführlich ein. Die besondere Stellung der Kritik der Urteilskraft, ihre Aufgaben und ihre Rolle für das kritische Unternehmen der Vernunft werden in der Kant-Forschung unterschiedlich gedeutet: ob sie eine systematische Vollendung darstelle11 oder gerade einen Beweis von deren Unmöglichkeit;12 ob es hier primär um die Teleologie bzw. die Begründung der naturwissenschaftlichen Forschung13 oder um die Hervorhebung des
sondern um „vielmehr verschiedene kontextspezifische Weisen ihrer Realisierung“ (Birgit Recki, Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft, S. 204). Was diese Kontextspezifik bedeutet, soll im Folgenden geklärt werden. Zu Differenzen im Begriff der Autonomie im Praktischen (im Handeln) und in der Ästhetik (im Urteilen über das Schöne) s. Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 291 ff. 11 Vgl. die kooperative Interpretation „Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft“. In dem einleitenden Beitrag von Otfried Höffe werden drei Aufgaben der dritten Kritik überzeugend dargelegt: Als erste das Systeminteresse, als zweite die Untersuchung zweier Bereiche, die sich einer Theorie entziehen, nämlich des Ästhetischen und des Lebendigen, und, last but not least, eine Revision der bisherigen Ergebnisse der kritischen Philosophie als Folge der beiden ersten Aufgaben (Otfried Höffe, Einführung in Kants Kritik der Urteilskraft). Anders als Höffe interpretiert jedoch Josef Früchtl Kants dritte Kritik zwar als Ergänzung der ersten zwei und Begründung ihrer Einheit, doch in der Meinung, ihre Bedeutung trete nur dann in den Vordergrund, wenn man postmodern bzw. nachmetaphysisch urteilt, „daß nämlich Kant seine epistemologische und moralphilosophische Grundlegung in der Tat nicht gelingt“ (Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, S. 422). Zum Thema s. auch den Sammelband: Reinhard Hiltscher, Stefan Klingner, David Süß (Hg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants „Kritik der Urteilskraft“. 12 Eine Tendenz, Kants dritte Kritik als einen besonderen Teil zu betrachten, mit dem es Kant um das Ästhetische bzw. um das Schöne bloß als Anhang zu den theoretischen und praktischen Teilen geht, hat Wolfgang Bartuschat bei den neukantianischen Interpreten ausgemacht (Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, S. 7). Er versucht dagegen, durch eine systematische Untersuchung der dritten Kritik, Kants „theoretische und praktische Philosophie als Momente eines Systems“ zu deuten, „das seine Möglichkeit in einem Prinzip hat“ (S. 8). Dafür werden die beiden ersten Kritiken „unter einem Aspekt betrachtet, auf den Kant selbst in ihnen nicht reflektiert hat“ (S. 79): Die Urteilskraft wird trotz der „Nicht-Thematisierung“ in Kants ersten Kritiken zur zentralen Instanz, die zwischen Denken und Sinnlichkeit bzw. zwischen „Prinzip und Gegebenheit“ vermittelt, und die der Vernunft schließlich zwar keine doktrinale, aber doch eine systematische Einheit verschaffen soll. Die reflektierende Urteilskraft, so Wolfgang Bartuschat, ermöglicht dem Urteilenden erst, die Sinnlichkeit mit Spontaneität zu verknüpfen (S. 250 f.). Laut Robert Kudielka hatte das Bestreiten der organischen Einheit nicht nur der drei Kritiken, sondern auch der dritten Kritik als solcher durch Schopenhauer zur Folge, dass „die Kantforschung […] sich diesem Verdikt stillschweigend angeschlossen“ hat (Robert Kudielka, Urteil und Eros, Erörterungen zu Kants Kritik der Urteilskraft, S. 16). Kritisch zur Trennung zweier Teile der dritten Kritik, die nicht nur von Schopenhauer, sondern auch von mehreren Forschern als gewaltsam verknüpft angesehen werden, s. z. B. Jochen Bojanowski, Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie (Einleitung I–V), bes. S. 25. 13 Dies ist nach Gadamer Kants primäre Intention in der Kritik der Urteilskraft. Deswegen wurde die Naturschönheit der Kunstschönheit vorgezogen, was soviel bedeutet: „Kants transzendentale Reflexion aus einem Apriori der Urteilskraft rechtfertigt den Anspruch des ästhetischen Urteils, läßt aber eine philosophische Ästhetik im Sinne einer Philosophie der Kunst im Grunde nicht zu (Kant selbst sagt: der
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Werts des Sinnlichen gehe;14 ob sie von einer Erweiterung des kritischen Anliegens handle15 oder vielmehr von einer Kunstphilosophie.16 Hier gibt es sichtlich viel Spielraum für Interpretationen, und jede bietet eine andere Perspektive nicht nur auf dieses Werk, sondern auf das Ganze der Kritik.17 Auch wenn die Aufgaben der dritten Kritik
Kritik entspricht hier keine Doktrin oder Metaphysik)“ (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 51 f.). Diese Gleichsetzung der Kunstphilosophie mit dem, was Kant Doktrin oder Metaphysik der Kunst nennt, scheint allerdings gerade für die Kritik der Urteilskraft nicht plausibel zu sein. 14 So sieht Georg Römpp in der Kritik der Urteilskraft eine Ergänzung der bereits konzipierten Theorie der Freiheit, nach der Freiheit und Sinnlichkeit gerade nicht als diametrale Gegensätze zu fassen sind; die Freiheit sollte in der Sinnenwelt denkbar sein. Römpp weist in diesem Zusammenhang auf „Schillers Verdienst“ hin, die zweite und die dritte Kritik „in einem einzigen Gedankengang zusammenzufassen“ (Georg Römpp, Schönheit als Erfahrung von Freiheit. Zur transzendentallogischen Bedeutung des Schönen in Schillers Ästhetik, S. 429). Dabei wird wiederum die integrierende Rolle von Kants Philosophie des Schönen hervorgehoben. Auch wenn zu bezweifeln ist, ob diese Lektüre Kants durch Schillers Ästhetik den Freiheitsbegriff hinreichend differenziert in Betracht zieht: Das freie Spiel aller Erkenntnisvermögen und die Spontaneität der Selbstbestimmung scheinen gerade bei Kant nicht auf einander reduzierbar zu sein. Vgl. Friedrich Schiller, Kallias-Briefe. Weiter zum Thema s. Gerhard Blum, Zum Begriff des Schönen in Kants und Schillers ästhetischen Schriften,; Wolfgang Düsing, Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität.; Ulrich Tschierske, Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität. 15 S. bspw. Hjördis Nerheim, Zur kritischen Funktion ästhetischer Rationalität in Kants Kritik der Urteilskraft. 16 Zwar beschäftigt sich die Kritik der Urteilskraft primär mit den ästhetischen Urteilen bzw. ihren Möglichkeitsbedingungen, dennoch kann diese Fragestellung als besonderer Einstieg in die Kunsttheorie betrachtet werden. Schon Schiller und Goethe haben sie unter diesem Blickwinkel gelesen. In der Geschichte der späteren Kant-Rezeption und der philosophischen Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik stellt Lyotards Kant-Lektüre eine wesentliche Verschiebung des Interesses von der Frage nach dem Schönen und v. a. dem Naturschönen zur Frage nach dem Erhabenen und zur Kunsttheorie dar (Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft, §§ 23–29). Die Frage, ob Kants dritte Kritik eine Kunstphilosophie enthält, gehört allerdings zu den viel diskutierten Problemen der Kantforschung, wobei das Spektrum der möglichen Antworten von der Negation bis zur zugespitzten These reicht, die Philosophie der Kunst sei der wichtigste Teil von Kants „Kritik der ästhetischen Urteile“. S. z. B. die Beiträge von Serge Trottein, Esthétique ou philosophie de l’art? und Christel Fricke, Kants Theorie der schönen Kunst. Es gibt auch zahlreiche Versuche, die Kritik der Urteilskraft „indirekt“ zu lesen bzw. sie als Grundlage für eine Interpretation der zeitgenössischen Kunst auszulegen (Gernot Böhme, Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht) oder vor dem Hintergrund der modernen Kunstphänomene bzw. Kunsttheorien auf ihre Tragweite hin zu überprüfen (Heinz Spremberg, Zur Aktualität der Ästhetik Immanuel Kants. Ein Versuch zu Kants ästhetischer Urteilstheorie mit Blick auf Wittgenstein und Sibley). Vgl. auch Walter Biemel, Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst. 17 Zu Zwischenpositionen und Einzelfragen vgl. auch Andrea Esser (Hg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik. Die Literatur zur Kritik der Urteilskraft ist umfangreich. Ich kann hier nur auf einzelne, für meine Fragestellung besonders wichtige Untersuchungen hinweisen, die sich um eine konsistente Auslegung des Werkes bemühen, in denen die Kritik der Urteile über das Schöne in ihrer Bedeutung für die Philosophie Kants dargestellt wird. S. Henry E. Allison, Kant’s Theory of Taste: A Reading of the Critique of Aesthetic Judgment; Donald W. Crawford, Kants’s Aesthetic Theory; Paul Guyer, Kant and the Claims of Taste; Ted Cohen, Paul Guyer (Hg.), Essays in Kant’s Aesthetics; Georg
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strittig bleiben, ist sie eine unerschöpfliche Quelle für jede dieser Fragestellungen. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass sich Kants eigene Sicht auf die Aufgabe der dritten Kritik im Lauf ihrer Niederschrift wenn auch nicht grundsätzlich verändert, so doch wesentlich verschoben hat.18 Wenn es sein ursprüngliches Ziel war, den theoretischen und den praktischen Gebrauch der Vernunft in ein System zusammenzuführen, so scheiterte er am Ende damit. Im Unterschied zur ersten Einleitung lässt Kant in der zweiten, der veröffentlichten Version das Wort „System“ gerade fallen. Die Aufgabe der dritten Kritik wird hier als bloßer „Übergang“ und „Verknüpfung“ zwischen zwei radikal unterschiedlichen Prinzipien des Theoretischen und Praktischen umgedeutet.19 So stelle die Kritik der Urteilskraft zwar die Vollendung seines kritischen Unternehmens dar, stoße aber an eine Grenze, an der die Vernunft „der Natur ihr Geheimniß“ nicht „gänzlich ablocken“ kann (KU, AA 5, S. 233). Bezeichnenderweise hat diese Grenze, an der das Rätselhafte der Vernunft sich zeigt, ihre Gegenstücke in den beiden ersten Kritiken. Mit folgender These hat Kant seine Kritik der reinen Vernunft eröffnet: Das Schicksal der menschlichen Vernunft, „durch Fragen belästigt“ zu werden, die sie weder abweisen noch beantworten kann (KrV A VII), ist auch das Rätselhafte, das die Vernunft an ihre Grenzen treibt, wo sie ihre Neugier nie befriedigen kann. Aber auch die praktische Vernunft kommt an ihre Grenze, wo keine Erklärung mehr möglich ist: Das „Factum der Vernunft“ bleibt als unerforschliche und dennoch einzig mögliche Legitimation ihrer Ansprüche nur in seiner Unbegreiflichkeit begriffen.20 Jedoch konnten beide Rätsel im theoretischen
Kohler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung: Beiträge zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“; Jens Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils; Gérard Lebrun, Kant et la fin de la métaphysique: essai sur la critique de la faculté de juger; Luigi Pareyson, L’Estetica di Kant. 18 Nach der scharfsinnigen und, meines Erachtens, immer noch aktuellen Bemerkung von Gerold Prauss trägt die Forschungsliteratur „viel zu wenig“ „der Tatsache Rechnung, daß Kant vielmehr entgegen diesem Anschein der Entschiedenheit, den sie erwecken, […] [s]ogar inmitten der veröffentlichten Schriften seiner klassisch-kritischen Periode […] noch auf Schritt und Tritt in Experimenten begriffen [ist], deren Ausgang für ihn selbst und dann erst recht für seine Leser offen bleibt“ (Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 9.). 19 Das System ist unmöglich, weil die Freiheit „nicht zusammen mit der Natur in einem Dritten aufgehoben“ werden konnte (Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 102). Kant hat darauf ausdrücklich verzichtet. In der veröffentlichten Variante spricht er von der Verknüpfung zweier Prinzipien, nicht von ihrer Einheit und nicht von dem System. Dieses Verschieben der Begrifflichkeit wird in den Untersuchungen zur dritten Kritik nicht immer genug beachtet. S. etwa den schon genannten Beitrag von Jochen Bojanowski, der das Problem der Einheit der Philosophie anhand der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft darstellt, ohne den Unterschied zwischen der ersten und zweiten Einleitung ausdrücklich anzusprechen. Zu einem ausführlichen Vergleich beider Einleitungen s. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, S. 59 ff. Über die Entstehung der ersten Einleitung s. Norbert Hinske, Zur Geschichte des Textes, S. III–XII. 20 Der theoretischen Vernunft ist ihre Grenze in der Annahme einer „absolute[n] Notwendigkeit irgendeiner obersten Ursache der Welt“, der praktischen durch „die absolute Notwendigkeit“ „der Gesetze der Handlungen eines vernünftigen Wesens“ gezogen (GMS, AA 4, S. 463).
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und im praktischen Gebrauch der Vernunft durch die Unterscheidung von Noumena und Phaenomena ausgegrenzt werden, bzw. dadurch, dass das Übersinnliche als für die Erkenntnis unerreichbar, seine Annahme als Bestimmungsgrund der Handlung dagegen als unumgänglich vorausgesetzt wurde.21 Unter diesen Bedingungen wurde ein konsequenter Gang der Kritik in aller Deutlichkeit möglich. Es ist nun die Urteilskraft, in der das Rätselhafte unseres Gemüts sich nicht ausklammern, nicht unter bestimmten Voraussetzungen zurückweisen lässt. Die „Dunkelheit in der Auflösung“ des „Problems“ lässt sich nicht vermeiden (KU, AA 5, S. 170). Das in concreto urteilende und handelnde Subjekt hat keine Regel als Kriterium für seine Urteile, nur das Kriterium des Passens, für das wiederum nur ein Merkmal vorhanden ist: das Gefühl der Lust. Ob dieses Gefühl als Genese der Erkenntnis zu verstehen ist oder sich nur auf die Geschmacksurteile bezieht, bleibt Gegenstand der Diskussion bis heute.22 Die Antwort hängt wesentlich davon ab, wie man die Stellung der Urteilskraft und ihre Notwendigkeit für das Ganze der Architektonik der Kritik bewertet, aber auch davon, ob Kant als Theoretiker der Erkenntnis und philosophischer Systematiker betrachtet wird23 oder ob man seine größte „Errungenschaft“ eher in dem „ungeheuren Fragezeichen“ sieht, welches das kritische Unternehmen ausmacht:24 das Infragestellen und Zurückweisen der theoretischen Anmaßungen der Vernunft durch sie selbst. Im letzteren Fall kommt der Kritik der Urteilskraft, gerade weil sie keinen doktrinalen Teil der Philosophie ausmachen kann, die Würde zu, das Gewölbe des kritischen Unternehmens der Vernunft zu schließen, deren Untersuchung zur Sicherung des Bodens des ganzen Gebäudes vor dem „Einsturz“ notwendig war, „damit es nicht an irgend einem Teile sinke“ (KU, AA 5, S. 168). Das bedeutet, dass die ersten zwei Kritiken diese Sicherheit noch nicht erreicht haben. Die Urteilskraft stellt dementsprechend nicht bloß eine Verknüpfung der heterogenen Prinzipien dar.25 Vielmehr geht es um die
21 Zu Kants Grenzziehung im theoretischen und praktischen Gebrauch der Vernunft s. Wilhelm Vossenkuhl, „Von der äußeren Grenze aller praktischen Philosophie“, S. 311. 22 Wolfgang Wieland schlägt vor, das Problem, dass „Erkennbarkeit und Schönheit konvergieren“, durch die Unterscheidung von Begründung und Genese der Erkenntnis zu lösen (Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, S. 362 ff.). Zu dieser Debatte s. Dieter Henrich, Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World. Studies in Kant, S. 43 f. 23 Diese Perspektive wird öfters pauschal als die des Neukantianismus bezeichnet. Dennoch ist letzterer sowohl in Ansehung seiner eigenen Aufgaben als auch in seiner Betrachtungsweise der Aufgaben Kants keineswegs homogen. Vgl. dazu Ernst Wolfgang Orth, Helmut Holzhey (Hg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme. S. besonders die Einleitung von Ernst Wolfgang Orth, Die Einheit des Neukantianismus (S. 13–30). Unter anderem weist Orth auf die Formulierung von Ernst Cassirer hin, der im Anschluss an den Enzyklopädisten d’Alembert sagte, „der esprit de système sei durch den esprit systématique zu ersetzen“ (Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 9; zit. nach dem Beitrag von Orth, S. 16). 24 Vgl. FW 357, KSA, 3, S. 598. Auf diese Einschätzung Nietzsches wird ausführlicher im nächsten Kapitel eingegangen. 25 Wolfgang Bartuschat sieht die Notwendigkeit der Urteilskraft vor allem in der Verbindung der verschiedenen Prinzipien, durch die eine systematische Einheit entsteht. Er macht dennoch deutlich,
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Möglichkeit und Tragweite des ganzen Gebrauchs der Vernunft für das in concreto urteilende Subjekt, das im Bereich der Naturerkenntnisse, der Handlung und des Genusses zurechtkommen muss. Im Folgenden wird die Notwendigkeit der Urteilskraft für die Vervollkommnung der Moral aus Vernunft als Plausibilität der Kritik betrachtet, die all ihre anderen Plausibilitäten legitimiert. Grundlegend ist hier der Ansatz von Josef Simon, der in Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie eine neue Perspektive in der Kant-Interpretation bietet, indem er Kant als Wegbereiter Nietzsches, aber auch Wittgensteins und Levinas', liest. Simon zeigt u. a., dass wichtige Aspekte der Wende Kants von den späteren Philosophien nicht überboten und schon gar nicht widerlegt, sondern weiter erschlossen und entwickelt wurden. Dafür wird der Schwerpunkt vom normativen Begriff der allgemeinen Menschenvernunft, an der alle Vernunftwesen gleichermaßen beteiligt sein sollen, auf die irreduzible ästhetische Differenz zwischen meiner und der mir prinzipiell nicht zugänglichen fremden Vernunft verlagert. Als Quelle des Irrtums sieht Kant Simon zufolge nicht den Einfluss der Sinnlichkeit auf das Urteilen, sondern das Nicht-Bemerken der unvermeidlichen ästhetischen Bedingtheit des eigenen Urteils. Das gilt auch für die moralischen Urteile: Denn nicht die Neigungen sind die Quelle des Bösen, und nicht die Vertilgung des Tierischen ist der Weg zum Guten, sondern das stetige Bedenken, inwiefern der Handelnde sich seiner Vernunft bedient hat oder vielmehr sich durch die eigene ästhetische Beschaffenheit bedingen ließ, d. h. das Bedenken, inwiefern sein moralisches Urteil nicht unfehlbar sein mag. Dies ist die eigentliche Begründung der Notwendigkeit der Kritik als des einzigen Weges, der Kant zufolge der Philosophie „noch offen“ steht (KrV A 856/B 884): Für die nicht rein vernünftigen, ästhetisch bedingten Wesen führt der Weg zur Vernunft immer nur über die Kritik an der eigenen Vernunft in ihrem eigenen Gebrauch. D. h.: Er verläuft über die Urteilskraft als Vermögen, das nicht gelehrt, sondern nur geübt werden kann (KrV A 133/B 172). Es ist eine moralische Pflicht, die Unvollkommenheit der eigenen Urteilskraft zu bedenken. Simon betont dabei nicht nur den Primat des praktischen Gebrauchs der Vernunft vor dem theoretischen, sondern auch den propädeutischen Charakter der Kritik, die, nachdem die Begriffe und Prinzipien in der Elementarlehre analysiert und deduziert wurden, zur Methodenlehre übergehen muss.26 Die Struktur aller drei Kriti
dass sich letztere auf kein Prinzip, sondern nur auf das „Medium der subjektiven Spontaneität“ gründen lässt. Die Urteilskraft wird allerdings hier nur deswegen als notwendig angesehen, weil die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft bezeichnenderweise als Kants „doktrinale Philosophie“ bzw. „unter dem Aspekt ihrer Doktrinalität“ betrachtet werden. Diese wird als ihre „Tauglichkeit“ verstanden, den Bezug „auf einen zu konstruierenden objektiven Bereich“ herzustellen (Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, S. 246 ff.). Es ist also nicht nur die Verbindung zwischen zwei Bereichen der Vernunft, die die Urteilskraft leistet, sondern sie behebt auch und v. a. die Mangelhaftigkeit beider, die aus ihrem objektiven Anspruch entsteht. 26 Nur für die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ ist das anders. Dies wird von Kant damit begründet, dass „das Urtheil des Geschmacks nicht durch Principien bestimmbar ist“ (KU, AA 5, S. 355).
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ken, so Simon, zeigt, dass jene Aufgabe, die normativen Prinzipien aufzufinden und festzuhalten, nur aufgrund der Unterscheidung bestimmt werden kann, die Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft hervorhebt und die in der dritten Kritik noch an Bedeutung gewinnt: die Unterscheidung der Stufen bzw. der Modi des Fürwahrhaltens als Meinen, Wissen und Glauben.27 Der Irrtum besteht nicht darin, dass der Urteilende bestimmte Meinungen hat, sondern darin, dass er sie für Wissen hält.28 Wie Simon es ausdrückt, kann man von der Kritik her nur sagen, dass „der Wissende zu wissen glaubt“29 oder, anders gesagt, dass das Wissen mit seinem objektiven Anspruch „zum eigentlichen Gegenstand der Kritik“ geworden ist.30 Man kann sich überreden bzw. überreden lassen, man habe objektiv hinreichende Gründe für sein Fürwahrhalten (das Wissen), wo in Wirklichkeit nur subjektive Gründe gelten (der Glaube) oder aber sowohl objektive als auch subjektive Begründungen unzureichend sind (das Meinen). Das Problem ist, dass man diese Stufen des Fürwahrhaltens nicht mit Sicherheit vom eigenen Standpunkt aus unterscheiden kann. „Wer überredet ist, hält sich selbst für überzeugt“.31 Man muss darum die „Privatgültigkeit des Urtheils“ „mit den Gründen“ des Fürwahrhaltens, „die für uns gültig sind, an andere[m] Verstand“ testen, „ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung thun, als auf die unsrige“ (KrV B 849). Simon hebt die folgende Stelle der Kritik hervor:
Der Probirstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also äußerlich die Möglichkeit, dasselbe mitzutheilen, und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden […]. (KrV A 821/B 848)
Dieser für Kants kritischen Ansatz grundlegende Gedanke kommt nochmals besonders deutlich (und das ist kein Zufall) in der Kritik der Urteilskraft zum Ausdruck: Erkenntnisse und Urtheile müssen sich sammt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mittheilen lassen; denn sonst käme ihnen keine Übereinstimmung mit dem Object zu: sie wären insgesammt ein bloß subjectives Spiel der Vorstellungskräfte, gerade so wie es der Skepticism verlangt. (KU, AA 5, S. 238)
Die Mitteilung ist somit nach Kant der einzig mögliche Weg, die Überzeugung von der Überredung abzugrenzen, d. h. „etwas in ihm, was bloße Überredung ist, zu
27 Vgl. KrV A 822/B 850; Logik, AA 9, S. 65. 28 Vgl. „Man kann vor allem Irrthum gesichert bleiben, wenn man sich da nicht unterfängt zu urtheilen, wo man nicht so viel weiß, als zu einem bestimmenden Urtheile erforderlich ist. Also ist Unwissenheit an sich die Ursache zwar der Schranken, aber nicht der Irrthümer in unserer Erkenntniß“ (Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8, S. 136). In Kants Antwort auf den sog. Spinozismus-Streit wird die Unterscheidung der Modi des Fürwahrhaltens wiederum bedeutsam (Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8, S. 141). 29 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 81. 30 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 89. 31 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 69.
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entdecken“. Dies aber bedeutet, dass, indem die Erkenntnisse und Urteile mitgeteilt werden, der Sprache eine besondere Funktion zukommt, die Begriffe der Philosophie immer neu zu verdeutlichen. Letztere, so macht Kant in der Methodenlehre zur ersten Kritik deutlich, stehen „niemals in sicheren Grenzen“ und ihnen soll, im Unterschied zu den Begriffen der Mathematik, der „Ehrenname[ ] der Definition“ verweigert werden. Sie seien keine Definitionen, sondern immer nur „Expositionen“ (KrV A 729 f./ B 757 f.), die immer noch „ad melius esse“ (KrV A 731/B 759) versucht werden müssen. Dieses Verständnis der philosophischen Sprache garantiert zugleich, so Simon, beständige Offenheit des kritischen Unternehmens und seine moralische Aufgeladenheit.32 Für die ästhetisch bedingten Vernunftwesen, die Menschen, muss die Vernunft (die selbst ein philosophischer Begriff ist, der auch nur durch Exposition verdeutlicht werden kann) eine Idee der Vernunft bleiben, die nur vorübergehende Gültigkeit erlangen kann, eine vorläufige private Vorstellung von der allgemeinen Menschenvernunft, worin, wie Kant es sagt, „ein jeder seine Stimme hat“ (KrV A 752/B 780). Vom Ansatz Simons her wird die Bedeutsamkeit der Urteilskraft besonders einleuchtend. Wenn das Fürwahrhalten jedes Urteils im theoretischen Gebrauch der Vernunft im Blick auf seine drei Stufen zu bedenken ist, so ist auch die Unterscheidung dieser Stufen selbst Gegenstand eines Urteils, das sich seinerseits nach Arten des Fürwahrhaltens unterscheiden lässt.33 Für die im Theoretischen angesetzte Ur
32 Zur Integration eines moralischen Sollens in den Sprachbegriff s. Georg Römpp, Die Sprache der Freiheit. Kants moralphilosophische Sprachauffassung. V. a. bestreitet Römpp die weit verbreitete Position, dass Kant in seiner theoretischen Philosophie die philosophische Bedeutung der Sprache übersehen hat, die Position, die schon Hamann und Herder vertraten (Johann Georg Hamann, Metakritik über den Purismus der Vernunft; Johann Gottfried Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft). S. die entsprechenden Literaturhinweise bei Römpp (S. 185). Auch in der Moralphilosophie, so Römpp, gäbe es keine Erörterung des Problems. Simons Untersuchungen scheinen diese Lücke gerade auszufüllen. Sie zeigen u. a., dass die Bedeutung der kantischen Sprachauffassung nicht auf das Wahrhaftigkeitsgebot reduziert werden kann, sondern die Offenheit der philosophischen Sprache miteinbezieht. Eine Übersicht zur Frage nach Kants „Verdrängung des Problems der Sprache“ s. bei Jürgen Villers, Kant und das Problem der Sprache. Die historischen und systematischen Gründe für die Sprachlosigkeit der Transzendentalphilosophie, bes. die Ausführungen zur latenten Sprachphilosophie Kants (S. 337–366). 33 Schon Friedrich Kaulbach, der Kant aus Nietzsches Philosophie des Perspektivismus als dessen Vorläufer zu verstehen suchte, hat die kantische Unterscheidung der Stufen bzw. Modi des Fürwahrhaltens betont (Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, S. 95 ff.). Gerade der Perspektivismus der praktischen Vernunft stelle den Handelnden zwischen zwei Weltperspektiven, der der Naturgesetzlichkeit und der der Freiheit. Erst auf dem Hintergrund dieser doppelten Perspektivierung konnte das ausgeführt werden, was Kaulbach das „Experiment der Vernunft“ nennt (S. 116 ff.). Der Glaube im Unterschied zum Wissen stehe, so Kaulbach, wesentlich für eine perspektivische Weltdeutung bzw. einen perspektivischen Begriff der Metaphysik (S. 134). Nichtsdestoweniger meint Kaulbach, „Kant tritt für eine dem Menschen eigentümliche allgemeine Vernunft ein, die zu allen Zeiten die gleichen Züge hat“ (S. 215). Dies kann aber nicht, wie Simon unermüdlich betont, für eine „allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“, zutreffen. Eine Idee der allgemeinen Vernunft muss für jeden Gebrauch der Vernunft bloß regulativ bleiben. Die Perspektivierung betrifft, anders als Kaulbach
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teilskraft bedeutet das, dass über die Unterscheidung der subsumierenden und der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft auch ein Urteil gefällt werden muss, das nur in concreto, d. h. individuell und fehlerhaft möglich ist. Für das Begehrungsvermögen ist die Notwendigkeit der Unterscheidung des Fürwahrhaltens in einem individuellen Urteil noch dringender: die „moralische Urteilskraft“ wird durch „das radicale Böse in der menschlichen Natur“ „verstimmt“, was „die Zurechnung innerlich und äußerlich ganz ungewiß macht“ (RGV, AA 6, S. 38). Wenn das Begehrungsvermögen fähig ist, sich selbst zu täuschen und zu verunsichern,34 so ist es nicht möglich, die Kritik der Urteilskraft in ihrer Tragweite für die Grundlage der Moral aus Vernunft zu überschätzen. Es stellt sich ferner die Frage, ob die Unterscheidung des theoretischen und des praktischen Bereichs der Vernunft selbst in concreto immer eindeutig erfolgen kann bzw. ob die Urteilskraft, die sie unterscheiden soll, nicht bei jedem Gebrauch der Vernunft gefordert ist.35 Ohne kritische Analyse der Urteilskraft als eines individuellen Vermögens wäre das Ganze der Kritik unvollendet geblieben.36 Die Nötigung zu einem dritten Teil des kritischen Unternehmens der Vernunft, d. h. unter anderem zur Untersuchung des Schönen, des Geschmacks und der Kunst, entspringt dem eigentlichen Interesse an ihrem „nothwendigen Geschäfte“. Die Differenz zwischen Prinzipien und ihrer Gültigkeit, zwischen der Vernunft und ihrem Gebrauch, zwischen der Vernunft und der Urteilskraft wird also für Kants Begründung der Moral aus Vernunft bedeutsam, und der Vorwurf eines rein normativen Universalismus bzw. Egalitarismus, den auch Nietzsche und erst recht seine russischen Leser gern gegen Kant erhoben, trifft schon deshalb nicht zu. Dennoch bleibt die kantische Kritik Plausibilitäten verhaftet, deren Kraft in ihrem Nicht-Thematisiert-Sein liegt und die nur von einem anderen Ansatz her sichtbar gemacht werden können: aus dem der Kritik an dieser Kritik. Insofern können Kants Plausibilitäten, wie in der Einleitung angedeutet, erst im nächsten Kapitel zu Nietzsches Kritik am kantischen kritischen Unternehmen erörtert und mit anderen Plausibilitäten konfrontiert werden. In diesem Kapitel wird zunächst Kants eigene Strategie der Plausibilisierung einer Moral aus Vernunft dargestellt, wodurch das Problematische dieser von
es darlegt, jeden einzelnen Handelnden, der das „Experiment der Vernunft“ ausführt bzw. der Gebrauch von seiner Vernunft macht. 34 Die Möglichkeit der „i n n e r e n Lüge“ bleibt zwar rätselhaft und fast widersinnig, muss aber aus guten Gründen zugelassen werden (MS, AA 6, S. 430). Diese Frage wird uns auch noch im nächsten Kapitel beschäftigen. 35 Die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Perspektive scheint, etwa in Bezug auf die heutige Debatte zu ethischen Aspekten der Wissenschaft, tatsächlich problematisch zu werden. 36 Mit Recht bemerkte noch Kroner, die Reflexion bzw. die reflektierende Urteilskraft sei ein Instrument, mittels dessen die Kritik sich „selbst ins Werk setzt“ (Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 239). Weniger überzeugend ist, dass er dies als Anlass für seine Kant-Kritik betrachtet: Kant habe nicht gemerkt, dass es immer die reflektierende Urteilskraft ist, die den Ausgangspunkt für das Ganze der Philosophie ausmacht. Gerade diese ursprüngliche Rolle der Reflexion wird in der dritten Kritik m. E. deutlich.
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Kant der Philosophie auferlegten Aufgabe in den Vordergrund rücken soll. Dabei soll es, es sei noch einmal betont, nicht im Sinne einer Widersprüchlichkeit bzw. eines Scheiterns des kantischen Projekts der Moral aus Vernunft interpretiert werden,37 sondern als Schwierigkeit, die mit der Aufgabe auf tiefste und strengste Weise verbunden ist. Im ersten Teil des Kapitels werden Paradoxien und Tautologien aufgezeigt, in die die kantische rationale Moralbegründung gerät. Im zweiten und dritten Teil wird darauf eingegangen, wie die moralische Urteilskraft nach Kant diese Schwierigkeiten in concreto überwindet, indem sie das urteilende Subjekt nötigt, nach einem „Ergänzungsstück“ der Moralität zu suchen. Im vierten und letzten Teil des Kapitels wird gezeigt, dass die Vervollkommnung der Moral aus Vernunft eine exemplarische ästhetische Verdeutlichung für nicht rein vernünftige Wesen erfordert, die nur als Kunstwerk möglich ist. So wird die Kunst, wenn auch nur wegen der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, am Ende zur eigentlichen Vollendung der Moral aus Vernunft.
1.1 Die Moral aus Vernunft: Paradoxien und Tautologien der radikalen Kritik Die Radikalität ist das konstitutive Prinzip der kantischen Ethik. Der berühmte ‚Rigorismus‘ der kantischen Deutung der moralischen Forderung ist nur ein negatives Wort dafür, das Kant selbst benutzt, um ihm einen positiven Sinn zurückzugeben (RGV, AA 6, S. 22 f.). Er folgt aus dem radikalen Verständnis des Moralischen, d. h. aus einer scharfen Unterscheidung des Guten und Bösen, die diese zwei Begriffe streng voneinander abgrenzt und auseinanderhält. Erst durch den Begriff des Willens scheint diese Radikalität denkbar, weil der gute Wille allein als uneingeschränkt gut gedacht werden kann (GMS, AA 4, S. 393). Für den Willen sind Kompromisse ausgeschlossen: Es gibt nur eine Tugend, nur „eine einzige“ moralische bzw. unmoralische Gesinnung (RGV, AA 6, S. 25).38 Deswegen bedeuten jene Versuche, eine „Mittelstraße“ zu finden und aus einem „Calcul“ die Triebfeder für das Moralische zu ermitteln (MS, AA 6,
37 Dies, wie in der Einleitung schon betont wurde, geschieht nicht nur in der Nietzsche-, sondern auch in der Kant-Forschung. Vgl. dazu Klaus Steigleder, der den Kant-Interpreten vorwirft, „das Werk Kants meist als äußerst uneinheitlich“ und „die einzelnen Werke, überspitzt gesagt, als ein Sammelsurium von gescheiterten Argumenten, groben Fehlschlüssen und weit verfehlten Beweiszielen“ zu betrachten (Klaus Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. XI). Andererseits gibt es genug Arbeiten, in denen Kants Gedankengänge nur aus ihrer inneren Logik dargestellt und nicht in ihrer Plausibilität hinterfragt werden. Die Untersuchung der Plausibilitäten muss versuchen, beiden Tendenzen zu entgehen. 38 Dass die Tugend an sich nur eine sein kann, muss, laut Kant, „mit rigoristischer Bestimmtheit“ behauptet werden, nur das Moralische „in der Erscheinung“ kann in mehrere Tugenden zerfallen (RGV, AA 6, S. 25).
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1.1 Die Moral aus Vernunft: Paradoxien und Tautologien der radikalen Kritik
S. 432), für Kant ein Missverständnis des Moralischen, letztlich die Leugnung des Unterschieds zwischen dem Guten und Bösen, was soviel hieße als die Sittlichkeit selbst zu „untergraben“ und „ihre ganze Erhabenheit [zu] zernichten“ (GMS, AA 4, S. 442). Der gute Wille ist das einzig denkbare Gute, das das Böse radikal ausschließen kann. Doch aus der Radikalität der Unterscheidung von Gutem und Bösem entstehen philosophische Schwierigkeiten.39 Die Maximen einer Handlung können für sich weder gut noch böse sein. Sie entspringen alle den drei Naturanlagen zum Guten. Obwohl man beide Ausdrücke (gute und böse Maximen) bei Kant finden kann, kann nur die Gesinnung gut bzw. böse sein, „d. i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen“. Sie geht damit „allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit“ und sorgt für das richtige bzw. falsche Einordnen der Maxime. Die Gesinnung wird so zur „Beschaffenheit der Willkür“ (RGV, AA 6, S. 25). Nur ein konkretes, als willkürlich gedachtes Einordnen der Maximen, das wesentlich vor der Tat (als ihre Triebfeder) stattfindet, ist gut oder böse und zwar radikal: gut, wenn dadurch die eigene Glückswürdigkeit zur obersten Maxime wird; böse, wenn das Streben nach eigener Glückseligkeit die Oberhand gewinnt.40 Das Verfolgen der letzteren wäre als untergeordnete Maxime keinesfalls böse. Die Beförderung eigener Glückseligkeit wird von Kant sogar als Pflicht bezeichnet (MS, AA 6, S. 385 f.). Das Böse liegt nicht unmittelbar in den Neigungen oder Anreizen der Sinnlichkeit und nicht in den Bemühungen um eigenes Wohl, sondern allein in dem, was die Vernunft leistet oder vielmehr nicht leistet: „über alle entgegenstrebenden Triebfedern Meister zu werden“ (RGV, AA 6, S. 60). Dieses Nicht-Leisten darf dennoch nicht seinerseits der Schwäche bzw. den fremden Einflüssen zugeschrieben werden, sondern wiederum dem Willen bzw. der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch.
39 Diese Schwierigkeiten werden besonders in der Religionsschrift deutlich. Letztere darf m. E. als wichtiger und notwendiger Teil des kritischen Geschäfts betrachtet werden. Wenn die Aufgabe der Kritik der praktischen Vernunft war, die Prinzipien für das Praktische zu formulieren und zu deduzieren, so durfte hier das Problematische in den Vordergrund treten. Zur Rolle der Religionsschrift für Kants Ethik s. Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, S. 124. Ich schließe mich allerdings auch dem Standpunkt an, dass die Lehre über das radikale Böse nicht als Lösung moralphilosophischer Probleme angesehen werden kann (die letzteren werden dadurch noch gravierender), sondern durch sie sollte die Unumgänglichkeit des Übergangs zur Religion begründet werden. S. Heiner F. Klemme, Die Freiheit der Willkür und die Herrschaft des Bösen. 40 Vgl. auch weiter: „Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der U n t e r o r d n u n g (der Form derselben) liegen: w e l c h e v o n b e i d e n e r z u r B e d i n g u n g d e r a n d e r n m a c h t .“ (RGV, AA 6, S. 36) Dieser feinen Differenzierung wird manchmal nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. S. etwa Michael Albrecht, Kants Maximenethik und ihre Begründung. Bei der Analyse von Kants Begriff der Maxime werden die Maximen selbst als gut bzw. böse betrachtet, wobei die Schwierigkeit entsteht, das, was der Vernunft entspringt, als böse zu bezeichnen.
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Hier zeigt sich das Problematische des kantischen Begriffs des Willens. Objektiv gesehen steht der Wille als praktische Vernunft immer unter ihrem „Factum“ (KpV, AA 5, S. 31), unter dem moralischen Gesetz.41 In seiner Spontaneität wird er zum Bestimmungsgrund der Handlung, der frei von allen Einflüssen der Neigungen bzw. der Selbstliebe gedacht werden soll. Die negativ verstandene Freiheit als formale Autonomie bzw. Unabhängigkeit von allen Neigungen ist notwendig Freiheit zum Guten. Sie impliziert keine Optionen, keine Wahl und somit auch keine Möglichkeit des Bösen. Wenn aber das Böse nicht in der Beimischung der Antriebe der Sinnlichkeit besteht, muss es dem freien Gebrauch der Vernunft entspringen. Nur so kann es dem Menschen selbst zugerechnet und von ihm verantwortet werden. Nur so kann es das radikale moralische Böse sein. Wenn jedoch die Freiheit für den Willen Freiheit von allen Einschränkungen der Selbstliebe bedeuten soll, ist der Wille immer notwendig gut und das Böse gar nicht möglich.42 Kants Lösung dieser Schwierigkeit klingt paradox. Das Böse ergibt sich nicht aus der Freiheit, dennoch entspringt es aus ihrem Gebrauch. Mit anderen Worten: In seinem freien Gebrauch soll der Wille fähig sein, gegen eigene Freiheit, gegen sich selbst zu entscheiden, sonst gäbe es kein Moralisch-Böses und dementsprechend auch keine Moral. Diese Unterscheidung von allgemeinem Prinzip, das unmittelbare Bestimmung bedeutet, und Gebrauch, der die Spielräume eröffnet, wird uns später noch beschäftigen: Es ist gerade der Punkt, an dem die individuellen Gemütskräfte einsetzen. Im subjektiven Gebrauch der Willkür muss es also Freiheit zum Bösen geben, durch die das Böse „den Grund aller Maximen verdirbt“. Der Vernunft muss ein Spielraum gelassen werden, Gebrauch von der eigenen Freiheit gegen diese Freiheit zu machen.43 Diese Freiheit selbst darf dabei nicht als Quelle des Bösen betrachtet werden; sie muss, auch als Freiheit der Willkür, das Gute ermöglichen.44 So kommt es
41 Deshalb kann der Begriff des guten Willens als analytischer Begriff betrachtet werden. Das Gesetz bekommt nur durch den Übergang von der formalen Autonomie zur Freiheit synthetische Bedeutung. S. dazu z. B. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik. 42 Auf diese Schwierigkeit wurde mehrmals hingewiesen. Da das Böse kein eigenes Vernunftprinzip haben kann, bleibt seine Möglichkeit ein Rätsel. Zu einer der jüngsten Auseinandersetzungen mit der Frage im Kontext der Philosophiegeschichte (im Bezug auf Augustinus und Leibniz) s. Maria Antonietta Pranteda, Il legno storto. I significati del male in Kant, S. S. auch Christoph Simm, Kants Ablehnung jeglicher Erbsündenlehre. Simm betrachtet allerdings dieses Paradoxon als Anlass zur Kritik an Kant (S. 153). 43 Die Unterscheidung des Willens von der Willkür wurde in der Kritik der praktischen Vernunft nicht völlig konsequent durchgeführt. S. dazu Lewis White Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, S. 169 ff. Auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten scheint sie keine besondere Rolle zu spielen. Erst wo Kant zum Problem des Bösen kommt, d. h. erst in der Religionsschrift, tritt diese Unterscheidung in den Vordergrund (vgl. Lewis White Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, S. 192 f.). 44 Man sieht hier, dass Kant zwar tief in der protestantisch-lutherischen Tradition verwurzelt ist, sie aber dennoch zugleich korrigiert. Die „Freiheit des Christenmenschen“ besteht nach Luther eben in
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1.1 Die Moral aus Vernunft: Paradoxien und Tautologien der radikalen Kritik
konsequenterweise zu weiteren Paradoxien. Als der jeder Tat vorhergehende „Actus der Freiheit“ muss diese paradoxe Wendung der Vernunft gegen die eigene Freiheit jedem Gebrauch der Freiheit vorausgehen (RGV, AA 6, S.21). Zumindest als „Bösartigkeit“ und „Verkehrtheit des Herzens“ (RGV, AA 6, S. 37) sollte das Böse immer schon da sein, „als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden“ (RGV, AA 6, S. 22) gedacht, also der menschlichen Gattung, dem Menschen als Menschen beigelegt werden (RGV, AA 6, S. 32).45 Dennoch ist dieser „Hang zum Bösen“ bei jedem einzelnen Menschen, obzwar der ganzen Gattung eigen, immer als zufällig zu beurteilen und der Vollzug der Willkür so, als ob er unmittelbar aus dem unschuldigen Stand entsprungen wäre (RGV, AA 6, S. 41). Aus einem klaren Grund: Sonst wäre es wiederum kein moralisch Böses. Wenn aber der Hang zum Bösen als „n a t ü r l i c h e r Hang“ (RGV, AA 6, S. 29), als angeboren gedacht wird, ist nicht nur das Böse, sondern auch das Gute nicht frei von Paradoxien zu denken. Denn der natürliche Hang ist „durch menschliche Kräfte nicht zu ve r t i l g e n , weil dieses nur durch gute Maximen gesche
Verzicht auf eigene Willkür, deren Freiheit für ihn, im Unterschied zu Kants Deutung, ausschließlich die Freiheit zum Bösen sein soll (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520; De servo arbitrio, 1525). Gegen diese Denkfigur argumentierte bekanntlich Erasmus von Rotterdam zugunsten der Freiheit der Willkür, ohne die die Verantwortung nicht möglich wäre (De libero arbitrio diatribé sive collatio, 1524). Dieser alte Streit war für Kant noch präsent, aber die beiden Positionen unterlagen einer Korrektur. Wir werden zu ihr noch im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Nietzsche zurückkehren müssen. S. dazu Frieder Lötzsch, Vernunft und Religion im Denken Kants. Lötzschs Kant-Interpretation tendiert allerdings zu einer wesentlichen Entschärfung von kaum übersehbaren Diskrepanzen zwischen lutherischen und kantischen Begriffen. Kants kritische Haltung zur These sola fide (vgl. RGV, AA 6, S. 116 ff.) sowie seine Angriffe auf die Pfaffentumsreligion (die, nebenbei gesagt, keineswegs den Protestantismus ausschließen wollen, s. bspw. RGV, AA 6, S. 176 ff.) werden hier als Vollendung und Ergänzung des reformatorischen Ansatzes dargestellt. S. in diesem Sinn, wenn auch aus einer anderen Sicht betrachtet, die wenig differenzierende Darstellung der Kontinuität in: Jürgen Eiben, Von Luther zu Kant – Der deutsche Sonderweg in die Moderne. Eine soziologische Betrachtung. Kants Transzendentalidealismus wird hier mit der lutherischen Glaubenslehre gleichgesetzt (so etwa S. 37, 42, 83, 132) oder auch das Gebot der Nächstenliebe mit dem kategorischen Imperativ (S. 83). Vgl. dagegen die differenzierte Betrachtung von Aloysius Winter, Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, mit einem Geleitwort von Norbert Hinske, bes. das erste Kapitel („Kant zwischen den Konfessionen“), 1–47. Zu historischen Aspekten von Kants Begriff der Willkür s. Katsutoshi Kawamura, Spontaneität und Willkür. Der Freiheitsbegriff in Kants Antinomienlehre und seine historischen Wurzeln. 45 Diese philosophische Begründung der christlichen Erbsündenlehre hat schon früh Polemik veranlasst. Goethes Empörung bspw. ging bis zu der Behauptung, Kant habe „seinen philosophischen Mantel […] freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit auch die Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.“ (Johann Wolfgang Goethe, Brief an das Ehepaar Herder vom 7. Juni 1793, IV. Abteilung: Goethes Briefe, Weimar 1887–1912, Bd. 10, S. 74 f.). Bekanntlich hat das erste Stück der Religionsschrift gerade die gegenteilige, nämlich eine sehr negative, Reaktion bei den „Christen“ ausgelöst, was Kant beinahe seine Pension gekostet hat (s. dazu z. B. Bettina Strangneth, „Kants schädliche Schriften“. Eine Einleitung, S. IX–LXXV). Doch später ist diese Lehre Kants tatsächlich im Sinne des Christentums umgedeutet worden. Zu einer theologischen Reinterpretation kantischer Paradoxien des Bösen und der Freiheit: Helmut Hoping, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant.
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hen könnte, welches, wenn der oberste subjective Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann“ (RGV, AA 6, S. 37). Und dennoch muss es als möglich gedacht werden, denn sonst hätte der Mensch nicht die Freiheit, zwischen Gut und Böse zu entscheiden, und dann wäre wiederum weder das Moralisch-Gute noch das Moralisch-Böse denkbar. Das Gute und das Böse müssen aus freiem Gebrauch der Vernunft selbst, als Willkür im Befolgen bzw. Nicht-Befolgen der Stimme der Vernunft, entspringen. Beides, die Gewalt, die die Vernunft der Sinnlichkeit durch das Moralische antut, und ihre Schwäche, das letztere zu beherrschen, sind das Rätselhafte, dessen „Erklärungsgrund“ „ewig in Dunkel eingehüllt bleibt“ (RGV, AA 6, S. 59). Das Gute sowie das Böse sind deshalb nur paradox zu denken. Die Paradoxien müssen nichtsdestoweniger um der Radikalität willen angenommen werden.46 Die Forderung der Radikalität des Moralischen wird somit um den Preis der beschriebenen Paradoxien aufrecht erhalten; sie führt unvermeidlich zur paradoxen Annahme einer gemeinsamen Quelle von Gutem und Bösem – des freien Gebrauchs der Vernunft. So darf man sich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass sich das Gute und das Böse in praktischer Abhängigkeit zueinander zeigen. Das Gute, das durch kein Beispiel dargetan, das niemals für den Handelnden selbst als wirklicher Grund seines Handelns sicher sein kann, ist nur daran einigermaßen (obwohl auch sehr unsicher) zu erkennen, dass die Handlung dem Handelnden besonders schwer fällt. Das unbedingte Gebot des moralischen Gesetzes, das, gleich dem eifersüchtigen Gott Israels (und diese Analogie ist kaum zufällig), keine andere Triebfeder neben sich duldet, tut allen Geboten der Selbstliebe Abbruch. Wer das Gute mit leichtem Herzen tut (ein gutmütiger Menschenfreund etwa) hat also besondere Gründe, gegen die eigene moralische Gesinnung argwöhnisch zu sein.47 Später wird Nietzsche gerade
46 Insofern kann man nur zustimmen, dass Kants Theorie des radikal Bösen die Kehrseite seiner Theorie des „radikal Guten“ sei. Vgl. Gerold Prauss, Kants Problem der Einheit theoretischer und praktischer Vernunft., S. 286 ff. S. dazu auch Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S. 160 ff. Die Freiheit zum Bösen als massives Problem der kantischen Philosophie wurde von Christoph Schulte betrachtet: Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, (s. dort den Anhang „Rezeptionsgeschichte und Literatur zu Kants radikalem Bösen“, S. 353–364). Für das Problematische sorgt hier, so Schulte, vor allem das „Paradoxon der Methode“, nämlich dass das Gute und das Böse nicht vor dem moralischen Gesetz vorausgesetzt werden, sondern umgekehrt aus ihm hergeleitet sind (vgl. KpV, AA 5, S. 63). Auf dieses Paradoxon komme ich im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Nietzsche zurück. Es ist an dieser Stelle wichtig, dass, wie Schulte als einer von wenigen KantInterpreten hervorhebt, der Konflikt zwischen dem Guten und dem Bösen „ein[en] Konflikt innerhalb der Vernunft“ darstellt (S. 36) und somit die Grundlage der kantischen Moralphilosophie bedroht. Diesen Konflikt lässt Schulte allerdings bestehen. Er ist sein Ausgangspunkt, um das kantische Konzept des Bösen aus Vernunft in die historische Perspektive der Deutung des Bösen von Augustinus bis Nietzsche zu stellen. Bei dem letzteren werden allerdings bloß eine „prinzipielle Absage an Moral“, die „Artisten-Metaphysik“ und ein „vollendete[r] Nihilismus“ festgestellt (S. 315–322). 47 Dass der Mensch auch bei der Befolgung des Moralischen eine „fröhliche Gemütstimmung“ haben soll, wird Kant in seiner Antwort auf Schillers Kritik betonen. Dennoch ist diese Freude nach Kant als
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1.1 Die Moral aus Vernunft: Paradoxien und Tautologien der radikalen Kritik
dieses Merkmal des Moralischen als „Grausamkeit“ des kategorischen Imperativs bezeichnen (GM II, 6, KSA 5, S. 300). Das Böse zeigt sich also inmitten des Guten durch das einzige Kennzeichen des letzteren: Die besondere Schwere des Guten bestätigt, dass es nur als Überwindung eines mächtigen Hanges zu denken ist, sie beweist also die Wirklichkeit des Bösen. Aber auch umgekehrt: Eine schwerfallende Überwindung der eigenen Neigung ist ein Fingerzeig, dass die Gesinnung gut sein kann. Die Schwere kann gleichsam als Ersatz des vorhergehenden Mangels an Gutem gedacht werden, und der durch das angeborene Böse verschuldete Mensch kann so durch das Leiden am Guten der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung geben. Der Hang zum Bösen, der überwunden werden soll, ist damit auch die Bedingung des Guten (RGV, AA 6, S. 72). Ohne das Böse wäre also auch das Gute undenkbar.48 Das Gute und das Böse weisen also gerade in ihrer radikalen Gegensätzlichkeit auf einander hin.49 Das Gute ist für die Menschen nur als Überwindung des bösen Hanges denkbar; die Wirklichkeit des Bösen bestätigt die Möglichkeit des Guten. So konstatiert Kant: „Die Begreiflichkeit des einen ist ohne die des andern gar nicht denkbar“ (RGV, AA 6, S. 59). Zwar legitimiert schließlich das Erfahrungsargument die Wirklichkeit des Bösen, dessen Begriff allerdings nur a priori erkannt werden kann:
[…] dass nun ein solcher verderbender Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung a n d e n T a t e n der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen (RGV, AA 6, S. 32 f.).
Wirkung, keinesfalls als Triebfeder zum Guten zu verstehen. Sie kommt wesentlich nach der Tat (RGV, AA 6, S. 24). Zu dieser Polemik s. Bernard Greiner, Die Geburt der ästhetischen Erziehung aus dem Geist der Resozialisation. Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre; Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 240 ff. Schillers Begriff der schönen Seele, die „dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf“ (Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, S. 221 f.), wird für uns im Zusammenhang mit Dostojewskis Idee eines „schönen Menschen“ wichtig. Dostojewski hat sich von Schiller immer faszinieren lassen. Schillers kritische Betrachtung von Kants Moralphilosophie könnte ihn indirekt beeinflusst haben, welche Vermutung sich leider nicht nachweisen lässt. Schillers Behauptung „Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist“ führt auch auf Nietzsches Begriff der „vornehmen Seele“ hin, freilich auch auf die reformatorisch-calvinistische Auffassung der tugendhaften Seele, die von Gott auserwählt ist. 48 Josef Simon bemerkt in diesem Zusammenhang, dass, wenn das Gute „kein Gegenstand möglicher Erfahrung“ sein kann, es „daher nur als Gegenteil des Bösen erfahren werden“ könne. „Demgemäß könnte man auch sagen, das Böse sei erst durch den Willen des Menschen zur Erkenntnis des Unterschieds des Guten und des Bösen in die Welt gekommen“ (Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 529). Dies muss allerdings nach Kant auch umgekehrt gelten: Das Gute wird erst als Gegenteil zum Bösen, als Unterscheidung des Guten und des Bösen erfahren. 49 Das Gute und das Böse wären überhaupt in ihrem Bezug auf die Wirklichkeit gleichberechtigt, wenn es nicht einen gravierenden Unterschied in ihrer Modalität gäbe: Das Gute ist notwendig für die Vernunft, das Böse dagegen muss zwar in der praktischen Absicht dem Menschen „in seiner Gattung“ beigelegt werden, soll dabei indessen immer als zufällig vorgestellt werden (RGV, AA 6, S. 28 f.).
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Das Sollen ist nicht das Wollen – davon kann sich jeder Mensch aufgrund eigener Erfahrung selbst überzeugen. Dennoch soll hier vor allem auch ein moralphilosophisches Argument geltend gemacht werden: Wäre kein Böses vorhanden, wäre das Sollen immer nur das Wollen, so würde das Moralisch-Gute weder möglich noch nötig sein.50 Die Paradoxie des gegen die eigene Freiheit frei entscheidenden Willens wird auf diese Weise legitimiert, samt der Paradoxie des in ihrer Radikalität voneinander abhängigen Guten und Bösen. Zwar sollte der Wille vernünftigerweise nur seine Pflicht wollen, zwar ist er dann als vernünftiges Wollen vom Sollen nicht zu unterscheiden, jedoch steht das Wollen praktisch dem Sollen immer entgegen. Dieses Sollen, diesen Imperativ, der den Menschen von der Natur ausnimmt und zur Spontaneität der vernünftigen Handlung herausfordert, kann man nach Kant nicht leugnen, ohne den Begriff der Vernunft als Bestimmungsgrund der Handlung bzw. ohne den Begriff des Lebens der vernünftigen Wesen selbst zu verlieren und das ganze Unternehmen der Vernunft in Frage zu stellen. Wenn das vernünftige Leben denkbar sein soll, muss auch die Moral denkbar sein, die den Begriff der praktischen Vernunft bzw. den des Willens gleichzeitig voraussetzt und begründet. Dieser Wille soll frei gegen seine eigene Freiheit entscheiden können, um praktische Vernunft zu bleiben. Eine Moral aus Vernunft erweist sich ohne Widerstreit des Willens mit sich selbst, so paradox es auch sein mag, als undenkbar. Die positive Bedeutung der Paradoxien als Mittel gegen den logischen Egoismus betonte Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht:
Dem Paradoxen ist das A l l t ä g i g e entgegengesetzt, was die gemeine Meinung auf seiner Seite hat. Aber bei diesem ist eben so wenig Sicherheit, wo nicht noch weniger, weil es einschläfert; statt dessen das Paradoxon das Gemüth zur Aufmerksamkeit und Nachforschung erweckt, die oft zu Entdeckungen führt. (AH, AA 7, S. 129)51
Die Paradoxien sind also „von keiner schlimmen Bedeutung“, sie sind keine bloßen Widersprüche und müssen nicht einfach vermieden werden. Zwar sind hier in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, die rhetorischen (und nicht die logischen) Paradoxien gemeint. Dennoch darf ihre Bedeutung für den ganzen Gang der Kritik nicht unterschätzt werden. Denn sie können gerade nach Kant die Grenze des in der eigenen Meinung befangenen Denkens markieren und so zum Überprüfen der eigenen Prämissen aufrufen. Schließlich machen sie gerade die Plausibilitäten sichtbar, die nicht
50 Es wäre der heilige Wille, der keine Moral braucht und bei dem das Sollen immer das Wollen ist. Dennoch lässt sich die Heiligkeit des Willens bei den Menschen nicht anders denken als „in schwärmende[n], dem Selbsterkenntniß ganz widersprechende[n] theosophische[n] Träume[n]“ (KpV, AA 5, S. 122 f.). 51 Im „Gang menschlicher Dinge“, „wenn man ihn im Großen betrachtet“, scheint nach Kant „alles paradox zu sein“. (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, AA 8, S. 41)
1.1 Die Moral aus Vernunft: Paradoxien und Tautologien der radikalen Kritik
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ohne das Risiko hinterfragt werden können, an die Grenze des eigenen Denkens zu gelangen, an der es nicht möglich zu sein scheint, weitere Gründe anzugeben.52 Die Paradoxien „erwecken“ das Gemüt zur Nachforschung. So entstehen folgende Fragen: Wenn der Wille als freier Wille oder als praktische Vernunft nicht frei von Paradoxien zu denken ist, sollte man dann nicht gerade die Radikalität des Guten und Bösen als Grundlage der Moral anzweifeln? Unterscheidet sich das Sollen vom Wollen wirklich so radikal, wenn gerade in diesem Punkt das Gute und das Böse voneinander abhängig sind? Und schließlich: Wurde das Leben der Menschen zu Recht mit der praktischen Vernunft gleichgesetzt? Ist Kants Begriff des Willens überhaupt haltbar? Die Antwort auf all diese Fragen ist relativ eindeutig: Wenn die Paradoxien, die der Radikalität des Guten und des Bösen innewohnen, nicht akzeptiert würden, wäre eine Moral aus Vernunft nicht denkbar. Und das heißt, dass die Vernunft dadurch auf tiefste Weise kompromittiert wäre. Die Zuverlässigkeit der Vernunft – ihr ganzes Geschäft – hängt davon ab, ob sie ihre Freiheit in der Erfahrung dartun kann oder nicht,53 ob sie zur Selbstbestimmung fähig ist, ob das Individuum einen freien Gebrauch seiner Gemütskräfte machen kann. Die Unmöglichkeit des Radikal-Mora
52 Zu den Paradoxien bei Kant s. Heiner F. Klemme, Kant und die Paradoxien der Kritischen Philosophie. Klemme unterscheidet zwischen den methodischen und inhaltlichen Paradoxien der kritischen Philosophie. Allerdings lässt sich eine solche Unterscheidung nicht streng durchhalten, denn die „inhaltlichen Paradoxien“ werden durch die „methodischen“ erzeugt (S. 48 ff.). Der Begriff eines Paradoxons wird in dieser Untersuchung allerdings gemeinhin als „widersinnige und befremdliche“, für den gemeinen Menschenverstand überraschende Aussage verstanden. So fällt die kopernikanische Wende bzw. die Umstellung auf die transzendentale Methode selbst unter den Begriff der Paradoxie sowie das Unbegreifliche des moralischen Imperativs und das Unauflösbare der Dialektik. Ähnlich definiert Fritz Mauthner Paradoxien im Anschluss an die etymologische Bedeutung des Wortes als „die neuen Wahrheiten, solange sie noch der allgemeinen Meinung widersprechen“ (Fritz Mauthner, Paradoxien, S. 519). Ein spezifischer und deshalb engerer Begriff der Paradoxie bringt ihn dem der Antinomie nahe, nämlich die Paradoxie im Sinne „einer widerspruchsvollen, sowohl wahren als auch falschen Aussage, ohne daß bei ihrer Aufstellung offenkundige Fehler in den Voraussetzungen oder in den Schlussfolgerungen gemacht wurden“ (Kuno Lorenz, Art. Antinomie; vgl. auch Christian Thiel, Art. Paradoxie). Noch präziser ist die folgende Definition von Werner Stegmaier: „Antinomien oder Paradoxien entstehen, wenn eine zweiwertige Unterscheidung, deren Werte einander negieren, auf sich selbst bezogen und dabei ihr negativer Wert auf sie angewendet wird“ (Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 9). Ich verwende den Begriff in einem engeren Sinn, der ihn mit dem der Plausibilität in Verbindung bringt: Die Paradoxie wird als eine Aussage verstanden, die zwei einander widersprechende Thesen enthält, die beide jedoch nur im Anschluss an einander plausibel sein können. Wie z. B. Kants Annahme, dass das Böse zwar als angeboren gedacht werden muss, aber dem Menschen selbst zuzurechnen ist oder dass der freie Wille zwar notwendig das Gute will, sich aber für das Böse entscheiden können muss. 53 Laut der Kritik der Urteilskraft ist die Freiheit „die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Thatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß“, weil sie sich „in der Erfahrung darthun läßt“ (KU, AA 5, S. 468).
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
lischen würde Untauglichkeit der Vernunft sowohl für den theoretischen als auch für den praktischen Gebrauch bedeuten.54 Die Paradoxien scheinen so unumgänglich zu sein. Und wenn „billigermaßen von einer Philosophie“ „gefordert werden kann“, dass sie „bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien“ strebt (GMS, AA 4, S. 463), so muss ein Prinzip gefunden werden, das alle Paradoxien der Moral aus Vernunft legitimiert und für das Denken akzeptabel macht, ein Prinzip, das ein weiteres Hinterfragen als unmöglich zurückweist. Erst am moralischen Gesetz in seiner Radikalität und Faktizität erkennt die Vernunft sich selbst als ein Vermögen. Der moralische Imperativ – das Sollen, das dem Wollen zwar Abbruch tut, aber immer mit der Selbstbestimmung des Willens identisch bleibt – muss um der Vernunft willen angenommen werden. Das Faktum der Vernunft ist das Einzige, worin sie sich selbst erkennt. Es als wirklich denken zu dürfen, ist die Frage der Selbsterhaltung der Vernunft.55 So kommen wir zu einem Schlüsselpunkt der Kritik. Die Vernunft ist als besonderes Erkenntnisvermögen und als Bestimmungsgrund des Handelns von der Annahme ihres Faktums, des moralischen Gesetzes, das sich als unbedingter Imperativ äußert, abhängig. Mehr noch: Sie ist nur aus ihm ableitbar. Das Vermögen des Moralischen ist das Vermögen der Selbstbestimmung, d. h. das Vermögen, das für vernünftige Wesen mit dem Leben zusammenfällt. Dieses Vermögen markiert die letzte Grenze der Argumentation, wo weiteres Fragen nicht mehr sinnvoll zu sein scheint, weil das die Möglichkeit des Gebrauchs der Vernunft, und das heißt des Fragens selbst, in Frage stellen würde. Die Moral ermöglicht die Vernunft als Grundlage des Lebens eines vernünftigen Wesens, eines Menschen. Aber auch umgekehrt trifft zu, dass das Moralische nur aus Vernunft möglich ist. Denn das Kriterium des Radikal-Moralischen kann nur im Uneingeschränkt-Guten gefunden werden, d. h. im guten Willen, der der Forderung der Vernunft bedingungslos gehorcht. Es liegt also ein unvermeidlicher Zirkel vor: So wie Vernunft nur durch das Moralische für sich wirklich ist, ist auch das Moralisch-Gute nur aus Vernunft denkbar. Dieser Zirkel, der sich nicht ohne Paradoxien schließt, ist für die Selbstlegitimation der Moral aus Vernunft aber unumgänglich. Die Frage, wie das Faktum der Vernunft möglich ist, ist damit beantwortet: Es ist
54 Auch im theoretischen Gebrauch wäre die Vernunft ohne Spontaneität nicht denkbar. Denn wäre sie von äußeren Gründen in ihren Schlussfolgerungen bestimmt und nicht autonom, würden letztere niemals zuverlässig sein können. In der Erfahrung ist die Freiheit jedoch nur praktisch gegeben. S. dazu bspw. Jürgen Mittelstraß, Spontaneität. Ein Beitrag im Blick auf Kant. 55 Die Selbsterhaltung der Vernunft ist eine der Maximen eines aufgeklärten Menschen (Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8, S. 147). In Kants Nachlass wird sie „das Fundament des Vernunftglaubens“ genannt, „in welchem das Fürwahrhalten eben den Grad hat als beym Wissen, aber von anderer Art ist, indem es nicht von der Erkentnis der Gründe im obiect, sondern von der wahren Bedürfnis des Subiects in ansehung des theoretischen so wohl als practischen Gebrauchs der Vernunft hergenommen ist“ (Nachlaßreflexionen (2446), AA 16, S. 371 f.; meine Hervorhebung – E.P.). Zur zentralen Stellung des Selbsterhaltungs-Gedankens bei Kant s. Manfred Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft.
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1.2 Die moralische Urteilskraft
möglich, weil die Vernunft als Vermögen zur Selbstbestimmung, und das heißt als Ermöglichung des Lebens eines vernünftigen Wesens, nicht anders gedacht werden könnte. Nietzsche formuliert Kants Antwort auf diese Frage mit ironischer Prägnanz: „Vermöge eines Vermögens“ (JGB 11, KSA 5, S. 24).56 Die Voraussetzung wird zum Ergebnis, die Schlussfolgerung wird tautologisch.57 Kants konsequenter Radikalismus führt nicht nur zu Paradoxien, sondern auch zum tautologischen Zirkel der Selbstbegründung. Der Gang der Argumentation mündet in der Selbstbezüglichkeit der Vernunft.58 Die Paradoxien der Moral aus Vernunft werden am Ende mit einer Formel gekrönt, die zugleich die äußerste Paradoxie und Tautologie darstellt: Das Unbegreifliche der Vernunft wird von ihr in seiner Unbegreiflichkeit begriffen (GMS, AA 4, S. 463).59
1.2 Die moralische Urteilskraft zwischen dem „radicalen Bösen in der menschlichen Natur“ und dem „Heiligsten, was unter Menschen nur sein kann“ Die Radikalität des Moralischen, des Guten und des Bösen, die voneinander wie der „Himmel von der Hölle“ zu unterscheiden sind,60 wird durch die gegenseitige Begründung der Moral und der Vernunft legitimiert. Die Vernunft kommt hier an ihre Grenze und muss die Paradoxie als das Unbegreifliche akzeptieren und ihre Unvermeidlichkeit begreifen. Das betrifft v. a. die paradoxe Verankerung des Bösen in der Freiheit, die „das Gemüth zur Aufmerksamkeit und Nachforschung“ nötigt und schon eingeführte Unterscheidungen in Bewegung bringt. Vor allem durch den oben hervorgehobenen Begriff des Gebrauchs werden neue Spielräume der Argumentation eröffnet.
56 Auf die Bedeutung dieser Formulierung für Nietzsches Kant-Kritik wird im nächsten Kapitel eingegangen. 57 Der Vorwurf, „eine gigantische Tautologie“ hervorgebracht zu haben, wird, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, z. B. von Theodor Adorno an Kant gerichtet (Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“). Bezeichnenderweise wirft Adorno, wie zuvor Nietzsche, Kant vor, der Aufklärung nicht treu geblieben zu sein. Seine Idee der Erkenntnis sei ein Rückfall in „mythologisches“ Denken gewesen (S. 105 f.). 58 Der Selbstbezug als Quelle für die Paradoxierung und Erweiterung des Denkens wird in der oben angegeben Definition von Stegmaier hervorgehoben (Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S.9 ff.). Im Anschluss an Niklas Luhmann entwickelt Stegmaier die These, dass Paradoxien im Denken der Selbstbezüglichkeit entspringen, u. a. im Bezug auf die Frage nach der Aufklärung über die Aufklärung (Werner Stegmaier, Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung). Die Paradoxien sowie die Selbstbezüglichkeit dürfen dabei nach Luhmann nicht als Hindernis, sondern müssen als Mittel der Kommunikation angesehen werden (vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 54 ff.; Niklas Luhmann, Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, S. 84 ff.). 59 In der Religionsschrift spricht Kant auch von der Unbegreiflichkeit des Bösen (RGV, AA 6, S. 43). 60 Vgl. „nicht wie de[r] Himmel von der Erde“ (RGV, AA 6, S. 60, Anm.).
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Das Rätselhafte des Bösen kann nur durch die Unterscheidung der allgemein-formalen Forderung der Moral und der individuellen Ebene des in concreto handelnden Subjekts bis zu einem gewissen Grad entparadoxiert werden, d. h.: die Unterscheidung des Willens und des Gebrauchs der Willkür. Und das impliziert eine neue Aufgabe, nämlich die Analyse eines individuellen Vermögens, das zwischen beiden vermitteln soll, die Analyse der moralischen Urteilskraft. Tatsächlich: Zwar wird der Maßstab des Guten in das Allgemeine gesetzt, doch muss zwischen der reinen Form des Allgemeinen, die den Willen bestimmt, und dem konkreten Gebrauch der Willkür bzw. dem Pathologisch-Zufälligen seiner Anwendung irgendwie vermittelt werden.61
Ob nun eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel stehe, oder nicht, dazu gehört praktische Urtheilskraft, wodurch dasjenige, was in der Regel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt wird. (KpV, AA 5, S. 67)
So kommt die Urteilskraft ins Spiel. Sie bezweifelt nicht die Strenge des Gesetzes, dennoch muss sie es mit einem bzw. mehreren konkreten Urteilen in Verbindung setzen, sie muss entscheiden, wie das konkret Gegebene unter das Allgemeine subsumiert werden kann, und dies aus der begrenzten Perspektive des Einzelnen, des vor der Handlung stehenden Subjekts. Das heißt: Bevor die moralische Urteilskraft einsetzen kann, müssen die Begriffe gefunden werden, die die Handlungssituation für das handelnde Subjekt hinreichend beschreiben. Hier entsteht ein neues Problem: Also ist die Urtheilskraft der reinen praktischen Vernunft eben denselben Schwierigkeiten unterworfen, als die der reinen theoretischen […]. (KpV, AA 5, S. 68)
Die Schwierigkeit besteht darin, dass „dem Gesetze der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich bedingten Causalität) mithin auch dem Begriffe des unbedingt Guten […] keine Anschauung, mithin kein Schema zum Behuf seiner Anwendung in concreto untergelegt werden“ kann. Folglich hat das Sittengesetz kein anderes die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnißvermögen, als den Verstand […]. (KpV, AA 5, S. 69)
Als Übergang vom Übersinnlichen zur sinnlichen Welt wird die Handlung äußerlich mit Hilfe der Kategorien der Natur betrachtet. Zwar macht das Allgemeine den Maßstab des Guten aus, doch sind in einer konkreten Situation die einzelnen Erkenntnis-
61 Nach Stegmaier werden die Paradoxien, die aus der zirkulären Bewegung der Selbstbegründung und Selbstbefreiung der Vernunft entstehen, von Kant auf die Unterscheidung ‚Form – Inhalt‘ verlegt und so eine gewisse Entparadoxierung bzw. „Paradoxieninvisibilisierung“ erreicht (Stegmaier, Aufklärung der Aufklärung, S. 170 f.).
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1.2 Die moralische Urteilskraft
urteile erforderlich, die nun in Ansehung der allgemeinen Urteile überprüft werden müssen. Wie soll diese Suche nach Verallgemeinerung aussehen? Das Verfahren wurde noch in der ersten Kritik beschrieben. Für dieses wird vor allem die subsumierende Urteilskraft zuständig, die zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand vermittelt (KrV A 133 ff./B 172 ff.). Die einzelnen Urteile als bloße empirische Sätze sind „vorläufige Urtheile“ (Logik, AA 9, S. 65) und enthalten noch keine Erkenntnis im strengen Sinne, weil dafür die Bedingung erforderlich ist, „unter welcher das Prädikat (Assertion überhaupt) dieses Urteils gegeben wird“ (KrV A 322/B 378). Sie verhalten sich zu den allgemeinen Urteilen der Größe nach als Einheit zur Unendlichkeit (KrV A 71/ B 96).62 Kants Beispiel dafür ist folgendes: „Cajus ist sterblich“ ist ein empirisches Urteil, das jeder „bloß durch den Verstand aus der Erfahrung schöpfen“ kann (KrV A 322/B 378). Eine einzelne Beobachtung (Cajus' Tod) wäre für die Urteilskraft allerdings unzulänglich. Es ist eine syllogistische Bewegung nötig, damit es zum universalen Satz wird, „welche[r] von einem Gegenstande etwas allgemein behaupte[t]“ (Logik, AA 9, S. 102). Die vorläufigen Urteile müssen so durch die Urteile überprüft werden, die das durch das Besondere differenzierte Allgemeine thematisieren. Sie müssen also einen Bezug auf die Kategorie der Allheit (Universitas) verschaffen (KrV A 322/B 379), die „nichts anders“ ist „als die Vielheit als Einheit betrachtet“ oder die Totalität der durch die Vielheit differenzierten Einheit (KrV B 111).63 Mit anderen Worten: Das vorläufige Urteil ist noch keine Erkenntnis, sondern stellt nur eine Möglichkeit derselben dar.64 Die Bewegung zur Erkenntnis wird durch ein besonderes Urteil eröffnet, das einen konkreten Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung unter einen Begriff subsumiert: „Cajus ist ein Mensch“. Das allgemeine Urteil gibt die Totalität der Bedingungen: „Alle Menschen sind sterblich“. Jetzt kann das einzelne Urteil wiederum als Erkenntnis von der Allheit der Bedingungen zur Einheit des konkreten Gegenstandes zurückkehren: „Cajus (als jeder Mensch) ist sterblich“. Das
62 In der transzendentalen Logik sollen nach Kant die einzelnen Urteile gleich den allgemeinen behandelt werden, denn obgleich sie gar keinen Umfang haben, werden sie wie die allgemeinen und anders als die besonderen Urteile ohne Ausnahme gelten. Zum Verhältnis der singulären zu den universellen Urteilen bei Kant siehe z. B. Michael Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, S. 143 ff., 155 f. Die singulären Urteile sind laut Wolff deshalb zur logischen Vollständigkeit notwendig, weil sie sich „nicht auf unbestimmt viele, sondern auf eine bestimmte Subjektvorstellung beziehen“ (S. 171). 63 Die komplexen Optionen dieses Begriffs, der sich im Neukantianismus als besonders anschlussfähig erwiesen hat, können hier nicht erörtert werden. Siehe z. B. Hermann Cohen, Das Urteil der Allheit. 64 Simon bezeichnet in seiner Analyse der Kategorien aus den „Modi des Fürwahrhaltens“ die Einheit als Verharren des „in seinem Meinen affizierte[n] Subjekt[s] im Meinen“. „Es läßt sich nicht „überreden“, den Gegenstand darüber hinaus für wirklich oder sogar für notwendig zu halten. Die durch die Affektion ausgelöste Bewegung des „Gemüts“ kehrt zur Möglichkeit zurück“ (Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 137).
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Urteil wird zur Erkenntnis, die die „Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen bedingten“ enthält (KrV A 322/B 379). Der Übergang von der Einheit zur Allheit stellt also den Übergang vom Möglichen eines auf einer empirischen Beobachtung begründeten Urteils zum Notwendigen eines Erkenntnisurteils dar, oder, anders gesagt, von dem „nur subjektiv hinreichend begründeten Fürwirklichhalten in ein auch objektiv begründetes Fürwahrhalten, d. h. in Wissen“.65 Die subsumierende Urteilskraft stellt sich somit in den Dienst des Wissens. Dieses triviale Beispiel eines Urteils über die Sterblichkeit des Cajus wird uns im Kapitel zu Tolstois Moralphilosophie wieder begegnen, in dem es eine neue, nichttriviale Wendung bekommen wird. Bei Kant sollte an diesem Beispiel gezeigt werden, wie die Verallgemeinerung problemlos verlaufen kann. Praktisch handelt es sich allerdings auch nach Kant niemals nur um Subsumtion, besonders wenn es um die Optionen des eigenen Handelns geht. Schon deshalb nicht, weil jeder Begriff als Voraussetzung einer Subsumtion „über sein spontanes Fürwirklichhalten nur ‚von Fall zu Fall‘ hinaus“ gewonnen wird.66 Der Handelnde muss sich jedes Mal des vermittelnden Erkenntnisvermögens, des Verstandes, bedienen, um die Situation und damit die Optionen der Handlung einzuschätzen. Das heißt: Das Subjekt beurteilt „um seiner Orientierung im Leben willen“, „auch wenn andere es anders sehen“.67 Ob die Subsumtion „richtig“ stattfindet, ob nicht eine bessere Subsumtion bzw. eine Subsumtion unter einen anderen Begriff möglich ist, bleibt selbst Gegenstand eines Urteils. Die Gültigkeit des Übergangs vom Einzelnen zum Allgemeinen und umgekehrt geht so nicht über das Mögliche hinaus. Das Fürwahrhalten kann als Wissen immer wieder in Frage gestellt und auf die Stufe der Meinung zurückverwiesen werden. Wie oben schon erwähnt, lässt sich die Überredung vom Standpunkt des Urteilenden aus nicht endgültig von der Überzeugung unterscheiden (KrV A 821/ B 848). Was dies für die moralische Urteilskraft bedeutet, kann man am besten an einem anderen Beispiel Kants erklären, das die bekannten Vorwürfe des Rigorismus hervorgerufen hat. Dass niemand lügen darf, selbst dann nicht, wenn ein Mörder sich nach seinem Opfer erkundigt, ist eine Maxime, die unumstritten gelten muss, weil die Lüge in diesem Fall nur als Verstoß gegen das Allgemeine, nur als Ausnahme von der allgemeinen Regel, möglich wäre: Nur wenn die Wahrheit erwartet wird, ist die Lüge möglich.68 Dennoch bleibt die Subsumtion dieses Falls unter diese Regel nur eine Möglichkeit. Ein konkreter Fall lässt zahlreiche weitere Optionen der Verallgemeinerung zu: Kann ich es als allgemeines Gesetz betrachten, dass jemand, der auf fremde
65 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 138. 66 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 138 67 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 137 f. Insofern kann diese Bewegung, im Unterschied zur dialektischen Bewegung Hegels, keine Bewegung auf das Absolute hin sein. Die Urteilskraft muss immer neu ansetzen. 68 Vgl. Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, AA 8, S. 425–430.
1.2 Die moralische Urteilskraft
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Hilfe angewiesen ist, einem Mörder ausgeliefert wird? Kann ich es als allgemeine Regel ansehen, dass ein Mensch vor der Tat als Mörder bezeichnet wird? Oder: Kann ich als Naturgesetz wollen, dass jeder, der sich in meiner Situation befindet, so und so handelt? Auf die letztere Frage wird die Antwort immer positiv sein, weil sich in meiner Situation keiner außer mir befinden kann.69 Dass ich es etwa als Lüge ansehe, dass ein bestimmter Mensch ein Mörder und ein anderer sein Opfer sein soll, sind konkrete Umstände, die meine eigene, sehr beschränkte, unter Zeitdruck erfolgende Orientierung in der Situation bestimmen. Damit die Verallgemeinerung richtig vollzogen werden kann, muss diese konkrete Situation von allem Inhaltlich-Empirischen gereinigt werden, was allerdings nur bis zu einem gewissen Grad und auf sehr unterschiedliche Weise möglich ist. Die Optionen der Verallgemeinerung sind vielfältig, eine totale Verallgemeinerung („Totalität aller Bedingungen“) ist überhaupt nicht zu erreichen. Nur die ad hoc formulierten Maximen können auf ihre Moralität hin überprüft werden. Dass jedoch eine bestimmte (für sich moralisch tadellose) Maxime gerade auf diesen Fall angewandt werden soll, bleibt selbst Gegenstand eines Urteils, d. h.: eines eventuell nicht hinreichend begründeten Fürwahrhaltens, einer Meinung. Ein einzelnes Urteil über das Gute, wenn es in einer konkreten Situation als universell gültig gedacht werden soll, bleibt in seiner Notwendigkeit ungewiss. Der kategorische Imperativ kann folglich auf konkrete Fälle niemals eindeutig anwendbar sein.70 Die Unmöglichkeit einer siche
69 Hermann Baum schlägt das Schweigen als moralische Lösung des Problems vor, das auf die Gefahr des eigenen Unheils hin gewagt wird (Hermann Baum, Kant: Moral und Religion, S. 24). Mit dem Schweigen scheint das Problem des Rigorismus in diesem Fall dennoch nicht wirklich gelöst zu sein, da es in einer konkreten Situation gerade sehr eindeutig (bspw. als Zustimmung) interpretiert werden kann. Die Paradoxien des Moralischen im Gebot der Wahrhaftigkeit können m. E. kaum durch das Dritte (weder Wahrheit noch Lüge) aufgehoben werden. Erst mit der Einführung der Urteilskraft bekommen sie eine Rechtfertigung und werden entparadoxiert. 70 Auf die moralphilosophische Diskussion zur Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs kann hier nicht näher eingegangen werden. Kants Beispiele werden dabei von unterschiedlichen Positionen aus betrachtet, besonders das der Lüge, aber auch das des Selbstmords und, so schon bei Hegel, das des Depositums. Manche Forscher befürworten Kants Rigorismus (z. B. Julius Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten), doch die meisten kritisieren ihn. Kant selbst hat mehrfach auf der Unvollkommenheit aller Beispiele bestanden. Bemerkenswert ist, dass das Problem der Anwendbarkeit eines Prinzips in der Geschichte der Kant-Rezeption außerhalb des Rahmens der praktischen Philosophie häufig zurückgewiesen wurde (s. dazu Helmut Holzhey, Die praktische Philosophie des Marburger Neukantianismus. Versuch einer moralischen Bilanz). Zur Problematik der Anwendbarkeit einer Regel bei Kant s. Verena Mayer, Das Paradox des Regelfolgens in Kants Moralphilosophie, wo der Begriff eines Paradoxons wiederum in einem breiteren (m. E. unspezifischen) Sinn verwendet wird. Es wird hier allerdings gezeigt, dass auch die moralische Urteilskraft dem Regress des Regelbefolgens unterliegt, da auch sie, wie die Urteilskraft überhaupt, nicht gelehrt werden kann. Mit Recht wird weiter betont, dass diese Schwierigkeit für die Ethik (die angeblich nur mit den Prinzipien zu tun hat) nicht irrelevant sein kann (S. 348). Gerade das Paradoxon des Regelbefolgens könne den Vorwurf „einer abstrakten, unzulässig idealisierenden und weltfernen Ethik“ erübrigen und lasse die Urteilskraft als individuelles Vermögen in besonderem Maße unerläss
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
ren Anwendung des kategorischen Imperativs auf konkrete Fälle kann als Defizit der kantischen Moralphilosophie betrachtet werden, was in der Kant-Forschung des Öfteren der Fall war.71 Sie kann dennoch als eine der conditio humana angemessene Feststellung angesehen werden, dass nämlich ein einzelnes Individuum eine Entscheidung auf eigene Gefahr hin immer in concreto treffen muss, derer es sich niemals sicher sein kann. Diese Lebenssituation lässt die Spielräume seiner Verantwortung nicht nur zu, sondern fordert seine individuelle Urteilskraft jedes Mal aufs Neue heraus.72 Die moralische Urteilskraft setzt somit auf der individuellen Ebene des in konkreten alltäglichen Situationen sich befindenden Subjekts an, das aus der begrenzten Übersicht in begrenzter Zeit ein Urteil treffen, d. h. zugunsten einer besonderen Maxime entscheiden soll. Das heißt unter anderem, dass bei den moralischen Urteilen nicht nur die subsumierende, sondern vor allem die reflektierende Urteilskraft einsetzt, weil die Regel (die Maxime) für die Handlung nicht gegeben ist, sondern erst gefunden werden muss. Die konkrete Anwendbarkeit des gefundenen Allgemeinen auf das Einzelne bleibt problematisch, und das Fürwahrhalten vielleicht nur eine Meinung. Und dennoch, da die konkrete Unterscheidung des Guten und des Bösen erst dadurch möglich wird, muss gerade dieses einzelne Urteil in die Handlung umgesetzt werden:
lich werden (S. 351 ff). Dennoch plädiert der Aufsatz für die Möglichkeit einer „richtige[n] Anwendung von Regeln im praktischen Handeln“ und scheint so das Paradoxon durch den Begriff der Maxime als nichtbeliebiger „Hintergrundeinstellung“ (keine bloßen Überzeugungen, Vorsätze und Wünsche) auflösen zu wollen (S. 361 ff.). Die oben beschriebenen Schwierigkeiten, die jede Verallgemeinerung mit sich bringt, bleiben jedoch auch nach dieser Interpretation bestehen. Die Bestimmung durch die Urteilskraft erübrigt nicht die Kasuistik im Urteilen. Auch die hypothetischen Imperative sind, wie jetzt klar sein dürfte, denselben Schwierigkeiten ausgesetzt. Die Korrektur des kategorischen Imperativs in dieser Richtung scheint m. E. unplausibel zu sein (vgl. Günther Patzig, Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik). 71 S. eine der jüngsten Untersuchungen zum Thema: Sven Bernecker, Kant zur moralischen Selbsterkenntnis, und die dortigen Literaturhinweise. Bernecker betrachtet den Mangel an Transparenz des handelnden Subjekts nicht nur negativ, sondern eher als Kants realistischeres Bild des Menschen bspw. gegenüber Descartes. Dennoch wird der kategorische Imperativ als defizitär gekennzeichnet, weil das Kriterium seines Abstraktionsgrads fehle (S. 175). 72 Hegels Kantkritik gewinnt an dieser Stelle, so z. B. bei Friedrich Kaulbach, an Bedeutung, indem der feste Boden für die moralische Reflexion in der Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft aufgefunden wird (vgl. Friedrich Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 327 ff.). Dagegen hat bei Kant der Handelnde in der Sphäre des Praktischen „mit der Wirklichkeit zu tun, die ihm als fremd, undurchschaubar und unberechenbar gegenübersteht“, (Friedrich Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 258; s. auch das anschließende Kapitel VI, Handlung in der Ausführung, S. 259–331). Dennoch scheint Kants Ansatz m. E. gerade deswegen gegenüber dem Hegelschen nicht überholt zu sein, denn er erlaubt, die notwendige Distanz zwischen dem Individuellen und Allgemeinen zu bewahren und für eine konkrete Situation fruchtbar zu machen. Hier kann auf die Auseinandersetzung Hegels mit Kant nicht weiter eingegangen werden. Zu Hegels Kritik der praktischen Philosophie Kants s. z. B. Pirmin Steckeler-Weithofer, Kultur und Autonomie. Hegels Fortentwicklung der Ethik Kants und ihre Aktualität.
1.2 Die moralische Urteilskraft
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Durch die Nötigung zur Handlung wird das Meinen zum Glauben.73 Hier tritt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Es würde zum Glauben, aber nur in dem Fall, dass der Handelnde sich seiner Triebfeder überhaupt sicher sein könnte. Das kann er aber niemals sein. Auch wenn man tatsächlich geglaubt hätte, dass eine Maxime dem kategorischen Imperativ entspräche, könnte man nicht sicher sein, ob man aus dieser Maxime und nicht bloß ihr gemäß gehandelt habe. Das nachträgliche Fürwahrhalten könnte wiederum einer bloßen Selbst-Überredung entspringen. Das Gute und das Böse bleiben also in ihrer Radikalität denkbar, der kategorische Imperativ als Faktum der Vernunft präsent, ihre Anwendung auf den konkreten Gebrauch der Willkür ist dennoch doppelt unsicher: Man kann weder behaupten, man habe nach der bestimmten Maxime gehandelt, noch sicher sein, dass die Maxime die Verallgemeinerung richtig durchlaufen habe. Die Radikalität betrifft die Form der Maximen, ihren formalen Bestimmungsgrund. Im Unterschied zur Form ist das moralische Urteil inhaltlich als problematisch zu denken und seine Unterscheidungen insofern gerade als nichtradikal. Diese Differenz ist bekanntlich die Grundlage von Kants Einteilung der Metaphysik der Sitten in die Rechts- und die Tugendlehre. Das Recht ist es, das wesentlich nach der Tat kommt, um über Handlungen als äußere Erscheinungen ein assertorisches Urteil zu treffen und sie unter eine gegebene Regel zu subsumieren. Das Geschäft der Moral hat sich dagegen wesentlich vor der Tat zu vollziehen, um nur die Maximen der möglichen Handlung in ihren Ansprüchen, Triebfeder für diese zu sein, zu überprüfen und sich dann für eine ad hoc entstandene Regel zu entscheiden.74 Nach der Tat kann über das Moralisch-Gute nie mit Sicherheit geurteilt werden. Deswegen kann man im strengen Sinne nicht von der moralischen Handlung sprechen. Kants Maximenethik reicht nicht so weit.75 In den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre werden alle positiven Pflichten nur noch als unvollkommen gedacht; die moralische Urteilskraft verwickelt sich dabei in kasuistische Fragen, deren Lösung dem in concreto urteilenden Subjekt der Handlung überlassen werden muss, die es aber niemals mit Sicherheit korrekt lösen kann. Nur das
73 Der Modalität nach wird aus einem problematischen Urteil, „wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt“, eine apodiktische Forderung, in der „man es als notwendig ansieht“, aber nur als Privaturteil, das nicht assertorisch ist, d. h. nicht „als wirklich (wahr) betrachtet wird“ (KrV A 74 f./B 100). Die moralische Gewissheit ist unmöglich und dennoch für die Handlung unumgänglich. 74 „In ethischer Hinsicht ist für Überlegungen immer noch Zeit; denn weil die Ethik sich nur auf Maximen der Handlungen beziehen kann, steht die ethische Überlegung wesentlich vor dem Fall.“ (Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 431) 75 Dass Kants Ethik eine Maximenethik ist, wurde in der Kant-Forschung genug dargetan. S. dazu die Arbeiten von Otfried Höffe: Immanuel Kant, S. 187 ff.; Otfried Höffe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, S. 356. Vgl. in diesem Sinn auch Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis. Versuch zur Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren in Verbindung mit einer Interpretation der praktischen Philosophie Kants, S. 133; Oswald Schwemmer, Vernunft und Moral. Versuch einer kritischen Rekonstruktion des kategorischen Imperativs bei Kant, S. 257.
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Recht hat ein äußeres Kriterium für seine Urteile, welches die Moral entbehrt, und stellt somit eine notwendige Ergänzung zur Moral dar. Die Unterscheidung des Rechts und der Moral in ihrem Bezug auf den Bestimmungsgrund der Handlung bleibt nur eine Lösung für die Schwierigkeiten der konkreten Anwendung des kategorischen Imperativs, solange diese Unterscheidung in ihrer Radikalität selbst nicht in concreto hinterfragt wird. Die Handlung als Erscheinung genommen kann nicht gerichtet werden, weil es in praktischer Sicht überhaupt nicht ums Dasein und Nichtsein, sondern um das Pflichtgemäße und Pflichtwidrige geht. Die Tat definiert Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre als „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird“ (MS, AA 6, S. 223). Die Tat muss folglich auch im Recht als Handlung aus „der Freiheit seiner Willkür“, d. h. als ein dem Menschen zugerechnetes Handeln beurteilt werden.76 Also bezieht sich das Recht, wenn nicht auf die Maximen, so auch nicht auf die Handlungen als bloß äußere Erscheinungen, sondern auf etwas, was zwischen beiden vermittelt: auf die den Handlungen zugrunde liegenden Absichten.77 Über letztere wird dennoch nach äußeren Kennzeichen und deshalb sehr unsicher – denn wer kann in Bezug auf die Absichten eines anderen Menschen sicher sein? – geurteilt. Zwar ist deswegen der „Sinnspruch der Billigkeit“, dass „das strengste Recht das größte Unrecht“ sei, nach Kant völlig korrekt, dennoch ist „diesem Übel“ auf dem Wege des Rechts „nicht abzuhelfen“ (MS, AA 6, S. 235). Das Recht selbst darf aus diesem Grund nicht in Frage gestellt werden, obwohl selbstverständlich klar bleibt, dass dessen Anwendung nur sehr unvollkommen und demgemäß auch sehr wohl unrecht sein kann. Doch das Recht als solches kann niemals gerichtet werden. Dem existierenden Recht Widerstand zu leisten, wäre das größte Unrecht. Kants Argumentation ist an dieser Stelle sowohl moralisch als auch pragmatisch begründet: Ein solcher Widerstand könnte einerseits niemals ohne krassen Selbstwiderspruch als allgemeines Gesetz gewollt werden, anderseits wäre dadurch jede Hoffnung auf das friedliche Zusammenleben der Menschen von vornherein untergraben.78
76 Vgl. „Die Freiheit des Individuums ist der Ursprung des Rechts.“ (Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, S. 228) 77 Vgl. KpV, AA 5, S. 66. Eine rechtliche Beurteilung über das Äußere einer Handlung kann nicht umhin, der letzteren einen freien Akt der Willkür zu unterstellen. Das heutige Recht unterscheidet dabei vorsätzliche und fahrlässige Handlungen (StGB, § 15). Über die Strafbarkeit einer Tat (und über das Strafmaß) kann demzufolge nicht ohne Berücksichtigung der Absichten entschieden werden, auch wenn diese nur indirekt nachweisbar sind. In der Moral geht es dagegen nach Kant nicht um die Absichten, sondern um die ihnen zugrundeliegenden Maximen. Letztere dürfen gerade nicht mit Absichten verwechselt werden, was in der Forschungsliteratur nicht selten der Fall war (vgl. bspw. Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 132). 78 Kant scheut nicht davor zurück, diesen Gedanken konsequent zu Ende zu führen. In der Metaphysik der Sitten wird die „Entthronung eines Monarchen“ als rechtswidrig angesehen. Sie könne niemals
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1.2 Die moralische Urteilskraft
Das friedliche Zusammenleben oder der ewige, für immer versicherte Friede, vielleicht auch nur ein „süße[r] […] Traum“ der Philosophen (Zum ewigen Frieden, AA 8, S. 343), der „als Schwärmerei allgemein verlacht“ wird (RGV, AA 6, S. 34), ist das eigentliche Ziel des Rechts. Zur Aufgabe, das Recht – „das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann“ (MS, AA 6, S. 304) – zu befördern, ist jedoch jeder Mensch moralisch verpflichtet. Zwischen dem Recht und der Moral gibt es somit eben keinen radikalen Unterschied, sondern vielmehr eine Unterscheidung der Geltung in concreto. Die rechtlich-moralische Differenz bleibt insofern für die Urteilskraft nicht radikal und selbst kasuistisch.79 Die Abgrenzung beider Bereiche des Praktischen gehört zur Metaphysik. Deshalb wird sie erst in der Metaphysik der Sitten vollzogen.80 Aus kritischer Sicht bleiben dagegen beide, die Moral und das Recht, aufeinander angewiesen. Für ein moralisches Urteil wäre die juridische Evidenz zwar unzulänglich, es muss dennoch als unbedingte moralische Pflicht betrachtet werden, sich der Unvollkommenheit des Rechts und seinem unabhelfbaren Übel zu unterwerfen – eine Unterwerfung, die Kant u. a. von Seiten der russischen Denker mehrmals vorgeworfen wurde.81 Tatsächlich haben wir hier mit einer zirkulären Bewegung zu tun: Das Recht ergänzt äußerlich die Moral, die ihrerseits das Recht unterstützen soll. Um diesen Zirkel zu legitimieren, wird das Recht von Kant in den Zusammenhang mit einer
rechtmäßig geschehen, „weil alles, was er vorher in der Qualität eines Oberhaupts that, als äußerlich rechtmäßig geschehen angesehen werden muß“ (MS, AA 6, S. 330). 79 Das Einsetzen der moralischen Urteilskraft entkräftet somit nicht nur den radikalen Unterschied zwischen der Moral und dem Recht, sondern auch die Einwände Hegels gegen Kants Moral als die einer reinen Gesinnung, die auch in die späteren Diskussionen aufgenommen wurden. Vgl. dazu Wolfgang Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, bes. die Vorbemerkung des Herausgebers (S. 8) und den Beitrag von Jürgen Habermas (Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?). 80 Deshalb kann ich auch bspw. Hermann Baum nur teilweise Recht geben, wenn er sagt, in Kants berühmtem Verbot der Lüge handle es sich um ein Rechtsprinzip (Baum, Kant: Moral und Religion, S. 21). Kritisch betrachtet ist diese Differenz selbst fraglich und löst, wie oben angedeutet, die Schwierigkeiten nicht. Auf die integrierende Rolle des Lügen-Verbots für die Moral und das Recht verweist Römpp (Die Sprache der Freiheit, S. 203). Das Thema, wie sich das Recht zur Moral bei Kant verhält, ist mehrfach und unter vielerlei Hinsichten untersucht worden. Auch hier sind die Positionen vielfältig. Ich schließe mich den Forschern an, die die Rechtslehre als unverzichtbaren Teil kantischer Moralphilosophie betrachten. Vgl. z. B. Steigleder, Kants Moralphilosophie, S. 131 ff. S. dort Hinweise auf die weitere Forschungsliteratur. 81 Zur Frage nach der Verletzung der individuellen Menschenrechte durch das rechtlich-staatliche Gemeinwesen nach Kant und kritisch ihm gegenüber s. Heiner F. Klemme, Das rechtstaatliche Folterverbot aus der Perspektive der Philosophie Kants. Das Problem des „gesetzlichen Unrechts“ setzt allerdings voraus, dass wir wissen, was Recht und was Unrecht sei, und dies positiv-inhaltlich. Kant wollte jedoch auch in der Metaphysik der Sitten eine solche Voraussetzung vermeiden. Deshalb wäre das gesetzliche Unrecht für ihn eine contradictio in adjecto. Zum Verhältnis von Ethik und Rechtslehre bei Kant s. auch: Heiner F. Klemme, Das „angeborene Recht der Freiheit“. Zum inneren Mein und Dein in Kants Rechtslehre; Heiner F. Klemme, Immanuel Kant.
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
weiteren Ergänzung gestellt – mit der Idee der höchsten und vollkommenen Gerechtigkeit, mit der religiösen Idee des höchsten Gerichts. Das Recht sei nicht nur das Heiligste unter Menschen, sondern auch „das Heiligste, was Gott auf Erden hat“. So musste ein Herrscher, der im Namen des Rechts handelt und so zum „Stellvertreter“ Gottes auf Erden und „göttlichen Gesalbten“ wird – was Kant für keine Übertreibung oder Schmeichelei hält –, wenn „er Verstand hat (welches man doch voraussetzen muß)“, immer demütig bedenken, dass „er ein Amt übernommen habe, das für einen Menschen zu groß ist“. Er musste „jederzeit in Besorgniß stehen […]“, „diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu sein“ (Zum ewigen Frieden, AA 8, S. 353, Anm. 2). Die Idee Gottes ist somit eine wichtige Ergänzung der Unvollkommenheit des Rechts. Sie lässt die vollkommene Gerechtigkeit denken, indem Gott als gerechter Richter, als höchste rechtliche Instanz vorgestellt wird. Er ist aber auch als höchste moralische Instanz zu denken, als Urheber „aller unserer Pflichten“ (RGV, AA 6, S. 153). Im Begriff Gottes wird somit die rechtlich-moralische Differenz aufgehoben. So notiert Kant für sich:
Das principium der rechtlichen Pflicht ist: ich muß so handeln, als wenn meine maximen eben so von jedermann wie von Gott gesehen würden. Ich kann mir des Vortheils nicht bedienen, daß mein Herz Fensterladen hat. (Nachlaßreflexionen (7822), AA 19, S. 526 f.)
Nur Gott als höchster Gesetzgeber, dessen „Augapfel“ das irdische Recht ist, kann alle „Fensterladen“ des Herzens, alle Triebfedern durchschauen, über die der Handelnde einen äußeren Beobachter, aber auch sich selbst täuschen kann.82 Die religiöse Deutung des Rechts, wenn das Religiöse auch nur im Sinne einer Vernunftreligion zu verstehen ist (denn es handelt sich schließlich um eine gedachte und erhoffte Instanz, um einen Vernunftglauben), ergänzt so die Unvollkommenheit des Menschen, der sich seines moralischen Urteils niemals sicher sein kann, aber sich auch des unumgänglichen Mangels der irdischen Gerechtigkeit bewusst ist. Deswegen ist es nach Kant eine moralische Pflicht, nicht nur das Recht, sondern auch die Religion zu pflegen.83 Es ist allerdings äußerst wichtig, dass beide fremden (oder als fremd gedachten) Ergänzungen des Moralischen durch den irdischen und den himmlischen Richter nicht wegen der Schwäche der Urteilskraft in Anspruch zu nehmen sind. Es ist gerade umgekehrt: Wenn die moralische Urteilskraft trügerisch wäre, wäre es sinnlos, überhaupt von Recht und Religion zu reden. Die moralische Urteilskraft muss sich dem
82 Es ist Gott allein, der die Menschen nach ihrer Gesinnung beurteilt; wir selber „müssen allenfalls nur aus den Folgen derselben im Lebenswandel auf sie schließen, welcher Schluß aber, weil er nur aus Wahrnehmungen als Erscheinungen der guten und bösen Gesinnung gezogen worden, vornehmlich die S t ä r k e derselben niemals mit Sicherheit zu erkennen gibt […]“ (RGV, AA 6, S. 71). 83 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Moral und Religion wird uns noch im Dostojewski-Kapitel beschäftigen. Seine Deutung bei Kant scheint relativ klar zu sein. S. dazu Michael Städtler (Hg.), Kants „ethisches Gemeinwesen“. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie.
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1.2 Die moralische Urteilskraft
äußeren Richter selbst unterwerfen, denn sonst wäre auch eine rechtliche Ordnung moralisch wertlos. Mit anderen Worten: Das friedliche Zusammenleben würde äußerlich erzwungen und unsicher bleiben, wenn es nicht zur „Herrschaft des guten Princips“ (RGV, AA 6, S. 151), zum Reich Gottes auf Erden werden könnte. Die Nötigung zu einer äußeren Ergänzung der Moralität muss also dieser Moralität selbst entspringen: Sie ist nötig, nicht etwa weil die Urteilskraft sich irrt, sondern weil das ästhetische Bedingt-Sein des Urteilenden bei jedem Urteilen stets mitgedacht werden soll. Wie im theoretischen Gebrauch der Vernunft ist hier dem Irrtum dadurch zu entgehen, dass man die Schranken seines Wissens anerkennt. Doch im Unterschied zum Theoretischen kann man im Praktischen auf gewisse Urteile auch bei unzureichender Sicherheit nicht verzichten. So sind wir nach Kant „genöthigt“, „die Existenz Gottes vorauszusetzen nicht bloß alsdann […], wenn wir urtheilen w o l l e n , sondern weil wir u r t h e i l e n m ü s s e n “ (Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8, S. 139). Die Unmöglichkeit moralischer Sicherheit muss bei der Nötigung zur Handlung wiederum moralisch anerkannt werden, deshalb bleibt auch die Notwendigkeit eines äußeren Urteils unumstritten. Die moralische Forderung zur Anerkennung der Unzulänglichkeit der moralischen Urteilskraft hat Folgen für Kants Moral aus Vernunft. Einerseits wird dadurch der Raum für Recht und Religion gewonnen bzw. der ewige Friede und das Reich Gottes auf Erden als Zweck des praktischen Vernunftgebrauchs gesichert. Andererseits aber wird mit der Einführung einer äußeren Instanz die Autonomie des Willens bedroht. Die Schwierigkeit würde nur beseitigt, wenn sie wiederum durch die Urteilskraft zu beheben wäre. Die Autonomie des moralischen Urteils wäre nur zu retten, wenn die Urteilskraft selbst das eigene Beschränkt-Sein bedenkt. Dafür steht in der abendländischen Moralphilosophie traditionell die Instanz, die gleichzeitig als eigene Stimme und als Stimme Gottes interpretiert werden kann – das Gewissen, das von Kant nun verstanden wird als „d i e s i c h s e l b s t r i c h t e n d e m o r a l i s c h e U r t e i l s k r a f t “ (RGV, AA 6, S. 186). Es ist die Urteilskraft, die zum eigenen Richter wird und damit die Differenz zwischen dem äußeren und inneren Richterurteil aufhebt. Dazu Simon:
Weil im Gewissen die Differenz zwischen Täter und Richter (und insofern auch die Differenz zwischen Ethik und Recht) aufgehoben ist, ist es der härteste, allgegenwärtige Richter.84
Wenn dieser Richter fehlt, wird die Kluft zwischen der innerlich befangenen moralischen Urteilskraft und den sie richtenden Instanzen unüberbrückbar und die Moral nur als Folge eines äußeren Zwangs bzw. nur aus Furcht vor einem Richter möglich sein. Das erhoffte Reich Gottes, selbst wenn es auf Erden errichtet werden könnte, wäre dann moralisch wertlos. Es würde, wie Kant in einer kleinen Schrift darstellt, gerade „das (verkehrte) Ende aller Dinge“ bedeuten (Das Ende aller Dinge, AA 8,
84 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 428.
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S. 339). Der innere Richter ist also notwendig, es ist sogar eine unbedingte Pflicht, dessen Bewusstsein aufrecht zu erhalten (RGV, AA 6, S. 185). Wie soll er aber möglich sein? Ist eine solche sich selbst richtende Instanz widerspruchsfrei zu denken?85 Um Kants Antwort auf diese Frage zu verstehen, müssen wir das Problem der moralischen Kasuistik noch einmal vor Augen führen. Subjektiv kann die moralische Urteilskraft sich niemals irren, sie ist unfehlbar. D. h.: Das, was vor der Handlung für das Gute gehalten wurde, kann dem Handelnden nicht vorgeworfen werden. Objektiv jedoch muss das konkrete Urteil immer als möglicherweise fehlerhaft gegenüber dem allgemeinen Gesetz gedacht werden. Es bedarf also der moralischen Urteilskraft, um über eigene moralische, in concreto getroffene Urteile zu urteilen. Aber auch über die Urteile dieser Urteilskraft muss geurteilt werden, und dafür bedarf es wiederum einer Urteilskraft. Das Urteilen über das Urteilen läuft ad infinitum. Man muss jedes Mal ein Prinzip ihres Gebrauchs ansetzen, das selbst wieder überprüft werden muss. Kant beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:
Die Ethik […] führt wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich dahin, zu Fragen, welche die Urtheilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei und zwar so: daß diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wiederum nach einem Princip der Anwendung dieser auf vorkommende Fälle gefragt werden kann); und so geräth sie in eine C a s u i s t i k , von welcher die Rechtslehre nichts weiß. (MS, AA 6, S. 411)
Dieses fortgesetzte Hinterfragen, zu dem sich die moralische Urteilskraft genötigt fühlt und durch das sie in einen unendlichen Regress gerät, lässt ihr keine Ruhe. Gerade durch diese Unruhe wird sie zum Gewissen.86 Die Urteilskraft ist dabei, es sei nochmals betont, „nicht etwas Erwerbliches und es giebt keine Pflicht, sich eine […] anzuschaffen“ (MS, AA 6, S. 400), sie kann nur geübt, oder, als Beschaffenheit des Gemüts, nur „kultiviert“ werden. Folglich ist auch das Gewissen nicht zu erwerben.
85 In der Kritik der praktischen Vernunft sowie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten spielt der Begriff noch keine große Rolle. Erst in der Religionsschrift, wo das Problem des Bösen in den Vordergrund tritt, wird er bedeutsam. Im Folgenden können nicht alle Kontexte des kantischen Begriffs des Gewissens berücksichtigt werden. Zur Genese des Begriffs und seinen Erörterungen in Kants Vorlesungen s. Thomas Sören Hoffmann, Gewissen als praktische Apperzeption. Zur Lehre vom Gewissen in Kants Ethik-Vorlesungen; Gerhard Lehmann, Zur Analyse des Gewissens in Kants Vorlesungen über Moralphilosophie. 86 Wie Wolfgang Wieland zurecht betont, steht der Handelnde unter dem Druck der Zeit und da „das Handeln in der konkreten Situation durch das Sittengesetz jedoch nur mittelbar und schon gar nicht lückenlos in allen Details reguliert“ werden kann, muss es als Domäne der Urteilskraft bezeichnet werden. In ihrer Selbstbezüglichkeit wird die Urteilskraft zum Gewissen, das sich der eigenen Sorgfalt vergewissern soll (Wieland, Urteil und Gefühl, S. 164 ff.). Das kann es allerdings niemals mit Sicherheit tun.
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1.2 Die moralische Urteilskraft
Man kann es nicht erlernen, ein gewissenhafter Mensch zu sein. Nur „ein Postulat des Gewissens“ bleibt uns als Leitfaden: […] von der [Handlung], die i c h unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen und meinen, sondern auch g e w i ß sein, dass sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der P r o b a b i l i s m u s , d. i. der Grundsatz entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen. (RGV, AA 6, S. 186)
Hier muss man wiederum bedenken, dass gerade die moralischen Urteile niemals objektiv, niemals gewiss sind. Das bloß subjektive Fürwahrhalten kann sich für den Handelnden immer als unzureichend erweisen. Wie schon die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft deutlich machte, kann man die Stufen des Fürwahrhaltens vom eigenen Standpunkt aus niemals mit Sicherheit unterscheiden. Man benötigt dafür eine äußerliche Mitteilung und die Überprüfung eigener Urteile durch „fremde Vernunft“. Die Urteilskraft, die sich selbst richtet, kann dementsprechend niemals sicher sein, dass ihr Urteil nicht unrecht gewesen ist.87 Kant sah bekanntlich eine gewisse Schwierigkeit darin, die Möglichkeit der „i n n e r e n Lüge“ zu erklären: „weil eine zweite Person dazu erforderlich ist, die man zu hintergehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint“ (MS, AA 6, S. 430).88 Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass immer Selbstbetrug im Spiel ist, „wenn nur die Handlungen das Böse nicht zur Folge haben“, „sich seiner Gesinnung wegen nicht zu beunruhigen, sondern vielmehr vor dem Gesetze gerechtfertigt zu halten“. Die Gewissensruhe ist deshalb zweifellos kein Merkmal der guten Gesinnung, sondern eher umgekehrt eine „T ü c k e des menschlichen Herzens“, der „faule Fleck unserer Gattung“ (RGV, AA 6, S. 38). Die Gründe dafür sind: Zwar kann sich das Gewissen niemals irren (MS, AA 6, S. 401), die moralische Urteilskraft kann dies aber sehr wohl. Mit anderen Worten: Wir können uns das Gewissen zwar nicht als fehlerhaft vorstellen, wissen aber niemals, inwieweit wir uns an dessen Ausspruch bei einem bestimmten Urteil und, mehr noch, bei einer bestimmten Handlung „gekehrt“ haben (MS, AA 6, S. 400). Der moralische Grundsatz „man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei“ (RGV, AA 6, S. 185) ist somit praktisch nicht erfüllbar oder anders ausgedrückt: Es ist immer objektiv möglich,
87 Daher kann ich Thomas Hoffmann nicht zustimmen, Kants Gewissenslehre „in ihrer letzten Gestalt“ sei, „daß es moralische Gewißheit in Beziehung auf erscheinendes Handeln tatsächlich nur in der Binnenperspektive des Handelns“ gibt (Hoffmann, Gewissen als praktische Apperzeption, S. 426). Wenn es diese Gewissheit in der Binnenperspektive gäbe, würde das Gewissen überhaupt nicht vonnöten sein. 88 Vgl. weiter: „[…] dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerathe“ (MS, AA 6, S. 439).
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dass die Urteilskraft irrt, und es ist subjektiv notwendig, sie als objektiv irrend zu denken. Dies formuliert Simon folgendermaßen: „Das Gewissen kann zwar ‚subjektiv‘ nicht irren, […] es kann sich aber […] als ‚objektiv‘ irrend verstehen“.89 Es muss sich so verstehen. Und dies allein kann als Pflicht angesehen werden: über die moralische Urteilskraft moralisch zu urteilen. Nicht nur einem Ketzerrichter, sondern jedem Handelnden ist es unmöglich, sich als objektiv gerecht zu denken und bei einer Handlung für sich mit Recht eine Gewissensruhe zu beanspruchen.90 Es muss also immer ein schlechtes Gewissen, nicht nur eine sich selbst richtende, sondern auch sich selbst verurteilende, sich selbst immer schuldig findende moralische Urteilskraft sein, die für sich das letzte Wort in moralischen Dingen beansprucht.91 So kommen wir zu folgendem Schluss, der nicht völlig unerwartet, aber auch nicht unmittelbar evident ist, sondern vom Ansatz der kantischen Moralphilosophie impliziert wird: Die moralische Urteilskraft muss sich unvermeidlich selbst verurtei-
89 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 430 f. Diese Formulierung scheint treffender zu sein als die Einteilung in das prospektive und retrospektive Gewissen von Bernecker (Simon, Kant zur moralischen Selbsterkenntnis, S. 173 ff.). 90 Ein sich mit Sicherheit irrender Ketzerrichter ist Kants Beispiel (RGV, AA 6, S. 186 f.), zu dem wir im Zusammenhang mit Nietzsche zurückkehren werden, der diese Passage bei Kant als Zeugnis seines „psychologische[n] Idiotismus“ ansah (Nietzsche, Nachlass, Ende 1886–Frühjahr 1887, 7[4], KSA 12, S. 268). Das Beispiel scheint tatsächlich schon deshalb zweifelhaft zu sein, weil ein Ketzer, historisch gesehen, niemals als „sonst gute[r] Bürger“ beurteilt wurde, sondern gerade als derjenige, der dem Gemeinwohl schadet. Man kann Kants Argumentation gewiss als „artifiziell“ betrachten, wenn er sagt, es könne niemals eine apodiktische Gewissheit geben, der angebliche Ketzer irre sich. Doch kann man die Schwierigkeit nicht bloß mit der Nötigung zum „Einräumen der Möglichkeit eines anderen Gewissens“ durch das eigene lösen (Hoffmann, Gewissen als praktische Apperzeption, S. 442). Die Unmöglichkeit der apodiktischen Gewissheit bzw. des guten Gewissens ist dafür ernst zu nehmen. Kants Beispiel sollte demonstrieren, dass das Gewissen gerade dann irrt, wenn es schweigt, und deshalb das eigene Schweigen nicht als Rechtfertigung betrachten kann. Mit dem Ketzerrichter-Beispiel wird allerdings gleichzeitig die Grenze gezogen, die Kant nicht überschreiten wollte: Es ist das Beispiel von einem irrenden Gewissen, das sein Gegenteil nicht ausschließen, sondern gerade verdeutlichen sollte. Schließlich wird die Unmöglichkeit eines Freispruchs seitens des Gewissens bzw. einer objektiv nicht irrenden moralischen Urteilskraft bei Kant nur noch indirekt angedeutet. 91 Der alltägliche Sprachgebrauch bestätigt es: Man spricht vom Gewissen eben dann, wenn es um ein Schuldgefühl bzw. um die Nötigung zur Selbstrechtfertigung geht. Zum Gewissen als erster und letzter Instanz der auf sich gestellten ethischen Orientierung s. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 603 f. Zur Vorgeschichte des Begriffs bei Kant s. Hoffmann, Gewissen als praktische Apperzeption, S. 426 ff. U. a. wird hier auf Demokrit hingewiesen, dessen Ausdruck συνείδησις τῆῆς κακοπραγμοσύνη als „schlechtes Gewissen“ verstanden werden kann. Dennoch scheint Hoffmann den kantischen Begriff des Gewissens nicht im Sinne des Verurteilens zu verstehen, sondern dessen Spezifikum nur im Bezug auf die Handlungen zu sehen, wofür die moralische Urteilskraft schon immer zuständig war. Er bringt damit den kantischen Begriff des Gewissens dem hegelschen zu nahe. Der letztere sah „das Wesen des Gewissens dies Berechnen und Erwägen abzuschneiden, und ohne solche Gründe aus sich zu entscheiden“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 475). Nach Kant wird im Gewissen gerade dieser Abbruch gerichtet, der immer zu früh erfolgt. Deshalb kommt es nicht zum guten Gewissen.
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len, indem sie sich selbst richtet, d. h. indem sie zum Gewissen wird. Als vor der Handlung stehender Täter gerät sie in die Kasuistik, aus deren Perspektive sie nach der Tat für sich selbst verdächtig und schuldig aussehen muss. Dieser Gedanke kommt deutlich zum Ausdruck, wenn Kant sagt, das Gewissen richte „nicht die Handlungen als Casus“, sondern „hier richtet die Vernunft sich selbst“ (RGV, AA 6, S. 186).92 Dies zu tun ist eine unbedingte moralische Pflicht; es ist eine Pflicht der Vernunft gegenüber der Vernunft. Die sich selbst richtende moralische Urteilskraft als härtester aller Richter soll ihr eigenes Urteil (zumindest der Möglichkeit nach) als fehlerhaft betrachten und sich selber schuldig sprechen, weil sie in jedem positiven Urteil, bei dem sie zum für die Handlung unvermeidlichen Abbruch der Kasuistik genötigt ist, einen Mangel bzw. eigene Unvollkommenheit vermutet. Sie bestätigt somit die Radikalität des Bösen der menschlichen Natur, indem sie einen Richter schafft, der das „Heiligste, was Gott auf Erden hat“ auf überzeugendste Weise zum inneren Maßstab umdeutet, demzufolge nicht bloß die Handlungen und Absichten, sondern auch die Maximen in ihrer Rechtmäßigkeit unter Verdacht geraten müssen. Insofern kann die Gewissensruhe tatsächlich nur auf die Verkehrtheit des Herzens (dolus malus) hindeuten (RGV, AA 6, S. 38). Das Böse ist dem Menschen unvermeidlich. Kant beruft sich dabei auf die Worte des Apostels Paulus:
Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder – es ist Keiner, der Gutes tue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer. (RGV, AA 6, S. 39)
Den Richter, der diesen harten Schuldspruch ausspricht, müssen wir, um den Menschen als sittliches und vernünftiges Wesen denken zu können, jedem Menschen als seine „moralische Beschaffenheit“, als Vermögen des Gemüts beilegen. Das Gewissen, dieses „wundersame[ ] Vermögen in uns“ (KpV, AA 5, S. 98), dient somit gleichsam einer Brücke zwischen der innerlich befangenen moralischen Urteilskraft und dem Urteil des Richters – des äußerlichen (im Recht) oder des äußerlich gedachten (in der Religion) – und verschafft diesem innere Plausibilität. Das schlechte Gewissen ist die unvermeidliche Folge der Unvollkommenheit der Positivität in der Vorstellung von den eigenen Pflichten. Es ist das Bedenken der Kluft zwischen den allgemeinen Prinzipien und den konkreten Urteilen, zwischen der allgemeinen Menschenvernunft und dem privaten Urteilsvermögen des Einzelnen:
[…]denn wenn sie [die Vernunft – E.P.] sagt: thue so viel Gutes, als du kannst; so ist solches noch lange nicht zu meiner Beruhigung hinreichend. Denn, wo ist ein Mensch, der da bestimmen
92 Schopenhauer interpretierte es als Kants Ungereimtheit, dass „der Ankläger“ im Gewissen immer verlieren solle. (Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, Bd. 4, S. 169). Wir haben dagegen gesehen, dass der „Ankläger“ vor dem Richterstuhl des Gewissens eines Menschen gerade umgekehrt niemals verlieren kann. „[D]er Advocat, der zu seinem Vortheil spricht“, kann „den Ankläger in ihm keineswegs zum Verstummen bringen […]“ (KpV, AA 5, S. 98).
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könnte, wie viel Gutes er thun kann, oder der so vermessen seyn sollte, zu sagen: Ich habe alles Gutes gethan, was ich gekonnt habe?93
Wenn jemand es wagen würde, dies zu sagen, so würde er gleichsam behaupten, dass er kein Gewissen, keine sich selbst richtende moralische Urteilskraft nötig hat. Als Mensch darf er dies niemals tun. Denn seine Achtung vor dem ihm unbegreiflichen moralischen Gesetz einerseits und sein Bedenken eigener Unvollkommenheit andererseits lassen ihm keine Möglichkeit zur Nachsicht gegenüber sich selbst, sondern rufen zur Wachsamkeit und zur stetigen Unruhe auf. Das in concreto urteilende und handelnde Subjekt muss sich vor dem höchsten Gerichtshof eigener Vernunft schuldig sprechen, um sich als moralisch und vernünftig denken zu dürfen.
1.3 „Ergänzungsstück“ der Moralität und das Ideal der Vollkommenheit Der Übergang von der bloß objektiven Pflichtvorstellung zum subjektiven Grund der Handlung bleibt für die Tugendlehre kasuistisch und deswegen unsicher. Die moralische Urteilskraft muss sich selbst stets verurteilen. „Die […] sklavische Gemüthsstimmung“ und ein „verborgener Haß des Gesetzes“ (RGV, AA 6, S. 25) wären die höchstwahrscheinliche Folge davon und eine moralische Handlung ohne die „sophistischen Ausflüchte vom Gebot der Pflicht“ nicht möglich, d. h. es wären gar keine moralischen Handlungen möglich, wenn dies tatsächlich der letzte Schluss der Moralphilosophie sein sollte. Dennoch, wie schon mehrmals angedeutet, darf die ästhetische Bedingtheit des urteilenden und handelnden Menschen vom kantischen Denken her nicht einfach verurteilt werden. Nur deren Verkennung und Verleugnung verdient eine solche Verurteilung. Indem sie aber anerkannt wird, findet die Unvollkommenheit der menschlichen Natur ein „Ergänzungsstück“, dank dem der an seinen eigenen moralischen Ansprüchen sonst verzweifelnde Mensch eine Versöhnung des Tierischen und des Menschlichen in sich erreichen kann. Zumindest lässt sich ein solches Ergänzungsstück denken: die Liebe (Das Ende aller Dinge, AA 8, S. 338). Eine besondere Stellung der Liebe als „unentbehrliche“ Ergänzung zu Recht und Ethik bei Kant betont Josef Simon: Die Liebe „erscheint bei Kant […] als notwendige Ergänzung zu Ethik und Recht“.94 Denn:
Das Handeln der Menschen kann ihr gutes Zusammenleben (und damit das Wohl der Gattung) auch dann nicht bewirken, wenn es sich ethisch und rechtlich zu orientieren sucht.95
93 Immanuel Kant, Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, S. 225 f. 94 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 391. 95 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 469.
1.3 „Ergänzungsstück“ der Moralität und das Ideal der Vollkommenheit
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Die Anwendung des Rechts bleibt beschränkt und äußerlich erzwungen, der Grund für die konkrete Handlung immer undurchschaubar, die Richtigkeit eines Urteils zweifelhaft. Die Möglichkeit des Guten entspringt der Wirklichkeit des Bösen. Und das Böse in seiner Radikalität lässt der moralischen Urteilskraft keine Hoffnung, vor dem eigenen Gerichtshof gerechtfertigt zu werden. Es ist die Liebenswürdigkeit des moralischen Gesetzes allein, die ohne Angst vor Strafe und ohne Hoffnung auf eine Belohnung einen Übergang von der Pflichtvorstellung zur Pflichtbefolgung schaffen kann. In Das Ende aller Dinge kommt Kant zum Schluss auf den Gedanken, dass, wenn die Liebeswürdigkeit des moralischen Gebots (als neben der Heiligkeit der Gesetzgebung eine dem Christentum zustehende Eigenschaft) untergehen könnte, dieser Untergang der Errichtung eines „vermutlich auf Furcht und Eigennutz gegründete[n]“ Reichs des Antichristen, wo Moralität selbst nicht mehr möglich ist, gliche (Das Ende aller Dinge, AA 8, S. 339). Doch die Liebe als Wohlgefallen gehört nicht zu den Triebfedern der Moralität. Eine der kasuistischen Fragen in Hinsicht auf Liebespflichten gegen andere Menschen lautete: ob „es mit dem Wohl der Welt überhaupt nicht besser stehen“ würde, „wenn alle Moralität der Menschen nur auf Rechtspflichten, doch mit der größten Gewissenhaftigkeit eingeschränkt, das Wohlwollen aber unter die Adiaphora gezählt würde“. Es lässt sich vermuten, dass eine solche Einschränkung für das Recht, für den „ewigen Frieden“ sogar besser wäre. Und ausnahmsweise beantwortet Kant seine kasuistische Frage (denn meistens bleiben sie ohne Antwort):
Aber in diesem Fall würde es doch wenigstens an einer großen moralischen Zierde der Welt, nämlich der Menschenliebe, fehlen, welche also für sich, auch ohne die Vortheile (der Glückseligkeit) zu berechnen, die Welt als ein schönes moralisches Ganze in ihrer ganzen Vollkommenheit darzustellen erfordert wird. (MS, AA 6, S. 458, meine Hervorhebung – E.P.)
Das Argument zugunsten der Ergänzung des Moralischen kommt also nicht aus der moralischen Nötigung des friedlichen und rechtlich gesicherten Zusammenlebens, sondern aus der auf den ersten Blick für die Moralität ganz fremden Perspektive des Ästhetischen: die Vollkommenheit der Welt als „ein schönes moralisches Ganze[s]“ soll möglich sein.96 Und dennoch: Das ästhetische Argument ist in moralischen Dingen gerade aus der Perspektive der kantischen Moralphilosophie äußerst fraglich. Kants Unterscheidung der Liebe als Neigung, die „nicht geboten werden“ kann (GMS, AA 4, S. 399; MS, AA 6, S. 401), und der Liebe als Wohltätigkeit, die als Pflicht gegen den anderen verstanden wird, scheint das „Ästhetische“ (das Gefühl oder das Wohlgefallen) dem Ethischen (dem guten Willen oder dem Wohlwollen) gerade radikal entgegenzuset
96 Der Idee der moralischen Welt und ihren Wandlungen bei Kant ist ein aufschlussreicher Aufsatz bzw. eine Vorlesung von Dieter Henrich gewidmet. U. a. wird die Unentbehrlichkeit dieser Idee für Kants Ethik gezeigt, die Kant Rousseau zu verdanken hat (Henrich, Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World).
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
zen. Eine Neigung kann keine entscheidende Rolle für die Moralität spielen, weil gerade die Moralität den Neigungen Abbruch tun muss – Kants Argumentation für diese These ist wohl bekannt. Wenn die Liebe dagegen bloß als moralisches Wohlwollen und insofern als Tugendpflicht verstanden wäre, dann könnte sie den kasuistisch-kumulativen Fragen nach den subjektiven Gründen in Befolgung der Pflicht nicht entgehen. Folglich wäre sie auch keine Ergänzung der Unvollkommenheit der menschlichen Natur. Wenn sie die Moralität in concreto vollenden und dem Handelnden über seine Triebfedern Gewissheit verschaffen soll, kann sie nicht rein intellektuell, sondern muss auch ästhetisch bedingt sein und ebendiese ästhetische Bedingtheit als Grundlage zur moralischen Vollkommenheit zu nutzen wissen. Wie ist das aber möglich, wenn das Moralische eben als Intelligibles, als von allem Empirischen freies Vermögen des Menschen gedacht wird? In der Metaphysik der Sitten wird eine wichtige Differenzierung durchgeführt: Nicht nur die Liebe als Neigung, sondern auch die Liebe als Wohlwollen ist nach Kant unvermeidlich ästhetisch bedingt. Hier scheint ein längeres Zitat nötig zu sein:
Aber Einer ist mir doch näher als der Andere, und ich bin im Wohlwollen mir selbst der Nächste. Wie stimmt das nun mit der Formel: Liebe deinen Nächsten (deinen Mitmenschen) als dich selbst? Wenn einer mir näher ist (in der Pflicht des Wohlwollens) als der Andere, ich also zum größeren Wohlwollen gegen Einen als gegen den Anderen verbunden, mir selber aber geständlich näher (selbst der Pflicht nach) bin, als jeder Andere, so kann ich, wie es scheint, ohne mir selbst zu widersprechen, nicht sagen: ich soll jeden Menschen lieben wie mich selbst; denn der Maßstab der Selbstliebe würde keinen Unterschied in Graden zulassen. – Man sieht bald: daß hier nicht blos das Wohlwollen des W u n s c h e s , welches eigentlich ein bloßes Wohlgefallen am Wohl jedes Anderen ist, ohne selbst dazu etwas beitragen zu dürfen (ein jeder für sich; Gott für uns alle), sondern ein thätiges, praktisches Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des Anderen zum Z w e c k zu machen, (das Wohlthun) gemeint sei. Denn im Wünschen kann ich allen g l e i c h wohlwollen, aber im Thun kann der Grad nach Verschiedenheit der Geliebten (deren Einer mich näher angeht als der Andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr verschieden sein. (MS, AA 6, S. 451 f.)
Diese Passage ist für die Zwecke unserer Untersuchung äußerst wichtig. Hier wird eine Formel angesprochen, die Dostojewski für die Quintessenz ‚westlicher‘ Moralität halten wird: „ein jeder für sich; Gott für uns alle“. Das wäre eine rein vernünftige Moralität, ein bloßes „Wohlwollen des Wunsches“, „ein bloßes Wohlgefallen am Wohl jedes Anderen“. Dennoch weist Kant sie gerade für ästhetisch bedingte Vernunftwesen, die zu konkreten Handlungen fähig sein sollen, ausdrücklich zurück: Die tätige Liebe ist die einzige, die solchen Wesen geboten werden kann; und sie darf auch durch die ästhetische Begrenztheit des Handelnden bestimmt werden. Denn die Nebenmenschen sind mir gegenüber immer in prinzipiell ungleichen Positionen – schon deswegen, weil sie meine tätige Liebe in verschiedenen Graden nötig haben und noch mehr weil ich zu ihrem „Wohl und Heil“ nur mehr oder weniger beitragen kann. Für ein nicht bloß denkendes und urteilendes, sondern unter den Raum-und
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Zeit-Bedingungen handelndes Subjekt ist die tätige Liebe immer ästhetisch bedingt. Nur deshalb ist sie überhaupt möglich. Damit ist dennoch über diese Liebe selbst noch nicht viel gesagt. Sie wäre ja doch keine Ergänzung der Unvollkommenheit, wenn es nur um die ästhetisch-subjektive Bedingtheit des Standpunktes des Handelnden ginge, der gewisse Neigungen hat und auch gewisse Fähigkeiten besitzt. Der entscheidende Punkt soll in der ergänzenden Tat der Liebe gerade aus dieser subjektiven Beschränktheit der moralischen Urteilskraft bestehen. Und das entspricht tatsächlich Kants Begriff der Liebe. Als allgemeine Tugendpflicht bleibt sie (wie auch die Pflicht der Achtung) nur negativ, d. h. „sie ist die Pflicht anderer ihre Z w e ck e (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen“ (MS, AA 6, S. 450). Sie ist also bloß beschränkend: nur die fremden Zwecke, die nicht unmoralisch sind, müssen als eigene verfolgt werden. Als „unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“ wird sie positiv: Sie ist „die freie Aufnahme des Willens eines Anderen unter seine Maximen“ (Das Ende aller Dinge, AA 6, S. 338). Eine „Aufnahme des Willens eines Anderen“ kann aber wohl dem moralischen Gesetz widersprechen, falls dessen Wille nicht moralisch ausgerichtet ist. Wie ist sie dann zu verstehen? Nicht nur die Unmoralität, sondern auch die Undurchschaubarkeit des fremden Willens steht seiner Aneignung im Wege. Der andere und seine Vorstellung des Allgemeinen, seine Maxime, seine Gesinnung sind mir nicht zugänglich. Aber auch die Moralität meiner eigenen Maxime bleibt für mich ungewiss. Wenn ich diese für absolut richtig halte, bin ich ein „moralische[r] Egoist“, „welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt“ (AH, AA 7, S. 130), d. h. ich habe mich dann in meinen moralischen Vorstellungen verschlossen und bin gerade zu keiner Moralität fähig. Gerade hier setzt die ergänzende Tat der Liebe ein: Obwohl der andere als „fremde Vernunft“ aus meiner begrenzten Perspektive unvermeidlich unmoralisch aussieht, wenn er meinen Maximen, meinen moralischen Vorstellungen nicht folgt, gebietet mir die Liebe, ihm dennoch zu unterstellen, dass er wohl im Stande ist, das Gute in seinen Willen aufzunehmen, d. h. dass er doch moralisch und vernünftig ist, selbst wenn seine Moralität und Vernünftigkeit mir wesentlich verborgen bleiben. Diese Auffassung der Liebe verdeutlicht u. a. die Zweck-Mittel-Formulierung des kategorischen Imperativs. Von dem Begriff der Liebe aus lässt sich die Forderung, „die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu betrachten (GMS, AA 4, S. 429), neu verstehen: Kein Mensch darf als unvernünftiges bzw. unmoralisches Wesen behandelt werden.97 Dennoch bleibt diese Forderung abstrakt. Konkret wird sie durch den Begriff einer ästhetisch beding
97 Zu diesem Ansatz Kants, d. h. zu dem Punkt seiner Moralphilosophie, dass der moralische Wert (die Würde) keinem Menschen abgesprochen werden darf, wie weit er auch von dem Ideal der Moralität entfernt sein mag, im Unterschied zu bspw. Christian Wolff s. Klemme, Kant und die Paradoxien der Kritischen Philosophie, S. 43 f. Zur Frage, ob die Zweck-Mittel-Formulierung des kategorischen Imperativs sich nicht nur negativ-einschränkend verstehen lässt, s. W.P. Mendonça, Die Person als Zweck an
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ten tätigen Liebe: Eine solche Haltung ist nur im Bezug auf konkrete Menschen denkbar. Denn Vernünftigkeit und Moralität müssen nicht bloß unterstellt werden, sondern die konkrete Situation muss aus dieser Unterstellung heraus beschritten werden. Das Gebot der die Moral ergänzenden Liebe lautet also: Ich soll gegenüber dem anderen so handeln, als ob sein Wille moralisch und vernünftig wäre, und das kann ich nur frei tun, d. h. unabhängig von allen empirischen Beweisen des Gegenteils, die dieser Unterstellung im Wege stehen würden (seine aus meiner Sicht bösen und unvernünftigen Taten). Denn – und dies ist ein wichtiger Punkt – ich selbst kann mir meiner Moralität und Vernünftigkeit in einer konkreten Situation niemals sicher sein. Die so verstandene Liebe bedenkt eben das eigene Beschränkt-Sein stets mit, ohne jedoch an ihm zu verzweifeln. Sie kann deshalb, anders formuliert, als freies Eingeständnis der objektiven Unvollkommenheit der eigenen subjektiven Haltung gegenüber den anderen gedeutet werden.98 Als Liebe kann eine solche Haltung nicht geboten werden („ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber weil ich s o l l “ (MS, AA 6, S. 401)), und so ist sie frei auch in dem Sinne, dass hier kein Sollen angemessen ist. Wenn das Gewissen sich stets als die objektiv irrende Urteilskraft ansehen muss, wenn es immer „schlechtes Gewissen“ bleibt, das sich selbst stets schuldig spricht, kann „eine fröhliche Gemütsstimmung“ nur der Gewissheit entspringen, „das Gute auch l i e b g e w o n n e n “ zu haben (RGV, AA 6, S. 24; vgl. auch RGV, AA 6, S. XII, Anmerk.). Es ist dementsprechend immer die Liebe zu einem nahe stehenden Menschen, zum Nächsten, sie muss sogar in der Neigung zu einigen Menschen verankert werden. Denn man kann nicht alle Menschen lieben und sie vom Bösen und der Unvernunft freisprechen, dennoch kann man es sehr wohl gegenüber bestimmten Menschen tun. Der Liebe als „Ergänzungsstück“ der Moralität ist damit eine besondere, wenn nicht zentrale Stelle in Kants Ethik zugewiesen.99 Sie verbindet „die sinnliche Zuneigung zu bestimmten Personen mit der moralischen Verpflichtung gegenüber der Menschheit in jeder Person“. Dies ist für die „nicht rein vernünftigen Wesen“, für die Menschen, notwendig.100 Die Moralität eines einzelnen Menschen wird dadurch vervollkommnet, dass man anderen Vernünftigkeit und Moralität zugesteht. Dies geschieht nicht etwa trotz der
sich (s. dort entsprechende Literaturhinweise, S. 168). Der Begriff der Liebe kommt hier allerdings nicht vor. 98 Dieser Gedanke kann als Rechtfertigung gegen den Vorwurf des moralischen Rigorismus gelten. Denn obwohl in Kants berühmtem Beispiel die Lüge moralisch nicht akzeptabel ist, bleibt eine Bezeichnung der fremden Handlung durch den „harten Namen“ der Lüge kasuistischen Fragen ausgeliefert (MS, AA 6, S. 429). Der Begriff der Lüge darf niemals bei anderen, sondern nur bei sich selbst angewandt werden. 99 Vgl. bei Simon: „Nur die daseiende (weder „gesollte“ noch „natürliche“) Liebe kann als Bedingung der Möglichkeit des Bestehens der menschlichen Gattung angesehen werden. – Wenn Kant diesen Punkt auch selbst nicht besonders hervorhebt, so hat er doch eine zentrale Bedeutung für das gesamte System der Kritik“ (Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 469). 100 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 466.
1.3 „Ergänzungsstück“ der Moralität und das Ideal der Vollkommenheit
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ästhetischen Begrenztheit des eigenen Standpunktes, sondern gerade dank dieser Begrenztheit. Der moralische Wert der ästhetisch bedingten Liebe wird dabei nicht im Geringsten vermindert. Ganz im Gegenteil: Die so verstandene Liebe setzt die Achtung der Persönlichkeit des Geliebten voraus und dies als Bestimmungsgrund der Willkür, als oberste Maxime. Eine Handlung, die aus der Gewissheit der Liebe kommt, kann sich deshalb tatsächlich vor dem höchsten moralischen Gerichtshof des Gewissens rechtfertigen. Mehr noch: Das ist vielleicht der einzig sichere Weg, sich selbst „gewiß“ für moralisch halten zu dürfen, obwohl oder gerade weil die eigene moralische Urteilskraft hierzu immer unzulänglich bleiben muss. Denn wie könnte ich den anderen für moralisch und vernünftig halten, wenn ich es nicht selbst gewesen wäre? Die Liebe als „unentbehrliches Ergänzungsstück“ lässt zu, die Vollkommenheit der eigenen Moralität als Bestimmungsgrund der Handlung positiv zu denken, ohne die Unzulänglichkeit der moralischen Urteilskraft zu leugnen, und entzieht sich allein dadurch dem Schuldspruch des Gewissens.101 Denn allein die Liebe als „freie Aufnahme des Willens eines Anderen unter seine Maxime“ gibt die Gewissheit, dass die Handlung ihm gegenüber tatsächlich moralisch ist. Durch den Begriff der Liebe wird die ästhetische Begrenztheit des Handelnden vom Hindernis der rein intelligibel verstandenen Moralität zur Bedingung ihrer Vollkommenheit, denn sie ist nicht nur das Wohlwollen dem anderen gegenüber, sondern auch zugleich das Wohlgefallen an ihm.102 Sie wird zur Richtschnur im Übergang von der objektiven Vorstellung der Pflicht zu deren subjektiver Befolgung, weil sie die moralische Gesinnung ist, die keine „Ausflüchte […] vom Gebot der Pflicht“ nötig hat, weil sie die Gewissheit verschafft, deren kein Urteil fähig ist. Durch den positiven Begriff der Liebe wird eine Brücke zu einer für die Moral unentbehrlichen Idee der moralischen Vollkommenheit geschlagen. Das abstrakte moralische Wohlwollen muss sich der ästhetisch bedingten Liebe bedienen – in der Situation der Nötigung zur Handlung, in der das Wohl bestimmter Menschen (und nicht bloß die allgemein gewollte Ordnung) tatsächlich befördert werden soll. Fremde Glückseligkeit und eigene Glückswürdigkeit, das Wohl eines konkreten Menschen und das Kriterium der Allgemeinheit werden im Begriff der tätigen bzw. ästhetisch
101 Es ist, denke ich, überflüssig, zu sagen, dass diese Interpretation der Liebe als Ergänzung der Moralität mit Schillers „Grazie“ kaum etwas Gemeinsames hat. Zum grundlegenden Unterschied des Begriffs der Liebe bei Kant und bei Schiller s. z. B. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S. 259 ff., 302 ff. 102 Die Frage nach dem anderen bei Kant bringt seine Moralphilosophie in Zusammenhang mit der von Emmanuel Levinas. S. dazu Norbert Fischer, Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas. Die Idee des transzendentalen Ideals und das Problem der Totalität und Norbert Fischer, Dieter Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas. In diesen Untersuchungen werden die weittragenden Bedeutungen der fremden Vernunft bei Kant einerseits und des Anderen bei Levinas andererseits aufeinander bezogen; danach weisen beide auf die absolute Transzendenz Gottes hin. Allerdings scheint hier bei den ansonsten überzeugenden Gedankengängen und Schlussfolgerungen die Verschiedenheit beider Denker etwas untergegangen zu sein.
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
bedingten und zugleich vernünftigen Liebe aufgehoben. Die Liebe, die in der Neigung zu einem bestimmten Menschen verankert ist und ihn deshalb als moralisches Wesen betrachtet, weiß nichts von der Kasuistik der Tugendlehre. Sie ist kein Urteil und braucht deshalb auch keine Gewissheit im Fürwahrhalten. Sie tut das, was ihr wohlgefällt. Und noch wichtiger: Sie richtet nicht, auch sich selbst muss sie nicht verurteilen.103 Aber auch wenn Liebe kein Fürwahrhalten ist und einem anderen Menschen Vernünftigkeit frei unterstellt, braucht sie, um als Leitfaden zur Handlung zu dienen, einen Maßstab, ein Kriterium. Dies kann keine allgemeine Regel, kein Prinzip sein, sonst wären Liebe und moralische Urteilskraft identisch. Ihr Leitfaden ist vom Ästhetischen her bestimmt, darf aber nicht bloß ästhetisch sein. Er muss also eine ästhetisch bedingte Vorstellung von dem vermitteln, was übersinnlich bleibt – von der Idee der Menschheit. Ein solches Richtmaß hat Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft gefunden:
Tugend und mit ihr menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit sind Ideen. Aber der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der Weisheit völlig congruirt. So wie die Idee die R e g e l giebt, so dient das Ideal in solchem Falle zum U r b i l d e der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes; und wir haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurtheilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können. (KrV A 569/B 597 f., meine Hervorhebungen – E.P.)
Hier ist bezeichnenderweise nicht von Gesinnung die Rede, sondern von moralischen Handlungen, ihrer äußeren, empirischen Realisierung. Die nicht rein vernünftigen Wesen, die Menschen, brauchen ein Urbild der Vollkommenheit, dessen „praktische Kraft“ „der Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser H a n d l u n g e n “ vorausgeht (KrV A 569/B 597). „Die objektive Notwendigkeit“ des Ideals der vollkommenen Menschheit muss aus diesen Gründen trotz ihrer Unbegreiflichkeit „doch unvermindert und für sich selbst einleuchte[nd]“ sein (RGV, AA 6, S. 62). Nur ein Ideal könnte also den Maßstab der Liebe ausmachen. Und nur dann, wenn es als Ideal der Menschheit gedacht wird, das die vollkommene Liebesfähigkeit und die vollkommene Liebenswürdigkeit vereinigt. Als „personifizierte Idee des guten Prinzips“ würde es zum Urbild eines Menschen, in dem „Gott die Welt geliebt“ hat (RGV, AA 6, S. 60), zu einer personifizierten Vorstellung von der „Liebe des Gesetzes“ (RGV, AA 6, S. 145), die als Liebe zum Gesetz, aber auch als die vom Gesetz kommende
103 Das Gewissen wird von Kant zu den moralischen Beschaffenheiten gezählt, die „insgesamt ä s t h e t i s c h“ sind: das moralische Gefühl, das Gewissen, die Menschenliebe (MS, AA 6, S. 399). Das moralische Gefühl ist bloß „Empfänglichkeit der freien Willkür“ zum Moralischen; das Gewissen sieht eben in der eigenen ästhetischen Begrenztheit den Grund für den Selbstverdacht und folglich für die Selbstbezichtigung; die Menschenliebe deutet die ästhetische Bedingtheit in die Grundlage der moralischen Vollkommenheit um.
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1.4 Das Schöne: Beispiel, Muster, Symbol
Liebe zu verstehen ist, als göttliche Liebe zur Menschheit.104 Erst durch dieses Urbild der Liebe, dem kein Bild vollständig entsprechen kann, begreifen die ästhetisch bedingten Vernunftwesen, dass sie zur moralischen Vollkommenheit berufen sind.
1.4 Das Schöne: Beispiel, Muster, Symbol Eine ästhetische Verdeutlichung des Ideals wird so für die Vervollkommnung der Moral aus Vernunft genauso unentbehrlich wie die moralische Urteilskraft für die Vermittlung zwischen dem kategorischen Imperativ in seiner strengen Forderung der Vollkommenheit und dem einzelnen Urteil in seiner Fehlerhaftigkeit unentbehrlich ist. Die vollkommene Moralität darf nicht bloß eine Idee bleiben, sondern sie wird zum Ideal, das nichts anderes ist als „die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens“ (KU, AA 5, S. 232). Und hier entsteht wiederum eine gravierende Schwierigkeit: Eine einzelne Vorstellung kann dem Ideal selbst niemals entsprechen, sondern dient nur dazu, „den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“. Die Kritik der reinen Vernunft betrachtet eine solche Erdichtung eher als schädlich und verweist sie in den Rahmen einer schöngeistigen Literatur.
Das Ideal aber in einem Beispiele, d. i. in der Erscheinung, realisiren wollen, wie etwa den Weisen in einem Roman, ist unthunlich und hat überdem etwas Widersinnisches und wenig Erbauliches an sich […]. (KrV A 570/B 598, meine Hervorhebung – E.P.)
Die Unmöglichkeit eines Beispiels resultiert konsequenterweise aus der notwendigen Unvollkommenheit des Einzelnen. Eine solche ästhetische Darstellung einer Vernunftidee würde das Ideal nur verdunkeln. Also darf das Urbild in gar keinem Bild verwirklicht, sondern nur negativ gedacht werden: Jedes Bild soll als unumgängliches Abweichen von ihm beurteilt werden. Die Vermittlung der Vernunftideen, und vor allem der Idee der moralischen Vollkommenheit, kann keinem Beispiel, keiner ästhetischen Darstellung anvertraut werden. Das Ideal „existirt“ dementsprechend „bloß in Gedanken“ (KrV A 569/B 597). Als „personifizierte Idee“ „scheint“ darüber hinaus gerade das Ideal der praktischen Vernunft „von der objektiven Realität entfernt zu sein“ (KrV A 568/B 596).
104 Dem Satz „Gott ist die Liebe“ zufolge entspricht diese Idee nach Kant dem Glaubensprinzip der christlichen Religionslehre (RGV, AA 6, S. 145). In diesem Zusammenhang weist Simon darauf hin, dass die eigentliche Befriedigung des Interesses der menschlichen Vernunft und ihre Vervollkommnung bei Kant durch „die Veranschaulichung des Sittlichen“ die „Sache einer positiv-doktrinalen Religionslehre“ wird (Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 524). Zur Unentbehrlichkeit einer religiös-symbolischen Kommunikation und Kants Erörterung der religiösen Symbolik in seinen Jesus-Beispielen s. Claus Dierksmeier, Zum Status des religiösen Symbols bei Kant.
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
An diesem Punkt wird in der Kritik der Urteilskraft wieder in Bewegung gesetzt, was in den ersten zwei Kritiken notwendig ungelöst bleiben sollte. Dies geschieht wiederum durch die Unterscheidung der Prinzipien und der einzelnen Urteile bzw. der Vernunft als allgemeines Vermögen, das gegeben ist, auf der einen und der Urteilskraft als individueller Kraft, die nur geübt werden kann, auf der anderen Seite. Eine Idee „bloß in Gedanken“ ist für die Handlung, die die Kluft zwischen dem Übersinnlichen und der Sinnenwelt überbrücken muss, als Richtmaß unzureichend. In seiner dritten Kritik sucht Kant nach einem Übergang zwischen zwei Welten, die sich „auf einem und demselben Boden der Erfahrung“ treffen (KU, AA 5, S. 175), er sucht nach der Richtschnur der Anwendung der Prinzipien des Verstandes und der Vernunft, nach dem Maßstab ihrer Brauchbarkeit. Die Brücke sollte geschlagen werden, ohne dabei ihre Verschiedenheit zu nivellieren. Weder die Verstandesbegriffe noch die Vernunftideen haben sich jedoch für eine solche Überbrückung als tauglich erwiesen, weil die ersteren nur mit der Erfahrung, die letzteren dagegen nur abgesehen von der Erfahrung ihre Realität erhalten. Die Überbrückung könnten nur die Ideen gewährleisten, die „in einem Musterbild völlig in concreto dargestellt werden“ (KU, AA 5, S. 233). Kant nennt sie ästhetische Ideen. Der Begriff der ästhetischen Idee, die ein „Gegenstück“ zur Vernunftidee darstellen soll, sieht auf den ersten Blick wiederum hochgradig paradox aus: Als Idee sollte sie ein reiner Vernunftbegriff sein; als ästhetische kann sie keinem Begriff adäquat sein, sondern muss eine Anschauung bleiben. Sie ist eine Anschauung, der kein Begriff adäquat ist (KU, AA 5, S. 314). Und tatsächlich entspringen die ästhetischen Ideen nicht der subsumierenden Urteilskraft, die zwischen der Wahrnehmung und der Begrifflichkeit vermittelt und dafür sorgt, dass die Begriffe über ein Schema an Anschauungen Anwendung finden, sondern der reflektierenden Urteilskraft, für die keine Regel und keine Begriffe vorgegeben sind.105 „[…]Eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient“, ist dazu da, „das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“ (KU, AA 5, S. 315). Aber was heißt hier „verwandte Vorstellungen“? Im Unterschied zu Vernunftideen haben die ästhetischen Ideen kein logisches Kriterium für diese Verwandtschaft, sondern allein denjenigen Leitfaden der Urteilskraft, der als einziger in der dritten Kritik angesetzt wird: das Kriterium des Passens. Um nach diesem Kriterium verfahren zu können, braucht man den „Geist, in ästhetischer Bedeutung“, der „das belebende Prinzip im Gemüthe“ ist (KU, AA 5, S. 313). Über dieses Kriterium bzw. über die Richtigkeit seiner Anwendung kann dementsprechend jeder bloß gemäß der Fähigkeiten seiner Urteilskraft urteilen. Der Maßstab dafür kann weder für alle Zeiten noch für jede Menschenvernunft gegeben
105 Die ästhetischen Ideen im engeren Sinne müssen deswegen von den ästhetischen Normalideen unterschieden wer-den. Die letzteren können vermittelst eines „zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen Anschau-ungen der Individuen schwebende[n] Bild[es]“ „bloß schulgerecht“ sein (KU, AA 5, S. 234 f.).
1.4 Das Schöne: Beispiel, Muster, Symbol
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werden. Dies ist ein großer Mangel und ein großer Vorteil zugleich. Denn durch jedes konkrete Bild, jedes anschauliche Beispiel, das zum Muster für die unendliche Reihe der anderen konkreten Bilder, der anderen unendlich voneinander abweichenden Einzelvorstellungen erklärt wird, wird die Belebung der Gemütskräfte erreicht, die durch keine Vernunftidee bzw. keinen Verstandesbegriff möglich wäre. Die ästhetische Idee macht so den Maßstab für die Urteilskraft aus, jedoch wiederum nicht durch eine Regel, sondern durch ein produktives Vermögen. Sie ist die Idee, „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. B e g r i f f , adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ (KU, AA 5, S. 314). Sie bezieht sich somit auf die sinnliche Erfahrung, übersteigt aber jede Erfahrung – durch ihre Produktivität, durch die Dichtung der Einbildungskraft. Bezeichnenderweise gesteht Kant den durch dieses produktive Vermögen entstandenen Ideen das zu, was dem transzendentalen Ideal der Vernunft abgesprochen wurde: die sinnliche Vollständigkeit des Bildes. Die Vernunftidee der moralischen Vollkommenheit in einem Roman, z. B. in Gestalt eines Weisen, darzustellen, wurde als Ungereimtheit in der Kritik der reinen Vernunft zurückgewiesen. Die Kritik der Urteilskraft sieht eine solche Darstellung nicht nur als möglich, sondern als einzigen Weg an, „einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen“. Das Beispiel ist wieder eines der schöngeistigen Literatur:
Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u.d.gl., zu versinnlichen; oder auch das, was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z. B. den Tod, den Neid und alle Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm u.d.gl., über die Schranken der Erfahrung hinaus vermittelst einer Einbildungskraft, die dem Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen. (KU, AA 5, S. 314)
Mehr noch: Nicht nur Vernunftideen, sondern auch das ästhetische Ideal (Idee in individuo) in einem Beispiel, in einem Bild darzutun, ist, im Unterschied zum Ideal der reinen Vernunft, nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Das wäre das Ideal der Schönheit, „der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen“ (KU, AA 5, S. 235). Letztere Korrespondenz kann wiederum „nur aus der Erfahrung genommen werden“, und dies auf folgende Weise: In der Erfahrung werden die ästhetischen Besonderheiten konkreter Menschen beobachtet, die dann zum Ausdruck der sittlichen Ideen von Tugenden und Lastern umgedeutet werden; durch die Produktivität der Einbildungskraft entsteht „aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener Art“ „auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art“ ein einzelnes Bild, „die Gestalt des Gegenstandes“, die in eine musterhafte Verbindung des Ästhetischen mit dem Ethischen umgedeutet wird, um, nach ihrem Maßstab gemessen, wiederum zahlreiche konkrete Bilder hervorzubringen (KU, AA 5, S. 234). Ein solches Ideal stellt die Idee der Vollkommenheit ästhe
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
tisch dar.106 Es ist das Ideal der Einbildungskraft, die der Vernunft das letztere als „Urbild des Geschmacks“ und gleichzeitig als eine der Idee adäquate Vorstellung (KU, AA 5, S. 232) empfiehlt. Die Verbindung zwischen dem Ethischen und Ästhetischen, zwischen den Ideen der Vernunft und der Sinnenwelt, wird auf diese Weise durch die ästhetischen Ideen erreicht, die sich in den unendlich variablen Einzelvorstellungen verwirklichen. Für die nicht rein vernünftigen Wesen in ihrer Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit ist diese Verbindung ein wichtiges Hilfsmittel, eine Brücke zum Ideal, das sie „l i e b g e w o n n e n “ haben und dem sie deshalb willig folgen können. Sie bleibt dennoch zufällig, vorübergehend, inadäquat. Dies ist nach Kant bloß eine Verbindung kraft einer Analogie. Doch die Vernunftideen können in der Erfahrung überhaupt nur unvollkommen dargetan werden. Es ist allerdings wichtig, dass diese analoge Verbindung zwischen dem Prinzip der ästhetischen und dem der moralischen Urteilskraft als solche nach Kant keinesfalls zufällig ist, wenn sie auch immer neu und anders hergestellt werden muss.107 Die ästhetische und die moralische Urteilskraft haben etwas Grundlegendes gemeinsam, und zwar eine Voraussetzung von „jedermanns Einstimmung“ (KU, AA 5, S. 216) – und das abgesehen von jedem empirischen Interesse am Gegenstand des Wohlgefallens. Da das Wohlgefallen am Schönen den Genuss an der Harmonie aller Erkenntniskräfte bedeutet, bekommen die Geschmacksurteile ihre Legitimation aus der Idee des Gemeinsinns, d. h. der Übereinstimmung aller Gemütskräfte bei allen Menschen, soweit diese sich von ihren Privatbedingungen abstrahieren lassen.108 Es wird voraus
106 Kant denkt dabei primär an die Dichtkunst und an die Malerei. Zur Dominanz des Paradigmas des Sehens in Kants Philosophie der Kunst, selbst in Bezug auf die schöne Literatur, s. Birgit Recki, Immanuel Kant, S. 141 f. 107 Das Verhältnis des Ästhetischen zum Ethischen ist ein großes Thema, das in mehreren Hinsichten behandelt wurde. S. den Sammelband: Bernhard Greiner, Maria Moog-Grünewald (Hg.), Etho-Poietik. Ethik und Ästhetik im Dialog: Erwartungen, Forderungen, Abgrenzungen, bes. den in das Problemfeld einleitenden Beitrag von Hans Krämer (Das Verhältnis von Ästhetik und Ethik in historischer und systematischer Sicht) und den Beitrag von Josef Früchtl (Getrennt-vereint. Zum Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik bei Immanuel Kant), in dem die Wichtigkeit der ästhetischen Urteilskraft für Kants Moralphilosophie hervorgehoben wird. S. auch eine weitere Untersuchung von Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Hier wird Kants Philosophie als Ausgangspunkt für eine ästhetisierte Ethik bei Autoren wie Schiller, Nietzsche und Foucault betrachtet, wobei Kants Ethik als „marginalästhetisch“ charakterisiert wird. „Die im weiteren Sinn ästhetischen Konsequenzen für die Moral“ seien „größer als Kant es zugesteht“ (S. 30). Dennoch kann Kant, so Früchtl, den „kantianischen Moralphilosophen“ gerade in diesem Punkt entgegengesetzt werden. S. zur Debatte Ursula Franke (Hg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks: ästhetische Erfahrung heute. Die Frage, die hier gestellt wird, nämlich „inwiefern der ästhetisch erfahrene und erfahrende Mensch Orientierungen seines Handelns gewinne“ (S. 230), scheint berechtigt zu sein. Ich versuche in diesem Abschnitt gerade zu zeigen, dass Kant, wenn auch nur in kritischer Absicht, eine Antwort darauf gegeben hat. 108 Diese bloß formale Übereinstimmung als Idee bzw. als Vernunftbegriff, der für die Einheit der Erfahrung sorgt, ist die einzige Begründung des „Wir“ der Kritik, die nicht nur für das Urteilen über das
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gesetzt, dass, unabhängig von allen Einschränkungen der Sinnlichkeit, unabhängig von Reiz und Rührung, jeder andere an meiner Stelle die Anschauung genauso genießen könnte, wie ich es tue. Und nur unter dieser Bedingung ist mir das Genießen überhaupt zugänglich. Dies ist die Maxime der Urteilskraft überhaupt: „an der Stelle jedes anderen denken“.109 Ihre äußerliche Richtschnur ist die Mitteilbarkeit des Urteils, denn durch diese zeigt sie, dass sie „auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt“ (KU, AA 5, S. 293). Die Idee des Gemeinsinns, obzwar für die Urteilskraft grundlegend, bleibt dennoch bloß formal und unbestimmt, d. h. es ist ganz offen, welche Urteile diesem Gemeinsinn adäquat sein können. Wie der kategorische Imperativ – und diese Analogie ist nicht zufällig – kann sie nicht mit Gewissheit auf konkrete Fälle angewandt werden.110 Aber im Unterschied zum kategorischen Imperativ braucht sie es auch nicht zu werden bzw. gerade ihre Zufälligkeit und Nichtendgültigkeit macht ihre Stärke aus: Sie belebt dadurch die Gemüter und fordert sie zu weiteren Versuchen, zu weiteren Vorstellungen auf. Schließlich ist sie bloß eine Idee, dass „der Mensch in die Welt passe“ (Nachlaßreflexionen (1820a), AA 16, S. 127), dass seine Gemütskräfte für die Erkenntnis tauglich sind und dass die letzteren nicht aus den Naturgesetzen abgeleitet werden können. Die Macht des Empirischen ist durch das freie Urteilen über das Schöne gebrochen, und dennoch sieht die Natur gerade deswegen so aus, als ob sie für die Menschen geschaffen wäre, als ob sie ein Ort der Erkenntnis, der freien Handlung und des Genusses sei. Dass das Moralische den systematischen Ort in der Idee des ästhetischen Gemeinsinns bei Kant verliert, ist im strengen Sinn richtig.111 Doch ist ihre Verbindung für die Moralität des einzelnen in concreto urteilenden und handelnden Menschen, immer noch relevant. Denn gerade durch die für die ästhetischen Urteile unerlässliche Idee des Gemeinsinns wird der moralischen Forderung Realität verschafft. Nur weil die Übereinstimmung der Gemütskräfte bei jedem Menschen als von den Privatneigungen unabhängig beurteilt werden kann, ist es möglich, Moralität bei einem bestimmten Menschen zu vermuten. Nur weil das Schöne bei jedem das Gefühl der Lust erwecken kann, das seinen Geist in Bewegung setzt, kann einem Menschen Vernünftigkeit und
Schöne, sondern auch für die Übereinstimmung in der sinnlichen Anschauung geltend gemacht wird. S. dazu Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, S. 153 f. 109 Die dritte Maxime „des gemeinen Menschenverstandes“, die der Vernunft („jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“), ist „am schwersten zu erreichen“ und nur durch die Verbindung der Maxime des Verstandes („Selbstdenken“) mit der Maxime der Urteilskraft („an der Stelle jedes anderen denken“) möglich (KU, AA 5, S. 294 f.). 110 Wie die moralische Urteilskraft niemals mit Sicherheit feststellen kann, in welchem Grad die reine Achtung vor dem Gesetz die Triebfeder der Handlung war, so kann die ästhetische Urteilskraft sich nicht sicher sein, ob das Gefühl der Lust von allem Privatinteresse frei entstanden ist, und so niemals ein bestimmtes Geschmacksurteil dem sensus communis unterstellen. Die Idee des letzteren bleibt dementsprechend ebenso wie die Idee des moralischen Gesetzes bloß formal. 111 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 28 ff.
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Moralität unterstellt werden. Der Begriff der Liebe als Ergänzungsstück zur menschlichen Unvollkommenheit gewinnt hier wieder an Bedeutung. Das Gefühl des Schönen ist für die so verstandene Liebe zu einem konkreten Menschen unerlässlich: Er wird als derjenige geachtet, der nicht nur vernünftig und moralisch ist, sondern auch das Schöne genießen kann und deshalb auch demselben Ideal der Schönheit anhängt. Nur unter der Bedingung der Mitteilbarkeit von Geschmacksurteilen kann das Schöne überhaupt als solches genossen werden, so wie nur durch eine ästhetisch bedingte Liebe die Gewissheit der eigenen Vernünftigkeit und Moralität erreicht wird. Man sollte hier betonen, dass, wie die Vervollkommnung durch die Liebe nicht etwa wegen der Unvollständigkeit der Vernunftideen notwendig ist, auch die Mitteilbarkeit der Geschmacksurteile keinesfalls eine Abhängigkeit von fremdem Geschmack bedeutet. Wäre der Mensch ein reines Vernunftwesen, wäre für ihn beides – die Liebe und der Genuss am Schönen – nicht nötig, ja sogar nicht möglich. Sie sind es wegen der ästhetischen Bedingtheit des Gemüts. Letztere ist, wie schon mehrmals betont, kein Mangel, sondern eine conditio humana. Gerade dies sollte die Kritik der Urteilskraft zum Ausdruck bringen: Für das nicht rein vernünftige, ästhetisch bedingte Wesen, den Menschen, ist das Ästhetische keine Quelle des Irrtums bzw. keine Schwäche, sondern Bedingung seiner Vollkommenheit. Und dennoch: Ist die Verbindung des Schönen mit dem Guten für den Menschen auch unerlässlich, so muss sie doch immer indirekt bleiben. Das Schöne ist „bloß ein Symbol“, ein Symbol ist aber „die bloße Regel der Reflexion“ über eine Anschauung, die „auf einen ganz anderen Gegenstand“ angewandt wird – auf das Gute (KU, AA 5, S. 352). Man darf nicht vergessen, dass Kant den berühmten Paragraphen „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ in die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft eingliederte.112 Diese Analogie ist negativ zu verstehen. Nicht nur weil das Schöne bloß ein Symbol ist, sondern v. a. weil die analoge Darstellung eine andere verhindern soll, nämlich die schematische, die in moralischen Dingen nur zur Herabwürdigung
112 Dieser Paragraph gehört zu den am meisten diskutierten und auf sehr unterschiedliche Weise interpretierten Teilen der Kritik der Urteilskraft. Ein Problem scheint v. a. zu sein, die Autonomie des Ästhetischen vom Ethischen retten zu müssen und dennoch das Erstere als Repräsentation des Letzteren gelten zu lassen. Einen ausführlichen Kommentar zu diesem Paragraphen gibt Recki, Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft, S. 195 ff. Recki kommt u. a. zu dem Schluss, dass das Ästhetische als „Symbol der Freiheit“ „exemplarische Bedeutung für das Selbstverständnis eines sinnlich-vernünftigen Wesens“ habe (S. 207). Vgl. Recki, Das Schöne als Symbol der Freiheit. Zur Einheit der Vernunft in ästhetischem Selbstgefühl und praktischer Selbstbestimmung bei Kant. Hier wird ausdrücklich für die radikale Autonomie des Ästhetischen plädiert. Ohne ein solches autonomes Urteilsvermögen sei der Begriff der Vernunft unvollständig. Zur Bedeutung des Themas bei Kant s. auch Wilhelm Vossenkuhl, Schönheit als Symbol der Sittlichkeit. Über die gemeinsame Wurzel von Ethik und Ästhetik bei Kant. Hier wird u. a. die These vertreten, dass „Kants Begriff der Urteilskraft die strukturellen Voraussetzungen für die begriffliche Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik enthält“ (S. 93). S. auch Paul Guyer, The Symbols of Freedom in Kant’s Aesthetics. Die Idee der Freiheit selbst, so Guyer, erlangt eine ästhetische Repräsentation im Schönen und negativ auch im Erhabenen.
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der Ideen führt. Bei einer symbolischen Korrespondenz, bei einer Analogie als Hinweis auf die Reflexion wird dagegen immer mitgedacht, dass sie zufällig und ersetzbar ist. Nur deswegen ist sie die gesuchte Brücke zwischen den Vernunftideen, die für die Sinnlichkeit unerreichbar bleiben, und den konkreten Anschauungen, auf die sich jedes konkrete Urteil bezieht.113 Die Ideen der Vernunft sind notwendig, die konkreten Anschauungen zufällig, die Verbindung zwischen ihnen kann nur analog sein.114 Das heißt, dass diese Analogie zunächst einmal geschaffen, ein Symbol gesetzt, eine Reihe der Reflexion mit einem konkreten Bild eröffnet werden muss. Die Einbildungskraft „bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung“ (KU, AA 5, S. 315). Sie wird hier „schöpferisch“. Das Musterhafte, das als Vorbild für die schöpferischen Gemütskräfte des „spätere[n] Zeitalter[s]“ „schwerlich entbehrlich“ sein wird, sollte sie „zuerst erfinden“ (KU, AA 5, S. 356). Um „ein solches Spiel, welches sich selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt“ (KU, AA 5, S. 313), in Gang zu setzen, wäre ein besonderes Talent erforderlich, gleichsam als wenn es um einen Glücksfall, um eine „Gunst der Natur“ ginge. Es soll ein besonderes Vermögen der Darstellung der ästhetischen Ideen sein, eine besondere Produktivität der Einbildungskraft, die sich in Werken der Kunst entfaltet. Den ästhetischen Ideen Ausdruck zu verschaffen, ist die Aufgabe eines Genies. Der zu Kants Zeit populäre Begriff des Genies wird so auch zum Schlüssel seiner Kunstphilosophie. Die schöne Kunst oder, genauer gesagt, das Werk eines Genies als „eine schöne Vorstellung von einem Dinge“ (KU, AA 5, S. 311) kann laut Kants dritter Kritik allein die analoge Verbindung zwischen einem Bild und einer Idee völlig in concreto, musterhaft-einmalig darstellen, nicht die Erfahrung einer Naturschönheit. Mag letztere die Vernunft auch auf die Realität ihrer Ideen verweisen, so taugt sie nicht wirklich dazu, „dem Menschen praktische Anhaltspunkte für sein Handeln zu geben“.115 Die
113 Die spannende Frage nach dem Erhabenen in seinem paradoxen Bezug auf das Gute und die ganze Diskussion zum Vorzug des Schönen als Symbol des Sittlich-Guten muss hier übergegangen werden. Ich verweise nur auf das schon erwähnte berühmte Werk von Lyotard Die Analytik des Erhabenen und die entsprechende Diskussion. S. auch Rudolf A. Makkreel, Sublimity, Genius and the Explication of Aesthetic Ideas. Hier wird u. a. der kantische Begriff der ästhetischen Ideen in den Mittelpunkt der Unterscheidung des Schönen und des Erhabenen gerückt. 114 Zur Unentbehrlichkeit der symbolischen Repräsentationen für die Ideen der Vernunft sowie zur vermittelnden Rolle der Symbolik in Kants Moralphilosophie überhaupt s. Heiner Bielefeldt, Kants Symbolik. Ein Schlüssel zur kritischen Freiheitsphilosophie, S. 40 ff. Bielefeldt sieht u. a. die Liebe bei Kant als „Endpunkt sittlicher Selbstvervollkommnung“ und lässt sie als Anknüpfungspunkt an Nietzsche gelten (S. 92). 115 Bielefeldt, Kants Symbolik. Ein Schlüssel zur kritischen Freiheitsphilosophie, S. 140. Freilich kann uns die Natur allein gerade durch ihre Nicht-Künstlichkeit einen „Wink“ geben, sie wäre uns in unserer Sehnsucht nach dem Übersinnlichen verwandt und gäbe Anlass, den Ideen der Vernunft eine objektive Realität zuzuschreiben. Die Produkte der Menschen können diese Hoffnung nach Kant nicht bekräftigen. Da sie durch eine Absicht entstehen, ist die formale Einstimmigkeit der Gemütskräfte hier kein Wunder. Bei einem schönen Kunstwerk fällt somit die Objektivität des Moralischen völlig aus. Deshalb
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Verbindung der sinnlichen Lust mit der Idee der Vollkommenheit festlegen zu können, ist Privileg eines Künstlers.116 Wenn er eine schöne Vorstellung des Dinges, „was das Ding sein soll“, zum Ausdruck bringen will, so muss er eine Verbindung des sinnlichen Wohlgefallens mit der Idee der moralischen Vollkommenheit herstellen. Und wenn es um menschliche Gestalten geht, so ist es die Verbindung zwischen dem Ideal der Schönheit und dem der Vollkommenheit, die der Künstler mit seinem Kunstwerk festlegt (KU, AA 5, S. 233). Durch eine ästhetische Idee der Vollkommenheit, durch das von einem Künstler angesetzte Ideal der Schönheit ist die ästhetisch-moralische Differenz aufgehoben. Auch die Urteile, die sich auf dieses Ideal beziehen, sind keine reinen Geschmacksurteile (KU, AA 5, S. 229 ff.). Das Ideal stellt, wie oben schon angedeutet, eine ästhetische Erläuterung des Guten durch eine menschliche Gestalt dar, die liebenswürdig ist, die man „l i e b g e w o n n e n “ hat. Als „sichtbare[r] Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen“ (KU, AA 5, S. 235), bleibt dieses Ideal jedoch paradox. Nur im Werk eines Genies, das gleich einem Wunder das Unmögliche als möglich und sogar wirklich darstellt, kann dieses Paradoxon plausibel werden. Das Ideal der Menschheit (die moralische Vollkommenheit) und das Ideal der Schönheit treffen sich so in Gestalt eines schönen Menschen, die nur dadurch überzeugend sein kann, weil sie durch die Kunst völlig konkret dargestellt wird.
wird dem Schönen der Natur in der Forschung öfters die ausschließliche Rolle zugeschrieben, das Symbol des Sittlich-Guten zu sein (vgl. Bielefeldt, Kants Symbolik. Ein Schlüssel zur kritischen Freiheitsphilosophie, S. 140). Wenn die Geschmacksurteile einen Verbündeten brauchen, finden sie ihn in der sittlichen Vernunft, doch das gelte nur für das Urteilen über die Naturschönheit (so etwa Markus Arnold, Die harmonische Stimmung aufgeklärter Bürger, S. 40). Erst bei Hegel sei der Kunstschönheit eine paradigmatische Rolle in Geschmacksurteilen zugeschrieben worden. Allerdings spricht Kant nicht nur von der Naturschönheit, sondern von den „schöne[n] Gegenstände[n] der Natur oder der Kunst“, die das Gute symbolisieren (KU, AA 5, S. 354). Dass die Kunstschönheit tatsächlich nichts über die objektive Realität der Vernunftideen sagt, soll ihre Bedeutung also nicht erschöpfen und vielleicht auch nicht vermindern. Denn nur „in der Beurtheilung der Kunstschönheit“ wird „zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen, wornach in der Beurtheilung einer Naturschönheit (als einer solchen) gar nicht die Frage ist“ (KU, AA 5, S. 311). Zur Auseinandersetzung Hegels mit Kants Kritik des Schönen s. Beate Bradl, Der intuitive Verstand, ein Prinzip der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft; Beate Bradl, Die Rationalität des Schönen bei Kant und Hegel Hans-Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Hegel und die Kritik der Urteilskraft, Stuttgart: Klett-Cotta, 1990. 116 Die Frage nach der Verbindung zwischen der Idee des Schönen und der der Vollkommenheit wurde in Kants vorkritischer Schrift Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) anders als in der dritten Kritik beantwortet. Die Schönheit wurde dort von ihm als Vollkommenheit aufgefasst. In der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant sie beide zuerst sorgfältig. Wenn es jedoch zur Kunst kommt, scheint ihre Verbindung wiederum unentbehrlich zu sein, aber nicht im Sinne der „Supplemente der Tugend“ (Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA 2, S. 217), sondern im Sinne einer willkürlich angesetzten, dennoch oder gerade deswegen musterhaften ästhetischen Analogie. Die Autonomie des Ästhetischen wird dadurch keinesfalls vermindert.
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So sind wir wieder beim Ideal der moralischen Vollkommenheit, das jetzt durch die Kunst als Ideal der Schönheit dargestellt werden kann.117 Eine menschliche Gestalt, die die Ideen der Vernunft mit den ästhetischen Ideen in Verbindung setzt, kann allein durch die schöne Kunst überzeugend präsentiert werden, ohne die Idee der Vollkommenheit in ihrer Erhabenheit zu vermindern. Die Verbindung der schönen Kunst mit der Sittlichkeit ist darüber hinaus eine notwendige Verbindung: „Wenn die schönen Künste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden“, so dienen sie nur zur „Zerstreuung“, „um die Unzufriedenheit des Gemüths mit sich selbst dadurch zu vertreiben, daß man sich immer noch unnützlicher und mit sich selbst unzufriedener macht“ (KU, AA 5, S. 326). Eine Isolierung von den Vernunftideen würde das Schöne zerstören und folglich auch die schöne Kunst. Die Vermutung liegt nahe, dass Kant die Darstellung der moralischen Ideen durch die Kunst fordert. Und dennoch wäre eine solche Forderung ebenso die Vernichtung der Kunst, denn die Letztere hätte in diesem Fall eine Regel bekommen und würde durch ein Prinzip der Vernunft bestimmt. Diese Vermutung widerspräche auch der Erfahrung, denn gerade Künstler sind größtenteils keine Musterbilder moralischer Gesinnung. Es scheint sich nun ein neues Dilemma zu ergeben: Die Moral solle einzig mögliche Propädeutik zur Empfindlichkeit des Gemüts für die Schönheit (auch die der Kunst) sein können (KU, AA 5, S. 356), und dennoch dürfe das Interesse an der schönen Kunst nicht mit dem moralischen Interesse verwechselt werden, es dürfe sogar mit ihm nicht in eine notwendige Verbindung gesetzt werden. Kant löst dieses Dilemma radikal, indem er alle Forderungen an die Kunst, wie sie zu sein habe, alle allgemeinen Kriterien der guten Kunst, zurückweist.118 Ein Kriterium für die Kunst kann es nicht geben. Die Kritik will uns nicht belehren, wie wir über ein einzelnes Werk urteilen sollen, und auch nicht, wie wir die Kunst von der NichtKunst unterscheiden können. Die Formalismus-vorwürfe gegen Kants Kunstauffassung, ebenso wie die gegen seine Moralphilosophie, missverstehen die Aufgabe der Kritik: Mit seinem Formalismus wollte Kant gerade offenlassen, was als Kunstwerk verstanden werden soll, so wie er offenließ, welche Handlung als moralisch anzuse
117 Kants Kunstphilosophie darf nicht, so scheint mir, deshalb für überholt gehalten werden, weil die Darstellung des Ideals hier unter deren Zwecke gezählt wird. Dieses Ideal kann nach Kant selbst nur noch als Richtmaß präsent sein. Das heißt, es kann auch nur negativ vorkommen, z. B. als das Urbild, dessen Abbildung in der Welt gerade fehlt. Der letztere Fall wird uns im Kapitel zu Dostojewski begegnen. 118 Er akzeptiert sie m. E. auch nicht in Form „eine[r] Hoffnung auf moralische Besserung“ (Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, S. 281). Das Symbolische der Kunst entziehe sich, so z. B. Andrea Esser, Kunst als Symbol. Die Struktur ästhetischer Reflexion in Kants Theorie des Schönen, jeglicher intellektuellen Dekodierung. S. auch die entsprechende Diskussion in: Silker Weller, Buchbesprechungen.
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hen ist, und hartnäckig darauf bestand, dass es kein Beispiel dafür gäbe.119 Aus der späteren Perspektive kann gerade das als seine größte Leistung in der Begründung der Autonomie der Kunst angesehen werden. So z. B. Simon:
Der Einwand, daß Kants Philosophie des Schönen und der schönen Kunst nicht kunstnah sei, beansprucht zu wissen, ‚was‘ Kunst denn sei. Er verkennt den transzendentalen Charakter der Kantischen Reflexion. […] Sie [die Philosophie des Schönen und der Kunst als Kritik – E.P.] kritisiert die Verabsolutisierung jeder begrifflich-logischen Bestimmung vom eigenen Standpunkt der Urteilsbildung aus.120
Ein Kunstwerk des Genies kann folglich nicht nach den Kriterien der Moral aus Vernunft beurteilt werden. Die Suche nach einem Kriterium als Grundlage der Kunstphilosophie hat eine lange Tradition. Indem Kant die schöne Kunst als „Kunst des Genies“ bezeichnet und dem Geschmack das Urteil darüber überlässt, weist er dagegen bewusst alle Kriterien der Kunst zurück. Das Genie und der Geschmack unterstützen und korrigieren einander gegenseitig, nur durch ihre gegenseitige Angewiesenheit aufeinander entstehen die Kunstwerke, die dann wiederum zur Richtschnur des Geschmacks werden und der Schulung des Genies dienen können. Nicht nur der Geschmack als „Disciplin (oder Zucht) des Genies“ „beschneidet diesem sehr die Flügel“ (KU, AA 5, S. 319), sondern auch umgekehrt soll sich der Geschmack aus den Produkten der schönen Kunst speisen, da er keine Regel kennt und es keine Wissenschaft des Schönen geben kann (KU, AA 5, S. 355).121 Diese Orientierung an Mustern ist nicht einmal eine ausschließliche Besonderheit des Geschmacks. Denn
119 Die Formalität sei der größte Vorteil der Ästhetik Kants und begründe damit ihre Überlegenheit gegenüber späteren formalen Theorien, argumentiert Dieter Henrich in der oben angegebenen Untersuchung (Henrich, Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World, S. 55 f.). 120 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 227 f. 121 Die Frage, ob das Primat dem Geschmacksurteile oder dem Genie bzw. dem Schönen selbst gebührt, ist auch eine der meist diskutierten in der Kant-Rezeption. Schon Schopenhauer warf Kant vor, er ginge in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft nicht vom Schönen selbst, vom anschaulichen, unmittelbaren Schönen aus, sondern vom Urteil über das Schöne“ (Arthur Schopenhauer, Über die „Kritik der Urteilskraft“, S. 236). Schopenhauers Kritik beanspruchte somit zu wissen, was das Schöne sei, d. h. sie ging davon aus, dass es Kriterien des Schönen als solche geben könne. Ähnlich betrachtete Gadamer den Verzicht auf Kriterien als Mangel von Kants Philosophie des Schönen und seiner Kunstauffassung. Dem Begriff des Genies im Unterschied zu dem des Geschmacks („universales ästhetisches Prinzip“) sei der Vorrang zu geben. Das Argument dafür ist bemerkenswert: „Denn er [der Begriff des Genies – E.P.] erfüllt weit besser als der Begriff des Geschmacks die Forderung, gegen Wandel der Zeit invariant zu sein.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 54 f.) Kants Begriff der Kunst sollte jedoch gerade über diese Forderung nach Vollendung „über alle Zeiten hinweg“ hinausführen. Denn die Wandelbarkeit des Geschmacks, die für Gadamer einen Mangel bedeutet, ist nach Kant die größte Leistung des Genies. Sie bedeutet die Wandelbarkeit der Kriterien der schönen Kunst. Die Frage nach dem Vorrang des Geschmacks oder des Genies ist für Kant deshalb eine falsche Alternative, genauso wie die Frage, ob die Ästhetik „nur als Philosophie der Kunst möglich“ sein soll (Gadamer, Wahrheit
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[e]s giebt gar keinen Gebrauch unserer Kräfte, so frei er auch sein mag, und selbst der Vernunft […], welcher, wenn jedes Subject immer gänzlich von der rohen Anlage seines Naturells anfangen sollte, nicht in fehlerhafte Versuche gerathen würde, wenn nicht andere mit den ihrigen ihm vorgegangen wären, nicht um die Nachfolgenden zu bloßen Nachahmern zu machen, sondern durch ihr Verfahren andere auf die Spur zu bringen, um die Principien in sich selbst zu suchen und so ihren eigenen, oft besseren Gang zu nehmen. (KU, AA 5, S. 283, meine Hervorhebungen – E.P.)
Damit ist in der dritten Kritik ein wichtiger Punkt angesprochen, der alle Vorwürfe, es sei unrealistisch abstrakt, allen Menschen die gleichen Vernunftfähigkeiten zuzuschreiben, entschieden zurückweist. Wenn die oberen Erkenntnisvermögen in ihren Prinzipien autonom sein sollen, so ist ihr konkreter Gebrauch immer durch Beispiele bestimmt, die zu Musterbildern werden, um die anderen „auf die Spur“ eines besseren Gebrauchs zu bringen.122 Kant beschränkt diesen Gedanken nicht nur auf den Bereich der Kunst, sondern macht ihn auch für jeden Gebrauch der Vernunft geltend. So wie die theoretische Vernunft in ihrem konkreten Gebrauch bei den „alten Mathematiker[n]“ durch „Muster der höchsten Gründlichkeit und Eleganz der synthe-
und Methode, S. 54). Vgl. „Wenn die Frage ist, woran in Sachen der schönen Kunst mehr gelegen sei, ob daran, daß sich an ihnen Genie, oder ob daß sich Geschmack zeige, so ist das eben so viel, als wenn gefragt würde, ob es darin mehr auf Einbildung, als auf Urtheilskraft ankomme“ (KU, AA 5, S. 319). Die Frage bleibt ohne Antwort, weil die Urteilskraft ohne Einbildungskraft „in Sachen der schönen Kunst“ nicht auskommt. Nicht nur das Genie ist nach Kant ohne Geschmack zu seiner Produktivität nicht fähig, sondern auch umgekehrt: Der Geschmack muss in der Wandelbarkeit der schönen Kunst Anhaltspunkte seines Urteilens immer neu aufsuchen. S. dazu auch William Desmond, Kant and the Terror of Genius: Between Enlightenment and Romanticism. Hier werden die Paradoxien des kantischen Begriffs des Genies (und der Autor bedient sich selbst gern paradox geschärfter Formulierungen) als eine anschlussreiche Ambivalenz interpretiert, die für die andauernde sowie kontroverse Rezeption von Kants Ästhetik sorgte, u. a. auch bei Nietzsche, bei dem der Konflikt zwischen Dionysos und Apollo als der zwischen Genie und Geschmack interpretiert wird (S. 612). 122 Die Möglichkeit eines besseren Gebrauchs bzw. die Unumgänglichkeit der Kommunikation für die ästhetische Urteilskraft wurde schon durch die Idee des Gemeinsinns angedeutet, die bloß formal bleiben muss. S. in diesem Sinne Jens Kulenkampff, „Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis“ – Versuch einer Neubestimmung des Geschmacksurteils. Hier wird gezeigt, dass die Idee der ästhetischen Kommunikation durch „exemplarische Gültigkeit“ der Geschmacksurteile im kantischen Begriff des Gemeinsinns enthalten ist. Die „Einhelligkeit der Sinnesart“ bei allen Menschen wird bei Kant nicht vorausgesetzt, sondern als Ziel der Kultur betrachtet, „das ästhetische Mustergültige“ als „Resultat eines historischen Bildungsprozesses“. Damit wird die Ästhetik des 18. Jahrhunderts überwunden. „Der Kanon des Schönen bildet sich und er bildet sich um […]“. Kant weise damit alle allgemeingültigen Maßstäbe einer ästhetischen Beurteilung zurück. „Denn im Prinzip hat jeder […] das Recht zur Teilnahme an jenem fortlaufenden Prozeß der Bildung des Geschmacks“ (S. 47 f.). Ein anderer Beitrag desselben Sammelbandes argumentiert davon abweichend, dass die Selbstnormierung des Gemeinsinns, die der Autor bezeichnenderweise mit einem „metaphysischen Solipsismus“ in Verbindung setzt, und die Kommunizierbarkeit ästhetischer Urteile bei Kant auf dramatische Weise kontradiktorisch sind (Wilhelm Vossenkuhl, Die Norm des Gemeinsinns). Zum Thema s. auch Christian Helmut Wenzel, Gemeinsinn und das Schöne als Symbol des Sittlichen.
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tischen Methode“ geleitet wird, so gibt der vorbildliche Gebrauch der praktischen Vernunft der moralischen Urteilskraft durch „ein Beispiel der Tugend oder Heiligkeit“ ihren Leitfaden, so geben auch „die Werke der Alten“ der ästhetischen Urteilskraft ihr Maß (KU, AA 5, S. 283). Für die ästhetische Urteilskraft ist es aber im Besonderen unumgänglich, „einige Produkte des Geschmacks als e x e m p l a r i s c h “ anzusetzen (KU, AA 5, S. 232). Das Urbild, das „bloß im Gedanken“ ist, wäre dort, wo die Regel fehlt, prinzipiell unzulänglich. Die Gesamtheit der musterhaften Werke, die den Geschmack ausbilden und das Genie erziehen, das weitere Werke hervorbringt, ist gerade das, was der Vorstellung von der schönen Kunst ihr Richtmaß gibt. Außer diesen exemplarischen Vorstellungen, die als gewisser Kanon angepriesen werden, gibt es keine Kriterien der Kunst. Das Werk eines Genies muss dann zwar am Geschmack gemessen und von ihm beurteilt werden, aber ohne jegliche Kriterien. Die einzigen Anhaltspunkte für ein Geschmacksurteil sind wiederum andere Kunstwerke, deren Erzeugung ein Rätsel bleibt. Einem Genie nachzueifern ist deshalb einerseits unumgänglich, andererseits schädlich, falls „der Schüler alles n a c h m a c h t , bis auf das, was das Genie als Mißgestalt nur hat zulassen müssen, weil es sich, ohne die Idee zu schwächen, nicht wohl wegschaffen ließ“ (KU, AA 5, S. 318). Durch Nachahmung und Übung können Produkte der schönen Kunst nicht entstehen. Schon deswegen nicht, da die Regel nicht formulierbar ist, weil das Wesentliche und Zufällig-Fehlerhafte nicht unterscheidbar sind. Man kann nicht wissen, was Abweichung ist. Oder vielmehr: Da jedes Bild eine Abweichung vom Gewohnten (eine „Mißgestalt“) darstellt, kann man nicht sagen, was gerade als fehlerhaft bezeichnet werden soll. Das Talent des Genies besteht eben darin, aus einem Fehler eine neue Regel zu schaffen, eine neue unendliche Reihe der „verwandten Vorstellungen“ zu eröffnen, ohne erklären zu können, warum gerade in diesem Fall eben diese Abweichung notwendig war.
Dieser Muth ist an einem Genie allein Verdienst; und eine gewisse K ü h n h e i t im Ausdrucke und überhaupt manche Abweichung von der gemeinen Regel steht demselben wohl an, ist aber keineswegs nachahmungswürdig, sondern bleibt immer an sich ein Fehler, den man wegzuschaffen suchen muß, für welchen aber das Genie gleichsam privilegirt ist, da das Unnachahmliche seines Geistesschwunges durch ängstliche Behutsamkeit leiden würde. (KU, AA 5, S. 318)
Man hört eine gewisse Unentschiedenheit an dieser Stelle, als ob Kant nicht genau wüsste, ob diese Fehler als solche doch unerwünscht sein sollten oder aber ob sie gerade das Kostbarste sind, was ein geniales Werk ausmacht. In der Wirklichkeit aber wird dies deutlich genug: Der Mut des Genies ist der Mut zu Fehlern bzw. die Kühnheit, von der ästhetischen Normalidee abzuweichen. Durch diese Kühnheit als äußerstem Privileg soll sich die Normalidee selbst verändern. Ohne solche Abweichung ist die Belebung der Letzteren nicht möglich. Nur dadurch wird sie zu einer ästhetischen Idee, d. h. zu einem Bild, das trotz oder gerade wegen seiner Unvollkommenheit das Ideal mit der sinnlichen Anschauung musterhaft verbindet.
1.4 Das Schöne: Beispiel, Muster, Symbol
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Das Unvollkommene und das eventuell Fehlerhafte eines Beispiels wird im Werk des Genies zur Vollkommenheit eines Musters, das eine Verbindung des ästhetischen Wollgefallens am Sinnlichen mit den Ideen der Vernunft herstellt, eine Verbindung, die als willkürlich und musterhaft zugleich beurteilt werden soll. Die Kunst steht somit für die „Paradoxierung der Leitunterscheidungen“ der Kritik – der „Unterscheidung von Allgemeinem und Einzelnem, von Denken und Wahrnehmen, von Begriff und Anschauung, von Form und Inhalt.“123 Mehr noch: Durch den Begriff des Genies kommt es noch zu einer weiteren Paradoxierung: der der Unterscheidung ‚Kunst – Natur‘. Denn im Werk des Genies wird die Natur zur Kunst, die Kunst aber zur Natur. Sein Werk soll fast natürlich sein oder vielmehr: Es wird nur unter der Bedingung genossen, dass es als Werk eines Menschen beurteilt wird und dennoch absichtslos aussieht, als ob es unmittelbar der Natur entsprungen wäre. Die Kunst als Kunst des Genies steht damit auch für die Paradoxierung der Unterscheidung des Intellektuellen und des Natürlichen im Menschen, d. h. der Vernunft und der Natur. Die grundlegende Unterscheidung der Kritik wird dadurch allerdings nicht aufgehoben, sondern zugleich bestätigt und relativiert.124 Ein Genie ist der „Günstling der Natur“, durch den die Natur der Kunst eine Regel gibt (KU, AA 5, S. 318); seine Werke sind dennoch Kunstwerke, die durch keine Regel erfasst werden können. Das Wagnis des Dichters, sein Geist, der die Gemütskräfte zum freien Spiel bewegt, kann deshalb niemals mit einem Maßstab aus Vernunft gemessen werden. Schon deshalb scheint die kantische Unterscheidung des Künstler-Genies vom begabten Wissenschaftler berechtigt zu sein.125 Damit wird ein wichtiger Punkt der kantischen Kunstphilosophie deutlich, der durch die Analyse der ästhetischen Urteilskraft gewonnen worden ist: Die Unvollkommenheit des Einzelnen vor dem allgemeinen Gesetz wird in der Kunst nicht anerkannt, weil das Einzelne bzw. der Einzelne von ihr in den unumstrittenen Maßstab der Vollkommenheit umgedeutet wird.126 Die Moral gibt der Kunst nicht ihr Richtmaß.
123 Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 111. 124 Zur Rolle der Kunst, die paradoxe Freiheit der Vernunft bzw. eine „Ambivalenz der Vernunft zum Vorschein“ kommen zu lassen, s. Andreas Kablitz, Die Kunst und ihre prekäre Opposition zur Natur, S. 164 f. Die gegenseitige Angewiesenheit der Natur und der Kunst aufeinander in Geschmacksurteilen wird hier als virulente Dialektik bezeichnet (S. 166 ff.). Wenn es sich aber um Dialektik handelt, so doch nicht im Sinne des Aufhebens im Dritten. 125 Diese Unterscheidung wird Nietzsche einer scharfen Kritik unterwerfen. Den Vorwurf macht auch Gadamer, indem er von der „Einengung des Geniebegriffs“ bei Kant spricht (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 50). Diese Einengung scheint allerdings gerade das Spezifische des kantischen Begriffs der Kunst zu treffen, was von Gadamer gleichsam anerkannt wird. Trotzdem lässt er den Vorwurf, Kant habe das Geniale der Wissenschaft unterschätzt, stehen. Zur Entwicklung dieser Unterscheidung bei Kant: Piero Giordanetti, Das Verhältnis von Genie, Künstler und Wissenschaftler in der Kantischen Philosophie, s. dort weitere Literaturhinweise zum kantischen Begriff des Genies (S. 407). 126 Vgl. „Das ästhetische Ideal der Schönheit kann nur dadurch realisiert werden, dass ein einzelner Mensch als ein Beispiel für die Menschheit, d. h. für die Freiheit in jeder Person angesehen (und in der
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Die Produkte der schönen Kunst werden dennoch zu ästhetischen Verdeutlichungen der Moralität, die gleichzeitig willkürlich sind und Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben. Die „unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns“, als „der einzige Schlüssel zur Enträthselung dieses uns selbst seinen Quellen nach verborgenen Vermögens“ des ästhetischen Urteilens (KU, AA 5, S. 341), kommt uns durch die Kunst jedes Mal nicht mehr unbegreiflich vor, sondern wird demonstriert, d. h. anschaulich gemacht und den Sinnen empfohlen. Das Moralische findet im Urteilen über das Schöne seinen analogen Ausdruck, der für die unvollkommenen Wesen, welche die Menschen sind, notwendig ist, der jedoch immer neu hergestellt werden muss und deshalb als zufällig beurteilt wird. In der Kunst wird diese Zufälligkeit zur Absicht, zum Gemachten, diese Analogie wird zum bloßen Anspruch, die einzelnen ästhetischen Vorstellungen in den Maßstab des Guten umzudeuten. Doch zeigt gerade die Kunst, dass trotz aller Einsprüche der Vernunft nur das gut sein kann, was den Sinnen gefällt; dass das Gute, das nicht schön dargestellt werden kann (d. h. dessen Vorstellung dem Gemüt keinen Genuss am freien Spiel der Erkenntniskräfte bereitet127), aus der Sicht der Kunst kein Gutes ist; dass der Mensch nur das Schöne frei, d. h. abgesehen von allen Forderungen der Vernunft und vom Zwang der Pflicht, liebenswürdig finden kann. Die Überzeugungskraft der Kunst liegt in der Liebenswürdigkeit des Schönen, die einerseits als frei genossen wird, andererseits aber für unsere Zustimmung wirbt und jedem den Genuss an ihm unterstellt. Das Gelingen
Kunst dargestellt) wird.“ (Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, S. 250) Dies geschieht schon deswegen, weil die Geschmacksurteile einzelne Urteile sind. S. dazu Ralf Meerbote, The Singularity of Pure Judgements of Taste. Die Geschmacksurteile können, im Unterschied zu logischen und moralischen Urteilen, nicht einer Verallgemeinerung unterworfen werden. Zwar setzen sie die Allgemeingültigkeit voraus, aber nur subjektiv, d. h.: das Allgemeine wird bloß als Zustimmung zum eigenen subjektiven Urteil gedacht. Zur Frage nach der Allgemeingültigkeit der ästhetischen Urteile s. Ursula Franke (Hg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. S. ferner Wolfhart Henckmann, Über das Moment der Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils in Kants Kritik der Urteilskraft; Gerhard Seel, Über den Grund der Lust an schönen Gegenständen. Kritische Fragen an die Ästhetik Kants; Christian Helmut Wenzel, Das Problem der subjektiven Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils bei Kant. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit in den Geschmacksurteilen wird öfters als paradox betrachtet. Vgl. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, bes. S. 24 ff., 84 ff., 116 f., 166. Produktiv wird die Lösung dieser Paradoxie durch die folgende Unterscheidung: „Das reine Geschmacksurteil ist keine definitive Mitteilung, sondern eine Ankündigung […]“ (S. 170). Zur Paradoxie (evtl. „Widerspruch“ bzw. „Geheimnis“ genannt) der allgemeingültigen Subjektivität s. auch Karl Ameriks, New Views on Kant’s Judgement of Taste; Hannah Ginsborg, Kant on the Subjectivity of Taste. 127 Auch das Hässliche kann schön im Sinne der Kritik dargestellt werden. Der einzige Gegensatz zur Schönheit wäre dann das Ekelhafte als das, was den Sinnen niemals gefallen könnte (KU, AA 5, S. 312). Inwiefern die Negation auf der Grundlage der kantischen Ästhetik überhaupt möglich sein soll, bleibt allerdings eine offene Frage. Wie Reinhard Brandt überzeugend darstellt, funktioniert sie nicht wirklich als Urteil „Dies ist nicht schön“. Die Unlust wird „als Bedingung der ästhetischen Lust vorgestellt; das Spiel jedoch ist auch im Kontrast noch harmonisch und führt zum positiven Urteilen […]“ (Reinhard Brandt, Zur Logik des ästhetischen Urteils, S. 240).
1.4 Das Schöne: Beispiel, Muster, Symbol
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kommt hier einem Wunder gleich. Um eine solche Unterstellung durchzusetzen, ist eben ein „Günstling der Natur“, ein Genie, erforderlich, bzw. vielmehr ist nur der Genie, der die Schönheit, die den Sinnen gefällt, als Maßstab des Guten setzen kann. So vollendet die Kritik der Urteilskraft die Moral aus Vernunft, indem sie ihren Maßstab unberührt lässt und ihn als für alle Zeiten geltend bestätigt, seine Anwendung in concreto lässt sie jedoch problematisch offen und ermöglicht sie damit gleichzeitig.128 Wenn ohne Liebe zu konkreten Menschen die vollkommene Moralität nicht möglich wäre, so wäre das Gute ohne Schönheit nur ein leerer Gedanke, dem keine Anschauung innewohnt. Die einzelnen Bilder, Beispiele des Guten, sind für die Vernunft verwerflich, sie verdunkeln nur ihre Ideen. Für die Urteilskraft des ästhetisch bedingten Wesens und seine Lebensorientierung sind sie aber gerade unentbehrlich. Denn das Gute kann man überhaupt nur in seinen symbolischen Darstellungen wirklich lieben.129 Die Überzeugungskraft eines Symbols bleibt als solche „Glücksfall“, eine Erfindung des schöpferischen Geistes „in ästhetischer Bedeutung“, der die empirischen Bilder in die Muster der Schönheit verwandelt. Die Zufälligkeit bzw. Willkür einer solchen Umwandlung muss von der Vernunft bei diesem Verfahren der Urteilskraft immer mitgedacht werden. Nichtsdestoweniger oder gerade deswegen entstehen in der Kunst immer neue Bilder, die die Schönheit mit der Idee der Moralität musterhaft verbinden. Der Künstler wagt es, Ideale ästhetisch darzustellen. Er wagt die Liebenswürdigkeit der inneren Beschaffenheit, des Intelligiblen, der Menschheit durch die Schönheit eines einzelnen Menschen äußerlich zu zeigen. Er macht das Moralische ästhetisch zugänglich, indem er eine Verbindung zwischen dem Ethischen und Ästhetischen, zwischen dem Guten und dem Schönen, zwischen dem Denken und dem Wahrnehmen schafft. Dank diesen immer neuen Versuchen wird allerdings auch die Differenz zwischen Schönem und Gutem in der Kunst bedeutsam und somit für das Denken beobachtbar.130 Dennoch ist nicht die Darstellung dieser beweglichen Differenz das Ziel des Künstlers. Vielmehr wird ein einzelnes Bild, das eine symbolisch-analoge Verbindung des Guten und des Schönen ist, durch die Kunst jedes Mal als absolut adäquate131 und einzig mögliche Verbindung gesetzt, als unmittelbare Einheit, als Musterbild. Mit anderen Worten: Sie stellt die Welt „als ein schönes moralisches Ganze[s]“ „in ihrer ganzen Vollkommenheit“ dar.
128 Wenn das Ethische die einzige Propädeutik des Ästhetischen ist (KU, AA 5, S. 355 f.), so gilt also auch das Umgekehrte: Die ästhetische Unempfindlichkeit soll als schlechtes Zeichen in Ansehung der Moralität interpretiert werden. 129 Eine interessante Interpretation dieser Unentbehrlichkeit des Ästhetischen stellt die These von Birgit Recki dar, zum kantischen Begriff der Vernunft gehöre nicht nur das Vermögen, zu erkennen und zu handeln, sondern auch das Vermögen, „die Dinge so zu lassen, wie sie sind“, bzw. „in gelassener Distanz anzuerkennen und uns an ihrer Besonderheit zu freuen“. „Es gehört zu unserer Vernunft, daß wir spielen, daß wir lieben können.“ (Recki, Das Schöne als Symbol der Freiheit, S. 402) 130 Vgl. Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 111. 131 Diese Verbindung ist inadäquat für die Vernunft, nicht aber für die ästhetische Urteilskraft.
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
Die Vervollkommnung der Moral aus Vernunft wird so durch die Erfahrung des Schönen in der Kunst erst möglich, auch wenn sie dem Geschmack bzw. der Urteilskraft durch den Künstler nur vorübergehend aufgezwungen wird. Nichtsdestoweniger setzt ein Kunstwerk jedes Mal, wenn es als Muster des Geschmacks anerkannt wird, einen Maßstab für das „Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen“. Denn die „Einstimmung“ der Sinnlichkeit mit dem moralischen Gefühl ist nach Kant letztlich auch die unerlässliche Bedingung des Geschmacks, der sein Ziel in einer „echte[n]“ und „bestimmte[n] unveränderliche[n] Form“ zu setzen weiß (KU, AA 5, S. 356). Diese unveränderliche Form des Geschmacks muss dennoch (wiederum paradox) immer neu hergestellt werden, indem seine Inhalte stets wechseln.132 Denn mit jedem neuen Kunstwerk entstehen in der Kunst neue Welten, die dem Vorbild einer schönen moralischen Welt völlig entsprechen und dennoch unendlich verschieden sind, die einen absoluten Anspruch auf Adäquatheit erheben und dennoch einander nicht verleugnen. Die Kunst vollendet so durch zahlreiche schöne Vorstellungen die Idee des moralischen Ganzen zur Befriedigung der Vernunft.133 Für die ästhetisch bedingten Vernunftwesen eröffnet sie unendliche Möglichkeiten, zwischen der allgemeinen Forderung der Vernunft und der Mannigfaltigkeit der Sinnenwelt, zwischen der Nötigung zum Zusammenleben und dem eigenen Verlangen nach Glück, zwischen der Achtung vor der Menschheit in jeder Person und der Neigung zu einem bestimmten Menschen zu vermitteln. Sie verschafft die letzte Gewissheit, „das Gute auch l i e b g e w o n n e n “ zu haben, die unentbehrliche Bedingung der moralischen Vollkommenheit für die nicht rein vernünftigen Wesen. Durch die Kunst wird die Moral aus Vernunft aus einer tautologischen Kreisbewegung in Paradoxien zu einem musterhaften symbolischen Bild eines schönen Menschen, der allein imstande ist, eigene Vorstellungen von dem Guten in das Ganze einer schönen moralischen Welt umzusetzen.
1.5 Zusammenfassung Kants Unterscheidung der allgemeinen Prinzipien und ihres konkreten Gebrauchs hat uns als Leitfaden gedient, um sein Projekt der Vervollkommnung der Moral aus Vernunft samt den ihm innewohnenden Schwierigkeiten darzustellen. Dank dieser Unterscheidung konnten die der Radikalität entspringenden Paradoxien, wenn nicht entparadoxiert, so doch als für das Denken unumgänglich bestätigt werden, v. a. die
132 Die Unterscheidung ‚Form – Inhalt‘ wird somit beweglich. S. dazu Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 112 f. 133 Nach Friedrich Kaulbach empfindet man das Glück bzw. die Glückseligkeit, als den „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“ (KpV, AA 5, S. 124), „gerade in der Gegenwart des Schönen“. „Es ist vielleicht nur durch die Kunst möglich.“ (Kaulbach, Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche, S. 96)
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1.5 Zusammenfassung
Paradoxie der gegen die eigene Freiheit frei entscheidenden Vernunft, die damit zum radikalen Bösen, aber auch ebenso zum radikalen Guten fähig wird. Und nicht nur Paradoxien, auch der tautologische Zirkel in der gegenseitigen Begründung der Moral aus Vernunft musste akzeptiert werden – als das Unbegreifliche schlechthin. Denn jedes weitere Hinterfragen würde die Vernunft selbst als Vermögen in Frage stellen. Für das in concreto handelnde Subjekt stellen diese Paradoxien eine besondere Herausforderung seiner Gemütskräfte dar. Seine moralische Urteilskraft als individuelles Vermögen setzt bei ihnen ein und führt über sie hinaus. Sie muss in einer konkreten Lebenssituation Orientierung verschaffen und stellt fest, dass der kategorische Imperativ, dessen Notwendigkeit für die Vernunft nicht bezweifelt werden kann, auf konkrete Fälle niemals mit Sicherheit anzuwenden ist. Das Überprüfen der Maxime mündet unvermeidlich in Kasuistik, d. h. in das unendliche Hinterfragen der Prinzipien ihrer Anwendbarkeit. Darum scheint eine äußere Instanz nötig zu sein, die einerseits zur Annahme des Rechts führt, das von den Handlungen als äußeren Erscheinungen und den einem äußeren Beobachter mehr oder weniger evidenten Absichten ausgeht und über sie urteilt, und andererseits zur Religion, in der die Maximen der Handlung als von Gott durchschaut gedacht werden, wodurch über die Gesinnung des Handelnden gerecht geurteilt werden kann. Allerdings haben beide äußeren bzw. als äußere gedachten Instanzen nur dann moralische Bedeutung, wenn ihnen eine innere Plausibilität verschafft wird. Kants Hervorhebung der Autonomie als Grundlage der Ethik nötigt ihn somit zur Annahme einer weiteren Instanz, die von der moralischen Urteilskraft nicht wirklich unterschieden sein darf und dennoch über ihre Kasuistik hinausgeht und ihr Bedenken eigener Unvollkommenheit zum Prinzip erhebt. Die moralisch-rechtliche Differenz wird im Begriff der sich selbst richtenden moralischen Urteilskraft aufgehoben – im Gewissen, dessen Leitfaden, nicht zu wagen, was unrecht sein könnte, den Handelnden nötigt, sich selbst zu verurteilen: Vor dem Gerichtshof dieses härtesten aller Richter kann keiner sich als gerechtfertigt denken. So richtet sich am Ende die Vernunft selbst. Sie richtet sich als Unvermögen, nur vernünftig zu handeln bzw. nur aus Vernunft leben zu können. Die Leitunterscheidungen der Kritik führen also dazu, dass jede Hoffnung auf eine moralische Rechtfertigung fehlt. Der in concreto Handelnde ist in seiner Moralität zweifach verunsichert: Er kann nicht wissen, ob er seine Maxime hinreichend am kategorischen Imperativ überprüft hat, und er kann nicht wissen, ob er tatsächlich im Sinne der erfolgten Prüfung gehandelt hat. Das Empirisch-Pathologische, das immer mit hineinkommen kann, lässt sich nicht wirklich herausrechnen. Die moralische Urteilskraft, die zwischen dem Prinzip der reinen Allgemeinheit und den konkreten Entscheidungen vermittelt und ihr ästhetisches Bedingt-Sein stets mitbedenken muss, könnte an dieser Unsicherheit verzweifeln. Aber gerade mit Hilfe der Urteilskraft als individuellem Vermögen, das nicht erlernt, sondern nur geübt werden kann, wird das die eigene Unmoralität demütig anerkennende, ästhetisch bedingte Vernunftwesen nach Kant des „Ergänzungsstück[s] der Unvollkommenheit“ seiner Natur fähig – der Liebe. Letztere wird nicht als Gefühl verstanden (das Wohlgefallen am anderen wäre
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bloß eine Neigung), aber auch nicht als bloßes Prinzip (das Wohlwollen aus Pflicht wäre eine Ungereimtheit), sondern als besondere Richtschnur zur Handlung gegenüber dem anderen Menschen (das Wohltun, „ein thätiges, praktisches Wohlwollen“ gegenüber einem nahe stehenden Menschen). Sie ist dann willige Aufnahme der Maximen eines anderen Menschen unter seinen Willen, d. h. freie, von allen äußeren Umständen unabhängige Unterstellung, dass der andere, der als „fremde Vernunft“ dem äußeren Beobachter in seinen Maximen unzugänglich bleiben muss, doch immer im Stande ist, das Gute als oberstes Prinzip seines Willens anzunehmen, selbst wenn seine Vernünftigkeit wesentlich verborgen bleibt. Dieses freie Eingeständnis, diese Haltung gegenüber dem anderen, bei der die eigene Unvollkommenheit (die eventuelle Unvernunft und Unmoralität) immer mitgedacht wird, ist nur im Verhältnis zu bestimmten Menschen möglich und auch nur in einer ästhetisch bedingten Neigung zu diesen Menschen zu verankern. Denn nur dann kann tatsächlich die Gewissheit entstehen, das Gute unabhängig von allen Ausflüchten der Selbstliebe, frei von allen „Tücken des menschlichen Herzens“ in die Handlung umgesetzt zu haben, nicht weil man es sollte, sondern weil man das Gute „auch l i e b g e w o n n e n “ hat. Wenn es solche Fälle überhaupt nicht gibt, d. h. wenn man keinen anderen Menschen frei (ohne jeden Zwang) für ein Vernunftwesen halten kann, kann man auch sich selbst nicht für ein Vernunftwesen halten. Die sich richtende Vernunft muss einen anderen Menschen von dem radikalen Bösen freisprechen, um sich selbst Hoffnung zu schaffen, dass es auch von ihr selbst überwunden werden könnte. Die vernünftige und zugleich ästhetisch bedingte, tätige Liebe gegenüber einem bestimmten Menschen verwandelt so die ästhetische Beschränktheit des Handelnden von einem Hindernis der Moralität in die Bedingung seiner Vollkommenheit. Wenn also der Liebe auch keine besondere Stelle in Kants Begründung der Moral aus Vernunft zukommt, so wird sie bedeutsam, wenn es um deren konkrete Realisierung geht. Sie macht damit den Ausgangspunkt der Kritik deutlich: Das ästhetische Bedingt-Sein ist die unerlässliche conditio humana. Der Gang der Kritik zielt nicht auf eine Herabwürdigung des Ästhetischen, nicht auf das Wegrechnen des EmpirischPathologischen. Gerade umgekehrt: Die schlimmsten Irrtümer, denen die Menschen verfallen, entspringen nicht der Sinnlichkeit, nicht den Schranken, die diese jedem Hier-und-Jetzt, jedem Urteil und jeder Handlung setzt, sondern dem Nicht-Bemerken von deren Einfluss, ihrer Verleugnung, mit anderen Worten: dem logischen, ästhetischen und moralischen Egoismus, „welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt“ (AH, AA 7, S. 130). Die egoistische Haltung des angeblich objektiven Wissens, das eigene Grenzen nicht anerkennt und sich absolut setzt, sollte gerade der Kritik unterworfen werden. So gibt v. a. die Kritik der Urteilskraft deutlich zu verstehen: Nachdem über die Prinzipien der reinen Vernunft aufgeklärt wurde, muss anerkannt werden, dass der Mensch nicht allein aus ihnen handeln, ja nicht allein aus ihnen leben kann. Er bedarf ihrer ästhetischen Verdeutlichung, die selbst nur noch nach dem Kriterium des Passens zu beurteilen ist. Diese Verdeutlichung in unvollkommenen Beispielen kann und muss den Sinnen von Zeit zu Zeit empfohlen und zu
1.5 Zusammenfassung
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einem Muster erhoben werden, zu einem „sichtbare[n] Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen“. Die rein ästhetische Schönheit der Natur ist zwar für die Belebung des Gemüts und des freien Spiels aller Erkenntniskräfte unumgänglich. Jedoch ist sie unfähig, solche Beispiele zu geben. Es kann nur das Werk eines Menschen sein, der diese sinnliche Verdeutlichung des Übersinnlichen wagt, der dem Unbegreiflichen der Vernunft, ihren Ideen und selbst ihrem Ideal, Ausdruck verschafft. Als „Günstling der Natur“ ist solch ein Mensch ein Genie, d. h. derjenige, der das Unmögliche (die ästhetische Idee, die gleichzeitig eine Idee und eine Anschauung sein soll, der kein Begriff adäquat ist) möglich macht und für die anderen einleuchtend darstellt. Nur der ist Genie, dem es gelingt, das Zufällige, Willkürliche, Inadäquate dieser Verbindung in ein Muster der Vollkommenheit, in ein ästhetisches Ideal umzudeuten. Nur der ist Künstler, der das Gemüt dadurch beleben kann, dass er eine sinnliche (und im Prinzip immer unzulängliche) Verdeutlichung des Übersinnlichen als nachahmungs- und liebenswürdig vor Augen führt. Die schöne Kunst als Kunst eines Genies entzieht sich allerdings allen Forderungen der Vernunft. Man kann der Kunst keine Regel zuschreiben, man kann einem Kunstwerk auch nicht nacheifern. Das Unvollkommene und das eventuell Fehlerhafte wird im Werk des Genies zur Vollkommenheit eines Musters. Und es ist prinzipiell unmöglich zu sagen, wie und wann dies geschehen kann. Kants Kunstphilosophie, die der Aufgabe der Kritik folgt, lässt, im Unterschied zu mehreren anderen Kunsttheorien, offen, was als Kunst angesehen werden soll. Denn Kriterien der schönen Kunst kann es nicht geben. Die Werke der schönen Kunst werden zwar dem Urteil des Geschmacks unterworfen, aber auch dieser braucht sie als Anhaltspunkte, um an seine Urteile zu gelangen. Der Geschmack und das Genie, die Urteilskraft und die Einbildungskraft sind aufeinander angewiesen. Der Geschmack hat seinen Leitfaden in der Gesamtheit der Kunstwerke, die er als musterhaft beurteilt und die er zu einem gewissen Kanon der Kunst erklärt. Die ästhetische Verdeutlichung des Ideals als Werk eines Genies muss also immer wieder neu gewagt werden. Denn die Verbindung des Schönen und des Guten, die dadurch hergestellt wird, bleibt eine indirekte, symbolische Verbindung, deren Unzulänglichkeit immer mitgedacht wird. Sie ist als musterhaft-einmalig und zufälligersetzbar, als „Gunst der Natur“ und als Werk eines Menschen, als allgemein-verbindlich und willkürlich zugleich zu beurteilen. Die Kunst als schöne Kunst paradoxiert somit die Leitunterscheidungen der Kritik, ohne sie aufzuheben – die Unterscheidung von Allgemeinem und Einzelnem, von Form und Inhalt, von Vernunft und Natur. Ein einzelnes Kunstwerk beansprucht, sein Ideal als unumstrittenen Maßstab der Vollkommenheit zu setzen, ohne die anderen Maßstäbe zu verleugnen. Durch den Mut eines Genies zur Verdeutlichung des Übersinnlichen können so immer wieder neue Bilder entstehen, die die Welt als „ein schönes moralisches Ganze[s] in ihrer ganzen Vollkommenheit“ darstellen. Abgesehen von der Aktualität von Kants Deutung der Kunst (und kantische Definitionen lassen sich m. E. retten, wenn sie negativ-beschränkend reformuliert
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Kapitel 1. Kants Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft
werden) zeigt sie, dass das ästhetische Bedingt-Sein des Menschen in der Vernunftkritik völlig ernst genommen wurde. Wenn die Liebe die einzige Möglichkeit darstellt, der eigenen moralischen Gesinnung sicher zu sein, so ist die Rolle einer schönen Darstellung des Guten als Leitfaden für Handlungen nicht zu unterschätzen. Die in der Kunst entstehenden Gestalten der schönen Menschen bilden gleichsam eine Brücke zwischen der ästhetisch befangenen Urteilskraft und dem hohen Ideal der Vollkommenheit der Vernunft. Ein schöner Mensch, der die vollkommene Liebenswürdigkeit mit der vollkommenen Liebesfähigkeit in sich zusammenfallen lässt und somit die Welt in „ein schönes moralisches Ganze[s]“ verwandelt, ist nicht nur ein „süßer Traum“ des Künstlers, sondern auch der des Philosophen, v. a. desjenigen, der die Moral als eigentlichen Zweck aller Bemühungen um die Vernunft von Seiten der ästhetisch bedingten Vernunftwesen ansehen will. Kants Kunstphilosophie wagt so u. a. eine wesentliche Verschiebung des Idealbegriffs: Wenn jeder Anthropomorphismus für die Vernunft in ihrem Umgang mit ihrem Ideal verwerflich zu sein scheint, so ist er für die Darstellung ihres ästhetischen Ideals unumgänglich. Denn es ist immer ein einzelner Mensch, der in der Kunst als Ideal der Vollkommenheit anerkannt wird. Kants Projekt der Vervollkommnung einer Moral aus Vernunft wird damit vollendet. Die Frage nach der Kunst ist gewiss keine Schlüsselfrage seiner Vernunftkritik, so wenig wie die Frage nach der Liebe eine Grundlage seiner Moralphilosophie. Wenn man jedoch die Schwierigkeiten, die sich von den Ausgangsunterscheidungen der Kritik her ergeben, bedenkt und Kants Schriften auf ihre Auflösung hin bzw. sie um der Entparadoxierung ursprünglicher Paradoxien und Tautologien seiner Moralphilosophie willen untersucht, scheinen beide unerlässlich zu sein. Bei allem Rigorismus wird dann verständlich, dass Kant keinen unrealistischen „Metaphysikträumen“ anhing. Er gab vielmehr deutlich zu verstehen: Auch was die Prinzipien nicht als solche berührt, kann eine entscheidende Rolle für ihren konkreten Gebrauch spielen; das Pathologische im Denken und Handeln lässt sich nicht wirklich aus ihm herausrechnen. Wenn Kants Philosophie das menschliche Leben begreifen wollte, dann durfte ihr die fundamentale Sehnsucht des Menschen nicht fremd bleiben – seine Hoffnung, dass die Neigungen, denen er anhängt, seiner Vernunft nicht immer und nicht ewig widersprechen müssen; dass die Glückseligkeit und Glückswürdigkeit tatsächlich, wie in einem Roman, zusammenfallen können; dass das Schöne es wert sein kann, als Ideal verehrt und geliebt zu werden.
Kapitel 2. Nietzsche: Kunst als Kritik einer Moral aus Vernunft Das Vertrauen in die Vernunft als Vermögen der Selbstkritik erlaubte Kant, die jahrtausendelangen Bemühungen um die Begründung der Moral aus Vernunft zu vollenden. Die Begründungsart, derer sich die Kritik dabei bediente, entsprang der neuzeitlichen Suche nach den unverzichtbaren Fundamenten, die nun auf dem Weg der Selbstdisziplinierung gefunden werden konnten – durch die den eigenen Gang kontrollierende und die eigene Fähigkeit überprüfende Instanz der Vernunft, die selbst dafür sorgt, dass die Grenzen der Ermächtigung, die sie sich gegeben hat, von ihr nicht überschritten werden. Diese Selbstbezüglichkeit der Vernunft wird später bei Hegel durch die Verzeitlichung ihrer Unterscheidungen im Begriff des Geistes aufgehoben und gleichzeitig vervollständigt.1 Denn auch Selbstgewissheit und Selbstvergewisserung der Vernunft sollen als Momente ihrer Entwicklung von ihr selbst eingesehen werden. Nur diese Einsicht erhebt sie zur Moralität.2 Der ahistorische Charakter der kantischen Kritik wird so überwunden, der Begriff der Vernunft auf die Zeit umgestellt, die Moralität als Ziel der historischen Bewegung begriffen.3 Durch diese Kritik bewies Kants Projekt der gegenseitigen Begründung der Moral und der Vernunft erneut höchste Plausibilität und Produktivität.4 Die ablehnende Kritik an
1 Auf dieses Thema, so wichtig es auch sein mag, kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Vgl. dazu v. a. Dieter Henrich (Hg.), Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie. In seinem programmatischen Beitrag formuliert Henrich die maßgebende Unterscheidung der fundamentalistischen, d. h. auf letzte Fundamente zielenden Methode Kants und der holistischen, d. h. auf den Inbegriff und die Gesamtverfassung der Relationen zielenden Methode Hegels. Henrich bezeichnet die beiden Methoden als Deduktion und Dialektik und weist darauf hin, dass sie beide von den für die Wissenschaften verbindlichen Formen der Begründung abweichen und dennoch die Möglichkeit der grundsätzlichen Selbstverständigung der Vernunft und die Verfügbarkeit ihres Verfahrens nicht dem Zweifel unterwerfen (Dieter Henrich, Deduktion und Dialektik. Vorstellung einer Problemlage). 2 Die Bestimmung der Begriffe enthält als „bestimmte Negation“ ein Moment der Entscheidbarkeit und führt so im Ethischen zur „absoluten Diskretion“ zwischen den individuell formulierten Maximen. Erst durch die gegenseitige Anerkennung der moralischen Begriffe wird der Geist wirklich (vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 493 f.). S. dazu Dieter Henrich, Hegels Theorie über den Zufall; Werner Stegmaier, Hegel, Nietzsche und die Gegenwart, bes. S. 302 ff. und die dort angegebene Literatur. 3 Während Kant noch von der Möglichkeit des Festhaltens von Begriffen ausgeht, setzt Hegel durch seinen Begriff des Geistes bei der ‚Lebendigkeit‘ des Denkens an, die jede Begründung eines Begriffes überbietet. Dennoch behält Friedrich Kaulbach Recht, wenn er Hegels Vervollständigung des kantischen Begriffs der Vernunft im Begriff des Geistes gerade als das Aufheben ihres perspektivischen Charakters deutet. Die perspektivische Freiheit der Vernunft, die bei Kant zur Ablehnung der Dialektik führte und durch die hegelsche Dialektik im absoluten Wissen aufgehoben wurde, konnte nur mittels eines „radikale[n] nihilistische[n] Umschlag[es]“ wieder gewonnen werden, den „Nietzsche auf sich genommen hat“ (Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, Teil I, S. 200). 4 Die Wiederbelebung und Neubegründung dieses Ansatzes, wenn auch jenseits einer Gewissheit, die sich auf die Überprüfung der Fundamente oder auf die Gesamtverfassung der Relationen gründet,
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Kapitel 2. Nietzsche: Kunst als Kritik einer Moral aus Vernunft
Kant von Hamann, Schiller, Herder oder Schopenhauer verfehlte dagegen oft ihr Ziel. Die Kunst als Ergänzung einer Moral aus Vernunft, die Nicht-Spontaneität der Vernunft des Einzelnen, die problematische Unterscheidung der begrifflichen und metaphorischen Sprache als wichtigste Punkte dieser Angriffe erschütterten nicht die Fundamente von Kants „majestätische[m] sittliche[m] Gebäude[ ]“ (KrV B 375 f.). Um Kants Metapher weiterzutreiben, könnte man sagen, diese Angriffe zielten nicht auf das Fundament, sondern nur auf die mächtigsten Türme, auf die Spitze des Bauwerks. Mehr noch: Sie wurden von Kants Kritik schon vorhergesehen und abgewehrt. Für einen Angriff auf das Fundament von Kants kritischer Philosophie müssten die schon von Platon geschaffenen Plausibilitäten der abendländischen Moral in Frage gestellt und Alternativen zu ihren fundamentalen Unterscheidungen gesucht werden. Das hieße, die Moral aus Vernunft als Problem anzusehen und den Wert der Moral, die das Denken zur Annahme der Selbstbezüglichkeit der Vernunft nötigt, selbst zu hinterfragen – eine Aufgabe, die Kant als undenkbar angesehen hätte, die ihm einer Selbstzerstörung der Vernunft gleichgekommen wäre.5 Diese Aufgabe, die von Kant und auch von seinen schärfsten Kritikern als für die Philosophie undenkbar zurückgewiesen wurde, sah Nietzsche als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ an, nach dem Untertitel seines programmatischen Werks Jenseits von Gut und Böse. Gerade die Moral aus Vernunft, die im Zirkel einer tautologischen Selbstlegitimation kreist, sollte in ihrem Wert hinterfragt werden. In einem Entwurf nennt Nietzsche als erstes der „erkenntnißtheoretischen Dogmen“, „daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisiren k a n n “ (Nachlass, Herbst 1885–Herbst 1886, 2[161], KSA 12, S. 143).6 Dass es hier um Kant geht, kann man leicht sehen, wenn man diese Formulierung mit der im veröffentlichen Werk vergleicht.7 Der kantischen
findet sich in Dieter Henrichs Konzept des bewussten Lebens, wonach dessen Überlegung auf „letzte Gedanken“ hinausläuft, auf Gedanken, die für das bewusste Leben unverzichtbar und nur aus ihm heraus zu verstehen sind (s. Dieter Henrich, Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik). 5 Die Undenkbarkeit eines Zweifels am Wert der Moralität betonte Kant ausdrücklich: „Das Fundament, worauf er [der moralische Theismus – E.P.] diesen Glauben bauet, ist unerschütterlich, und kann nie, selbst wenn sich alle Menschen vereinigen wollten, es zu untergraben, umgestürzet werden. Es ist eine Festung, worein er sich retten kann, ohne daß er befürchten darf, je daraus vertrieben zu werden, weil alle Angriffe durchaus daran zu nichte werden. […] Daher kann etwas Gewisseres und Festeres in keiner einzigen Wissenschaft gedacht werden, als unsere Verbindlichkeit zu sittlichen Handlungen. Die Vernunft müßte aufhören zu seyn, wenn sie dieselbe auf irgend eine Art verläugnen könnte. Denn diese Handlungen richten sich nicht etwa nach ihren Folgen, oder nach den Umständen; sie sind ein für allemal durch ihre Natur für den Menschen bestimmt. Erst dadurch wird er ein Mensch, wenn er darein seine Zwecke setzet, und ohne sie ist er ein Thier, oder ein Ungeheuer. Seine eigene Vernunft zeugt wider ihn, wenn er sich soweit vergißt, dagegen zu handeln, und macht ihn in seinen eigenen Augen verachtungswerth und abscheulich.“ (Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, S. 32 f.) 6 Es handelt sich wahrscheinlich um einen Entwurf zur neuen Vorrede für die Morgenröthe. 7 Vgl. M Vorrede 3, KSA 3, S. 13.
Kapitel 2. Nietzsche: Kunst als Kritik einer Moral aus Vernunft
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„Archäologie der Vernunft“8 versucht Nietzsche polemisch seine Genealogie der Moral entgegenzustellen. Zum zitierten Notat betont Nietzsche ferner, dass auch die spätere Haltung gegenüber der kantischen Kritik von derselben Plausibilität der Moral getragen wurde, die Grundlage und Ausgangspunkt Kants gewesen war: […] sowohl Kant als Hegel als Schopenhauer – sowohl die skeptisch-epochistische Haltung, als die historisierende als die pessimistische sind m o r a l i s c h e n Ursprungs. Ich sah Niemanden, der eine K r i t i k d e r m o r a l i s c h e n W e r t h g e f ü h l e gewagt hätte […]. (Nachlass, Herbst 1885– Herbst 1886, 2[161], KSA 12, S. 144)9
Auch Schopenhauers Kant-Rezeption, die bekanntlich eine von Nietzsches ersten Quellen war, stellte ihn in Hinsicht auf die Moral als Problem nicht zufrieden. Sch ist ebenso sicher zu wissen, was gut und böse ist, wie Kant – das ist der Humor der Sache. (Nachlass, Sommer–Herbst 1884, 26[84], KSA 11, S. 171)10
Ebenso wenig trafen Herders und Schillers Kritik an Kant nach Nietzsche den Kern des Problems der Moral.11 Dennoch stand Nietzsche mit seiner Aufgabe einer radikalen Kritik der aus der Vernunft begründeten Moral nicht allein. Aus der von Europa abgegrenzten und ihm dennoch nicht völlig fremden Welt der russischen Kultur kam derselbe Anspruch und dasselbe Bestreben, die Moral bis in ihre ersten Plausibilitäten hinein neu zu durchdenken, d. h. das Risiko einzugehen, dass das ganze Gebäude der Moral aus Vernunft samt seinen Fundamenten erschüttert und zerstört wird, auch wenn keine vergleichbare Alternative dazu, kein neues sicheres Fundament gefunden werden sollte. Die russische Philosophie erhebt diesen ungeheuren Anspruch am Ende des 19. Jahrhunderts. Er ist zugleich ihre Ambition, einen eigenen Weg in der Philosophie zu finden. Die wichtigsten Philosophen Russlands suchen eine Alternative zur aufklärerisch-rationalistischen Moralphilosophie als Emanzipation vom mächtigen Einfluss der „westlichen“ (v. a. der deutschen) Philosophie. Gerade Kant wird als primärer Gegenstand der Kritik und eigentlicher Gegner angesehen. Und in diesem Kampf gegen Kants Konzept der Moral aus Vernunft und, mehr noch, gegen das der
8 S. Henrich, Deduktion und Dialektik, S. 15. 9 Vgl. Nachlass, Herbst 1885–Herbst 1886, 2[165], KSA 12, S. 147 f.; 2[195], KSA 12, S. 162 f. 10 Die Frage nach Schopenhauers Kant-Rezeption wurde schon im ersten Kapitel mehrmals berührt. S. dazu auch Walter Meyer, Das Kantbild Schopenhauers. An dieser Stelle ist wichtig, dass Nietzsche sich Schopenhauers Kritik an Kants Ethik nicht angeschlossen hat, sondern seinem Lehrer und „Erzieher“ in dieser Hinsicht kritisch gegenüberstand. 11 Vgl. MA II, WS 118, KSA 2, S. 602 f.; MA II, WS 123, KSA 2, S. 605 f. Volker Gerhardt hält Schiller allerdings für „den wohl wichtigsten Moderator“ zwischen Kant und Nietzsche in der Frage nach der Schönheit und sogar nach der der Kunst (Volker Gerhardt, Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, S. 97). Diese Frage verdient eine besondere Untersuchung und kann hier nicht erörtert werden.
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Philosophie als Kritik fand die russische Philosophie einen mächtigen Alliierten wiederum in Nietzsche. Dennoch benutzte Nietzsche, z. B. im oben zitierten Notat, den Begriff der Kritik durchaus auch positiv.12 Die Differenzen zwischen Nietzsche und seinen russischen Rezipienten sind hier bedeutsam. Wie ich im Folgenden zeigen werde, sind sie subtil und leicht zu übersehen. Aber eben durch sie gewinnt der große Dialog zwischen Nietzsche und den prominentesten russischen Denkern seine höchste Spannung. Dessen Voraussetzungen werden in diesem Kapitel auf der Grundlage einer detaillierten Untersuchung der Strategie von Nietzsches Kantkritik und, weiter noch, seiner Kritik an den moralischen Plausibilitäten der abendländischen Moralphilosophie rekonstruiert. Die vorläufige Hypothese lautet, dass es die traditionelle Entgegensetzung der Kunst und der Moral aus Vernunft war, die Nietzsche zu problematisieren und zu verflüssigen suchte. Aus der Perspektive der Kunst wollte er seine Kritik an der Moral aus Vernunft über die Grenze hinaustreiben, an der die kantische Kritik Halt gemacht hatte. Dafür stellte er ihre grundlegenden Unterscheidungen in Frage, z. B. die Unterscheidung von Sinnlichkeit und intelligibler Welt oder, im Bezug auf die Kunst, die dreifache Unterscheidung von sinnlicher Lust, intellektuellem Wohlgefallen und „interesseloser Anschauung“. Die Frage nach der Stellung der Kunst zur Moral aus Vernunft entsprach auch dem russischen Denkansatz. Denn für die Entstehung der russischen Philosophie waren v. a. die Ideen der Schriftsteller maßgebend. Auch in dieser Hinsicht konnte Nietzsche mit den vielfältigen Formen seiner philosophischen Schriftstellerei leichter Zugang zum russischen Publikum finden als die streng-akademische Form der kantischen Kritik, die eher irritierend gewirkt hat.13 Die Frage zum Verhältnis zwischen Kunst und Moral sowie zwischen Philosophie und Kritik bei Nietzsche soll darum die Struktur dieses Kapitels bestimmen. Nietzsches Kantkritik wird, wie schon angedeutet, zum Leitfaden der Analyse von Nietzsches De-Konstruktion der Moral aus Vernunft dienen. Die Frage ist in der Forschungsliteratur in den letzten Jahren breit diskutiert worden. Dass Nietzsche Kant viel zu verdanken hat, wird heute kaum bezweifelt, genauso wie die Tatsache, dass es vor allem Kant war, der immer mehr zum Gegenstand der Kritik Nietzsches wurde. Nach Platon und Schopenhauer gehört Kant zu den von Nietzsche am häufigsten erwähnten Philosophen. Die Erwähnungen werden dabei in der letzten Periode seines Schaffens häufiger, d. h. in den Jahren von 1885 bis 1889.14 Mehrere aufschlussreiche
12 Der Begriff der Kritik wird von Nietzsche öfters im kantischen Sinn verwendet. Dennoch sollte sein Verständnis der Philosophie über ihr kritisches Selbstverständnis hinausführen. Darauf wird im Weiteren eingegangen. 13 Schon das von Kant für seine Kritik bevorzugte Paradigma der Jurisprudenz, das maßgebend nicht nur für die theoretische, sondern auch für die praktische Vernunft war, musste auf russische Denker sehr befremdlich wirken. 14 Zu der Zeit also, als u. a. Schopenhauers Einfluss auf Nietzsches Denken nicht mehr maßgebend sein konnte. Vgl. dazu R. Kevin Hill, Nietzsche’s critiques: the Kantian foundations of his thought, S. 19 f.
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Untersuchungen bemühen sich darum zu zeigen, dass Kants kritischer Ansatz, sein Begriff der Aufklärung, seine Moral- und Kunstphilosophie auf Nietzsche einen nachhaltigen Einfluss hatten.15 Zur Diskussion stehen allerdings sowohl die Art und Weise der Rezeption als auch ihre Bedeutsamkeit für Nietzsche. Von dem grundlegenden Beitrag Jörg Salaquardas ausgehend wird der philologisch-historische Ansatz von mehreren Forschern übernommen,16 die anhand von Nietzsches Notaten und Briefen, seiner Bibliothek, der Liste der von ihm aus der Basler Bibliothek ausgeliehenen Bücher und anderen Quellen seine Bekanntschaft mit Kants Werken nachzuweisen suchen.17 Es bleibt dennoch umstritten, ob und welche Texte Kants Nietzsche selbst gelesen hat und was er nur aus zweiter Hand gekannt hat. Seine wichtigsten Quellen waren bekanntlich neben Schopenhauer18 Friedrich Albert Langes Geschichte des
S. auch Tom Bailey, Nietzsche’s Engagements with Kant. Bailey legt mehr Wert auf Nietzsches spätere Kant-Kritik als auf die frühere von Schopenhauer und die von den Neukantianern geprägte Rezeption. In früheren Werken und besonders in den Notaten der 1860–70er Jahre probiert Nietzsche viel aus und verarbeitet verschiedene Positionen vorläufig. Im späteren Werk dagegen kommt Nietzsche Kants Idealismus, so Bailey, viel näher als seinen sekundären Quellen. Besonders trifft das auf Kants Ethik zu. Nach Bailey bleibt Nietzsches Ethik eines „souveränen Individuums“ Kant verpflichtet, impliziert aber viel feinere Differenzierungen. Bailey betont mit Recht, dass Nietzsches Argumentation für und wider Kant in ihrer Komplexität meistens unterschätzt wurde und weitere Aufmerksamkeit verdient. 15 Drei Sammelbände verdienen besondere Aufmerksamkeit: Jörg Albertz (Hg.), Kant und Nietzsche – Vorspiel einer künftigen Weltauslegung?; Beatrix Himmelmann (Hg.), Kant und Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft. Naumburg an der Saale, 26.-29. August 2004, und der schon zitierte Band von Reschke (Hg.), Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?. Vgl. die Sammelbesprechung von Hartwig Frank, die einen Überblick über das breite Spektrum der Diskussion zum Thema bietet und die Forschungsrichtungen auf überzeugende Weise systematisiert: Hartwig Frank, Nietzsche und Kant. Im Weiteren werde ich vor allem von der in dieser Rezension beschriebenen Forschungslandschaft ausgehen. 16 Jörg Salaquarda, Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie. Salaquarda geht davon aus, dass Nietzsche Kant nur durch Schopenhauer und Lange rezipiert und „nie eingehend studiert hat“. Zwar distanzierte er sich später von den beiden, doch „zur Revision seines durch Schopenhauer und Lange vermittelten Verständnisses der Transzendentalphilosophie hat das nicht geführt“ (S. 31). Nietzsches Kant-Interpretation wird von Salaquarda somit als eigentliche Fehlinterpretation gedeutet, die durch seine Schopenhauer- und Lange-Lektüre zustande gekommen sei. Vgl. auch Urs Heftrich, Nietzsches Auseinandersetzung mit der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“. Der Verfasser kommt am Ende des Aufsatzes zum Schluss, Nietzsches Angriffe gegen Kants Ästhetik „gelten in Wahrheit Schopenhauer“ (S. 266). 17 S. die ausführliche Darstellung von Nietzsches Quellen in: Thomas Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context: An Intellectual Biography. 18 Vgl. Giuliano Campioni / Paolo D’Iorio / Maria Cristina Fornari / Francesco Fronterotta / Andrea Orsucci / Renate Müller-Buck (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek; Luca Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869–1879). Neben Die Welt als Wille und Vorstellung hat Schopenhauers Werk Preisschrift über die Grundlage der Moral eine wichtige Rolle gespielt, die Nietzsche 1884 gelesen hat (s. Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, S. 32).
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Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart19 und Kuno Fischer mit Immanuel Kant und seine Lehre, vermutlich auch Eugen Karl Dühring (Der Wert des Lebens) und Afrikan Spir (Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der kritischen Philosophie).20 Es ist dennoch mit einiger Sicherheit anzunehmen, dass Nietzsche zumindest Teile der Kritik der Urteilskraft gelesen hat, des Werks also, das für die Umdeutung des Verhältnisses zwischen Kunst und Moral von primärer Bedeutung ist.21 Manche Forscher bestehen auch auf Nietzsches direkter Kenntnis folgender Texte: Kritik der praktischen Vernunft, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Der Streit der Fakultäten, Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Prolegomena sowie die Transzendentale Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft.22 Und tatsächlich lassen sich Spuren einer solchen Lektüre bei Nietzsche verfolgen, was allerdings wiederum irreführend sein kann. Denn die Aufzeichnungen, die als Beweise der unmittelbaren Bekanntschaft betrachtet werden, können ihrerseits, wie Nietzsches Nachlass überhaupt, unterschiedlich gedeutet werden. Da die Debatte für die Ziele dieses Kapitels nicht von prinzipieller Bedeutung ist, soll dazu hier nicht Stellung genommen werden. Die Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte liefert zweifellos wichtige Anhaltspunkte, doch muss die Untersuchung der Plausibilitäten mit der Fehlerhaftigkeit und Ungenauigkeit jeder Rezeption, auch mit einer eventuellen Ungerechtigkeit Nietzsches gegenüber seinen großen Vorgängern rechnen. Nicht nur historische, sondern auch systematische Untersuchungen des Einflusses der kantischen Philosophie auf Nietzsche beschäftigen seit einiger Zeit die Nietzsche-Forschung und liefern reiches Material für die Untersuchung der Plausibilitäten des kantischen und nietzscheschen Ansatzes in der Philosophie. Programmatisch hierfür sind die Untersuchungen Friedrich Kaulbachs.23 Im Anschluss an sie wurde
19 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Vgl. dazu Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange“ ferner George J. Stack, Lange und Nietzsche. 20 Zu diesen und anderen Quellen von Nietzsches frühen Kant-Kenntnissen s. Thomas Brobjer, Nietzsche as German Philosopher: His Reading of the Classic German Philosophers, S. 36 ff. U. a. ist der Einfluss von Gustav Teichmüller, um dessen Nachfolge sich Nietzsche in Basel beworben hat, und der Einfluss seiner Universitätslehrer, v. a. Carl Schaarschmidts, für seine frühe Kant-Rezeption von Bedeutung. S. dazu z. B. Konstantin Bröse, Nietzsches Verhältnis zur antiken und modernen Aufklärung. Zu Nietzsches Spir-Rezeption s. z. B. Paolo D’Iorio, La Superstition des Philosophes Critiques. Nietzsche et Afrikan Spir; Michael Steven Green, Nietzsche and the Transcendental Tradition. Zu Nietzsches Dühring-Lektüre s. Giuliano Campioni, Auflösung der Gemeinschaft zur Bejahung des ‚Freigeistes‘, bes. S. 99 ff. 21 Für diese Annahme mit dem Hinweis auf Nietzsches Notate aus dem Jahr 1868 argumentiert Brobjer, obwohl auch er zugeben muss, dass es sich bei Nietzsches Ausführungen zu Kants dritter Kritik durchaus um eine sekundäre Quelle, nämlich Kuno Fischer, handeln könnte (Brobjer, Nietzsche’s Philosophical Context, S. 48 f.; Brobjer, Nietzsche as German Philosopher, S. 65). 22 Vgl. z. B. Hill, Nietzsche’s critiques, 20 ff. S. da auch die jeweiligen Literaturhinweise. Vgl. auch Tsarina Doyle, Nietzsche’s Appropriation of Kant. 23 Nietzsches radikaler Perspektivismus, so Kaulbachs These, ist einerseits als Fortsetzung des „von Kant zur Geltung gebrachte[n] Programm[s] der Autarkie der perspektivischen Vernunft“ zu verstehen. Andererseits entferne Nietzsche sich „entschieden von den Wegen Kants“, vor allem, indem er den
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Nietzsches Perspektivismus als Radikalisierung des kantischen Ansatzes in mehreren Hinsichten weiterverfolgt. Dabei ist das Spektrum der möglichen Herangehensweisen sehr breit, von der Darstellung Nietzsches als eines Denkers, der Kant völlig verpflichtet ist, bis zur scharfen Entgegensetzung von Kant und Nietzsche, von der Annahme einer philosophischen Überlegenheit Nietzsches und der Berechtigung seiner Kritik24 bis zu dem Vorwurf, dass sein Kant-Verständnis oberflächlich bleibe.25 Selbstverständlich spielt bei diesen systematischen Untersuchungen auch die historische Frage nach Nietzsches Lektüre eine wichtige Rolle. U. a. wird wiederum Schopenhauers Kant-Verständnis als eigentliches Ziel der Angriffe Nietzsches auf Kant dargestellt. Besonders treffe das auf Nietzsches Kritik an Kants Philosophie des Schönen zu.26 Nietzsches Kant-Verständnis könnte selbst als Mittel zur kritischen Distanzierung von seinen sekundären Quellen betrachtet werden.27 Dabei hängt die Einschätzung häufig davon ab, ob Nietzsche als Nachfolger oder Gegner Kants dargestellt
kantischen Begriff der Vernunft, die über ihren Perspektivengebrauch verfügt, aufnimmt und ihn selbst perspektivisch, d. h. als Frage nach dem Wert des Wissenstriebs für das Leben oder nach der Vernunft als Bedingung des Lebens, betrachtet (Kaulbach, Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche, S. 91, 103 f.). Vgl. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, Teil I, bes. S. 210–218. Vgl. auch die Rezension von Frank (Nietzsche und Kant, S. 314 f.). 24 Im Anschluss an Kaulbach vertritt Klaus Wellner (Methode und Einheit im Philosophieren Kants und Nietzsches,) die These, Nietzsche sei als Vollender des kantischen Perspektivismus anzusehen. Reinhard Margreiter (Ontologischer Paradigmenwechsel – Anmerkungen zu Kant und Nietzsche) spitzt diese These noch zu: Kant sei hinter seiner eigenen kritisch-perspektivistischen Methode zurückgeblieben. Nietzsche hingegen scheine eine radikalisierte Transzendentalphilosophie zu vertreten, die allerdings in Willkür ende. 25 Z. B. behauptet Siegfried Kittmann (Kant und Nietzsche. Darstellung und Vergleich ihrer Ethik und Moral, S. 218), dass Nietzsche Kants Begriff der Moral „völlig mißversteht“. Nach Volker Gerhardt (Die kopernikanische Wende von Kant und Nietzsche) ist Nietzsches Kantkritik nicht bloß ein Missverständnis, sondern Selbsttäuschung. Nietzsches Missverständnis Kants wird als berechtigte und philosophisch bedeutsame Nachwirkung der Philosophie Kants präsentiert von Oswald Schwemmer, Die reine Vernunft des Immanuel Kant. Zum utopischen Gehalt einer philosophischen Weltrekonstruktion. 26 S. schon Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 126 ff. Allerdings weist Nietzsche in diesem Fall selbst ausdrücklich auf seine Quelle hin (GM III, 6, KSA 5, 346). 27 Vgl. Hans Gerald Hödl, Interesseloses Wohlgefallen. Nietzsches Kritik an Kants Ästhetik als Kritik an Schopenhauers Soteriologie. Hier plädiert Hödl dafür, die „grundlegende Distanz von Nietzsches und Kants Ästhetik auch jenseits der Frage nach der Unterscheidung von Kants und Schopenhauers Auffassung […] zu behalten“ (S. 193). Laut Hödl macht „schließlich Nietzsche Kant dafür verantwortlich“, „dass man diese Konsequenzen aus seiner Philosophie ziehen konnte“, wie Schopenhauer es mit Kants Philosophie der Kunst tat. Die Distanz zwischen Kant und seiner Interpretation von Schopenhauer bleibt so bei Nietzsche bewahrt. Zur systematischen Analyse von Nietzsches Schopenhauer-Rezeption s. Georges Goedert, Nietzsche und Schopenhauer. Goedert argumentiert mit Recht, dass Nietzsches Denken sich schon in der Geburt der Tragödie vom schopenhauerschen Denken und den ihm zugrunde liegenden Intentionen grundsätzlich unterscheiden lässt. Zu Nietzsches Radikalisierung und Distanzierung von Schopenhauer mit Hilfe seiner Hartmann- und Lange-Lektüre s. Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche’s Theory of Language; Claudia Crawford, „The Dionysian Worldview“: Nietzsche’s Symbolic Languagues and Music. Vgl. auch die sich an Goederts Beitrag anschließende Dis
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werden soll, was wiederum von der jeweiligen Kant-Interpretation her bestimmt wird. In diesem Kapitel soll die Differenz der Plausibilitäten Kants und Nietzsches dargelegt werden. Besonders werde ich deshalb an jene Untersuchungen anschließen, die zeigen, „wie Nietzsches und Kants Philosophieren in einem problemorientierten Verhältnis wechselseitiger Kritisierbarkeit und Bereicherung verstanden werden können“.28 Bereicherung ist nur aufgrund von Verschiedenheit und Nähe möglich, d. h. aufgrund von Differenzen, die subtil und dennoch ausschlaggebend sind, so dass sich weder ein einfacher Widerspruch noch eine einfache Übernahme ergibt. Dank der wechselseitigen Kritisierbarkeit werden die Plausibilitäten scharf sichtbar, die das unverzichtbare Fundament jeglichen Denkens ausmachen. Im ersten Teil dieses Kapitels wird die Frage nach Nietzsches Kritik an Kant vor allem systematisch behandelt. Danach wird im zweiten Teil die Frage nach Nietzsches eigenem moralischem Ansatz in seiner Moralkritik untersucht. Nietzsches und Kants Plausibilitäten sollen hier formuliert und miteinander konfrontiert werden. Der dritte Teil legt schließlich den Fokus auf die Frage nach Nietzsches Deutung der Kunst als Grenze einer Moral aus Vernunft und die herausfordernde Deplausibilisierung ihrer Ansprüche.
2.1 Nietzsches Aufklärung des kantischen Konzepts einer Moral aus Vernunft Die alte und die neue Aufklärung Die Kritik war Kant zufolge der einzige Weg, der der Philosophie noch offen blieb. Es beginne nun das „Zeitalter der K r i t i k “ , aber auch das „Zeitalter der A u f k l ä r u n g “, wenn auch nicht das „a u f g e k l ä r t e [ ] Zeitalter“.29 Die Kritik ist somit nicht die Aufklärung selbst als etwas Erreichtes, sie ist vielmehr der Weg zur Aufklärung, eine Aufgabe der sich selbst fortwährend aufklärenden Vernunft. Die letztere sei zu dieser Aufgabe moralisch motiviert. Denn sie ist berufen, die „endlosen Streitigkeiten“ (KrV A VIII) der Metaphysik zu beenden und den ewigen Frieden im Denken zu
kussion, bes. die Stellungnahmen von Karl Ulmer und Wolfgang Müller-Lauter (S. 16–26). Zu den späteren Behandlungen des Themas s. z. B. den Band 4 der Schopenhauer-Studien (1991). 28 So beschreibt Hartwig Frank in seiner schon erwähnten Rezension die Vorgehensweise Josef Simons (Frank, Nietzsche und Kant, S. 315). Vgl. Josef Simon, Ein Geflecht praktischer Begriffe. Nietzsches Kritik am Freiheitsbegriff der philosophischen Tradition; Josef Simon, Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik. Nietzsches Alethiologie auf dem Hintergrund der Kantischen Kritik; Josef Simon, Moral bei Kant und Nietzsche. 29 Vgl. KrV A XXII; Logik, AA 9, S. 33; Was ist Aufklärung?, AA 8, S. 40.
2.1 Nietzsches Aufklärung des kantischen Konzepts einer Moral aus Vernunft
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sichern.30 Deshalb sieht sie sich genötigt, sich in einer kritischen Überprüfung über die Grenzen ihres Vermögens klar zu werden. Die Metapher der Aufklärung (engl. enlightenment, fr. siècle des lumières), d. h. das Klar-Machen, das Zum-Licht-Bringen, das Beleuchten, die Aufhellung der Sicht, ist die älteste Metapher der Philosophie, eine „absolute Metapher“ im Sinne Hans Blumenbergs.31 Sie wird meistens von Platons Höhlengleichnis hergeleitet. Die metaphorische Verwandtschaft mit der Spekulation ist dabei besonders auffällig: In beiden Fällen geht es um eine Sicht, die eine Einsicht bedeutet, um die Metapher des Sehens als vernünftiges Einsehen. In der Metapher der Aufklärung gibt es dennoch etwas, was die Metapher der Spekulation nicht enthält: Es soll das eingesehen werden bzw. das ans Licht kommen, was vorher verheimlicht wurde, was dunkel geblieben ist – in Kants Sprache die „dunkel gedachte Metaphysik“ (MS, AA 6, S. 376) oder „die geheime[n] Urtheile der gemeinen Vernunft“ (Reflexionen zur Anthropologie, AA 15, S. 180); in Nietzsches Sprache „ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11). Nach Nietzsche ist es jedoch nicht bloß der Aberglaube, der dem philosophischen Denken entgegensteht, sondern auch und vor allem die Vorurteile der Philosophen, die, wie gleich zu Anfang in Jenseits von Gut und Böse gesagt wird, sich selbst missverstehen, indem sie auf den gemeinen Volks- und Grammatik-Vorurteilen ihre „erhabenen und unbedingten Philosophen-Bauwerke[ ]“ errichten (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11 f.). Über diese ersten Vorurteile aufzuklären, dort hinzuleuchten, wo sich die hässlichsten und lichtscheuesten Wahrheiten vor überlanger Zeit niedergelassen haben könnten, darin sieht Nietzsche seine wichtigste Aufgabe. Insofern ist sie auch eine Aufgabe der Aufklärung, sie ist die Aufklärung der Philosophie.32
30 Dass es sich bei Kants kritischem Unternehmen von Anfang an um eine moralische Angelegenheit handelt, betont Simon gerade im Zusammenhang mit Nietzsche: „Nietzsche hat Kant offensichtlich gut verstanden, wenn er bemerkt, nach Kant sei ‚der Mensch‘ auch im Erkennen ‚ein moralisches Wesen‘ […]“ (Simon, Moral bei Kant und Nietzsche, S. 183). 31 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Zur philosophischen Bedeutsamkeit von Blumenbergs Ansatz s. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, S. 21 f. 32 Zur Frage nach der Bedeutung der Aufklärung bei Nietzsche liefert der bereits erwähnte SammelbandNietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? (hg. v. Reschke) reichhaltiges Material und ein breites Spektrum von Forschungsperspektiven. Wie Hartwig Frank in seiner Rezension mit Recht bemerkt hat, wird schon durch den Titel des Sammelbandes eine klare Stellungnahme zur Frage, ob Nietzsche als neuer radikaler Aufklärer oder als Gegner der Aufklärung zu verstehen sei, provoziert (Frank, Nietzsche und Kant, S. 317 f.). Dennoch fehlt es nicht an Beiträgen, in denen eine gewisse Unentschiedenheit bzw. Unentscheidbarkeit zum Ausdruck kommt. Auch bei der Frage nach der Rolle der Aufklärung bei Nietzsche sieht man sich, wie bereits bei der nach seiner Kant-Rezeption, einem breiten Antwort-Spektrum gegenüber: Die Deutungen reichen von der Klassifizierung Nietzsches als Gegner der Aufklärung bis zur Interpretation seiner Philosophie als ihrer Vollendung durch einen neuen aufklärerischen Ansatz. Die letztere Position scheint produktiver zu sein, weil sie die komplexen Zusammenhänge von Nietzsches historischen Ausführungen in die Interpretation einbezieht (vgl. z. B. Henning Ottmann, Nietzsche und die philosophische Tradition; Hans-Martin Gerlach, Friedrich Nietzsche und die Aufklärung, bes. S. 23 ff.). Aber auch wo Nietzsche als Aufklärer bzw. als Gegenaufklärer
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Wenn Kant „als der Philosoph der Aufklärung schlechthin“ gilt, „auch und vor allem der Aufklärung über die Aufklärung“,33 wenn er der Philosophie eben diese Aufgabe auferlegte, so wird die mit dieser Formel angedeutete Distanzierung von Nietzsche fortgesetzt und auf die kritische Philosophie selbst bezogen. Insofern deutet Nietzsche die Aufgabe der Aufklärung in Distanz zu Kant und über Kant hinaus.34 Schon in der Morgenröthe versucht er nicht nur Kant, sondern die deutsche Philosophie und, mehr noch, die deutsche Literatur, einschließlich Goethe,35 aus dieser Distanz zur Aufklärung, als „Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung“ zu verstehen (M 197, KSA 3, S. 171 f.). Die deutschen Philosophen waren es, die „auf die erste und älteste Stufe der Speculation zurückgegangen“ sind,
denn sie fanden in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träumerischer Zeitalter, – eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. […] Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklärung […] (M 197, KSA 3, S. 171).36
Die spekulative Vernunft der deutschen Philosophie, vor allem bei Kant und Hegel, wird so dem aufklärerischen Ansatz entgegengestellt, weil sie das Dunkel-Gebliebene nicht erleuchtet, sondern vielmehr ihre Aufgabe darin sieht, den Volksglauben mit
angesehen wird, gibt es weitere Optionen. Man kann bspw. Nietzsches Deutung von Kants Moralphilosophie als Verrat an der Aufklärung bzw. als Halbierung, wenn nicht gar als Desavouierung der Aufklärung interpretieren (vgl. Beatrix Himmelmann, Nietzsche und Kant als Aufklärer; vgl. Beatrix Himmelmann, Kant, Nietzsche und die Aufklärung, bes. S. 43). Diese Schlussfolgerung ist allerdings u. a. einer Gleichsetzung der Aufklärung mit dem „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ zu verdanken. Zwar ist dieser öffentliche Gebrauch bei Kant ein wichtiges Mittel der Aufklärung, aber noch lange nicht die Aufklärung selbst. Gerade eine Vorstellung von der angeblichen Klarheit dieses Gebrauchs, welche der Metapher der Aufklärung entspringt, wird bei Nietzsche zum Problem. „Der öffentliche Gebrauch der Vernunft“, etwa das „Zeitungslesen“, kann auch als Behinderung der Aufklärung, als Verbreitung von „Unmündigkeit“ verstanden werden. 33 Josef Simon, Der Begriff der Aufklärung bei Kant und Nietzsche, S. 113. 34 Jedoch darf diese Distanz m. E. nicht im Sinne einer „Metakritik“ verstanden werden (vgl. Günter Wohlfart, „Die Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen […]“, S. 131 f.). Die Möglichkeit einer Metaposition wird bei Nietzsche als Plausibilität der Aufklärung gerade der Kritik unterworfen. Eine Metaposition würde für sich beanspruchen, sie selbst sei das Ergebnis einer endgültig vollzogenen Aufklärung. Dies trifft für jeden Versuch einer Aufklärung zweiter Ordnung zu, für jeden Versuch einer „Abklärung der Aufklärung“ (Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 83 f.). Die Möglichkeit einer übergeordneten Position wird allerdings nach Luhmann durch die zeitliche Distanz möglich, indem sie „nicht angestrebt [wird], sondern bereits passiert“ (Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, S. 42). Diese zeitliche Distanzierung ist auch für Nietzsche, wenn nicht die einzig mögliche, so doch eine, die sich dem Naivitäts-Verdacht entziehen kann. 35 Dies ist besonders überraschend, denn Goethe zählt sonst für Nietzsche zu seinen beliebtesten Beispielen des aufgeklärten Geistes, u. a. der „eigenen Aufklärung über sich“ (UB III, KSA 1, S. 382). 36 Schon Platon steht Nietzsche zufolge unter dem „Zauber des Begriffs“, den er „als Idealform verehrte und vergötterte“ (Nachlass, Herbst 1885–1886, 2[104], KSA 12, S. 112).
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ihren Begriffen zu rechtfertigen.37 Mit diesem ersten Schritt verdüstert sich die Aufklärung. Durch „die deutschen Historiker und Romantiker“, durch Künstler und Dichter wird sodann der nächste antiaufklärerische Schritt gewagt: „[A]n Stelle des Cultus’ der Vernunft“ wird „der Cultus des Gefühls“ aufgerichtet, um die Erkenntnis selbst „unter das Gefühl hinabzudrücken“. Und all diese antiaufklärerischen Tendenzen schreibt Nietzsche wiederum Kant zu, der seine eigene primäre Aufgabe so bestimmte: „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies“ (M 197, KSA 3, S. 171 f.).38 Über Kants Begriff des Glaubens sollte darum auch aufgeklärt werden und somit über die ganze Aufgabe der Kritik, die ihren Endzweck und ihre letzte Legitimation in der Moral hat. Doch auch die Gegenbewegung zur Aufklärung, die sich selbst als Aufklärung und sogar als „Aufklärung über die Aufklärung“ missverstand, hätte man nach Nietzsche falsch gedeutet, wenn man sie als bloßen Feind des genuin aufklärerischen Ansatzes darstellte. Eine bloße Umkehrung der Perspektive war nicht Nietzsches Ziel.39 Vielmehr wollte er die mannigfaltigen Perspektiven wieder sichtbar machen, die durch den jeweiligen Ansatz ausgeblendet wurden.40 Denn gerade aus der Gegenbewegung, aus dem schwärmerischen Kultus der Gefühle kommt nach Nietzsche „die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntnis“, „die Historie, das Verständnis des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfindung für das Vergangene“. Diese neue Welle kommt zum Ausdruck durch
neue und stärkere Genien e b e n j e n e r A u f k l ä r u n g , wider welche sie beschworen waren (M 197, KSA 3, S. 172).
37 Vgl. die Art und Weise, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Begriff des guten Willens einführt, nämlich als Begriff, der „schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf“ (GMS, AA 4, S. 397). Zu dieser Art der „Aufklärung“ vgl. bei Nietzsche „K a n t s ’ W i t z. – Kant wollte auf eine ‚alle Welt‘ vor den Kopf stossende Art beweisen, dass ‚alle Welt‘ Recht habe: – das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber für die Gelehrten und nicht für das Volk“ (FW 193, KSA 3, S. 504). 38 Vgl. KrV B XXX. 39 Vgl. die These, Aufklärung und Moral seien bei Nietzsche Gegensätze bzw. es sei bei ihm „die Unaufhebbarkeit des Antagonismus“ zwischen ihnen behauptet (Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, S. 220). 40 Zu späteren Auseinandersetzungen mit der Aufklärung und der dialektischen Kritik an ihr im Zusammenhang mit Nietzsches Wirkungsgeschichte s. Reinhart Maurer, Nietzsche und die Kritische Theorie, und die anschließende Diskussion (S. 59–79), wo mehrmals betont wurde, Nietzsches Auslegung der Aufklärung und ihres Scheiterns sei grundsätzlich von dem dialektischen Ansatz, besonders der Verfallsidee Horkheimers und Adornos zu unterscheiden, die hinter Nietzsche zurückzufallen scheinen (vgl. neben der Position von Maurer die von Abel, Gerhardt, Gründer und Müller-Lauter). S. dazu auch Holger Weiniger, Vernunftkritik bei Nietzsche und Horkheimer/Adorno. Die Problemstellung in „Zur Genealogie der Moral“ und in der „Dialektik der Aufklärung“. Zur Auseinandersetzung der kritischen Theorie mit Nietzsche s. Babette Babich (Hg.), Habermas, Nietzsche, and Critical Theory.
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Jener Denkfigur, die uns hier begegnet, gehört ein besonderer Platz in Nietzsches Philosophie. Die Aufklärung und die Gegenaufklärung sind nach Nietzsche nicht bloß Aktion und Reaktion, sondern vielschichtige Bewegungen der „Geister“, die sich stets in ihr Gegenteil verwandeln können. Eindeutige Einschätzungen sind darum unmöglich.41 So wie „der grosse Hang der Deutschen“ gegen die Revolution und die deutsche Romantik aus der deutschen Aufklärung hervorgegangen sind und gleichzeitig als Reaktionen gegen die Aufklärung gerichtet wurden,42 so bereiteten aus der von Nietzsche neu gewonnenen Sicht gerade diese feindlichen Kräfte den neuen Weg für „die Morgenröthe der Aufklärung“, d. h. der Aufklärung über das, was bisher als Aufklärung verstanden und missverstanden wurde.43 Am Ende des soeben analysierten Aphorismus formuliert Nietzsche seine eigene Aufgabe:
Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen, – unbekümmert darum, dass es eine ‚grosse Revolution‘ und wiederum eine ‚grosse Reaction‘ gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher w i r treiben und treiben wollen! (M 197, KSA 3, S. 172)
Aus der Perspektive der Aufgabe, die Aufklärung weiterzuführen, erscheinen diese Aktionen und Reaktionen als bloßes Wellenspiel von Ebbe und Flut. Gefährlichkeit und Nützlichkeit wachsen darin zusammen, genauso wie das Gewaltsame an der Aufklärung durch die „befreiende und erhellende Nützlichkeit“ der „grosse[n] Revolutionsbewegung“ zunahm. Für die so verstandene Aufklärung war auch die französi-
41 Darauf wurde mehrmals hingewiesen. S. etwa die Replik von Mazzino Montinari (Maurer, Nietzsche und die Kritische Theorie. Die Diskussion, S. 72 f.). Dennoch wird immer wieder, wie von Taureck, behauptet, Nietzsche seien die Ideen der Aufklärung „von vornherein nichtig“ gewesen (Maurer, Nietzsche und die Kritische Theorie. Die Diskussion, S. 59). 42 Zur Deutung der Romantik als Feindschaft gegen die Aufklärung vgl. November 1887–März 1888, 11[312], KSA 13, S. 132; Frühjahr 1888, 14[62], KSA 13, S. 248. Die Romantik und „antiromantische […] Selbstbehandlung“ (MA II Vorrede 2, KSA 2, S. 371) ist bei Nietzsche ein großes Thema. Die romantische Bewegung, historisch gesehen, ist genauso wenig frei von Beimischungen und Gegenbewegungen wie die Aufklärung, und kann deswegen nicht nur als Reaktion auf die Aufklärung betrachtet werden. Wie bei jeder Aktion und Reaktion ist das Verhältnis zwischen beiden historischen Bewegungen – und noch vielmehr zwischen ihren philosophischen Auswirkungen – viel komplexer als eine bloße Gegenüberstellung zu zeigen vermag. Zum Thema „Romantik“ bei Nietzsche s. Peter Heller, Nietzsches Kampf mit dem romantischen Pessimismus; Ernst Behler, Nietzsche und die frühromantische Schule. 43 Ähnlich geht Nietzsche mit dem vielschichtigen Phänomen der Reformation um, wenn er es als Gegenbewegung und Feindschaft gegen die Renaissance, als Hindernis auf dem Weg zur Aufklärung interpretiert. Wenn dieser Protest „des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens“ durch das „seltsame Zusammenspiel“ der politischen Interessen nicht an Kraft gewonnen hätte, so wäre „die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanz, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen“ (MA I, 237, KSA 2, S. 199 f.). Vgl. auch die berühmte Passage zum „Bauernaufstand des Geistes“, in der die Lutherische Reformation als großes Missverständnis gedeutet wird (FW 358, KSA 3, S. 602 ff.).
2.1 Nietzsches Aufklärung des kantischen Konzepts einer Moral aus Vernunft
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sche Revolution ein „grosse[r] Sklaven-Aufstand“ (JGB 46, KSA 5, S. 67);44 das Christentum hatte dagegen durch die von ihm anerzogene „Geduld und Feinheit“ einen „grossen Beitrag“ dazu geleistet (FW 122, KSA 3, S. 478). Denn auch die Stärke einer Aktion wird nur daran ersichtlich, ob sie eine Gegenbewegung in sich aufzunehmen vermag. Die Größe eines Phänomens besteht nach Nietzsche eben darin, das Gegenteil in sich aufnehmen zu können und dieses wieder für die Selbststeigerung fruchtbar zu machen.45 Um die Aufklärung weiterzuführen, sollte der Philosoph also nicht bloß alle „Vorurteile“ kritisch behandeln, er sollte jedes Für und Wider, alle Aktionen und Reaktionen hinter sich lassen, sie als bloßes Wellenspiel begreifen, an dem er selbst nur vorübergehend teilnimmt. Diese „Aufklärung“ kann ihrerseits mit einer Reaktion rechnen:
Die ‚Aufklärung‘ empört: der Sklave nämlich will Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er liebt wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz, bis zur Krankheit. (JGB 67, KSA 5, S. 67)
Am Mangel an Nuancen, am Willen zum Einfältigen lässt sich der Sklaveninstinkt in der Moral gerade als solcher erkennen.46 Die „Aufklärung“, auch die in Anführungszeichen, deutet Nietzsche dagegen als eine „wahrhaft grosse[ ] Fluth“, die dem Instinkt zur Vereinfachung widersteht. Sie soll aber, um Aufklärung ohne Anführungszeichen zu werden, auch dem Willen zu einer bloßen Umkehrung der Perspektive entschieden Widerstand leisten.47 Wenn jemand etwa „hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs ‚freier Wille‘“ gekommen ist und ihn „aus dem Kopfe“
44 Vgl. Nietzsches Notat, in dem er „die Revolution und die Kantische Philosophie, die Praxis der revolutionären Vernunft und die Revolution der ‚praktischen‘ Vernunft“ als „abscheulichste […] Ausgeburten des 18. Jahrhunderts“ deutet, denen der „Haß gegen das Werden“ (wie auch „aller M o r a l und der R e v o l u t i o n“) gemein ist (Nachlass, Frühjahr 1888, 15[53], KSA 13, S. 444). 45 Die von Nietzsche beschriebene Bewegung kann allerdings nicht als dialektisch im strengen Sinne bezeichnet werden, denn von der Ebbe-Flut-Metapher her verstanden können Aktion und Reaktion oder, in diesem Fall, Aufklärung und Gegenaufklärung immer wieder und immer neu zurückkehren. Zum dialektischen Denken bei Nietzsche im Anschluss an Hegels Begriff der Dialektik und im Unterschied zu ihm: Reinier Franciscus Beerling, Hegel und Nietzsche; Alfred Schmidt, Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie (1963); Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 87; Werner Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, bes. S. 93. Zum Begriff der Größe bei Nietzsche s. Werner Stegmaier, Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce Homo, Warum ich ein Schicksal bin 1), S. 110 f. 46 Nimmt man diese Formulierung ernst, entgeht man der üblichen flachen Deutung der Sklavenbzw. Herrenmoral bei Nietzsche. Das Kriterium für den Sklaveninstinkt in der Moral ist hier deutlich angegeben; wer an diesem Instinkt nicht leidet und ob es überhaupt möglich ist, sich von ihm frei zu halten, bleibt allerdings offen. 47 Zu Nietzsches Verwendung der Gänsefüßchen s. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 291 ff.
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gestrichen hat, wäre sein Anspruch auf Aufklärung damit noch nicht berechtigt. Denn eben dann, sagt Nietzsche, bitte ich ihn nunmehr, seine ‚Aufklärung‘ noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs ‚freier Wille‘ aus seinem Kopfe zu streichen: ich meine den ‚unfreien Willen‘ (JGB 21, KSA 5, S. 35).
Das Problem wäre nicht damit gelöst, dass ein bestimmter Begriff verworfen wird, sondern damit, dass man aufhört, „in Begriffen […] Genüge [zu] finden“, dass man die Aufklärung über jede Gewissheit hinaustreibt. Ihr treu zu bleiben bedeute nicht, sich auf die Suche nach dem Unbedingten als letzter Selbstbegründung des Denkens zu machen, sondern, gerade umgekehrt, Skepsis gegen jede Sicherheit, guten Geschmack für Nuancen, aristokratisches Misstrauen gegen leidenschaftlich vertretene Wahrheit zu pflegen. Das Ziel von Nietzsches „n e u e [ r ] A u f k l ä r u n g “ (Nachlass, Sommer–Herbst 1884, 26[293–325], KSA 11, S. 228 ff.)48 war somit nicht, eine sichere Grundlage für das Denken zu schaffen, wie es Kants Kritik getan hatte. Denn alle Gewissheiten samt allen Begriffen, die diese Gewissheiten zum Ausdruck bringen, stehen nach Nietzsche von nun an unter dem Verdacht der Feindschaft gegen die Freiheit des Geistes, vor allem der alte Begriff der Wahrheit. So eröffnet Nietzsche Jenseits von Gut und Böse mit der ironischen Vermutung, dass die Wahrheit ein Weib ist, das Philosophen begehren. Sie ist somit kein Ding, auch nicht „das Ding an sich“, vielmehr eine Person, die „Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen“ (FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352).49 Über diese Gründe kann man nicht aufklären, man kann sie nicht kritisch überprüfen. Das Fundament des philosophischen „Gebäudes“ bleibt somit unbegründet und ungesichert. Wenn aber die Aufklärung nach Nietzsche von nun an als Verdacht gegen jede Gewissheit zu verstehen ist, dann bedeutet sie auch eine Bewegung auf den Pessimismus hin.50 Denn die so verstandene Aufklärung fördert Skepsis gegen jede Bewegung, gegen jede Aktion, auch gegen sich selbst. Wer „[ d ] i e G e f ä h r l i c h k e i t d e r A u f k l ä r u n g “ begreift, wird „wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat“ – jedoch nicht, um sich von dieser Aufgabe zu verabschieden, sondern „[u]m dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen“ (MA II, WS 221, KSA 2, S. 654). Indem die Aufklärung über die alten Begriffe und Begründungsvorgänge hinausführt, wird sie zu einem riskanten
48 Dies war ein provisorischer Titel zu einem umfassenden Werk „D i e n e u e A u f k l ä r u n g. Eine Vorbereitung zur ‚Philosophie der ewigen Wiederkunft‘“, der sich dann allmählich in das transformierte, was wir als „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ kennen (Nachlass, Sommer–Herbst 1884, 26[293–325], KSA 11, S. 228 ff.) 49 Die berühmteste philosophische Interpretation von Nietzsches Metapher des Weibes als Wahrheit stammt von Jacques Derrida, Sporen. Die Stile Nietzsches. 50 Vgl. „Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung, kommt nothwendig im Gefolge der Aufklärung.“ (Nachlass, Juni–Juli 1885, 36[49], KSA 11, S. 571)
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Unternehmen, das im Unterschied zur kantischen Kritik kein Gelingen und schon gar nicht einen sicheren Gang der Philosophie versprechen kann. Sie wird jedoch zum „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ – als neues Wagnis, „und vielleicht giebt es kein grösseres“ (JGB 1, KSA 5, S. 15).
Die große Errungenschaft Der Punkt, an dem Nietzsche Kant am schärfsten angreift, ist die Wiederherstellung des „alten ‚Ideals‘“, das Auffinden eines „Schleichweg[s]“ zurück zur Moral und dem moralischen Gott. Kant sei dadurch, so Nietzsche, zu einem der „grössten Hemmschuhe der intellektuellen Rechtschaffenheit Europa’s“ geworden (EH, WA 2, KSA 6, S. 360). „Der Erfolg Kant’s ist bloss ein Theologen-Erfolg“ gewesen, schreibt Nietzsche in Der Antichrist (AC 10, KSA 6, S. 177), um unmittelbar danach sein „Wort“ „gegen Kant als Moralist[en]“ anzuschließen, das Wort zur Lebensgefährlichkeit des kategorischen Imperativs (AC 11, KSA 6, S. 177). Diese negativen Einschätzungen in Nietzsches Spätwerk stellen das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung dar, die im Übrigen nicht eindeutig und nicht einseitig negativ ausfiel. Seine eigene aufklärerische Aufgabe führte Nietzsche immer wieder zu Kant zurück, als dem stärksten Vertreter jener „Aufklärung“, die er in Anführungszeichen setzte. So besteht der „wahrhaftig nicht […] geringste[ ] Reiz“ der „hundertfach widerlegte[n] Theorie vom ‚freien Willen‘“ gerade darin, „dass sie widerlegbar“ ist: „immer wieder kommt Jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen“ (JGB 18, KSA 5, S. 31). Das „immer wieder“ bedeutet, dass die Widerlegung selbst nicht das eigentliche Ziel ist. Das Ziel dieser Kritik ist eine Überprüfung der eigenen Kräfte, der eigenen Fähigkeiten, „das Werk der Aufklärung“ „an sich selber“ „fortzusetzen“, sie „weiterzuführen“. Nietzsches Polemik gegen Kant soll also nicht bloß die Schwäche, sondern auch die Stärke sichtbar machen bzw. das hervorheben, was immer neue Widerlegungen und d. h. immer neue Interpretationen verdient. Deshalb reicht seine Auseinandersetzung mit Kant vom Tadel an seiner „Tartüfferie“ (JGB 5, KSA 5, S. 19) und seiner „Schwärmerei“ (M Vorrede 3, KSA 3, S. 14) einerseits bis zum (v. a. im Nachlass deutlich ausgedrückten) Lob seiner „kritischen Zucht“ (Nachlass, April–Juni 1885, 34[221], KSA 11, S. 496), seiner Treue zum Sensualismus (Nachlass, April–Juni 1885, 34[116], KSA 11, S. 459) andererseits. Die Argumentation für und wider Kant darf nicht voreilig als Unentschiedenheit oder gar als Widersprüchlichkeit gedeutet werden. In beidem, im Lob wie im Tadel, sollte ans Licht kommen, was Kant nach Nietzsche zum Prüfstein für das philosophische Denken gemacht hat. Die Größe Kants verriet aber, indem Nietzsche sie würdigte, auch seine Schwäche. Durch diese Art „Kritik“ konnten die dem kantischen Denken zugrunde liegenden Plausibilitäten sichtbar werden. Im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft spricht Nietzsche von den vier „eigentlichen Errungenschaften des philosophischen Denkens“: der Leibniz’, der
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Kants, der Hegels und der Schopenhauers (FW 357, KSA 3, S. 597 ff.). Doch was hier als „Errungenschaft“ bezeichnet wird, ist Resultat einer überraschenden Selektion. Denn bei jedem der genannten Philosophen wird ein Gedanke ausgewählt, der als seine größte Tat in der Philosophie und als Zeugnis seines „europäischen“ Geistes dargestellt wird.51 Bei Leibniz war es der Gedanke, dass „die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, n i c h t deren nothwendiges und wesentliches Attribut“.52 Bei Hegel stellt Nietzsche das Durchgreifen durch „alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen“ heraus, „als er zu lehren wagte, dass die Artbegriffe sich a u s e i n a n d e r entwickeln“. Bei Schopenhauer wird dessen Pessimismus betont, den er dem „Problem vom W e r t h d e s D a s e i n s “ zu verdanken hat. Bei Kant sein
ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff ‚Causalität‘ schrieb, – nicht dass er wie Hume dessen Recht überhaupt bezweifelt hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen dieser Begriff überhaupt Sinn hat (man ist auch jetzt noch nicht mit dieser Grenzabsteckung fertig geworden). (FW 357, KSA 3, S. 598)
Alle vier Fälle haben allerdings etwas gemeinsam: Hervorgehoben wird immer der Aspekt, der eine Umkehrung der Perspektive markiert. Nietzsche nennt sie eine „Umdrehung“. Im Falle Kants ist es eine Umstellung von der Frage nach der Wirklichkeit der kausalen Verhältnisse auf die Frage nach der rechtmäßigen Brauchbarkeit des Begriffs der Kausalität, die als wesentlicher Schritt der kopernikanischen Wende bekannt wurde. Nietzsche gibt dabei zu verstehen, dass diese Umkehrung von Kant nur angefangen wurde und „auch jetzt noch“ nicht vollendet ist. Sein Schluss ist noch überraschender: „[M]it Kant“ zweifelt man nicht bloß „an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen l ä s s t “, sondern „das Erkenn b a r e “ selbst „scheint uns als solches schon g e r i n g e r e n Werthes“ (FW 357, KSA 3, S. 599). Diese Interpretation geht jedoch wesentlich über Kant hinaus, denn der Zweifel am Wert des Erkennbaren folgt keineswegs notwendigerweise aus dem Zweifel an der Letztgültigkeit der Erkenntnis. Den Schritt hin zur Verzweiflung an der Wahrheit macht Kant gerade nicht, auch wenn er die Wahrheit ironisch als „reizende[n] Name[n]“ bezeichnet (KrV A 235/B 294), den er durch einen anderen, durch „Stufen des Fürwahrhaltens“, ersetzen will.53 Denn der
51 Der Aphorismus trägt den Titel „Z u m a l t e n P r o b l e m: ‚w a s i s t d e u t s c h?‘“ und wird polemisch gegen Richard Wagners Auffassung des „Problems“ entworfen. Dennoch werden hier die großen Denker als „gute Europäer“ und nicht bloß aus der Perspektive ihrer nationalen Wirkungsgeschichte betrachtet. Zur kontextuellen Interpretation des Aphorismus s. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 355 ff. 52 Zu Leibniz als Vorläufer des nietzscheschen Perspektivismus s. Friedrich Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke; Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, S. 87 f., Anmerk. 32. Zum grundlegenden Unterschied bzw. zu Nietzsches nachmetaphysischem Denken im Unterschied zu Leibniz s. Werner Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, S. 79, Anmerk. 14. 53 Die Frage nach der Wahrheit und ihre Beantwortung, wenn es um das alte adequatio rei et intellectus geht, wird von Kant wiederum ironisch damit verglichen, dass „einer (wie die Alten sagten)
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Erkennende kann zwar von der Letztgültigkeit seines Wissens bloß „überredet“ worden sein, doch bleibt durchaus eine Möglichkeit, dass er von ihr „überzeugt“ ist, d. h. dass sein Fürwahrhalten nicht in seinen „besonderen Beschaffenheiten“ begründet ist, sondern „für jedermann gültig ist“. Und solch eine „Vermutung“ der „Wahrheit des Urteils“ sieht Kant zumindest im Prinzip (im Falle der Mitteilbarkeit der Gründe des Fürwahrhaltens) als berechtigt an (KrV A 820 f./B 848 f.). Dabei ist allerdings nicht zu bezweifeln, dass diese Vermutung eine solche bleiben muss, ist es doch letzten Endes unmöglich, ihre Gültigkeit für jedermann zu überprüfen.54 Nietzsche kehrt sein Lob Kants somit letztlich gegen Kant, denn die von ihm aufgezeigten Konsequenzen des „ungeheure[n] Fragezeichen[s]“ waren Kant selbst kaum erwünscht, die „Verzweiflung an aller Wahrheit“, ein „zernagende[r] und zerbröckelnde[r] Skepticismus und Relativismus“. Die Unüberprüfbarkeit allen Wissens und aller Erkenntnis führt, so Nietzsche, zur Erschütterung des naiven Lesers, der in seinem „heiligsten Innern“ von dieser Philosophie betroffen ist (Nietzsches Beispiel dafür ist Heinrich von Kleist (UB III, KSA 1, S. 355 f.)). Dies wird schon in den Unzeitgemässen Betrachtungen als „populäre Wirkung“ Kants bezeichnet, dessen Pessimismus, seine „kritische Entsagung“ und den von ihr erzeugten „skeptischen Unmuth“ Nietzsche dort als Wegzeiger „zur Höhe der tragischen Betrachtung“ Schopenhauers darstellte. Wenn er diese Einschätzung später als Überschätzung und Missverständnis umdeutete (NW, KSA 6, S. 424 f.), so blieb der tragische Pessimismus für ihn die größte Errungenschaft der abendländischen Philosophie. Kants „ungeheures Fragezeichen“ betrifft für Nietzsche nicht nur den Begriff der Kausalität, wenn dieser auch grundlegende Bedeutung für den extremen Pessimismus hat. Auch hinter dem Begriff des Seins taucht ein Fragezeichen auf, das von Kant an Parmenides’ Schluss vom Denken auf das Sein – einer Denkfigur, der nach Nietzsche auch Hegel verhaftet blieb – gesetzt wurde. Angesichts des kritischen Geschäfts Kants sei es, so Nietzsche, „eine kecke Ignoranz, wenn es hier und da, besonders auch unter schlecht unterrichteten Theologen, die den Philosophen spielen wollen, als Aufgabe der Philosophie hingestellt wird, das ‚Absolute mit dem Bewußtsein zu erfassen‘“ (PHG 11, KSA 1, S. 847). Nietzsche zieht daraus folgenden nicht gegen Kant gerichteten, doch wesentlich über ihn hinausgehenden Schluss:
Die Worte sind nur Symbole für die Relationen der Dinge unter einander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit […]. (PHG 11, KSA 1, S. 846)
den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält“ (KrV B 82 f.). Nur eine negative formale „Bedingung aller Wahrheit“ könne angegeben werden, nicht eine „materielle“ (KrV B 84 f.). 54 Es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der junge Nietzsche gerade wegen seiner neukantianischen Quellen den kantischen „Probierstein“ der Wahrheit, deren Mitteilbarkeit (KrV A 820 f./ B 848 f.), übersah. Vgl. PHG 11, KSA 1, S. 846.
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Tatsächlich stehen die Begriffe der Philosophie nach Kant „niemals zwischen sicheren Grenzen“. Mehr noch: „philosophische Definitionen“ seien „nur als Expositionen“ möglich, d. h. „den philosophischen Erklärungen“ müsse im Unterschied zu mathematischen Begriffen „de[r] Ehrenname […] der Definition“ „verweigert“ werden (KrV A 729 f./B 757 f.). Die Philosophie muss sich nach Kant mit Erklärungen begnügen, die keine Definitionen, sondern bloße Expositionen sind. Hiermit ist der Punkt angesprochen, den Nietzsche als Feindschaft gegen die Aufklärung bezeichnete: Auf der vorkritischen Stufe der Spekulation – oder, um mit Kant zu reden, „im dogmatischen Gebrauche“ der Vernunft – bleibt man bei den Begriffen. Man glaubt zu einer „vollständigen Exposition, d. i. zur Definition gelangt“ zu sein, während man nur eine „Zergliederung“ der Merkmale, „deren Vollständigkeit nicht apodiktisch gewiß“ sein kann, zustande bringt. „Man bedient sich gewisser Merkmale nur so lange, als sie zum Unterscheiden hinreichend“ sind. Dementsprechend soll „das Wort, mit den wenigen Merkmalen, die ihm anhängen, nur eine B e z e i c h n u n g und nicht einen Begriff der Sache ausmachen“ (KrV A 728/B 756). Dennoch will Kant auch hier, wie beim Begriff der Kausalität, die Möglichkeit einer zutreffenden Exposition des Begriffes nicht ausschließen. „In der Mathematik gehört die Definition ad esse, in der Philosophie ad melius esse“ (KrV A 731/B 759). D. h. die Möglichkeit einer besseren Erklärung in Hinsicht der Brauchbarkeit des Begriffs, die Möglichkeit einer besseren Bezeichnung sollte in der Kritik grundsätzlich offen bleiben.55 Zu den Begriffen, die die Relationen eines Gegenstandes explizieren, ohne eine endgültige Definition zuzulassen, gehört das Wort „Sein“, aber auch ein anderer für die Moral aus Vernunft grundlegender Begriff: das Wort „Ich“. Seit Descartes, so Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse, „macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff“, „das heisst: ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre“. Die ganze neuere Philosophie sei deshalb „a n t i c h r i s t l i c h : obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös“ (JGB 54, KSA 5, S. 73). Bei Kant wird diese antichristliche Tendenz allerdings zu einer gewagten Umkehrung der Perspektiven:
Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze [dem descartischen – E.P.] heraus könne, — ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: ‚denke‘ Bedingung, ‚Ich‘ bedingt; ‚Ich‘ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst g e m a c h t wird. K a n t wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, — das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer S c h e i n e x i s t e n z des Subjekts, also ‚der Seele‘, mag ihm nicht immer fremd gewesen sein […]. (JGB 54, KSA 5, S. 73)56
55 Kants Sprachauffassung darf schon deshalb nicht nur auf das Wahrhaftigkeitsgebot reduziert werden (vgl. Römpp, Die Sprache der Freiheit. Kants moralische Sprachauffassung). 56 Vgl. August–September 1885, 40[16], KSA 11, S. 636.
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Als „durchgängige Identität der Apperception“ ist das „Ich“ nach Kant „nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich“, die es zustande bringt (KrV B 133; vgl. auch KrV B 409 f.). Es ist für sich selbst nur als Tätigkeit beobachtbar. Die Identität des Subjekts ist in theoretischer Hinsicht bloß eine Funktion der synthetischen Tätigkeit der Apperzeption. Der Begriff der Seele wurde somit für die Erkenntnis grundsätzlich undefinierbar. Diese antichristliche, wenn auch nicht antireligiöse Auslegung des Subjekts bleibt, so Nietzsche, die große Errungenschaft der „erkenntnistheoretischen Skepsis“.57 Die Identität des Subjekts bzw. der Begriff der Seele wurde von Kant allerdings in praktischer Hinsicht wiederhergestellt und für die Begründung der Moral als tragend angesetzt.58 An dieser Stelle würde man erwarten, dass Nietzsche zu einer scharfen Kritik der theologischen Hinterlist Kants übergeht. Stattdessen weist Nietzsche jedoch auf eine feine Unterscheidung in Kants Moralphilosophie hin. Nicht lange bevor der oben zitierte Aphorismus zur „Scheinexistenz des Subjekts“ entstanden ist, notiert sich Nietzsche eine Bemerkung über den moralischen „Werth der Handlung“, der nicht im Äußeren (in den Folgen), also nicht in der Absicht liegt, sondern „zuletzt immer z u r F r a g e n a c h d e m W e r t h e d e r i h r z u G r u n d e l i e g e n d e n M a x i m e z u r ü c k f ü h r t “ (Nachlass, Sommer–Herbst 1884, 26[84], KSA 11, S. 171). Nietzsche stellt sich in dieser Interpretation auf die Seite Kants gegen Schopenhauer, sofern jener „zu bedenken“ gibt, ob „die Absicht allein über moralischen Werth oder Unwerth einer Tat entscheidet“.59 Er sieht den Wert der kantischen Moral gerade darin, dass sie sich auf die Maximen beschränkt. Die Übereinstimmung der auf eine konkrete Handlung gerichteten Absicht mit der gewollten Maxime würde gerade die Identität des Subjekts voraussetzen, die empirisch nicht gegeben ist und nur als synthetische Einheit in der Verarbeitung des Mannigfaltigen denkbar sein kann. Für die Überprüfung der Maxime braucht man dagegen kein „Ich“ und keine Einheit des Subjekts. Der Übergang von einer moralischen Maxime zu einer Absicht und weiter zu einer konkreten Handlung muss für moralische Einschätzungen problematisch bleiben, denn die Absichten, wie auch die Gedanken, sind vielfältig und undurchschaubar.60 Die Moral, indem sie sich nach Kant nicht auf das Empirische der Handlung und nicht auf die Absichten richtet, setzt also streng genommen keine Identität des Subjekts voraus. Freilich setzt Kant
57 Die Religiösität dieses Gedankens kommt im russischen Denken besonders deutlich zum Vorschein, vor allem bei Tolstoi und Dostojewski. Wir werden sie in den nächsten Kapiteln näher betrachten. 58 Um eine Kant-Interpretation, die diese Wiederherstellung des Subjekts auch im Theoretischen ermöglichen soll, bemüht sich Dieter Henrich, Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion. 59 Vgl. „[…] eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird […]“ (GMS, AA 4, S. 399). Dazu s. z. B. Simon, Moral bei Kant und Nietzsche, S. 185 f. 60 Vgl. Nachlass, Sommer–Herbst 1884, 26[92], KSA 11, S. 173 f.
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schon im nächsten Schritt die moralische Urteilskraft als Vermögen, über die Anwendung der Maximen auf konkrete Situationen zu urteilen. Für diese Anwendung fehlt es aber prinzipiell an einem allgemeinen materiellen Kriterium. Die praktische Identität des Subjekts bleibt genauso undurchschaubar wie die theoretische. Die tragende Bedeutung dieses Gedankens ist für Nietzsche kaum zu überschätzen. Mit ihm ist der erste Schritt zur „Entmoralisirung“ gemacht.61 Die moralischen Absichten und Handlungen sind nicht bloß nicht nachweisbar, sie sind für die Moral selbst uninteressant. Durch die Unterscheidung von Absicht und Maxime wird das „Attentat auf den alten Seelen-Begriff“ auf den Bereich des Praktischen übertragen und in der Kritik der Moral fortgesetzt. Nur Maximen können moralisch sein, nicht ihre konkrete Anwendung. Freilich spricht Kant von ihrer Einordnung, von der moralischen Gesinnung, die er als „g u t e [ s ] o d e r b ö s e [ s ] H e r z “ bezeichnet (RGV, AA 6, S. 29). Aber zwischen diesem undurchschaubaren Kern der Moralität und den konkreten Absichten und Handlungen gibt es keine sichere Brücke. Die Berechenbarkeit des Handelnden, seine Identität mit sich selbst, wird nachträglich behauptet, um ihn zu richten und zu verurteilen. Dies ist nach Nietzsche die größte Grausamkeit des kategorischen Imperativs (vgl. GM II, 6, KSA 5, S. 300), vor dessen Gerichtshof keiner sich rechtfertigen kann. Hier liegt aber auch seine Stärke, denn somit wird auch in der Moralphilosophie eine gewagte Umkehrung der Perspektive vollzogen. Nur aus der Perspektive der sich selbst (nach der Handlung) richtenden Urteilskraft, aus der Perspektive des schlechten Gewissens, ist die Verbindung zwischen der Maxime einerseits und einer auf eine konkrete Handlung bezogenen Absicht andererseits möglich und mithin das handelnde Subjekt denkbar. Nietzsche betont mehrmals, dass Kants Verdienst für die Aufdeckung der Gründe der Moralität auch darin bestand, dass er, im Gegensatz zur christlichen Moral, das Mitempfinden, das Mitleid gering geschätzt und sogar als widermoralisch angesehen habe.62 Dies entspricht jedoch nicht ganz Kants Auslegung des Mitleids. In der Metaphysik der Sitten wird „das Mitgefühl a[m] Leiden“ als eine „natürliche Anlage“ der Moralität des Menschen beschrieben (MS, AA 6, S. 443). Kant bezeichnet es sogar als „indirecte Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu cultiviren und sie als so viele Mittel zur Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen“ (MS, AA 6, S. 457). Es ist aber „nur bedingte Pflicht“, „weil hier der Mensch nicht blos als vernünftiges Wesen, sondern auch als mit Vernunft begabtes Thier betrachtet wird“ (MS, AA 6, S. 456). Als Gefühl ist das Mitleid kein Leitfaden der Moralität. Einerseits wäre die Barmherzigkeit, wenn auf einen Unwürdigen bezogen, unmoralisch. Andererseits ist die Vermehrung des Leidens durch das Mitgefühl oder, wie Kant es sagt, durch „anstecken“ „vermittelst der
61 Vgl. Nachlass, Herbst 1887, 10[57], KSA 12, S. 485. 62 Vgl. M 132, KSA 3, S. 124; GM Vorrede 5, KSA 5, S. 252; Nachlass, Ende 1880, 7[216], KSA 9, S. 362; Ende 1886–Frühjahr 1887, 7[4], KSA 12, S. 268.
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Einbildungskraft“ zu vermeiden (MS, AA 6, S. 457). Wie jede natürliche Anlage kann das Mitleid für die Moralität, aber auch gegen sie gebraucht werden. Dieses Thema scheint bei Kant von keiner besonderen Wichtigkeit zu sein, doch Nietzsche hebt es mehrmals hervor, indem er die Frage nach dem Mitleid als Schlüsselfrage des Problems der Moral betrachtet. Denn hier wird wieder Kants Umkehrung der Frage nach der Grundlage der Moral deutlich. Gleich der Absicht ist auch die Mitempfindung für das Subjekt der Handlung unkalkulierbar und undurchschaubar. Und das heißt nicht bloß, dass sie unsicher sind, sondern dass sie nicht den Grund der Moralität ausmachen können und deswegen auch nicht moralisch geboten werden dürfen. So weit reicht die Moral nicht. Man kann das als Schwäche von Kants Moralphilosophie verstehen, als eine Schwäche jedoch, die unvermeidlich aus ihrer Radikalität folgt. Nietzsche gibt Kant in diesem Punkt Recht, er sieht in dieser Umkehrung die notwendige Konsequenz seines Attentats auf den Subjekt- und Seelen-Begriff, seines ungeheuren Fragezeichens an den Begriffen von Kausalität und Sein. Mit seiner Moral aus Vernunft musste Kant über die Moral der Absichten und des Mitgefühls hinausgehen und, wie Nietzsche sich ausdrückt, „die Selbstlosigkeit verherrlichen“, die nicht als Heil der Seele, nicht einmal als Selbstgewissheit des Handelnden verstanden werden kann. Denn, wie Kant selbst deutlich zu verstehen gab, es sei „wahrscheinlich n i e eine That derselben gethan worden […]“ (Nachlass, Frühjahr–Herbst 1881, 11[303], KSA 9, S. 557 f.).63
Das große Umsonst Die große Errungenschaft Kants, die Umkehrung der Perspektiven, das Fragezeichen und die Skepsis nicht nur in der Zurückweisung der Ansprüche der Erkenntnis, sondern auch in der Moralphilosophie, hat ihre Kehrseite. Der radikale Ansatz der Kritik bringt den Pessimismus hervor, die Einsicht in die Unmöglichkeit der endgültig „wahren“ Erkenntnis und die Unerreichbarkeit des absolut Guten. Um ihn zu überwinden, wäre eine Stärke nötig, die Nietzsche als „g r o s s e G e s u n d h e i t“ bezeichnet: […] eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss! … (FW 382, KSA 3, S. 635 f.)
Zu Nietzsches Begriff der Größe im Zusammenhang mit seinem eigenen Ideal und seinem Kriterium der vornehmen Moral werden wir noch zurückkehren müssen.64 An
63 Vgl. „Diese [die Vernunft – E.P.] gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive G e s e t z e d e r F r e i h e i t, sind, und welche sagen, w a s g e s c h e h e n s o l l, ob es gleich vielleicht nie geschieht […].“ (KrV, A 802/B 830). 64 Zur kontextuelle Interpretation des Aphorismus 382 „D i e g r o s s e G e s u n d h e i t“ s. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 598 ff. Wie bereits erwähnt, deutet Werner Stegmaier den Begriff der Größe bei Nietzsche als Fähigkeit, den Gegensatz (hier die Krankheit) in sich aufzunehmen
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Kapitel 2. Nietzsche: Kunst als Kritik einer Moral aus Vernunft
dieser Stelle ist es wichtig, dass Kant den Schritt zur Überwindung des Pessimismus nicht im Sinne der „grossen Gesundheit“ machte. Stattdessen suchte er einen „Schleichweg zum ‚alten‘ Ideal“, zur „Versöhnung zwischen Wahrheit und ‚Ideal‘“, er suchte im Grunde eine Formel „für ein Recht auf Lü g e […]“ (EH WA 2, KSA 6, S. 360), die den pessimistischen Gedanken der Sinnlosigkeit und Unmoralität des Daseins abschwächen sollte. Der Lüge-Vorwurf scheint allerdings gerade bei Nietzsche, der den Willen zur Wahrheit in Frage stellt, etwas Zweideutiges zu sein. Wenn wir jedoch versuchen, diesen Vorwurf sinnvoll zu verstehen, so ist es ratsam, eine Metapher näher zu betrachten, von der er begleitet wird. Gemeint ist die Bezeichnung Kants als „grosse[r] Chinese von Königsberg“ (JGB 210, KSA 5, S. 144).65 Diese ironisch-freche Formel steht in Nietzsches Nachlass für den zur Tugend erhobenen Sklaven-Instinkt, für „die Zunahme der sklavischen Tugenden und ihrer Werthe“ (Nachlass, Frühjahr 1884, 25[121], KSA 11, S. 45). Die „Zeit der Ruhe und des Chinesenthums“ wird der „militaristischen Entwicklung Europa’s“ und den „inneren anarchistischen Zustände[n]“ entgegengesetzt, wobei Kant als „Vogelscheuche“ erscheint (Nachlass, Sommer–Herbst 1884, 26[417], KSA 11, S. 263). Denn auch Kant wird von Nietzsche vorgeworfen, seine „skeptisch beginnende Bewegung“ fände „e i n e n G e n u ß i n d e r U n t e r we r f u n g “ (Nachlass, April–Juni 1885, 34[82], KSA 11, S. 445). Sein Wille zur Ordnung und zum Frieden wirke jeder Unruhe, aber auch jeder Entwicklung entgegen. Diesen im Grunde sklavischen Instinkt habe Kant „den ‚kategorischen Imperativ‘ getauft“ (Nachlass, April–Juni 1885, 34[85], KSA 11, S. 447). Das „Chinesenthum“ Kants scheint somit eine Metapher für seinen Willen zu einer friedlichen Ordnung, eine Metapher für seinen Herdeninstinkt zu sein.66 Aber damit ist ihre Bedeutung noch nicht erschöpft. Das „Chinesentum“ wird von Kant selbst in den Zusammenhang mit dem „ewigen Frieden“, aber auch in den Zusammenhang mit dem Problem der Lüge gestellt. Letztere sei der Kern des Bösen überhaupt. So steht am Ende von Kants Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie:
Die Lüge (>vom Vater der Lügen, durch den alles Böse in die Welt gekommen ist