Diebstahl und Raub in den Isländersagas: Einfallstore in die norröne Erzähl- und Vorstellungswelt 9783110697742, 9783110699265, 9783110699371, 2020938631

Theft and robbery are reciprocal actions with diverse literary applications. Though they figure centrally in Viking lite

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German Pages 339 [340] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas
3. Die ›Semantik des Diebstahls‹
4. Erzählen vom Diebstahl
5. Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub
6. Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer
7. Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien
8. Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe
9. Fazit
Bibliographie
Register der besprochenen Isländersagas und -þættir
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Diebstahl und Raub in den Isländersagas: Einfallstore in die norröne Erzähl- und Vorstellungswelt
 9783110697742, 9783110699265, 9783110699371, 2020938631

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Daniela Hahn Diebstahl und Raub in den Isländersagas

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 120

Daniela Hahn

Diebstahl und Raub in den Isländersagas

Einfallstore in die norröne Erzähl- und Vorstellungswelt

ISBN 978-3-11-069774-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069926-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069937-1 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2020938631 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Januar 2019 an der Ludwig-MaximiliansUniversität München als Dissertation mit dem Titel Diebstahl und Raub in den Isländersagas. Erzählte Bruchstellen von Macht, Besitz und Ehre angenommen. Für die Druckfassung wurden kleinere Änderungen vorgenommen. Den Herausgebern der Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde sei für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe gedankt, wie auch den Mitarbeitern des Verlages für ihre Unterstützung bei der Drucklegung. Mein besonderer Dank gilt dem Institut für Nordische Philologie der Universität München – all meinen StudentInnen, LehrerInnen und KollegInnen. Für die Möglichkeit, in einem so inspirierenden Umfeld arbeiten zu können, möchte ich meinem Doktorvater Wilhelm Heizmann ebenso herzlich danken wie für seine fachliche und menschliche Unterstützung, derer ich mir meine ganze Studien- und Promotionszeit über sicher sein durfte. Viele Menschen können von einem besonderen Lehrer erzählen, der ihr Leben entscheidend beeinflusst hat, indem er zum richtigen Zeitpunkt an sie geglaubt und eine große Leidenschaft mit ihnen geteilt hat. Für mich ist diese Lehrerin Alessia Bauer, die mein Studium entscheidend bereichert hat und der ich für weit mehr als die Zweitbetreuung dieser Dissertation danken möchte. Als Drittprüferin hat sich Ursula Lenker bereiterklärt und meine Disputation wie schon zuvor mein Studium mit ihrer anglistischen Expertise begleitet. Mein Dank gilt auch Roland Scheel für die Erstellung des Drittgutachtens ebenso wie für ein wichtiges Gespräch zu Beginn des Projektes und die Einladung zu einer anregenden Tagung über Recht und Narration. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes bin ich zum einen für die Vermittlung dieses Kontakts zu Dank verpflichtet, zum anderen für ihre großzügige Unterstützung, die es mir ermöglicht hat, dieses Projekt konzentriert zu verfolgen. Wertvollen Rat habe ich von Matthias Egeler erhalten, dem ich besonders für seine kritische Lektüre meines Exposés danken möchte. Den Mitgliedern und Gästen des altnordistischen Oberseminars danke ich für viele anregende Vorträge und Gespräche in München und Ohlstadt. Ebenso den Teilnehmern der Münchener Workshops Bad Guys and Wicked Girls (2015) und Unwanted (2018). Mit Marion Poilvez, Rebecca Merkelbach, Anita Sauckel, Yoav Tirosh und Basti Thoma habe ich viele Stunden über Gesetzlose, Diebe, Zauberer und anderes Gelichter in Isländersagas diskutiert: Es war großartig! Spezieller Dank gilt auch Katja Jakob, für mehr als ihr Engagement bei der Korrektur dieser Arbeit. Meine Promotionszeit wurde unendlich bereichert durch den glücklichen Umstand, sie mit Andreas Schmidt und Florian Deichl zu verbringen. Ihr seid die besten Weggefährten, die man sich wünschen kann! Schließlich möchte ich mich von Herzen bei meinen fabelhaften Freundinnen und meiner Familie bedanken. Meiner Schwester danke ich für all die Ermutigung und Erheiterung! Meinem Vater für zahllose Gespräche über das Leben und das Schreiben https://doi.org/10.1515/9783110699265-201

VI 

 Vorwort

im Allgemeinen und seinen Rat bei der Korrektur dieser Arbeit im Besonderen. Als dieses Buch zur Hälfte geschrieben war, kam mein Sohn Emil zur Welt und hat sie in jeder Hinsicht bereichert. Dass auch die zweite Hälfte entstehen konnte, verdanke ich vor allem der Unterstützung meiner Mutter. Danke, nicht nur für deine liebevolle Hilfe, sondern vor allem für deinen Zuspruch und das große Interesse, mit dem du dieses Projekt verfolgt hast. Größter Dank geht schließlich an meinen Mann Marcus für all seine Unterstützung und Geduld – jeden Atemzug, jeden Schritt. Dieses Buch sei dir und Emil gewidmet, als Dank für all die wunderbare Ablenkung.

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

 V

 1 1 Einführung  1.1 Die Faszination des Diebstahls   1 1.2 Quellen und Korpus   4 1.2.1 Isländersagas   6 1.2.2 Rechtstexte   10 1.3 Zum Forschungsstand   11 1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik   13 1.4.1 Geben und Rauben: Zur Bedeutung von Reziprozität  1.4.2 Zur narratologischen Textanalyse der Isländersagas 

 16  20

 27 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas  2.1 Die Sagagesellschaft   28 2.1.1 Bruchstellen von Macht, Besitz und Ehre   33 2.1.2 Diebstahl unter Wikingern?   35 2.2 Gesellschaft, Gesetz und Geschichte   40 2.2.1 Diebstahl und Raub in der Grágás   41 2.2.2 Recht in den Isländersagas   45 3

 51 Die ›Semantik des Diebstahls‹  3.1 Die Antagonisten der Vatnsdœla saga   54 3.2 Zauberei als ›Schwester‹ des Diebstahls?   58 3.3 Diebstahl, Unmännlichkeit und ergi   60

4

 65 Erzählen vom Diebstahl  4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip   66 4.1.1 Die ›Öffentlichkeit‹ der Bjarnar saga Hítdœlakappa   69 4.1.2 Diebstahl im Zeitsprung: Die Bandamanna saga   72 4.1.3 Der Diebstahl in der Færeyinga saga   75 4.2 Diebesgut und Handlungsmacht   78 4.2.1 Die gestohlenen Schwerter der Laxdœla saga   82 4.2.1.1 Das Schwert Fótbítr   84 4.2.1.2 Das Schwert Konungsnautr   89 4.2.1.3 Das Schwert Skǫfnungr   93 4.2.2 Umgeschmiedetes Unglück: Grásiða in der Gísla saga   96 4.2.3 Zum Grabraub und machtvoller Beute   100

VIII 

5

 Inhaltsverzeichnis

Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub   113 5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga   114 5.1.1 Þjófsaugu eru komin í ættir várar – Die Exposition der Njáls saga   115 5.1.2 Schemaetablierung in der Reykdœla saga   122 5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser   125 5.2.1 Die Diebstähle der Reykdœla saga   127 5.2.2 Diebstahlsvorwürfe als gezielte Provokation in der Njáls saga   134 5.2.3 Geduldsproben und Verleumdung   137 5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung   141 5.3.1 Diebstahl und Aufhetzung in der Heiðarvíga saga   143 5.3.2 Hallgerðrs Diebstahl in der Brennu-Njáls saga   147 5.3.3 Þuríðr Óláfsdóttir in der Laxdœla saga   154 5.3.4 Guðrún Ósvifrsdóttir in der Laxdœla saga   158

 165 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer  6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten   168 6.1.1 Räuber zur Erprobung: Wegelagerer, Geächtete, Wikinger  6.1.2 Der Dieb als Figurentypus in den Isländersagas   173 6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete   178 6.2.1 Vom Held zum Räuber: Die Fóstbrœðra saga   179 6.2.2 Der raubende Held: Grettir Ásmundarson   183 6.2.3 Räuberbanden zur Erprobung des Kollektivs   188 6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga   196 6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub   208 7

 169

 219 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien  7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren   221 7.1.1 Eigentumsdelikte und Hierarchien in der Mǫðruvallabók   221 7.1.1.1 Bolla þáttr   227 7.1.1.2 Brennu-Njáls saga   231 7.1.1.3 Egils saga Skalla-Grímssonar   234 7.1.2 Soziale und narrative Hierarchien in der Mǫðruvallabók und darüber hinaus   236 7.1.2.1 Raub als Reminiszenz in der Fljótsdœla saga   237 7.1.2.2 Widerwilliger Raub in der Hœnsa-Þóris saga   239 7.2 Horizontale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub innerhalb der eigenen sozialen Schicht   246 7.2.1 Rán, Macht und Ehre   247 7.2.1.1 Rán als Machtdemonstration   249 7.2.1.2 Rán und Ehre in der Laxdœla saga   251 7.2.2 Diebstahl unter sozial niedriggestellten Nebenfiguren   254

Inhaltsverzeichnis 

7.2.3 7.3 7.4 7.4.1 7.4.2

Exkurs: Walraub   256 Sonderfall: Diebstahl und Raub im Ausland   258 Enteignungen: Der König als Räuber   262 fé ok frelsi – Die Erzähltradition um Haraldr hárfagris Reichseinigung   265 Zur Entstehung und Chronologie des Motivs   279

8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe   283 8.1 Der Hof Hjarðarholt in der Laxdœla saga   284 8.2 Macht, Besitz und Erbe: Die Egils saga Skalla-Grímssonar  9 Fazit 

 295

 305 Bibliographie  Siglenverzeichnis   305 Quellenverzeichnis   306 Literaturverzeichnis   310 Register der besprochenen Isländersagas und -þættir 

 329

 286

 IX

1 Einführung 1.1 Die Faszination des Diebstahls Geschichten um listenreiche Diebstähle sind seit jeher Publikumslieblinge: Duelle zwischen gerissenen Dieben und klugen Ermittlern werden zu jeder Zeit und in jeder Altersklasse voller Spannung verfolgt. Die künstlerischen Bearbeitungen des Motivs sind vielfältig und reichen von Herodots Diebesgeschichte vom Schatzhaus des Rhampsinit über die Abenteuer Robin Hoods, das Grimm’sche Märchen vom Meisterdieb bis hin zum beliebten Genre des Heist-Films, in dem besonders kunstfertige Diebe spektakuläre Überfälle durchführen.1 Doch geht mit der Bewunderung auch die Furcht einher. Ein Kind, das soeben Emil und die Detektive gelesen hat, wird vielleicht eine Weile jeden Geldschein wie einen Schatz hüten und Fremden möglicherweise mit Argwohn begegnen. Auch jedem Erwachsenen graut es davor, beim nach Hause kommen eine verwüstete Wohnung vorzufinden – ganz gleich, wie viele vergnügliche Abende er mit dem Computerspiel Thief verbracht haben mag.2 Die Faszination des Diebstahls entsteht im Wechselspiel von Spannung und Furcht. Es handelt sich um eine Form der Kriminalität, vor der niemand gänzlich sicher sein kann, auch wenn im Laufe der Jahrhunderte von Bannformeln und Diebessegen bis zu moderner Alarmtechnik allerlei Mittel zur Abwehr ersonnen wurden.3 Der faszinierendste Dieb des Nordens ist zweifelsohne der Göttervater Óðinn selbst. Mit Hilfe von List und Verwandlung – der höchsten Kunst der Maskerade – gelingt es ihm, den einzigartigen Dichtermet an sich zu bringen. Dieser besteht aus Honig und dem Blut des weisen Geschöpfs Kvasir, das einst aus einem Gemisch des Speichels aller Götter entstand. Óðinn verwandelt sich in eine Schlange und kann so durch ein kleines Loch in jenen Berg schlüpfen, in dem das wundersame Getränke aufbewahrt wird. Drei Nächte verbringt er mit der Hüterin des Mets, die ihm zum Dank erlaubt, drei Schlucke des Gebräus zu trinken. Óðinn jedoch leert mit seinen Schlucken alle drei Kessel, entkommt mit seiner Beute in Adlergestalt und speit den Met

1 Zum Motivkomplex des Meisterdiebes sowie zur Rhampsinit-Überlieferung siehe Moser-Rath 1981, Sp. 626. Zu den sogenannten Heist-Movies zählt beispielsweise Steven Soderberghs Ocean’s Eleven (2001). Gehrlach 2016, S. 16–17 (Fn. 16) liefert eine umfangreiche Liste filmischer Bearbeitungen und stellt eine Untersuchung ihrer narrativen Struktur in Aussicht. Das bisher vor allem männlich besetzte Genre wurde im Jahr 2018 durch die Fortsetzung Ocean’s 8 ergänzt, in dem eine rein weibliche Diebesbande auf Beutezug geht. 2 Kästners Detektivroman für Kinder von 1929 erfreut sich noch immer großer Beliebtheit. Bei Thief handelt es sich um ein erfolgreiches Stealth-Computerspiel, das inzwischen in vier Teilen vorliegt. Sein erster Teil Dark Project: Der Meisterdieb von 1998 war prägend für das Spielgenre, in welchem möglichst heimlich und unter Vermeidung von Gewalt vorgegangen werden muss. 3 Zu Diebessegen und Bannformeln siehe Daxelmüller 1984, S. 406 sowie Moser-Rath 1981, Sp. 627. https://doi.org/10.1515/9783110699265-001

2 

 1 Einführung

in Behälter, die die Götter bereitgestellt haben. Ein kleiner Teil jedoch entfleucht in die Welt der Menschen und inspiriert jene, die dichten können. Daher bezeichnen die Skalden die Dichtung selbst als feng Óðins (»Beute Óðinns«)4 oder Víðurs þýfi (»Óðinns Diebesgut«).5 Nach nordischer Vorstellung ist es ein Diebstahl, der die Dichtkunst und damit die Literatur in die Welt bringt.6 Die Faszination des Diebstahls scheint die Wissenschaft bis vor Kurzem jedoch nicht erfasst zu haben. Während andere Formen des Gütertransfers  – allen voran die Gabe – in der Soziologie ebenso wie in den Kultur- und Literaturwissenschaften breite Aufmerksamkeit erfahren haben, ist erst im Jahr 2016 die erste umfassende kulturwissenschaftliche Studie zum Diebstahl erschienen.7 Andreas Gehrlach stellt darin einleitend fest: »Das zwanzigste Jahrhundert war das Jahrhundert der Gabe«8, der Diebstahl »als ein ähnliches Motiv mit vergleichbarer Komplexität«9 sei dagegen bisher ignoriert worden. Dies trifft auch auf die Altnordistik zu: Während zur Gabe und zu anderen Formen des Austausches einige Untersuchungen vorliegen, wurden die Verbrechen Raub und Diebstahl kaum beachtet. Dies verwundert umso mehr, als zum einen die Dichtung durch Óðinns Diebstahl in die Welt kam, und widerrechtliche Aneignungen zum anderen schon auf den ersten Blick zu den zentralen Themen einer ›Wikingerliteratur‹ zählen. Auch abseits der wikingischen Beutezüge enthält die altnordische Literatur ein facettenreiches Spektrum des Diebstahls, das von simplen Ratschlägen, man solle sich vor Dieben in Acht nehmen (Hávamál 131), bis hin zu Erzählungen von spektakulären Entwendungen und Wiederbeschaffungen göttlichen Eigentums reicht.10

4 Skáldskaparmál, S.  5. Der Mythos vom Raub des Dichtermets wird hier in der Version der Edda Snorri Sturlusons nacherzählt, ist aber auch in anderen Überlieferungen greifbar. Zum Skaldenmet siehe beispielsweise Buchholz 1984 sowie Klingenberg 1984, S. 387–388. 5 Eg 78, S. 246. Diese Umschreibung verwendet Egill Skalla-Grímsson für die Dichtkunst in seinem Skaldengedicht Sonatorrek (»Der Söhne Verlust«), vgl. Schier (Übers.) 1996, S. 229–232 für eine kommentierte Übersetzung. 6 Altnordische Zitate werden im Folgenden in der Schreibweise der verwendeten Edition wiedergegeben. Dies führt je nach Edition zu Unterschieden wie Björn vs. Bjǫrn und ähnlichem. Sämtliche Übersetzungen sind als textnahe Lesehilfen zu verstehen und wurden, soweit nicht anders angegeben, von mir angefertigt. Zur Übersetzung der Isländersagas wurden diverse Wörterbücher verwendet, allen voran Baetke (Hrsg.) 2008. Im Zweifelsfall wurden auch andere Sagaübersetzungen zu Rate gezogen, in der Reihenfolge der Übersetzungen von Heller 1982, den Bänden der Reihe Saga. Bibliothek der altnordischen Literatur und den beiden Sammlungen von Viðar Hreinsson (Hrsg.) 1997 und von Böldl, Vollmer u. Zernack (Hrsg.) 2011a. Für die Übersetzung der Textstellen aus der Rechtssammlung Grágás wurde außerdem Heusler (Übers.) 1937 konsultiert. 7 Gehrlachs Studie erschien damit fast zwei Jahre nach Beginn dieses Dissertationsprojektes – rechtzeitig, um die hier vorgebrachten Überlegungen wesentlich zu bereichern. 8 Gehrlach 2016, S. 11. 9 Gehrlach 2016, S. 12. 10 Vgl. Andersson 1984, S. 496. Andersson weist auch auf die zehn Belegstellen für þjófr (»Dieb«) in der skaldischen Dichtung hin.



1.1 Die Faszination des Diebstahls 

 3

Beispielsweise muss Þórr in der Þrymsqviða beim Aufwachen feststellen, dass sein Hammer Mjǫlnir von einem Riesen gestohlen wurde, worauf er diesen unter einigem Aufwand zurückerobern muss. Das Eigentum der Götter wird nicht nur von außen bedroht; sogar innerhalb des Pantheons geschehen Diebstähle, wie etwa Lokis Raub des Brísingamen, eines Kleinods der Göttin Freyja.11 Im Zentrum dieser Arbeit stehen die weit profaneren Eigentumsdelikte der Isländersagas, der bekanntesten altnordischen Prosagattung. Diebstähle markieren dort oft den Beginn langwieriger Fehden und ziehen Mord, Totschlag oder Gesetzlosigkeit nach sich. Diese handlungsauslösende Funktion des Verbrechens bespricht Theodore M. Andersson in seinem Aufsatz »The Thief in Beowulf« (1984), der bisher einzigen Studie, die die Rolle des Diebes in der altnordischen Literatur streift: In the sagas, the thief has a rather well-defined narrative function. He exists to instigate trouble, which then develops a life of its own and eventually engulfs everyone. […] These texts exemplify how momentous events unfold from trivial causes.12

Daneben erarbeitet Andersson eine ›Semantik des Diebstahls‹, die Feigheit, Unmännlichkeit und eine Nähe zu anderen zwielichtigen Verbrechen wie der Zauberei umfasst. Diese Konnotationen erwachsen nicht zuletzt aus der altnordischen Rechtsvorstellung, die von einem Offenkundigkeitsgedanken geprägt ist. In Ermangelung einer exekutiven Gewalt oder neutraler Ermittlungsinstanzen baute die norröne Gesellschaft auf Ehre und Ansehen als regulierende Faktoren, wie der Rechtshistoriker William Ian Miller betont: [T]here were strong normative inducements to wrong openly; one’s name was at stake. There was absolutely no honor in thievery, only the darkest shame; the ránsmaðr [i.  e. robber], on the other hand, suffered no shame for his successful raids, even if he did not always achieve honor in the process.13

Miller spricht hier sowohl den entscheidenden Unterschied zwischen Raub und Diebstahl an als auch den engen Verbund zwischen Verbrechen und persönlicher Ehre – auf beides soll im Folgenden ausführlich eingegangen werden. Das Ziel dieser Arbeit ist es, einen Gesamtüberblick der bisher wenig beachteten Verbrechen Diebstahl und Raub im Korpus der Isländersagas und -þættir zu geben,

11 Vgl. Heizmann 2009, insb. S. 506–507. Da sich Gehrlach insbesondere mit der These vom Diebstahl als Ursprungsmythos – und damit mit dem Verhältnis von Mensch zu Gott – beschäftigt, könnte seine Studie einen vielversprechenden Ausgangspunkt für Überlegungen zum Diebstahl in eddischer Dichtung bilden, wie der Verfasser selbst in seinen Abschlussbemerkungen feststellt (vgl. Gehrlach 2016, S. 389). 12 Andersson 1984, S. 506. Anderssons knapp formulierte Thesen werden im Folgenden ausführlich diskutiert. 13 Miller 1986a, S. 101 (Hervorhebung im Original).

4 

 1 Einführung

um ein möglichst umfassendes Bild ihrer Ausprägungen, Konnotationen und Auswirkungen zu zeichnen.14 Eine literaturwissenschaftliche Analyse bringt dabei ein doppeltes Erkenntnisinteresse hervor, das den zwei Ebenen einer Erzählung entspricht; der Handlungsebene und der Ebene der erzählerischen Darstellung. Zum einen wird daher gefragt, wie sich Diebstahl und Raub innerhalb der erzählten Welt auswirken. Diese Verbrechen berühren zwei zentrale Themenkomplexe der Isländersagas: Eigentum und Ehre. Beide sind entscheidende Faktoren des sozialen Ansehens einer Figur und müssen fortwährend verteidigt und neu erworben werden. Diebstähle und Raubüberfälle öffnen Einfallstore, durch welche das zugrundeliegende Wertesystem sichtbar wird, indem diese Verbrechen eine Neubewertung der Position aller beteiligten Parteien erzwingen. Eigentumsdelikte konstituieren damit nicht nur für die einzelne Saga richtungsweisende Episoden, sie versprechen auch Erkenntnisse über die Mechanismen und Werte der in den Isländersagas dargestellten Gesellschaft. Zum anderen soll nach den Funktionen und Einsatzmöglichkeiten von Diebstahl und Raub als Ereignisse oder Motive auf der Erzählebene gefragt werden. Es soll einerseits gezeigt werden, dass sich das Offenkundigkeitsprinzip des altnordischen Rechts in der Erzähltechnik der Isländersagas widerspiegelt, die bewusst Marker für Öffentlichkeit und Heimlichkeit einsetzt, um Anhaltspunkte für die Bewertung der Episoden zu liefern, die sich heutigen Rezipienten nicht mehr intuitiv erschließen. Andererseits haben Eigentumsdelikte auch an der Motivierung des Geschehens, der Charakterisierung von Figuren und der Modellierung besonderer Gegenstände entscheidenden Anteil. Der Fokus auf Diebstahl und Raub ermöglicht insgesamt eine korpusweite Analyse beider Ebenen, die als Baustein zu einem tiefergehenden Verständnis der Funktionsweise der Isländersagas als literarische Texte ebenso dienen soll wie zur Perspektivierung der jeweiligen Verbrechen im Kontext der Werte- und Moralvorstellungen, die diesen Texten innewohnen.

1.2 Quellen und Korpus Das Christentum brachte zu Beginn des 11. Jahrhunderts die lateinische Schrift und Sprache ebenso wie die Buchkultur nach Island. Schon früh begannen die Isländer, auch in ihrer eigenen Sprache zu schreiben und das lateinische Alphabet ihren Bedürf-

14 Diebstahl und Raub sind in den Isländersagas so eng miteinander verbunden, dass sie unbedingt gemeinsam untersucht werden müssen. In gewisser Nähe zum Diebstahl stehen neben dem Raub auch andere Taten wie Unterschlagung, Gebrauchsanmaßung und Beutezüge (vgl. Moser-Rath 1981, Sp. 625). Sonderformen wie vorenthaltenes oder geraubtes Erbe werden im Einzelfall auf ihre Vergleichbarkeit hin geprüft.



1.2 Quellen und Korpus 

 5

nissen anzupassen.15 Bereits Mitte des 12.  Jahrhunderts entstand mit dem Ersten Grammatischen Traktat ein Werk, das die Verwendung des geborgten Alphabets für die eigene Sprache reflektiert, und neue Grapheme vorschlägt.16 Der anonyme Autor dieses Werkes zählt die verschiedenen Gattungen auf, die im Isländischen geschrieben werden: lǫg ok áttvísi (»Gesetze und Genealogien«), þýðingar helgar (»biblische Exegese«), und in spakligu frœði (»das kluge Wissen«), wie es Ari Þorgilsson niedergeschrieben habe.17 Ari Þorgilsson inn fróði (»der Gelehrte«) ist der Verfasser der Íslendingabók (»Buch der Isländer«, wohl um 1125 verfasst), dem ältesten erhaltenen Geschichtswerk Islands.18 Ebenso wie die Landnámabók (»Buch der Landnahme«)19 entspricht dieses Werk zwar nicht den modernen Vorstellungen von Historiographie, zeigt aber sowohl das starke Interesse an der eigenen Geschichte als auch das im europäischen Vergleich gesehen außergewöhnliche Selbstbewusstsein, in der eigenen Landessprache anstelle von Latein zu schreiben.20 Der ›erste Grammatiker‹ berichtet noch nicht von niedergeschriebenen Sagas, und tatsächlich ist es umstritten, wann die Isländer begannen, solche zu verschriftlichen. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts dürfte die Aufzeichnung von Geschichte(n) in Prosaform begonnen haben.21 Das Wort saga (pl. sǫgur) leitet sich von an. segja (»sagen, erzählen, berichten«) her, und enthält zunächst keine Wertung darüber, ob das Gesagte wahr oder erfunden, historisch oder fiktiv, mündlich oder schriftlich ist. Als literarische Gattung meint der Begriff ›Saga‹ in einem weiten Verständnis erzählende Prosaliteratur, die in Island und Norwegen bis zur Reformation entstanden ist.22 Diese große Gattung wurde unterschiedlich untergliedert. Während Kurt Schier einen thematischen Ansatz verfolgt (und beispielsweise Königssagas, Isländersagas und Märchensagas unterscheidet),23 teilt Sigurður Nordal die Sagas aus einer zeitlichen Perspektive in Relation zu ihrer Entstehungszeit ein: Vorzeitsagas (dän. oldtidssagaer), Vergangenheitssagas (dän. fortidssagaer) und Gegenwartssagas (dän. samtidssagaer).24

15 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 46. 16 Vgl. The first Grammatical Treatise. 17 The first Grammatical Treatise, S. 208 (hier standardisiert wiedergegeben, dort als Transkription). 18 Vgl. bspw. Jakob Benediktsson 1993a. 19 Vgl. zur Landnámabók Sveinbjörn Rafnsson 2000 sowie Jakob Benediktsson 1993b. 20 Vgl. Würth 2005, S. 156–157. 21 Vgl. Sverrir Tómasson 2004, S. 98. 22 Vgl. Schier 1970, S. 2–5 sowie Sverrir Tómasson 2004. 23 Vgl. Schier 1970, S.  2–6. Schier unterscheidet zwischen einem engeren und weiteren Verständnis. Zur engeren Definition zählt er Isländersagas, Königssagas, Vorzeitsagas, Bischofssagas und die Sturlunga saga. Ihnen allen ist die Entstehungszeit zwischen der Mitte des 12. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gemein, hier werden keine Übersetzungen aufgenommen. Im weiteren Verständnis umfasst die Gattung auch die sog. Rittersagas, Märchensagas, Heiligensagas und die (pseudo-)historische Übersetzungsliteratur. 24 Vgl. Nordal 1953, S. 180–182.

6 

 1 Einführung

Das Herz der Gattung bilden in wissenschaftlichen Überblicken ebenso wie im Sprachgebrauch die Isländersagas. Da es sich – wie bei allen hier genannten Bezeichnungen – um eine künstliche Gattungseinteilung handelt, gibt es gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten am Rand der Gattung, während manche Texte unumstritten in ihrem Zentrum stehen. Diese Problematik geht mit der unsicheren Datierung vieler Sagas ebenso einher, wie mit unterschiedlichen Forschungsauffassungen zu ihrer Entstehung. Auch die hier behandelten Rechtstexte sind von diesen Schwierigkeiten betroffen, weshalb beide Quellengruppen hier zunächst vorgestellt werden sollen.

1.2.1 Isländersagas Im Folgenden werden Beispiele aus der berühmtesten Gattung der norrönen Prosa­ literatur herangezogen, den Isländersagas (isl. Íslendingasögur). Dieses Korpus umfasst ungefähr drei Dutzend längere Erzählungen in altwestnordischer Sprache. Hinzu kommen einige kürzere Prosatexte, die Íslendingaþættir. Die Protagonisten beider Textgruppen sind größtenteils Isländer der sogenannten Sagazeit (an. sǫguǫld), die von der Besiedelung Islands (ca. 870 n. Chr.) bis etwa in das Jahr 1030 n. Chr. reicht. Ihr Schauplatz ist fast immer Island, wenngleich viele Sagas in ihren Eingangskapiteln die Verhältnisse in Norwegen schildern, die zur Auswanderung der Protagonisten führen. Erzählt werden die Erlebnisse der ersten Siedler und ihrer Nachfahren, oft sind Konflikte und Fehden bestimmend für die Handlung. Innerhalb der Gattung macht Klaus Böldl verschiedene Schwerpunkte aus, wie etwa die ›biographische Saga‹, die sich am Lebensweg ihres Protagonisten entlang entfaltet oder die ›Bezirkschronik‹, die von den Ereignissen innerhalb einer bestimmten Region erzählt.25 Auch kann man Untergruppen anhand der Protagonisten einteilen, wie die ›Ächtersagas‹ oder ›Skaldensagas‹. In manchen dieser Texte spielen Diebstähle oder Raubüberfälle keine Rolle. Diese wurden zwar gesichtet, werden hier aber nicht weiter diskutiert.26

25 Vgl. Böldl 2011b, S. 200–201. Auch Clover 1982a teilt die Isländersagas in biographical und communal sagas ein. 26 Es handelt sich dabei um: Ævi Snorra goða, Auðunar þáttr vestfirzka, Bergbúa þáttr, Brandkrossa þáttr, Brands þáttr ǫrva, Draumr Þorsteins Síðu-Hallssonar, Finnboga saga ramma, Gísls þáttr Illuga­ sonar, Gunnars saga Keldugnúpsfífls, Gunnars þáttr Þiðrandabana, Halldórs þáttr Snorrasonar I, Halldórs þáttr Snorrasonar II, Hrafnkels saga Freysgoða, Hrafns þáttr Guðrúnarsonar, Hreiðars þáttr heimska, Odds þáttr Ófeigssonar, Ófeigs þáttr, Ǫgmundar þáttr dytts, Ǫlkofra þáttr, Orms þáttr Stórólfssonar, Sǫrla þáttr Brodd-Helgasonar, Stúfs þáttr, Þórarins þáttr Nefjulfssonar, Þórarins þáttr ofsa, Þorgríms þáttr Hallasonar, Þormóðar þáttr, Þorsteins draumr Síðu-Hallssonar, Þorsteins saga hvíta, Þorsteins þáttr Austfírðings, Þorsteins þáttr forvitna, Þorsteins þáttr Síðu-Hallssonar, Þorsteins þáttr sǫgufróða, Þorsteins þáttr stangarhǫggs, Þorvalds þáttr tasalda, Þorvarðar þáttr krákunefs, Valla-Ljóts saga, VǫðuBrands þáttr.



1.2 Quellen und Korpus 

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Viele Isländersagas zählen zu den kunstvollsten und bedeutendsten Werken der mittelalterlichen Literatur Europas, innerhalb derer ihr Stil einzigartig ist. Keiner dieser Texte ist in einer originalen Handschrift erhalten, was ihre Datierung erschwert. Insgesamt betrachtet wurden die meisten Isländersagas und -þættir im 13. und 14. Jahrhundert zu Pergament gebracht, also mehrere Jahrhunderte nach der Handlungszeit der Geschichten.27 Erhalten sind sie in Handschriften noch jüngeren Datums, die größtenteils aus dem 14. bis 16. Jahrhundert stammen. Bei den ältesten Handschriftenzeugnissen handelt es sich um Manuskripte bzw. Fragmente aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert.28 Nicht zuletzt der vermeintlich neutrale Stil der Isländersagas lud und lädt die Forschung dazu ein, über das Verhältnis von Geschichte und Wirklichkeit und den Wahrheitsgehalt der Geschichten zu diskutieren. Hinzu kommt die oft formelartige Einführung von Figuren – Maðr hét … (»Ein Mann hieß …«) – und die präzise Anbindung der Hauptfiguren sowie der Haupthandlung an die nordische Geschichte durch Genealogien ebenso wie durch extratextuelle zeitliche Marker wie den gerade regierenden norwegischen König, oder die genaue Auflistung der Generationen seit der Besiedelung Islands.29 Eng mit dieser Frage verbunden ist jene nach der Entstehung der Sagas, dem Verhältnis von mündlicher Überlieferung und literarischer Schöpfung. Dabei herrschte in der Forschung lange Zeit die Meinung vor, es handle sich um mündlich überlieferte Berichte aus der isländischen Sagazeit, deren Inhalt wahrheitsgemäß von den historischen Geschehnissen berichte. Auf die mündliche Tradierung sei eine Verschriftung gefolgt, die Sagas als historische Quellen fixiert habe. Dem jeweiligen Verfasser käme dabei in etwa die Rolle eines Schreibers zu.30 Dieser Sicht stellten die Vertreter der sogenannten ›Buchprosatheorie‹ Mitte des 20. Jahrhunderts die Meinung gegenüber, es handle sich bei den Isländersagas um literarische Produktionen kreativer Autoren, die rein fiktionale Erzählungen schufen.31 Inzwischen hat sich eine Art ›Kompromissvorstellung‹ durchgesetzt, welche die Isländersagas als fiktionale Schöpfungen ihrer

27 Vgl. zu diesem Abschnitt Schier 1970, S.  34–38, Vésteinn Ólason 2011, S.  19 sowie Böldl 2011b, S. 195. Neuere Überblicke zu den Isländersagas bieten Vésteinn Ólason 2005 und Böldl, Vollmer u. Zernack (Hrsg.) 2011b. 28 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 20. 29 Vgl. Ahola 2014, S. 26. 30 Diese als ›Freiprosatheorie‹ bezeichnete Sicht auf die Isländersagas herrschte insbesondere im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor und wurde von prominenten Altnordisten wie Finnur Jónsson und Andreas Heusler vertreten. Böldl sieht »die Wurzeln dieser Identifikation von Oralität und Historizität in der romantischen Volkstumsideologie« der Zeit (Böldl 2005, S. 53). Inzwischen findet sich kaum noch ein Vertreter dieser Vorstellung, auch wenn die Oralität der Isländersaga ein bedeutendes Forschungsthema geblieben ist (siehe beispielsweise Gísli Sigurðsson 2004). 31 Diese Ansicht wurde insbesondere von isländischen Forschern wie Einar Ól. Sveinsson und ­Sigurður Nordal verbreitet und fand in Deutschland Unterstützung durch Walter Baetke.

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 1 Einführung

Autoren ebenso würdigt, wie als Erinnerung an mündliche Erzählkunst, Stoffe und Figuren der Sagazeit. Böldl kommt beispielsweise zu dem Ergebnis: Die Isländersagas erinnern die Stoffe, aber auch die spezifischen mnemotechnischen und ästhe­ ti­schen Erzählverfahren einer oralen Stammeskultur im Medium einer avancierten Prosaliteratur. Diese ›Ungleichzeitigkeit‹ der verschiedenen Elemente, aus denen sich die Gattung konstituiert, hat wesentlichen Anteil an der Unbestimmtheit oder Vieldeutigkeit, die der Saga nun seit rund zweihundert Jahren ein lebhaftes Forschungsinteresse sichert.32

Die isländische Bezeichnung Íslendingasögur ist ebenso wie all ihre Übersetzungen – Sagas of the Icelanders bzw. Family sagas, Isländersagas, Sagas des Islandais, usw. – eine späte, von Philologen geschaffene Gattungsbezeichnung, die im Altnordischen nie verwendet wurde, und daher ebenso diskutiert werden kann wie das damit bezeichnete Korpus.33 Zur Schreibezeit der Sagas wurde keine der heute gebräuchlichen Einteilungen verwendet, erst in späterer Zeit weist die Ordnung mancher Sammelhandschriften auf ein entstehendes Gattungsbewusstsein hin.34 Der hier verwendete Begriff ›Isländersagas‹ kann also je nach Zeit und Wissenschaftler eine abweichende Menge von Texten bezeichnen. Dabei werden manche Sagas (wie die Egils saga Skalla-Grímssonar, die Laxdœla saga, oder die Brennu-Njáls saga) offenbar als Kern der Gattung betrachtet und fehlen in keinem Überblickswerk, während andere ›spätklassische Sagas‹35 und þættir eher selten berücksichtigt werden. Der Begriff þáttr (Pl. þættir) bezeichnet einen Strang eines Seils ebenso wie einen Abschnitt oder Teil einer Erzählung.36 Die meisten þættir sind im Kontext größerer Sagas bzw. Handschriften überliefert und können sowohl als kurze, selbstständige Erzählung interpretiert, als auch im größeren Erzählzusammenhang der Handschrift, in der sie enthalten sind, gesehen werden. Viele der hier besprochenen þættir entstammen beispielsweise der Großkompilation Flateyjarbók, die sich hauptsächlich den Biographien der beiden norwegischen Könige Óláfr Tryggvason und Óláfr Haraldsson widmet. Innerhalb der Handschrift fungieren die þættir als parallel einsetzende Erzählstränge, die erst später in den größeren Handlungszusammenhang einfließen.37 Viele dieser Texte berichten von der Begegnung eines Isländers mit dem norwegischen 32 Böldl 2005, S. 27. 33 Vgl. Andersson 2011 zur Genese des Begriffs und der Forschungsdiskussion. Gegen eine moderne Genreeinteilung insb. Lönnroth 1964, für eine Beibehaltung praktikabler ›Arbeitsbegriffe‹ bspw. ­Harris 1972. 34 Vgl. Schier 1970, S. 6. 35 Dieser Begriff meint spätdatierte Isländersagas, die mit einem größeren Anteil ›fantastischer Elemente‹ aufwarten und insgesamt als ›fiktionaler‹ wahrgenommen werden als ihre ›realistischeren‹ Gattungsmitglieder. In jüngerer Forschung wird der Begriff ebenso wie die Einteilung zunehmend angegriffen, vgl. O’Connor 2017 sowie Sävborg 2012. 36 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 766. 37 Im mittelalterlichen Gebrauch, beispielsweise in der Flateyjarbók, wird der Begriff þáttr funktional verwendet und meint keine Gattung. Siehe Würth 1991.



1.2 Quellen und Korpus 

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König und stehen daher sowohl den Isländer- als auch den Königssagas nahe.38 Es gibt keine klare Trennlinie zwischen einem ›längeren þáttr‹ und einer ›kürzeren Saga‹. Daher gibt es Texte, die mit beiden Begriffen angesprochen werden, wie beispielsweise die Erzählung von Ǫlkofri, die sowohl als Ǫlkofra þáttr als auch als Ǫlkofra saga bezeichnet wird.39 Das hier verwendete Korpus schließt sich einem ebenso gängigen wie weitem Verständnis an, indem sämtliche Sagas und þættir berücksichtig wurden, die in den Bänden 2 bis 14 der Reihe Íslenzk Fornrit gesammelt sind.40 Es finden sich darin Texte, die so große Unterschiede aufweisen, dass man deren gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Genre durchaus in Frage stellen kann.41 Einige Isländersagas stehen einander

38 Vgl. Schier 1970, S. 2. 39 Einen Überblick über die þættir geben Rowe u. Harris 2005. Obwohl die Forschung intensiv an der Klassifizierung dieser Erzählungen und der Aufteilung in verschiedene Gruppen gearbeitet hat, ist dieses Vorgehen umstritten. Welche þættir in einer Korpusarbeit im Zusammenhang mit den Isländersagas besprochen werden sollten, kann daher diskutiert werden. Gegen die Idee, die þættir als eigenständige mittelalterliche Kurzgeschichten zu verstehen, verwehrt sich etwa Ármann Jakobsson 2013a, der diese Unternehmung als Auswuchs isländischer Nationalromantik bespricht. Trotzdem ähneln die narrativen Strukturen vieler þættir den Isländersagas (oder zumindest einigen Episoden der Sagas) so stark, dass sie hier nicht unbeachtet bleiben sollten. Analog zu den Sagas wurde letztlich ein pragmatischer Zugang gewählt und der Einteilung der Reihe Íslenzk Fornrit gefolgt. Dementsprechend werden sämtliche þættir untersucht, die in den Bänden 2–14 zusammen mit Isländersagas enthalten sind. Einige andere þættir aus dem Zusammenhang der Königssagas werden zum Vergleich herangezogen, sofern sie interessante Diebstahlsfälle enthalten. 40 Die Reihe Íslenzk Fornrit wurde 1933 mit der von Sigurður Nordal edierten Egils saga SkallaGrímssonar begonnen und ist noch immer produktiv. Nordal war bis 1951 Herausgeber der Reihe und zählte wie seine Mitarbeiter Einar Ól. Sveinsson und Jón Jóhannesson zur sogenannten ›Isländischen Schule‹, die die Isländersagas als literarische Kunstwerke betrachteten, im Gegensatz zur vorher verbreiteten Ansicht, es handle sich (vor allem) um Geschichtsquellen (vgl. Ármann Jakobsson 2002a). Die ersten Jahre dieser Reihe sind damit nicht nur eng mit der sogenannten ›Buchprosatheorie‹ (siehe oben) verbunden, sondern fallen auch in die Zeit der isländischen Unabhängigkeit von Dänemark (1944), und einem erstarkenden isländischen Nationalgefühl (vgl. Byock 1992 sowie Jón Karl Helgason 1999, S.  119–153). Bei ihren Sagaeditionen handelt es sich um normalisierte Lese- und Arbeitsausgaben, die in der Altnordistik inzwischen weit verbreitet sind und den meisten aktuellen Übersetzungen zugrunde liegen. Somit hat die Reihe und die dort getroffene Textauswahl einiges zur Etablierung der Gattung ›Isländersagas‹ beigetragen. Den Einfluss der Editionsreihe bespricht bspw. Jón Karl Helgason 1999, S. 41–43 am Beispiel der Njáls saga. Im Folgenden werden ausschließlich die Íslenzk Fornrit Editionen verwendet, da größere narrative Zusammenhänge im Gesamtkorpus untersucht werden sollen. Dieses ist in anderen – für detailphilologische Studien unverzichtbaren – Editionsreihen wie den Editiones Arnamagnæanæ oder der Altnordischen Saga-Bibliothek nicht vollständig zugänglich. 41 Zu den in diesen Bänden versammelten Sagas nehme ich die Færeyinga saga hinzu, die bis auf den Schauplatz und die ›Nationalität‹ der handelnden Personen die Charakteristika der Isländersagas teilt und durch ihre frühe Entstehungszeit eine besondere Bedeutung für die Gattung hat. Hier schließe ich mich Schmidt 2018b, S. 727–728 und S. 55–57 an, der dafür plädiert, die Færeyinga saga im Kontext der Isländersagas zu lesen.

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 1 Einführung

dagegen offensichtlich sehr nahe, indem sie sich direkt aufeinander beziehen oder dieselben Figuren in ihnen auftreten – ein gewisser »organischer Zusammenhang«42 der Gattung ist also trotz allem deutlich spürbar. Auch stilistische und thematische Eigenheiten rechtfertigen die gemeinsame Untersuchung als eigenes Subgenre der altnordischen Prosaliteratur.43

1.2.2 Rechtstexte Wie die skandinavischen Sprachen wird auch das nordische Recht des Mittelalters in ostnordisches und westnordisches Recht eingeteilt, wobei das Recht Islands letzterer Gruppe angehört. Das Recht wurde im Norden lange Zeit nur mündlich tradiert und erst im 12. und 13. Jahrhundert schriftlich festgehalten.44 Da Island größtenteils von Norwegen aus besiedelt wurde, verwundert es nicht, dass in rechtlichen Fragen an die Gesetze der alten Heimat angeknüpft wurde. In der Íslendingabók wird berichtet, dass es Úlfljótr war, der zuerst eine Gesetzessammlung aus Norwegen nach Island brachte, die nach ihm Úlfljótslǫg genannt wurde.45 Diese erste Rechtssammlung wurde 930 vom Allthing angenommen, eine schriftliche Aufzeichnung ist aber nicht überliefert. 46 Da Island als ›Auswandererstaat‹ keinen König hatte, war die höchste Instanz altisländischer Rechtsprechung das Allthing. Es wurde im Jahr 930 eingerichtet und einmal jährlich in Þingvellir abgehalten.47 Hinzu kamen zwölf örtliche Thinge, die im ganzen Land tagten.48 Für die Gesetzgebung auf dem Allthing war die lǫgrétta zuständig, bestehend aus den Goden, anderen ausgewählten Männern, dem Gesetzessprecher sowie in christlicher Zeit den beiden isländischen Bischöfen. Als legislative Gewalt beschloss sie neue Gesetze und bekräftigte den Vortrag des Gesetzessprechers. Außerdem konnte die lǫgrétta Ausnahmen von geltendem Recht beschließen und Begnadigungen aussprechen.49 Frühe Berichte über die Bestimmungen des altisländischen Rechts sind in der Landnámabók (ab Anfang des 12.  Jhs.)50 sowie der Íslendingabók (um 1125)51 enthalten, jedoch erst in Handschriften des 13. Jahrhunderts überliefert. 52 Da sich das 42 Böldl 2011b, S. 195. 43 Erzähltechnische Charakteristika der Isländersagas werden in Kap. 1.4.2 und Kap. 4 besprochen. 44 Vgl. Strauch 2011, S. 3. 45 Vgl. Íslendingabók, S. 6–7. 46 Auch in manchen literarischen Texten wird auf den Inhalt dieser Gesetze eingegangen. Vgl. Strauch 2011, S. 217. 47 Vgl. Strauch 2011, S. 39. 48 Vgl. Strauch 2011, S. 39. 49 Vgl. Strauch 2011, S. 40. 50 Vgl. Jakob Benediktsson 1993b, S. 373–374. 51 Vgl. Jakob Benediktsson 1993a, S. 332–333. 52 Vgl. Strauch 2011, S. 216.



1.3 Zum Forschungsstand 

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geltende Recht auf Island seit der Annahme der Úlfljótslǫg stetig veränderte, beschloss das Allthing im Jahr 1117, das Recht schriftlich zu fixieren. Das so entstandene Recht, die Hafliðaskrá, wurde zum Gesetz erhoben, ist aber ebenfalls nicht überliefert.53 Die ältesten schriftlich erhaltenen Gesetze Islands sind in Kompilationen gesammelt, die allgemein als Grágás bezeichnet werden. Mit diesem Namen werden zwei Sammlungen bezeichnet, die Konungsbók (GKS 1157 fol.) und die Staðarhólsbók (AM 334 fol.), die wahrscheinlich auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen und in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschrieben wurden.54 Es handelt sich dabei eher um private Rechtssammlungen, die auch widersprüchliche Bestimmungen enthalten, als um Kodifikationen geltenden Rechts, als die man Gesetzesbücher im modernen Sinn verstehen würde.55 Die Grágás enthält Abschnitte zu sehr unterschiedlichen Lebens- und Rechtsbereichen, wodurch sie als »Kulturporträt […] den bäuerlichen Alltag hervortreten«56 lässt – ganz im Gegensatz zu den Isländersagas, die sich stärker auf ein gesellschaftlich höherstehendes Milieu konzentrieren.57 Nachdem Island 1262/64 in den Herrschaftsbereich der norwegischen Krone übergegangen war, wurden rasch neue Gesetzesbücher eingeführt, zuerst 1271 die sog. Járnsíða, gefolgt von der Jónsbók 1281. Diese neuen Gesetze waren an das norwegische Recht angepasst und installierten den König als oberste Exekutivgewalt.58 Vésteinn Ólason fasst die daraus resultierenden, tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen wie folgt zusammen: Die meisten Verbrechen waren nun nicht mehr Privatsache, sondern offizielle Straftaten, und die Blutrache wurde per Gesetz abgeschafft. Goden und Gesetzessprecher erübrigten sich, da ihre Aufgaben de facto in den Zuständigkeitsbereich des Königs fielen, der seine Stellvertreter damit betraute. Bis dahin hatten die Goden nach allgemeiner Ansicht im Auftrag der Bauern gehandelt, während sich der König als von Gott eingesetzt betrachtete.59

1.3 Zum Forschungsstand Den Verbrechen Diebstahl und Raub in der altnordischen Literatur wurde in der Forschungsdiskussion bisher überraschend wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht –

53 Vgl. Strauch 2011, S. 216. 54 Vgl. Naumann 1998, S. 569 sowie Strauch 2011, S. 235–236. Die Konungsbók wird allgemein als die ältere der beiden Sammlungen betrachtet, zur Datierung vgl. Dennis, Foote u. Perkins (Hrsg.) 1980–2000, S. 13. 55 Vgl. Strauch 2011, S. 235. 56 Naumann 1998, S. 570–571. 57 Vgl. Naumann 1998, S. 570–571. Zum Verhältnis von Rechtstext und literarischer Darstellung siehe Kap. 2.2.2. 58 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 38. 59 Vésteinn Ólason 2011, S. 38.

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 1 Einführung

und das sowohl von rechtshistorischer als auch von literaturwissenschaftlicher Seite. Dies verwundert umso mehr, als die in den 1990er Jahren ausführlich bearbeiteten Fehden der Isländersagas60 in hohem Maße von beiden Verbrechen beeinflusst sind. Auch Arbeiten zur Gesetzlosigkeit besprechen das Thema nur am Rande, zeigen aber, wie lohnend eine neue Beschäftigung mit Verbrechern in den Isländersagas sein kann. Anschließend an diese aktuellen Studien zu Geächteten61 wird hier eine bisher wenig beachtete Form der Kriminalität aufgegriffen. Auch umfangreiche Darstellungen des nordischen Rechts behandeln Eigentumsdelikte nur am Rande. Konrad Maurers ansonsten überaus detaillierte Vorlesungen über altnordische Rechtsgeschichte behandeln den Diebstahl nur innerhalb eines allgemeinen Kapitels und widmen der Rechtslage in Island lediglich vier Seiten.62 Auch in Andreas Heuslers Monographie Das Strafrecht der Isländersagas werden Raub und Diebstahl nicht gesondert behandelt, sondern im Zusammenhang mit Schadenszaubern erwähnt, nur ein Fall wird ausführlich kommentiert.63 Selbst Lúðvík Ingvarssons umfangreiches Werk zu Refsingar á Íslandi á þjóðveldistímanum bietet nur eine knappe Stellensammlung.64 Andere Forschungsdisziplinen haben Diebe und Räuber seit vielen Jahren als interessante Randfiguren für sich entdeckt, sodass ihnen einige kultur- und sozialhistorische Sammelbände und Monographien gewidmet wurden.65 Daneben existieren einige literatur- und sprachwissenschaftlichen Einzelstudien, die das Potential einer philologischen Beschäftigung mit Eigentumsdelikten aufzeigen.66 Der bisher ausführlichste Aufsatz zum Diebstahl in altnordischen Quellen stammt von Theodore M. Andersson (1984), obwohl dessen Titel »The Thief in Beowulf« dies kaum vermuten ließe.67 Andersson versucht, mit Hilfe des isländischen Materials eine unles-

60 Vgl. bspw. Miller 1990, Byock 1982 und Schroeter 1994. 61 Vgl. etwa Ahola 2009, Ahola 2014, Poilvez 2012, Poilvez 2016 sowie Merkelbach 2017b. 62 Vgl. Maurer 1910, S. 48–51. 63 Vgl. Heusler 1911, besprochen wird ein Diebstahl der Brennu-Njáls saga, S. 99–101. 64 Vgl. Lúðvík Ingvarsson 1970, S. 396–401. 65 Zu Dieben, Räubern und anderen Verbrechern im deutschen Raum vgl. etwa Schubert 2007 für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit und van Dülmen (Hrsg.) 1990 für das 16. bis 19. Jahrhundert. Aus europäischer Perspektive (ohne Skandinavien) für die frühe Neuzeit Jütte 2000, insb. S. 190–236. 66 Eine linguistische Beschäftigung mit dem »Lexical Field of Theft« im Altenglischen liefert etwa Schwyter 1996. Literatur- und kulturwissenschaftlich betrachtet Riess 2001 den Räuber in der römischen Gesellschaft und das Räuberbild des Apuleius. Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung des Diebes legte zuletzt Gehrlach 2016 vor, gefolgt von einem literatur- und kulturwissenschaftlichen Sammelband, Gehrlach u. Kimmich (Hrsg.) 2018. Dort wird ein sehr weiter Diebstahlsbegriff verfolgt, der beispielsweise auch Kolonialisierung und Landnahme im Allgemeinen einschließt. Eine solche Ausdehnung des Ansatzes ließe sich auch innerhalb der Skandinavistik diskutieren. Die Isländersagas geben jedoch keinen Anlass, ihre Landnahmeerzählungen als Diebstähle zu betrachten, weshalb dies hier nicht verfolgt werden soll. 67 Vgl. Andersson 1984.



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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bare Stelle im Vers 2223b des Beowulf zu erhellen, bei der mehrere Interpretationen möglich wären.68 Sein Exkurs zur altnordischen Literatur umfasst zwar nur neun Seiten, stellt jedoch eine wertvolle Diskussionsgrundlage dar, die über eine Stellensammlung hinausgeht, indem sie bei allen Fällen die Konnotationen des Diebstahls miteinbezieht und seine narrativen Funktionen anspricht. Der Raub (an. rán) spielt für Andersson keine Rolle, wird dafür aber häufig von Miller gestreift, der vor allem zur Fehde und sozialen Mechanismen in den Isländersagas forscht.69 Neuere Lexikonartikel konzentrieren sich vor allem auf die Rechtslage in den verschiedenen skandinavischen Ländern und sprechen die Erscheinungsformen von Diebstahl und Raub in der altisländischen Literatur nur am Rande an.70 Einzelne Erwähnungen von Diebstählen finden sich natürlich in Aufsätzen und Mo­ nographien zu einzelnen Sagas, die aber nie das Verbrechen als solches fokussieren.

1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik Die Schwierigkeit der Arbeit an einem Korpus vom Umfang der Isländersagas und -þættir lässt sich, wie so vieles, mit einem Ausspruch Johann Wolfgang von Goethes am besten schildern: Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht. Oft sieht man lange Jahre nicht, was reifere Kenntnis und Bildung an dem täglich vor uns liegenden Gegenstande erst gewähren läßt.71

Die Beschäftigung mit konkreten Themen und Motiven in den Isländersagas setzt natürlich zuerst die vollständige Lektüre der Gattung voraus. Diese umfasst in der hier getroffenen Korpusdefinition 84 Einzeltexte, die zum Teil recht kurz sind, zum Teil aber auch die Länge eines durchschnittlichen Romans übertreffen. Das Ziel der ersten Sichtung des Materials war es, einen Katalog sämtlicher Fälle von Diebstahl und Raub zu erstellen, um diesen im Anschluss auswerten zu können. Schon nach wenigen Sagas zeigte sich, dass dieses Vorgehen nicht praktikabel sein konnte. Nur die wenigsten in Frage kommenden Episoden geben die Verbrechen so eindeutig wieder, dass man sie nach juristischen Kriterien katalogisieren könnte, die Liste der Ausnahmen war schnell länger als jene der ›Normalfälle‹. Nicht nur liegt es in der

68 Vgl. Andersson 1984, S. 493–495. Lesbar ist nur der Wortanfang: þ… – vorgeschlagen wurden ae. þegn und ae. þeow, die sich vor allem durch den implizierten sozialen Status unterscheiden, Andersson sieht ae. þeof (»Dieb«) als dritte Möglichkeit. 69 Vgl. insbesondere Miller 1986b. Millers Thesen werden im Folgenden bei den jeweiligen Textbeispielen diskutiert. 70 Vgl. Daxelmüller 1984, Ehrhardt 1986, Ehrhardt 1995 und Moser-Rath 1981. 71 Goethe im Rahmen einer Abendgesellschaft am 24. April 1819, in: Korn (Hrsg.) 1910, S. 72.

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 1 Einführung

Natur des Diebstahls, möglichst schlecht wahrnehmbar zu sein, sondern auch in der Natur erzählender Literatur, Interpretationsspielräume offen zu halten. Gerade jene Fälle, die nicht mit einem Wort zu klassifizieren waren, erwiesen sich jedoch als besonders interessant. In einem zweiten Lektüreanlauf wurde daher der Versuch aufgegeben, eine juristische Unterscheidung zwischen Diebstahl und Raub an die Isländersagas heranzutragen. Stattdessen wurden fünf besonders umfangreiche und bekannte Vertreter der Gattung in dichten Lektüren so unvoreingenommen wie möglich auf ihren Umgang mit Eigentum hin befragt: Die Egils saga Skalla-Grímssonar, die Brennu-Njáls saga, die Laxdœla saga, die Grettis saga Ásmundarsonar und die Eyrbyggja saga. Alle Episoden dieser Sagas, die im weitesten Sinne als Eigentumsstreitigkeiten verstanden werden können, wurden gesammelt und vorläufig in thematische Gruppen wie ›Heimlichkeit‹, ›Erbstreitigkeit‹, ›Beutezug‹ usw. eingeteilt. Diese induktiv gewonnenen Kategorien wurden im Anschluss für die restlichen 79 Texte erprobt und dabei ständig erweitert und verfeinert. Mit ›reiferer Kenntnis und Bildung‹ begann ein weiterer Durchgang mit besonderem Blick auf erzähltechnische Besonderheiten und narrative Strukturen. Dieser zeigte die unbedingte Notwendigkeit der ständigen Relektüre der Isländersagas: Je besser man die Erzählkonventionen der Gattung kennt, umso häufiger stößt man auf Irritationen wie ›verschwundene‹ Gegenstände, ausbleibende Rückgaben oder vermisstes Vieh – solche Vorgänge sind leicht zu übersehen, können aber die gleichen Kausalketten wie Diebstähle nach sich ziehen und überraschende Wendungen bringen. Einige Sagas sind so vielschichtig und kunstvoll erzählt, dass sie im gesamten Schreibprozess zum ›täglich vor uns liegenden Gegenstande‹ wurden, und vermutlich trotzdem ›lange Jahre nicht‹ alle intra- wie intertextuellen Querverbindungen, Motivparallelen und Referenzen offenbart haben. Der hier verwendete Stellenkatalog ist daher so vollständig wie möglich, könnte aber durch Studien zu einzelnen Isländersagas sicher um neue Perspektiven ergänzt werden. Einen ähnlichen Prozess durchlief die Frage nach den literatur- und kulturwissenschaftlichen Theorien und Methoden, die für diese Untersuchung fruchtbar gemacht werden könnten. Am Anfang stand die Idee, einen Gedanken Millers als Ansatzpunkt zu verwenden, der den Raub (an. rán) als invertierten Gabentausch versteht: Rán, like gift exchange, admitted reciprocity and defined social relations. But it inverted the movement of property as against the duty to make return. It was now the prior possessor who owed a response, not the raider; and it was the raider who achieved social dominance from the transfer, not the prior possessor.72

72 Miller 1986b, S. 24 (Hervorhebung im Original).



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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Von diesem Verständnis des Raubes als umgekehrtes Schenken ausgehend, sollten Ansätze aus der Forschung zur Gabentheorie73 und zur Objektbiographie74 auf Fälle von Raub und Diebstahl in Isländersagas übertragen werden, um neue Verständnisperspektiven zur symbolischen Aufladung von Gegenständen, die durch mehrere Hände gegangen sind, anzubieten. Ebenso sollte mit Hilfe erzähltheoretischer Ansätze auf Diebe und Räuber als Figuren eingegangen werden, möglichst unter Einbeziehung ihrer Stellung im narrativen und sozialen Gefüge. Schnell zeigte sich auch hier, dass diese Ansätze zwar bestens als Ideengeber funktionieren, jedoch nicht im Stande sind, die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Verbrechen Diebstahl und Raub als Motive in den Isländersagas angemessen zu erschließen. Trägt man eine gefestigte theoretische Vorstellung an literarische Texte heran, birgt dies außerdem die Gefahr, nicht nur zu erblicken ›was man schon weiß und versteht‹, sondern vor allem das zu erblicken, was sich im Kontext der präferierten Theorie interpretieren lässt. Diese Problematik sieht auch Vésteinn Ólason, der fordert, man sollte sich den Isländersagas »[a]ufgrund ihrer Sonderstellung innerhalb der europäischen Literatur des Mittelalters […] nicht mit geliehenem, sondern nur mit Spezialwerkzeug nähern.«75 Hier wird daher der Versuch unternommen, ein solches ›Spezialwerkzeug‹ aus einer Kombination der erwähnten Theorien und verschiedener literaturwissenschaftlicher Ansätze zu entwickeln. Das Ziel dieser Herangehensweise ist es, die Texte selbst in den Vordergrund zu stellen und sie möglichst wenig durch juristische oder literaturtheoretische Kategorien zu beschränken. Um trotzdem einige größere Verständniszusammenhänge anbieten zu können, wird nach einem allgemeinen Überblick zur Vorstellungswelt der Isländersagas und dem Verhältnis von Gesellschaft, Gesetz und Geschichte (Kap. 2) das Korpus nicht Saga für Saga besprochen, sondern aus sechs verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: Zunächst wird auf die ›Semantik des Diebstahls‹ eingegangen, die im Mittelpunkt der bisher einzigen Studie zum Diebstahl in den Isländersagas steht und die Implikationen des Verbrechens umfasst (Kap.  3). Danach werden Besonderheiten in der Erzähltechnik der Diebstahlsepisoden besprochen, die sich besonders in der literarischen Inszenierung von Heimlichkeit und bei der Semantisierung von Diebesgut äußern (Kap. 4). Die narrativen Funktionen der Verbrechen bestehen vor allem in ihren Einsatzmöglichkeiten in der Exposition einer Erzählung zur Etablierung von Themen und Motiven und in ihrem handlungsauslösenden Potential (Kap.  5). Im Anschluss werden Diebe und Räuber als Figuren und Typen betrachtet, die sowohl als Antagonisten als auch als Protagonisten der Erzählung auftreten können (Kap. 6). Daran schließt sich eine Untersuchung der sozialen und narrativen Hierarchien an, die zeigen soll, wie entscheidend die Stellung der Figur im Machtgefüge einer Saga 73 Vgl. Mauss 2013, Godelier 1999 sowie einführend Därmann 2010. Siehe ausführlicher Kap. 1.4.1. 74 Vgl. beispielsweise Appadurai (Hrsg.) 1986, Gosden u. Marshall 1999 sowie Habermas 1996. 75 Vésteinn Ólason 2011, S. 232.

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 1 Einführung

bei Eigentumsdelikten ist (Kap. 7). Bevor ein Fazit gezogen wird, wird ein Ausblick auf Erbstreitigkeiten als verwandtes Phänomen gegeben (Kap. 8). Jedes dieser Kapitel nähert sich seinen Textbelegen aus einer anderen Perspektive und mit Hilfe unterschiedlicher Ansätze, die jeweils an ihrem Einsatzort erläutert werden. Nur wenige, besonders facettenreiche Episoden werden mehrfach besprochen, normalerweise wird jeder Diebstahl oder Raub unter seinem prägnantesten Aspekt untersucht. Auf andere Betrachtungsweisen oder Episoden derselben Saga wird stattdessen durch Querverweise hingewiesen. Ein an die Arbeit anschließendes Register ermöglicht das Auffinden aller besprochener Textstellen einer Saga. Da einige Überlegungen zur Gabentheorie und deren Bezug zum Raub und Diebstahl für die gesamte Arbeit als Ideengeber bedeutsam sind, wird hier ein kurzer Überblick dieser Konzepte vorangestellt. Ebenso grundlegend ist ihre primäre methodische Vorgehensweise, die Narratologie. Zwar mangelt es noch an einem allgemein anerkannten ›Spezialwerkzeug‹ zur Analyse der Isländersagas, eine »Entdeckungshilfe und ein Werkzeug der Beschreibung«76 epischer Texte lässt sich immerhin aus der Narratologie entleihen.

1.4.1 Geben und Rauben: Zur Bedeutung von Reziprozität Miller weist zur Illustration des Bedeutungsspektrums des rán darauf hin, dass es Parallelen zwischen rán und »more legitimate modes of transfer«77 gäbe. Er versteht den Raub als eine Art des Gütertransfers, die in ihrer Wirkungsweise der Gabe nahesteht. Beide Aktionen fordern eine Reaktion des Beschenkten oder Beraubten und definieren soziale Machtverhältnisse.78 Auch in der germanistischen Mediävistik wurden Raub und Gabe als verwandte Phänomene betrachtet. Heike Sahm bespricht den Raub im größeren Zusammenhang »reziproker Handlungskonstellationen«,79 die die Teilnehmer zur zeitlich verzögerten Reaktion auffordern: »Der Raub erfordert die Kompensation, so wie die Gabe die Gegengabe erfordert.«80 Während Miller in erster Linie an der gesellschaftlichen Funktion von Gabe und Raub interessiert ist, konzentriert Sahm ihre Überlegungen auf die narrative Funktion des Gütertausches in literarischen Texten:

76 Genette 2010, S. 172. 77 Miller 1990, S. 77. 78 Vgl. Miller 1990, S. 83 sowie Miller 1986b, S. 24. 79 Sahm 2014, S. 420. 80 Sahm 2014, S. 421. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Godelier 1999, S. 186: »Der Diebstahl ist das Gegenteil der Gabe. Aber hinter der Gabe und dem Diebstahl steht dieselbe Logik.« Da der Diebstahl durch seine Heimlichkeit eine entscheidende Komponente beinhaltet, die dem Geschenk normalerweise fehlt, beschränkt sich der Vergleich hier auf Gabe und Raub, die sich beide durch ihre Sichtbarkeit auszeichnen.



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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Wer ein Ding gibt oder nimmt, der erwartet oder riskiert eine auf das Ding bezogene Antwort. Beides, Geben oder Rauben, sind in erzählerischer Hinsicht gleichermaßen auf Reziprozität, auf Erwiderung hin angelegt, wenn man so will: auf Vergeltung im doppelten Wortsinn von ›vergelten‹ als ›rächen‹ oder ›zurückerstatten‹.81

Miller und Sahm sprechen damit zwei wichtige Aspekte der Gabe bzw. des Raubes in Erzähltexten an. Zum einen verknüpfen die beiden Motive mindestens zwei Figuren miteinander. Dabei stellen sie nicht nur eine anhaltende Verbindung her,82 sondern erhellen auch die Position der Figuren im sozialen und narrativen Gerüst. Gabe und Raub sind aktive Handlungen, die die ausführende Figur in eine machtvolle Position setzen. Gegengabe und Vergelten bieten der zuvor passiven Figur eine Reaktionsmöglichkeit, in der sie sich als ebenbürtig, unterlegen oder überlegen erweisen kann. Zum anderen diktieren Gaben- und Raubhandlungen ähnliche Handlungsmuster in Erzähltexten. Die minimale Abfolge der Ereignisse beinhaltet die Übergabe oder Entwendung des Dings und die aus Gegengabe oder Vergeltung bestehende Antwort. Variationen dieses Musters können viele verschiedene Erzählungen hervorbringen, wie etwa eine unangemessene Gabe, eine verzögerte oder ausbleibende Reaktion oder eine unangebrachte Vergeltung.83 Als Reaktion auf eine Entwendung stehen der Erzählung zwei Basismöglichkeiten zur Verfügung: Die Rückerstattung und die Bestrafung.84 Auch hier bieten sich zahlreiche Variationsmöglichkeiten, weshalb Eigentumsdelikte ein ähnlich großes narratives Potential wie Gabenhandlungen haben. Im Gegensatz zum Raub oder Diebstahl wird die Gabe in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen intensiv diskutiert, seitdem Marcel Mauss 1925 seinen einflussreichen Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques veröffentlichte.85 In Mauss’ Nachfolge entwickelte sich eine facettenreiche ›Gabentheorie‹,86 die den Funktionen des Schenkens in verschiedenen Kulturen nachspürt, wobei vormoderne Gesellschaften schon bei Mauss besondere Aufmerksamkeit erhielten. Dass Mauss seine sociétés archaïques (»archaischen Gesellschaften«) nicht zuletzt im alten Norden verortet, zeigt sich in seiner Einführung, der er acht auf Geschenke bezogene Strophen der Hávamál voranstellt: »Sie mögen dieser Arbeit als 81 Sahm 2014, S. 424. 82 Diese Funktion hat im Allgemeinen auch der Diebstahl, wie Gehrlach 2016, S. 17 feststellt: »Durch das Gestohlene und durch die Schuld des Verbrechens bleibt der Dieb in einer Verbindung mit dem Bestohlenen, er steht dauerhaft in einer ambivalenten Beziehung zu ihm.« 83 Vgl. Sahm 2014, S. 422–423. 84 Vgl. Sahm 2014, S. 423. 85 Maussʼ Essai erschien in deutscher Übersetzung zuerst 1968 unter dem Titel Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften und wird im Folgenden nach der aktuellen Auflage, Mauss 2013, zitiert. 86 Vgl. etwa Berking 1996, Godelier 1999 sowie Algazi, Groebner u. Jussen (Hrsg.) 2003. Vgl. ein­füh­ rend Därmann 2010, mit Blick auf narrative Funktionen in mittelalterlichen Texten Oswald 2004, aus dem Blickwinkel der germanischen Altertumskunde Schneider 1998, speziell im altnordischen Kontext Fichtner 1979, Gurevic 1992 sowie Miller 2014b.

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 1 Einführung

Motto dienen, denn sie versetzen den Leser unmittelbar in jenen Bereich von Vorstellungen und Tatsachen, in dem unsere Beweisführung sich bewegen wird.«87 Der dritte für diese Arbeit wichtige Aspekt der Gabe und des Raubes ist die von Mauss geprägte Vorstellung, ein Gegenstand könnte nach der Weitergabe etwas von seinem ursprünglichen Besitzer behalten.88 Mauss erläutert diese Vorstellung vom »Geist der gegebenen Sache«89 anhand eines Konzepts, das er unter den Maori vorfand und das dort als hau bezeichnet wird: Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Gegenstand verpflichtet, kommt daher, daß die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgetreten hat, ist sie noch ein Stück von ihm. […] Denn das taonga [der Gegenstand] ist vom hau seines Waldes, seines Ackerlandes, seines Heimatbodens beseelt; und das hau verfolgt jeden, der es innehat.90

Natürlich lässt sich der Maori-Begriff hau, der zum Schlagwort innerhalb der Gabentheorie geworden ist, nicht problemlos auf die Isländersagas übertragen. Dem Konzept wohnt die Vorstellung inne, das hau eines Gegenstandes bewirke, dass der Gegenstand oder ein Substitut zum ursprünglichen Schenker zurückkehren möchte. Dies ist in den Isländersagas nicht der Fall, wie auch Miller feststellt: A ›naut‹-gift is not going to come back home, despite all the anthropological writing on the Maori hau […]. The spirit imbuing other objects, a gift of more moveable property for instance, is willing to settle for some kind of equivalent return.91

Und doch gesteht auch Miller den geschenkten Gegenständen zu, dass ihnen etwas Spezielles innewohne, das durch ihre Benennung greifbar wird: »They may not be exactly imbued with the soul of the giver but they bear his name or title whether gifted down the line or not.«92 Auch hier gibt es Ausnahmen. Der Name des Geschenks kann sich ändern, und muss nicht wie das hau vom ursprünglichen Besitzer abhängen. Der scharlachrote Mantel der Gunnlaugs saga ormstungu, den Gunnlaugr zunächst vom englischen König Aðalráðr als Dichterlohn erhält, trägt beispielsweise bei der Weitergabe an Gunnlaugrs Geliebte Helga noch den Namen des Königs: [O]k þá gaf Gunnlaugr Helgu skikkjuna Aðalráðsnaut, ok var þat gersimi sem mest.93 Als am Ende der Saga von Helgas beson-

87 Mauss 2013, S. 15. 88 Eine kürzere Version dieser Ausführungen zum Wesen eines geschenkten Gegenstandes in den Isländersagas findet sich in Hahn 2018, S. 89–92. 89 Vgl. Mauss 2013, S. 31—36. 90 Mauss 2013, S. 33—34 (Hervorhebung im Original). 91 Miller 2014b, S. 108. 92 Miller 2014b, S. 108. 93 Gun 11, S. 90 (eigene Hervorhebung); »Und da schenkte Gunnlaugr Helga den Mantel Aðalráðrsgabe, und das war eine große Kostbarkeit.«



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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derer Beziehung zu diesem Kleidungsstück berichtet wird, wird der Mantel zweimal nach seinem neuen Geber benannt. Zuerst heißt es: Þat var helzt gaman Helgu, at hon rekði skikkjuna Gunnlaugsnaut ok horfði þar á lǫngum,94 und als sie im Sterben liegt, wird berichtet: [O]k lét senda eftir skikkjunni Gunnlaugsnaut.95 In dieser Passage ist es nicht König Aðalráðr, dessen Geist für Helga in diesem Mantel greifbar wird, sondern Gunnlaugr – von dem sie das Geschenk empfangen hat. Obwohl sich das von Mauss etablierte Maori-Vokabular daher nur mit Einschränkungen auf die Isländersagas übertragen lässt,96 sensibilisiert es für einige Besonderheiten der Gegenstände: Die Geschenke tragen besonders häufig Namen, die auf ihren Geber verweisen (Konungsnautr, Gunnlaugsnautr, usw.), und haben innerhalb der Erzählung eine starke symbolische Bedeutung, die jedoch nicht an den Ursprungsbesitzer gebunden ist. Der dem Gegenstand innewohnende ›Geist‹ ist in den Isländersagas veränderlich und nicht auf Geschenke beschränkt – auch Erbstücken, Diebesgut und besonderen Gegenständen wie Talismanen kann ein solcher ›Geist‹ innewohnen.97 Innerhalb der Erzählung funktionieren entwendete oder geschenkte Dinge aber nicht nur als Symbole, wie Sahm auch für die mittelhochdeutsche Epik festhält: Geben und Rauben stellen indes solche Handlungszusammenhänge her, die durch ein je spezifisches Zusammenspiel von Figuren und Dingen charakterisiert sind, wobei Figur und Ding im Verbund – eben als Aktanten im Sinne Latours – Geschehenskonstellationen evozieren. Ein Ding kann man vielleicht aus der Welt schaffen, indem man es vergisst, verstaut oder versteckt, eine Gabe wird man nicht so einfach wieder los.98

Geschenke und Raubgut bieten sich daher als jene ›besonderen‹ Dinge an, die in der mediävistischen Germanistik unter dem Schlagwort der ›Dingtheorie‹ als mögliche Aktanten und Träger von Handlungsmacht diskutiert werden. Andreas Hammer fasst für diesen Ansatz zusammen, es gehe dabei »weniger um das Konzept der Dingbeseelung«99 und den konkreten Status des Objekts als Aktant, sondern gerade um die Fähigkeit von Literatur, Grauzonen zu erschaffen, in denen sich der Gegensatz zwi-

94 Gun 13, S. 106–107 (eigene Hervorhebung); »Es war Helgas größte Freude, den Mantel Gunnlaugrsgabe über sich auszubreiten und ihn lange anzusehen.« 95 Gun 13, S. 107 (eigene Hervorhebung); »Und sie ließ nach dem Mantel Gunnlaugrsgabe schicken.« 96 Eine ähnliche manaistische Vorstellung sieht allerdings bereits Gehl 1939, S.  64—65 in der altnordischen Literatur: »Gæfa/gipta ist ein ganz bestimmtes angeborenes megin (›Mana‹) einer Person, das Sichtbar- und Wirksamwerden der sie erfüllenden geheimnisvollen Kräfte. Dieser manaistischen Vorstellung entspricht es, daß man dieses Glück übertragen, in eine andere Person hineinlegen kann, eine Vorstellung, die bei allen diesen Wörtern begegnet« (Hervorhebungen im Original). 97 Vgl. zu Talismanen, Erbstücken und Königsgeschenken Hahn 2018 sowie zum Diebesgut Kap. 4.2. 98 Sahm 2014, S. 426–427. Zum Ding als Aktant im Sinne Latours siehe Kap. 4.2. Sahm weist in einer Fußnote (Fn. 28) auf einen geschenkten Ring in der Brennu-Njáls saga hin, der nicht verborgen werden kann, und schließt die Isländersagas damit in ihre Überlegungen ein. 99 Hammer 2018, S. 115.

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 1 Einführung

schen Subjekt und Objekt aufzulösen beginnt, »indem bestimmte Zuschreibungen, Handlungskompetenzen etc. nicht auf Menschen […], sondern auf Dinge übertragen werden.«100 Dieser Forschungsansatz wird in Kap. 4.2 (›Diebesgut und Handlungsmacht‹) vertieft, die sozialen und narrativen Funktionen der Reziprozität sind darüber hinaus für viele der im Folgenden besprochenen Episoden bedeutsam.

1.4.2 Zur narratologischen Textanalyse der Isländersagas Auch wenn die Isländersagas immer wieder zum Gegenstand einer Debatte um Historizität und Literarizität werden, sind sie zweifelsfrei Erzählungen. Schon das Ordnen und Verknüpfen von Ereignissen formt aus einer Reihe von Gegebenheiten eine Geschichte. Selbst wenn das Erzählen so neutral wie möglich geschieht, beinhaltet es immer eine erste Wertung und Interpretation des Geschehens. Der Rezipient auf der anderen Seite des Prozesses nähert sich einer Erzählung mit besonderen Vorerwartungen. So unterstellt man beispielsweise eine gewisse Ökonomie der Darstellung und geht davon aus, dass Informationen im Text bedeutsam sind: Im Alltag sind Wiederholungen unvermeidlich und häufig bedeutungslos, in einem literarischen Werk werden sie als markant wahrgenommen.101 Selbst faktuale Erzählungen gehorchen bestimmten Gesetzmäßigkeiten und beinhalten Strukturen und Elemente, für die die Erzähltheorie (oder: Narratologie) ein stetig wachsendes Repertoire an Beschreibungsmöglichkeiten herausbildet.102 Das Ziel der Narratologie ist eine methodisch geregelte Beschreibung von Erzähltexten.

100 Hammer 2018, S. 115. 101 Vgl. allgemein Meister 2016c, insb. S. 6. 102 Da viele gute und aktuelle Übersichten zur Geschichte der Narratologie vorliegen (wie etwa Aumüller u. Burghardt 2016 oder Köppe u. Kindt 2014, S.  15–23), wird hier auf einen historischen Abriss verzichtet. Erwähnt seien lediglich einige für die Altnordistik und diese Arbeit einflussreichen Studien. Die erste strukturalistische Analyse der Isländersagas legte Andersson 1967 vor. Wie viele andere strukturalistische ›Story-Grammatiken‹ steht sein einflussreiches Schema des Handlungsablaufs vieler Isländersagas in der Nachfolge von Propp 1972 [1928], Die Morphologie des Märchens. Auf Propp reagierten viele Studien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die das Vokabular einzelner Sprachen bis heute prägen. Für Deutschland ist insbesondere Franz K. Stanzel 1979 zu nennen, dessen drei Erzählsituationen (Ich-Erzählsituation, auktoriale Erzählsituation, personale Erzählsituation) noch immer in Schulen gelehrt werden und somit in viele deutsche Studien Eingang gefunden haben. Für den internationalen Diskurs waren französischsprachige Forscher der 1970er und 1980er Jahre tonangebend, wie Tzvetan Todorov, der als Erster die Notwendigkeit einer neuen Disziplin postulierte und sie ›Narratologie‹ nannte. Das bis heute einflussreichste Standardwerk der Narratologie stellt Gérard Genettes Discours du récit (franz. 1972, hier zitiert nach Genette 2010) dar. In seiner Nachfolge etablierte sich eine stete Diskussion seiner Konzepte und Termini, zudem wurden viele neue Ansätze diskutiert, die das narratologische Vokabular weiter ausdifferenzieren. Zur altnordistischen Auseinandersetzung mit strukturalistischen und narratologischen Ansätzen vgl. Glauser 1989 und zuletzt Ármann Jakobsson 2017.



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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Sie selbst liefert keine Interpretation und ist daher mit vielen theoretischen Ansätzen kombinierbar. Trotzdem ist sie kein Selbstzweck: Sie ist vielmehr eine Heuristik, eine Methode des kontrollierten Beschreibens und Befragens, die eine verlässliche Grundlage legen will für das, was nach wie vor als Kerngeschäft aller Philologien gelten kann – die Deutung von Texten, also Hermeneutik.103

Da innerhalb der narratologischen Forschungsliteratur (und sogar im Vergleich verschiedener Einführungswerke) zentrale Begriffe unterschiedlich verwendet werden, wird hier kurz auf das in dieser Arbeit verwendete Vokabular eingegangen, das größtenteils der von Genette etablierten Terminologie folgt.104 Begrifflichkeiten, die nur in speziellen Kapiteln Anwendung finden, werden vor ihrer Verwendung gesondert definiert. Auch hier soll die Vorstellung narratologischer Grundbegriffe kein ›Selbstzweck‹ bleiben, sondern im Bezug zur Erzählweise der Isländersagas erfolgen und nur soweit vertieft werden, wie es für diese Texte relevant ist. Zu den Grundsätzen der Erzähltheorie gehört, dass der Gegenstand der Untersuchung ausschließlich aus dem besteht, was im Text sprachlich ausgedrückt, oder zumindest logisch impliziert wird. Da diese Definition weder den realen Autor noch den realen Leser einschließt, wird ein ›Erzähler‹ als Sprecherinstanz betrachtet, der sich an einen ›Adressaten‹ wendet. Wird im Rahmen dieser Arbeit ein Erzähler oder Rezipient bemüht, sind damit diese Instanzen gemeint, nie der reale Produzent oder Leser des Textes. Grundlegend ist außerdem die Unterscheidung zwischen der Handlungsebene (›Was wird erzählt?‹) und der Erzählebene (›Wie wird erzählt?‹). Hier gibt es mehrere Begriffspaare, die auf verschiedene narratologische Forschungstraditionen verweisen. Dominant sind dabei die französische Unterscheidung zwischen ›histoire vs. discours‹ und das englischsprachige ›story vs. plot‹. Hier wird auf das eingedeutschte, aber mehrdeutige ›Geschichte vs. Diskurs‹ verzichtet, zugunsten von ›Handlungsebene vs. Erzählebene‹ bzw. ›intra- und extradiegetisch‹. Das Verhältnis zwischen Erzähler und erzählter Welt wird vor allem durch seine An- oder Abwesenheit als Figur in der Geschichte definiert. Für die verschiedenen Ausprägungen dieses Verhältnisses kennt die Narratologie ein umfangreiches Vokabular, das hier nicht weiter von Belang ist: Kein Erzähler einer Isländersaga tritt als Figur innerhalb der Erzählung auf oder wird anderweitig klar inszeniert. Im narratologischen Vokabular gesprochen handelt es sich durchgängig um implizite, extra- und hetero103 Lahn u. Meister 2016, S. xi (Hervorhebung im Original). 104 Vgl. Genette 2010. Zwei Überblickswerke waren stete Begleiter dieser Arbeit: Zum einen die Einführung in die Erzähltextanalyse von Lahn u. Meister (Hrsg.) 2016, deren Herausgeber in der Hamburger »Forschungsgruppe zur Narratologie (FGN)« der Deutschen Forschungsgemeinschaft aktiv waren, aus der auch das digitale Living Handbook of Narratology (vgl. www.lhn.uni-hamburg.de) hervorgegangen ist. Zum anderen die Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive von Armin Schulz 2015, in der narratologische Grundbegriffe auf ihre Anwendbarkeit für mittelalterliche Erzählungen hin diskutiert werden.

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 1 Einführung

diegetische Erzähler.105 Nur selten gibt es Figuren, die selbst eine kurze Geschichte erzählen und somit als Erzähler einer Binnenerzählung betrachtet werden könnten. Trotz seiner zurückgezogenen Position ist der Erzähler in den Isländersagas von entscheidender Bedeutung für viele Fragen, die mit dem ›Wie?‹ des Erzählens zusammenhängen. Zum einen fragt man sich natürlich, was der Erzähler weiß und aus welcher Perspektive er seine Geschichte erzählt. Obwohl die Erzähler der Isländersagas das Geschehen meist scheinbar deskriptiv wiedergeben, wenden sie sich doch immer wieder mit kurzen Erklärungen oder Wertungen an ihr Publikum: Sie sind deutlich präsent, wenn auch nicht klar konturiert.106 Auch nehmen die Erzähler verschiedene Perspektiven ein, die von einer allwissenden ›Übersicht‹ des gesamten Geschehens bis zur Beschränkung auf die Wahrnehmung einer einzelnen Figur reichen. Diesem Phänomen nähert sich Genette mit Hilfe der sogenannten ›Fokalisierung‹, die das Verhältnis zwischen dem Wissen des Erzählers und seinen Figuren beschreibt und mit der Frage ›Wer nimmt wahr?‹ verbunden wird. Bei der ›Nullfokalisierung‹ ist das Wissen des Erzählers völlig von der Wahrnehmung seiner Figuren entkoppelt – er weiß mehr, als jede seiner Figuren und kann sowohl in deren Inneres blicken als auch über das Geschehen an verschiedenen Handlungsorten informiert sein. Ist ein Erzählabschnitt extern fokalisiert, weiß der Erzähler weniger als seine Figuren und berichtet nur, was von außen wahrnehmbar ist (›Außensicht‹), ohne auf die Gefühle und Gedanken der Figuren einzugehen. Bei der internen Fokalisierung (der ›Mitsicht‹) ist sein Wissen dagegen an eine bestimmte Figur gebunden, die als Wahrnehmungsinstanz fungiert. Dabei kann die Fokalisierung sowohl von einer Figur zur anderen als auch beliebig zwischen den drei Formen wechseln.107 In den Isländersagas wird die Frage nach der Fokalisierung beispielsweise interessant, wenn von übernatürlichen Ereignissen berichtet wird oder Unsicherheiten über den Hergang des Geschehens vermittelt werden sollen. Berichtet der Erzähler nullfokalisiert, verleiht er der Aussage seine volle Autorität, verwendet er aber eine interne Fokalisierung, bleibt die Möglichkeit bestehen, dass eine Figur zwar etwas wahrnimmt, sich das Geschehen

105 Auch hier existieren verschiedene Begriffspaare wie ›implizit vs. explizit‹, ›hetero- vs. homodiegetisch‹, und für das Verhältnis des Erzählers zu den Erzählebenen die drei Kategorien ›extra-, intraund metadiegetisch‹. Eine Übersicht bietet Lahn 2016a, S. 74. 106 Es wäre möglich, dass die zurückgezogenen Erzähler der Sagas mit ihrer ursprünglichen Rezeptionsform zusammenhängen: In einem mündlichen Vortrag – ob frei erzählt oder vorgelesen – kann die Stimme der erzählenden oder lesenden Person die Stimme des Erzählers übernehmen, ohne, dass das Publikum zwischen der ursprünglichen Erzählinstanz und dem Sprecher unterscheiden wird. Florian Kragl wählte in seinem Vortrag »Autor und Erzähler im Mittelalter – eine theoretische Skizze« (26. 9. 2016, 25. Deutscher Germanistentag 2016 in Bayreuth) den treffenden Vergleich des Hörbuchs: Während ein moderner Leser bei der Lektüre eines Romans den Erzähler der Geschichte mitdenkt, verschwimmt dieses Konzept beim Hörbuch: Hier nimmt der Rezipient automatisch an, die Stimme des Sprechers sei deckungsgleich mit der Stimme des Erzählers. 107 Vgl. Meister 2016a, S. 114–120. Für die Isländersagas wurde dieses Phänomen von Heinrichs 1974 unter dem Begriff der »Perspektivität« untersucht.



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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aber tatsächlich anders abgespielt hat. So kann etwa impliziert werden, »that supernatural phenomena exist only in the minds of those who experience them«,108 oder das Erzählte aus anderen Gründen destabilisiert wird.109 Neben der Perspektive bildet die Darstellung der Zeit eine wichtige Kategorie der discours-orientierten Erzähltextanalyse. Das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit, also zwischen jener Zeitspanne, die auf der Handlungsebene dargestellt wird und der Zeit, die es benötigt, die Geschichte zu erzählen, wird dabei meist nach den drei Kategorien ›Ordnung‹, ›Dauer‹ und ›Frequenz‹ untersucht. Hinsichtlich Dauer und Frequenz weisen die Isländersagas keine Besonderheiten auf, ebenso können sie alle gängigen Formen der erzählerischen Zeitmanipulation verwenden. Dies wird in Kap. 4.1 ausführlich betrachtet.110 Die Isländersagas erzählen fast ausschließlich chronologisch, dem ordo naturalis folgend.111 Weder werden Rückschauen vorgenommen, noch wird Zukünftiges vom Erzähler vorweggenommen. Vorausschau wird fast ausschließlich auf der Handlungsebene betrieben, indem Figuren beispielsweise hellsichtige Träume haben oder Prophezeiungen aussprechen. Zusätzlich findet sich in der Sagaliteratur eine proleptische Erzähltechnik, die modernen Erzählungen zumeist fremd ist: Episoden und Handlungsstränge, die scheinbar nicht mit der Haupthandlung interagieren, können auf Konstellationen verweisen, die im Folgenden bedeutsam werden. Diese Handlungsstränge setzen zuerst unabhängig vom bisherigen Geschehen ein, indem beispielsweise neue Figuren eingeführt werden, und verschränken sich erst später mit dem zentralen Geschehen.112 Auch Motive und Figurenkonstellationen können auf diese Weise antizipiert werden, weshalb diese Technik für die gesamte Kohärenzbildung der Isländersagas Gewicht hat. Carol Clover prägte hierfür den Begriff »entailment«: Things are related not directly but circumstantially by a process that may be termed entailment: a given particular contributes not immediately to the main plot, but to another particular, which in turn contributes to one beyond that – and so on, until the narrowing sequence arrives at the central action of the story.113

108 McTurk 1992, S. 44. 109 Neben der Fokalisierung finden sich noch einige andere Methoden zur Destabilisierung des Erzählten in den Isländersagas, wie die räumliche oder zeitliche Entrückung des Geschehens oder Auslagerungsformeln wie »einige Leute sagen, dass …«, vgl. hierzu Kap. 4.1.1. 110 Zur Zeitgestaltung der Isländersagas siehe auch van den Toorn 1961, Röhn 1976 sowie Vésteinn Ólason 2011, S. 102–105. 111 Zur Unterscheidung zwischen ordo naturalis und ordo artificialis siehe Lahn 2016b, S. 147–148. 112 Diese Technik ähnelt dem zuvor angesprochenen Einsatz der þættir in Handschriften wie der Flateyjarbók: Ein neuer Handlungsstrang mit einem neuen Protagonisten setzt ein und kreuzt sich erst im Laufe der Erzählung mit der Biographie des jeweiligen Königs, von der die Saga eigentlich handelt. Zur Bedeutung kürzerer Erzählabschnitte für die Entstehung einer Saga siehe Clover 1986b, S. 30–39. 113 Clover 1989, S. 288–289. Ausführlicher wird diese Technik in Clover 1982b besprochen, dort geht sie auch auf andere kompositorische Charakteristika der Isländersagas ein und stellt diese in einen europäischen Kontext.

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 1 Einführung

Clover führt weiter aus, dass der Wert dieser parallelen Handlungsstränge weniger im Vorantreiben der Haupthandlung liege, sondern in ihrem »reflexive or anticipatory value. The idea of natural order is violated regularly and deliberately in the interweaving of stories.«114 Diese Technik zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Handlungsund Erzählebene mit Blick auf die Isländersagas nicht so trennscharf ist, wie es die am modernen Roman geschulte Narratologie nahelegen würde.115 Um das ›Was?‹ der erzählten Welt zu beschreiben, werden traditionell die Begriffe ›Thema‹, ›Stoff‹ und ›Motiv‹ verwendet. Das ›Thema‹ einer Erzählung ist das die Gesamtstruktur des Erzähltextes organisierende Problem. Als ›Stoff‹ wird das Geschehen einer Erzählung hinsichtlich Figurenkonstellation, Schauplatz, Verlauf und Ausgang bezeichnet. Dabei kann es sich sowohl um eine Neuschöpfung als auch um eine Wiedererzählung handeln (wie etwa beim Nibelungenstoff). Der Begriff ›Motiv‹ wird hier in einem engeren Sinn verwendet, für »intertextuell verfügbare Handlungskerne im Sinne von strukturellen Konfigurationen auf der Ebene der histoire.«116 Die inhaltliche Ausgestaltung eines Motivs kann variieren, es handelt sich jedoch immer um eine konkrete semantische Einheit. Diese kann sowohl an eine Figur geknüpft sein (wie etwa ›der gerechte Räuber‹), als auch an ein Handlungsmuster, wie beim heimlichen Diebstahl.117 Die verschiedenen Elemente und Ereignisse einer Handlung können auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft werden, hier spricht man von der ›Motivierung‹ des Geschehens. Unterschieden wird zwischen kausaler, finaler und kompositorischer Motivierung, was in Kap. 5 ausführlich vorgestellt und für die Isländersagas untersucht wird.118 Innerhalb der erzählten Welt sind es insbesondere die Figuren, die als Handlungsträger fungieren, diese werden im Bezug zu den Verbrechen Diebstahl und Raub in Kap. 6 näher betrachtet. Zunehmend rücken neben den Figuren auch die Dinge in den Fokus der literaturwissenschaftlichen Analyse, diese werden in Kap. 4.2 114 Clover 1989, S. 290. 115 Eine ähnliche Erfahrung, »daß das methodische Besteck der Narratologie […] schon recht bald ziemlich stumpf wird, wenn man es zur Analyse mittelalterlicher Erzähltexte heranzieht«, beschreibt Schulz 2015, S. 1 im mediävistisch-germanistischen Kontext. Nicht nur sein Einführungswerk versucht, dieses Werkzeug für mittelalterliche Texte zu schärfen, unter dem Schlagwort der Historischen Narratologie wird interdisziplinär an diesem Projekt gearbeitet, vgl. bspw. Haferland u. Meyer (Hrsg.) 2010. Leider hat die Sagaforschung bisher wenig Anteil an der Unternehmung, wenngleich auf die Publikationen des Netzwerks Medieval Narratology der Deutschen Forschungsgemeinschaft (vgl. www.medieval-narratology.de) zu hoffen ist, welches unter skandinavistischer Beteiligung durchgeführt und 2017 zum Abschluss gebracht wurde. 116 Schulz 2015, S. 122. 117 Zu Stoff, Thema und Motiv vgl. Hühn 2016 sowie Schulz 2015, S. 122–123. Diebstahl und Raub können nicht pauschal als ›Motiv‹ oder gar ›Thema‹ bezeichnet werden. In erster Linie handelt es sich bei diesen Verbrechen um Ereignisse, die je nach Kontext als Motiv funktionieren können, oder zum Thema der Erzählung oder zur Motivierung beitragen. 118 Zur Handlungsfolge und Struktur von Erzählungen und verschiedenen Untersuchungsaspekten siehe beispielsweise Meister 2016b.



1.4 Herangehensweise, Aufbau und Methodik 

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besprochen. Einen weiteren Schwerpunkt bei der Analyse der histoire stellt der Raum dar. Dieser wird hier vor allem dann interessant, wenn Island als narrativer Raum mit einem anderen Raum wie etwa Norwegen kontrastiert wird, in welchem andere Gesetzmäßigkeiten vorherrschen. Der hier skizzierte Überblick orientiert sich wie eingangs bemerkt stark an der von Genette geprägten Terminologie und versteht die narratologische Textanalyse als »eine textimmanente Methode zur Untersuchung narrativer Darstellungsverfahren und Erzählstrategien.«119 Auf eine Diskussion der dahinterliegenden Erzähltheorie(n) wurde ebenso verzichtet wie auf die Unterscheidung zwischen ›klassischer‹ Narratologie und ›post-klassischer‹ Narratologie, da selbst diese in neuerer Forschung vom Ruf nach neuen ›Narratologien‹ eingeholt und zunehmend ausdifferenziert wird.120 Ein komplexer theoretischer Ansatz wäre weder in der gebotenen Tiefe auf die vielen Textbeispiele des Gesamtkorpus der Isländersagas anwendbar, noch stünde er im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Dieses liegt weder im Wesen des Erzählens als solchem noch in der Kombination von Erzähltheorie und kultur- oder literaturwissenschaftlicher Theorien. Stattdessen wird die hier vorgestellte Methode als Hilfsmittel der Erzähltextanalyse angewendet, um Eigenheiten und Prinzipien der Narration aufzudecken. In Ermangelung eines etablierten methodischen ›Spezialwerkzeugs‹ müssen Analysen einzelner Sagas, Motive oder Themen versuchen, ›Prototypen‹ zu diesem Werkzeugkasten beizusteuern,121 der nicht nur für die, sondern anhand der Analyse der Isländersagas befüllt werden sollte.122

119 Sommer 2010, S. 95. 120 Schon Anfang des Jahrtausends hatten Nünning u. Nünning 2002 Schwierigkeiten, sämtliche Kombinationen und Strömungen der Narratologie zu kategorisieren. Das Erzählen als solches ist seither weit über die Literaturwissenschaft hinaus in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, in den Sozial- und Kulturwissenschaften wird gar der narrative turn beschworen (vgl. Köppe u. Kindt 2014, S. 21). Zum homo narrans und der allgemeinen (und allumfassenden) Bedeutung des Erzählens vgl. etwa Koschorke 2013, S. 9–19. 121 Zur Metapher des Werkzeugkastens in der Narratologie vgl. Sommer 2010, S. 95–96. 122 Tiefgehende Studien zu einzelnen Sagas können dagegen sehr wohl von neuen narratologischen Ansätzen profitieren, wie Schmidt 2018b mit seiner narratologischen Analyse der Færeyinga saga anhand der von Koschorke 2013 entwickelten Theorie zeigt.

2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas Versteht man die Isländersagas als literarische Texte, muss man annehmen, dass jede Erzählung eine eigene erzählte Welt entwirft. Diese ›Sagawelt‹ besteht ebenso aus den dargestellten räumlichen Bedingungen wie aus allem, was diese Welt bevölkert: Den Figuren, den Tieren, den Gegenständen und auch allen Wertvorstellungen. Betrachtet man alle Texte dieser Gattung, zeigt sich allerdings, dass die einzelnen erzählten Welten einander stark ähneln und es nur wenige abweichende Details gibt, die einander widersprechen oder sich sogar ausschließen. Die Lektüre vieler Isländersagas erschafft im Gegenteil eine relativ homogene Vorstellung, die den Eindruck einer gemeinsamen imaginierten Erzählwelt vermittelt. Dieses ›Island der Sagazeit‹ erschreiben die vielen einzelnen Repräsentanten des Genres gemeinsam. Inwiefern diese Welt mit den tatsächlichen Gegebenheiten der realhistorischen Sagazeit übereinstimmt, ist schwer zu bestimmen, da nur wenige außerliterarische Quellen zum Abgleich zur Verfügung stehen.1 Nur einzelne Details oder Berichte könnten verifiziert (oder falsifiziert) werden. Wie nah die dargestellte Welt der Wirklichkeit aber insgesamt kommt, ist nicht genau auszumachen.2 Preben Meulengracht Sørensen beschäftigt sich ausführlich mit der in den Sagas dargestellten Welt und dem Verhältnis zur realen Welt der Handlungs- bzw. Schreibezeit.3 Er hält fest, dass die Autoren der Isländersagas, in Übereinstimmung mit den ihnen zur Verfügung stehenden Quellen, gemeinsam eine Welt erschufen, die so gut wie möglich mit ihrem Wissen über die eigene Vergangenheit übereinstimmte. Dieses Wissen harmonisierten sie »til et stort helhedsbillede«.4 Dieses literarisch kon1 Vgl. Böldl 2005, S. 59. 2 Einen Versuch, dem ›echten‹ Island der Wikingerzeit unter Einbeziehung verschiedener Quellen näherzukommen unternimmt beispielsweise Byock 2001. 3 Diese ›Schreibezeit‹ ist nicht leichter zu greifen als die Handlungszeit der Sagas. Dass die Isländersagas Vorstellungen und Diskurse ihrer Entstehungszeit aufgreifen, und damit mindestens soviel über das 13. bis 15. Jahrhundert aussagen, wie über die beschriebene Sagazeit, kann als Allgemeinplatz altnordistischer Forschung gelten. Da es sich aber um eine sehr weite Zeitspanne handelt, innerhalb derer sich umwälzende historische Ereignisse abgespielt haben, ist die »Erstellung eines ›synchronen Kontextes‹« (Würth 1999a, S. 201) ein schwieriges Unterfangen, das sogar für den einzelnen Text Schwierigkeiten bereitet, und nicht für die gesamte Gattung unternommen werden kann. Zwei literatur- bzw. kulturtheoretische Zugänge, die sich mit dieser Problematik auseinandersetzen, werden von Würth 1999a (›New Historicism‹) und Seidel 2017 (›Historische Anthropologie‹) im Zusammenhang mit der Altnordistik besprochen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den hier angedeuteten Fragen und der zugehörigen Forschungsdiskussion bietet Böldl 2005, S. 27–85. 4 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 18 (»zu einem großen Gesamtbild«). Ähnlich auch Meulengracht Sørensen 1992. Auch Vésteinn Ólason 2011, S. 23 spricht von einem »vereinfachte[n] und idealisierte[n] Bild der Vergangenheit«, das aber nicht das »Produkt reiner Fantasie« sein kann. Diesem Ansatz folgt auch Ahola 2014 und spricht von einem »collectively shared set of conceptions« (S. 15), das die Isländer der Schreibezeit von der ›Sagawelt‹ hatten. https://doi.org/10.1515/9783110699265-002

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

struierte ›Gesamtbild‹ ist es, welches die Begriffe ›Sagawelt‹ und ›Sagagesellschaft‹ bezeichnen sollen, im Sinne der mit literarischen Mitteln erschaffenen Welt, innerhalb derer sich die Erzählungen abspielen. Diese erzählte Welt steht mit der Welt ihrer Schreiber in regem ›Dialog‹.5 Sie ist nicht nur Schauplatz der Erzählung, sondern wird im Laufe der Narration ständig weiterentwickelt, und von der Welt ihrer Schreiber beeinflusst.6

2.1 Die Sagagesellschaft Die erzählte Zeit vieler Isländersagas setzt in den Jahren zwischen 870 und 930 ein, der »Landnahmezeit« (an. landnámaǫld), in der Island besiedelt wurde. Nur die ersten Siedler werden mit dem prestigeträchtigen Begriff landnámsmaðr bezeichnet, alle späteren Immigranten müssen Land von den ersten Siedlern erwerben oder anderweitig verdienen.7 Die Landnehmer genießen in der Sagawelt hohes Ansehen, das auch in späterer Zeit auf ihre Nachkommen abstrahlt.8 Fast alle Landnehmer der Isländersagas kommen aus Festland-Skandinavien und bringen entsprechende gesellschaftliche und religiöse Vorstellungen mit nach Island.9 Die ersten Siedler finden eine große Insel vor, die allerdings nur zu kleinen Teilen bewohnbar ist. Den landschaftlichen Gegebenheiten angepasst betreiben die frühen Bauern vor allem Viehzucht. Ackerbau hat eine eher untergeordnete Bedeutung, und auch die Fischerei wird selten erwähnt. Von der Herausbildung einer Händlerklasse kann ebenfalls keine Rede sein,10 sodass die Siedler in relativer Homogenität als Viehbauern leben.11 5 Vésteinn Ólason 2011 nennt diesen Austausch im Titel seines Überblickwerks zu den Isländersagas den »Dialog mit der Wikingerzeit«. 6 Vgl. Ahola 2014, S. 65. 7 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993c, S. 18–20. Dort wird auch auf einen der zuvor angesprochenen Fälle eingegangen, in denen die Darstellung der Isländersagas vermutlich realen Ereignissen widerspricht: Während die Sagas den Eindruck vermitteln, die Landnehmer hätten große Gebiete für sich beansprucht und dann großzügig an ihre Gefolgsleute verteilt, dürfte in Wirklichkeit der umgekehrte Fall wahrscheinlicher sein: Die mächtigsten Siedler erweiterten nach und nach ihr Einflussgebiet und verleibten sich kleinere Besitztümer ein. Hier zeigt sich vermutlich das Interesse der Autoren, die Besitzverhältnisse ihrer Gegenwart mit einer friedvollen Historie zu rechtfertigen und zu festigen. 8 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 173–175. 9 Ein weiteres Beispiel für den Unterschied zwischen historischer Realität und den Erzähltraditionen der Isländersagas stellt die Herkunft der Siedler dar. Hier wird der Anteil der Skandinavier als wesentlich höher dargestellt, als ihn moderne DNA-Untersuchungen nachweisen (vgl. Clunies Ross 2010, S. 6). Zur Religion in den Isländersagas siehe einleitend Böldl 2011a. 10 Händler in den Sagas sind entweder Kaufleute, die importierte Waren nach Island bringen (und als Fremde wahrgenommen werden, vgl. Sverrir Jakobsson 2007), oder kleine Krämer, die von Hof zu Hof ziehen. Die unterschiedlichen Händlertypen werden ausführlich dargestellt von Wieske 2011, S. 70–88 und Ebel 1977. Die literarische Funktion norwegischer Händler bespricht Sterling 2008, S.  157–171. Siehe außerdem Helgi Þorláksson 1992 sowie Callow 2004. 11 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993c, S. 17–18.



2.1 Die Sagagesellschaft 

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Die Landnehmer bringen auf ihren Schiffen sowohl ihre Familie als auch andere Angehörige des Haushalts, wie Mägde, Knechte und Sklaven, mit sich. Die spätere Siedlergemeinschaft ist daher von Anfang an in kleineren Gruppen organisiert (als hjón oder hjú bezeichnet), die Meulengracht Sørensen »farmstead community« nennt.12 Innerhalb dieser Haushaltsgemeinschaften spielt sich das alltägliche bäuerliche Leben ab, und viele Mitglieder des Haushalts haben nur wenige Kontakte, die über diese soziale Gruppe hinausreichen. Nur der Bauer als männlicher Haushaltsvorstand nimmt an den größeren Versammlungen der isländischen Gesellschaft Teil; den lokalen Thingversammlungen und dem nationalen Allthing. Auch dieses Recht ist an einen gewissen Wohlstand geknüpft, sodass das ›Allthing‹ tatsächlich nicht ›alle‹ versammelt, sondern nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung; die männlichen, wohlhabenden Haushaltsvorstände. Diese »Thingmänner« (an. þingmenn) wiederum müssen sich einem Goden anschließen, einem wohlhabenden Großbauern, der sie auf dem Thing vertritt.13 Bemerkenswerterweise gibt es keine Verpflichtung, sich dem Goden anzuschließen, der in der eigenen Region die Macht innehat. Ein Thingmann darf seinen Goden frei wählen und diese Loyalität auch wechseln.14 Daraus ergibt sich ein reziprokes Wechselverhältnis, da die Macht des einzelnen Goden an die Anzahl seiner Thingmänner und insgesamt seiner Unterstützer (seinen mannaforráð) geknüpft ist.15 Island hatte zunächst 36 und später 39 Godentümer. Diese Machtposition ist nicht in allen Sagas gleichermaßen von Bedeutung; in vielen Fällen erfährt man nie, ob ein mächtiger Großbauer auch formal ein Godentum innehat, und es tauchen einige Figuren auf, die auch ohne Godentum als sehr mächtig beschrieben werden.16 Betrachtet man den weit größeren Teil der Gesellschaft – alle, die nicht am Thing teilnehmen dürfen –, sind Geschlecht und Wohlstand die beiden Faktoren, die für den sozialen Status einer Person entscheidend sind.17 Männliche und weibliche Figuren 12 Meulengracht Sørensen 1993c, S. 28. 13 Der Begriff goði steht dem an. goð bzw. guð (»Gott«) nahe, und zeigt bereits die ursprüngliche Doppelfunktion von Priester und Häuptling an. Auch Wortbildungen wie hofgoði (»Tempelgode, Tempelpriester«) oder blótgoði (»Opfergode«) weisen in diese Richtung. In den Isländersagas gibt es zwar Hinweise auf die religiöse Funktion der Goden, doch werden sie in erster Linie in ihrer machtpolitischen Rolle dargestellt, vgl. Hoefig 2012 sowie Ebel 1998. Auch unter den Goden gab es große Unterschiede Macht und Reichtum betreffend, rechtlich waren sie einander aber alle gleichgestellt, vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 153. 14 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 155–156. Dort wird auch darauf hingewiesen, wie groß der Unterschied zur Gefolgsschaft eines Königs ist: Der Thingmann schwört dem Goden keine Treue, wählt ihn selbst und folgt ihm freiwillig. Nichts davon geschieht unter Zwang, was für das isländische Selbstverständnis von Bedeutung ist. 15 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 154 sowie Samson 1992. 16 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993c, S. 36–37. 17 Selbstverständlich spielt auch das Alter eine entscheidende Rolle, jedoch gibt es nur einen Vorfall in den Sagas, in dem ein Kind oder ein älterer Mensch mit einem Diebstahl in Verbindung gebracht wird (siehe Kap.  5.1.1). Zum Kind in den Isländersagas siehe etwa Hansen 2004 und

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

lassen sich gleichermaßen in verschiedene Schichten gliedern, wobei die hochgeborene Frau dem sozial schwachen Mann übergeordnet ist.18 Unter den freien Männern bilden die Landeigner die höchste Schicht (unter der aber, wie oben gezeigt, weiter zu differenzieren ist). Ihnen folgen freie Bauern, die ihr Land aber nicht selbst besitzen (an. leiglendingar),19 und die freien Arbeiter. Diese müssen ebenso einem Haushalt angehören, wie die Bauern einem Goden angehören müssen. Auch sie können ihre Zugehörigkeit wechseln, indem sie an bestimmten Reisetagen von Gehöft zu Gehöft ziehen dürfen.20 In den Sagas gibt es auch innerhalb des Gesindes deutliche Abstufungen, die von angesehenen Quasi-Familienmitgliedern bis hin zu einfachen Knechten reichen, bei denen unklar ist, ob es sich um Sklaven oder Freie handelt.21 Sklaverei war auf Island im ersten Jahrhundert nach der Besiedelung verbreitet, und wurde nie offiziell abgeschafft, verlor aber rasch an Bedeutung.22 Unfreie galten als persönliches Eigentum ihres Bauern und konnten verkauft oder getötet werden, ohne dass aus dem Totschlag Konsequenzen erwuchsen.23 Sowohl Knechte als auch Sklaven sind in den Erzählungen meist recht flache Charaktere, die nur eine einzige persönliche Eigenschaft aufweisen und nur in einer Szene der Saga relevant sind. Prototypisch wird ihnen meist ein tölpelhaftes, feiges Verhalten zugeschrieben.24 Die Situation der Sagafrauen unterscheidet sich besonders in höheren sozialen Schichten grundsätzlich von der Lage männlicher Figuren.25 Die wohlhabende Bäuerin ist für die Welt innerhalb des Gehöfts, innan stokks, zuständig.26 Ihr kommt damit ein wichtiger ökonomischer Part zu, da sie für die Produktion des Wollstoffs – dem wichtigsten Handelsgut – ebenso zuständig ist, wie für alle anderen Haushaltsangelegenheiten. Aus rechtlicher Perspektive ist sie zwar erbberechtigt, allerdings nach ihren Brüdern, und darf sogar ein Godentum besitzen, es aber nicht selbst ausüben. In allen rechtlichen Angelegenheiten benötigt sie einen männlichen Vormund, der sie (beiÁrmann ­Jakobsson  2003. Ältere Menschen besprechen beispielsweise Jón Viðar Sigurðsson 2008 sowie Ármann Jakobsson 2013b. 18 Zum Zusammenhang von Geschlecht und Macht siehe insbesondere Clover 1993. 19 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 179. 20 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 158. 21 Die feste Zugehörigkeit zum Haushalt eines Bauern zeigt sich auch in den vielen Kämpfen, an denen sich Knechte selbstverständlich auf der Seite ihrer Herren beteiligen, vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 160. 22 Vgl. Wilde-Stockmeyer 1978, S. 37. Eine offizielle Abschaffung der Sklaverei lässt sich in den altnordischen Gesetzestexten nicht finden, nur in einer Proklamation aus dem Jahr 1335 spricht sich der schwedische König gegen die Sklaverei aus. 23 Vgl. zu diesem Abschnitt Meulengracht Sørensen 1993c, S. 28–30. Zur Sklaverei auf Island siehe Mazo Karras 1990 sowie Wilde-Stockmeyer 1978. 24 Vgl. Wilde-Stockmeyer 1978, S. 102–116. 25 Die Rolle der Frau in den Isländersagas wurde ausführlich untersucht, siehe beispielsweise Clover 1993, Clover 2002, Heller 1958, Jochens 1986, Mundal 1993. 26 Im anglophonen Sprachraum wird gern von public field und private field gesprochen, vgl. bspw. Ahola 2009, S. 22.



2.1 Die Sagagesellschaft 

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spielsweise auf dem Thing) vertritt. Meist werden die Frauen in den Sagas bei der Wahl des Ehemannes um ihre Zustimmung gefragt – der Vater bzw. Vertreter kann die Sagafrau aber auch gegen ihren Willen verheiraten.27 Kann sie triftige Gründe vorbringen, hat die Frau die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen. Innerhalb der höheren sozialen Schicht gibt es einige schillernde Frauenfiguren, aber auch unter den Nebenfiguren (wie Mägden, Bettlerinnen und Kleinbäuerinnen) finden sich einige starke Frauenfiguren, die die Handlung entscheidend beeinflussen.28 Da Mägde mitunter als Ziehmütter fungieren, haben sie oft enge Bande zu den Protagonisten und leben eng mit der Familie des Bauern zusammen.29 Wie ihr männlicher Gegenpart, die Knechte, werden sie jedoch meist recht schablonenhaft geschildert, und fallen häufig durch Schwatzhaftigkeit und Naivität auf, was sie zu unfreiwilligen Helferinnen machen kann.30 Am äußersten Rand der Sagagesellschaft leben verschiedene obdachlose Figuren, die meistens je nach Geschlecht als Bettelweiber oder Landstreicher kategorisiert werden. Diese Randfiguren können dank ihrer Mobilität ebenso wie dank der fehlenden Notwendigkeit einer genealogischen Einbindung in der Erzählung flexibel eingesetzt werden, und eignen sich für fast jeden Kniff, um die Handlung voranzutreiben: Sie tragen Gerüchte von Hof zu Hof, erledigen Botengänge, spionieren und töten sogar gegen Bezahlung.31 Eine ähnliche literarische Verwendung nimmt Nicole Sterling für Fremde in den Isländersagas an, die beispielsweise als norwegische Fernhändler in die Saga kommen und keine familiären oder freundschaftlichen Verbindungen zur Sagagesellschaft aufweisen. Solche Figuren können verwendet werden »to fill narrative gaps, shift action within a scene, and commence feuds between Icelanders.«32 Eine Sonderstellung unter den umherziehenden Figuren nimmt der Gesetzlose ein, der vor seiner Ächtung möglicherweise einen hohen sozialen Status innehatte, den er nicht vollumfänglich verliert. Gesetzlosigkeit war die schwerwiegendste Strafe des isländischen Rechts und wurde unter anderem für Diebstahl verhängt.33 Abseits der öffentlichen Organisation sind familiäre Beziehungen die wichtigsten Strukturgeber der Sagagesellschaft. Die Isländersagas stellen ein größtenteils egozentrisches Verwandtschaftssystem dar – die ›Familie‹ des Einzelnen ergibt sich aus seinen Verwandten väterlicher- wie mütterlicherseits ebenso wie aus der Familie seines Ehepartners. Da der Einzelne somit immer zu mehreren ›Familien‹ gehört, 27 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993c, S. 30–31. 28 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 154–157. Zur Stellung der Frau siehe auch Kap. 5.3. 29 Man denke beispielsweise an Egills mutige Ziehmutter Þorgerðr brák in der Egils saga, die ihren Schützling vor seinem Vater beschützt, oder Bergþóras zukunftskundige Ziehmutter Sæunn in der Njáls saga, die redlich versucht, die Familie vor dem Mordbrand zu retten, indem sie immer wieder darauf hinweist, dass ein bestimmter Unkrautbusch entfernt werden müsse, der später zum Anzünden des Gehöfts verwendet wird. 30 Vgl. Heller 1958, S. 137–143. 31 Zur Funktion solcher Nebenfiguren siehe insb. Cochrane 2012. 32 Vgl. Sterling 2008, S. 158. 33 Vgl. Kap. 6.2.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

überlappen all diese Kleingruppen und schaffen Raum für die vielen Loyalitätskonflikte, die für die Isländersagas konstituierend sind.34 Neben den lebenden Verwandten spielt auch die Abstammung einer Sagafigur eine wichtige Rolle für ihren Standpunkt innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie. In langen Genealogien werden die Vorfahren wichtiger Personen aufgelistet, sodass nicht nur weitere Verwandtschaftsverhältnisse sichtbar werden, sondern auch Erwartungen geweckt werden, die Figur teile charakterliche Merkmale ihrer berühmten Ahnen.35 Unter diesen sind häufig Landnehmer zu finden, aber auch andere Prominente nordischer Geschichte(n) wie Sigurd der Drachentöter oder Ragnar loðbrók. Neben der Familie gibt es verschiedene andere soziale Verbindungen, die Saga­ figuren miteinander eingehen können.36 Zu ihnen zählen selbstverständlich Freundschaften,37 unter denen wiederum die ritualisierte Schwurbrüderschaft eine Sonderstellung einnimmt.38 Auch ist es üblich, Kinder zur Erziehung in andere Familien zu geben, sodass Ziehkinder häufig anhaltende enge Verbindungen zu einer zweiten Familie pflegen. Auch gehen männliche Figuren häufig bindende Verpflichtungen ein (wie das sog. félag), um eine Handelsfahrt zu unternehmen, und gemeinsam ein Schiff und Güter zu kaufen.39

34 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993c, S. 21–23. Siehe auch Jakob 2016 ausführlich zu familiären Beziehungen als literarische Motive in den Isländersagas, zum Begriff der ›Familie‹ insb. S. 16–26. 35 Zur Verwendung von Genealogien in Isländersagas vgl. Kap. 5.1. Zur Vorstellung, innerhalb einer Familie fänden sich ähnliche Wesenszüge, vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 165 sowie Schulz 2015. Dieser sieht die Gründe hierfür in der mittelalterlichen Anthropologie, die einzelne Menschen weniger stark voneinander trennt, als dies in moderner Vorstellung geschieht: »Identität bestimmt sich nicht dadurch, daß man anders ist als alle anderen Menschen […], sondern im Gegenteil in der Teilhabe an Kräften, Mächten und Eigenschaften, die die einzelne Person überschreiten. […] Der gängige Vorstellungsrahmen ist hier derjenige eines Körpers, dessen Glieder die einzelnen Subjekte sind: etwa im Bild eines transpersonalen Sippenkörpers; […].« (S. 18, Hervorhebungen im Original). Diese Vorstellung betrifft nicht nur Wesensmerkmale; auch Glück und Schicksal können innerhalb einer Familie ›vererbt‹ werden, sodass das das Geschick des Einzelnen auf das Schicksal der Familie wirkt (vgl. Gropper 2017a, S. 201). 36 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 173 spricht insgesamt von einem »alliancenet, hvor slægtningene er de vigtigste, men hvor der også er gårdfæller, venner, naboer og bønder fra tingfællesskabet.« (»Netz von Allianzen, in dem Verwandtschaftsverhältnisse die wichtigsten darstellen, es aber auch Haushaltsmitglieder, Freunde, Nachbarn und Bauern aus dem Thingverband gibt.«) 37 Vgl. Jón Viðar Sigurðsson 2010 sowie Jón Viðar Sigurðsson 1992 mit Fokus auf Freundschaften und soziale Bande zwischen Goden und þingmenn (»Thingmännern«). 38 Zur Schwurbrüderschaft inklusive aller Beispiele in den Isländersagas siehe Jakob 2016, S. 149– 164: »Eine Aufnahme in das Geschlecht des anderen erfolgt nicht; es handelt sich dabei vielmehr um die freiwillige Verpflichtung, einander wie Brüder zu sein, die nur die entsprechenden Parteien betrifft, und die ein Verhalten wie zwischen Blutsverwandten mit sich bringt, so in Hinblick auf Hilfeleistung oder Blutrache« (S. 149). Sowohl der Schwurbruder als auch der Ziehbruder wird in den Sagas mit dem Begriff fóstbróðir bezeichnet, vgl. Jakob 2016, S. 25–26. Siehe außerdem Strauch 2004. Die seltenen Erwähnungen weiblicher Freundschaften bespricht van Deusen 2014. 39 All diese Spielarten mehr oder weniger institutionalisierter Freundschaft bespricht Mora 2017.



2.1 Die Sagagesellschaft 

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2.1.1 Bruchstellen von Macht, Besitz und Ehre Es ist nicht zuletzt das zuvor beschriebene Geflecht von Loyalitäten und Verpflichtungen, das in den Isländersagas die Handlung generiert und Fehden heraufbeschwört. Auch wenn theoretisch alle freien Männer vor dem Gesetz gleich sind, haben die sozialen Verbindungen einer Figur doch entscheidenden Einfluss auf ihren gesellschaftlichen Status und ihre Möglichkeit, ihr Recht praktisch durchzusetzen.40 Dies liegt darin begründet, dass der isländische Freistaat, und ebenso die ›Sagawelt‹, keine zentrale exekutive Gewalt kennen, und es an den Parteien selbst liegt, gerichtliche Entscheidungen in die Tat umzusetzen.41 Hierin liegt der Grund für die vielen Fehden der Isländersagas, die häufig aus eher kleineren Zwistigkeiten (wie einem Diebstahl) entstehen, aber durch die Pflicht zur Kompensation bzw. Rache jeder Ehrkränkung häufig zu langwierigen Auseinandersetzungen führen, die sich über Jahrzehnte und Generationen strecken können, und viele Tote fordern. Die Blutfehde ist ein so charakteristisches Merkmal der Isländersagas, dass ihr nicht nur mehrere Einzelstudien gewidmet wurden,42 sondern sie sogar als erzähltechnisch strukturgebendes Element in Betracht gezogen wurde.43 Vésteinn Ólason spricht von der »Ideologie dieser alten Gesellschaft, die den hundertprozentigen Zusammenhalt der Familie fordert und ab einer bestimmten Phase der Auseinandersetzung keine andere Lösung kennt als die Blutrache.«44 Eine »Ideologie der Ehre mit striktem Rachegebot« sei in einer Gesellschaft ohne zentrale Exekutive »eine absolute Notwendigkeit«.45 Und doch begegnet in den Isländersagas – ganz im Gegensatz zur Heldensage46 – ebenso oft der Gedanke des Ausgleichs. Hohes Ansehen genießen insbesondere Figuren, die in der Lage sind, einen Konflikt beizulegen und eine Fehde gütlich zu beenden.47 Neben Entschlossenheit und Durchsetzungskraft sind Tugenden wie Ehrgeiz und Tapferkeit entscheidend, aber auch Mäßigung und juristische Sachkenntnis werden häufig als gute Eigenschaften angeführt.48 Kriegerische Talente haben einen besonderen Stellenwert, müssen aber zugleich mit Mut und Selbstbeherr-

40 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 173. 41 Vgl. Miller 1984, S. 97 und Vésteinn Ólason 2011, S. 19. 42 Vgl. Byock 1982, Miller 1983, Miller 1990, Schroeter 1994. 43 Vgl. Andersson 1967. 44 Vésteinn Ólason 2011, S. 212. 45 Vésteinn Ólason 2011, S. 238. 46 Zur Absenz von Mäßigung und Ausgleich in der Heldensage siehe Deichl 2018, S. 31–38. 47 Das Paradebeispiel hierfür ist Hall von Síða aus der Njáls saga, der auf die Kompensation des Todes seines Sohnes verzichtet, um einen Friedensschluss zu ermöglichen (Nj 145). Zur Unterscheidung des Ehrbegriffs der Isländersagas vom Konzept der Heldendichtung vgl. insb. Andersson 1970. Von einem moralphilosophischen Standpunkt aus betrachtet Vilhjálmur Árnason 1991 die Ehre in den Isländersagas, und geht dabei ausführlich auf verschiedene Forschungstraditionen ein. 48 Vgl. Andersson 1970, der die Tugenden und Moralvorstellungen der Isländersagas im Spannungsfeld kriegerischer und bäuerlicher Kultur bespricht.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

schung einhergehen.49 Diese Tugenden lassen sich unter dem schwierigen Komplex der ›Männlichkeit‹ versammeln.50 Dieser definiert sich insbesondere in Abgrenzung zum Weiblichen bzw. ›Unmännlichen‹.51 Beleidigungen und üble Nachreden nehmen häufig Bezug auf dieses Themenfeld, wobei jeder Vorwurf der Effemination oder Unmännlichkeit die Ehre des Mannes angreift. In dieser Arbeit soll dem Ehrbegriff gefolgt werden, wie ihn Meulengracht Sørensen versteht. Er schließt sein Ehrkonzept an den Begriff helgi an, das er als »personlig[] integritet«52 ins Dänische überträgt. Wörtlich übersetzt müsste man im Deutschen von ›Heiligkeit‹ sprechen, gemeint ist jedoch die ›Unantastbarkeit‹ der Person ebenso wie des Eigentums. Diese ist für das altnordische Rechtssystem fundamental und für alle freien Männer gleich: Every free man has the right and duty to defend himself and his dependents. […] The right to personal integrity replaces centralized power. The individual’s feeling of inviolability is allied to the feeling of mutual respect, and without personal responsibility and the will to avenge, society would fall apart, or it would change to a hierarchical society.53

Rache fordern in diesem System alle Übergriffe gegen den freien Mann, seine Verwandten, die Mitglieder des Haushalts, das Vieh oder andere Eigentumswerte. Zu den möglichen Kränkungen gehören auch verbale Übergriffe, angefangen bei übler Nachrede (an. illmæli), bis hin zu stilisierten Formen der Verhöhnung (an. níð).54 Es ist die persönliche Unantastbarkeit, helgi, die die Grundlage für das Ehrverständnis der Sagawelt bildet. Ehre besteht darin, diese Unantastbarkeit zu verteidigen oder wiederherzustellen.55 Diese Idee findet sich in den Sagas ebenso wie in den Rechtstexten, sodass Klaus Schroeter in seiner soziologischen Studie zur wikingischen Gesellschaft fest-

49 Heusler 1911, S. 27 nennt zusätzlich optionale Tugenden wie Schwimm- und Dichtkunst. Er betont aber, dass das kriegerische Ideal so vorherrschend ist, dass es nur Platz für Dichter, Rechtskundige und Geschäftsmänner lässt, sofern diese sich nie als feige im Kampf erweisen. 50 Vésteinn Ólason 2011 verwendet für diesen Komplex den Begriff des ›Helden‹ (»Die Handlungsabläufe und die Vorstellungswelt der Isländersagas verlangen nach Helden oder zumindest nach Männern, die sich im Falle eines Falles heldenhaft verhalten.«, S. 143). Auf diesen Begriff wird hier bewusst verzichtet, da er ebenso wie ›Ehre‹ und ›Männlichkeit‹ schwer zu fassen ist, und außerdem Assoziationen aus anderen (nicht nur altnordischen) literarischen Gattungen weckt, die hier nicht zur Klarheit beitragen. 51 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S.  153. Zu Männlichkeitskonzepten in der Sagaliteratur siehe Meulengracht Sørensen 1983, Hiltmann 2011 und Rau u. Greulich 2014. 52 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 180. 53 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S.  337. Diese Passage ist der englischen Zusammenfassung seiner Ergebnisse entnommen, ausführlich bespricht er den Gedanken auf S. 180–184. Zum níð siehe ebd., S. 199–203. 54 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 180–184 sowie Meulengracht Sørensen 1983. 55 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 191.



2.1 Die Sagagesellschaft 

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hält, die Ehre sei »als höchster und gleichsam zentraler Wert [als] die Ordnungsgrundlage altnordischer Wirklichkeit«56 zu betrachten. Sie symbolisiere sozialen Status, beinhalte gesellschaftlichen Kredit und sei immer wieder neu zu erwerben oder zu verteidigen.57 Auch für die erschriebene Welt der Isländersagas ist das Konzept der Ehre so zentral, dass Meulengracht Sørensen »story and honour as two aspects of the same thing« betrachtet: »The saga is story, and the story’s ethical tenor can be summed up in the concept of honour.«58 Margret Clunies Ross bezeichnet die Ehre als wichtigste Komponente des individuellen Wertes einer Person: »an idealised personal honour was above all the currency in which the esteem of an individual was measured.«59 Da der materielle wie der symbolische ›Wert‹ einer Sache oder Person für die Verbrechen Diebstahl und Raub zentral ist, ist es ein interessanter Gedanke, die Ehre als Währung zu betrachten, der hier beachtet werden soll. Sieht man die Ehre als alternatives Zahlungsmittel, zeigt sich die doppelte Kränkung, die ein Diebstahl zufügt, umso deutlicher: Der Betroffene verliert einen Teil seines materiellen Eigentums und muss gleichzeitig einen Verlust an Ehre hinnehmen. Seine »personlige integritet«, sein helgi, wird also in beiden Komponenten geschmälert; Person und Eigentum sind gleichermaßen beschädigt.

2.1.2 Diebstahl unter Wikingern? Abschließend muss noch gefragt werden, wie all diese Moral- und Ehrvorstellungen mit den Raubzügen der Wikinger in Einklang zu bringen sind. In den Isländersagas gibt es unzählige kurze Nennungen von Plünderfahrten und Hinweise, dass jemand auf Wikingerfahrt gewesen sei.60 Typisch sind kurze Nennungen wie in der Flóamanna saga: Þeir bræðr lágu í hernaði.61 Die Beutezüge der Wikinger spielen in 56 Schroeter 1994, S. 213. 57 Vgl. Schroeter 1994, S. 211–213. Auch Hiltmann 2011, S. 259–302 bietet ein Überblickskapitel zu »Männlichkeit zwischen Ehre und Schande« in der Sagagesellschaft. 58 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 333. Da es sich um das zentrale Thema seiner hier bereits ausführlich zitieren Studie Fortælling og Ære handelt, beschäftigt sich Meulengracht Sørensen 1993a zu umfangreich mit dem Begriff der Ehre, um hier auch nur die Eckpfeiler der Argumentation weiter auszuführen. Stattdessen werden in den folgenden Interpretationen einzelne Gedanken aufgenommen und besprochen. 59 Clunies Ross 2010, S. 7. 60 Eine groß angelegte Untersuchung zur Verwendung der Begriffe víkingr (m.) und víking (f.) in der altnordischen Literatur findet sich bei Krüger 2008, konzentriert auf die Darstellung in den Königssagas. Eine entsprechende Untersuchung der Isländersagas und anderer Gattungen ist ein noch ausstehendes Forschungsdesiderat (vgl. Krüger 2008, S. 221). Der hier skizzierte Überblick hat nicht den Anspruch, dies für die Isländersagas einzulösen, sondern soll zur Perspektivierung der Eigentumsdelikte Diebstahl und Raub dienen. 61 Flóa 1, S. 232; »Die Brüder waren auf Heerfahrt.« Als bevorzugtes Ziel ist innerhalb der Isländersagas der Westen der nordischen Welt auszumachen, besonders England, Schottland, Irland und die

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den Isländersagas trotzdem eine kleinere Rolle, als man annehmen würde. Sie stellen eine Form der Auslandsfahrt (der útanferð) dar, die in fast allen längeren Sagas vorkommt. Dabei wird vor der Reise nicht explizit erwähnt, dass der Sinn der Ausfahrt in einem Plünderungszug besteht, die Protagonisten sich also ›widerrechtlich‹ Vermögen aneignen wollen.62 Vielmehr verlassen die Figuren Island oder Norwegen und erleben eine Reihe von Abenteuern, zu denen neben Handel, Kontakt mit ausländischen Adeligen und fremden Sitten auch ein Vermögenserwerb durch Kampf oder Plünderung gehören kann. Die gleiche Figur kann sich auf Wikingerzüge und Kauffahrten begeben, wie Bjǫrn Brynjólfsson in der Egils saga: Bjǫrn var farmaðr mikill, var stundum í víking, en stundum í kaupferðum.63 Ein typisches Beispiel für den offenen Ausgang einer Auslandsfahrt stellt die Norwegenreise der Njálssöhne Grímr und Helgi in der Brennu-Njáls saga dar. Die beiden jungen Männer sind mit Kaufleuten auf Fahrt und stoßen dabei auf víkingarnir,64 die sie vor die Wahl stellen, ihr Hab und Gut kampflos aufzugeben oder sich einem Kampf zu stellen. Helgi antwortet: ›Þat vilja kaupmenn at verja sik.‹65 Die eigentlich friedliche Handelsfahrt mündet in einen Kampf gegen erfahrene Wikinger, den Grímr und Helgi trotzdem für sich entscheiden können, und sie tóku fé allt.66 Auch kaupmenn (»Kaufleute«) können jederzeit zu Wikingern werden, wenn die Situation es erfordert. Das Vokabular der Isländersagas gibt keinen eindeutigen Hinweis zur Bewertung der Vorgänge. Der Begriff víkingr (m.) kann sehr unterschiedlich konnotiert sein. Im neutralen bis positiven Wortsinn meint er einen Mann, der auf víking (f., »Wikingerfahrt«)67 geht, wie Miðfjarðar-Skeggi: Skeggi var garpr mikill ok einvígismaðr. Han var lengi í víkingu.68 Angesehene Wikingerfiguren wie Skeggi tauchen in vielen Isländer-

Hebriden. Beutefahrten innerhalb Skandinaviens sind selten, aber möglich: In der Droplaugarsona saga machen Véþorms Brüder reiche Beute in Schweden (Drop 1). Auch Generationen nach der Besiedelung Islands plündern die Isländer jedoch fast nie in Norwegen, das weiterhin zum eigenen Kulturraum zu gehören scheint. 62 Wird eine solche Unterscheidung getroffen, steht der Kampf im Vordergrund, nicht der Zugewinn an Vermögen. In der Svarfdœla saga gehen beispielsweise zwei Brüder seit einiger Zeit erfolgreich auf Handelsfahrten, als einer der beiden bemängelt, eine Kaufmannsfahrt tauge mehr til prýði ok ágætis en til hreysti (Sva 3, S. 133; »zur Pracht und zum Ruhm als zur Tapferkeit«), stattdessen sollten sie nun mit Langschiffen statt mit Handelsschiffen segeln. Entsprechend suchen sie sich im Folgenden einen berühmten Wikinger, um sich mit ihm zu messen (Sva 4–5). 63 Eg 32, S. 83; »Bjǫrn war ein großer Seefahrer, er war mal auf Wikingerfahrten, mal auf Kauffahrten.« 64 Nj 83, S. 202; »Wikinger«. 65 Nj 83, S. 203; »›Dann wollen sich die Kaufleute wehren.‹« 66 Nj 84, S. 205; »nahmen das ganze Vermögen an sich.« 67 Baetke (Hrsg.) 2008, S. 737. 68 Þórð 2, S. 169; »Skeggi war ein sehr tapferer Mann und Zweikämpfer. Er war lange auf Wikingerfahrten.« Typisch für die positive Verwendung des Ausdrucks ist auch die Beschreibung Ǫnundrs, eines Vorfahren Grettirs. Dieser sei ein víkingr mikill ok herjaði vestr um haf (Gts 1, S. 3; »großer Wikinger und er heerte (bzw. plünderte) im Westen über dem Meer«); er wird zum Protagonisten der ersten Episoden.



2.1 Die Sagagesellschaft 

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sagas auf, bevorzugt im Zeithorizont der Besiedelung Islands und des Widerstands gegen König Haraldr hárfagri.69 Im negativen Sinn kann víkingr mit Begriffen für Übeltäter synonym verwendet werden. Die beiden Unruhestifter Þórir und Ǫgmundr werden beispielsweise im gleichen Kapitel der Grettis saga Ásmundarsonar als ber­ serkir (»Berserker«), víkingar (»Wikinger«), ránsmenn (»Räuber«) und illvirkjar (»Übeltäter«) bezeichnet.70 Es lassen sich nur wenige Beispiele anführen, in denen die Plünderfahrten aus moralischer oder ethischer Perspektive problematisiert werden.71 Auch für das Leben auf Island könnte man daher annehmen, dass eine Gesellschaft, die Raubzüge unternimmt, und deren Mitglieder Klöster und Städte plündern, insgesamt eine eher lockere Einstellung zu Eigentumsvorstellungen pflegt. Diese Vorstellung verneint Eric Hobsbawm in seiner Untersuchung über Banditen: Menschen, in deren Umgebung Tötung und Gewalt täglich vorkommen, sind trotzdem äußert sensibel für moralische Unterscheidungen, die einer friedlichen Gesellschaft entgehen. So gibt es begründeten, gerechtfertigten Totschlag, und ungerechten, unnötigen, mutwilligen Mord; man unterscheidet zwischen ehrenhaften und schändlichen Taten.72

Diese Feststellung trifft auf die Isländersagas in vollem Umfang zu. Insgesamt lässt sich eine die Ehre betreffende Abstufung zwischen Wikingerfahrten ins Ausland, offenem Raub und heimlichem Diebstahl auf Island feststellen. Auch auf Wikingerfahrt wird unterschieden, ob die Plünderung offen oder heimlich geschieht, doch ist diese Unterscheidung nicht annähernd so bedeutsam wie bei Verbrechen auf Island. Der Anfang der Hallfreðar saga vandræðaskálds legt beispielsweise nahe, dass Wikingerfahrten kein ehrenhaftes Unternehmen darstellen. Sokki, víkingr einn mikill,73 zündet mit seinen Gesellen ein Gehöft an, da sie dort reiche Beute vermuten. Als der Bauer nachfragt, womit er diese Behandlung verdient habe, antwortet Sokki lapidar: ›Ekki fǫru vér víkingar at því; vilju vér hafa líf þitt ok fé.‹74 Im Haus verbrennen 14 Personen und sie nehmen so viel Beute mit sich, wie sie tragen können. Bezeichnen69 Vgl. Kap. 7.4. 70 Gts 19, S. 64–66. Auch beim Berserker Snækollr, gegen den Grettir in Norwegen kämpft, werden die Begriffe synonym verwendet (Gts 39, S. 133–134). Zur Begriffsverschiebung hin zu anderen Übeltätern siehe auch Kruse 2017, S. 507. 71 Da die erzählte Zeit der Wikingerfahrten in den Isländersagas meist vor der Christianisierung angesiedelt ist, wird ein möglicher Gesinnungskonflikt an nur einer Stelle im Korpus thematisiert. Über Tófi heißt es, er lagðisk í víking á unga aldri, ok tók hann þá þegar skírn ok rétta trú (EgSH 1, S. 373; »ging auf Raubzüge in jungen Jahren, und da ließ er sich bald taufen und nahm den rechten Glauben an«). Die Gegenüberstellung impliziert, dass das vorherige Verhalten nicht mit seiner christlichen Gesinnung zu vereinbaren ist. 72 Hobsbawm 2007, S. 65–66. 73 Hal 1, S. 135; »ein großer Wikinger«. 74 Hal 1, S. 136; »›Darauf kommt es uns Wikingern auch nicht an; wir wollen dein Leben und dein Vermögen.‹«

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derweise ist es hier eine typenhafte Nebenfigur, der diese Worte in den Mund gelegt werden und kein Protagonist auf Auslandsfahrt.75 Anders in der Egils saga Skalla-Grímssonar, deren Protagonist auch während einer Plünderfahrt auf die Wahrung seiner persönlichen Ehre bedacht ist. In seinen jungen Jahren fährt Egill mit seinem Bruder Þórólfr auf víking nach Osten ok herjuðu ok fengu of fjár ok áttu margar orrostur.76 Innerhalb der Saga wird dies weder als negativ noch als unrechtmäßig markiert, obwohl sie ræntu þar ok drápu menn.77 In Kurland gelangen sie zunächst in Gefangenschaft, können sich aber befreien, und sie finden bei ihrer Flucht einige Schätze, die sie mit sich nehmen. Bereits entkommen hält Egill inne und spricht: ›Þessi ferð er allill ok eigi hermannlig; vér hǫfum stolit fé bónda, svá at hann veit eigi til; skal oss aldregi þá skǫmm henda; fǫrum nú aptr til bœjarins ok látum þá vita hvat títt er‹.78

Obwohl seine Männer dagegen sind, kehrt Egill um und zündet den Leuten den Hof an. Er tötet die wenigen Fliehenden, alle anderen Bewohner sterben in den Flammen. Als er zu seinen Männern zurückkommt, gehen sie zum Schiff, wo Egill die Schatztruhe für sich beansprucht. Mit dieser Lösung vollauf zufrieden, segeln die Männer weiter nach Dänemark, wo sie ræntu þar, er þeir kómusk við.79 Diese Episode verdeutlicht, wie weit die den Figuren inhärente Moralvorstellung von der des modernen Rezipienten entfernt ist. Tritt man mit Kriterien modernen Rechtsempfindens an das Geschehen heran, handelt es sich bei Egills zweiter Tat – der Tötung aller Hofbewohner durch Feuer und Schwert  – um ein wesentlich gravierenderes Verbrechen, als es der Diebstahl einer Schatztruhe gewesen wäre. Dass ausgerechnet dieser gewaltlose Diebstahl Egills Gewissen belastet, verwundert umso mehr, als er eher selten durch moralische Bedenken auffällt.80 Innerhalb der dargestellten wikingischen Männergemeinschaft wird dies jedoch völlig anders bewertet: Rauben, Plündern und Brandschatzen werden von den Figuren als ehrenhafte Aktivitäten empfunden, an denen keine Kritik geübt wird. Sie stellen im Gegenteil die primäre Motivation ihrer Fahrten dar.81 Ihre Taten werden mit dem entsprechenden 75 Zum Einsatz von Räubern, Wikingern und Wegelagerern als Nebenfiguren vgl. Kap. 6.1.1. 76 Eg 46, S. 114; »und sie heerten dort und machten übermäßige Beute und schlugen viele Kämpfe«. 77 Eg 46, S. 114; »dort raubten und Männer erschlugen«. 78 Eg 46, S. 117; »›Diese Fahrt ist ganz schlecht und nicht kriegerisch [i.S.v. mannhaft, tapfer]; wir haben den Besitz des Bauern gestohlen, sodass er nichts davon weiß. Solch eine Schande soll niemals über uns kommen. Gehen wir jetzt zurück zum Gehöft und lassen sie wissen, was passiert ist!‹« 79 Eg 46, S. 118; »dort raubten, wo sie die Gelegenheit hatten«. Vgl. auch Andersson 1984, S. 498. 80 Auch hier geht Egills Vorgehen über das notwendige Maß hinaus: Um die Ehrenhaftigkeit seiner Tat unter Beweis zu stellen, hätte nicht das ganze Gehöft niedergebrannt werden müssen. Zu Egills weiteren Taten siehe Kap. 7.1.1.3 und Kap. 8.2. 81 Miller 2014, S. 20–21 fügt außerdem an, ein Wikingerzug richte sich »against people who do not quite count as people« und unterliege deshalb anderen Vorstellungen. Da diese Vorstellung in den Sagas nicht zum Ausdruck gebracht wird, und beispielsweise die zitierte Szene in der Egils saga zeigt,



2.1 Die Sagagesellschaft 

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Vokabular (ræna, herja; »rauben, heeren«) beschrieben, als Egill seine Bedenken anmeldet, verwendet er allerdings den Ausdruck vér hǫfum stolit (»wir haben gestohlen«), womit er eine unehrenhafte Tat beschreibt.82 [Þ]á skǫmm (»solche Schande«) will Egill nicht auf sich laden, was die besondere Verachtung dem heimlichen þjófnaðr (»Diebstahl«) gegenüber bemerkenswert illustriert. Auch an anderer Stelle wird die Plünderfahrt als ehrenhafte Alternative zu Raubüberfällen auf Island angesehen. Nachdem eine große Räuberbande in der Harðar saga ok Hólmverja die Gegend seit geraumer Zeit mit einer Serie von Raubüberfällen überzogen hat, fragt ihr Anführer Hörðr seine Gesellen, ob sie ihren Lebenswandel überdenken wollen. Ihm scheint es schlecht, dass sie nur vom Raub leben. ›Þykki mér,‹ segir hann, ›illt ráð várt at svá búnu, at vér lifum við þat eitt, er vér rænum til.‹83 Stattdessen schlägt er aber vor, man könnte den Kaufleuten von Hvítá ihr Schiff abpressen und damit auf Raubzüge gehen.84 Schon zuvor hat Hörðr seiner Bande heimlichen Diebstahl versagt, stattdessen sollen sie offen Rauben. Hieraus ergibt sich die implizierte Hierarchie: Besser rauben als zu stehlen, besser auf víking gehen, als zuhause zu rauben. Auch im Hrómundar þáttr halta zeigt sich eine ähnliche Vorstellung. Hier geht allerdings kein Isländer auf Beutezug ins Ausland, stattdessen kommen zwölf Wikinger aus Norwegen in den Hrútafjǫrðr. Die Perspektive liegt damit bei den Bedrohten und nicht bei den Wikingern, als die Isländer herausfinden, at þeir váru víkingar ok ránsmenn, en hǫfðu ekki nema ránsfé.85 Als dem Protagonisten Hrómundr fünf Zuchtpferde abhandenkommen, werden allerhand Vermutungen angestellt, wohin die Tiere verschwunden sein könnten. Schnell werden die Fremden verdächtigt, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Hrómundr habe gehört, dass die Wikinger mehr Fleisch an Bord hätten, als sie auf ehrliche Weise erworben haben können. ­Hrómundr versichert sich zuerst noch der Unterstützung seines Goden, dann konfrontiert er die Norweger. Diese reagieren ungehalten, nie habe sie jemand so sehr beleidigt. Hrómundr antwortet: ›Þat er víkinga háttr, at afla fjár með ránum eða svǫrfum, en þat er þjófa háttr, at leyna eptir.‹86 Hrómundr lädt die Norweger vor das Allthing, wo sie um hrossastulð verurteilt werden.87 Die Norweger entschließen sich daraufhin,

dass man sich auch den Kurländern gegenüber ehrenhaft oder ehrlos verhalten kann, soll dieser Gedanke hier nicht weiterverfolgt werden. 82 Vgl. Andersson 1984, S. 498. 83 Har 30, S. 76; »›Es scheint mir‹, sagt er, ›eine schlechte Entscheidung zu sein, uns so einzurichten, dass wir nur von dem leben, was wir durch Raub gewinnen.‹« 84 Vgl. Kap. 6.2.3. 85 Hró 2, S. 306; »dass sie Wikinger und Räuber waren, und nichts als Raubgut bei sich hatten.« 86 Hró 3, S. 309; »›Es ist die Art der Wikinger, sich Vermögen durch Raub und Erpressung zu verschaffen. Aber es ist die Art von Dieben, es danach zu verheimlichen.‹« 87 Hró 4, S. 310; »wegen Pferdediebstahls«.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

­ rómundrs Hof anzugreifen, da er sie durch die Vorladung beleidigt habe.88 Es folgt H eine detailreich beschriebene Kampfszene, in der nahezu alle Beteiligten ihr Leben lassen.89 Ob die Fremden tatsächlich für das Verschwinden der Pferde verantwortlich sind, oder sich zurecht über die Anschuldigung ereifern, da diese ungerechtfertigt ist, wird in der Erzählung nicht hinterfragt. Hrómundrs Ausspruch fasst das Empfinden der Figuren auch über den ­Hrómundar þáttr halta hinaus prägnant zusammen: Auf Wikingerfahrt können die Protagonisten rauben und erpressen – dies schmälert ihr Ansehen oder ihre Ehre nicht. Diebe dagegen begehen zwar die gleichen Verbrechen, verheimlichen ihre Taten aber im Anschluss. Hieraus erwächst Schande und Ehrverlust.

2.2 Gesellschaft, Gesetz und Geschichte Im vorherigen Kapitel wurde der Versuch unternommen, ein Bild der in den Isländersagas dargestellten Gesellschaft zu entwerfen, um für die großen Unterschiede zu unserer modernen gesellschaftlichen Ordnung zu sensibilisieren. Auch für die Rechtstexte muss dies vorangestellt werden, da die beiden Begriffe ›Diebstahl‹ und ›Raub‹ auch im heutigen Sprachgebrauch präsent sind, und in Gesetzestexten Verwendung finden. Anders als Konzepten wie der Magie nähert man sich diesen Verbrechen daher womöglich in der falschen Annahme eines gemeinsamen Verständnishorizontes. Zum modernen Verständnis des Diebstahls sei beispielsweise das deutsche Strafgesetzbuch herangezogen: Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.90

Als Diebstahl wird im heutigen Rechtsverständnis also ganz allgemein die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache angesehen, es zählt die Absicht, sich die Sache anzueignen. Damit vereint der heutige Diebstahlsbegriff zwei Tatbestände in sich, die nach altnordischer Rechtsvorstellung voneinander getrennt betrachtet wurden: Diebstahl und Raub. Zwar ist der Raub auch im heutigen deutschen Recht eine eigens definierte Straftat, die im § 249 des Strafgesetzbuches behandelt wird, ihr Wesensmerkmal ist aber die Anwendung von Gewalt oder Drohungen.

88 Als es zum Kampf kommt, erinnern sie ihn noch einmal daran, dass er sie Diebe genannt habe. Der starke Verleumdungscharakter des Vorwurfs wird hier unterstrichen, da selbst diese als Fremde, Räuber und Wikinger bezeichneten Antagonisten sich beleidigt fühlen. 89 Vgl. auch Andersson 1984, S. 503. 90 StGB § 242 (1).



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Im Unterschied dazu ist das Unterscheidungskriterium in allen germanischen Rechten die Heimlichkeit.91 Während ein Dieb sich seine Beute heimlich aneignet, wird die Tat beim Raub öffentlich begangen.92 Zunächst sollen hier die Begrifflichkeiten der altisländischen Rechtssammlung Grágás vorgestellt werden, bevor nach dem Verhältnis von Recht und Erzählung in den Isländersagas gefragt wird.

2.2.1 Diebstahl und Raub in der Grágás Die eben besprochene Unterscheidung galt im gesamten mittelalterlichen Skandinavien, sodass es für heimlichen Diebstahl in den jeweiligen Sprachen spezielle Begriffe gibt. Im Altisländischen sind dies þjófnaðr (m.) oder þjófskapr (m.) für den Diebstahl, der Dieb wird als þjófr (m.) bezeichnet.93 Als Adjektiv »diebisch« kann sowohl þjófligr als auch þjófgefinn verwendet werden. Hinzu kommt der Begriff þjóflaun (n. Pl.),94 das »Verbergen oder Beiseiteschaffen von Sachen in diebischer Absicht«.95 Daneben steht stuldr (m.) für den »Diebstahl« mit der Personenbezeichnung stulda(r)maðr (m.) für »Stehler, Dieb«.96 Als Verb wird meist stela »stehlen« verwendet, mit dem das Substantiv stelari (m.) in Verbindung steht.97 Die Grágás enthält keinen speziellen Abschnitt zum Diebstahl, sondern behandelt ihn im rann socna þáttr der Konungsbók, einem Abschnitt zu Hausdurchsuchungen, die durchgeführt werden können, wenn der Verdacht besteht, dass sich gestohlenes Gut im Haus befinde.98 Das Verbrechen wird wie folgt kategorisiert:99 1) Aneignung eines Gutes [er] pennings er vert eða mera (»das einen Pfenning oder mehr wert ist«): Der Geschädigte darf das Doppelte als Entschädigung fordern, die Strafe beträgt drei Mark. 2) Aneignung eines Gutes þat er vert hálfs eyris eða meira fiár (»das eine halbe Unze oder mehr wert ist«):

91 Vgl. Andersson 1984, S. 496–497 sowie Wennström 1936, S. 70–71 zur Heimlichkeit als Kennzeichen des Diebstahls im germanischen Recht. 92 Vgl. Ehrhardt 1986, Sp. 991. Vgl. auch Moser-Rath 1981, Sp. 625, zu frühen jüdische Rechtsquellen, die diese Art der Unterscheidung ebenfalls beinhalten. 93 Vgl. Ehrhardt 1986, Sp. 991 und Daxelmüller 1984, S. 405 sowie Baetke (Hrsg.) 2008, S. 774. 94 Vgl. laun (f.) – »Geheimhaltung, das Verbergen, Verhehlen; Verborgenheit, Heimlichkeit«, Baetke (Hrsg.) 2008, S. 365. 95 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 774. Cleasby (Hrsg.) 1874, S. 740; »thievish concealment of a thing«. 96 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 612. 97 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 603. 98 Einen Überblick zum Umgang mit Diebstahl in anderen skandinavischen Rechtstexten des Mittelalters bietet Maurer 1910, S. 45–49. 99 Grá § 227, S. 162–163.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

a. Nimmt derjenige das Gut oc leynir sa eigi er tecit hevir (»und verheimlicht nicht, dass er es genommen habe«), ist die Strafe scog gang[r] (»Gesetzlosigkeit«). Er soll angeklagt werden, weil er das Gut genommen hat, um davon zu profitieren, enn eigi vm þiof scap (»aber nicht des Diebstahls«). b. Nimmt derjenige aber das Gut oc leynir þiof lavnom (»und verhehlt es in diebischer Absicht«), kann er des þiofscapar (»Diebstahls«) angeklagt werden. Das Urteil lautet auch in diesem Fall Gesetzlosigkeit. Bemerkenswert ist hierbei die Unterscheidung in der zweiten Kategorie, da sowohl der heimliche als auch der offene Diebstahl mit scog gangr (»Gesetzlosigkeit«) bestraft werden. Wieso diese Unterscheidung trotzdem von entscheidener Bedeutung ist, zeigt die folgende Passage, in der erklärt wird, wie die Anklage in Zusammenhang mit Verleumdung steht. Denn wer jemanden wegen Diebstahls vorlädt, hat mit Konsequenzen zu rechnen: 1. Bekommt der Ankläger Recht, hat er nicht mit einer Gegenklage vm illmælit (»wegen Verleumdung«) zu rechnen, vorausgesetzt er hat bei der Klage ausgesagt, dass er den Beschuldigten vorgeladen hat, weil er ihn für schuldig hält und nicht fyrir háðungar sacir (»um ihn zu verhöhnen«). 2. Wird der Angeklagte aber freigesprochen, hat er das Recht zur Gegenklage wegen Verleumdung, oc telia varða fiorbavgs garð: Dem Ankläger droht eine dreijährige Landesverweisung. 3. Wer bereits in einem früheren Fall als Dieb verurteilt wurde, hat das Recht zur Gegenklage wegen Verleumdung verwirkt, vorausgesetzt sein Ankläger war tatsächlich überzeugt, dass der Beschuldigte gestohlen habe. Auch in den folgenden Abschnitten zeigt sich, dass Diebstahl als äußert ernstzunehmendes Verbrechen verstanden wurde. So kann Diebstahl nicht verjähren (alldregi fyrniz leynd þiof söc) und betrifft den Käufer des Diebesgutes in gleichem Maße wie den Dieb: Jafn micit varðar manne ef hann þigr eda cavpir vis vitande þiof stolit. sem hinom er stal. Sa er þiofs navtr. oc sva þeim er reð þiof raðom. þa scal søkia við en sömo gögn sem þiofin.100 Vermisst jemand ein Gut, und glaubt zu wissen, dass ein anderer es besitzt, hat er das Recht, ihn vor Zeugen dazu aufzufordern, das Gut zu zeigen oder es herauszugeben.101 Verweigert dieser die Herausgabe oder das Vorzeigen des Gutes, kann der Bestohlene ihn vorladen: Die Strafe beträgt drei Mark. In der Grágás zeigt sich die hohe Bedeutung der Unterscheidung anhand der Heimlichkeit. Eine Anklage wegen Diebstahls ist besonders schwerwiegend, auch wenn keine härtere Strafe droht, als auf eine offene Aneignung der Güter. Es erscheint 100 Grá § 227, S. 163; »Genauso wird derjenige verurteilt, der wissentlich gestohlenes Gut annimmt oder kauft, wie derjenige, der stahl. Dann ist er ein Diebesgenosse, und ebenso der, der zu Diebstahl riet. Sie soll man mit den gleichen Mitteln verfolgen wie den Dieb.« 101 Grá § 227, S. 164.



2.2 Gesellschaft, Gesetz und Geschichte 

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trotzdem elementar, dass derjenige eigi vm þiof scap (»nicht des Diebstahls«) angeklagt werden soll. Dies zeigt, dass eine Anklage wegen Diebstahls eine schwerwiegende Ehrverletzung darstellt, was durch die Möglichkeit, eine Gegenklage wegen Verleumdung anzustreben, bestätigt wird.102 Selbst wenn jemand wertvolles Gut raubt, ohne dies zu verheimlichen, und deshalb lebenslang zur Gesetzlosigkeit verurteilt wird, scheint es von hoher Bedeutung zu sein, seine Ehre zu wahren, indem man festhält, dass er kein Dieb ist. Die Definition der Grágás enthält eine interessante Formulierung, die erahnen lässt, welches Verständnis diesen Unterscheidungen zugrunde liegt: [O]c leynir þiof lavnom (»Und verhehlt es in diebischer Absicht«). Ein Dieb zu sein scheint mehr als Charaktereigenschaft verstanden worden zu sein, denn als Resultat eines Verbrechens. Stiehlt ein Mann und geht offen damit um, wird er zwar zum Gesetzlosen, kann seine Ehre aber behalten. Stiehlt ein Mann jedoch heimlich, und verhält sich somit ehrlos, ist er bereits ein Dieb und wird außerdem zum Gesetzlosen. Heusler weist darauf hin, dass im Gegensatz zur Grágás die Rechtsquellen anderer skandinavischer Länder für Verbrechen wie Zauberei und Diebstahl Hinrichtungsformen wie Steinigen oder Hängen für Angeklagte beider Geschlechter vorsehen.103 Eine andere Strafe als die Gesetzlosigkeit wird nur für solche Fälle in der Grágás beschrieben, in denen derselbe Mann innerhalb eines Jahres Güter im Wert von mehr als zwei Unzen von einem anderen stiehlt und dies hefir þióf lavnom leynt (»in diebischer Absicht verheimlicht hat«).104 In einem so schweren Fall ist es möglich, ihn mit einer Klage auf Versklavung vor Gericht zu laden. Wird er schuldig gesprochen, wird er zum Sklaven sva sem þræll være faðir hans en ambatt moþir (»als sei sein Vater ein Sklave gewesen und seine Mutter eine Sklavin«).105 Sein Besitz wird daraufhin dem Kläger zugesprochen.106 Wie der þjófnaðr bei weiblichen Dieben rechtlich geahndet wurde, ist unsicher, da sie nur bedingt als rechtsfähig galten. Theoretisch hätten auch Frauen wegen Diebstahls angeklagt und zur Gesetzlosigkeit verurteilt werden können, es gibt in

102 Vgl. Andersson 1984, S. 496–497. 103 Vgl. Heusler 1911, S. 36, der damit zeigen möchte, dass diese Strafen, mit denen verschiedenen Figuren der Isländersagas gedroht wird, durchaus auch in realen Gesetzen Skandinaviens vorkommen. Lúðvík Ingvarsson 1970, S. 400 zeigt, dass Hängen in anderen skandinavischen Ländern als Strafe für Diebstahl etabliert war. 104 Grá § 229, S. 165. 105 Grá § 229, S. 165. Bei ambátt (»Magd«) handelt es sich um einen der Begriffe, die nicht klar auf den rechtlichen Status der Person schließen lassen. Im Kontext der Versklavung des Diebes und der männlichen Entsprechung þræll ist hier von einer Sklavin auszugehen. 106 Vgl. Strauch 2011, S. 243, zur Versklavung des Diebes siehe auch Wilde-Stockmeyer 1978, S. 73. Es ist außerdem möglich, dass die Ausweitung der rechtlichen Bestimmungen auf Frauen in der ­Grágás eine spätere Ergänzung darstellen, da sie sich vornehmlich in der Staðarhólsbók finden, worauf Marion Poilvez in ihrem Vortrag während des Workshops Unwanted in München im Dezember 2018 hingewiesen hat.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

den Isländersagas aber keinen solchen Fall. Harald Ehrhardt nimmt an, dass Frauen erst unter dem Einfluss kanonischen Rechts für Diebstähle bestraft werden konnten, was wahrscheinlich durch Steinigung, Vergraben bei lebendigem Leib oder im Fall kleinerer Delikte durch Körperstrafen und Bußen bestraft wurde.107 Im Gegensatz zum þjófnaðr bezeichnet an. rán (n.) »Raub« die offene, meist, aber nicht notwendigerweise, gewaltsame Aneignung fremden Eigentums, der Täter wird als ránsmaðr (m.) bezeichnet.108 Das zugehörige Verb lautet ræna (»rauben«), mit dem das Substantiv ræningi (m.) »Räuber« in Verbindung steht.109 Das rán wird in der Grágás ebenfalls im rann socna þáttr definiert und in mehrere Verbrechen untergliedert. So nennt es sich hannd rán, wenn jemandem etwas aus der Hand oder ganz allgemein weggenommen wird. Meldet jemand Anspruch auf ein Gut an, ohne es festzuhalten, und ein anderer nimmt es ihm weg, wird dies als ravða rán bezeichnet, darauf steht Gesetzlosigkeit.110 Findet jemand ein Gut innerhalb oder außerhalb eines Hofes, das er als sein Eigentum betrachtet, und nimmt es mit sich, muss er dies bei den nächstgelegenen Höfen bekannt machen und seinen Wohnort nennen, damit andere, die denken, sie hätten einen Anspruch auf das Gut, dies anmelden können. Eigens behandelt wird die Wegnahme von Essen, die als besonders schwerwiegend gilt, was sich auch durch eine Änderung im Vokabular zeigt. Hier werden Begrifflichkeiten des þjófnaðr verwendet, obwohl die Tat innerhalb des Abschnitts über rán behandelt wird: Hvarz áto þyfe er meire eða mini þa er maðr stelr þvi er ǽtt er. eþa bloðugri bráð. þa er costr at stefna til scógar.111 Es zeigt sich, dass auf rán im Wesentlichen die gleichen Strafen drohen wie auf þjófnaðr. Der große Unterschied beider Passagen ist die unterschiedliche Gewichtung der Auswirkungen auf Ehre und Ruf des Angeklagten. Während beim þjófnaðr viel Raum für die Erklärung möglicher Gegenklagen wegen Verleumdung und Verhöhnung verwendet wird, wird eine mögliche Ehrverletzung beim rán nicht thematisiert. Die Grágás weist damit auf eine Vorstellung hin, die sich auch in der Sagaliteratur widerspiegelt: Während bei einer Klage wegen þjófnaðr die Ehre des Angeklagten auf dem Spiel steht, geht es beim rán allein um die Frage nach rechtmäßigen Besitzverhältnissen.

107 Vgl. Ehrhardt 1986, Sp. 992. 108 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 485–486. 109 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 510. 110 Grá § 228, S. 164. Diese unklare Formulierung bezieht sich wahrscheinlich auf bewegliche (hannd rán) und unbewegliche Güter (ravða rán), wie etwa beim Diebstahl von Grundstücken. Vgl. Ehrhardt 1995, Sp. 471. 111 Grá § 228, S. 165; »Egal ob schwerer oder leichter Diebstahl, wenn ein Mann Essbares oder rotes Fleisch stiehlt, kann man ihn auf Gesetzlosigkeit verklagen.«



2.2 Gesellschaft, Gesetz und Geschichte 

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2.2.2 Recht in den Isländersagas Wie sich nun die Gesetzestexte der isländischen Freistaatszeit zur hier beschriebenen ›Sagagesellschaft‹ verhalten, ist nicht einfach zu beantworten. Vésteinn Ólason sieht diese Schwierigkeit nicht: Obwohl die Gesetze der Freistaatzeit nur in Gesetzessammlungen aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erhalten sind, ist anzunehmen, dass sie ein Bild der alten Sozialverhältnisse geben und viele Gesetzesbeschlüsse in ihrem Kern auf die Sagazeit zurückzuführen sind. Die von den Freistaatgesetzen beschriebene Gesellschaft ist anders als die im damaligen Europa sowie im späteren Island und deckt sich in allen wesentlichen Punkten mit der in den Isländersagas dargestellten. Die Gesellschaft wird vom Gesetz zusammengehalten.112

Dieser zuletzt genannte Grundsatz ist den Sagas deutlich eingeschrieben und am prägnantesten in der Njáls saga formuliert: ›[…] með lǫgum skal land várt byggja, en með ólǫgum eyða.‹113 Trotzdem sollen altisländische Rechtstexte hier mit Vorsicht zum Vergleich herangezogen werden. Wie viele Isländersagas stammen die Rechtstexte aus dem 13. Jahrhundert, und geben in ihrem Fall Gesetze (statt Geschichten) der Sagazeit wieder. Wie die Isländersagas entstanden diese Rechtssammlungen in einer Zeit, als das Ende des Freistaates nahte oder bereits gekommen war. Beide blicken auf dieselbe vergangene Wirklichkeit zurück und sollen hier als zwei Teile einer gemeinsamen, konservierenden Tradition verstanden werden.114 Doch ebenso wenig wie die zuvor beschriebene ›Sagawelt‹ als getreues Abbild der historischen Sagazeit verstanden werden kann, können die erhaltenen Rechtstexte als Zeugen der realen Rechtspraxis verstanden werden. Bei Abweichungen zwischen den Rechtstexten und den Sagas ist daher nicht notwendigerweise einer der beiden Texte als ›korrekter‹ zu betrachten als der andere. Eine unbestreitbare Gemeinsamkeit beider Textgruppen stellt die Unterscheidung der Verbrechen anhand von Heimlichkeit und Offenheit dar. Diese ist weder eine isländische Spezialität noch eine rein juristische Kategorisierung. Im Gegenteil ist die Ächtung des Diebstahls, gerade im Gegensatz zum Raub, zeitlich wie geographisch weit verbreitet, und kann weit über die Grenzen des skandinavischen Raums und des Mittelalters hinaus festgestellt werden.115 Der Grund für die Abscheu gegenüber heimlichen Verbrechen wurde von der älteren Forschung insbesondere in der ›sittlichen Tiefe‹ des germanischen Rechts gesucht, dem eine besondere ethische Qualität zuge-

112 Vésteinn Ólason 2011, S. 27. 113 Nj 70, S. 172; »›Durch Gesetze wird unser Land erbaut, aber durch Gesetzlosigkeit verödet.‹« Ähnlich auch in anderen skandinavischen Sprachen und beispielsweise im norwegischen Frostatingsloven. Der Ausspruch wurde zum geflügelten Wort, und ist heute beispielsweise das Motto der isländischen Polizei. 114 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 114–115. Ähnlich auch Boulhosa 2005, S. 57. 115 Vgl. Kap. 1.1.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

sprochen wurde.116 Klaus von See lehnt diese Ansicht ab, und sieht den Auslöser für die frühe und starke Kriminalisierung des Diebstahls in seiner Unkontrollierbarkeit: Die scharfe Reaktion auf heimliche Taten ist eine ganz natürliche Parallelerscheinung zum Offenkundigkeitsprinzip eines jeden primitiven Rechts. Im hochmittelalterlichen Recht verlagerte sich das Interesse dann mehr auf die offenen Gewaltverbrechen, die die Ruhe und Ordnung, den ›Frieden‹ des Landes störten. Das führte einerseits zu einer Wandlung des ›Mord‹-Begriffs, der nun weniger das heimliche als das gewaltsame Verbrechen zu bezeichnen begann, und andererseits zu einem Verfall des ›Raub‹-Begriffs, da das ›Raub‹-Delikt in Bandenverbrechen (›Heerwerk‹), Wegelagerei u.  ä. aufzugehen begann.117

Während der Raub eine Kraftprobe erfordert, und damit vom Stärkeren ­abgewendet werden kann, kann dem Diebstahl nur durch Vorsichtsmaßnahmen begegnet wer­ den.118 An diese Unterscheidung knüpfen sich weitere Konnotationen, wie die Ehrlosigkeit des Diebstahls, im Gegensatz zum moralisch wesentlich höher angesehenen Raub. Von See merkt außerdem an, dass bereits die Wortbildung Aufschluss über die zugrundeliegende Vorstellung gibt:119 Es ist kein Zufall, daß das Wort þjófr ›Dieb‹ (< germ. *deuƀaz) eine der ältesten Täterbezeichnungen ist: der ›Dieb‹ ist ein bestimmter Menschentyp, der gleichsam erst das Delikt schafft. Das Wort þjófnaðr ›Diebstahl‹ ist erst eine späte Bildung auf der Grundlage der in þjófr vorliegenden Wurzel. Umgekehrt steht es mit dem ›Raub‹. Hier ist der Deliktsbegriff rán das ältere Wort, auf dessen Grundlage dann der Täterbegriff ránsmaðr gebildet wurde […]. ›Räuber‹ ist der Mann nur im Augenblick der Tat, es gehört nicht zu seinem Wesen, ›Räuber‹ zu sein.120

Diese Vorstellung vom ›Menschentypus Dieb‹ findet sich auch in den Isländersagas. Er gilt als Personifikation des Dunklen und Heimlichen, wie eine kurze Bemerkung in der Droplaugarsona saga unterstreicht. Nach der Bruderrache an Helgi Ásbjarnarson schleichen Grímr und seine Männer nachts einen Fluss entlang, und sehen ein Zelt. Grímr geht darauf zu und fragt: ›Hví láti þér þjófa hjá skipi ydru?‹121 Er bezieht sich damit auf sich und seine Männer, und das nächtliche Herumschleichen. Ein Dieb-

116 Vgl. von See 1964, S. 204, der beispielsweise Karl von Amira als Vertreter dieser romantischen Vorstellung nennt, und Otto von Gierke zu den unehrlichen Verbrechen zitiert, »die allein um der Heimlichkeit willen dem wahrhaftigen, die lichtscheue Lüge am tiefsten verachtenden deutschen Geist schuldvoller als die offene noch so rauhe Gewaltthat erschienen« (hier zitiert nach Gierke 1871, S. 6–7, von See verwendet die 2. Auflage von 1886 (dort S. 13)). 117 von See 1964, S. 204. 118 Vgl. Gehrlach 2016, S. 13–15. Dort findet sich auch ein kurzer Abriss der Wahrnehmung des Verbrechens im Laufe der verschiedenen Jahrhunderte. Nur im alten Ägypten findet Gehrlach eine Ausnahme, dort wird der Gerissenheit der Diebe auch rechtlich mit Respekt begegnet, vgl. Gehrlach 2016, S. 36–37 sowie Gehrlach 2018. 119 Vgl. von See 1964, S. 10. 120 von See 1964, S. 10. 121 Drop 13, S. 172; »›Warum lasst ihr Diebe an euer Schiff heran?‹«



2.2 Gesellschaft, Gesetz und Geschichte 

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stahl spielt in der Episode keine Rolle, doch steht der Dieb für alles Nächtliche und Verborgene. Auch das Offenkundigkeitsprinzip sowie der hohe Wert der öffentlichen Meinung spiegeln sich in den literarischen Texten, indem Handlungen beispielsweise mit Hilfe der Phrase margir menn mæla (»viele Leute sagen«) bewertet werden.122 Andersson fasst den Unterschied folgendermaßen zusammen: »The difference is confirmed by passages in the sagas which indicate that to be a ránsmaðr ›robber‹ was a straightforward matter, but to be a þjófr ›thief‹ was a disgrace.«123 Während die grundsätzliche Einstellung den beiden Verbrechen gegenüber in den Rechtstexten und Sagas übereinstimmt, gehen die Figuren der Isländersagas häufig andere Wege, um Delinquenten zu verfolgen, als dies die Grágás vorsehen würde. Diese Tatsache hat einige Untersuchungen zum juristischen Gehalt der Sagas angeregt, die einen Vergleich der dargestellten Rechtswirklichkeit mit den Bestimmungen der Grágás anstellen.124 Den Bereich des Strafrechts verglich Heusler 1911 in einer umfangreichen Studie. In vielen Fällen, insbesondere bei Raub, finden in den Sagas außergerichtliche Vergleiche statt, oder werden Selbsturteile gesprochen. Gerade bei Dieben finden sich auch radikalere Methoden, sich des Verbrechers zu entledigen. Totschläge und Hinrichtungen, die ohne Gerichtsgang erfolgen, können nach Heusler aber nicht mit Gerichtsurteilen wie der Ächtung verglichen werden, und daher nicht als ›Todesstrafen‹ bezeichnet werden, da sie zur »außergerichtlichen Racheübung« zählen.125 Er differenziert weiter zwischen sozial höherstehenden Figuren, die durchaus mit gerichtlichen Mitteln für Schadenszauber und Diebstahl belangt werden, und Figuren sozial niedriger Herkunft:126 Es ist Lynchjustiz, […], die zwei genannten lichtscheuen Verbrechen würdigte man nicht der Ahndung durch die ehrliche Kriegswaffe, man wählte das Steinigen, das Ersäufen und den Galgen, […] eine umständliche, zeitraubende Gerichtsklage ließ man es sich nicht kosten, so daß der Vorgang ein Mittelding wurde zwischen formlosem Totschlag und zeremonieller Hinrichtung.127

122 Vgl. Kap. 4.1. 123 Andersson 1984, S. 497. 124 Vgl. Strauch 2011, S.  8–9. Vgl. bspw. Lehmann u. Schnorr von Carolsfeld 1883, Heusler 1912, ­Maurer 1896. 125 Vgl. Heusler 1911, S. 37. Bei Dieben und bösen Zauberern bemerkt Heusler aber auch innerhalb dieser außergerichtlichen Racheausübung einige Besonderheiten gegenüber anderen Gewalttaten in den Sagas. Zum einen geschehe die Tötung planvoll und außerhalb eines kriegerischen Angriffs, wodurch sie speziell entehrender Natur für die Figur sei. Zum anderen können Frauen, die normalerweise nicht in die Rachetaten eingebunden sind, von dieser Art der Hinrichtung betroffen sein. 126 Vgl. Heusler 1911, S. 37. 127 Heusler 1911, S. 37.

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 2 Zur Erzähl- und Vorstellungswelt der Isländersagas

Insgesamt kommt Heusler zum Urteil, die Sagas hätten ein oft wesentlich anderes Strafrecht als die Rechtsbücher, wobei die Sagas meist das ältere Recht darstellten.128 Heusler unterscheidet die beiden Bereiche als Theorie und Praxis, in den Sagas finde sich ein gefestigtes Gewohnheitsrecht, das teilweise den theoretischen Forderungen der Grágás widerspreche.129 Von See dagegen verwehrt sich gegen die Vorstellungen Heuslers, bei der Grágás handle es sich um ein theoretisierendes Werk für Gelehrte, während die Sagas den alltäglichen Rechtsgebrauch darstellten. Der Grund für Differenzen sei vielmehr in der Natur der Sagas zu suchen, die nur Erzählenswertes darstellen und kein Interesse hätten, die alltägliche Anwendung juristischer Normen abzubilden.130 In jüngerer Zeit äußert sich Dieter Strauch zu dieser Diskussion und erklärt Unterschiede durch die weit einfachere Entwicklung, die die praktische Anwendung der Gesetze gegenüber dem schriftlich fixierten Strafrecht nahm. So vergleichen sich die Parteien in den Sagas beispielsweise sehr häufig, wodurch es gar nicht erst zu einer öffentlichen Anklage kommt.131 Eine Untersuchung der gewählten Strafverfolgungsmethode wurde in der vorliegenden Studie für ein kleineres Korpus von Sagas unternommen, die alle in der gleichen Sammelhandschrift überliefert sind.132 Festzuhalten ist hier von Sees simple Schlussfolgerung: »Juristisches Fachwissen und literarische Kunst sind offenbar zweierlei.«133 Nicht jeder Literat des alten Islands wird ein Rechtsgelehrter gewesen sein, wenngleich sicher viele Gelehrte in beiden Traditionen bewandert waren. Doch selbst wenn der Verfasser einer Saga die genauen juristischen Vorschriften gekannt haben mag, konnte er sich immer noch entscheiden, diese zugunsten seiner Erzählabsicht anzupassen.134 Dieses von den Verfassern an ihre Geschichten angepasste Recht, bezeichnet Hannah Burrows als ›saga law‹: In this context, I would suggest that the veracity of a particular detail is not of primary concern, as long as it works within the world of the saga, and it will be part of my task to demonstrate how various saga narrators establish their own ›saga law‹, so that the actual legal competence of the audience (or indeed, author) is not especially an issue.135

Rechtliche Details und Rechtswörter seien innerhalb der Isländersagas mit den eingefügten Skaldenstrophen zu vergleichen. Wie diese tragen sie entscheidend zu Handlung und Erzählweise der Saga bei. Doch können sie, ebenso wie Skaldenstrophen,

128 Vgl. Heusler 1911, S. 15. 129 Vgl. Heusler 1911, S. 215. 130 Vgl. von See 1964, S. 79. 131 Vgl. Strauch 2011, S. 245. 132 Vgl. Kap. 7.1.1. 133 von See 1964, S. 83–84. Ähnlich auch Cochrane 2012, S. 45: »[T]here is no reason to assume that every saga writer, teller or reader was a fully versed legal expert.« 134 Vgl. von See 1964, S. 83–84. Von See nennt Beispiele der Njáls saga und Egils saga zur Untermauerung dieser These. 135 Burrows 2009, S. 36.



2.2 Gesellschaft, Gesetz und Geschichte 

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sowohl authentische Überreste aus der Sagazeit darstellen als auch Partien, die vom Verfasser einer Saga verändert oder erfunden wurden.136 Auch Jamie Cochrane bezeichnet die Gesetze der Freistaatszeit als »part of the fabric of the sagas of Icelanders«,137 wenngleich die dargestellte Gesellschaft in den Sagas nicht immer mit derjenigen der Grágás übereinstimme. Unterschiede zwischen den Rechtstexten und dem ›Sagarecht‹ können trotzdem auf Eigenheiten eines Erzähltextes hinweisen. Für die Eigentumsdelikte der Isländersagas stellt sich insgesamt betrachtet weit häufiger die Frage, ob überhaupt zu rechtlichen Schritten gegriffen wird, als dass man unterscheiden könnte, ob die Vorstellungen der Grágás zum Tragen kommen, oder ein anderslautendes ›Sagarecht‹ eingesetzt wird. In Eigentumsdelikten steht für eine Sagafigur nicht nur das konkrete Gut auf dem Spiel. Die Fähigkeit, den eigenen Besitz zu schützen, oder sich den Besitz eines anderen aneignen zu können, berührt sämtliche hier dargestellten Wertvorstellungen und Konzepte. Macht, Ehre, helgi und sozialer Status einer Figur sind keine festen Größen innerhalb der Sagawelt, sie werden immer wieder neu verhandelt. Fälle von Diebstahl und Raub stellen Bruchstellen im Gefüge der Sagagesellschaft dar, da in diesen Episoden immer eine Evaluierung der Machtverhältnisse stattfindet. Dies geschieht in Diebstahlsepisoden über den drohenden Verlust an Ansehen, in Raubepisoden durch die notwendige Kraftprobe der Kontrahenten. Auch in der Art der Narration spiegeln sich diese Brüche häufig, indem spezielle erzählerische Kniffe angewendet werden, um die Heimlichkeit oder Offenheit des Verbrechens zu reflektieren.138

136 Vgl. Burrows 2009, S. 54. 137 Cochrane 2012, S. 45. 138 Vgl. Kap. 4.1.

3 Die ›Semantik des Diebstahls‹ Die bisher einzige Studie zum Diebstahl in der altnordischen Literatur stammt von Theodore M. Andersson. Seine knappe Betrachtung des Verbrechens konzentriert sich insbesondere auf dessen ›Semantik‹, und hatte entscheidenden Einfluss auf die vorherrschende Forschungsmeinung zu diesem Verbrechen. Andersson geht davon aus, dass in der altnordischen Literatur ein breites Bedeutungsspektrum an das Verbrechen Diebstahl geknüpft sei, dieses bezeichnet er als die »semantics of theft«.1 Der Vorwurf des Diebstahls bringe ein ganzes »set of associations« mit sich, das den typischen Dieb als »an outsider, a sorcerer, and a sexual deviant« darstelle.2 Andersson nimmt an, dass diese Zuschreibungen tief in der Vorstellungswelt der Texte verwurzelt seien, also kultureller anstelle von persönlicher Natur seien.3 Es sei der Marker ›Heimlichkeit‹, der den Diebstahl in die Nähe feigen und unmännlichen Verhaltens rücke, was weitere Konnotationen mit sich bringe: A secret crime was a cowardly and womanish crime. Cowardice and womanish conduct belonged to the range of meaning in the concept ergi and led through this concept to the further implications of sorcery and sexual perversion, which we find in the Icelandic sagas.4

Jemandem ergi vorzuwerfen, indem man ihn als argr oder ragr bezeichnet, stellt eine besonders schwere Beleidigung dar, für deren Ausspruch Gesetzlosigkeit als Strafe vorgesehen ist.5 Der Vorwurf kann ein breites Spektrum von Normabweichungen bezeichnen, vom sexuellen Kontakt zu nicht-menschlichen Wesen bis zum ›passiven‹ Part im homosexuellen Geschlechtsakt.6 Während ergi bei Männern mit Passivität assoziiert wird, wird bei einer Frau – deren normkonforme Rolle passiv konzeptualisiert ist – ›übermäßige‹ sexuelle Aktivität als argr/ragr verstanden. Vésteinn Ólason fügt die weibliche Sexualität betreffend eine gedachte Nähe zur Zauberei an, diese finde sich »[…] besonders bei Hexen- und Trollweibern, die man mit sexuellen Exzessen in Verbindung brachte.«7 1 Andersson 1984, S. 502. 2 Andersson 1984, S. 502. 3 Für solche kulturellen Zuschreibungen soll hier anstelle von ›Semantik‹ der Begriff ›Konnotationen‹ verwendet werden. Vgl. Löbner 2015, S. 43 (Hervorhebung im Original): »Wenn man einen Ausdruck mit deskriptiver Bedeutung benutzt, aktiviert man damit […] einen ganzen Hof von Assoziationen. Einige davon sind rein persönlich, andere dagegen kulturell, […]. Die kulturellen Assoziationen nennt man Konnotationen; […].« 4 Andersson 1984, S. 505. 5 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 183 und S. 200. Ebenso Ström 1974, S. 6 sowie Meulengracht Sørensen 1983. 6 Vgl. Ström 1974, S. 4. Siehe auch Meulengracht Sørensen 1993a, S. 199–200 sowie Hiltmann 2011, S. 282–285. Eine Übersicht von fünf möglichen Bedeutungsvarianten bietet Ármann Jakobsson 2008, S. 55–57 (1. Übermäßige weibliche Sexualität; 2. Männliche Homosexualität; 3. Unmännlichkeit/Effemination; 4. Feigheit; 5. Teil eines magischen Rituals). 7 Vésteinn Ólason 2011, S. 154. https://doi.org/10.1515/9783110699265-003

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 3 Die ›Semantik des Diebstahls‹

Diebstahl

Heimlichkeit Feigheit Unmännlichkeit

ergi Zauberei

Perversion Abb. 1: Der Zusammenhang von Heimlichkeit, Zauberei und ›Perversion‹ nach Andersson 1984 (eigene Darstellung).

Zum ergi-Komplex rechnet Andersson auch die Zauberei (»sorcery«), ein im Gegensatz zum Diebstahl ausführlich diskutiertes Motiv der Isländersagas. Wie insbesondere François-Xavier Dillmann zeigen konnte, ist Magie in den Sagas weder notwendigerweise negativ konnotiert, noch überproportional häufig mit Weiblichkeit verbunden.8 Da jedoch alle Textbeispiele, in denen Diebstahl mit magischen Handlungen verbunden ist, äußerst negativ dargestellte Schadenszauber schildern, soll die ›Magie‹Diskussion hier nicht vertieft werden, und am von Heusler verwendeten Begriff der ›Zauberei‹ und dem Begriffspaar »Diebstahl und Zauberei«9 festgehalten werden.10 Andersson nimmt weiterhin an, ein Dieb wäre »often a foreigner or otherwise estranged from the community.«11 Auch hier besteht eine Assoziationsmöglichkeit zur Zauberei, die in den Sagas häufig als Attribut des ethnisch ›Fremden‹ aufzufinden ist.12 Es gibt viele Diebstähle innerhalb der Isländersagas, die mit ›Fremden‹ in Zusammenhang gebracht werden, ebenso mit sozialen Außenseitern.13 Um Fremde, die außerdem als Zauberer dargestellt werden, handelt es sich bei den beiden Unruhestiftern

8 Vgl. Dillmann 2006, insb. S. 157. Auch die Erkenntnis einer vergleichbaren Anzahl von weiblichen und männlichen Magiepraktizierenden in den Isländersagas spricht für eine tendenziell weibliche Konnotation, wenn man bedenkt, dass Frauenfiguren weit seltener als Akteure auftreten und die Magieepisoden zu den ausführlichsten Schilderungen weiblicher Handlungen überhaupt zählen, vgl. hierzu Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2009, S. 410 sowie Jochens 1996, S. 123–244. 9 Heusler 1911, S. 131. 10 Hier soll, dem Ansatz von Jóhanna Katrín Friðriksdóttir 2009 und Lambertus 2014 folgend, Zauberei als literarisches Motiv betrachtet werden, ungeachtet der Frage, ob und welche realhistorischen Dimensionen den Texten zugrunde liegen. In beiden Artikeln finden sich sowohl Abrisse zur Forschungsgeschichte als auch Literaturhinweise zur Magie in der altnordischen Literatur. 11 Andersson 1984, S. 503. 12 Vgl. Lindow 1995, insb. S. 22 und in Anlehnung Lambertus 2014, S. 48–49. 13 Diese werden ausführlich im Kap. 7 besprochen.



3 Die ›Semantik des Diebstahls‹ 

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Kotkell und Gríma aus der Laxdœla saga. Die Familie stammt von den Hebriden, sie alle sind mjǫk fjǫlkunnig ok inir mestu seiðmenn.14 Als sie mit ihrer Nachbarin Ingunn in Streit geraten, sucht diese bei ihrem Sohn Þórðr Hilfe. Ihre Beschwerde lautet, Kotkel ok konu hans ok sonu gera sér óvært í fjárránum ok fjǫlkynngi.15 Ihr Sohn verspricht, sich þjófum þeim16 anzunehmen und zieht mit neun Männern zu Kotkells Hof. Er lädt Kotkell und Gríma vor Gericht um þjófnað ok fjǫlkynngi ok lét varða skóggang.17 Es kommt allerdings nie zur Verhandlung, da Kotkell und seine Familie das Schiff, auf dem sich Þórðr und alle Zeugen befinden, mit Hilfe von Zauberei zum Sinken bringen, sodass alle Passagiere ertrinken. Nachdem sie durch Zauberei ein Kind getötet haben, werden Kotkell und Gríma mit Steinen erschlagen, ihr Sohn Hallbjǫrn wird ertränkt und der entkommene Sohn Stígandi wird kurz darauf ebenfalls gesteinigt. Die gegen Kotkell und Gríma gerichtete Anklage wegen Diebstahls und Zauberei ist vor allem bemerkenswert, da von keinem einzigen gestohlenen Gegenstand oder von einem Diebstahlsverdacht berichtet wird, während ihre Zaubereien mehrfach beschrieben werden.18 Entsprechend erfährt man nichts Näheres über die Umstände der Diebstähle, wie etwa über den Wert des Diebesgutes oder über die Heimlichkeit des Vorgehens. Andersson bewertet diese Episode als einen »case of xenophobia«,19 der hinzugefügte Diebstahl sei als Pendant zur Anklage wegen schädlicher Magie zu verstehen.20 Þórðrs Verhalten in dieser Episode steht in Einklang mit den Bestimmungen der Grágás. Er lädt Kotkell und Gríma vor das Thing, um dort auf skóggangr (»Gesetzlosigkeit«) zu klagen. Bei ›gewöhnlichen Dieben‹ hätte dieses Vorgehen möglicherweise zum Erfolg geführt, hier wird ihm aber ihr zweites Verbrechen zum Verhängnis, der Schadenszauber.21

14 Lax 35, S. 95; »sehr zauberkundig und große seiðr-Praktizierende«. 15 Lax 35, S. 98; »dass Kotkell, seine Frau und ihre Söhne sie mit Räubereien und Zauberei plagten«. 16 Lax 35, S. 99; »diesen Dieben«. 17 Lax 35, S. 99; »wegen Diebstahls und Zauberei und klagte auf Gesetzlosigkeit«. 18 Vgl. Andersson 1984, S. 499. 19 Andersson 1984, S. 499. Auch Miller 1986a, S. 111–112 diskutiert den Fall unter diesem Aspekt und macht Kotkells Familie als Sündenböcke aus, die für ein durch das Wetter hervorgerufenes Unglück verantwortlich gemacht werden: »It was much more satisfying to blame someone upon whom they could avenge themselves than to internalize their rage. So they blame the foreigners with the strange names« (S. 112). 20 Vgl. Andersson 1984, S. 499–500. 21 Obwohl also zunächst ein Gerichtsverfahren angestrebt wird, wird die Familie schließlich getötet. Die erwähnten Strafen (Steinigung und Ertränken) lassen sich aber weniger auf den Vorwurf des Diebstahls zurückführen, als auf ihre Zauberei. Andersson 1984, S. 499–500 weist außerdem darauf hin, dass es sich bei der Steinigung um eine Strafe handelt, die besonders häufig Frauen zugekommen sei. Daraus zieht er den Schluss, dass »the penalty for theft is the penalty typically used against women and the disenfranchised says much about the status of the crime«. Anzufügen ist, dass es sich bei der Steinigung von Kotkell und Gríma aber nicht um ein Urteil, sondern um das Resultat von Selbstjustiz handelt, die als Strafe für Zauberei angewandt wird, und nur äußert sekundär für Diebstahl.

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 3 Die ›Semantik des Diebstahls‹

Ihre Herkunft und gesellschaftliche Stellung betreffend handelt es sich bei Kotkell und seiner Familie eindeutig um die von Andersson angenommenen Außenseiter, die aus einem anderen Land stammen und in der isländischen Gesellschaft einen niedrigen Rang einnehmen. Die Anklage um þjófnað ok fjǫlkynngi (»wegen Diebstahls und Zauberei«) unterstreicht in ihrer Verbindung den verachtenswerten Charakter der Figuren. Die narrative Funktion des Vorwurfes besteht allein darin, die Klage wegen Zauberei zu verstärken. Da nie von einem Diebstahl berichtet wird, könnte man vermuten, dass es sich bei den Vorwürfen wegen fjárránum ok fjǫlkynngi und þjófnað ok fjǫlkynngi um etablierte Phrasen handelt, die dem Vorwurf der Zauberei zusätzliches Gewicht verleihen sollen. Dies wird gestützt durch die offensichtliche Austauschbarkeit der Begriffe fjárrán (»Raub«) und þjófnaðr (»Diebstahl«). Diese beiden Bezeichnungen werden ansonsten sensibel voneinander getrennt, eine synonyme Verwendung ist ungewöhnlich. Auch Miller nimmt an, dass es sich hier um eine verbreitete Verbindung handle, legt den Schwerpunkt aber auf den Diebstahlsvorwurf. Die Anklage der Zauberei diene dazu, einen nicht bewiesenen Diebstahl verfolgen zu können: »It was a way of prosecuting someone for ill-fame or for having provoked suspicion when precise grounds or the evidence to prove them were unavailable.«22 Im Folgenden soll untersucht werden, wie häufig die Verbindung von þjófnað ok fjǫlkynngi tatsächlich in den Isländersagas anzutreffen ist, und welche anderen Konnotationen an das Verbrechen Diebstahl geknüpft sind. Zunächst wird hierzu auf Anderssons primäres Textbeispiel eingegangen, die Zauberer und Diebe der Vatnsdœla saga. Nach einer Prüfung dieser Verbindung mit Hilfe der restlichen Quellenzeugnisse der Isländersagas soll untersucht werden, inwiefern die Verbindung von Diebstahl und dem ergi-Komplex gerechtfertigt ist.

3.1 Die Antagonisten der Vatnsdœla saga In keiner anderen Saga ist der Zusammenhang von Heimlichkeit, Diebstahl, Zauberei und Unmännlichkeit so prominent dargestellt wie in der Vatnsdœla saga. Nach dem Tod des erfolgreichen Siedlers Ingimundr müssen sich seine Söhne Þorsteinn und Jǫkull im Vatnsdalr als Anführer behaupten und ihre Herrschaft gegen einige Unruhestifter verteidigen.23 Es tauchen in drei direkt aufeinanderfolgenden Kapiteln drei

22 Miller 1986a, S. 116. 23 Vgl. auch Miller 1990, S. 24. Die Gegend vor »local troublemakers, sorcerers and thieves« zu schützen gehört zu den Pflichten eines Bezirksoberhaupts, deren Erfüllung notwendig ist, um sowohl ihr Ansehen als auch die Anzahl ihrer Gefolgsleute zu gewährleisten. Gleiches gilt außerhalb Islands für Könige, beispielsweise wird König Magnús von Árnor in einer Skaldenstrophe gelobt, er sei der hlenna þreytir (Arn, S. 169; »Bekämpfer der Diebe«). Der Ausdruck hlenni kommt in poetischen Um-



3.1 Die Antagonisten der Vatnsdœla saga 

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Antagonisten auf, die jeweils Kombinationen der Merkmale ›Dieb‹, ›Zauberer‹ und ›Feigling‹ tragen. Der erste davon ist Þórólfr sleggja: Nú skal segja frá þeim manni, er fyrr var nefndr, er hét Þórólfr sleggja; hann gerðisk inn mesti óspekðarmaðr, bæði var hann þjófr ok þó um annat stórilla fallinn; þótti mǫnnum með stórmeinum hans byggð ok einskis ills ørvænt fyrir honum. […] [Þ]at váru tuttugu kettir; þeir váru ákafliga stórir ok allir svartir ok mjǫk trylldir.24

Þorsteinn wird gebeten, sich des Übeltäters anzunehmen, da ihm nachgesagt wird, er habe frá mǫrgum stolit ok gǫrt svá mart ómannligt annat.25 Es folgt eine kuriose Szene, in der Þórólfr seine Katzen durch Magie vergrößert und ihnen Kampfkraft einflößt. Den mit großer Mannschaft angerückten Brüdern gelingt es zwar, Þórólfr zu überwinden, einer von ihnen ertrinkt aber gemeinsam mit ihm.26 Zwar werden seine magischen Fähigkeiten durch die Katzen in der Episode deutlich sichtbar, es gibt aber nur einen indirekten Hinweis auf einen Diebstahl, indem Þórólfr zwei volle Silberkisten aus dem brennenden Haus rettet. Obwohl nie auserzählt, lässt sich der Vorwurf des Diebstahls mit Þórólfrs anderen Vergehen so leicht verknüpfen, dass er zur Verstärkung der Anklage dienen kann. Diebstahl, Schadenszauber und andere ›unmännliche‹ Taten decken eine so große Bandbreite verabscheuter Verbrechen ab, dass sie Þórólfr als prototypischen Antagonisten der Isländersagas zeichnen, dessen Überwindung den Ingimundarsöhnen große Ehre einbringt. Der Vorwurf, er habe mart ómannligt annat begangen korrespondiert mit dem Ausdruck um annat stórilla fallinn und kann sowohl un-›männliches‹ als auch un-›menschliches‹ Verhalten bezeichnen.27 Eine Durchsicht der Übersetzungen zeigt, dass diese Passage meist nicht wortwörtlich übersetzt wird, sondern durch Variationen von »[…] und noch viele andere schändliche Verbrechen«28. Andersson selbst übersetzt: »many other unmanly things«29 und führt weiter aus: »The word ›unmanly‹ contains an unambiguous suggestion of sexual aberration in Icelandic, and

schreibungen einige Male für Diebe und Räuber vor, hat als Rechtswort außerhalb der Dichtung aber keine Bedeutung, vgl. von See 1964, S. 21. 24 Vtn 28, S. 72–73; »Nun soll von jenem Mann erzählt werden, der zuvor erwähnt wurde und Þórólfr sleggja hieß. Er wurde zum größten Störenfried, er war sowohl ein Dieb als auch zu anderen schlimmen Verbrechen fähig; den Leuten erschien es ein großes Übel zu sein, dass er sich hier angesiedelt hatte, und es gab nichts Schlechtes, das man ihm nicht zutraute. […] Da waren 20 Katzen, sie waren außerordentlich groß, allesamt schwarz und in hohem Maße verzaubert.« 25 Vtn 28, S. 73; »von vielen gestohlen und viele andere unmännliche Taten vollbracht.« 26 Vgl. auch Andersson 1984, S. 502 sowie Lúðvík Ingvarsson 1970, S. 397. 27 Vgl. mannligr in Fritzner (Hrsg.) 1891, S. 643 sowie Baetke (Hrsg.) 2008, S. 405. 28 Schmalzer 2011, S. 243. Auch sonst wird nicht auf die genaue Bedeutung eingegangen, vgl. Wawn (Übers.) 1997: »many another wicked deed« (S. 35) sowie Vogt (Übers.) 1964: »viel anderes Schändliche« (S. 76). 29 Andersson 1984, S. 502.

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 3 Die ›Semantik des Diebstahls‹

the association between theft and ergi ›perversion‹ […] is thus confirmed.«30 Interessant ist in beiden Bedeutungsvarianten, dass der Ausdruck ómannligt hier direkt an den Diebstahlsvorwurf gekoppelt ist, ohne eine semantische Brücke zur Zauberei zu benötigen. Wie in Anderssons Argumentation tritt diese unabhängig vom Diebstahl, aber als weitere Komponente des ergi-Spektrums auf. Auch im direkt folgenden Kapitel spielt die Kombination aus Zauberei und Diebstahl eine Rolle. Már, einem Verwandten der Ingimundarsöhne, kommen einige Schafe abhanden. Es folgt ohne direkte Kausalverbindung eine weitere Figureneinführung: Þorgrímr hét maðr ok var kallaðr skinnhúfa; […] hann var fjǫlkunnigr mjǫk ok þó at ǫðru illa.31 Danach findet ein Hirte die Schafe unversehrt und erzählt Már, sie seien auf einer besonders saftigen Wiese gewesen, die im Grenzgebiet zwischen seinem und Þorsteinn Ingimundarsons Land liege. Már nimmt diese Wiese in Besitz. Obwohl sich die Ingimundarsöhne daraufhin in erster Linie von Már beraubt fühlen,32 dehnt sich ihr Zorn auf Þorgrímr aus, der nun (unvermittelt und ohne Erklärung) mit Már in Verbindung steht; ›dregsk sú mannfýla mjǫk óþarfi til, hann Þorgrímr skinnhúfa‹.33 Es wird nie aufgeklärt, ob Þorgrímr etwas mit dem Verschwinden der Schafe zu tun hatte, stattdessen wird im Weiteren seine Zauberkunst ebenso thematisiert wie seine Feigheit. Die Assoziation ergibt sich durch die umrahmenden Episoden, die beide einen zweifelhaften Charakter beinhalten, der als Dieb bezeichnet wird. Kurz nach dem Tod seines diebischen Namensvetters wird Þórólfr heljarskinn als inn mesti þjófr34 bezeichnet. Dieser hatte schon in seiner vorherigen Wohngegend einen schlechten Ruf und zieht nun in den Bezirk der Ingimundarsöhne. Es heißt über ihn, er átti ok blótgrafar, því at menn hugðu, at hann blótaði bæði mǫnnum ok fé.35 Zwar ist es hier nicht direkt Zauberei, die ihm nachgesagt wird, jedoch mit Tier- und Menschenopfern ein Vergehen, das ebenfalls den Kontakt zu überirdischen Mächten impliziert.36 Die Brüder nehmen sich auch dieses Problems an. Vor ihrem Angriff fordert Þórólfr seine Männer auf, in ein Versteck zu fliehen, falls man ihnen zu stark zusetze. Als Jǫkull Ingimundarson ihn verfolgt, bekommt es Þórólfr aber doch mit der Angst zu tun: En er Þórólfr sá, at hann myndi eigi komask undan, þá settisk hann niðr í mýrinni ok grét. Þar heitir síðan Grátsmýrr. Jǫkull kom þá at honum ok kvað hann vera 30 Andersson 1984, S. 502. 31 Vtn 29, S. 76; »Þorgrímr hieß ein Mann und er wurde skinnhúfa (»Pelzmütze«) genannt […] er war sehr zauberkundig und außerdem auch anderweitig böse.« 32 Vgl. Kap. 7.2.1. 33 Vtn 29, S. 77; »der Schurke zielt schwer darauf, uns zu schaden, dieser Þórólfr skinnhúfa.« 34 Vtn 30, S. 82; »der größte Dieb«. 35 Vtn 30, S. 82; »besaß auch Opfergruben, und die Leute glaubten, dass er sowohl Menschen als auch Vieh opferte«. Þórólfr heljarskinn sammelt zudem eine Diebesbande von neun Männern um sich, vgl. hierzu Kap. 6.2.3. 36 Vgl. etwa Pesch 2003, die erklärt, dass Opferrituale in den Sagas und anderen Schriftquellen aus christlicher Zeit als »Kernsymbole des Spätpolytheismus und der Superstition im allg[emeinen]« (S. 117) verwendet werden.



3.1 Die Antagonisten der Vatnsdœla saga 

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mikla mannfýlu ok illmenni, en þó engan þróttinn í.37 Jǫkull tötet daraufhin nicht nur Þórólfr, sondern auch drei weitere fliehende Diebe, was als sehr tapfere Tat bewertet wird. Die besondere Hervorhebung von Jǫkulls Tapferkeit dient hier als Kontrastfolie für die Feigheit der Diebe, die sich verstecken und vor der Gefahr fliehen, anstatt sich einem Kampf zu stellen. Dem Dieb Þórólfr wird zusätzlich vorgeworfen, er sei ein Menschenopferer, seine Unmännlichkeit findet ihren Höhepunkt im Moment seines Todes: Anstatt zu kämpfen setzt er sich und weint – sein ›Nachruhm‹ ist das nach ihm benannte Grátsmýrr (»Heulmoor«).38 Für diese drei Episoden der Vatnsdœla saga lässt sich die Variation von drei Komponenten feststellen, deren Kombination jeweils einen besonders negativ konnotierten Antagonisten formt. Diebstahl und Zauberei werden hierbei abgewechselt und immer mit Unmännlichkeit oder Feigheit gepaart. Das jeweils ausgelassene Element kommt in unterschiedlicher Intensität als weitere Assoziation hinzu: Zuerst ist der Antagonist deutlich Dieb und Zauberer, danach Zauberer und vielleicht ein Dieb, danach ein Dieb und Opferer, was schematisch betrachtet als Substitut der Zauberei verstanden werden kann. 1. Þórólfr sleggja → Diebstahl & Unmännlichkeit (Feigheit),  + Zauberei 2. Þorgrímr skinnhúfa → Zauberei & Unmännlichkeit (Feigheit),  (+ Diebstahl) 3. Þórólfr heljarskinn → Diebstahl & Unmännlichkeit (Feigheit),  (+ Zauberei) Diese dreifache Motivvariation hat zunächst die Funktion zu illustrieren, dass Ingimundrs Söhne in der Lage sind, Recht und Ordnung im Vatnsdalr gegen allerlei Spielarten des Unrechts zu verteidigen. Die jeweiligen Paarungen bestätigen dabei Anderssons Annahme: Als Gemeinsamkeit aller drei Figuren lässt sich deren Unmännlichkeit oder Feigheit feststellen, die jeweils flexibel mit den Attributen ›Dieb‹ oder ›Zauberer‹ kombiniert werden können, um die Bedrohlichkeit des Übeltäters zu unterstreichen. Diese wenig subtile Wiederholung wird durch die Namen der Antagonisten zusätzlich unterstrichen: Die beiden Figuren mit derselben Motivkombination tragen den Namen Þórólfr, die abweichende Gewichtung beim mittleren Gegner äußert sich in einem Namen, der nicht gleich, aber doch ähnlich ist; Þorgrímr. Keine der Figuren wird mit Sexualität in Verbindung gebracht, sodass es keinen Grund zur Annahme gibt, mart ómannligt annat in diese Richtung zu interpretieren.

37 Vtn 30, S. 83–84; »doch als Þórólfr sah, dass er nicht entkommen können würde, da setzte er sich in das Moor und weinte. Der Ort heißt seither Heulmoor. Jǫkull kam da zu ihm und sagte, er sei ein schlimmer Schurke und ein gemeiner Mann, keine Tapferkeit besitze er.« 38 Diese Übersetzung folgt Schmalzer (Übers.) 2011, S. 243.

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 3 Die ›Semantik des Diebstahls‹

3.2 Zauberei als ›Schwester‹ des Diebstahls? Die besprochenen Beispiele der Vatnsdœla saga und Laxdœla saga sind so eindringlich, dass sie auszureichen scheinen, die von Andersson postulierte Verwandtschaft von Diebstahl und Zauberei zu bestätigen. So sind es auch nur diese beiden Sagas, die Andersson für seine Argumentation heranzieht, gepaart mit dem Verweis auf die Natur der Diebin Hallgerðr langbrók. Diese allerdings wird selbst nie der Zauberei verdächtigt, sondern lediglich genealogisch mit einem Zauberer verbunden.39 In Kapitel 10 der Njáls saga heißt es über ihren Onkel Svanr, er sei sehr zauberkundig (fjǫlkunnigr mjǫk),40 was später auch unter Beweis gestellt wird. Hallgerðrs Verbindung zur Zauberei ist damit zwar angedeutet, wird aber im Gegensatz zu vielen anderen Charakterzügen nie ausgestaltet. Es scheint damit stark übertrieben, sie wie Vésteinn Ólason leichtfertig als Zauberin zu kategorisieren: Der Grund, dass man sie den Zauberinnen zuordnet, obwohl sie selbst keine Zauberkräfte besitzt, ist ihre Anstiftung zum Diebstahl, wodurch sich die Worte ihres Verwandten Hrút bestätigen, dass sie die Augen eines Diebes habe.41

Durchsucht man das Korpus nach weiteren Hinweisen auf eine gedachte Verbindung beider Verbrechen, findet man nur wenige Indizien: In der Reykdœla saga hilft Zauberei zunächst dabei, einen Brautraub durchzuführen, wird aber ebenso verwendet, um ihn zu verhindern.42 Diese schützende Funktion der Zauberei tritt auch in der Eyrbyggja saga zu Tage, als nach einem Pferdediebstahl Spá-Gills um Hilfe gebeten wird: [H]ann var framsýnn ok eptirrýningamaðr mikill um stulði eða þá hluti aðra, er hann vildi forvitnask.43 Eine strukturelle Austauschbarkeit beider Verbrechen wie in der Vatnsdœla saga zeigt sich ansatzweise in der Víglundar saga ok Ketilríðar. Dort versuchen Jǫkull und Einarr, ihren Widersachern Þorgrímr und Víglundr zu schaden. Hierzu töten sie zunächst einen Hengst und stehlen die beiden besten Ochsen Þorgrímrs. Dieser lässt sich allerdings nicht provozieren und gibt vor, den Diebstahl einer ansonsten nie genannten Diebesbande aus den Bergen zuzuschreiben.44 Nachdem der Diebstahl somit erfolglos war, wenden sich die beiden an eine Zauberin, damit diese ihren

39 Zu Hallgerðrs Diebstahl siehe Kap. 5.3.2 und Kap. 7.1.1.2. 40 Nj 10, S. 32. 41 Vésteinn Ólason 2011, S. 163. 42 Vgl. Kap. 6.4. 43 Eyr 18, S. 34; »Er war hellsichtig und konnte Verborgenes zum Vorschein bringen, Diebstähle betreffend oder andere Dinge, die er vorhersehen wollte.« Diese Episode bespricht Miller 1986a, S. 108– 110 als Beispiel, wie durch die Befragung von Sehern oder das öffentliche Erzählen von Träumen Gerüchte geschürt werden können, um heimliche Verbrechen aufzudecken. 44 VíKet 10–11, S. 79–82.



3.2 Zauberei als ›Schwester‹ des Diebstahls? 

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Feinden schade.45 Zusätzlich wird auch Þrándr in der Færeyinga saga sowohl mit Diebstahl als auch mit Zauberei in Verbindung gebracht – ob bei der Durchführung seines Diebstahls Zauberei verwendet wurde, wird in der enigmatischen Episode allerdings nicht deutlich.46 Eine weitere Episode, in der die beiden Verbrechen in Zusammenhang stehen, findet sich in der Þorskfirðinga saga.47 Dort verschwinden am Hof des Protagonisten Þórir jeden Frühling zwei Mutterschafe und zwei junge Ziegen derselben Farbe. Eines Nachts findet er die Tiere zusammengebunden auf der Wand des Schafstalls. Im Stall sitzen zwei Frauen und spielen mit einem gold- und silberverzierten Brettspiel. Er spricht sie an, hví þær legðist á fé hans.48 Die beiden bezeichnen sich als flagðkona (»Trollweib, Unholdin«) bzw. hamhlaupa (»Gestaltwandlerin«).49 Þórir lässt sich auf einen Handel mit den beiden ein und gibt ihnen das Vieh im Austausch für das Brettspiel. Eine ähnliche Figur tritt in einer kurzen Episode der Bárðar saga Snæfellsáss auf: Torfár-Kolla wird als óvættr (»Unhold«) bezeichnet und tut margt illt, bæði í stuldum ok manndrápum.50 Ein gewisser Þórir findet sie eines Nachts bei seinen Schafen, geht auf sie los und tötet sie im Kampf – margir menn51 denken, Bárðr könnte ihm dabei geholfen haben.52 Die Verbindung von Diebstahl und Zauberei ist damit als relativ selten zu bewerten, und auch das Begriffspaar þjófnað ok fjǫlkynngi taucht außerhalb der Laxdœla saga nicht wieder auf. Es handelt sich um zwei Verbrechen, die aufgrund einiger semantischer Ähnlichkeiten leicht kombinierbar sind, aber ebenso unabhängig voneinander auftreten können. Diebstahl wird allerdings nur mit negativ konnotiertem Zauber verbunden, und nie mit positiv oder neutral gewerteten magischen Handlungen oder Prophezeiungen. Ist die Zauberei positiv konnotiert, dient sie zur Aufklärung eines Diebstahls. Millers Idee, die Funktion eines angefügten Zaubereivorwurfs bestünde darin, einen nicht bewiesenen Diebstahl vor Gericht bringen zu können, kann dabei nicht zugestimmt werden. Diese Argumentation scheint davon auszugehen, dass ein Vorwurf der Zauberei keine ›echten‹ Beweise brauche und somit leichter vorzubringen sei, und verkennt, dass es sich bei beiden Verbrechen innerhalb der erzählten Welt um gleichermaßen reale Verbrechen handelt. Da keiner der ›unbewiesenen‹ Diebstähle53 45 VíKet 12, S. 82; Kjölvör hét kona, […] hon var fjölkunnig mjök ok at öllu illa fallin (»Eine Frau hieß Kjölvör, die war sehr zauberkundig und von ganz schlechter Natur«). 46 Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.1.3. 47 Diese Saga wird auch, nach ihrem Protagonisten, als Gull-Þóris saga bezeichnet. 48 Þorsk 14, S. 205; »warum sie sich seines Viehs bemächtigen.« 49 Þorsk 14, S. 205. 50 Bár 9, S. 128; »viel Böses, sowohl an Diebstählen als auch an Totschlägen.« 51 Bár 9, S. 129; »viele Leute«. 52 Zu den verschiedenen trollartigen Wesen der Bárðar saga vgl. Ármann Jakobsson 2005. 53 Es gibt in den Isländersagas nur einen unbewiesenen Diebstahl (bzw. Diebstahlsverdacht), anstelle dessen ein anderer Klagegrund vorgebracht wird. Brodd-Helgi vermutet in der Vápnfirðinga saga, ein gewisser Þorleifr inn kristni habe unerlaubt etwas entwendet, auf das er Anspruch gehabt

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 3 Die ›Semantik des Diebstahls‹

auch nur ansatzweise thematisiert wird, entbehrt die Annahme, die Anklage wegen Zauberei würde deshalb ›erfunden‹, jeder Grundlage.

3.3 Diebstahl, Unmännlichkeit und ergi Sieht man von jenen Figuren ab, die auch mit Zauberei in Verbindung gebracht werden, bleibt die Frage nach einer eigenen Nähe des Diebstahls zur Unmännlichkeit und dem ergi-Komplex. In Anderssons Argumentation finden sich zwei Beispiele für den Zusammenhang von Feigheit, Unmännlichkeit und Diebstahl aus der Eyrbyggja saga und der Grettis saga Ásmundarsonar. In der Eyrbyggja saga ist es ein Vorwurf des Diebstahls, der Þórarinn in eine Situation bringt, in der es keinen gewaltfreien Lösungsweg mehr für ihn gibt. Als er angeklagt wird und sich in den Augen seiner Mutter Geirríðr nicht entschlossen genug gegen die Anschuldigung zur Wehr setzt, hetzt sie ihn gegen seine Gegner auf: ›[M]eir hefir þú, Þórarinn, kvenna skap en karla, er þú skalt þola Þorbirni digra hverja skǫmm […].‹54 Ihre Bemühungen sind erfolgreich, die Situation eskaliert blutig. Andersson schließt hieraus: »The gist of the passage is that the passive acceptance of an accusation of theft precipitates the corollary accusation of effeminacy.«55 Hier sollte allerdings differenziert werden: Die Anschuldigung des Diebstahls wird als skǫmm bezeichnet und ist zweifelsohne als ehrverletzend einzustufen. Der Vorwurf, Þórarinn habe mehr von einer Frau als von einem Mann, bezieht sich aber auf seine passive Duldung der Anschuldigungen und könnte ebenso mit jeder anderen ungerechtfertigten Klage verbunden werden. Es wird nicht etwa ein Zusammenhang von Diebstahl und unmännlichem Verhalten hergestellt, sondern zwischen Passivität und Unmännlichkeit. Etwas deutlicher tritt die semantische Nähe in der Grettis saga Ásmundarsonar zu Tage. Noch bevor Grettir in Island zum Geächteten wird, gerät er in Norwegen in Schwierigkeiten. Der König bietet ihm die Möglichkeit, sich durch ein Gottesurteil vom Vorwurf der Brandstiftung zu reinigen. Kurz bevor es dazu kommt, tritt ein Junge aus der Menge und provoziert Grettir mit den Worten: ›Undarligr háttr er nú hér i landi þessu, þar sem menn skulu kristnir heita, at illvirkjar ok ránsmenn ok þjófar skulu fara

hätte. Als Þorleifr sich weigert, Tempelabgaben zu zahlen, übernimmt Brodd-Helgi bereitwillig die Anklage, da es ihm zuvor schwerfiel, seinen Gegner vorzuladen (Vpn 5, vgl. Kap.  6.1.2). Vermuten Sagafiguren einen Diebstahl oder eine Übervorteilung (meist bei Weide- oder Abholzungsrechten), führt dies normalerweise zu Groll, der in einer weiteren Episode gewaltvoll ausbricht oder einen Totschlag nach sich zieht, der dann zur Anklage gebracht werden kann. 54 Eyr 18, S. 36; »›Eher bist du, Þórarinn, nach der Art der Frauen als der der Männer, wenn du dir von Þorbjörn jegliche Schande zufügen lässt […].‹« 55 Andersson 1984, S. 499.



3.3 Diebstahl, Unmännlichkeit und ergi 

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í friði […].‹56 Der Junge läuft auf ihn zu, zeigt mit dem Finger auf ihn und nennt ihn einen margýgjusonr (»Sohn eines Meerweibes«).57 Grettir, der sich nie zuvor des Diebstahls schuldig gemacht hatte, tötet den Jungen vor Wut und verliert so die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Der Vorwurf des Diebstahls gepaart mit der Beleidigung margýgjusonr impliziere nach Andersson »nonhuman engenderment, it may also participate in the semantic range which includes sorcery and sexual deviance.«58 Auch hier muss allerdings bemerkt werden, dass es nicht ausschließlich der Vorwurf des Diebstahls ist, der zur Beleidigung margýgjusonr hinzugefügt wird, sondern der Junge eine ganze Bandbreite von Verbrechern anspricht; illvirkjar ok ránsmenn ok þjófar. Dies könnte im Sinne einer Steigerung verstanden werden – Verbrecher aller Art, Räuber und sogar Diebe – bezieht sich aber nicht allein auf den Diebstahl. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass das heimliche Verbrechen Diebstahl eindeutig Konnotationen von Unmännlichkeit und Feigheit aufruft. Dies wird immer dann sichtbar, wenn es mit dem offenen rán kontrastiert wird, und wird in fast allen Diebstahlspassagen mehr oder wenig deutlich thematisiert. Wie sich bereits anhand der Unterscheidungen der Grágás zeigte, liegen Heimlichkeit und Verborgenheit in der Natur des Verbrechens, was einer auf Offenheit und Sichtbarkeit ausgerichteten Gesellschaft und ihren Männlichkeitsidealen zuwiderläuft.59 Ob das Verbrechen deshalb direkt mit dem ergi-Komplex assoziiert war, lässt sich weder aus den Rechtstexten, noch den Isländersagas entnehmen. An keiner Stelle wird eine unmittelbare Verbindung hergestellt, wie dies beispielsweise für den Zauberer Þorgrímr nef in der Gísla saga geschieht (Nú flytr Þorgrímr fram seiðinn […] ok fremr hann þetta fjǫlkynngiliga með allri ergi ok skelmiskap60). Ármann Jakobsson stellt in seiner Studie zu troll und ergi fest, dass fast alle Bestandteile des Bedeutungsspektrums ergi mit Unmännlichkeit zu tun haben, und diese sich insbesondere in feigem Verhalten manifestiere.61 Nach einem Durchgang der Textstellen zum Konzept ergi, fasst er dessen übergeordnete Bedeutung als »queerness«62 zusammen: [I]t indicates everything unbecoming, villainous and deviant: incest, bestiality, homosexuality, the blurring of gender roles, aggressive female lust, shape-shifting and sorcery.63

56 Gts 39, S. 133; »›Wunderliche Sitten herrschen jetzt hier in diesem Land, wo die Leute Christen genannt werden sollen, dass Übeltäter und Räuber und Diebe in Frieden umherwandeln dürfen […].‹« 57 Gts 39, S. 133. 58 Andersson 1984, S. 502. 59 Vgl. Kap. 2.1. 60 Gís 18; S.  56–57; »Nun beschleunigte Þorgrímr den seiðr […] und dann fuhr er auf zauberische Weise fort, mit allem ergi und Schurkerei.« 61 Vgl. Ármann Jakobsson 2008, S. 57. Feigheit wiederum ist stark weiblich konnotiert, wie anhand des Adjektivs blauðr, das sowohl »feige« als auch »weiblich (insb. bei Tieren)« bedeuten kann, ausführlich diskutiert wurde (vgl. Clover 1993, S. 363–365). 62 Ármann Jakobsson 2008, S. 63. 63 Ármann Jakobsson 2008, S. 63.

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 3 Die ›Semantik des Diebstahls‹

Die mögliche Assoziation von Diebstahl und ergi kann in diesem Sinne erklärt werden, indem dieses Verbrechen wichtigen sozialen Normen entgegenläuft und einem tapferen, offen handelnden Männlichkeitsideal widerstrebt. Die semantische Schnittstelle zwischen Diebstahl und ergi ergibt sich aus seiner Assoziation mit Heimlichkeit.64 Innerhalb des semantischen Feldes ›Heimlichkeit‹ sind Konzepte wie Zauberei und Feigheit lose miteinander verbunden: Sie sind leicht kombinierbar, bilden aber kein starres Merkmalsbündel, das nur vollständig auftreten kann. Viele Diebe der Isländersagas tragen ein weiteres Merkmal aus dem Bereich der ›Heimlichkeit‹ – sind also Feiglinge, Zauberer oder mit auffälliger Sexualität verbunden, Diebstahl ist aber nicht per se dem ergi-Komplex zuzurechnen. Männlichkeit

Totschlag

Öffentlichkeit Ehrenhaftigkeit

Unmännlichkeit

Mord

Heimlichkeit Raub

Feigheit Diebstahl Sexualität Zauberei Perversion

Abb. 2: Der hier vorgeschlagene Zusammenhang zwischen Diebstahl und Zauberei in den semantischen Feldern ›Öffentlichkeit vs. Heimlichkeit‹ (eigene Darstellung).

Einen Zusammenhang zwischen Diebstahl und Sexualität stellt auch Gehrlach her, der in seiner Untersuchung außerskandinavischen Materials bemerkt, dass der erste oder wichtigste Diebstahl einer literarischen Figur besonders häufig in direkter motivischer Nähe zum Beginn ihrer sexuellen Aktivität steht. In der Natur des Diebstahls liege eine ebenfalls durch die Heimlichkeit begründete Verwandtschaft: Das heimliche Einschleichen in den Raum oder in die Tasche eines anderen […] hat deutliche sexuelle Anklänge. Es geht um Motive der Berührung, des Begehrens und Eindringens und der Lust und des Verbotenen.65

Dieser Gedanke lässt sich zwar nur mit einiger Vorsicht an das altnordische Material herantragen, bietet aber für einige der geschlechterübergreifenden Diebstahlsfälle einen Interpretationsansatz.66

64 ›Männlichkeit‹ wird hier mit ›Unmännlichkeit‹ anstelle von ›Weiblichkeit‹ kontrastiert. Die Konzepte ›unmännlich‹ und ›weiblich‹ sind in den Isländersagas nicht völlig deckungsgleich (vgl. Clover 1993), wenngleich ›Unmännlichkeit‹ auch durch verschiedene Formen der Effemination konstruiert wird. 65 Gehrlach 2016, S. 386. 66 Zu Diebstählen unter (ehemaligen) Paaren siehe Kap. 5.3.



3.3 Diebstahl, Unmännlichkeit und ergi 

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Anderssons These, die Heimlichkeit des Verbrechens eröffne ein Spektrum von feigem und weiblich konnotiertem Verhalten, das wiederum als Bestandteil des ergi-Komplexes weitere Konnotationen mit sich bringe,67 kann daher weitestgehend zugestimmt werden, auch wenn hier das Konzept ergi dem größeren semantischen Verbund der Heimlichkeit untergeordnet werden soll. Die Heimlichkeit des Diebstahls rückt ihn in ein Assoziationsfeld des Nicht-Öffentlichen, wodurch sich eine Schnittstelle zu Weiblichkeit, Unmännlichkeit, Feigheit, Zauberei und dem ergi-Komplex eröffnet. Gattungsübergreifend betrachtet ist diese Konnotation des Diebstahls aber seltener von Belang, als man es bei der Durchsicht des von Andersson verwendeten Materials annehmen würde.

67 Vgl. Andersson 1984, S. 505.

4 Erzählen vom Diebstahl Hier wie in allen anderen Werken, die ›die Isländersagas‹ als Gattung behandeln, ist es notwendig, eine Auswahl zu treffen und das Genre einzugrenzen. Neben ihrem Schauplatz und der Entstehungszeit zählt der Erzählstil zu den Merkmalen, die am häufigsten herangezogen werden, um festzulegen, was eine Isländersaga ausmacht. Zum ›objektiven Stil‹ der Isländersagas äußern sich daher nahezu alle Überblickswerke, beispielsweise heißt es bei Heiko Uecker: Was die Gattung literarisch zusammenhält, ist  – neben dem historischen Bezugspunkt  – die besondere Erzählweise (die freilich auch in den Königsgeschichten auftaucht, welche ja ebenfalls von Isländern geschrieben worden sind). Die Erzählungen erwecken den Anschein, als führten sie eine mündliche Tradition fort, und sie bewahren dabei einen ›objektiven‹ Erzählgestus.1

Auch Vésteinn Ólason sieht die Objektivität des Erzählers als stilprägend: »[E]r referiert das Geschehen und protokolliert die Worte der Beteiligten, als seien sie gerade erst gefallen. Er zieht die Untertreibung der Übertreibung vor und setzt Stilmittel nur sparsam ein.«2 Dies ist sicher richtig, und doch sollte darüber nicht vergessen werden, dass auch der betonten Objektivität und Zurückhaltung des Erzählers eine literarische Funktion zukommt. Auch wenn die Erzähler der Isländersagas selten durch direkte Erzählerkommentare eingreifen und werten, nutzen sie doch Mittel der Zeitgestaltung wie Sprünge, Raffungen oder Dehnungen, um die Aufmerksamkeit und Sympathien des Rezipienten zu lenken. Die scheinbare Mündlichkeit der Isländersagas weist ein breites Repertoire von Phrasen auf, die das Geschehen kommentieren und bewerten. Zudem wird häufig die Meinung einer intradiegetischen Öffentlichkeit vorgeblich referiert, wodurch weitere Möglichkeiten der Wertung eröffnet werden. Die Verbrechen Raub und Diebstahl stellen nicht nur innerhalb der erzählten Welt exzeptionelle Ereignisse dar, auch auf der Ebene des Erzählens weisen sie einige Besonderheiten auf. Exemplarisch soll die Erzähltechnik dreier Diebstahlsepisoden untersucht werden, um zu zeigen, dass die ›Heimlichkeit‹ oder ›Offenheit‹ des Verbrechens von einer destabilisierten narrativen Ausgestaltung gespiegelt wird. Zu diesem Zweck können unterschiedliche Techniken narrativer Verschleierung und Offenlegung verwendet werden: Die erzählte Öffentlichkeit, die Zeitgestaltung und insbesondere die Perspektivierung des Geschehens. Auch das Diebesgut selbst wird genutzt, um die Rezipientenerwartung zu lenken, oder alternative Motivierungen für das Geschehen einzuflechten. Durch einen Diebstahl oder Raub erfahren die Dinge Brüche in ihrer ›Biographie‹, die sie zu Kristallisationspunkten der Handlung machen können, und ihnen in einigen Fällen sogar eine eigene Handlungsmacht verleihen. Bleibt ein gestohlener Gegenstand in der Erzäh1 Uecker 2004, S. 118. 2 Vésteinn Ólason 2011, S. 107. https://doi.org/10.1515/9783110699265-004

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 4 Erzählen vom Diebstahl

lung bedeutsam, hält er einen früheren Konflikt in der Saga präsent, ohne dass der Erzähler explizit daran erinnern müsste. Diebesgut ist somit häufig kompositorisch bedeutsam und kann als Markierung für drohendes Unglück funktionieren. Auch das Diebesgut betreffend werden verschiedene Strategien der Destabilisierung angewandt, insbesondere, wenn der Gegenstand aus einem Grab geraubt wurde, oder aus anderen Gründen mit übernatürlichen Mächten in Verbindung steht.

4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip Die hohe Bedeutung der öffentlichen Meinung und des damit verbundenen persönlichen Ansehens wird in den Isländersagas häufig thematisiert. Dies geschieht jedoch nicht nur innerhalb der erzählten Welt, auf der Ebene der histoire, sondern auch auf der Ebene des discours, wie Julia Zernack bemerkt: Immer wieder betonen die als Figuren gar nicht greifbaren Erzähler der Isländersagas, dass sie wiedergeben, was ›man‹ sich über dieses oder jenes erzählt habe, und die Meinung dieses Kollektivs, das anders als die Erzähler selbst an den als historisch ausgegebenen Ereignissen ganz unmittelbar beteiligt ist, sichert die Glaubwürdigkeit ihrer Berichte ab. So sollen etwa ›die Leute‹ beeindruckt gewesen sein vom würdevollen Tod der berühmten Landnehmerin Auð Djúpúðga, und die Laxdœla saga (Kap. 7) gibt vor, dieses Urteil aus der Sagazeit ganz neutral in die Gegenwart des Erzählens zu überliefern.3

Zernack macht hier auf einige charakteristische Merkmale des Erzählstils der Isländersagas aufmerksam. Zum einen auf die implizite Darstellung des Erzählers, der fast nie deutlich hervortritt, aber durch die Tatsache, dass der Text strukturiert ist und eine Ordnung aufweist, vorhanden sein muss. Da diese Vermittlungsinstanz kaum spürbar ist, entsteht der Eindruck, der Rezipient wohne dem Geschehen unmittelbar bei. Auch ist der Erzähler nie als Figur Teil der erzählten Welt, und tritt nur sehr selten durch direkte Kommentare in Erscheinung.4 Stattdessen werden Handlungen häufig mit Varianten der Phrase margir menn mæla (»viele Leuten sagen«) kommentiert. Zernack argumentiert weiter, dass die Isländersagas zweifelsfrei deutliche Spuren »›echte[r]‹ Oralität«5 aufweisen, die Verfasser also auf mündliche Traditionen und Erzählkerne zurückgegriffen hätten. Daneben habe sich aber eine ›Rhetorik der Mündlichkeit‹ etabliert, die »so eng mit der Fiktionsbildung der Isländersagas verbunden [ist], dass man sie als ein literarisches Phänomen ansehen und von der oralen Kommunikation der vorschriftlichen Epoche und des Mittelalters fernhalten muss.«6 3 Zernack 2011, S. 62 (Hervorhebungen im Original). 4 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 111. 5 Zernack 2011, S. 63. Phrasen dieser Art bespricht auch Kress 1991 im Zusammenhang mit der Funktion von Gerüchten und Tratsch (›gossip‹) in Isländersagas. 6 Zernack 2011, S. 62.



4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip 

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Diese ›Rhetorik der Mündlichkeit‹ nimmt besonders häufig auf die allgemeine Mei­nung ›der Leute‹ Bezug. Öffentlichkeit wird hier in ihren beiden Wortbedeutungen relevant, sowohl als eine Gesamtheit von Menschen, denen etwas zugänglich ist, als auch als »das Öffentlichsein; das Zugelassensein für die Öffentlichkeit.«7 Die Evaluation des Geschehens durch eine Öffentlichkeit entspricht jedoch nicht nur dem Erzählprinzip der Isländersagas, sondern ebenso der mittelalterlichen Rechtspraxis Islands. Diese Verbindung hebt Meulengracht Sørensen hervor, indem er die Darstellungsweise der Sagas mit dem Vorgehen in einem Prozess vergleicht: »De fremlægger, hvad det er offentligt kendt og kun det, og de overlader det til sagaens tilhørere som til en jury, der repræsenterer den offentlige mening, at vurdere personer og handlinger.«8 Heißt es über ein Geschehen oder eine Unterhaltung, ›die Leute‹ wüssten nicht, was vorgegangen sei (ekki vissu menn gǫrla tal þeira9), ist dies in den Isländersagas immer als konspiratives Verhalten zu werten und ein deutliches Zeichen für drohendes Unglück. Dies korrespondiert mit dem Offenkundigkeitsprinzip der altisländischen Rechtsvorstellung und der besonderen Ächtung heimlicher Verbrechen wie Diebstahl und Mord, die sich der Öffentlichkeit entziehen, und deshalb als besonders bedrohlich wahrgenommen werden. Entsprechend häufig finden sich diese Formulierungen im Umfeld von Verbrechen, die sich über ihre Offenheit oder Heimlichkeit definieren. Solche Öffentlichkeitsmarker liefern damit genügend Anhaltspunkte für die Bewertung der Episoden, ein Erzählerkommentar ist zusätzlich nicht notwendig.10 7 Duden-Online 2016b. 8 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 211; »Sie legen dar, was allgemein bekannt ist, und nur das, und sie überlassen es den Zuhörern einer Saga, wie einer Jury, die die öffentliche Meinung repräsentiert, die Personen und Handlungen zu bewerten.« 9 BjH 3, S. 119; »Die Leute wussten nicht genau über ihr Gespräch Bescheid«. Varianten dieser Phrase finden sich auch in Reyk 25 (S. 230; engi vissi, hvat þeir tǫluðu; »niemand wusste, was sie besprachen«), Nj 41 (S. 107; ok vissi engi, hvat þau hǫfðu í ráðagerðum; »und niemand wusste, was sie beratschlagt hatten«), VíKet 20, (S. 103; ok vissi engi maðr tal þeira; »und kein Mensch wusste, worüber sie gesprochen hatten«), Eyr 28, (S. 72; vissi þat engi maðr, hvat þeir tǫluðu; »kein Mensch wusste, was sie besprachen«), und vielen weiteren Sagas. 10 Öffentlichkeit und Wissensvergabe sind ein noch wenig beachtetes Thema innerhalb der Erzähltechnik der Isländersagas. Es gibt viele interessante Szenen, in denen private Unterhaltungen ohne weitere Erklärung einer Öffentlichkeit bekannt werden. In der Njáls saga (Nj 67) wissen beispielsweise Gunnarrs Feinde plötzlich von Njálls Prophezeiung, Gunnarr werde dem Tode geweiht sein, sobald er zweimal in einer Blutlinie töte. Wie ausgerechnet diese sensible Information aus einem Vier-AugenGespräch heraus bei Gunnarrs Fein­den landen konnte, wird in der Saga nicht erklärt. Versucht man, dieses Rätsel figurenpsychologisch zu lösen, müsste man annehmen, dass Gunnarr dieses Geheimnis unter keinen Umständen verbreiten würde. Auch Njáll als loyaler Freund und Urheber der Prophezeiung wird sein Wissen für sich behalten, wenngleich die allgemein positive Wahrnehmung dieser Figur in jüngerer Forschung angegriffen wird (vgl. Tirosh 2014b, Sauckel 2016, Sauckel 2018). Eine andere Erklärung liefert Cochrane 2016, S. 131, mit der Annahme, dieses Wissen müsse durch ein Netz von Spionen an Gunnarrs Feinde gelangt sein. Er fügt jedoch hinzu, es hebe die wissende Figur Mǫrðr auf die Ebene der Rezipienten: »He suddenly sits among us as listeners, is aware of the narrative and guides the story.« Eine dritte Erklärungsmöglichkeit liegt außerhalb der erzählten Welt: Gunnarr

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Ein weiteres Mittel, um Öffentlichkeit oder Heimlichkeit in Erzähltexten abzubilden, sind Formen der Zeitmanipulation, die bei vielen Diebstahlsfällen eine Rolle spielen. Durch den Umgang mit der erzählten Zeit können ohne direkte Erzählerkommentare Schwerpunkte gesetzt werden und Wertungen nahegelegt werden. 11 So werden in Raffungen große Zeitspannen zusammengefasst und ›wichtige‹ Szenen durch Zeitdehnungen, Details und Dialoge ausgestaltet.12 Hier soll gezeigt werden, wie Sprünge und Zeitraffungen Diebstähle kaschieren können, wodurch die Art der Narration die Natur des Verbrechens reflektiert.13 Neben Referaten der öffentlichen Meinung und Zeitmanipulationen stellt die Erzählperspektive ein drittes Mittel dar, mit dem der Erzähler die Aufmerksamkeit und Sympathie seines Publikums lenken kann. Eine Begrenzung der Perspektive findet beispielsweise statt, indem zwischen unterschiedlichen Arten der Fokalisierung gewechselt wird. Normalerweise wechseln Isländersagas nur zwischen einer ›Übersicht‹, bei der der Erzähler mehr weiß, als alle Figuren (Nullfokalisierung) und einer ›Außensicht‹, bei der der Erzähler weniger weiß, als eine Figur wahrnimmt (externe Fokalisierung) und daher nur äußerlich Sichtbares beschreibt. In manchen Diebstahlsepisoden wird dagegen zur internen Fokalisierung gewechselt, bei der der Erzähler die Innensicht einer Figur annimmt und nur wiedergibt, was diese Figur wahrnimmt. Vésteinn Ólason, der ein anderes Vokabular für diese Beobachtung wählt, sieht das Spiel mit Perspektiven als frühen Zug der Sagaliteratur: Die Sagaautoren lernten schnell, die Erzählperspektive vorsätzlich zu begrenzen, um die Wirkung zu steigern und den Leser zum Mitdenken anzuregen. Diese Technik wird bereits ausgiebig und kunstreich in der Færeyinga saga angewandt, die wohl vor 1220 zu Pergament gebracht wurde […] In der Egils saga wiederum finden sich unterschiedliche Beispiele personalen Erzählens […].14

von Hlíðarendi dürfte auch außerhalb der uns überlieferten Brennu-Njáls saga eine herausragende Stellung als ›Held‹ im kollektiven Gedächtnis der Isländer gehabt haben (und hat sie noch). Nimmt man eine weite mündliche Verbreitung des Stoffes an, könnte die Wissensvergabe in der Saga auch Züge der Heldensage tragen. »Dort [in der Heldensage] firmiert der Erzähler als Sprachrohr dessen, was alle wissen, eines kollektiven Wissens also, und dieses Wissen ist so allgemein, daß der Erzähler keine Exklusivität beanspruchen kann: dieses Wissen teilen sogar die Figuren der dargestellten Welt. Was einer einmal (öffentlich) gesagt hat, wissen alle.« (Schulz 2015, S. 375). 11 Vgl. bspw. Vésteinn Ólason 2011, S. 107. 12 Die Zeitdarstellung der Isländersagas wurde häufig untersucht, vgl. bspw. Vésteinn Ólason 2011, S. 106; van den Toorn 1961; Andersson 1967, S. 40–43 und S. 54–60 sowie Röhn 1976. 13 Ebenso werden Episoden ausgestaltet, für die die Öffentlichkeit des Verbrechens betont werden soll. Dies geschieht etwa bei zu Unrecht unterstelltem Diebstahl (vgl. Kap. 5.2.3), oder ehrenhaftem Raub (vgl. Kap. 7.2.1). 14 Vésteinn Ólason 2011, S. 115. Mal sei die Erzählperspektive auf die Wahrnehmung des »personalen Er-Erzählers« beschränkt, mal werde Einblick in die Gedanken der Figur Egill gewährt.



4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip 

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Auch Anne Heinrichs nimmt auf dieses Phänomen, das sie als ›Perspektivität‹ bezeichnet, Bezug und wendet es auf zwei Diebstahlsfälle an.15 Für dieses Verbrechen ist die Begrenzung von Perspektiven ein besonders naheliegendes erzählerisches Mittel, da es in der Natur des Diebstahls liegt, dass der Eine etwas tut, das der Andere nicht unmittelbar wahrnimmt. Dies zählt zu den wesentlichen Charakteristika des Diebstahls: »Der Dieb hat keinerlei Pathos, keine Öffentlichkeit, […] im Gegenteil: seine Tat funktioniert nur dann, wenn keiner sie sieht und wenn sie sich nicht herumspricht.«16 Entsprechend gibt es Diebstähle in den Isländersagas, die so erfolgreich sind, dass man sie übersehen könnte. Beispielsweise fällt Ketill im Grœnlendinga þáttr auf, dass man noch mehr Vorräte bräuchte, um auf Schiffsreise zu gehen. Er sagt seinen Männern, er kenne einen Bauern, der immer genügend Waren habe, dort solle man etwas holen. Sie treffen den Eigentümer jedoch nicht an und müssen unverrichteter Dinge zurück zu den Schiffen. Auf dem Rückweg wird Ketill plötzlich müde und erfährt im Traum, was zu tun ist: Kaum erwacht, zieht er einen Busch aus dem Boden und findet darunter einen unterirdischen Gang. Darin finden sie eine Menge Schlachtvieh, Butter und Trockenfisch, man nimmt die Beute erfreut mit auf das Schiff (GrœnÞ 6). Der Vorgang wird nie kommentiert oder aufgelöst. Natürlich liegt die Vermutung nahe, man wäre auf das geheime Lager des wohlhabenden Bauern gestoßen, andererseits deutet die Eingebung im Traum an, dass ihnen geholfen werden ›soll‹. Ein irdisches Recht zur Mitnahme der Güter haben die Reisenden jedoch keinesfalls: Es handelt sich um einen Diebstahl, der so perfekt ist, dass er in der Geschichte nie entdeckt wird und auch so erzählt ist, dass er nicht als Verbrechen wahrgenommen wird.

4.1.1 Die ›Öffentlichkeit‹ der Bjarnar saga Hítdœlakappa Lange bevor in der Skaldensaga Bjarnar saga Hítdœlakappa ein Diebstahl thematisiert wird, werden Öffentlichkeit und Heimlichkeit als Marker eingesetzt, um die beiden konkurrierenden Skalden Bjǫrn und Þórðr zu charakterisieren, und ihr Verhalten zu kontrastieren. Während bei den Handlungen Bjǫrns stets deren Öffentlichkeit betont wird, handelt Þórðr bevorzugt im Geheimen. Beide Männer werben um Oddný, die sich mit Bjǫrn verlobt, bevor er eine Auslandsreise antritt. In Norwegen erhält Bjǫrn einen Ring vom Jarl geschenkt und möchte danach auf Wikingerfahrt gehen, um noch mehr Ruhm und Ehre zu erwerben. Þórðr rät Bjǫrn, er solle seiner Verlobten Oddný als Zeichen seiner Liebe seinen neuen Ring schicken. Bjǫrn trennt sich nur ungern von seinem Ring, da man ihm nachsagen könnte, er ginge schlecht mit dem Jarlsgeschenk um, gibt Þórðrs Drängen aber schließlich nach, und übergibt den Ring. Es wird betont, dass über das Gespräch der beiden Skalden niemand etwas

15 Siehe Heinrichs 1974. 16 Gehrlach 2016, S. 384.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Näheres wisse: [E]kki vissu menn gǫrla tal þeira Þórðar ok Bjarnar.17 Þórðr überbringt den Ring. Er behauptet aber, Bjǫrn habe ihm das Recht auf die Heirat mit Oddný übertragen, falls er auf seiner Fahrt sterbe, oder aus anderen Gründen nicht rechtzeitig zurückkäme. Þórðr erfährt später von einer Verwundung Bjǫrns und bietet den Boten Geld, damit sie seinen Konkurrenten für tot erklären: Síðan sagði Þórðr opinberliga andlát Bjarnar, […]; en engi kunni í móti at mæla, ok þótti Þórðr ólíkligr til lygi.18 Nur bei dieser Lüge wird betont, dass Þórðr etwas opinberliga (»öffentlich«) tut. Bjǫrn erfährt zwar von Þórðrs Verrat, entschließt sich aber trotzdem, weiter auf Beutezug zu gehen. Als die beiden wieder aufeinandertreffen, weiß Þórðr, dass Bjǫrn in der Nähe ist und will sich verstecken, seine Männer sollen ihn verleugnen. Einer von ihnen, Kálfr illviti, spricht sich dagegen aus, und begründet seine Ablehnung damit, dass er einen offenen Kampf vorziehen würde. Bjǫrn findet Þórðr schließlich in seinem Versteck und konfrontiert ihn mit seinem Verrat. Die Begegnung endet schlecht für Þórðr, dem Bjǫrn zwar das Leben schenkt, ihm aber im offenen Kampf sein Vermögen und sein Schiff raubt.19 Die Streitigkeiten der beiden Skalden lassen sich trotz einiger Vermittlungsversuche nicht beilegen, und auch im Folgenden wird Þórðr immer wieder mit Heimlichkeit assoziiert.20 Bjǫrn freundet sich schließlich mit Kálfr an, der zuvor mit Þórðr in Verbindung stand. Kálfrs Sohn möchte bei Þórðr Seehundfleisch kaufen, diese Gelegenheit nutzt Þórðr, um Bjǫrn vor seinen neuen Freunden schlecht zu machen. Er behauptet: ›Mik minnir, at hann lýsti til fjár á hendr yðr í sumar á alþingi, ok mun svá ætla at gera á hendr yðr stelafé.‹21 Bjǫrn wolle ihnen nach und nach ihr ganzes Geld streitig machen. Dadurch bringt er Kálfrs Sohn so sehr gegen Bjǫrn auf, dass dieser plant, Bjǫrn zu töten. Þórðr rät dem jungen Mann noch zur Verschwiegenheit gegenüber seinem Vater Kálfr, was die Heimlichkeit der Szene abschließend unterstreicht, und ein weiteres konspiratives Gespräch ergibt. Þórðrs Plan geht auf: Bjǫrn bemerkt zwar, dass Kálfrs Sohn etwas gegen ihn im Schilde führt, und kann ihn bei dessen Angriff töten, es kommt über diesen Totschlag aber zum Zerwürfnis mit Kálfr. Obwohl Bjǫrn seinem Freund erklärt, dass der Junge nur auf Þórðrs Rat hin gehandelt habe, und ihm sogar Buße für seinen eigentlich bußlos gefallenen Sohn anbietet, wird keine Versöhnung erreicht.22 17 BjH 3, S. 119; »Die Leute wussten nicht genau über das Gespräch von Þórðr und Bjǫrn Bescheid.« 18 BjH 5, S. 122; »Dann verkündete Þórðr öffentlich den Tod Bjǫrns, […]; und niemand konnte dagegensprechen, und man hielt es für unwahrscheinlich, dass Þórðr lüge.« 19 Vgl. BjH 7, S. 126–130. 20 In BjH 15 versucht Þórðr, einen Seehundbiss zu verheimlichen, was ihm aber nicht lange gelingt. Bjǫrn spricht deshalb eine Spottstrophe auf ihn. Als Þórðr in BjH 16 ebenfalls eine Spottstrophe auf seinen Gegner spricht, halten es alle für besser, wenn diese geheim bleibt – sie kommt Bjǫrn aber doch zu Ohren. 21 BjH 19, S. 164; »›Ich erinnere mich, dass er auf dem Allthing im Sommer eine Angelegenheit wegen Geldes gegen euch eröffnet hat, und nun wird er vorhaben, euch Diebstahl vorzuwerfen.‹« 22 Auch im weiteren Verlauf der Saga wird an dieser Dichotomie die beiden Protagonisten betreffend festgehalten. Beispielsweise bietet Þórðr zwei Meuchelmördern eine hohe Geldsumme an, wenn diese



4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip 

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Bjǫrn ist von Anfang an auf die Evaluation seiner Taten durch die Öffentlichkeit bedacht. Dies zeigt sein Zögern, den Ring des Jarls aufzugeben, ebenso wie sein offenes, in einen Raub mündendes Vorgehen beim Aufeinandertreffen mit Þórðr nach dessen Verrat. Die betonte Heimlichkeit des Gesprächs der beiden Skalden weist auf dessen konspirativen Charakter hin und zieht katastrophale Folgen nach sich; die unerfüllte Liebe zwischen Oddný und Bjǫrn bleibt das bestimmende Thema der Saga. Der Grund für das Scheitern der Beziehung ist in Þórðrs Lügen zu finden, der Oddný zuerst eine falsche Abmachung glauben macht, und anschließend öffentlich den Tod seines Konkurrenten verkündet, nachdem er selbst die Boten für diese Falschaussage bezahlt hat. Die Kombination aus dem Hinweis auf die Öffentlichkeit (opinberliga) und dem Hinweis, ›man‹ halte es für unwahrscheinlich, dass Þórðr lüge (ok þótti Þórðr ólíkligr til lygi), verdeutlicht, dass auch dieser Figur zunächst öffentliches Vertrauen entgegengebracht wird. Hier zeigt sich die Fehlbarkeit dieses Urteils und die ungleiche Verteilung des Wissens innerhalb der Narrationsebenen: Da der Dialog mit den Boten zuvor geschildert wurde, wissen Erzähler und Adressat gleichermaßen, dass ›die Leute‹ hier im Unrecht sind. Während innerhalb der Saga also einerseits der hohe Wert der Öffentlichkeit im Sinne des ›Sichtbarseins‹ zentral ist, wird ›die Öffentlichkeit‹ als Menschenmenge kritisch betrachtet. Die Nebenfigur Kálfr illviti verkörpert diese Öffentlichkeit, indem er erst Þórðrs heimtückisches Verhalten kritisiert und für ein offenes Vorgehen plädiert, schließlich aber trotzdem Þórðrs Heimlichkeiten zum Opfer fällt und Bjǫrn nicht glauben will, dass dieser immer offen und ehrenhaft vorgegangen sei und sie beide von Þórðr getäuscht wurden. Es ist ein Diebstahl, der die Situation zur Eskalation bringt: Indem Þórðr gegenüber Kálfrs Sohn behauptet, Bjǫrn habe vor at gera á hendr yðr stelafé (»euch Diebstahl vorzuwerfen«), bringt er den Jungen dazu, den Freund seines Vaters anzugreifen. Die Einleitung ›Mik minnir, […]‹ (»›Ich erinnere mich, […]‹«) distanziert Þórðr dabei von der Aussage und destabilisiert das Gesagte; er könnte sich auch irren. Kálfrs Sohn durchschaut weder die Lüge noch die Distanzierung und lässt sich von Þórðr instrumentalisieren. Diebstahl steht hier im semantischen Verbund mit Heimlichkeit und Lüge, während der Raub Bjǫrns zu seinen ehrenhaften und offenen Taten gezählt wird. Beide Verbrechen tragen damit beträchtlich zur Figurenzeichnung bei. Besonders interessant ist hier aber die Diskrepanz zwischen intradiegetischer Öffentlichkeit und dem implizierten Publikum. Im Sinne Meulengracht Sørensens wird zwar dargestellt, was öffentlich bekannt ist, aber zugleich eine zweite Öffentlichkeit außerhalb des Textes angenommen, welcher »som til en jury«23 Informationen vorgelegt werden, um das falsche Urteil der erzählten Öffentlichkeit zu korrigieren.

Bjǫrn aus einem Hinterhalt heraus töten (BjH 24), und schickt später heimlich Leute zu Bjǫrns Bruder, um einen Vergleich auszuhandeln – die Unrechtmäßigkeit der nächtlichen Abmachung wird allerdings offenbart, wodurch der Plan scheitert (BjH 34). 23 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 211; »wie Geschworenen.«

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 4 Erzählen vom Diebstahl

4.1.2 Diebstahl im Zeitsprung: Die Bandamanna saga Das Zusammenspiel von Macht und Vermögen bestimmt in der Bandamanna saga sowohl den rahmenden Vater-Sohn-Konflikt als auch die Beziehungen zwischen Oddr und Óspakr und den Rechtsstreit mit den verbündeten Goden, den bandamenn.24 Gerüchte und ein Diebstahl werden hier als Motive eingesetzt, um die Konflikte voranzutreiben.25 Im Zentrum der satirischen Saga stehen die Strategien des gerissenen Ófeigrs während des Things. Dessen geschickte Prozessführung sieht Claudia Müller in der Erzählstruktur der Saga gespiegelt, die »›durchtrieben‹ und verschachtelt« 26 aufgebaut sei. Ganz in diesem Sinne wird der eigentliche Konfliktauslöser häufig zu Gunsten des ersten Totschlags der Saga übersehen, der den Prozess in Gang bringt. Doch ist es ein Diebstahl, der überhaupt erst Anlass zu diesem Totschlag gibt, und nie auserzählt oder aufgeklärt wird. Stattdessen ist dieser geschickt durch einen Zeitsprung in der Erzählung getarnt: Der Diebstahl verschwindet ebenso aus dem Fokus der Erzählung, wie die Schafe einfach verloren gehen. Der Bauer Ófeigr ist sehr angesehen, hat aber wenig Vermögen. Er ist unzufrieden mit seinem Sohn Oddr, der auf dem Hof nicht ausreichend mitarbeiten möchte, und sich stattdessen selbst eine Arbeit sucht. Dort kommt er zu großem Ansehen und Reichtum und kann selbst einen Hof gründen. Er stellt Óspakr als Arbeiter ein, obwohl diesem ein schlechter Ruf vorauseilt. Oddr erwirbt immer mehr Reichtum und sogar ein Godentum. Mit Óspakr ist er so zufrieden, dass er ihm die Verantwortung für Hof und Godentum überträgt, während er selbst auf eine Handelsreise geht. Óspakr hat ein besonderes Händchen für Schafe, beim Schafabtrieb geht nie ein Tier verloren. Doch schließlich bewahrheitet sich sein schlechter Leumund; man hält Óspakr für überheblich, und als Oddr zurückkommt, gibt er diesem nur nach einer Gewaltandrohung sein Godentum zurück. Óspakr verlässt den Hof, und die Beziehung der Freunde ist stark beschädigt. Nach der Schilderung des Zerwürfnisses heißt es: Oddr lætr nú sem ekki sé at orðit, ok er nú kyrrt um hríð. Þess er getit, at um haustit fara menn á fjall, ok skaut mjǫk í tvau horn um heimtur Odds, frá því er verit hafði.27 Es fehlen ihm 40 Schafe, darunter seine wertvollsten. Man sucht aufwendig, findet sie aber nicht, ok var þó margrœtt um, hverju gegna myndi.28

24 Die Struktur dieser vielbesprochenen Saga wird unter anderem von Müller 2001, S. 109–124, Würth 2000 sowie Magerøy (Hrsg.) 1981, S. xv–lx diskutiert. 25 Eine Diskussion der Funktion von Gerüchten in der Bandamanna saga bietet Müller 2001, S. 122– 124. 26 Müller 2001, S. 227. 27 Band 4 (M), S. 309; »Oddr tut nun so, als ob nichts geschehen wäre, und einige Zeit bleibt es ruhig. Es wird erwähnt, dass die Leute im Herbst in die Berge ziehen, und ein großer Unterschied zwischen dem besteht, was Oddr nun nach Hause bringt, und dem, wie es zuvor gewesen war.« 28 Band 4 (M), S. 310; »und doch gab es viel Gerede darüber, was dahinterstecken mochte.«



4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip 

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Da die Bandamanna saga ansonsten ungewöhnlich viele Dialoge aufweist und größtenteils zeitdeckend erzählt,29 fällt die Auslassung der Zeitspanne, während der die Schafe verschwinden, besonders stark ins Auge. Der Diebstahl muss in der ruhigen Zeit passiert sein, bevor die Saga ihren Bericht um haustit (»im Herbst«) wieder einsetzt. Direkt im Anschluss folgt ein weiterer Zeitsprung, Oddr ist um vetrinn30 (»im Winter«) schlechter Laune. Das szenische Erzählen setzt wieder ein, als sein Ziehbruder Váli sich erkundigt, ob er wegen des mikit geldingahvarfit31 so betrübt sei. Oddr ist inzwischen zu einer Einschätzung gelangt und spricht von Diebstahl. Er verdächtigt sogleich Óspakr (›[H]itt þykki mér verra, er ek veit eigi, hverr stolit hefir‹; ›Ekki er því at leyna, at ek ætla Óspak stolit hafa‹32). Váli rät zur Vorsicht und bietet an, dem Verschwinden nachzugehen. Váli kommt zu Óspakr, der sich erkundigt, ob Oddr schon jemanden verdächtige. Er reagiert betroffen auf die Anschuldigung (›[O]k ef vit værim eigi slíkir vinir, þá mynda ek þessa sárliga hefna‹33). Váli beharrt, Óspakr habe wesentlich mehr neue Schafe, als man redlich erwerben könne. Váli bietet Óspakr einen Ausweg an, dieser geht aber auf keinen Handel ein. Oddr weiß daheim sofort, was Váli verschweigt: ›Nú þarf eigi við at dyljask, at Óspakr hefir stolit, því at þú myndir hann gjarna undan bera, ef þú mættir.‹34 Im Frühling reiten Oddr und Váli mit mehreren Männern zu Óspakr, Váli will einen Vergleich verhandeln. Als er ins Haus geht, wird er sofort angegriffen. 35 Trotzdem möchte Váli noch immer helfen und rät Óspakr, er solle seine Frau zu Oddr schicken; die solle behaupten, sie hätten sich geeinigt, und Váli sei schon weitergezogen. Oddr glaubt die Geschichte und reitet nach Hause, während Váli stirbt. Oddrs Ansehen leidet unter der Geschichte, Óspakr macht sich davon. Es bleibt offen, ob Óspakr tatsächlich für den Diebstahl verantwortlich ist, oder hier ein Opfer seines schlechten Rufs wird. Ihn als Dieb zu betrachten wird dem Rezipienten durch verschiedene Indizien nahegelegt: Durch sein besonderes Händ29 Vgl. Magerøy (Hrsg.) 1981, S. xvii; die Bandamanna saga hat mit über 54 % den höchsten Anteil direkter Rede aller Isländersagas. 30 Band 4 (M), S. 310. 31 Band 4 (M), S. 310; »großen Verschwindens von Hammeln«. 32 Band 4 (M), S. 310; »›Es erscheint mir schlimmer, dass ich nicht weiß, wer sie gestohlen hat‹; ›Es ist nicht zu verheimlichen, dass ich glaube, dass Óspakr sie gestohlen hat.‹« 33 Band 4 (M), S. 313; »›Und wenn wir nicht solch gute Freunde wären, würde ich dies empfindlich rächen.‹« 34 Band 4 (M), S. 314; »›Nun ist es nicht mehr zu verheimlichen, dass Óspakr gestohlen hat, denn du hättest ihn gerne entlastet, wenn du gekonnt hättest.‹« 35 Interessanterweise wird in der längeren Fassung der Mǫdruvallabók auch hier zunächst offengelassen, wer den Schlag gegen Váli führt, während die kürzere Fassung der Saga (GKS 2845, 4to) Óspakr als Mörder nennt. In der hier verwendeten längeren Fassung hat Óspakr somit Gelegenheit, näher heranzutreten und zu bedauern, dass es mit Váli den Falschen getroffen habe. Im Text der Mǫdruvallabók bleibt die Möglichkeit bestehen, dass sowohl der Diebstahl als auch der Totschlag nicht von Óspakr begangen wurden, und das ganze kommende Geschehen auf dem Thing ohne Grundlage erfolgt, was den satirischen Charakter der Saga weiter unterstreicht (vgl. Würth 2000, S. 304).

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chen für Schafe, durch das unmittelbar zuvor beschriebene Zerwürfnis mit Oddr und natürlich durch den Verdacht des ehrlichen Protagonisten Oddr. Trotzdem bemerkt Müller zurecht, dass die »Möglichkeit, dass dies ein grundloser Verdacht ist, […] vom Sagaerzähler nicht ausgeräumt [wird].«36 Im Dialog mit Váli betont Óspakr mehrfach die Freundschaft zwischen sich und den Ziehbrüdern und lässt sich auf keine Händel ein.37 Zieht man die Möglichkeit seiner Unschuld in Betracht, ist sein Zorn ebenso plausibel motiviert, wie der folgende Totschlag. Oddr bringt die Angelegenheit nun vor das Thing, es wird allerdings nicht wegen des Diebstahls geklagt, sondern wegen des Totschlags an Váli. Ein Verfahrensfehler bie­tet Anlass zur Einrede; die Goden möchten die Gelegenheit nutzen, um Oddr die Gren­zen seiner Macht aufzuzeigen. Oddrs Vater Ófeigr lässt sich von seinem Sohn Geld geben und sagt, er könne die Klage noch für ihn retten. Ófeigr wirft nun den an­de­ren Goden ihr Fehlverhalten vor: ›[S]ynisk yðr þat með nǫkkurum réttendum, at gefa gaum at slíku, er einskis er vert, en dœma eigi inn versta mann sekjan, þjóf ok manndrápsmann?‹38 Im Gespräch hält er ihnen vor, auf Wahrheit und Gerechtigkeit geschworen zu haben – ›En hvat er sannara en dœma inn versta mann sekjan ok dræpan ok firrðan allri bjǫrg, þann er sannreyndr er at stulð ok at því, at hann drap saklausan mann, Vála?‹39 Während des Gesprächs lässt Ófeigr immer wieder seinen Geldbeutel aufblitzen und bietet den Goden schließlich Freundschaft und Geld an, wenn sie ihr Urteil korrigieren. Dies geschieht, und Óspakr wird wegen des Totschlags geächtet, vom Diebstahl ist erneut keine Rede mehr. Der Prozess geht zu Oddrs Gunsten aus, was ihm noch mehr Neid einbringt. Ófeigr hilft seinem Sohn ein weiteres Mal gegen Bezahlung und schickt ihn auf Handelsfahrt. Währenddessen überzeugt er die verbündeten Goden, dass es sich für den Einzelnen nicht lohnen würde, gegen Oddr vorzugehen. Die Saga endet mit Óspakrs Tod. In der Bandamanna saga wird ein Zeitsprung eingesetzt, um die genauen Umstände eines Diebstahls im Unklaren lassen zu können. Dieses Vorgehen korrespondiert sowohl mit der mehrdeutigen Erzählhaltung der Saga als auch mit der Natur des

36 Müller 2001, S. 123. 37 Vgl. Müller 2001, S. 123. Müller hegt einige Sympathie für Óspakr, dessen Unschuld aber schon in dieser Episode unwahrscheinlich erscheint und durch das letzte Kapitel weiter in Frage gestellt wird. Dort heißt es, Oddrs fünf Zuchtpferde seien tot aufgefunden worden, ok ætluðu menn Óspaki þat verk (Band 12 (M), S. 363; »und die Leute glaubten, dies sei Óspakrs Werk«). Wieder wird nicht deutlich vom Erzähler angefügt, ob diese Meinung der Wahrheit entspricht – es wird aber auch kein Hinweis auf eine falsche Beurteilung gegeben. Ein solcher Hinweis erfolgt normalerweise, falls die Meinung der Öffentlichkeit kritisch zu hinterfragen ist, wie zuvor anhand der Bjarnar saga Hítdœlakappa besprochen. 38 Band 6 (M), S. 322; »›Erkennt ihr etwa irgendeine Gerechtigkeit darin, solchen Kleinigkeiten Beachtung zu schenken, aber den schlimmsten Mann, einen Dieb und Totschläger, nicht zu verurteilen?‹« 39 Band 6 (M), S. 323; »›Und was ist nun wahrer, als den schlimmsten Übertäter für gesetzlos und buß­los und aller Hilfe verlustig zu erklären, der erwiesenermaßen gestohlen hat, und Váli, einen unschuldigen Mann, getötet hat?‹«



4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip 

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Verbrechens, das sich durch seine fehlende Sichtbarkeit auszeichnet. Der Diebstahl verschwindet zunächst aus der Erzählung und später immer wieder aus dem Prozess. Die Klage wird wegen Totschlags geführt, der vorhergehende Diebstahl ist nicht Teil der Anklage, jedoch immer wieder Teil von Ófeigrs Argumentation. Er bezeichnet Óspakr als ›þjóf ok manndrápsmann‹ und fügt auch anschließenden den Diebstahl hinzu. Die Reihenfolge der Aufzählung entspricht hier sowohl der chronologischen Abfolge der Ereignisse als auch der Schwere der Anklage. Ófeigr nennt den Diebstahl aber nicht immer, in manchen Gesprächen fokussiert er seine Rede auf den Totschlag. Im Vergleich mit anderen Sagas wird der Diebstahl hier nur wenig thematisiert, selbst wenn es sich bei 40 Schafen um einen Vermögenswert handeln muss, der auch ohne den späteren Totschlag ausreicht, um einen Mann zu ächten.40

4.1.3 Der Diebstahl in der Færeyinga saga Zu Beginn der Færeyinga saga teilen zwei Brüder das Erbe ihres Vaters auf. Durch ein Losverfahren fällt der Stammsitz dem jüngeren Sohn Þrándr zu, und als der ältere Bruder im Gegenzug mehr loses Vermögen haben möchte, verweigert Þrándr ihm dies.41 Hinzugefügt wird, dass er das umliegende Land zu sehr hohen Zinsen verpachtet, bevor er sich zu einer Handelsfahrt entschließt. Der so als raffgierig eingeführte Þrándr kommt nach Haleyri, wo ein großer Markt stattfindet und auch König Haraldr blátǫnn mit seinem Gefolge residiert. Zwei Gefolgsleute des Königs, die Brüder Sigurðr und Hárekr, streifen über den Markt und wollen den größten Goldring kaufen, den sie finden können. Sie treffen auf einen Händler, der sich Hólmgeirr auðgi nennt und ihnen einen außerordentlichen Ring zeigt, dessen Preis so hoch ist, dass ihn die Brüder bitten müssen, ihnen eine Nacht Zeit zu geben, um das Silber zu besorgen. Am Morgen verlässt Sigurðr die gemeinsame Unterkunft, Hárekr bleibt zurück. Direkt darauf heißt es:

40 Der Diebstahl dient hier natürlich auch zur Charakterzeichnung: Óspakr, ein Mensch mit schlechten Anlagen, hat bereits zu Anfang einen negativen Ruf, dem er im Laufe der Erzählung als Dieb und Totschläger gerecht wird. Oddr hingegen kommt aus guter Familie und ist ein seiner Jugend ein kólbítr – dies kann er jedoch motivtypisch überwinden und wird zu einem angesehenen Mann. Das Motiv des kolbítrs (wörtlich »Kohlenbeißers«) tritt in altnordischen Heldenbiographien häufig auf, und meint einen Helden, der sich erst spät entwickelt, und der in seiner Kindheit und Jugend nichts von seinen späteren Fähigkeiten erahnen lässt. Kreutzer 1993 (S. 160–163) nutzt den Terminus als Überbegriff für vier Untertypen; den ›Kohlenbeißer‹, den ›Hamlet-Typ‹, den ›Parzival‹-Typ und den ›Verweigerer‹. Zur Funktionalisierung des Motivs in den Isländersagas siehe auch Jakob 2016, S. 259–262. 41 Die im Folgenden geschilderte Episode findet sich in dieser Ausführlichkeit nur in der Flateyjarbók-Redaktion der Saga. Anderswo wird lediglich zusammengefasst, Þrándr habe in Haleyri durch seine Heimtücke ein Vermögen gemacht. Vgl. Schmidt 2018b, S. 194.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Ok litlu síðar kemr Sigurðr útan at tjaldskǫrum ok mælti: ›Hárekr frændi!‹ sagði hann; ›seldu mér sjóðinn skjótt, þann er silfrit er í, þat er vit ætluðum til hringskaupsins, því at nú er samit kaupit, en þú bíð hér meðan ok gæt hér búðarinnar.‹ Nú fær hann honum silfrit út í gegnum tjaldskararnar.42

Wenig später kommt Sigurðr in die Unterkunft und fordert Hárekr erneut auf, ihm das Silber zu geben, um den Kauf abzuschließen. Dieser sagt ihm, er habe es ihm doch gerade eben gegeben, was Sigurðr verneint. Sie streiten und berichten danach dem König von ihrem Verlust. Dieser erkennt, at þeir eru stolnir fénu,43 und verbietet allen Schiffen, den Markt zu verlassen. Es findet eine Versammlung statt, auf der Þrándr seinen Rat anbietet, und sich diesen bezahlen lässt: Jeder Anwesende solle ihm ein Øre Silber geben und ein halbes Øre mehr, falls sein Plan Erfolg habe. Auf dem folgenden Thing rät Þrándr dem König, jeder Mann solle ein wenig Silber geben, um den Schaden insgesamt zu ersetzen. Das übrige Silber solle der König behalten, doch schließlich verschafft sich Þrándr auch von diesem Silber noch ein Viertel als Lohn für seine Hilfe: Varð þat svá mikit ófa fé er Þrándr hlaut, er trautt kom markatali á.44 Die Episode endet mit einer nachträglichen Beschreibung Þrándrs als verräterisch, bösartig und schmeichlerisch. Die Heimlichkeit des erzählten Verbrechens korrespondiert hier mit der Art der Narration. Durch Auslassungen und Perspektivierungen wird nie explizit, wer das Verbrechen begangen hat. So wird die obskure Natur des Verbrechens von der Erzählung reflektiert. Die Identität des Diebes bleibt hier unbestimmt, da die Figur Hárekr zur Fokalisierungsinstanz wird, deren Wahrnehmung geschildert wird. Aus dem Inneren des Zeltes heraus denkt Hárekr, es sei sein Bruder Sigurðr, der durch die Zeltöffnung spricht und den Beutel entgegennimmt. Wie Hárekr ›sieht‹ der Rezipient den Dieb nicht, im Moment des Verbrechens wird der Dieb durch das Zelt verdeckt, und kann so unerkannt bleiben.45 Vieles deutet darauf hin, dass Þrándr nicht nur von diesem Diebstahl profitiert, sondern ihn auch selbst durchgeführt hat. Seine Raffgier zeigt sich bereits bei der Teilung des Erbes mit seinem Bruder, bei der es üblich gewesen wäre, auf den Großteil des losen Vermögens zu verzichten, nachdem ihm das glückliche Los und damit

42 Fær 2, S. 6; »Und wenig später kommt Sigurðr von draußen an die Zeltöffnung und sprach: ›Hárekr, mein Verwandter!‹, sagte er; ›gib mir schnell den Beutel, in dem das Silber ist, das wir für den Kauf des Ringes gedacht hatten, denn nun ist der Kauf abgeschlossen, aber du warte hier solange und kümmere dich hier um die Bude.‹ Nun gibt er ihm das Silber durch die Zeltöffnung hinaus.« 43 Fær 3, S. 6; »dass ihnen das Vermögen gestohlen wurde.« 44 Fær 3, S. 7; »Es wurde ein solches Übermaß an Vermögen, das Þrándr erhielt, dass man es kaum in Markzahlen benennen konnte.« 45 Zur Erzähltechnik dieser Szene siehe auch Heinrichs 1974, S. 202–204. Dort wird für die verwendete Technik den Ausdruck ›Perspektivität‹ eingeführt und gezeigt, dass in dieser Episode im Vergleich zu anderen Sagas ein besonders avanciertes Spiel mit der Rezipientenerwartung betrieben wird, das auch später immer wieder mit der Figur Þrándrs verbunden ist.



4.1 Heimlichkeit als Erzählprinzip 

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der Grundbesitz zugefallen ist.46 Auch, dass er sich für seinen Rat bezahlen lässt, und später trotzdem das Geschenk des Königs annimmt, deutet in dieselbe Richtung. In jedem Fall ist die Figur Þrándr in der Exposition der Færeyinga saga stark mit monetären Aspekten verknüpft und wird in der Figurenbeschreibung deutlich negativ markiert. Der Diebstahl wird allerdings nie aufgelöst und Þrándr somit nicht direkt zugeschrieben, was ihn mit anderen diebischen Protagonisten der Isländersagas verbindet. Dieses verachtenswerte Verbrechen könnte keiner Figur direkt zugeschrieben werden, ohne sie damit als Bösewicht zu markieren, und muss daher bei Protagonisten kaschiert werden.47 Rätselhaft bleibt auch die Figur Holmgeirrs, der keinerlei äußere Beschreibung erhält und nach dem Diebstahl nicht mehr erwähnt wird. Auch für ihn wurde die Möglichkeit vorgeschlagen, es könnte sich um Þrándr selbst handeln.48 Die damit implizierte Verkleidung würde das raffgierige, schurkenhafte Charakterbild Þrándrs um den Aspekt der Maskerade erweitern, sodass man Þrándr als den ›klassischsten‹ aller Diebe der Isländersagas bezeichnen könnte. Auch wäre er damit der gerissenste Dieb der Gattung, indem er die Begehrlichkeit selbst weckt, die dazu führt, dass ein Beutel mit Silber gefüllt wird, der ihm kampflos übergeben wird, und für dessen Auslöse er bei zwei Gelegenheiten Geld erhält, ohne ihn wieder abgeben zu müssen. Ob man beide Täuschungen Þrándr zurechnen möchte, bleibt allerdings der Interpretation überlassen: »The wide-eyed innocent style of the saga does not allow us to be sure that it is Þrándr who arranges what happens […]«.49 Andreas Schmidt weist darauf hin, dass eine Identifikation des Diebes mit Þrándr seine spätere Nähe zur Zauberkunst unterstreichen würde, und die Teilung des Erbes neu perspektiviere: Der Mann, als der Þrándr in seiner letzten Beschreibung explizit entworfen wird, […] hätte wohl kaum einen Loswurf verloren, vor allem nicht um eine später so wichtige Ressource wie den väterlichen Hof mit seinen Landbesitzungen.50

Auch wenn Þrándrs genaue Rolle in diesem Diebstahl nicht auflösbar ist, etabliert die Episode ihn klar als zwielichtigen und scharfsinnigen Charakter. Schmidt kommt zu dem Ergebnis, alle später charakteristischen Eigenschaften Þrándrs würden hier angelegt: »he is smarter than his contemporaries are, he has a knack for everything that concerns money, and he tries to solve problems with the power of his will, shrewdness and diplomatic gamesmanship.«51 46 So wird beispielsweise in Lax 26 der Besitz Hǫskuldrs unter seinen Söhnen aufgeteilt. Zu Erb­strei­ tig­keiten vgl. Kap. 8. 47 Ähnlich wird bei Guðrúns Diebstahl in der Laxdœla saga vorgegangen, vgl. Kap. 5.3.4. 48 Für eine ausführlichere Besprechung dieser Szene und den vorgebrachten Forschungsmeinungen siehe Schmidt 2018, S. 185–195, Schmidt 2016, S. 277–281 sowie North 2005, S. 61–62. 49 North 2005, S. 61. 50 Vgl. Schmidt 2018b, S. 178. 51 Schmidt 2016, S. 280.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Diese Diebstahlsepisode zu Beginn der Færeyinga saga ist damit einerseits von besonderer Bedeutung für die Charakterzeichnung der Figur Þrándr, und zeigt andererseits, wie geschickt eine zwielichtige Figur im Spiel der Erzählperspektiven konturiert werden kann: »Das Element der Täuschung und Irreführung […] tritt als Erzählperspektive immer dann in Erscheinung, wenn Thrand involviert ist.«52 Dieser raffiniert erzählte Diebstahl stellt insgesamt das perfekte erste Verbrechen für eine Figur dar, die im weiteren Erzählverlauf mit Uneindeutigkeiten und Listenreichtum verbunden bleibt. Durch die unbestimmte Erzählweise wird ebenso wie durch Þrándrs unbestreitbare Klugheit ein gewisses Maß an Rezipientensympathie erzeugt, wodurch die Figur die Erzählung weiterhin dominieren kann, ohne eine allzu flache Figurenzeichnung als ›Bösewicht‹ zu erfahren.

4.2 Diebesgut und Handlungsmacht Bei einem Fall von Diebstahl drängen sich einige logische Fragen auf. Manche davon betreffen die beteiligten Personen (›Wer?‹), einige die Umstände des Verbrechens (›Wo, wann und wie?‹). Mindestens so wichtig ist aber die Frage nach dem gestohlenen Gut: ›Was‹ wurde gestohlen? Bei einem literarischen Diebstahl sind damit neben den etablierten Kategorien der Erzähltextanalyse – wie Figuren, Zeit und Raum – die Dinge im Fokus der Analyse.53 Solche ›Dinge‹,54 wie hier das Diebesgut, ziehen als mögliche Aktanten eines Erzähltextes verstärkt die Aufmerksamkeit literaturwissenschaftlicher Forschung auf sich.55 Besonderen Dingen wird eine eigene Handlungsmacht zugeschrieben, die sich mit der menschlicher Aktanten vergleichen lässt.56 In seiner Studie Fetischmus und Kultur argumentiert Hartmut Böhme, Dinge müssten als »›Mitspieler‹ und Gegenhalt zu den menschlichen Aktanten« behandelt werden, ebenso wie menschliche Figuren.57 Auch Bruno Latour verwendet ein ähnliches Konzept, indem er den Begriff des

52 Heinrichs 1974, S. 203. 53 Eine frühere Version der hier vorangestellten theoretischen Überlegungen findet sich in Hahn 2018, dort wird das Konzept des ›handlungsmächtigen Dinges‹ für die Talismane der Isländersagas erprobt. 54 Dieser Begriff meint hier alle nicht-menschlichen und nicht-tierischen Gegenstände eines Textes, es wird nicht weiter zwischen ›Sachen‹, ›Objekten‹, ›Dingen‹, ›Artefakten‹, usw. unterschieden (zur Begrifflichkeit vgl. Tsouparopoulou u. Meier 2015, S. 47). 55 Wichtige neue Beiträge zu dieser Forschungsperspektive versammelt der Band Dingkulturen ­(Mühlherr et al. (Hrsg.) 2016), eine Übersicht bieten Knipp 2012, Veddeler 2012 sowie zuletzt M ­ ühlherr 2016. 56 Als theoretische Grundlage dienen einer ›Ding-orientierten‹ Literaturwissenschaft dabei Ansätze, die zuerst in der Soziologie und Ethnologie Anwendung fanden. Die strikte Trennung von Subjekten und Objekten, d.  h. Figuren und Dingen, bei der Betrachtung vormoderner Kulturen wurde dort vielfach angegriffen (vgl. insbesondere Böhme 2006 und Kohl 2003). 57 Mühlherr u. Sahm 2012, S. 235. Der Begriff »Mitspieler« stammt dabei von Böhme 2006, S. 78.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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›Aktanten‹ oder ›Akteurs‹ ausweitet, auf »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht.«58 Dieses Konzept wird von Anna ­Mühlherr und Heike Sahm zur Analyse mittelalterlicher Erzähltexte herangezogen: Für eine historisch ansetzende Narratologie ist es heuristisch geboten, neben der erzählten Welt als Aktionsraum von erzählten Figuren, denen im Extremfall kontingenterweise etwas geschieht, was mit Dingen zu tun hat, die Welt als Inbegriff auch von Dingen komplementär zu betrachten – Dingen, die im Extremfall als Mit-Aktanten im Spiel sein können.59

Nicht jedes Ding eines Erzähltextes kann als Aktant gelten. Einige Gegenstände haben eine dekorative Funktion und tragen nur indirekt zur Gestaltung einer Szenerie oder Figur bei.60 Diese sind funktionsgleich mit Nebenfiguren, die nicht wesentlich zur Handlungsentwicklung beitragen und lediglich zur Ausgestaltung anderer Figuren dienen oder als Statisten eine Episode beleben. Interessant sind jene besonderen Gegenstände, die eine eigene Geschichte erhalten, indem beispielsweise über ihre Herstellung, ihre Beschaffenheit und ihre Vorbesitzer berichtet wird. Intra- wie extradiegetisch bekommen Objekte im Handlungsfortgang Funktionen und Bedeutungen ein- und zugeschrieben.61 Am Beispiel der tarnkappe im Nibelungenlied erarbeitet Mühlherr drei Betrachtungsweisen der stark markierten, »faszinierend besondere[n]« Gegenstände in mittelalterlichen Erzähltexten: Deren »funktionale[…] Einbindung«, ihre »Disponibilität für Semiotisierungsprozesse« und ihre »eigene Bestimmtheit«.62 An Mühlherr anschließend fasst Schanze für die möglichen Funktionen der Dinge zusammen,

58 Latour 2014, S. 123 (Hervorhebung im Original). Im Folgenden wir der Begriff ›Aktant‹ vorgezogen, da er sowohl von Latour als auch von Böhme verwendet wird, und ein geringeres Maß an aktivem Handeln voraussetzt, als es der Begriff ›Akteur‹ nahelegt (vgl. Böhme 2006, S. 73: »Auch die toten Dinge sind, wenn schon nicht Akteure, so doch wenigstens Aktanten«). In den Literaturwissenschaften bezeichnet der ›Akteur‹ traditionell eine bewusst handelnde Figur, als ›Aktant‹ versteht man dagegen eine Rolle, wie den Helden einer Erzählung, die durchaus auf mehrere Handlungsträger aufgeteilt sein kann. Beide Begriffe wurden maßgeblich durch den französischen Strukturalisten Algirdas Julien Greimas geprägt, zu seiner Unterscheidung von ›Aktanten‹ und ›Akteuren‹ vgl. insb. Greimas 1971, S. S. 159–160. 59 Mühlherr u. Sahm 2012, S. 239. 60 Vgl. Schanze 2013, S. 539. Dieser wählt den treffenden Vergleich des Requisits im Theater. Es liegt in dessen Natur, ein für die Handlung notwendiges ›Ding‹ zu sein. Dies trifft aber nicht auf alle dinglichen Elemente eines Bühnenbildes zu. 61 Vgl. Schanze 2013, S. 539 in Anlehnung an Mühlherr 2009. 62 Mühlherr 2009, S. 469. Auch Sahm 2009 zeigt in ihrem Beitrag zum Schatz im Beowulf auf, dass dem Hort als ›Ding‹ eine Logik innewohnt, die dem Helden nicht vollumfänglich bekannt ist, und die zur Katastrophe beiträgt: Ein Hort darf nicht geteilt werden. Dem Hort widmen sich Mühlherr u. Sahm 2012 gemeinsam: Für das Nibelungenlied stellen sie fest, dass dieser sich als Ding der »Anderwelt« behauptet, welches sowohl die Figur als auch das Publikum mit einer »hermeneutischen Grenze« konfrontiert (S. 237).

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 4 Erzählen vom Diebstahl

dass Dinge über eine (punktuelle) Einflussnahme auf die Handlung hinaus weitere Funktionen haben können: Sie können zu ›Kristallisationspunkten‹ verschiedener Problemkonstellationen werden, sie können als ›Kreuzungspunkt‹ mehrerer Handlungsstränge oder zur Markierung von Bruch- oder Übergangsstellen dienen, und sie können narrativ so stark mit Bedeutung aufgeladen sein, dass sie Symbolcharakter bekommen.63

Schanzes Beschreibung der Gegenstände als Kristallisations- oder Kreuzungspunkte von Problemkonstellationen und Handlungssträngen bietet sich für die hier untersuchten Verbrechen besonders an. Bei Diebstahls- und Raubepisoden handelt es sich grundsätzlich um Kreuzungspunkte der Erzählstränge, an denen die Eigenschaften der erzählten Welt besonders deutlich hervortreten. Damit liegt die Idee nahe, dass hierbei auch den gestohlenen Gegenständen eine Markierungsfunktion zukommt. Zusammenfassend soll für die vorliegende Arbeit die postulierte Handlungsmacht der Dinge festgehalten werden, die sie zu Aktanten und ›Mitspielern‹ im narrativen Gefüge macht. Auch der Fokus auf Objekte mit einer eigenen Geschichte soll hier angewandt werden. Übertragen auf Diebstahls- und Raubfälle bedeutet dies, dass nicht jedes gestohlene Ding als Aktant verstanden werden soll, dieses Konzept aber für spezielles Diebesgut – wie Geschenke oder Gegenstände, die einen Namen tragen – erprobt werden soll. Wenn eine starke narrative Markierung dieses Vorgehen rechtfertigt, wird im Folgenden nach der funktionalen Einbindung der Gegenstände und dem Ablauf von Semiotisierungsprozessen gefragt. Für einige wenige gestohlene Gegenstände in den Isländersagas ist auch eine mögliche ›eigene Bestimmtheit‹ des Dinges denkbar. Bruchstellen eröffnen sich immer dann, wenn der dingliche Eigensinn nicht auf allen Ebenen gleichermaßen bekannt ist und die ungleiche Verteilung von Wissen zwischen Figuren, Erzähler und Rezipienten sichtbar wird. Diebesgut trägt einen besonderen Bruch in seiner ›Biographie‹.64 Chris Gosden und Yvonne Marshall betonen die kulturwissenschaftlichen Auswirkungen einer biographischen Herangehensweise an Dinge: The notion of biography is one that leads us to think comparatively about the accumulation of meaning in objects and the changing effects these have on people and events. This central thread of comparison, however, makes the variety of relationships between people and things in different cultural contexts even more apparent.65

63 Schanze 2013, S. 541. 64 Die von Kopytoff 1986 etablierte ›Objektbiographie‹ gewinnt auch in anthropologischer und archäologischer Forschung an Bedeutung. Es handelt sich dabei um eine deskriptive Methodik, die davon ausgeht, dass der Mensch Dinge grundsätzlich wie Menschen konzeptualisiert. Somit können Gegenstände wie Menschen beschrieben werden: mit einer Biographie, ausgehend von ihrer Entstehung. Als »narrative Linien [ordnet man] wechselnde Geschichten, Funktionen und Bedeutungen entlang eines Zeitstrahls« (Tsouparopoulou u. Meier 2015, S. 50). Dies wird in der Archäologie besonders bei Objekten mit langer Lebensdauer praktiziert, die in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen Verwendung fanden (vgl. Tsouparopoulou u. Meier 2015, S. 50–51). 65 Gosden u. Marshall 1999, S. 177.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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Eine besonders starke Veränderung erfahren beispielsweise drei Objekte in der ­Hallfreðar saga vandræðaskálds. Am Ende seines Lebens verfügt der Skalde Hallfreðr, dass die Kostbarkeiten, die er von König Óláfr geschenkt bekommen hat, in seinen Sarg gelegt werden sollen. Nach seinem Tod werden also ein Gewand, ein Helm und ein Armreif mit ihm in den Sarg gelegt. Man wirft den Sarg über Bord, von wo er zur Heiligen Insel der Hebriden treibt.66 Dort finden ihn Gehilfen des Abtes und brechen den Sarg auf. Sie stehlen die Wertgegenstände und versenken den Leichnam im Moor. Daraufhin erscheint König Óláfr – der spätere Heilige – dem Abt im Traum und lässt ihn wissen, was geschehen ist (›hafa þeir […] stolit fé hans‹).67 Der Abt lässt die Gehilfen ergreifen, ist nach ihrem Geständnis aber gnädig mit ihnen und lässt sie frei. Aus dem Armreif fertigt man einen Kelch, aus dem Gewand ein Altartuch und aus dem Helm einen Kerzenhalter. Leider endet die Saga mit dieser Episode, sodass man nichts vom weiteren Schicksal der Objekte erfährt. Im Laufe ihrer ›Biographie‹ werden sie zunächst zu Königsgeschenken an einen treuen Gefolgsmann. Dieser macht sie zu Grabbeigaben, worauf sie gestohlen werden. Der Kontakt im Traum gibt der Wiederentdeckung einen übernatürlichen Charakter, die spätere Umwandlung in liturgische Gegenstände verändert ihr Aussehen und auch ihren Verwendungszweck. Sowohl dem Skalden als auch dem Abt sind die Gegenstände teuer, da sie von König Óláfr stammen und dieser ihnen durch das Geschenk oder die Traumerscheinung eine besondere Gunst erwiesen hat, die vom Objekt repräsentiert wird. Gosden und Marshall gehen davon aus, dass Ruhm und Ansehen von Menschen und Objekten wechselseitig aufeinander wirken: Objekte erhalten ihren Wert durch die Verbindung zu ruhmreichen Menschen, die wiederum ihren Ruhm vergrößern, indem sie besondere Objekte besitzen.68 Die Personifizierung von Gegenständen lässt sich am deutlichsten an jenen Gegenständen ablesen, die Namen tragen und denen ein eigener Wille zugestanden wird, wie dies beispielsweise beim berühmten Schwert Excalibur der Fall ist.69 Auch die altnordische Literatur kennt Schwerter, denen ein Name und eine Handlungsmächtigkeit zugeschrieben werden, wie das Schwert Tyrfingr oder Thors Hammer Mjǫlnir. Die Möglichkeit der ständigen Neusemantisierung eines Objektes steht der

66 Die Heilige Insel bezeichnet die Insel Iona (oder Icolmkill, bzw. Ì Chaluim Chille) der Inneren Hebriden. Dort wurde im 6. Jahrhundert das Kloster Iona Abbey vom Heiligen Columban gegründet. Man vermutet, dass das Book of Kells dort entstanden ist, vgl. Richter 2000. 67 Hal 11, S. 199; »›sie haben sein Vermögen gestohlen.‹« 68 Vgl. Gosden u. Marshall 1999, S. 170. 69 Vgl. Rogan 1990, S. 49–50, dort auch zur Namensgebung von Schwertern allgemein. Die Schwerter der altnordischen Literatur bespricht Grünzweig 2009, S. 409–420 (insb. S. 413–414). Er kann zeigen, dass Schwerter grundsätzlich als belebte Gegenstände konzeptualisiert sind, die einen eigenen Charakter besitzen, der häufig mit dem ihres Besitzers korrespondiert. Ein Stellenkatalog des altnordischen Materials findet sich bei Drachmann 1967.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

»eigene[n] Bestimmtheit«70 des Dinges komplementär gegenüber, und ergänzt damit das zuvor beschriebene narratologische Modell. Raub- und Diebesgut ist zudem ebenso wie die Gabe den Regeln der Reziprozität unterworfen,71 weshalb es in der Narration nicht durchgängig präsent bleiben muss, um seine Bedeutsamkeit aufrecht zu erhalten: [W]eil es sich bei der Reziprozität um eine Basisregel, beim ›Vergelten‹ um eine – so das Grimmsche Wörterbuch – ›seit alter Zeit bis in die Neuzeit festgehalten[e]‹ Erwartung handelt, weiß der Rezipient, dass da noch eine Rechnung offen ist und das Ding künftig noch ›vergolten‹ werden muss.72

Diese Vorerwartung erklärt auch die häufigen Vorausdeutungen, die das Ding beim Besitzerwechsel begleiten.73 Eine verbale Markierung der erwartbaren Vergeltungshandlung findet in den Isländersagas sehr häufig statt, meist in Form eines Fluchs, der fortan auf dem Gegenstand lastet. Fluch und Vorausdeutung unterstreichen, was durch die Vorgeschichte des Dings vorgegeben ist, sind aber – wie die unterschiedlichen Versionen der Gísla saga zeigen werden – nicht zwingend notwendig.74 Auf den Raub oder Diebstahl eines Gegenstandes muss in der Narration eine Vergeltung folgen – kann diese nicht von der Figur betrieben werden, wird sie auf das Objekt ausgelagert, das somit zum Unglücksbringer wird.75

4.2.1 Die gestohlenen Schwerter der Laxdœla saga In der Laxdœla saga finden sich mehrere besondere Schwerter, die Namen tragen und eine starke narrative Markierung erfahren. Die Handlung der Saga erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa 200 Jahren und acht Generationen von Nachkommen Ketill

70 Mühlherr 2009, S. 469. 71 Zum Zusammenhang von Raub und Gabe siehe Kap. 1.4.1. 72 Sahm 2014, S. 424. Sahm zitiert hier Grimm u. Grimm 1854–1961, Bd. 25, Sp. 410, s.  v. ›vergelten‹. 73 Vgl. Sahm 2014, S. 424–425. 74 Die Optionalität der Verfluchung eines schon zuvor bedeutsamen Gegenstandes bespricht auch Niehaus 2012, S. 76 am Beispiel des Rings des Nibelungen (Hervorhebungen im Original): »Der Fluch bestimmt das Ding zum Wandern und begleitet das wandernde Ding – und das musikalische Fluchmotiv, das zu Beginn dieser Verfluchung einsetzt, wird im weiteren Verlauf der Tetralogie bei Bedarf an diesen Fluch erinnern […]. Status und Wirkung dieser Verfluchung sind allerdings fraglich. Zum einen macht die Verfluchung nur den Fluch explizit, der ohnehin auf dem Ring liegt. Der Verfluchung kommt keine eigene Kraft zu.« 75 Eine prinzipiell ähnliche, jedoch sehr vereinfachte Erklärung bietet Grünzweig 2014 für die Wirkungsweise verfluchter Schwerter an: »Vielleicht liegt diesem Motiv einfach eine in der menschlichen Natur liegende Erklärung zugrunde: Was ich nicht mehr verwenden darf, soll dir auch kein Glück bringen« (S. 193).



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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flatnefrs, der Norwegen nach dem Regierungsantritt Haraldr hárfagris verlässt.76 Ausgehend von seiner Tochter Unnr und seinem Sohn Bjǫrn entstehen auf Island zwei mächtige Familienstränge, deren Konflikte und Beziehungen im Zentrum der Saga stehen und ihren Höhepunkt in der Dreiecksbeziehung zwischen Kjartan, Bolli und Guðrún erreichen. Kjartan und Bolli sind Cousins, Ziehbrüder und enge Freunde, die zusammen häufig Guðrún besuchen. Alles scheint auf eine Ehe zwischen Kjartan und Guðrún hinauszulaufen, die als die beiden hervorragenden Vertreter ihrer Generation etabliert werden. Kjartan und Bolli verlassen jedoch gemeinsam das Land, bevor eine Verlobung zustande kommen kann. Als Kjartan am norwegischen Hof festgehalten wird, und nicht rechtzeitig nach Island zurückkehren kann, heiratet stattdessen Bolli Guðrún. Nach Kjartans Rückkehr entstehen Streitigkeiten zwischen den einstigen Freunden, die schließlich zur Tötung Kjartans durch die Hand Bollis führen.77 Die Forschung zur Laxdœla saga konzentrierte sich besonders auf ihre Struktur und ihren narrativen Aufbau.78 Rolf Heller hob dabei die Häufigkeiten von Wiederholungen hervor, sowohl Wörter und Ausdrücke als auch Motive betreffend.79 So seien viele Erzähleinheiten als Paare zu verstehen, in einigen Fällen sogar als Dreizahl.80 Nahezu alle Motivwiederholungen seien dabei bewusst mit Wortparallelen verbunden, um dem Rezipienten inhaltliche Parallelität vor Augen zu führen.81 Zu diesen Motivwiederholungen zählen in der Laxdœla saga drei unheilbringende Schwerter, die durch einen Diebstahl in die Handlung gelangen; Konungsnautr, Fótbítr und Skǫfnungr. Sie alle werden bei ihrem Erwerb mit Flüchen, Vorahnungen oder Anweisungen verknüpft, die das Kommende vorausdeuten. Kjartans Tod wird durch den Diebstahl des Königsschwertes eingeleitet, Bollis Unglück zeichnet sich ab, als er Fótbítr erhält, und Skǫfnungr bringt Þorkell nicht die erhoffte Überlegenheit im Kampf. Stattdessen wird bei seinem Ertrinken eigens erwähnt, dass das Schwert auf dem Schiff eingeschlossen war und später gefunden wurde. Auch andere Gegenstände der Laxdœla saga tragen Namen und besitzen eine besondere Biographie. Die so erzeugte Symbolkraft oder Wirkmacht des Dings kann sowohl auf verschiedene Quellen zurückgehen als auch unterschiedlicher Natur sein. Ein ehrenhaft erworbener Gegenstand kann seinen Träger auszeichnen und ihm sogar Glück bringen. Dies zeigt sich zuerst an den Geschenken, die Kjartans Großvater Hǫskuldr von König Hákon erhält. Diese im Ausland erworbenen Schmuckstücke

76 Vgl. Kap. 7.4. 77 Die Beziehung von Kjartan, Guðrún und Bolli ist dabei eindeutig an die aus der Heldendichtung bekannte Dreieckskonstellation Sigurðr–Brynhildr–Gunnarr angelehnt. Vgl. bspw. Sverrir Tómasson 1993, S. 388, Clover 1986a, S. 528 sowie Beck 2001, S. 163. 78 Eine zusammenfassende Betrachtung der Forschungsgeschichte findet sich bei Frölich 2000, S. 14–17. 79 Vgl. Heller 1960, S. 115, zu wiederkehrenden Elementen auch Beck 1974, S. 387–390. 80 Vgl. Heller 1960, S. 146. 81 Vgl. Heller 1960, S. 166.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

zeichnen ihn zunächst auf Island aus, und gewinnen durch ihn als Träger wiederum selbst an Bedeutung. Die wechselseitige Beziehung zwischen dem Objekt und seinem Inhaber wird hier sichtbar. Als Hǫskuldr die Geschenke am Ende seines Lebens an seinen Lieblingssohn Óláfr weitergeben möchte, tritt die Vorstellung, innerfamiliäres Glück könne zusammen mit einem Gegenstand weitergegeben werden, deutlich zu Tage: Síðan lét Hǫskuldr taka gullhring Hákonarnaut – hann vá mǫrk – ok sverðit konungsnaut, er til kom hálf mǫrk gulls, ok gaf Óláfi, syni sínum, ok þar með giptu sína ok þeirra frænda.82 Hǫskuldr möchte nicht nur sein Erbe verteilen, sondern auch persönliche und familiäre gipta (»Glück«)83 weitergeben. Die Gegenstände haben hier einen Semiotisierungsprozess durchlaufen, sodass sie nicht nur Herrschergeschenke darstellen, sondern bis zu ihrer Weitergabe auch Eigenschaften ihres neuen Trägers aufgenommen haben. Wie man sich den Verbund von Eigenschaft und Gegenstand genau vorzustellen hat, wird nicht erklärt. In jedem Fall scheint Hǫskuldr zu hoffen, das Schwert könne sein Glück weitertragen, oder zumindest seine guten Wünsche symbolisieren. Ebenso wie das Glück eines Herrschers oder der Verwandten kann aber auch Unheil an einem Gegenstand haften und mit ihm weitergegeben werden. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass ein Diebstahl in der Biographie eines Schwertes in der Laxdœla saga dazu führt, dass dieser das Schwert nachhaltig verändert, und die Waffe daraufhin innerhalb der Erzählung als Marker für drohendes Unglück fungiert. Der Diebstahl haftet ebenso negativ am Objekt, wie die Flüche und Vorausdeutungen, die den Zustandswechsel verbal markieren. Die engste Verbindung besteht dabei zwischen den Schwertern Fótbítr und Konungsnautr, die beide gestohlen werden, obwohl ihre Besitzer sie kaum aus den Händen legen. Dies unterstreicht eine wörtliche Parallele: [Geirmundr] lét þat aldregi hendi firr ganga,84 und über Kjartan heißt es, er war sjaldan vanr at láta þat hendi firr ganga.85 4.2.1.1 Das Schwert Fótbítr Als Kjartans Schwester Þuríðr von ihrem Ehemann Geirmundr verlassen wird, rächt sie sich an ihm, indem sie ihm sein wertvolles Schwert Fótbítr stiehlt.86 Das kostbare Stück wird ausführlich beschrieben: [Þ]at var mikit vápn ok gott, tannhjǫlt at; ekki var þar borit silfr á, en brandrinn var hvass, ok beið hvergi ryð á. Þetta sverð kallaði hann

82 Lax 26, S. 72; »Danach ließ Hǫskuldr seinen Goldring Hákonarnautr nehmen – er wog eine Mark – und das Schwert Konungsnautr, das sich auf eine halbe Mark Goldes belief, und gab es Óláfr, seinem Sohn, und damit sein Glück und das seiner Verwandten.« Vgl. auch Katona 2014, S. 28. 83 Zur gipta und altnordischen Glücksvorstellungen siehe Sommer 2007. 84 Lax 29, S. 79; »[Geirmundr] ließ es nie aus den Händen.« 85 Lax 46, S. 140; »pflegte selten, es aus den Händen zu geben«. Siehe auch Heller 1960, S. 141. 86 Eine ausführliche Diskussion von Þuríðrs Verbrechen und der Unsicherheit, ob es sich dabei um þjófnaðr oder rán handelt, erfolgt in Kap. 5.3.3.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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Fótbít ok lét þat aldregi hendi firr ganga.87 Geirmundr versucht erfolglos, Þuríðr von ihrem Verbrechen abzuhalten. Als dies nicht gelingt, spricht er folgenden Fluch aus: ›Þat læt ek þá um mælt,‹ segir Geirmundr, ›at þetta sverð verði þeim manni at bana í yðvarri ætt, er mestr er skaði at, ok óskapligast komi við‹.88 Nachdem Þuríðr zu ihrer Familie nach Hjarðarholt zurückgekehrt ist, übergibt sie das Schwert ihrem Cousin Bolli, því at hon unni honum eigi minna en brœðrum sínum.89 So gelangt Bolli in den Besitz Fótbítrs. Erneut erwähnt wird das Schwert allerdings erst wesentlich später, als sich die Ziehbrüder Kjartan und Bolli auf dem Höhepunkt ihrer Streitigkeiten im finalen Kampf gegenüberstehen. Im Gegensatz zu Kjartan, der ein Schwert trägt, das sich immer wieder verbiegt, steht Bolli hjá með Fótbít.90 Als Bolli zögert, in den Kampf einzugreifen, fordert ihn Kjartan auf, der einen oder anderen Seite zu Hilfe zu kommen und zu testen, hversu Fótbítr dugi.91 Es bedarf aber noch der aufhetzenden Worte seines Schwiegervaters, bis sich Bolli entscheidet, Fótbítr zu ziehen, und sich gegen Kjartan zu wenden. Kjartan wirft sein Schwert von sich und steht Bolli unbewaffnet gegenüber, als dieser seinen einstigen Freund mit dem verfluchten Schwert verwundet. Kjartan stirbt in Bollis Schoß, während dieser die Tat umgehend bereut. Verfolgt man den Weg des Schwertes durch die Saga weiter, fällt auf, dass es abermals nicht erwähnt wird, bis Bollis eigener Tod naht. Als er sich für den Angriff rüstet, hält er erneut sverðit Fótbít í hendi.92 Wie zuvor Kjartan wirft auch Bolli vor seinem Tod sein Schwert zur Seite und wird auf das Drängen seiner früheren Ziehmutter Þorgerðr enthauptet. Bei seiner nächsten Nennung ist Fótbítr bereits in den Besitz von Bolli Bollason übergegangen, der seiner Mutter Guðrún mit zwölf Jahren reif genug erscheint, seinen Vater zu rächen: [H]ann bar þá ok Fótbít.93 Wenig später geschieht dies beim Rachezug gegen Helgi: Ok er Bolli sá þetta, þá hleypr hann at Helga ok hafði í hendi Fótbít ok lagði í gegn um Helga.94 Als am Ende der Saga der erwachsene Bolli Bollason nach seinen Auslandsreisen nach Island zurückkehrt, werden seine luxuriösen Gewänder ausführlich beschrieben. Zu seiner Ausrüstung gehört immer noch

87 Lax 29, S. 79; »Das war eine starke und große Waffe, mit einem Knauf aus Walrosszahn; sie war nicht mit Silber verziert, aber die Klinge war scharf und hatte keinen Rost darauf. Dieses Schwert nannte er Fótbítr und ließ es nie aus den Händen.« 88 Lax 30, S.  82–82; »›Dann verhänge ich diesen Fluch,‹ spricht Geirmundr, ›dass dieses Schwert jenem Mann aus eurem Geschlecht den Tod bringe, bei dem es euch am schlimmsten trifft, und dass dies auf ungeheuerliche Weise geschehen werde.‹« 89 Lax 30, S. 83; »weil sie ihn nicht weniger liebte als ihre Brüder.« Ähnlich heißt es in Lax 27, Þorgerðr und Óláfr liebten Bolli nicht weniger, als ihre eigenen Kinder. 90 Lax 49, S. 153; »dort mit Fótbítr.« 91 Lax 49, S. 153; »wozu Fótbítr taugt.« 92 Lax 55, S. 166; »das Schwert Fótbítr in Händen.« 93 Lax 59, S. 176; »Er trug da auch Fótbítr.« 94 Lax 64, S. 192; »Und als Bolli dies sah, da lief er auf Helgi zu, und hatte Fótbítr in den Händen und stieß ihn durch Helgi hindurch.«

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 4 Erzählen vom Diebstahl

das Schwert seines Vaters, das aber offenbar prächtiger geworden ist: [H]ann var gyrðr Fótbít, ok váru at honum hjǫlt gullbúin.95 Was das Schwert Fótbítr betrifft, tritt der Diebstahl als Verbrechen hinter die Bedeutung des Diebesgutes als Ding zurück. Narrativ wie rechtlich hat das Verbrechen als solches erstaunlich geringe Folgen. Seine Funktion ist es, das verfluchte Schwert in die Familie einzuführen – das Schwert markiert den Kristallisationspunkt der vorhergehenden Handlungsstränge. Þuríðrs unglückliche Ehe und Selbstermächtigung, Bollis enorme Nähe zu seiner Ziehfamilie und Geirmundrs Fluch machen das Schwert kompositorisch bedeutsam, sein Erwerb und seine Weitergabe deuten das weitere Schicksal der Protagonisten voraus: Als Bolli das gestohlene Schwert erhält, an dem der Fluch haftet, es werde denjenigen aus Þuríðrs Familie töten, dessen Verlust den größten Schmerz hervorruft, lenkt dies die Rezipientenerwartung auf eine drohende Konfrontation zwischen Bolli und Þuríðrs Bruder Kjartan. Der Diebstahl Fótbítrs erfüllt deshalb eine ähnliche Funktion wie die vielen Prophezeiungen und Träume der Laxdœla saga:96 Er zeigt an, dass der Weg der beiden Ziehbrüder unausweichlich auf den Totschlag an Kjartan hinführt, und bietet neben den vielen offensichtlichen Konflikten zwischen den beiden Ziehbrüdern eine weitere Erklärung für diese ungeheuerliche Tat. Kjartans Tötung wird vielfach kausal motiviert, ist aber bereits zum Zeitpunkt des Diebstahls und des Fluches kompositorisch notwendig. Bei Fótbítr handelt es sich nicht um eine generell siegbringende Waffe – seine Besonderheit liegt in dem ihm eingeschriebenen Schicksal, Geirmundrs Schmach an Þuríðr zu rächen.97 Sicher hat Heller mit seiner Bemerkung Recht, der Fluch auf dem Schwert sei »ein wichtiges Glied […] in der Kette von Hinweisen auf das künftige tragische Geschehen«,98 doch sollte der Diebstahl als ein ebenso starker Hinweis gedeutet werden. Der Diebstahl ist es, der den Fluch erst auslöst, und zudem den bestohlenen Geirmundr in ein positiveres Licht rückt, als dies bei dieser Figur zuvor der Fall war.

95 Lax 77, S. 225; »Er war mit Fótbítr gegürtet, dessen Knauf mit Gold geschmückt war.« 96 Die ausgefeilte Komposition der Laxdœla saga schlägt sich mehrfach in den vielen Träumen und Prophezeiungen nieder, die das Geschehen vorausdeuten und dem Rezipienten die Unausweichlichkeit des Schicksals der Figuren vor Augen führen. Am deutlichsten geschieht dies durch die Figur des weisen Gestr, der sowohl Guðrúns Träume deutet, wodurch der Verlauf ihrer vier kommenden Ehen offenbar wird, als auch beim Anblick von Bolli und Kjartan unter Tränen weissagt, dass Bolli zum Totschläger seines Freundes werden wird (Lax 33). Zum Schicksal in der Laxdœla saga siehe Frölich 2000, S. 35–44, zu Vorausdeutungen beispielsweise Madelung 1972, S. 18–25. 97 Mundal 1997 geht so weit, dem Schwert nun magische Eigenschaften zuzuschreiben: »Men sverdet kjem også til å fungere som eit magisk symbol, for Geirmund kasta ei forbanning over det som gjer sverdet til ein magisk gjenstand« (S. 63; »Doch das Schwert wird auch als ein magisches Symbol funktionieren, da Geirmund einen Fluch darauflegt, der das Schwert zu einem magischen Gegenstand macht«). Zwar wird auch hier angenommen, dass dem Schwert durch Fluch und Diebstahl eine eigene Handlungsmacht innewohnt, die den Ziehbrüdern nicht bekannt ist, eine magische Qualität hat es deshalb aber nicht. 98 Heller 1976, S. 133.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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Da Þuríðr ihren Mann bestiehlt, setzt sie sich selbst ins Unrecht, und lenkt den Fluch auf ihre Familie, indem sie das verfluchte Diebesgut an ihren Neffen weiterreicht.99 Das Schicksal der beiden Ziehbrüder gewinnt weiter an Tragik, als das Wissen um den Fluch nicht zusammen mit dem Schwert weitergereicht wird. Die ›eigene Bestimmtheit‹ Fótbítrs ist zwar dem Rezipienten bekannt, nicht aber den handelnden Figuren. Þuríðr begreift die Konsequenzen ihres Handels nicht, sonst würde sie das Schwert kaum wie eine Trophäe an Bolli weiterreichen. Sie immerhin hätte Kenntnis von Geirmundrs Fluch und könnte mit einer Waffe, über die ihr gesagt wurde, sie würde denjenigen aus ihrer Familie töten, dessen Verlust am größten wäre, anders umgehen: Sie verstecken, oder wenigstens jenem Mann geben, dem der Fluch drohen könnte. Ihre Wahl bestimmt Bolli als neuen Besitzer und zukünftigen Totschläger, und wird damit begründet, dass sie ihn nicht weniger liebe als ihre Brüder.100 Da sie das Wissen um den Fluch für sich behält, wird dieses keiner anderen Figur offenbar und bleibt nur dem Rezipienten präsent. Die Weitergabe des Schwertes funktioniert als Einfallstor, durch das die ungleiche Verteilung von Wissen auf den verschiedenen Ebenen sichtbar wird. Fótbítrs Handlungsmacht kommt zum Tragen, als es zur Waffe wird, mit der Bolli Kjartan tötet, und sich Geirmundrs Fluch somit erfüllt. Auch danach bleibt das Schwert Fótbítr in der Erzählung präsent und wird mehrfach namentlich genannt. Als Bolli seiner eigenen Tötung durch Kjartans Familie ins Auge sehen muss, wirft er – wie sein Ziehbruder vor ihm – das Schwert von sich. Doch selbst diese Handlung wandelt die unheilvolle Semantik des Schwertes nicht um: Als der junge Bolli Bollason in den Augen seiner Mutter zur Vaterrache bereit ist, trägt auch er das Schwert Fótbítr. Das Unheil, das das Diebesgut mit sich trägt, endet weder mit dem Tod Kjartans, noch mit der Rache an Bolli. Die Erwähnung Fótbítrs kündigt auch weiterhin Unglück und Tod an. Erst am Ende der Saga scheint sich die ›eigene Bestimmtheit‹ des Schwertes gewandelt zu haben. Nun wird das Unheilssymbol zur Kostbarkeit, das nur noch zur Charakterisierung des erwachsenen Bolli Bollason dient. Der prunkliebende Charakter seines neuen Besitzers zeigt sich in der Beschreibung des Schwertes: Als es in Geirmundrs Besitz war, hieß es noch über das Schwert ekki var þar borit silfr á,101 seine

99 Zur Wirkungsweise von Flüchen in der mittelalterlichen Literatur vgl. beispielsweise Schulz 2003, S. 13–29. Hier wäre der Fluch nicht notwendig, verbalisiert aber das durch den Diebstahl ausgelöste Unglück, welches fortan auf dem Schwert liegt. 100 Man könnte auch argumentieren, dass sie gerade dies tut, und sich entscheidet, dass Bollis Verlust die Familie am härtesten treffen würde. Dies träfe allerdings nicht auf ihre ganze Familie zu, da Óláfr schon vorher träumt, er werde seinen liebsten Sohn verlieren, nachdem es bereits hieß, dass Óláfr unter seinen Kindern Kjartan am meisten liebe. Siehe auch Heller 1976, S. 131 und Madelung 1972, S. 19. 101 Lax 29, S. 79; »es war nicht mit Silber verziert«.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Besonderheit war vielmehr eine Verzierung mit Walrosszahn,102 von der im weiteren Verlauf der Saga keine Rede mehr ist. Dieser Beschreibung wird nichts hinzugefügt, bis das Schwert in den Besitz des jungen Bolli übergeht. Als er es als Erwachsener trägt, hat Fótbítr eine luxuriöse Aufwertung erfahren: [V]áru at honum hjǫlt gullbúin.103 Es verwundert, dass Bolli das Schwert, mit dem sein Vater Kjartan getötet hat und aus dessen Wirken für die Familie so großes Unglück entstand, wie ein Schmuckstück trägt. Sein prunkvolles Auftreten erinnert an die Beschreibungen Óláfrs und Kjartans, von denen man sich in den Augen Conroys und Langens aber nicht hätte vorstellen können, dass sie ein Schwert mit einer solchen Geschichte getragen hätten.104 Es wäre denkbar, dass die Neusemantisierung des Schwertes mit seiner veränderten äußeren Erscheinung einhergeht. Hier bieten sich zwei Alternativen. Bleibt man im bisher gesteckten Rahmen, könnte man annehmen, das Schwert habe durch die äußere Wandlung von Walrosszahn zu Gold auch seinen inneren Charakter verändert. Wie der Akt des Schenkens oder Stehlens könnte auch der Akt der handwerklichen Bearbeitung zu einer dauerhaften Veränderung des dinglichen Wesens. Verlässt man die Gesetzmäßigkeiten der Handlungsebene, wäre es auch denkbar, dass der Erzähler dieses Objekt nun auf der Erzählebene anderen Zwecken widmet. Hier sieht die Forschung zwei mögliche Deutungen. Conroy und Langen interpretieren Fótbítrs Veränderung als subtil-negative Charakterisierung Bollis, als Kritik an seiner Prunksucht und mangelnder Einsicht.105 Paul Schach dagegen deutet die Charakterisierung Bollis am Ende er Saga als erzählerisch notwendiges Finale der Saga: Die detaillierte Beschreibung seiner Äußerlichkeiten erinnere nicht nur an Óláfr und Kjartan, sondern führe verschiedene Stationen der Saga vor Auge. Bollis ausführliche Beschreibung am Ende der Saga findet im Zusammenhang mit seinem Besuch bei seiner Mutter Guðrún statt, die inzwischen als gealterte Nonne zurückgezogen lebt.

102 Heller 1960, S. 119 macht Fótbítr über die Verzierung mit Walrosszahn als literarische Nachbildung des Schwertes Leggbítr des Magnus berfœttr in der Morkinskinna aus. Siehe zu dieser Entlehnung ausführlich Heller 1976, S. 74–78. Fótbítr als reines Schmuckstück auch bei Heller 1976, S. 133. 103 Lax 77, S. 225; »Sein Knauf war mit Gold geschmückt.« Mit Gold verzierte Schwerter sieht Heller 1960, S. 119 als wiederkehrendes Element in der Laxdœla saga, auch Óláfrs Schwert wird so beschrieben. 104 Vgl. Conroy u. Langen 1988, S. 135. Diese Vermutung lässt sich durch eine Parallele stützen, die Kjartans Umgang mit dem Schwert Konungsnautr betrifft: Kjartan will sein Schwert schon deshalb nicht mehr tragen, weil es ihm einmal im Zusammenhang mit dem Zwist mit Bollis Familie gestohlen wurde. 105 Vgl. Conroy u. Langen 1988, S. 135. Sie gehen so weit, das Schwert als Symbol für die verfallene Gesellschaft zu sehen: »every inch of gilt on Fótbítr condemns Bolli and by extension the society that admires him.« Insgesamt sei Bollis Darstellung wesentlich mehr auf seine äußere Erscheinung und auf seinen verschwenderischen Umgang mit Geld reduziert, als dies bei Kjartan und Óláfr der Fall war: »Bolli seems to live for nothing but to give parties. He is outstanding not for his character – not even for his swimming ability – but for the way he spends money.«



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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The magnificent figure of the youthful riddari contrasts strikingly with that of the infirm old nun. Bolli asks his mother which man she had loved the most. […] By having Bolli persuade his mother to recall and to recount former experiences, the author induces his audience to think back over the past. […] One more detail in his description must be mentioned, for it evokes sad memories and adds to the poignancy of the tableau. Bolli is girt with Fótbítr, the cursed sword with which Bolli Þorleiksson slew Kjartan, with which he defended himself in his last stand, and with which his son Bolli the Magnificent avenged his slaying. Both Guðrún and the reader have this sword before them as she recalls and recounts events from her stormy past.106

Diese aus Schachs Untersuchung zu Techniken der Figurenzeichnung in den Isländersagas hervorgegangene Interpretation kann viele Details aus Bollis prächtiger Gewandung mit vergangenen Ereignissen in der Erzählung in Verbindung bringen und bietet auch für Fótbítrs Erwähnung am Ende der Saga eine schlüssige Interpretation an. Sie überzeugt umso mehr, als die Laxdœla saga mit ihren vielen Vorausdeutungen und Träumen einzelne Episoden außergewöhnlich stark miteinander in Verbindung setzt. Dinge werden hier nicht nur mehrfach zur Kohärenzstiftung eingesetzt, sie dienen als Kristallisationspunkte der Handlungsstränge. Das besondere Ding am Ende dieser von Prolepsen durchzogenen Saga als Mittel zur Analepse einsetzen, wäre ein kunstvoller Erzählkniff. Fótbítrs letzter Auftritt sollte in diesem Zusammenhang gesehen werden, anstelle einer unvermittelten und subtilen Gesellschaftskritik, wie von Conroy und Langen vorgeschlagen. 4.2.1.2 Das Schwert Konungsnautr Bei Kjartans Schwert Konungsnautr handelt es sich zunächst um ein Königsgeschenk, das er während seines Aufenthalts am norwegischen Hof erhält. Solche glückbringenden Geschenke werden in den Isländersagas häufiger thematisiert, was für eine den Texten inhärente Vorstellung spricht, nach der etwas vom Glück des Königs auf den von ihm verschenkten Gegenstand übergeht.107 Zudem sind diese Kostbarkeiten als Symbole zu werten, die den Träger beispielsweise als Gefolgsmann des Königs ausweisen oder als gegenständlicher Beweis der Freundschaft zu einem Herrscher seinen Status erhöhen. Bei der Übergabe des Schwertes spricht der König: ›[L]áttu þér vápn þetta fylgjusamt vera, því at ek vænti þess, at þú verðir eigi vápnbitinn maðr, ef þú berr

106 Schach 1978, S. 259. 107 Ohne in die Fachdiskussion zum ›Königsheil‹ oder gar ›Sakralkönigtum‹ einsteigen zu wollen (vgl. einführend und mit Literaturhinweisen Erkens 2005, speziell zur skandinavischen Ausprägung Sundqvist 2005, ebenfalls mit weiterführender Literatur), sei hier festgehalten, dass die Isländersagas immer wieder eine Vorstellung von einem Herrscherglück beinhalten, mit dem Geschenke des Königs in Verbindung stehen können. Dieses Königsglück kann auch direkt auf einen anderen Menschen übergehen. Am deutlichsten wird diese Hoffnung im Hreiðars þáttr heimska durch Þórðr verbalisiert, der hofft, die gæfa (»Glück«) des Königs könne auf seinen glücklosen Bruder abfärben: ›Þótti mér ok glíkligt, at hann mundi gæfu af yðr hljóta, ef hann kœmi á yðvarn fund.‹ (Hreið, S. 250; »›Es schien mir auch wahrscheinlich, dass er gæfa von Euch erhalten würde, wenn er an Euren Hof käme‹«).

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 4 Erzählen vom Diebstahl

þetta sverð‹.108 Dieses Schwert soll Kjartan also stets bei sich tragen, da es ihn zum eigi vápnbitinn maðr macht; solange er dieses Schwert trägt, wird er unverwundbar sein. Das Schwert wird nicht detailliert beschrieben, es heißt nur formelhaft, es handle sich um inn virðuligsti gripr.109 Als er und seine Frau Hrefna zum ersten Mal bei Bolli und Guðrún zu Besuch sind, hat Kjartan sich mit diesem Schwert gegürtet. Bolli versucht zunächst, seinen Ziehbruder zu versöhnen. Er bietet ihm wertvolle Zuchtpferde als Geschenk an, die Kjartan aber ablehnt. Diese abgelehnte Gabe deutet den Zusammenhang von Gabe und Diebstahl bereits an, bevor zwei Geschenke gestohlen werden (Lax 45). Kjartan ist während des Aufenthalts sehr beschäftigt, weshalb er das Schwert Konungsnautr nicht immer bei sich hat, en þó var hann sjaldan vanr at láta þat hendi firr ganga.110 Als er zu Bett geht, bemerkt er, dass das Schwert verschwunden ist und zeigt dies umgehend bei seinem Vater Óláfr an. Dieser antwortet, man solle sem hljóðast111 verfahren – er werde jeder Gruppe, die den Hof verlässt, Spione mit auf den Weg geben. Án inn hvíti begleitet deshalb eine Gruppe, zu der Guðrúns Bruder Þórólfr gehört, und beobachtet, wie dieser in einem Gebüsch verschwindet. Dort kann Án das Schwert wiederfinden, die Scheide bleibt aber verschwunden. Als Kjartan das Schwert zurückbekommt, legt er es in eine Truhe, und es heißt: Kjartan hafði jafnan minni mætur á sverðinu síðan en áðr.112 Kjartan möchte die Sache weiterverfolgen, wird aber erneut von Óláfr beschwichtigt: Man solle nicht riskieren, dass über sie gelacht werde, weil sie wegen eines solchen Vorfalls Streit unter Verwandten heraufbeschwören.113 Nachdem auch noch das wertvolle Kopftuch seiner Frau während des Besuchs verschwindet,114 eskaliert die Situation zwischen den beiden Familien, obwohl Óláfr alles daran setzt, dies zu verhindern. Offenbar sind die Diebstähle eine solche Kränkung für Kjartans Ehrgefühl, dass er diese nicht mehr auf sich beruhen lassen kann, und er zum Gegenschlag gegen Guðrúns Familie ansetzt.115 Er sperrt die Hofbewohner mehrere Tage lang ein, sodass sie ihre Notdurft im Haus 108 Lax 43, S. 132; »›Lass diese Waffe stets bei dir sein, denn ich nehme an, dass du ein unverwundbarer Mann sein wirst, wenn du dieses Schwert trägst.‹« 109 Lax 43, S. 132; »die prächtigste Kostbarkeit«. 110 Lax 46, S. 140; »auch wenn er selten pflegte, es aus den Händen zu geben.« 111 Lax 46, S. 140; »so heimlich wie möglich«. 112 Lax 46, S. 142; »Kjartan schätzte das Schwert von nun an weniger als früher.« 113 Diese Szene läuft in den beiden Gruppen der handschriftlichen Überlieferung, Y und Z, unterschiedlich ab. In den Handschriften der Z-Gruppe rät Óláfr, kyrrt zu verfahren und die Gäste in Augenschein zu nehmen. Sie bemerken das Fehlen dreier Männer, Þórólfr Ósvifrssons und zweier Söhne der Þórhalla. Óláfr lässt ihnen nachreiten, wozu er Beinir inn sterki und fünf Männer auswählt. Diese entdecken Spuren im Schnee und können so Þórólfr und seine Männer finden. Die Diebe wenden sich in den Wald und müssen im sumpfigen Terrain von den Pferden absteigen, können aber schließlich zu Fuß entkommen. Beinir findet das gestohlene Schwert in einem Moor und bringt es Kjartan zurück (Lax 46, S. 140–142). 114 Vgl. Kap. 5.3.4. 115 Vgl. Frölich 2000, S. 64.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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verrichten müssen. Die Diebstähle und diese Tat sind die letzten gewaltfreien Provokationen beider Seiten, bevor es zum bewaffneten Kampf kommt. Kjartans Schwert Konungsnautr wird danach nur noch negiert erwähnt. Als Bolli und Kjartan final aufeinandertreffen, hat Kjartan ein schlechtes Schwert bei sich, ok hafði eigi konungsnaut.116 Somit bewahrheitet sich auch der Spruch, mit dem dieses Schwert erworben wurde: Da Kjartan es nicht trägt, ist er verwundbar und verliert in dieser Episode sein Leben.117 Katona geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter: The sword possesses a hidden power and the good luck and success of the king will prevent unfortunate happenings. Thus, it is regarded as a token of magical protection in addition to the more obvious symbolic prestige and sign status.118

Mit Konungsnautr tritt neben Fótbítr ein weiteres Schwert in Erscheinung, das seinem Besitzer gestohlen wird, obwohl dieser es nahezu immer trägt. Außer dem Diebstahl teilen die Schwerter Vorhersagen, die sich direkt ergänzen, und einander im Höhepunkt der Saga treffen: »Beide Diebstähle haben Unglück im Gefolge, ja sie führen letzten Endes zu demselben tragischen Ereignis, der Tötung Kjartans durch Bolli.«119 Obwohl Kjartan Konungsnautr zunächst kaum je aus der Hand legt, ist ihm das Schwert nach der Wiedererlangung nicht mehr so kostbar wie zuvor.120 Es scheint, als hätte der Diebstahl es besudelt, sodass es sich für Kjartan verändert hat.121 Die Semantik des Schwertes wandelt sich an dieser Stelle vom segensreichen Symbol der Freundschaft zum norwegischen Herrscher zum Symbol der Feindschaft mit dem einstigen Ziehbruder.122 Auf der Erzählebene hat in beiden Fällen eine Neusemantisierung eines Schwertes stattgefunden. Anders als seine Schwester bei Fótbítr, scheint sich die Figur Kjartan der Veränderung des Schwertes auf der Handlungsebene bewusst zu sein.123 116 Lax 49, S. 153; »und er hatte Konungsnautr nicht bei sich.« 117 Das Motiv des fehlenden Glücksschwertes findet sich auch in der Bjarnar saga Hítdœlakappa: Bjǫrn tauscht sein kostbares Schwert Mæring mit seinem Verwandten Þorfinn gegen desssen unscheinbares Schwert (BjH 30). Als Bjǫrn und sein Kontrahent Þórðr zum Zweikampf aufeinandertreffen, wird mehrfach betont, Bjǫrn trage Mæring nicht bei sich. Þorfinns Schwert taugt nicht, somit muss Bjǫrn mit einer Schere kämpfen und verliert sein Leben (BjH 32). 118 Katona 2014, S. 31. 119 Heller 1960, S. 141. 120 Vgl. Heller 1960, S. 130. 121 Vgl. auch Grünzweig 2009, S. 418–419, der hierzu anmerkt, dass Schwert und Scheide als eine zusammengehörende Einheit verstanden wurden, wodurch das Schwert Konungsnautr durch den Verlust der Scheide erheblich an Wert eingebüßt hätte. 122 Zu siegbringenden Schwertern in der altnordischen Literatur siehe Grünzweig 2009, S. 409–420, insb. S. 420. 123 Dies ist nicht immer der Fall: Víga-Glúmr erhält beispielsweise ähnliche glückbringende Geschenke von seinem Großvater Vígfúss, die ihn zunächst ebenso schützen wie Kjartans Konungsnautr. Glúmr gibt die Gegenstände jedoch leichtfertig von sich und wird so verwundbar (vgl. insb. VíGl 6, S. 19 sowie VíGl 25, S. 87).

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Dass Kjartan das Schwert des Königs nicht mehr tragen will, das er mit der Vorhersage erhalten hat, er werde unverletzbar sein, solange er es trägt, fungiert als Vorausdeutung auf seinen nahenden Tod.124 Die Besitzer der beiden gestohlenen Schwerter stehen einander inzwischen als Kontrahenten gegenüber, was durch Konungsnautr und Fótbítr markiert wird.125 Der Einsatz des Motives des guten Schwertes, das im entscheidenden Moment nicht zur Hand ist, ist laut Heller aber »kein glücklicher Wurf« des Verfassers.126 Kjartan wirft sein Schwert von sich, als Bolli vor ihm steht, weshalb es in dieser Szene keine Rolle spiele, welches Schwert er trage.127 Dies hebe »in gewisser Weise die Bedeutung der ahnungsvollen Worte König Olafs auf; die Schwerter-Szenen erscheinen kompositorisch nicht ausgeglichen.«128 Tatsächlich erschiene es erzähltechnisch zunächst naheliegender, Fótbítr und Konungsnautr mit den an ihnen haftenden Vorhersagen im entscheidenden Kampf aufeinandertreffen zu lassen, sodass Kjartan bewusst sein Glücksschwert von sich werfen könnte, um sich von Bolli mit dem unheilbringenden Fótbítr töten zu lassen. Betrachtet man aber nicht diese Episode als Höhepunkt der beiden Erzählstränge, sondern die Momente ihres Diebstahls, ist Konungsnautrs Geschichte keinesfalls schlechter durchdacht als die Fótbítrs. Durch den ersten Diebstahl wird Fótbítr zur Unglückswaffe für Kjartans Familie. Als dieser mit Konungsnautr ein Schwert erhält, das dem seines Ziehbruders ebenbürtig sein könnte, eröffnet sich eine alternative Möglichkeit in der Erzählung, durch die die Figuren ihrem bisher angelegten Schicksal entgehen könnten.129 Der zweite Diebstahl führt zum Ausschluss dieser Möglichkeit, das Glücksschwert verliert durch ihn seine Kraft. Die ahnungsvollen Worte des Königs werden somit nicht erst aufgehoben, als Kjartan sich entschließt, Bolli unbewaffnet zu begegnen, sondern bereits durch den Diebstahl des Schwertes. Der Diebstahl als umgekehrte Gabe negiert das durch das Geschenk gestiftete Glück – er kehrt den Transfer des Gegenstands ebenso um wie dessen Semantisierung. Als es über

124 Vgl. Frölich 2000, S. 62. Frölich stellt ebenfalls fest, dass das heilbringende »Schwert des Königs zu einem ebensolchen vorverweisenden Schicksalssymbol wie der unheilvolle Fótbítr wird« (S. 62), und dies sowohl »der inneren und äußeren Strukturierung der Erzählung als auch der Spannungserzeugung« dient. 125 Als weitere Parallele zwischen beiden Diebstählen schlägt Heide 2001, S. 91–92 vor, dass es sich bei beiden Diebstählen um Schwerter (und damit Phallussymbole) handelt, die Männern von Frauen gestohlen werden. Somit werde Kjartan ebenso seiner Männlichkeit beraubt, wie zuvor Geirmundr. Zum Geschlecht der Stehlenden vgl. Kap. 5.3. 126 Heller 1976, S. 99. 127 Auch Dronke 1989, S. 213, bemerkt, dass jedes Schwert in dieser Situation in der Lage gewesen wäre, Kjartan zu töten, da dieser unbewaffnet sei. Sie fügt aber an, dass Fótbítrs Rolle trotzdem bedeutsam sei: »[B]ut the fact that it was Geirmundrʼs sword in retrospect makes every move in the story of the swordʼs acquisition bitterly significant.« 128 Heller 1976, S. 99. 129 Vgl. Madelung 1972, S. 15 sowie S. 20.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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Kjartan heißt, er wolle Konungsnautr nicht mehr tragen, ist damit sein Schicksal aus kompositorischer Sicht besiegelt. Im Gegenteil handelt es sich bei der Gegenüberstellung des fehlenden Konungsnautrs und Fótbítrs also insgesamt um einen außerordentlich ›glücklichen Wurf‹ des Erzählers, wenngleich er diesen nicht in der WurfSzene Kjartans ansiedelt, sondern im Akt des Beiseitelegens. Die kunstvolle Etablierung der beiden Schwerter verstärkt zum einen die innere Kohärenz der Erzählung, und führt zum anderen dazu, dass durch die Nennung der Gegenstände vielschichtige Emotionen und Motivierungen aufgerufen werden, ohne den meist deskriptiven Erzählstil der Isländersagas verlassen zu müssen. Als es heißt, Kjartan hafði eigi konungsnaut, ist durch diese kurze Nennung des Gegenstandes die Kausalkette präsent, die zum Tod des Helden führt:130 Seine Auslandsfahrt, sein Status am Königshof, das Zerwürfnis mit seinem Ziehbruder, der Diebstahl des Schwertes durch Guðrúns Bruder und die Prophezeiung des Königs. Sogar die innere Einstellung des Protagonisten wird greifbar: Er hat sich seinem Schicksal bereits ergeben, als er Konungsnautr wegsperrte und sein Glücksschwert aufgab. 4.2.1.3 Das Schwert Skǫfnungr Das dritte bedeutsame Schwert der Saga, das einen Namen trägt und eine verhängnisvolle Geschichte hat, ist Skǫfnungr. Þorkell Eyjólfsson, Freund des mächtigen Goden Snorri, möchte am gesetzlosen Grímr einen Totschlag rächen und leiht sich zu diesem Zweck das Schwert Skǫfnungr von Eiðr, dem Vater des Getöteten. Eiðr klärt Þorkell über die Natur des Schwertes auf: Die Sonne solle nicht auf den Knauf scheinen, man solle es nicht ziehen, wenn Frauen anwesend seien, und außerdem schlage es Wunden, die nur ein spezieller Stein heilen könne, der zum Schwert gehöre (Lax 57). Als Þorkell Grímr angreifen möchte, wird er von diesem überwältigt, noch ehe er das Schwert ziehen kann. Grímr schenkt Þorkell das Leben, der daraufhin zum Goden Snorri geht, und den Rat erhält, um Guðrún zu werben. Das Schwert Skǫfnungr gibt er Eiðr nicht zurück, was aber nie angesprochen wird. Bereits mit Guðrún verheiratet, unternimmt Þorkell eine Schifffahrt, das Schwert Skǫfnungr liegt dabei auf dem Schiff in einer Kiste. Als sie zur Bjarnarey kommen, fährt ein Windstoß in das Segel und bringt das Schiff zum Kentern, sodass Þorkell ertrinkt, und Skǫfnungr var festr við innviðuna í ferjunni; hann hittisk við Skǫfnungsey.131 Offenbar geht das Schwert darauf in den Besitz seines Sohnes Gellir über, mit dessen Lebensbericht die Saga endet. Es heißt, er habe das Schwert mit sich ins Grab genommen. Bei seiner letzten

130 Der Begriff ›Held‹ wird im Folgenden nach seinem modernen, allgemeinsprachlichen Gebrauch verwendet, im Sinn eines positiv besetzten Protagonisten. Zur begrifflichen Problematik in der Mediävistik und dem ›Held‹ der Heldensage siehe zusammenfassend Deichl 2018, S. 20–31. 131 Lax 76, S.  222; »Skǫfnungr war in den Schiffsrippen der Fähre eingeschlossen; es wurde auf Skǫfnungsey gefunden.«

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Erwähnung erfährt man endlich, wieso es sich bei Skǫfnungr um ein so besonderes Schwert handelt, en hann hafði verit tekinn ór haugi Hrólfs kraka.132 Bei dem hier angedeuteten Diebstahl handelt es sich um einen Grabraub, der naturgemäß keinen Bestohlenen kennt, der in der Lage wäre, eine Klage anzustreben.133 Dass Þorkell das Schwert nie an Eiðr zurückgibt, wird in der Saga nicht kommentiert, auch wenn an der Rechtmäßigkeit dieser Aneignung gezweifelt werden könnte. Interessant ist dagegen die Funktionalisierung des Grabraubes, da sie eine Erklärung nachliefert, wie das berühmte Schwert des Vorzeitkönigs Hrólfr kraki in den Besitz eines sagazeitlichen Isländers gelangen konnte. Das Schwert wird auch in anderen Sagas erwähnt, die ebenfalls vom Grabraub wissen.134 So wie es aus einem Grab genommen wurde, nimmt es der letzte Besitzer in der Laxdœla saga auch wieder mit sich ins Grab.135 Insgesamt ist die Information, dass Skǫfnungr aus dem Grabhügel Hrólfr krakis genommen wurde, innerhalb der Laxdœla saga vor allem deshalb interessant, weil damit ein drittes bemerkenswertes Schwert in die Saga tritt, zu dessen Geschichte ein Diebstahl gehört. Was Eigentumsdelikte betrifft, beschränkt sich Skǫfnungrs Funktion in der Laxdœla saga darauf, die Trias gestohlener Schwerter im Sinne Hellers zu vervollständigen. Betrachtet man das Schwert dagegen als Ding, ist es mindestens so interessant wie die anderen hier besprochenen Schwerter. Im Gegensatz zu Fótbítr und Konungsnautr ist Skǫfnungr ein an sich magisches Schwert. Seine ›eigene Bestimmtheit‹ und Handlungsmacht werden ihm nicht erst innerhalb der Laxdœla saga eingeschrieben, sie sind von vornherein vorhanden  – und dem Sagapublikum bereits aus anderen Erzählungen vertraut. Seine Eigenschaften sind seinem Besitzer bekannt, der es nur mit einer ›Gebrauchsanweisung‹ verleiht.136 Trotz seiner in der Erzählung unbestrittenen Macht, kann es Þorkell nicht retten. Ob Þorkell sterben muss, weil er das magische Schwert nicht zurückgeben wollte, und deshalb vom Schwert in die Tiefe gerissen wird, wird weder erzählt, noch angedeutet. Immerhin kann sein Sohn Gellir das Schwert ein Leben lang besitzen, und schließlich mit in sein Grab nehmen. Dass das Schwert zu seinem ursprünglichen Besitzer hätte zurückkehren wollen, lässt sich deshalb ausschließen. 132 Lax 78, S. 229; »denn es war aus dem Grabhügel von Hrólfr kraki genommen worden.« 133 Zum Grabraub siehe Kap. 4.2.3. 134 Zu Skǫfnungr in anderen literarischen Werken siehe Heller 1976, S.  79–82, Bensberg 2000, S. 60–61 sowie Grünzweig 2009, S. 411–413. 135 Dies deutet Bensberg 2000, S. 61 als Zeichen dafür, dass die »Rache- und Tötungsmechanismen, die für die Leute aus dem Lachswassertal so verhängnisvolle Folgen zeigten, etwas von ihrer unheilvollen Wirkung eingebüßt haben.« 136 Die besonderen Regeln, die mit einem siegbringenden Schwert wie Skǫfnungr verbunden sind, bespricht auch Grünzweig 2014, S. 188–189, ohne jedoch zwischen unterschiedlichen Gattungen der altnordischen Literatur zu differenzieren. Aus seinem Überblick lässt sich extrahieren, dass insbesondere die Schwerter der Vorzeitsagas mit bestimmten Handlungsanweisungen verknüpft sind, die respektvoll beachtet werden müssen.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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Etwas ausführlicher wird die Geschichte des Schwertes in der Þórðar saga hreðu erzählt: Skeggi […] braut hauginn ok tók á braut sverðit Hrólfs konungs, Sköfnung, er bezt sverð hefir komit til Íslands.137 Die Eigenheit des Schwertes, das hier noch Eiðrs Vater, Miðfjarðar-Skeggi, trägt, wird hier wesentlich ausführlicher erklärt, es heißt beispielsweise: ›Þat er náttúra sverðsins, at nökkut verðr at höggva með því, hvern tíma er brugðit er.‹138 Elisabeth Ward deutet diese náttúra als »agentive strength«139 des Schwertes; dem Schwert wohne ein eigener Wille und eine eigene Handlungsmacht inne. Dass Skeggi diese als quasi-menschlich versteht, wird deutlich, als er nach einem missglückten Tötungsversuch einen anderen Mann tötet und erklärt: ›[L]aunaða ek nú Sköfnungi þat, at honum var brugðit‹.140 Er schuldete seinem Schwert den Tod eines Mannes – eine solche Verpflichtung zum Töten bringt ansonsten nur das Gebot zur Blutrache hervor, welches Figuren untereinander verbinden kann. Insgesamt wird Skǫfnungr aber auch hier weniger instrumentalisiert, als ein so mächtiges Schwert vermuten ließe. Es tritt später einem Königsschwert entgegen, das Glück bringen soll und mit ähnlichen Worten an den Protagonisten Þórðr übergeben wird, wie Konungsnautr an Kjartan in der Laxdœla saga: ›Hér er eitt sax, er ek vil gefa þér ok eg hygg, at gipta muni fylgja; þar með skal fylgja vinátta mín. […] Þess bið ek, at þú gefir engum manni eða lógir, nema þú eigir höfuð þitt at leysa; er ok eigi ólíkligt, at þess munir þú ok við þurfa.‹141

Im Gegensatz zu Kjartan gibt Þórðr das Glücksschwert des Königs willentlich aus den Händen, indem er es seinem Ziehsohn Eiðr überlässt. Und tatsächlich knüpft dieses Geschenk ein Band zu Eiðr, das Þórðr später das Leben retten wird: Eiðr stellt sich in den Konflikten zwischen seinem Ziehvater und seinem Vater mehrfach auf Þórðrs Seite und macht es seinem Vater damit unmöglich, mit ganzer Härte gegen Þórðr vorzugehen. Dieses zweifach geschenkte Schwert lässt Þórðr über den Träger des tatsächlich magischen Schwertes triumphieren. Das Motiv des Glücksschwertes in der Þórðar saga hreðu erinnert ebenso an die Laxdœla saga, wie einige andere Motive und Figurenkonstellationen, wie beispielsweise die Liebe zweier Brüder zur selben Frau und das Versprechen, drei Jahre auf den

137 Þórð 2, S.  169; »Skeggi brach den Hügel auf und nahm sich das Schwert von König Hrólfr, Skǫfnungr, das beste Schwert, das je nach Island kam.« 138 Þórð 12, S. 169; »›Es liegt in der Natur des Schwertes, dass jemand damit getötet werden muss, wann immer es gezogen wird.‹« 139 Ward 2012, S. 42. 140 Þórð 10, S. 214; »›Nun habe ich Skǫfnungr dafür entlohnt, es gezogen zu haben.‹« Ausführlicher zur Handlungsmacht der beiden Schwerter in der Þórðar saga hreðu vgl. Ward 2012, S. 42–43. 141 Þórð 1, S. 165; »›Hier ist ein Kurzschwert, das ich dir geben möchte, und ich glaube, dass Glück (gipta) ihm folgen wird; ihm folgt auch meine Freundschaft. […] Ich bitte darum, dass du es keinem anderen Mann gibst oder leihst, außer dein Leben hängt davon ab; es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass du dazu gezwungen sein wirst.‹«

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 4 Erzählen vom Diebstahl

ersten der beiden zu warten, welches der zweite zu unterwandern versucht. Wie in der Laxdœla saga wird auch hier dem vom König geschenkten Schwert mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht als dem Schwert des Vorzeithelden. Es scheint, als gelte das Interesse der Isländersagas eher den Folgen menschlicher Flüche und königlicher Geschenke, als einem tatsächlich magischen Gegenstand wie Skǫfnungr.142

4.2.2 Umgeschmiedetes Unglück: Grásiða in der Gísla saga Heller machte in seinem Aufsatz zu Parallelen zwischen der Laxdœla saga und der Gísla saga Súrssonar darauf aufmerksam, dass das Schwert Fótbítr in seiner Funktion dem (später zu einem Spieß umgeschmiedeten) Schwert Grásiða der Gísla saga ­Súrssonar nachempfunden sein könnte.143 Wie in der Laxdœla saga werden in der Saga von Gísli Súrsson Parallelismen und Motivwiederholungen eingesetzt, die eine starke Textkohärenz herstellen, und damit wesentlich zur Erzählkunst der Saga beitragen. Die Gísla saga ist in drei Redaktionen überliefert, die man allgemein als ›kürzere‹, ›längere‹ und ›fragmentarische‹ Fassung bezeichnet. Die Episode um den Erwerb des unheilbringenden Schwertes unterscheidet sich in den Fassungen der Saga in einigen Details voneinander, läuft aber im Wesentlichen ähnlich ab.144 Der eigentlichen Haupthandlung der Saga ist ein Erzählabschnitt vorangestellt, der die vorhergehende Generation in Norwegen betrifft. Dieses »Norwegian Prelude«145 dient dazu, das verfluchte Schwert in die Erzählung zu bringen,146 und Themen und Motive für die Handlung auf Island zu etablieren.147 Der Onkel des Protagonisten Gísli Súrsson, Gísli Þorkellsson, stellt sich einem Berserker bei einem Holmgang entgegen, um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen. Zu diesem Zweck leiht er sich das Schwert Grásiða von einem Knecht namens Kolr. Das Schwert besitzt besondere

142 Madelung 1972, S. 216 (Fn. 14) schreibt allen dreien Schwertern »supernatural powers« zu, was für Skǫfnungr sicher zutrifft, für Fótbítr und Konungsnaut aber übertrieben erscheint. Bei ihnen handelt es sich zwar um herausragende, erzählerisch wirkmächtige Schwerter, die aber nicht mit der magischen Kraft Skǫfnungrs gleichzusetzen sind. 143 Heller 1966. Als weitere Parallelen beschreibt Heller unter anderem den Einsatz der Prophezeiungen Gestrs und das kostbare Kopftuch als Requisit. 144 Vgl. Heller 1966, S. 182. Die genauen Unterschiede der Episode in den verschiedenen Fassungen bespricht Lethbridge 2006, offenbar in Unkenntnis des bereits von Röhn 1979 angestellten Vergleiches. Allgemein zur Überlieferung, Datierung und Erzählkunst der Gísla saga siehe Heizmann 2016, S. 105–116. 145 Holtsmark 1951, S. 4. 146 Röhn 1979, S. 103 sieht Grásiða sogar »als die eigentliche ›Hauptperson‹ im Mittelpunkt der Handlung.« 147 Zu dieser Funktion der einleitenden Sagakapitel siehe speziell Kap. 7.4. Die Exposition der Gísla saga wurde häufig besprochen, vgl. Lethbridge 2006, S. 567; Röhn 1979, S. 103; Holtsmark 1951, S. 10 sowie Heller 1966, S. 182.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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Kräfte. In der kürzeren Version der Saga berichtet Gíslis Schwägerin: ›[Þ]at fylgir því sverði, at sá skal sigr hafa, er þat hefir til orrostu‹.148 In der längeren Fassung fällt es Kolr selbst zu, die Waffe zu beschreiben: ›[S]verðit mun bíta þat, sem því er til hǫggvit, hvárt sem er járn eða annat; má þat ok ekki deyfa, því at þat er dvergasmíði, […].‹149 Entsprechend zögerlich gibt Kolr die Waffe aus der Hand. In der längeren Fassung der Gísla saga ist die Episode ausführlicher erzählt, was den ganzen Vorgang deutlicher markiert. Hier warnt Kolr bereits bei der Aushändigung des Schwertes, er werde es sich nicht gefallen lassen, wenn er es nicht zurückbekäme.150 Gísli gewinnt den Kampf und ist so begeistert von seiner neuen Waffe, dass er das Schwert nicht mehr zurückgeben möchte. Er bietet Kolr verschiedene Güter im Austausch an, dieser möchte Grásiða aber um keinen Preis verkaufen. Es kommt zu einem Kampf, in dem beide ihr Leben verlieren. Vor seinem Tod prophezeit Kolr: ›[O]k mun þó endir einn leystr vera um þá ógiptu, er yðr frændum mun þar af standa.‹151 Insbesondere die längere Version der Saga zeigt Gísli in einem negativen Licht, da dieser unter keinen Umständen auf die Wünsche Kolrs eingehen möchte. Er will das Schwert behalten, was auch immer es koste. Emily Lethbridge schreibt dies der Natur des Schwertes zu: »[T]he fuller detail in the longer version provides a more explicit illustration of the baleful and corrupting influence that the sword is capable of exerting over an otherwise heroic character.«152 Wie bei Fótbítr handelt es sich bei Grásiða um ein Schwert, dessen unrechtmäßige Aneignung Unglück nach sich zieht. In der längeren Fassung ist dies deutlich durch den Fluch markiert, aber auch in der kürzeren Fassung ist die negative ›Bestimmtheit‹ des Gegenstandes deutlich hervorgehoben: Even without the curse attached to it, the fateful role and forceful symbolism of the weapon is not ambiguous in the shorter version – a weapon that causes such discord and the violent death of two men in such a way must embody bad luck, and it carries its history with it when it reappears later in the narrative.153

Anne Holtsmark analysiert die Elemente der ›Biographie‹ Grásiðas und kommt zu dem Schluss, es handle sich um »stock motives from folk-tales, medieval epic, and

148 Gís 1, S. 5; »›Mit diesem Schwert ist es so, dass derjenige im Kampf siegen wird, der es trägt.‹« 149 Gís 2, S. 9; »›Das Schwert wird alles beißen, das es trifft, egal ob es aus Eisen oder etwas anderem ist. Es wird auch nicht stumpf werden, denn es ist zwergengeschmiedet.‹« Vgl. auch Lethbridge 2006, S. 567. 150 ›[M]ér mun illa hugnask, ef ek nái eigi þá sverðinu, er ek vil við taka.‹ (Gís 2, S. 9; »›Mir wird es mißfallen, wenn ich das Schwert nicht bekomme, wenn ich es haben will.‹«) 151 Gís 3, S. 13–14; »›Und dies wird nur der Anfang jenes Unglücks sein, das euch Verwandten hieraus entstehen wird.‹« 152 Lethbridge 2006, S. 570. 153 Lethbridge 2006, S. 571.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

romance«,154 die der Verfasser allerdings kunstvoll in das Setting der Saga einzufügen vermöge.155 Das zerbrochene Schwert verschwindet zunächst aus dem Fokus der Erzählung. Inzwischen ist die nächste Generation der Familie nach Island ausgewandert und die Haupthandlung der Saga in vollem Gange: Gísli Súrrson und seine Geschwister schließen auf Island prestigeträchtige Ehen. Gísli heiratet Auðr und knüpft eine enge Freundschaft mit deren Bruder, Vésteinn. Sein Bruder Þorkell heiratet eine Frau namens Ásgerðr, und Gíslis Schwester Þórdís wird die Frau des angesehenen Goden Þorgrímr. Die vier derart verschwägerten Männer (Gísli, Vésteinn, Þorkell und Þorgrímr) möchten ihre Verbindung weiter stärken und eine Schwurbrüderschaft eingehen. Das Scheitern dieses Vorhabens führt zu ersten Verstimmungen und lässt Gísli ahnen, dass es das Schicksal nicht gut mit ihnen meint. Eines Tages belauscht Þorkell ein Gespräch zwischen Auðr und Ásgerðr. Während Auðr ein Verhältnis mit Þorgrímr eingesteht, das allerdings nur vor ihrer Ehe mit Gísli bestanden habe, hört Þorkell seine eigene Frau Ásgerðr sagen, dass sie noch immer für Vésteinn schwärme (Gís 9). Im unmittelbar folgenden Kapitel bittet Þorkell seinen Bruder Gísli darum, den Besitz aufzuteilen und zieht zu seinem Schwager Þorgrímr. Nun taucht Grásiða erneut auf. Þorkell Súrsson ist zusammen mit seinem Schwager Þorgrímr beim zauberkundigen Schmied Þorgrímr nef zu Gast, als sie sich alle drei in der Schmiede einschließen. Dieser Vorgang wird doppelt als heimlich markiert, indem sowohl auf die unsichere Kenntnis des Erzählers als auch auf das Verschließen einer Türe hingewiesen wird: [O]k er þess við getit, at þeir ganga til smiðju, […] ok síðan byrgja þeir smiðjuna.156 Erst jetzt wird erwähnt, dass Þorkell Súrsson die Bruchstücke Grásiðas bei der Aufteilung des Besitzes erhalten hatte. Sie schmieden die Schwertteile in einen verzierten Speer um.157 Sowohl die konspirative Heimlichkeit als auch das Wiedererscheinen des verfluchten Schwertes zeigen deutlich an, dass die familiäre Krise bald ihr erstes Leben fordern wird. Grásiða fungiert hier als Kristallisationspunkt der bisherigen Handlung,

154 Holtsmark 1951, S. 7. So gewinnt der Held das besondere Schwert meist von einem übernatürlichen Wesen wie einem Zwerg. Der Eigentümer in der Gísla saga, der Sklave Kolr, entspricht diesem Typus strukturell; »in Icelandic literature the thralls have many of the qualities which in fairy tales belong to goblins and dwarfs; they are ugly, old, malicious, often sorcerers, often halfwitted, and as whole they inspire a singular mixture of fear and contempt« (S. 8). Insgesamt betrachtet Holtsmark den Anfang der Saga als ätiologische Erzählung über den Speer Grásiða, der zumindest in Sturla Þorðarsons Íslendinga saga als real existierende Waffe beschrieben wird, mit der 1221 in Breidaból­ staðir gekämpft wurde (vgl. Holtsmark 1951, S. 10–13). 155 Zur Technik der Camouflage fremder Einflüsse in den isländischen Sagas siehe Heizmann 1999. 156 Gís 11, S. 37; »Und es wird gesagt, dass sie zur Schmiede gehen, […] und darauf verschließen sie die Schmiede.« 157 Wie vieles andere in der Gísla saga hat die Neuschmiedung eines gebrochenen Schwertes eine Parallele in der nordischen Völsungenüberlieferung. Die Ähnlichkeiten zu Sigurðrs Schwert Grámr bespricht Kroesen 1982.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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indem die aktuelle familiäre Problematik durch die Neuschmiedung mit der norwegischen Vorgeschichte verwoben wird.158 Mit diesem Speer wird Vésteinn etwas später getötet. Die geschickte Erzähltechnik der Saga verschleiert die Identität des Mörders so meisterhaft, dass auch heutige, am modernen Krimi geschulte Rezipienten auf unterschiedliche Spuren geschickt werden.159 Es ist Gísli, der den Speer Grásiða aus der Leiche seines Freundes und Schwa­gers zieht, und ihn zunächst wegschließt. Etwas später tötet er damit Þorgrímr, den Ehemann seiner Schwester, in deren Ehebett. Das Schwert bleibt im Bett stecken und verschwindet anschließend aus der Erzählung. Widerrechtliche Aneignung, ein Fluch, Heimlichkeit und Zauber vereinen sich in der Konzeption Grásiðas zu einer Waffe, die beispielloses Unheil über die Familie bringt.160 Wie in der Laxdœla saga trägt auch hier das Schwert einen e­ ntscheidenden Teil zur Generierung der Spannung und Lenkung der Rezipientenerwartung bei, sodass Heller nur zugestimmt werden kann: Der mit einem Fluch beladenen Waffe haben die Verfasser in ihren Konzeptionen etwa die gleiche Bedeutung verliehen. Grásiða und Fótbítr sind als Unheilbringer gekennzeichnet, nachdem sie einmal widerrechtlich in die Hand der die Sagaereignisse bestimmenden Familie gekommen sind. Nicht zuletzt mit ihrer Hilfe schufen die Verfasser jene eigentümliche Stimmung, die in jedem Schritt der äußeren Handlung eine Annäherung an die Katastrophe ahnen läßt.161

Ähnlich beurteilt auch Else Mundal die Komposition der beiden Schwerter, und fügt die unglückliche Liebe als »symbolinnhaldet« (»Symbolinhalt«) zur Liste ihrer Gemeinsamkeiten hinzu.162 Im direkten Vergleich ist das Ende des verfluchten Speeres auffällig. Er bleibt im Bett der Schwester stecken, und erhält somit erneut einen stark markierten Auftritt. Nach Vésteinns Tod wird ausführlich thematisiert, dass die Rachepflicht bei jenem liegt, der den Speer aus der Leiche zieht. Man würde erwarten, dass die Verfolgung Gíslis nun ebenfalls mit jener Waffe betrieben würde, und dieser am Ende seines Lebens in der Gesetzlosigkeit schließlich durch Grásiða den Tod findet. Das Schwert Fótbítr geht nach dem Tod Bollis auf seinen Sohn über, der es völlig außerhalb des bisherigen Kontextes als Schmuckstück trägt. Die Komposition beider 158 Auch Lethbridge 2006, S. 57 betont die Funktion als Bindeglied und Unglückssymbol. 159 Den »Indizienprozess« führt zuletzt Heizmann 2016, S. 114. Der Mord an Vésteinn wurde meist Þorgrímr zugeschrieben, bis Holtsmark 1951 (S. 44–54) ausführlich den Hinweisen der Saga folgte und damit Þorkell als mindestens ebenso wahrscheinlichen Mörder in die Diskussion brachte. 160 Auch Grünzweig 2014, S. 191 sieht die widerrechtliche Aneignung als Ausgangspunkt des Unheils, konzentriert sich dabei aber auf die Parnerschaft zwischen Schwert und rechtmäßigem Eigentümer: »Unberechtigter Weise wird das Schwert aus einer bestehenden Partnerschaft heraus gezwungen, obwohl es sogar zusammen mit dem rechtmäßigen Partner ›gestorben‹ ist. Durch die erzwungene Wiedergeburt als Speer ist das partnerschaftliche ›Gleichgewicht‹ dann endgültig gestört und das angekündigte Unheil nimmt seinen Lauf.« 161 Heller 1966, S. 189. 162 Mundal 1997, S. 63.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Waffen scheint auf einen bestimmten Totschlag ausgerichtet zu sein (jenen, der Gíslis Acht bzw. Kjartans Tod zur Folge hat). Danach hat die verfluchte Waffe ihren Zweck erfüllt und verliert ihre spezielle Rolle innerhalb der Erzählung.

4.2.3 Zum Grabraub und machtvoller Beute Im Gegensatz zum Diebstahl am Lebenden, ist der Grabraub (an. haugbrot, n.) ein von der altnordistischen Forschung intensiv untersuchtes Arbeitsfeld, das viele Anknüpfungspunkte zur Archäologie, Rechtsgeschichte und Volkskunde bietet. Im Norden wurde der Grabraub rechtlich nur dann als Eigentumsdelikt betrachtet, wenn er ohne die Zustimmung des Grundeigentümers erfolgte.163 Auch ist das haugbrot schon begrifflich betrachtet kein Grabraub im Sinne des deutschen Begriffs. Zunächst bezeichnet der haugr einen bestimmten Typus von Grab, den überirdischen Hügel. Der Unterschied besteht aber vor allem im zweiten Wortglied: Raub beinhaltet eine moralische Wertung: das unrechtmäßige Entführen von fremdem Eigentum. Brot zeigt nicht unbedingt eine solche Wertung und weist zunächst nur auf die Tätigkeit des Brechens, Aufbrechens. Der heile Zustand eines unverletzten Bestattungsplatzes wird beim haugbrot gestört, ge-brochen.164

Aus diesem Grund bereitet der Grabraub einige Schwierigkeiten, wenn man mit den hier ausgeführten Konzepten von Diebstahl und Raub an die Isländersagas herantritt.165 Es handelt sich um ein häufig wiederkehrendes Motiv der Gattung, das meist 163 Vgl. Beck 1998, S. 523 sowie Beck 1978b, S. 213–215. 164 Beck 1978b, S. 212 (Hervorhebung in Original). 165 Einen besonders schwierigen Fall findet man in der Eyrbyggja saga, der aber nur entfernt mit dem Thema Diebstahl und Raub verwandt ist. Das sogenannte ›Fróðá-Wunder‹ gehört zu den komplexesten und widerständigsten Szenen der Isländersagas, zu seiner Interpretation siehe Böldl 2005, S. 124–133 (mit weiterführender Literatur). Nach der Annahme des Christentums kommt eine ältere, wohlhabende Frau namens Þórgunna an den Hof Fróðá. Die Bäuerin Þuríðr nimmt sie auf und zeigt großes Interesse an den Habseligkeiten ihres Gastes. Während ihrer Anwesenheit gibt es einen Blutregen über dem Hof, und Þórgunna erkrankt. Sie lässt den Bauern versprechen, ihre wertvollen Bettvorhänge nach ihrem Tod zu verbrennen. Die Bäuerin setzt jedoch alles daran, ihren Ehemann zum Bruch des Versprechens zu bringen und erhält so die Vorhänge. Man bringt die Leiche nach Skálhólt; während der Reise erscheint Þórgunna als nackte Wiedergängerin und bewirtet ihre Reisegefährten. Auf Fróðá kommt es zu wundersamen Erscheinungen und einem epidemieartigen Sterben, zeitgleich ertrinkt der Bauer auf einer Reise. Sämtliche Tote kommen auf Fróðá als Wiedergänger zurück, es folgen weitere mysteriöse Erscheinungen. Der Gode Snorri gibt schließlich den entscheidenden Rat, die Bettstatt wunschgemäß zu verbrennen und den Wiedergängern ein ›Türgericht‹ abzuhalten, womit die Erscheinungen ein Ende finden. Þórgunnas Bettvorhänge sind hier aber nicht an sich wirkmächtig oder magisch, vielmehr bringt das Nichterfüllen des Wunsches der Sterbenden das Unheil mit sich (vgl. Böldl 2005, S. 127). Der Umgang mit dem Eigentum eines Toten wird hier aber ebenso thematisiert wie die dem Diebstahl innewohnende Habgier. Wenig später wird tatsächlich der Begriff ›Dieb‹



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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dazu dient, dem Helden einen besonderen Gegenstand zu verleihen, den er einem wehrhaften Untoten im Inneren seines Grabhügels entreißen muss. Dieses gewalttätige Element der meisten Szenen spricht dafür, den Grabraub aufgrund des offenen Zweikampfes als rán zu verstehen. Da sich diese Episoden allerdings nachts ereignen, und meist zumindest versucht wird, die gewünschte Kostbarkeit zu entwenden, ohne den toten Eigentümer zu ›wecken‹, trägt der Vorgang ebenfalls die klandestinen Züge des Diebstahls. Hinzu kommt die Schwierigkeit der Frage nach der geschädigten Partei: Hat ein Toter die gleichen Rechte betreffend seines Eigentums, und damit seines helgi, wie ein Lebender?166 Das christliche Verständnis der Totenruhe würde ein Recht des Toten auf die Unversehrtheit seiner Ruhestätte nahelegen. Innerhalb der erzählten Welt haftet dem Grabraub aber nichts Ehrenrühriges an – bestenfalls sind es die Nachkommen und Erben des Begrabenen, die die dortigen Schätze als ihr Eigentum beanspruchen. Als beispielsweise Grettir Ásmundarson in Norwegen den Grabhügel von Kárr inn gamli aufbricht und dort einen großen Schatz ebenso wie ein Kurzschwert erbeutet, stört sich Kárrs Sohn Þorfinnr keineswegs daran, dass Grettir mit seinem toten Vater gekämpft, oder dessen Ruhe gestört habe: ›[E]n fyrir því at ek veit, at þat fé er illa komit, er fólgit er í jǫrðu eða í hauga borit, þá mun ek ekki gefa þér hér skuld fyrir, með því at þú fœrðir mér […].‹167 Er fordert stattdessen Grettirs Hilfe in einer anderen Angelegenheit ein, bevor er ihm das Kurzschwert aus dem Grabhügel überlassen möchte. Dieses Familienerbstück müsse sich Grettir zuerst verdienen. Immerhin in der Flóamanna saga werden drei Sklaven vom Protagonisten Þorgils gerügt und geschlagen, weil sie in einem Grabhügel nach Schätzen graben. Er nimmt ihnen drei Mark Silber ab und schimpft, þat ekki vera þeira fé.168 Er selbst lässt den Hügel ebenfalls in Ruhe und zieht weiter. Die Hügelbewohner selbst wollen ihr Eigentum nicht abtreten und verteidigen es in oft spektakulären Kämpfen. In der Reykdœla saga bekommt Þorkell von Hall das Schwert Skefilsnautr und gewinnt damit einen Holmgang. Im Anschluss möchte Þorkell das Schwert in den Grabhügel zurückbringen, aus dem es gekommen ist. Trotz Halls Widerspruch setzt Þorkell seinen Wunsch durch. Im Traum erscheint ihm Skefill, der ursprüngliche Eigentümer, und dankt ihm für die Rückgabe. Er sagt ihm, er hätte dafür büßen müssen, wenn er es behalten hätte. Da er aber ein tapferer Mann

erwähnt, als Þórgunna als Wiedergängerin in einem abgetrennten Raum Essen zubereitet, und der Totenzug Geräusche hört. Hier geht man nachsehen, hvárt eigi væri þjófar inn komnir (Eyr 51; »ob nicht Diebe hereingekommen wären«). 166 Zum Wesen des untoten Hügelbewohners siehe etwa Klare 1933–1934 sowie Horst 2010, S. 55–59. 167 Gts 18, S. 60; »›Aber weil ich weiß, dass jenes Geld schlecht angelegt ist, das in der Erde vergraben oder in Hügeln untergebracht ist, da will ich dir hier keine Schuld daran geben, weil du es mir gebracht hast.‹« 168 Flóa 12, S. 252; »dies sei nicht ihr Geld«.

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sei, solle nun niemandem ein Leid geschehen, und er dürfe das Schwert behalten.169 Skefill betrachtet das Schwert offenbar im Tode ebenso als sein Eigentum wie zu seinen Lebzeiten. Das haugbrot als literarisches Motiv in den Isländersagas wurde von Heinrich Beck in eine Abfolge von Motivkomponenten eingeteilt, die in den einzelnen Realisierungen mehr oder weniger stark variiert werden können. Als »Maximalrahmen«170 sieht er folgende Abfolge: 1. Eine durch Mut und Tapferkeit ausgezeichnete Erzählfigur beschließt, einen haugr zu brechen – sei es als Bewährungsprobe, Schatzsuche, […]. 2. Die im haugr verborgenen Schätze tun sich durch nächtliche Feuer über der Hügelstätte kund. 3. In mühevoller Arbeit wird der Hügel aufgebrochen und bis zur Grabkammer vorgestoßen. 4. Übler Geruch entströmt der Grabkammer. 5. Mit einem Seil läßt sich der Tapferste in die Grabkammer hinab. Gefährten bewachen das Seil an der Oberfläche. 6. In einem harten Kampf gelingt es dem Eindringling, den mit dämonischen Kräften begabten haug-Bewohner (haugbúi) zu überwinden. 7. Große Schätze finden sich in der Grabkammer, ausgezeichnete Waffen, Schmuck, Ringe. 8. Die an der Hügeloberfläche Zurückgebliebenen sind durch die Zeichen des harten Kampfes so erschreckt, daß sie mit dem Tod des Gefährten rechnen und fliehen. Der Hügelbrecher muß sich allein mit Hilfe des Seils an die Oberfläche schaffen […].171 Da Beck vollumfänglich zuzustimmen ist, und Fälle von Grabraub zudem Ereignisse darstellen, die keine Rache- oder Fehdehandlungen nach sich ziehen, sollen hier anstelle einer Betrachtung der Motivabläufe die Erzähltechnik der Episoden und das geraubte Gut als potentiell handlungsmächtige Dinge im Vordergrund stehen. Nachdem diese Gegenstände gewaltsam aus einem Grab geholt wurden, liegt die Vermutung nahe, ihnen könnte etwas Anderweltliches anhaften. Auch Beck streift diese Idee: »[Es versieht ihre] Hel-Zugehörigkeit die entführten Kleinodien doch mit einer neuen Qualität […]. Auf dem haugfé lastet seine Herkunft aus dem Totenreich.«172 Viele Episoden, die den Kontakt mit einem Hügelbewohner schildern, sind auf die ein oder andere Weise destabilisiert, wie durch Þorkells Traum, in dem ihm Skefill 169 Reyk 19, S. 211–213. Im direkten Anschluss heißt es, dass noch jemand einen Speer aus einem Grabhügel hätte und all diese Waffen besonders gut seien. 170 Beck 1998, S. 524. Beck bezieht sich hier zusammenfassend auf seinen früheren Beitrag Beck 1978b. Zur Verbreitung des haugbrot-Motivs siehe auch Heinrichs 1989, S. 146–152. 171 Beck 1998, S. 524–525. 172 Beck 1978b, S. 226.



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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erscheint.173 Die Begegnungen werden häufig im Rahmen eines Traumes erzählt, der einen logischen Begegnungsort für Kontakte zwischen der Welt der Lebenden und der Toten darstellt. Þorsteinn im Þorsteins þáttr uxafóts legt sich beispielsweise neben einen Grabhügel und bittet seinen Freund Freysteinn, über seinen Schlaf zu wachen – er scheint also bereits zu erwarten, auf diese Weise mit dem haugbúi in Kontakt treten zu können. Wieder erwacht, berichtet er von seinem Traum: Es schien ihm, als habe sich der Hügel geöffnet, und als sei ein großer Mann in roter Kleidung herausgekommen. Dieser habe ihm gesagt, er heiße Brynjarr und lebe im Hügel. Þorsteinn begleitet ihn im Traum hinein und sieht blau und rot gekleidete Männer auf Bänken sitzen. Brynjarr erklärt ihm, einer der Männer sei sein Bruder Oddr, und ein schlechter Nachbar, da er ständig Kostbarkeiten von ihm und seinen Männern verlange. Þorsteinn hat eine stumme Mutter, für die der Untote Heilung verspricht: Sein Bruder Oddr besitze einen Goldring, der jedem stummen Menschen die Sprache zurückgeben könne, wenn er ihn sich unter die Zunge lege. Þorsteinn setzt sich zu Brynjarrs Männern und muss, ebenso wie alle anderen, Oddr eine Kostbarkeit schenken. Er tut so, als wolle er ihm seine Axt schenken, und schlägt auf ihn ein. Es kommt zu einem Kampf, in dem alle blaugekleideten Männer getötet werden. Danach gibt Brynjarr Þorsteinn den Ring, und fordert ihn auf, ihn zu seiner Mutter zu bringen. Er ermutigt Þorsteinn, nach Norwegen zu gehen und dort zum Christentum zu konvertieren. Auch nach dem Erwachen hat Þorsteinn den Ring in Händen, kann ihn seiner Mutter schenken, und bringt sie damit tatsächlich zum Sprechen.174 Die Schilderung der Traumhandlung erfolgt zwar mit Hilfe einer Distanzierung (mér þótti haugr sjá opnast),175 der Ring als materieller Beweis des Geschehens vermag es aber, die Grenzen der Traumwelt zu überqueren. Diese Episode verdeutlicht die Schwierigkeit der Einordnung als Raub im eigentlichen Sinne: Zwar hat Þorsteinn im Inneren des Hügels gekämpft, der Ring wurde ihm aber schlussendlich geschenkt (ÞUxaf 6). Zudem wird die ganze Episode durch den umrahmenden Traum von den Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten der Erzählwelt entrückt, weshalb eine juristische Kategorisierung ohnehin hinfällig ist. Auch in der kurzen Erzählung Kumlbúa þáttr wird ein Traum als Rahmenerzählung verwendet, um den Kontakt mit einem Hügelbewohner zu schildern. Als Þorsteinn am späten Abend nach Hause geht, kommt er zufällig an einem Grabhügel vorbei und findet daran ein Schwert neben einem Skelett liegen. Er nimmt es mit sich und möchte am nächsten Morgen zurückkehren. Nach der Nachtmesse schläft er zügig ein und träumt, dass ein großer, schöner Mann mit einer Axt auf ihn zukomme. Dieser bedroht ihn, und fordert, er solle sein Schwert zurückbringen ok kvað eigi mundu hlýða svá

173 Zur narrativen Destabilisierung durch die Schilderung von Träumen und anderen persönlichen Wahrnehmungsvorgängen vgl. McTurk 1992 sowie Kap. 1.4.2. 174 Für eine Deutung der Erzählung im Kontext der sog. conversion þættir vgl. Rowe 2004. 175 ÞUxaf 6, S. 352; »›Mir schien es, als öffne sich der Hügel‹«.

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búit.176 Þorsteinn bekommt es mit der Angst zu tun und schläft so unruhig, dass seine Frau ihn weckt. Er möchte nicht über seinen Traum sprechen und fällt wieder in einen unruhigen Schlaf. Erneut erscheint ihm der Mann und spricht eine Skaldenstrophe, in der er von früheren Kämpfen berichtet und behauptet, er wäre noch immer in der Lage, sama leik177 zu spielen. Im Traum erwidert Þorsteinn, ebenfalls in Versen, er werde jeden Schlag vergelten, und wird darauf vom Traummann gelobt, er habe angemessen gehandelt. Am nächsten Morgen bricht Þorsteinn auf, um den Grabhügel zu suchen, kann ihn aber nie wiederfinden. Die Erzählung endet damit, dass Þorsteinn seiner Frau und anderen Leuten von seinem Erlebnis berichtet, und bleibt insgesamt rätselhaft. Weder wird klar, was Þorsteinn am zweiten Tag am Grabhügel tun wollte – das Schwert zurückgeben, oder nach weiteren Schätzen suchen – noch wird über den Verbleib des Schwertes Auskunft gegeben. Der durch die Nachtmesse betonte religiöse Hintergrund des Protagonisten schafft einen Kontext, in dem ein Christ einem Wiedergänger aus alter heidnischer Zeit begegnet. Die Kontaktmöglichkeit der beiden Welten (untot/heidnisch vs. lebendig/christlich) ist der Traum, ihre gemeinsame Sprache die Dichtung. Für den Grabraub lässt sich aber nur festhalten, dass der Untote sein Eigentum zurückfordert und besänftigt scheint, als er feststellt, dass Þorsteinn ein würdiger Gegner ist, wenigstens im Dichterwettstreit.178 Die Begegnung mit der Anderwelt wird auch in der Þorskfirðinga saga (auch als Gull-Þóris saga bezeichnet) erzählerisch durch einen rahmenden Traum bearbeitet, entspricht dem oben aufgezeigten Motivschema aber ansonsten. Þórir schart auf Island eine Gruppe von acht Schwurbrüdern um sich, mit denen er als junger Mann auf Reisen geht (Þorsk 2). In Hálogaland sieht er ein seltsames Licht in der Ferne und fragt seinen Gastgeber Úlfr, was es damit auf sich habe. Dieser erklärt, dort liege der Grabhügel von Agnarr dem Berserker, der diesen Hügel errichten ließ und ihn mit all seinem Vermögen und seiner ganzen Schiffsbesatzung betrat, um ihn danach með tröllskap179 zu versiegeln. Er warnt seinen Gast: ›[M]argir eru dauðir, er til hafa komit at brjóta‹.180 Nur einer seiner Schwurbrüder wagt es, Þórir trotzdem zu begleiten. Die beiden werden von einem scharfen Wind vom Grabhügel ferngehalten und schlafen schließlich in seiner Nähe ein. Þórir träumt nun, dass ein Krieger in roter Kleidung auf ihn zukomme und wütend auf ihn reagiert: ›Ills manns efni ertu, er þú villt ræna frændr þína […].‹181 Es stellt sich heraus, dass der Tote der Halbbruder von Þórirs Vater ist. Er bietet seinem Neffen einige Kostbarkeiten an, damit dieser den Grabhügel in Ruhe

176 Kuml, S. 454; »und sagte, so gehe es nicht.« 177 Kuml, S. 454; »das gleiche Spiel«. 178 Zur Verbindung von Dichtkunst, Hügelbewohnern und Óðinn, dem Gott der Dichtung wie der Toten, vgl. Beck 1978b, S. 223. 179 Þorsk 3, S. 183; »durch Zauberei«. 180 Þorsk 3, S. 183; »›Viele sind tot, die versucht haben, ihn aufzubrechen.‹« 181 Þorsk  3, S.  184; »›Von schlechter Mannesart bist du, wenn du deinen Verwandten berauben willst‹«.



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lässt und anderswo nach Beute sucht: Kleidung, die ihn vor Feuer und Waffen schützen kann, ein Schwert, einen Helm, Handschuhe, deren Berührung seine Gefährten schützen und heilen kann, ein Messer, einen Gürtel, und dazu Gold und Silber. Þórir träumt, dass er dem Mann antworte, dies seien doch zu kleine Geschenke von einem nahen Verwandten solchen Wohlstandes – dafür würde er nicht auf den Schatz des Hügels verzichten. Der Tote prophezeit seinem Verwandten, seine Augen werden am Ende seines Lebens mit Gold gefüllt sein. Þórir versteht, dass es sich um eine üble Prophezeiung handelt, und lässt sich auf Agnarrs Vorschlag ein, anstelle seiner Ruhestätte eine Höhle auszurauben, die ihm sein Onkel genau beschreibt. Er reicht ihm einen Becher, aus dem die beiden jungen Männer nur wenige Schlucke trinken sollen. Als die beiden erwachen, erinnern sich beide genau an den Traum und haben alle Gegenstände, die Agnarr im Traum überreichte, bei sich liegen. Þórir trinkt mehr aus dem Becher als ihm zugesprochen wurde und schläft erneut ein. Im zweiten Traum erscheint erneut Agnarr und ist wütend, dass zu viel getrunken wurde. Er sagt seinem Verwandten voraus, er werde am Ende seines Lebens für den Trank bezahlen – vorläufig erklärt er ihm aber, wie er die Höhle des Wikingers Val ausrauben kann (Þorsk 3). Als sie zu Úlfr zurückkehren, warnt dieser sie wieder, trotzdem führt Þórir seine Schwurbrüder zur Höhle. Wie viele andere Monsterhöhlen liegt auch dieser hinter einem Wasserfall,182 und niemand außer Þórir wagt, ihn zu durchqueren. Seine Gefährten finden, Þórir var allr maðr annarr en hann hafði verit.183 Mit Agnarrs Gegenständen gerüstet durchquert er den Wasserfall, worauf sich doch einige Schwurbrüder entschließen, ihm zu folgen. In der Höhle finden sie Val und seine Söhne vor, die so lange auf ihrem Schatz lagen, dass sie sich in Drachen verwandelt haben. Es folgt ein abenteuerlicher Kampf gegen die drei Flugdrachen, den nicht alle Gefährten überleben. Der große erbeutete Schatz wird zwar aufgeteilt, Þórir erhält aber den größten Anteil. Als die Schwurbrüder wieder in Island angekommen sind, dauert es nicht lange, bis Unzufriedenheit unter den Gefährten entsteht. Einer von ihnen, Hyrningr, wird von seinem Vater Hall gescholten, er hätte weder außerhalb der Höhle bleiben, noch Þórir seinen Beuteanteil rauben lassen dürfen: ›Ólíkr ertu orðinn mér, er þú vill vera hlutræningr fyrir Þóri, […].‹184 Hall startet einen erfolglosen Angriff auf Þórir, sein Sohn Hyrningr verlässt den Hof seines Vaters und bleibt zeitlebens mit Þórir befreundet.185 Nach einem konfliktreichen Leben auf Island, in dem Þórir zunehmend als besonne182 Vgl. Margrét Eggertsdóttir 1993. Zum Wasserfall siehe bspw. Osborn 2007. 183 Þorsk 4, S. 187; »war nun ein ganz anderer Mann, als er es gewesen war.« 184 Þorsk 8, S. 194; »›Ungleich bist du mir geworden, wenn du dich von Þórir deines Anteils berauben lassen willst.‹« 185 Hall versucht im Folgenden noch mehrfach, Þórir zu besiegen und wendet sich gegen dessen Schwurbrüder. Ein Teil dieser Auseinandersetzungen ist von einer Lakune in der Haupthandschrift der Saga zwischen Kapitel 10 und Kapitel 12 betroffen. Þórir tötet später einen Freund Halls, Þorbjörn, wegen fjárupptakit (Þorsk 12, S. 202; »Raubes«), womit wahrscheinlich die Wegnahme des elterlichen Hofes in Þorsk 7 gemeint ist: Hall hatte Þórirs Mutter von ihrem Hof vertrieben und diesen Þorbjörn gegeben.

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ner und um den Frieden bemühter Mann dargestellt wird, wird er im Alter schwieriger im Umgang. Vom Schatz, der seit langem aus der Erzählung verschwunden war, heißt es nun plötzlich, die Kisten seien verschwunden – ok vissi engi síðan, hvat af þeim var orðit.186 Als Þórir auch noch fälschlicherweise vom Tod seines Sohnes berichtet wird, ist er so betroffen, dass er von seinem Hof verschwindet. Niemand weiß, was aus ihm wurde, doch glauben die Leute, er habe sich in einen Drachen verwandelt und sich auf seine Goldtruhen gelegt.187 In der Þorskfirðinga saga finden sich nicht nur viele der von Beck besprochenen Motivkomponenten, sie stellt auch erzählerisch ein Paradebeispiel für ein haugbrot dar. Die Begegnung mit der Anderwelt wird durch einen Traum narrativ destabilisiert, der abenteuerliche Kampf mit den Drachen wird geographisch entrückt. So bleibt die Möglichkeit bestehen, Þórir im anschließenden Hauptteil der Saga ein für die Gattung typisches fehdenreiches Leben auf Island führen zu lassen. Dort angekommen wird die Beute zum Stein des Anstoßes der Konflikte mit dem daheimgebliebenen Hall, der die Beuteaufteilung nach isländischen Maßstäben beurteilt und versucht, an das Ehrgefühl seines Sohnes zu appellieren. Während Þórirs Leben als isländischer Bauer geschildert wird, wird der Schatz nicht erwähnt und hat keine Funktion – die Abenteuerbeute hat in diesem Erzählmodus keinen Platz. Erst als sich Þórirs Leben dem Ende neigt, wird die unheilschwangere Prophezeiung wieder aufgegriffen, indem vom Verschwinden der Kisten berichtet wird. Der Hinweis auf die öffentliche Unkenntnis ist auch hier ein Marker für potentiell gefährliches Verhalten; in Hinblick auf die Biographie der Kisten kann man nur davon ausgehen, dass Þórir die Kisten argwöhnisch bewacht. So glauben ›die Leute‹ am Ende der Saga auch, er habe sich in einen Drachen verwandelt, und sich auf seinen Schatz gebettet – sobald dieser wieder in der Erzählung präsent ist, bemüht der Erzähler wie zu Beginn das Hörensagen und lässt dadurch offen, ob man nun tatsächlich einen Drachen auf Island fürchten müsse. Ein traumloser Grabraub findet in der Harðar saga ok Hólmverja statt. Während seiner Auslandsreise freundet sich deren Protagonist Hörðr mit dem gotländischen Jarlssohn Hróarr an. Während des Julfests steigt Hróarr auf eine Bank und schwört feierlich, vor dem nächsten Julfest den Grabhügel des Wikingers Sóti gebrochen zu haben. Hörðr wiederum schwört, ihm beizustehen und bringt auch seinen Reise­ gefährten Geirr mit zu dieser Fahrt (Har  14). Insgesamt gehen zwölf Männer auf Expedition. Mitten im Wald finden sie ein großes, prächtig verziertes Gebäude. Davor steht ein Mann in gestreiften Gewändern und grüßt Hörðr freundlich. Er nennt sich Björn und gibt an, er sei ein Freund von Hörðrs Verwandten. Falls sie der G ­ rabhügel vor Schwierigkeiten stelle, werde er ihnen helfen. Am Hügel angekommen, versuchen sie zwei Tage vergeblich, ihn zu öffnen. Sie graben, bis sie auf Holz stoßen, doch am nächsten Tag scheint der Grabhügel wieder unberührt zu sein. Hörðr nimmt 186 Þorsk 19, S. 224; »und seither wusste niemand, was aus ihnen geworden war.« 187 Im Kontext dieser Drachenverwandlung ist wohl die vorherige Prophezeiung zu deuten, seine Augen werden mit Gold gefüllt sein.



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nun Björns Angebot wahr und bittet ihn um Hilfe. Er erhält von ihm ein besonderes Schwert, das er am Abend in die Grabung stecken solle. Sie folgen dem Rat, und tatsächlich bleibt der Grabhügel dadurch offen. Am nächsten Tag zerbrechen sie die langen Hölzer, und am fünften Tag der Unternehmung können sie endlich die Türe öffnen. Obwohl von Hörðr gewarnt, stecken zwei Männer ihre Nasen sofort in den Hügel und sterben am faulen Geruch, der dem Grab entweicht. Danach traut sich außer Hörðr niemand mehr, den Hügel zu betreten. Zunächst kann er keine Schätze finden und bittet Geirr nach unten, der Feuer und Wachs mitbringen soll. So finden sie eine weitere Türe und brechen sie auf. Ein Erdbeben erschüttert den Hügel und lässt die Lichter ausgehen. Danach sehen sie ein Schimmern, und in der hinteren Kammer ein Schiff voller Schätze. In diesem sitzt der untote Sóti und ist grässlich anzusehen. Sóti und Hörðr sprechen beide Skaldenstrophen, bevor ein Kampf zwischen ihnen entbrennt. Sóti kann Hörðr zwar stark zusetzen, fällt aber zu Boden, als Geirr die Kerze entzündet. So kann Hörðr dem Hügelbewohner einen Ring vom Arm ziehen, der eine besondere Kostbarkeit darstellt. Sóti spricht nun eine weitere Strophe und verflucht sowohl Hörðr als auch den Ring: Hörðr rænti mik hringnum góða, hálfu síðr vilda ek hans um missa en gervallrar Grana byrðar;

Hörðr beraubte mich des guten Ringes, viel weniger wollte ich ihn missen als die ganze Bürde Granis;188

hann skal verða at höfuðbana þér ok öllum þeim, er eiga.189

er soll zum Töter werden dir und all jenen, die ihn besitzen.

Auch in der Prosa wird der Fluch wiederholt, aber mit einer interessanten Ergänzung: ›Skaltu þat víst vita,‹ segir Sóti, ›at sjá hringr skal þér at bana verða ok öllum þeim, er eiga, utan kona eigi.‹190 Danach packen Geirr und Hörðr die Schätze zusammen und treffen draußen wieder auf Hróarr. Zusätzlich zum Armring hat Hörðr auch ein Schwert und einen Helm von Sóti erbeutet. Björn können sie nicht mehr finden, ok höfðu menn

188 Grani ist das Pferd von Sigurðr dem Drachentöter, seine Bürde ist der Schatz der Nibelungen. Es handelt sich um eine häufige Umschreibung für Gold, ist hier aber als Vergleich durchaus wörtlich zu verstehen. Auch die Idee des Ringes, der at bana (»zum Töter«) wird, findet sich in der Nibelungenüberlieferung, bspw. in den Fáfnismál 9: [Þ]er verða þeir baugar at bana (»Dir werden diese Ringe zum Töter«). Zur Handlungsmacht des Ringes im Nibelungenstoff vgl. Hammer 2018, insb. S. 106–111. 189 Har 15, S. 42. 190 Har 15, S. 42; »›Du sollst gewiss wissen,‹ sagt Sóti, ›dass dieser Ring dir zum Töter werden soll, und all jenen, die ihn besitzen, nur einer Frau nicht.‹« Diese Frau wird Refrs Mutter Þorbjörg sein, die aber schließlich im Kampf um den Ring doch ihr Leben lassen muss.

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það fyrir satt, at Óðinn mundi þat verit hafa.191 Später folgt eine nicht weniger rätselhafte Episode, in der Hörðrs Vater Grímkell in einem Tempel mit der Göttin Þorgerðr hörgabrúðr spricht, die ihm mitteilt, sie werde Hörðr kein Glück senden. Als Grund gibt sie an, er habe ihrem Bruder Sóti einen Ring geraubt: ›Eigi munu vér til Harðar heillum snúa, þar sem hann hefir rænt Sóta, bróður minn, gullhring sínum inum góða ok gert honum marga skömm aðra, […].‹192 – von dieser illustren Verwandtschaft des Hügelbewohners war bisher keine Rede. Grímkell ist so wütend auf die Götter, dass er den Tempel verbrennt. Am gleichen Abend stirbt er.193 Die Episode enthält trotz des fehlenden Traumes einige Elemente, die sie von der ›Realität‹ der Isländersagas entrücken. Zum einen spielt die Handlung der Episode auf der Ostseeinsel Gotland, die zwar einen zentralen Platz innerhalb der wikingischen Welt für sich beanspruchen darf, aber doch viele Seemeilen von Island entfernt liegt. Zum anderen wird durch das trunkene Versprechen am Julfest der Charakter einer Abenteuerfahrt evoziert, die ebenfalls nicht mit einer alltäglichen Reise innerhalb Islands vergleichbar ist. Am auffälligsten ist der Kontakt mit der enigmatischen Figur Björns, dessen markante Kleidung ebenso wie seine Behausung innerhalb der Isländersagas deplatziert wirken, und eher der benachbarten Gattung der Vorzeitsagas zu entspringen scheinen.194 In einer solchen wäre ein Auftritt Óðinns als Ratgeberfigur keine Seltenheit, in der Harðar saga wird die Identifizierung nur durch eine doppelte Distanzierung vorgenommen: die Leute glaubten, dass es Óðinn gewesen sein müsse. Auch die Verbindung Sótis zur rätselhaften Gottheit Þorgerðr hörgabrúðr trägt zum Eindruck bei, die Gegenstände stammten nicht nur aus einem Grab, sondern aus einer Anderwelt.195 Der erste Vorfall, bei dem einer dieser Gegenstände zum Einsatz kommt, führt direkt zu Hörðrs Ächtung. Ein unbedeutender Konflikt um zwei Pferde bringt einen Streit zwischen einem Bauern und Hörðrs Haushalt hervor. Als Hörðr erfährt, dass

191 Har 15, S. 44; »und die Leute glaubten, es sei wahr, dass es Óðinn gewesen sein müsse.« 192 Har 19, S. 52; »›Wir werden Hörðr kein Glück zuwenden, da er Sóti, meinen Bruder, seines guten Goldringes beraubt hat und ihm weitere große Schande zugefügt hat, […].‹« 193 Dass sein Tod mit der erzürnten Gottheit zusammenhängt, drängt sich natürlich auf. Es wird aber ebenso wenig deutlich ausgesprochen, wie bei Valgarðr, der in der Brennu-Njáls saga stirbt, nachdem er seinem Sohn dessen christliche Kreuze zerbricht. Die vollständige Erklärung lautet: Valgarðr braut krossa fyrir Merði ok ǫll heilǫg tákn. Þá tók Valgarðr sótt ok andaðisk ok var hann heygðr. (Nj 107, S. 275; »Valgarðr zerbrach Mǫrðrs Kreuze und alle heiligen Zeichen. Dann wurde Valgarðr krank und starb und wurde bestattet.«). 194 Einen kurzen Überblick zur Gattung der Vorzeitsagas bietet Tulinius 2005, der dafür argumentiert, die hier verarbeiteten Stoffe der nordischen Vorzeit als »›matter of the north‹, akin to the three ›matières‹ of Rome, France and Britain« (S. 451) zu betrachten. 195 Die Funktion und Natur der hier als Göttin dargestellten Þorgerðr hǫrgabrúðr (oder: hǫlgabrúðr) hat die Forschung zu verschiedenen Theorien angeregt, eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Ideen bietet Røthe 2007 sowie Schmidt 2018b, S. 390–401. Auch Schmidt 2018a bespricht eine mögliche Verbindung zwischen Þorgerðr hǫrgabrúðr und handlungsmächtigen Gegenständen.



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der Bauer den Fall an seinen größten Widersacher abgetreten hat, wird er unverhältnismäßig wütend. Er zieht Sótis Schwert, hackt den Bauern damit in zwei Teile, und verbrennt dessen Gehöft inklusive der darin arbeitenden Frauen. Für diese Tat wird Hörðr zu einem Leben als Gesetzloser verurteilt, im Laufe dessen er noch viele weitere Diebstähle und Raubüberfälle verüben wird.196 Für Hörðrs ebenso übertriebene wie schicksalshafte Reaktion wird weder ein Anlass, noch eine Begründung vorgebracht. Die Verbindung zu Sótis Schwert und dem Zorn seiner göttlichen Schwester kann hier eine mögliche Erklärung anbieten: Ein derart markiertes Schwert muss kompositorisch betrachtet in einen folgenreichen Totschlag verwickelt sein. Sótis Armring spielt während der langen Zeit in der Acht keine Rolle und wird erst bei Hörðrs letztem Kampf wieder erwähnt. Keiner seiner vielen Verfolger traut sich an Hörðr heran, bis seinem Totschläger Sótis Ring versprochen wird. Þorsteinn gullknappr, der schon vorher eine wichtige Rolle als wankelmütiger Verbündeter gespielt hat, tötet Hörðr schließlich und erhält so den Ring (Har 36). Dieser bringt ihm wenig Glück, da schon kurze Zeit nach seinem Triumph Hörðrs Schwester ihren Ehemann nötigt, ihr Þorsteinns Kopf zu bringen, um sie für den Tod ihres Bruders zu entschädigen. Hörðrs Schwager willigt ein und tötet Þorsteinn mit Sótis Schwert (Har  38). Der schwesterliche Rachedurst ist nicht gestillt, sodass sie den neuen Liebhaber ihrer verwitweten Schwägerin überzeugen kann, auch Hörðrs Feind Refr zu töten. Im Gegenzug verspricht sie ihm sowohl Hörðrs Witwe als auch Sótis Ring. Als Mordwaffe besorgt sie ihm noch Sótis Schwert, das inzwischen im Besitz ihres Ehemannes Indriði ist und jetzt den Namen Sótanautr trägt. Es gelingt ihm zwar, Refr schwer an den Beinen zu verletzen, der Plan scheitert aber an Refrs zauberkundiger Mutter Þorbjörg katla, die ihren Sohn rettet, indem sie seinem Angreifer die Luftröhre durchbeißt. In dieser kuriosen Szene wandern das Schwert und der Ring an Refr, der sich zwar erholt, aber nie wieder laufen kann (Har 39). Indriði holt sich sein Schwert gewaltlos von Refr zurück, der Ring sorgt aber für weitere Tode: Die beiden Zauberinnen Þorgríma smíðkona (Indriðis Mutter) und Þorbjörg katla (Refrs Mutter) werden beide tot und zerrissen aufgefunden. Die Gegend um ihre Grabhügel wird stark heimgesucht. ›Die Leute‹ sagen (þess geta menn til […]),197 Þorgríma wollte ihrem Sohn Sótis Ring verschaffen, und dass Þorbjörg diesen verteidigt habe, bis sie einander getötet hätten. Der Ring wird nie wiedergefunden. Auch hier kann die ›eigene Bestimmtheit‹ des Ringes eine neue Lesart und zusätzliche Motivierungsstrategie anbieten: Wie dem Schwert des Untoten ist dem Ring eine zerstörerische Kraft eingeschrieben, die sowohl der Totenwelt als auch dem Rachedurst einer heidnischen Gottheit entstammt. Das Streben, diesen Ring zu besitzen, bringt zwei Nebenfiguren zu unbedachten Totschlägen und die zwei bösen Zauberinnen der Erzählung zu einem finalen Kampf, in dem sie beide zusammen mit dem

196 Vgl. Kap. 6.2.3. 197 Har 40, S. 39; »die Leute sagen«.

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Ring untergehen.198 Lange, bevor die Dinge und ihre postulierte ›Wirkmacht‹ in den Fokus der Literaturwissenschaft gerieten, kommentierte Beck diese Tatsache: So ist zwar eine erzählerische Konsequenz von der Weissagung bis zur Erfüllung des Fluches zu beobachten: die Besitzer des Ringes finden (Þorbjörg ausgenommen) einen gewaltsamen Tod. Doch ruht die erzählerische Motivation nicht ausschließlich darauf. Es widerspräche wohl auch einer Isländersaga, die bewegende Idee ganz in dem irrationalen Bereich eines bösen Zaubers anzusiedeln. So begleitet zwar der verderbenbringende Ring den Handlungsverlauf, liefert aber doch eigentlich nur eine zusätzliche Begründung für den schicksalhaften Lauf der Ereignisse.199

Eine sehr ähnliche Episode findet sich in der Bárðar saga Snæfellsáss,200 mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Óðinnsfigur hier nicht als Helfer auftritt, sondern als zu überwindendes Hindernis. Die beiden Grabraubepisoden sind einander so

198 Schottmann 2000, S. 239–241 kann der Episode dagegen wenig Originelles abgewinnen und bespricht sie nur als Variante der haugbrot-Fabel, mit starkem Bezug zur Bárðar saga (siehe unten). 199 Beck 1978b, S. 225. Beck verweist hier zum Vergleich auf Bollis Schwert Fótbítr, das die Saga zwar verwendet, ohne aber »ein beherrschendes Thema« daraus zu machen. 200 Als Bárðrs Sohn Gestr am Hof von König Óláfr dem Heiligen ist, kommt an Jul ein beeindruckend großer Krieger in die Halle, der jenem seine Schätze verspricht, der es schafft, ihn zu besiegen. Als er die Halle verlässt, lässt er einen so fürchterlichen Geruch zurück, dass einige Männer ohnmächtig werden, und die meisten Hunde sterben. Gestr meint zu wissen, dass es sich um den alten König Raknarr handeln müsse, der sich mit 800 Mann auf seinem Schiff begraben ließ. Sein Grabhügel müsse im Norden, in Helluland, liegen. Der König schickt Gestr nun auf den Weg, dort die Kostbarkeiten zu holen, und gibt ihm als Begleiter einen Priester auf den Weg. Gestr bekommt vom König außerdem ein Schwert, ein Tuch und eine sich selbst entzündende Kerze mit auf den Weg. Während ihrer Reise kommt ein einäugiger Mann auf sie zu, der sich Rauðgrani nennt und seine Hilfe anbietet. Sie nehmen ihn mit auf das Schiff, wo er sie zum Zauber und Opfern auffordert. Der Priester ist so erbost über den heidnischen Reisegefährten, dass er ihn eines Tages mit einem Holzkreuz schlägt. Der Reisegefährte fällt von Bord (Bar 18, S. 163: Þóttust þeir þá vita, at þat hefði Óðinn verit; »Sie glaubten da zu wissen, dass dies Óðinn gewesen sei.«) Als sie den Grabhügel gefunden haben, versuchen sie mit Hilfe des Priesters, ihn aufzubrechen. Wie in der Harðar saga schließt sich der Grabhügel erneut, sodass er am nächsten Tag wie unberührt aussieht. Hier ist es allerdings der Priester, der mit seinem Kreuz und Weihwasser in der nächsten Nacht an der Öffnung Wache hält und vielen Prüfungen widersteht. So verhindert er das Schließen des Hügels, und es kann weitergegraben werden. Als Gestr schließlich mit der Kerze den Hügel betritt, sieht er das Schiff mit 500 Mann besetzt. Er schlägt ihnen allen die Köpfe ab, da sie sich wegen des Kerzenscheins nicht rühren können. Er kann all ihre Schätze bergen und lässt sie mit Seilen hinaufziehen. Schließlich findet er in einer weiteren Kammer Raknarr auf einem Stuhl sitzend. Dieser reagiert zuerst entgegegenkommend und lässt sich von seinem Grabräuber verschiedene Rüstungsteile abnehmen. Erst als Gestr das Schwert nehmen möchte, wehrt sich der Unhold, da die Kerze heruntergebrannt ist. Gestr scheint im Kampf zu unterliegen und ruft zuerst seinen Vater Bárðr um Hilfe an, der nichts ausrichten kann. Schließlich verspricht er, den christlichen Glauben anzunehmen, falls er heil aus dem Hügel komme, und erhält so die Hilfe König Óláfrs, der in so strahlendem Licht im Grab erscheint, dass der Untote sich nicht mehr wehren kann. Gestr kann erfolgreich entkommen, träumt aber kurze Zeit später von seinem Vater: Dieser ist so erzürnt, dass sein Sohn seinen Glauben verraten hat, dass er ihm im Traum an die Augen greift – noch am nächsten Tag stirbt Gestr in seinem Taufkleid an seinem Augenleiden (Bár 20).



4.2 Diebesgut und Handlungsmacht 

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ähnlich, dass man eine literarische Entlehnung annehmen muss.201 Interessant an der Gegenüberstellung der beiden Episoden ist allerdings, dass in der Bárðar saga keinerlei Wert auf den Verbleib der geraubten Gegenstände gelegt wird. Dieser Zug der Harðar saga ok Hólmverja erscheint damit umso bedeutungsvoller, da hier die Möglichkeit ergriffen wird, durch machtvolle Gegenstände eine zusätzliche Form von Motivierung einzuführen, die diese Ächtersaga in doppelter Hinsicht an ihre berühmteren Genrenachbarn heranrückt: Wie Grettir erwirbt sich Hörðr vor seiner Acht im Ausland ein besonderes Schwert aus einem Grabhügel.202 Während in der Grettis saga das Schwert von Kárr inn gamli aber keine spezielle Wirkmacht entfaltet, scheinen die Gegenstände der Harðar saga eher nach dem Vorbild Grásiðas aus der Gísla saga modelliert. Wenngleich das haugbrot einen sehr speziellen Fall des Raubes darstellt, tragen diese Episoden erzähltechnisch doch viele Züge, die auch klassisische Eigentumsdelikte auszeichnen. So lässt sich die Wirkmacht der Gegenstände mit der von gestohlenen oder verfluchten Dingen vergleichen, und auch die destabilisierte Erzählweise ähnelt anderen Diebstahlsfällen. Eine Besonderheit stellt der Traum als Rahmenhandlung dar, der den Kontakt zum Hügelbewohner ermöglicht. Alternativ erlaubt die geographische Distanzierung der Grabraubepisoden den Wechsel in einen weniger realistischen Erzählmodus. Das Raubgut kann beide Grenzen überqueren und auf Island als Störfaktor bedeutungsvoll bleiben. Man möchte Becks oben zitierter Einschätzung, es »widerspräche wohl auch einer Isländersaga, die bewegende Idee ganz in dem irrationalen Bereich […] anzusiedeln«203 kaum widersprechen. Sicher gäbe es altnordische Gattungen mit einer größeren Affinität zu irrationalen Motiven (wie etwa die Vorzeitsagas), denen das Konzept der Dinge als ›handlungsmächtige Aktanten‹ eine größere Menge an neuen Lesarten abringen könnte. Trotzdem erhält man in seltenen Fällen mehr als »nur eine zusätzliche Begründung«,204 wenn man den Blick auf die Dinge richtet: In der Laxdœla saga lässt sich eine abgewiesene Handlungsalternative aufdecken, und ein tieferer Einblick in die Figurenkonzeptionen gewinnen. In der Gísla saga trägt Grásiða entscheidend zur Gesamtkomposition der Saga bei, indem das Schwert die beiden Handlungsteile miteinander verbindet und den Geschehnissen auf Island somit ihren schicksalsschwangeren Zug verleiht. Aus Grabhügeln geraubte Gegenstände sind für eine übernatürliche Semantisierung besonders empfänglich, was sich durch ihre

201 Hier ist nicht von Belang, welche Saga die gebende und welche die nehmende Erzählung ist. Schott­mann 2000 nimmt in seiner Kritik der Harðar saga an, dass sie die Geschichte der Bárðar saga (»oder eine ihr entsprechende«, S. 241) heidnisch umformt habe. Allerdings ist die Datierung beider Sagas unsicher, und auch eine christlich-motivierte Umformung Óðinns von einer Helferfigur zu einem Hindernis ist prinzipiell denkbar. 202 Zu den Parallelen der beiden Ächtersagas auch Schottmann 2000, S. 240. 203 Beck 1978b, S. 225. 204 Beck 1978b, S. 225.

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 4 Erzählen vom Diebstahl

Zugehörigkeit zur Anderwelt erklärt. Sie markieren damit immer wieder Bruchstellen zwischen dem realistisch-objektiven Erzählgestus der Isländersagas und dem Eindringen irrationaler Komponenten. Sie bieten dadurch zusätzliche kompositorische und finale Motivierungsstrategien an, für kausal unzureichend motivierte Episoden wie Hörðrs übertriebenen Jähzorn und den daraus resultierenden Totschlag.205

205 Zu verschiedenen Arten der Motivierung siehe Kap. 1.4.2 und ausführlich Kap. 5.

5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub Innerhalb der Erzählung können Eigentumsdelikte in Isländersagas weitreichende Auswirkungen haben. Ihre naheliegende Funktion ist es, Konflikte auszulösen, die nur unter größten Schwierigkeiten wieder beizulegen sind. Doch können Diebstähle auch als erzählerisches Mittel eingesetzt werden, um Thematiken und Motive zu etablieren, die für den Verlauf der Handlung bestimmend bleiben. So tragen sie entscheidend zur Motivierung des Geschehens bei. Die ›Motivierung‹ ist dabei als der »Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählenden […] Text dargestellte Geschehen«1 zu verstehen. Unterschieden wird allgemein zwischen kausaler, finaler und kompositorischer Motivierung.2 Isländersagas sind größtenteils kausal und final motiviert. Die kausale Motivierung ist für fast alle Erzählungen bedeutsam und meint, dass ein Ereignis kausal aus dem vorherigen Ereignis folgt. Jemand greift einen anderen an, weil dieser ihn zuvor bestohlen hat. Ebenso bedeutsam für die Gattung ist die finale Motivierung, bei der die Handlung ›vom Ende her‹ wie von einer übergeordneten Macht determiniert ist. In den Isländersagas ist diese Macht zum einen das Schicksal, zum anderen sind es realhistorische Gegebenheiten. So ist beispielsweise der Tod eines unglückseligen Helden – eines ógæfumaðr – unausweichlich. Aber auch die Einführung des Christentums in einer Isländersaga ist final motiviert: Es wäre innerhalb der Gattungskonvention nicht möglich, eine alternative Vergangenheit darzustellen, in der sich die Isländer entschließen, am Heidentum festzuhalten. Erzählungen mit finaler Motivierung müssen weniger stark kausal motiviert sein, als solche, bei denen ein Ereignis sich immer logisch aus dem vorherigen ergeben muss. Auf das Beispiel der Christianisierung bezogen heißt dies, dass die Annahme des Christentums innerhalb der einzelnen Saga nicht zwangsweise kausal aus den früheren Ereignissen innerhalb der Erzählung folgen muss, um dem Sagapublikum glaubhaft zu erscheinen. Die kompositorische Motivierung dagegen folgt künstlerischen Prinzipien. Motive können hier metaphorisch oder metonymisch mit größeren Teilen der Handlung verknüpft sein. Diese Form der Motivierung ist für die Isländersagas bisher nicht untersucht worden. Am Beispiel der Motive Diebstahl und Raub soll hier gezeigt werden, dass die Anfänge der Isländersagas konkrete Themen und Motive anlegen, und in manchen Fällen zur kompositorischen Motivierung des Geschehens beitragen können. Dies ist gerade dann bemerkenswert, wenn die Verbrechen kausal keine Folgen nach sich ziehen.3 1 Martinez u. Scheffel 2009, S. 110. 2 Allgemein zu den verschiedenen Arten der Motivierung siehe Martinez u. Scheffel 2009, S. 111–119. Finale und kausale Motivierung in Isländersagas (am Beispiel der Laxdœla saga) streift Liebelt 1993, S. 135. 3 Finale und kompositorische Motivierung treffen sich in den vielen Vorhersagen und Träumen, die sich fast immer bewahrheiten. Diese »rufen […] den Eindruck hervor, dass das Geschehen von unkonhttps://doi.org/10.1515/9783110699265-005

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Anschließend soll auf die weit häufigere Form der kausalen Motivierung eingegangen werden. Dazu wird die Reykdœla saga exemplarisch untersucht, da in keiner anderen Saga so häufig und schematisch gestohlen wird, um Konflikte auszulösen oder voranzutreiben. Eine Sonderform der handlungsauslösenden wie motivierenden Funktion der Verbrechen wird im Anschluss besprochen: Gezielt eingesetzte Diebstähle, die wie Hetzreden dafür sorgen sollen, dass ein Sagaheld einen Konflikt austrägt, um seine Ehre zu verteidigen.

5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga Den expositorischen Kapiteln der Isländersagas ist bisher nur wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. Häufig werden sie aufgrund der in ihnen enthaltenen umfangreichen Genealogien eher negativ beurteilt – und auch wenn ihnen eine gewisse Funktion zugestanden wird, wird der Anfang einer Saga meist als wenig handlungsrelevant eingestuft.4 Einiges Gewicht misst Vésteinn Ólason den expositorischen Kapiteln bei, indem er unterscheidet zwischen dem Beginn einer Saga, der »nichts anderes ist als Vorstellung der Personen und die Vorbereitung des Settings,«5 und der Einleitung einer Saga, »die Kampfhandlungen umfasst, die auf die Haupthandlung hinführen.«6 Der einzige Artikel, der »Beginnings and Endings in the Icelandic Family Sagas«7 umfassender untersucht, stammt von Kathryn Hume, die sich zunächst Anderssons abwertendem Urteil anschließt: [They] apparently give information for information’s sake and are not integral in the sense that they contribute something vital to the later story. They could be dropped without depriving the reader of any hints about things to come.8

Hume argumentiert, dass diese für die Erzählung irrelevanten Anfänge also eine andere Funktion haben müssen und unterscheidet zwei Typen von Sagaanfängen: Zum einen die »colourful anecdote recounted for its own charm or interest«, zum anderen den »historical survey like that in Laxdœla, usually from settlement to the saga generation«.9 Beide Typen umfassen also sowohl Vésteinn Ólassons ›Beginn‹ als auch seine ›Einführung‹. Humes Einschätzung nach könne man keine ästhetischen trollierbaren Kräften bestimmt wird und auf ein unausweichliches Ende zusteuert.« (Vésteinn Ólason 2011, S. 104). 4 Eine Evaluierung der fast ausschließlich negativen Forschungskommentare zu Genealogien bietet Jakob 2016, S. 27–30. 5 Vésteinn Ólason 2011, S. 90. 6 Vésteinn Ólason 2011, S. 90. 7 Hume 1973. 8 Andersson 1967, S. 9. 9 Hume 1973, S. 597.



5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga 

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oder textimmanenten Funktionen ausmachen; die Anfänge erfüllten aber eine »affective function«,10 die es den Rezipienten, den mittelalterlichen Isländern, ermöglicht habe, ihre persönliche Familiengeschichte mit der Siedlergeneration zu verknüpfen.11 Ihre These mag dazu beitragen, das Interesse der Sagas an Genealogien zu erklären,12 verkennt aber, dass die Anfänge der Isländersagas weit mehr als Stammbäume vermitteln. Vielmehr erzählen sie eigene Episoden, deren Handlung nicht nur als Bühne für möglichst viele Figuren verstanden werden darf. Vésteinn Ólason gesteht dem Anfang einer Saga dagegen zu, er gäbe »den Ton vor und stimm[e] auf das Kommende ein.«13 Im Folgenden soll anhand der Beispiele Diebstahl und Raub aufgezeigt werden, dass die Anfänge der Isländersagas nicht nur eine vage ›Einstimmung‹ liefern, sondern ganz konkret durch Handlung und Erzählweise Themen und Motive etablieren, die für die Motivierung des Geschehens bestimmend bleiben und im Hauptteil wiederholt und verhandelt werden. Zudem legen sie auch in ihrer Erzählweise maßgebliche Tendenzen für den weiteren Sagaverlauf offen. Zunächst werden dabei zwei Sagaanfänge besprochen, die zeigen, wie stark der weitere Handlungsverlauf der Saga beeinflusst wird, wenn diese Verbrechen in seiner Exposition eine Rolle spielen.14

5.1.1 Þjófsaugu eru komin í ættir várar – Die Exposition der Njáls saga Kaum eine Definition der kompositorischen Motivierung kommt ohne das sprichwörtlich gewordene Beispiel Čechovs aus, das fordert »wenn man zu Beginn einer Erzählung von einem Nagel in der Wand spreche, müsse sich der Held am Ende der Erzählung an diesem Nagel aufhängen«.15 Diese Forderung vermag das prominenteste Beispiel für die Erwähnung eines Diebes in der Exposition einer Saga innerhalb der literarischsten aller Isländersagas zu erfüllen. Im ersten Kapitel der Brennu-Njáls saga werden die þjófsaugu (»Diebesaugen«) eines Mädchens erwähnt, die zunächst wie der besagte Nagel aus der Erzählung verschwinden, bis sich der strahlende Held der Saga genau an diesem ›aufhängt‹, indem er am Diebstahl der nun erwachsenen Frau zugrunde geht. 10 Hume 1973, S. 601. 11 Vgl. Hume 1973, S. 604. 12 Zur Funktion von Genealogien in Isländersagas siehe auch Jakob 2016, S. 29–31 sowie S. 274–275. 13 Vésteinn Ólason 2011, S. 92. 14 Ebenfalls innerhalb der Exposition der Saga findet der Diebstahl in der Færeyinga saga statt, der in Kap. 4.1.3 besprochen wird. Auch die in Kap. 7.4 besprochenen Enteignungen durch den norwegischen König sollten in diesem Sinn als kompositorisch bedeutsam verstanden werden. 15 Tomasevskij 1985, S.  227–228 zitiert Čechov, ohne eine genaue Quelle zu nennen. Im englischsprachigen Raum ist das Prinzip als ›Čechov’s gun‹ bekannt: Hängt im ersten Akt eine Pistole an der Wand, muss diese irgendwann abgefeuert werden. Ob Čechov im Russischen einen Nagel oder eine Pistole für seinen Vergleich bemühte, war ohne Russischkenntnisse nicht herauszufinden und ist hier auch nicht von Belang.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Die Saga beginnt mit der Vorstellung der Figuren Mǫrðr gígja und seiner Tochter Unnr, wendet sich dann aber westwärts in die Täler des Breiðafjǫrðr. Dort werden die Brüder Hǫskuldr und Hrútr eingeführt, im Anschluss folgt die erste szenisch geschilderte Episode der Saga: Hrútr ist bei Hǫskuldr zu Besuch, und während die beiden Brüder sich unterhalten, spielt Hǫskuldrs hübsche Tochter Hallgerðr mit anderen Mädchen auf dem Boden. Schon hier erfolgt die im Folgenden mehrfach wiederholte Schilderung von Hallgerðrs besonderen Haaren: [H]árit svá fagrt sem silki ok svá mikit, at þat tók ofan á belti.16 Ihr Vater ruft sie zu sich, küsst das Kind und schickt sie zurück. Danach fragt er seinen Bruder, wie ihm das Mädchen gefalle, und wiederholt seine Frage, als Hrútr zunächst schweigt. Hrútr antwortet schließlich: ›Œrit fǫgr er mær sjá, ok munu margir þess gjalda; en hitt veit ek eigi, hvaðan þjófsaugu eru komin í ættir várar.‹17 Hǫskuldr wird über diese Äußerung wütend, und das Verhältnis der beiden Brüder kühlt für eine Weile ab. Innerhalb der Isländersagas wird nur an dieser Stelle von þjófsaugu (»Diebesaugen«) gesprochen,18 eine zweite Erwähnung im altnordischen Korpus findet der Begriff in der Saga af Þorsteini bæjarmagni, einer Vorzeitsaga.19 Hier rennt Þorsteinns heidnischer Gegenspieler beim Anblick eines christlichen Schiffes schreiend durch den Wald und hält sich die Augen zu: Hafði þat saman borit þegar hann sá skip Þorsteins hljóp sá verkr í þjófsaugun á honum at hann sá ei.20 In der gleichen Saga werden zwei analog gebildete hapax legomena verwendet; þjófsnef (»Diebesnase«) und þjófshaka (»Diebeskinn«).21 Andrea Tietz entscheidet sich in ihrer Übersetzung konsequent für eine weite Wortbedeutung des Erstgliedes þjófr als »Gauner, Schurke«, da man nichts über das Vorleben der Figuren wisse, und daher die Bezeichnung ›Dieb‹ unpassend sei.22 Es drängt sich jedoch für beide Sagas die Frage auf, ob und inwiefern sich die bereits erwähnte Vorstellung in ihnen spiegelt, dass der Dieb nicht 16 Nj 1, S. 6; »Ihr Haar war so schön wie Seide, und so lang, dass es bis zum Gürtel hinabreichte.« Auch bei ihrem nächsten Auftritt wird betont: Hon var fagrhár ok svá mikit hárit, at hon mátti hylja sik með. (Nj 9, S. 29; »Sie hatte schönes Haar, und das Haar war so lang, dass sie sich damit einhüllen konnte«). 17 Nj 1, S. 7; »›Schön genug ist dieses Mädchen, und dafür werden viele büßen müssen, aber eines weiß ich nicht: Woher Diebesaugen in unser Geschlecht gekommen sind.‹« 18 Im Hróa þáttr heimska, einer kurzen an König Óláfr den Heiligen gebundenen Erzählung, werden zwar keine Diebesaugen erwähnt, dafür aber der Diebstahl eines Auges. Hrói hat zwei verschiedenfarbige Augen, ein blaues und ein schwarzes. Sein einäugiger Widersacher Þórir wirft ihm vor, er habe ihm eines seiner Augen gestohlen. Hrói setzt sich auf der Verhandlung durch, indem er anbietet, das Auge ebenso herauszuschneiden wie Þórirs verbliebenes Auge und sie aufzuwiegen. So könne man sehen, ob sie tatsächlich ein Paar darstellen. Da Þórir nicht völlig erblinden will, gibt er sich geschlagen (Hróa). 19 Zur Genrezuordnung und für eine Inhaltszusammenfassung siehe Tietz 2012, S. 4–15. 20 Tietz 2012, S. 72; »Dies war gleichzeitig geschehen, dass, als er das Schiff Þorsteinns sah, solch ein Schmerz in seine Schurkenaugen fuhr, dass er nicht mehr sah« (Übers. Tietz 2012, S. 73). 21 Vgl. Tietz 2012, S. 95. 22 Vgl. Tietz 2012, S. 96.



5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga 

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erst durch seine Tat zum Dieb wird, sondern es in seiner ›Natur‹ liegt, ein Dieb zu sein.23 Zwar sind die Sagas entstanden, bevor die Physiognomik konkrete Merkmale bestimmt hat, an denen man einen Dieb erkennen könne,24 die Vorstellung, dass äußere Erkennungszeichen auf den Charakter einer Person schließen lassen, ist ihnen jedoch deutlich eingeschrieben.25 Vornehmlich Augen können einen Blick in das Innerste einer Person oder eines Tieres gewähren.26 Die Behauptung, jemand habe die Augen eines Diebes, zielt damit auf den Kern seines Charakters, und da der Dieb neben dem Mörder den verabscheuungswürdigsten aller Verbrecher darstellt, ist ein mit þjófr (»Dieb«) gebildetes Kompositum entweder wörtlich zu verstehen, oder verstärkend: Es handelt sich nicht um irgendeinen Gauner oder Schurken, sondern um den schändlichsten.27

23 Dies zeigt sich bereits in der Wortbildung, bei der das Verbrechen þjófnaðr sekundär zum Täterbegriff þjófr gebildet wurde. Vgl. Kap. 2.2.1 und von See 1964, S. 10. 24 Zur ›Gestalt des Diebes‹ siehe Schneider 2018. In der Bandamanna saga wird besonders viel Raum auf die äußerliche Beschreibung von Verbrechern verwendet, was als Reflex physiognomischen Wissens und dessen erster Verwendung zur Beurteilung von Verbrechern in den Isländersagas gedeutet wurde, vgl. zusammenfassend Würth 2000, S. 113–115. Zur Verbreitung und Rezeption physiognomischer Schriften im Altisländischen siehe Lönnroth 1963–1964, insb. S. 38–43 sowie Wills 2012, S. 280. Zwar bildeten frühe physiognomische Traktate die Grundlage, auf der später genauere Charakteristika des Diebes entwickelt wurden, sie enthalten aber selbst noch keine Beschreibungen einzelner Verbrechertypen (vgl. Schneider 2018, S. 18–19). Deshalb muss die genaue Datierung der Sagas hier ebenso wenig vertieft werden, wie die Frage, welche Einzelwerke medizinischer Gelehrsamkeit ihren Schreibern zugänglich waren. Lönnroth 1963–1964, S. 49–50 kann anhand des vor Sorge und Kummer anschwellenden Þórhalls, ebenso wie an den Beschreibungen von Hallgerðr, Njáll und Skarphéðinn zeigen, dass der Verfasser der Njáls saga am von der Humoralpathologie und der Temperamentenlehre dominierten medizinischen Diskurs seiner Zeit Anteil hatte. Hallgerðrs Diebesaugen sind in diesem Kontext zu verstehen, wenn sie auch keine direkte Entlehnung darstellen (vgl. Lönnroth 1963– 1964, S. 44). Von eher wissenschafts- und ideengeschichtlichem Interesse ist heute die Diskussion der These von Karl von Amira 1922, der níðingr (zum níð vgl. Kap. 5.3) zeige körperliche Anzeichen seiner ›Degeneration‹, was sich beispielsweise in dieser Szene offenbare. Schon Ström 1942, S. 59–63 lehnte dies ab, da der Dieb zum einen nicht mit dem níðingr gleichzusetzen sei, und zum anderen die Erwähnungen körperlicher Erkennungszeichen ohnehin selten seien. 25 Vgl. Wills 2012 sowie Lönnroth 1963–1964, der auf die beiden verbreiteten Figurentypen des ›hellen‹ und des ›dunklen‹ Sagahelden im Kontext des literarischen und medizinischen Diskurses der Entstehungszeit der Isländersagas eingeht. 26 Vgl. Ranke u. Jankuhn 1973, insb. S. 484–486. Man denke beispielsweise an die durchdringenden, funkelnden Augen der Völsungen oder Szenen, in denen Tiere menschliche Augen besitzen: In Kor 18 wird ein Walross anhand seiner Augen als verwandelte Zauberin identifiziert und auch in Lax 18 hat ein Seehund die Augen eines Menschen, was vermutlich mit dem Wirken des Wiedergängers Hrappr in Verbindung zu bringen ist. 27 Entsprechend ist auch die Parallelisierung von Diebesaugen und Knechtsaugen (þrælsaugu) bei Ranke u. Jankuhn 1973, S. 485 zu relativieren: Zwar sind sicher beide Bezeichnungen im Gegensatz zu positiv-besonderen Augen zu verstehen, doch sollte die extrem negative Konnotation des Begriffs þjófr nicht als Sammelbegriff für Schlechtes im Allgemeinen verwendet werden.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Die Beleidigung könnte daher kaum größer sein: Ein Bruder sagt dem anderen, sein hübsches Kind sei im Innersten ein verachtenswerter Verbrecher. Betrachtet man die Einführung der beiden Brüder, wird dieser Aussage zusätzliches Gewicht verliehen. Während Hǫskuldr keine Figurenbeschreibung erhält, sondern durch eine umfangreiche Genealogie vorgestellt wird, werden bei Hrútr sowohl sein Äußeres als auch seine Charakterzüge beschrieben. Er ist hógværr í skapi, manna vitrastr28 und auch tillagagóðr inna stœrri mála.29 Durch die direkte Figurenrede des auf diese Weise eingeführten Hrútr wird die Charakterisierung Hallgerðrs, verglichen mit einem Erzählerkommentar, besonders aufgewertet. Sie erhält so die Autorität des manna vitrastr, der sich auch im weiteren Verlauf der Erzählung als zuverlässiger Ratgeber erweisen wird.30 Die Verbindung dieses Ausspruchs über Hallgerðrs Diebesaugen mit dem durch sie initiierten Diebstahl in Kapitel 48 ist offensichtlich,31 und wurde bereits mehrfach hergestellt32 – der spätere Diebstahl wird in dieser ersten Szene kompositorisch motiviert. Ebenso bedeutsam erscheinen aber auch die weiteren Details dieser Szene: So eröffnet das Verb gjalda33 bereits ein Bedeutungsspektrum, das in Hallgerðrs Beschreibungen noch häufig aufgerufen wird. Nicht nur auf symbolischer Ebene wird mehrfach für Hallgerðrs Schönheit bezahlt werden müssen, auch ganz konkret werden ihre Reize beträchtliche monetäre Schäden nach sich ziehen.34 Interessant ist auch die Erwähnung ihres Haares in dieser Szene, da somit diese Kinderepisode nicht nur mit dem Diebstahl selbst verknüpft wird, sondern auch mit der Vergeltung der auf den Diebstahl folgenden Ohrfeige:35 Als Gunnarr während seines letzten Kampfes seine

28 Nj 1, S. 6; »von ausgeglichenem Wesen und der Klügste der Männer.« 29 Nj 1, S. 6; »zuverlässig in bedeutenden Angelegenheiten.« 30 Die so verliehene Autorität des Gesagten diskutiert auch Müller 2001 in ihrer feinsinnigen Strukturanalyse der Njáls saga (insb. S. 49). Die Szene bespricht auch Heinrichs 1994 (insb. S. 335–337), interpretiert aber weiter, Hallgerðr könnte dem Gespräch der Brüder gelauscht haben und so die ›erste Enttäuschung‹ ihres Lebens erlebt haben, was zu ihrer negativen Charakterentwicklung beigetragen habe. Wie allerdings Miller 2014a, S.  20 (Fn.  16) richtig anmerkt, wird in der Saga explizit darauf hingewiesen, dass Hallgerðr vor Hrútrs Äußerung zu den anderen Mädchen zurückgeht. 31 Eine ausführliche Diskussion dieses Diebstahls findet sich in Kap. 5.3.2. 32 Vgl. beispielsweise Dronke 1981, S. 14–15; Heinrichs 1994, S. 336. 33 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 198: »1. (be-)zahlen, (als Bezahlung) geben, […] 2. Vergelten, heimzahlen, lohnen 3. entgelten, büßen, leiden für (e-s) […]«. 34 Hierauf verweist erneut Hrútr bei Hallgerðrs erster Hochzeit in einem Rat an seinen Bruder: ›Kostr mun þér af tómi at eyða fé þínu fyrir Hallgerði, ok lát hér staðar nema.‹ (Nj 10, S. 33; »›Du wirst noch reichlich Gelegenheit haben, dein Vermögen für Hallgerðr zu verschwenden, belass es dieses Mal dabei.‹«) Auch Njáll warnt Gunnarr derart vor der Ehe mit Hallgerðr: ›[E]n þó munt þú jafnan bœta fyrir henni.‹ (Nj 33, S. 87; »›Und du wirst doch immer für sie büßen (bzw. Buße zahlen) müssen‹«). 35 Auch die Ohrfeige findet in der Kinnberührung dieser Szene eine Parallele, vgl. Sayers 1994, S. 6–7. Sayers verbindet Hallgerðrs Haar außerdem mit dem Heu, das Gunnarr später kaufen wird und dem Dung, den Njáll kultiviert.



5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga 

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Bogensehne reißt, bittet er Hallgerðr um eine Strähne eben dieses Haares, die sie ihm aus Rache verweigert, wodurch sein Tod unausweichlich ist.36 Die Struktur der Brennu-Njáls saga wurde häufig diskutiert. Auch, welche Kapitel zu ihrer Exposition zu zählen sind, lässt sich nicht zweifelsfrei festlegen.37 Hier soll Hrútrs Norwegenfahrt und die daraus resultierenden Folgen als Ende der Exposition betrachtet werden, analog zu den ›norwegischen Vorgeschichten‹38 anderer Isländersagas. Auch textintern ist hier die deutlichste Zäsur markiert, indem Kapitel  8 mit den Worten endet ok er nú lokit þætti þeira Marðar.39 Die Episode beginnt mit Hrútrs Verlobung mit Mǫrðrs Tochter Unnr. Kurz darauf muss er nach Norwegen segeln, um sein Erbe zurückzufordern, das Sóti in Gewahrsam hält. Die Königsmutter G ­ unnhildr schickt einen Boten zu Hrútr, der ihm ihre Unterstützung anbietet; schon dieses Angebot wird im Geheimen – af hljóði – überbracht. Hrútrs Begleiter Ǫzurr rät, man müsse unbedingt auf dieses Angebot eingehen, da Gunnhildr sie sonst aus dem Land jagen werde, ›en taka fé okkat allt með ráni‹.40 Gunnhildr schickt Hrútr zunächst zum König – fyrir orðs sakir.41 Somit erreicht sie, dass der König Hrútr für einen halben Monat in ihre Obhut gibt, danach soll er in des Königs Gefolge aufgenommen werden. Die beiden verbringen zwei Wochen gemeinsam im Schlafgemach der Königin, ihrer Gefolgschaft legt sie Verschwiegenheit auf: Þér skuluð engu fyrir týna nema lífinzu, ef þér segið nǫkkurum frá um hagi vára Hrúts.42 Im Frühjahr erfährt Hrútr, dass Sóti sich mit seinem Erbe nach Dänemark davongemacht hat und wird von Gunnhildr und dem König mit je zwei Langschiffen und Mannschaft ausgestattet, um die Verfolgung aufzunehmen. Auf dem Weg nach Süden treffen sie auf Atli, der sowohl vom Schweden- als auch vom Dänenkönig af ránum ok manndrápum43 geächtet wurde. Es folgt der erste große Kampf der Brennu-Njáls saga, aus dem Hrútr siegreich und mit stattlicher Beute hervorgeht: Þar tóku þeir fé mikit ok hǫfðu með sér tvau skip, þau er bezt

36 Vgl. Cook 2008, S. 24. Siehe auch Kap. 5.3.2. 37 Man könnte sowohl nur ihr erstes Kapitel als Exposition betrachten als auch für zwei weitere Einschnitte als Beginn der Haupthandlung argumentieren: Das Ende der Ehe von Unnr und Hrútr, das die Norwegenepisode zum Abschluss bringt (Kapitel 8), oder die Einführung der Protagonisten Gunnarr und Njáll in den Kapiteln 19 und 20. Da aber auf Unnrs Scheidung von Hrútr die Schilderung der ersten Ehe Hallgerðrs folgt, die kompositorisch eng mit ihren folgenden Ehen, insbesondere der mit Gunnarr von Hlíðarendi, verknüpft sind, wird diese hier dem Hauptteil zugerechnet. 38 Siehe Kap. 7.4. 39 Nj 8, S. 29; »und damit ist der Abschnitt über ihn und Mǫrðr abgeschlossen«. Eine Fußnote in der Edition weist zudem darauf hin, dass alle Handschriften außer der Reykjabók hier den Begriff þáttr verwenden, die Reykjabók verwendet þrætum (von þræta, f. »Widerspruch, Auseinandersetzung, Zwist, Streit«, vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 786). Vgl. auch Müller 2001, S. 48. 40 Nj 3, S. 12; »›und all unser Vermögen durch Raub an sich nehmen würde‹«. 41 Nj 3, S. 13; »wegen des Geredes«. 42 Nj 3, S. 15; »Es wird euch nichts außer euer Leben kosten, wenn ihr jemanden etwas über die Umstände zwischen mir und Hrútr sagt.« 43 Nj 5, S. 17; »wegen Raubüberfällen und Totschlägen«.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

váru […].44 Sóti gelingt es währenddessen, an ihnen vorbei zurück nach Norwegen zu segeln, wo er den Männern der Königin in die Arme läuft: Sie lässt ihn aufhängen und nimmt das Erbe an sich. Als Hrútr zurückkehrt, teilt er seine Beute und das Erbe mit dem König und der Königin, danach möchte er nach Island zurückkehren und belügt Gunnhildr, als sie ihn fragt, ob dort eine Frau auf ihn warte. Bei ihrem Abschied streift Gunnhildr Hrútr einen Goldring über den Arm und verhängt einen Fluch über ihn: Mit jeder Frau soll er seinen Willen haben können, nur mit jener nicht, die auf Island auf ihn warte. Als Grund fügt sie an, er habe ihr nicht vertraut: ›[Þ]ú trúðir mér eigi til málsins‹45. Gunnhildrs Fluch bewahrheitet sich und wird zum Scheidungsgrund für Unnr; wann immer Hrútr sich ihr nähert, schwillt sein Penis derart an, dass sie keine Freude aneinander finden können. Die Bedeutung dieser Exposition für den weiteren Verlauf der Erzählung ist in der Forschungsdiskussion umstritten. Sie wurde einerseits als marginal beurteilt, andererseits aber auch als modellbildend für alle weiteren Reisen der Saga interpretiert, und damit als zentrales Strukturelement gewertet.46 Da die erzählte Zeit der Njáls saga erst einige Generationen nach der Besiedelung einsetzt, lässt sich diese Episode nicht direkt mit anderen Expositionskapiteln in Norwegen vergleichen.47 Ein Aufenthalt des isländischen Protagonisten am norwegischen Königshof gehört allerdings zum Standardrepertoire der Isländersagas, bei der Beschreibung von Hrútrs Reise werden die bekannten Elemente dieser Episode variiert und invertiert, was für die ganze Saga als symptomatisch gelten kann: »Its skin glistens with a myriad themes, all familiar, yet all precisely different from any seen elsewhere.«48 Allgemein betrachtet gibt diese Episode damit vor, was für die ganze Erzählung zu erwarten ist; ein raffiniertes Spiel mit gängigen Erzählmustern und Gattungskonventionen. In Bezug auf die Verbrechen Diebstahl und Raub ist es bemerkenswert, dass nach den þjófsaugu des ersten Kapitels in der Norwegenepisode zweifach das Verbrechen rán genannt wird. Dieses Gegensatzpaar wird durch die Kontrastierung von ›Heimlichkeit und Lüge‹ vs. ›Offenheit und Ehrlichkeit‹ erweitert und bleibt für die Brennu-Njáls saga bestimmend.49 Zu Beginn seines Aufenthalts steht Hrútr vor der Wahl, entweder Gunnhildr und der von ihr geforderten Heimlichkeit zuzustimmen, oder den Verlust seines Vermögens zu riskieren. Dabei wird das durch seine Offenheit gekennzeichnete Verbrechen rán eingesetzt, um die Dichotomie zu eröffnen: Gunnhildr fordert heimlichen Gehorsam, 44 Nj 5, S. 18; »Dort nahmen sie große Beute an sich, und auch die beiden besten Schiffe«. 45 Nj 6, S. 21; »›Du hast mir in deinen Worten nicht vertraut‹«. Auch Müller 2001 (S. 56) wertet diesen Vertrauensbruch als Auslöser des Fluches. 46 Vgl. Allen 1971, S. 85–86 sowie Hieatt 1989, S. 278–279. 47 Vgl. Kap. 7.4. 48 Dronke 1981, S. 3. Siehe auch Sauckel 2016. 49 Auch O’Donoghue 1992 interpretiert die Funktion des Aufenthalts als Mittel zur Etablierung eines Themas, legt den Schwerpunkt aber auf den Machtkampf zwischen den Geschlechtern: »The saga opens with a profound and subtle exploration of power shifting between a man and a woman in sexual and social relationships« (S. 92).



5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga 

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oder wird offen angreifen, en taka fé okkat allt með ráni.50 Hrútrs Befürchtung ist besonders bemerkenswert, da ein offenes rán nur an dieser Stelle als mögliche Handlungsweise für eine Frau von den Figuren erwähnt wird; Frauen werden in den Isländersagas ansonsten eher mit heimlichen þjófnaðr in Verbindung gebracht.51 Als Hrútr sich fügt, schickt sie ihn zunächst zu ihrem Sohn, dem König, fyrir orðs sakir,52 was zusammen mit dem folgenden Verschwiegenheitsbefehl an ihren Haushalt erneut den Gegensatz zwischen der geheimen Natur ihres Vorhabens und der Darstellung in der Öffentlichkeit unterstreicht.53 Als wesentlich traditioneller ist dagegen Hrútrs Begegnung mit dem Räuber und Totschläger Atli zu bewerten. Dieser wird durch seine Verbrechen und seine doppelte Ächtung als Antagonist eingeführt, den der Held Hrútr besiegen muss, um sein Vermögen und seinen Ruhm zu mehren. Hrútr besteht die Probe und kommt siegreich zurück, wenn auch Gunnhildr diejenige ist, die seinen eigentlichen Gegner Sóti besiegt und ihm damit seine Erbschaft verschafft. Ungewöhnlicher ist dagegen der Fluch, den Gunnhildr Hrútr beim Abschied auferlegt: Sie bestraft damit explizit seine Unehrlichkeit,54 und nicht die Tatsache, dass es eine andere Frau auf Island gibt: ›[Þ]ú trúðir mér eigi til málsins.‹55 Bevor sie ihren Fluch ausspricht, streift sie Hrútr einen goldenen Armring über. Diese Geste ist durch die Schilderung des Überstreifens stärker markiert als ein einfaches Geschenk, und korrespondiert mit dem Auferlegen des Fluches.56 Hrútrs Lüge zieht damit katastrophale Konsequenzen nach sich, und scheint dazu zu führen, dass Hrútr im folgenden Verlauf größten Wert auf Offenheit und Ehrlichkeit legt, beispielsweise, als er ungefragt und schonungslos Hallgerðrs Fehler beschreibt, als Gunnar um sie wirbt (Nj 33). Das Thema ›Offenheit vs. Heimlichkeit‹ tritt zunächst zurück und taucht erst wieder auf, als die Fehde der beiden Ehefrauen Hallgerðr und Bergþóra geschildert wird. Der Zusammenhang beider Episoden wird verbal markiert, indem erneut das Verbrechen rán unterstellt und mit Heimlichkeit kontrastiert wird.57 Sowohl die beiden Verbrechen als auch die eröffnete Dichotomie verweisen damit proleptisch auf das spätere Geschehen.

50 Nj 3, S. 12; »›Und all unser Vermögen durch Raub an sich nehmen‹«. 51 Siehe Kap. 5.3. Als Mutter des Königs ist Gunnhildr allerdings auch eine außergewöhnlich mächtige Frau. 52 Nj 3, S. 13; »wegen des Geredes«. 53 Für eine ausführlichere Interpretation des Verhältnisses zwischen Gunnhildr und Hrútr siehe beispielsweise Dronke 1981, S. 5–11. Dort wird die Heimlichkeit als »echoes of the taboo of the supernatural mistress« (S. 7) interpretiert und zu Recht darauf hingewiesen, dass das Verhältnis insgesamt als einvernehmliche Romanze beschrieben wird. 54 Vgl. Fleming 2004, S. 4. 55 Nj 6, S. 21; »›Du hast mir in deinen Worten nicht vertraut‹«. 56 Allerdings kann ein Zusammenhang zwischen Gegenstand und Fluch nur als Interpretationsmöglichkeit angedacht werden, da nicht weiter auf den Armring eingegangen wird. 57 Siehe Kap. 5.2.2.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

5.1.2 Schemaetablierung in der Reykdœla saga Erzählerisch weit weniger subtil wird in der Exposition der Reykdœla saga ok VígaSkútu vorgegangen. Diebstahl und Raub gehören in dieser Saga zum Repertoire der Antagonisten und werden in nahezu allen Konflikten eingesetzt. In ihrem ersten Teil58 reihen sich verschiedene Auseinandersetzungen aneinander, mit denen der Gode Áskell zu ringen hat. Die erste Episode behandelt den Unruhestifter Eysteinn und dessen drei Konflikte mit verschiedenen Angehörigen Áskells.59 Anderssons Analyse der simplen Struktur und des repetitiven Charakters der Konflikte kann dabei nur zugestimmt werden,60 nicht aber seiner Bewertung der Exposition als funktionslos: The opening three chapters have no visible connection with the saga and no function other than introducing Áskell and his family in a dramatic way. The feud with Eysteinn máni does not lead into or foreshadow the feud between Vémundr kǫgurr and Steingrímr.61

Im Gegenteil dient der erste Konflikt der Saga zur Etablierung eines narrativen Schemas und zur Illustration verschiedener Varianten im Umgang mit Raub und Diebstahl; dabei wird aufgezeigt, wie seine zunehmende familiäre Nähe zu den Dieben den Goden Áskell trotz aller Bemühungen daran hindert, dauerhaften Frieden zu bewahren.62 Die Episode beginnt mit der Figureneinführung Eysteinns, der ein ójafnaðarmaðr mikill63 ist. Sein Nachbar Mýlaugr ist ein wohlhabender und geiziger Mensch. Mýlaugr möchte Eysteinn kein Holz verkaufen. Dies veranlasst Eysteinn dazu, sich die vier begehrten Wagenladungen Holz einfach zu nehmen. Zunächst wird der neutrale Ausdruck hafði með sér heim64 verwendet und weiter erklärt, er habe schon oft Holz von Mýlaugr erhalten, es aber nie bezahlt. Mýlaugr beschwert sich bei Hávarðr, der sich wiederum Unterstützung bei seinem Verwandten holt, dem Goden Áskell. Áskell nimmt sich der Sache an und spricht mit Eysteinn. Dieser unterwirft sich Áskells Schiedsspruch, da der Gode als rechtschaffener Mann gilt. Er spricht Mýlaugr so viel Holz zu, wie geraubt wurde und dazu zwölf Øre Silber fyrir sakastaði.65 Es wird 58 Die Saga gliedert sich in zwei deutlich erkennbare Teile: Die Streitigkeiten, die zum Tod des Goden Áskells führen (Reyk 1–16) und die Rache für den Tod Áskells durch seinen aus dem Ausland zurückgekehrten Sohn Víga-Skúta (Reyk 17–30). 59 Auch Andersson 1967, S. 265–266 wertet diese Episode als »introduction« der Saga. 60 Vgl. Andersson 1967, S. 268–271. 61 Andersson 1967, S. 270. 62 Eine narrative Funktion gesteht auch Joanne Shortt Butler 2016, S. 96 der Exposition der Saga zu: »This episode may be read as a warning both to the audience and to Áskell: his nephews will bring him trouble.« 63 Reyk 1, S. 153; »großer Unruhestifter«. Zum ójafnaðarmaðr als Figurentyp vgl. Shortt Butler 2016 sowie Kap. 6. 64 Reyk 1, S. 153; »nahm [es] mit sich nach Hause«. 65 Reyk 1, S. 153; »wegen des Klagegrunds.«



5.1 Diebstahl und Raub in der Exposition einer Isländersaga 

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bezahlt, und doch ist Eysteinn unzufrieden und stellt in Aussicht, er werde sich nicht erneut Áskells Spruch unterwerfen. Ein ähnliches Verhalten wiederholt sich bereits im selben Kapitel, als Áskells Neffe Þorsteinn ins Land kommt und sich sogleich bei einem Handel mit Eysteinn überwirft. Dieser verweigert Þorsteinn die Bezahlung und wird deswegen von ihm zum Holmgang gefordert. Þorsteinn gewinnt den Kampf und bekommt die ausstehende Bezahlung sowie drei Mark Silber. Eysteinns Bein lahmt nach diesem Kampf, Þorsteinn dagegen gewinnt an Ansehen. Eysteinn freundet sich nun scheinbar mit einem Neffen des Goden Áskell an, Háls Fjǫrleifarson. Als Bjǫrn, ein Verwandter Háls’, ins Ausland fahren will, bittet er Eysteinn um Unterstützung. Er scheint zu ahnen, dass er für diese Unterstützung einen hohen Preis bezahlen müssen wird und stellt schon zu Beginn des Gesprächs klar, er wolle nicht für ihn zum Meuchelmörder werden ([e]igi kvazk hann flugumaðr vilja vera).66 Stattdessen schlägt ihm Eysteinn vor, er solle 15 seiner Schafe zu Háls treiben ›ok þó með leynd, á þessarri nóttu, ok setja þar inn ok byrgja, en kasta vǫttum þínum ok staf hjá vǫkinni þar á tjǫrninni.‹67 Bjǫrn tut wie ihm geheißen und bekommt von Eysteinn die Mittel, um ins Ausland zu fahren. In einem Erzählerkommentar wird der Sinn dieses Vorgehens erklärt: Seine Habseligkeiten sollte er dort lassen, damit die Leute denken, er sei ertrunken. Am nächsten Tag bricht Eysteinn zur Hausdurchsuchung auf, findet natürlich seine 15 Hammel bei Háls und verlangt das Selbsturteil von ihm. Der will sich nicht darauf einlassen und bittet Áskell um Hilfe. Áskell beschließt, Háls und sein Bruder Vémundr sollen ausfahren, und fügt an, es sei ihnen mit Eysteinn nun so ergangen wie anderen zuvor. Im Folgenden wird die Meinung ›der Leute‹ besonders ausführlich geschildert: Nú er eigi langt at bíða, áðr en fréttisk hvarf Bjarnar, ok þótti mǫnnum þat með undarligu móti vera. Ætluðu margir, at þat myndi hafa saman borit, hvarfit Bjarnar ok sauðanna Eysteins, kváðu þat nǫkkut íhugavert ok óreynt, [því] at eigi væri ørvænt við féþurft Bjarnar [ok] grunnsæi, en við slœgð Eysteins ok illgirni, þeir myndi með nǫkkuru móti hafa verit báðir at einu ráði, tǫluðu eigi ólíkligt, at þann veg myndi Eysteinn helzt mega þykkjask reka svívirðingar sinnar, er hann fekk af Þorsteini bolstǫng, at láta frænda hans verða fyrir þvílíku ámæli sem meir myndi þykkja líkligt vera, at Háls fengi af þeim hlut. Þótti þat ok undarligt, ef hann fœri svá djarfliga með ok gengi svá gegnt at um rannsóknina, nema hann vissi nǫkkut til áðr. Nú ferr málit til þings, ok lauk því svá, at Háls varð sekr um sauðatǫkuna, fyrir því at Áskell vildi eigi svara fyrir hann.68

66 Reyk 2, S. 156; »er sagte, er wolle nicht zum Meuchelmörder werden«. 67 Reyk 2, S. 156; »›aber im Geheimen, in dieser Nacht. Treib sie dort hinein und schließ sie ein, aber wirf deine Handschuhe und deinen Stock neben das Loch dort auf dem (gefrorenen) See.‹« 68 Reyk 2, S. 157; »Nun dauerte es nicht lange, bis Bjǫrns Verschwinden bekannt wurde, und dies den Leuten wunderlich erschien. Viele meinten, es müsse einen Zusammenhang geben zwischen dem Verschwinden Bjǫrns und der Schafe Eysteinns, und sie fanden es auffällig und ungeprüft, denn es wäre nicht unwahrscheinlich, bei Bjǫrns Armut und Einfältigkeit, und mit Eysteinns List und Bosheit, dass sie beide irgendwie nach einem Plan gehandelt hätten. Und sie sagten, es sei nicht unwahrscheinlich, dass Eysteinn gedacht habe, seine Schmach, die er von Þorsteinn bolstǫng erhalten habe, am besten ausgleichen zu können, wenn er seinem Verwandten eine so schlimme Verleumdung anhänge, wie

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Bjǫrn trifft auf seiner Reise seine Verwandten, Háls und Vémundr. Diese bringen ihn dazu, ihnen die Wahrheit über die 15 Schafe und seine Machenschaften mit Eysteinn zu gestehen. Sie nehmen ihn als Gefangenen mit nach Island und verstecken ihn, bis Áskell sich der Sache annehmen kann. Áskell sammelt Mannschaft und reitet zu Eysteinn, um seine Anklage zu erheben. Trotz der Aussage Bjǫrns leugnet Eysteinn alles und wird von Áskell wegen Verleumdung vor das Allthing gebracht: Áskell lét nú stefna Eysteini um illmæli þat, sem hann hafði við Háls um sauðatǫkuna til alþingis. Engir menn urðu til at svara fyrir Eystein, ok nú verða þær málalykðir, at Eysteinn varð sekr.69 Áskell reitet sogleich los, um den Geächteten zu töten. Der aber ergreift drastische Maßnahmen und lässt all sein Vieh und seine Dienstleute zusammentreiben um sie alle in den Ställen zu verbrennen. Es werden zwei Möglichkeiten angegeben, was mit ihm selbst passiert sein könnte: Einige Leute sagen, er sei ebenfalls verbrannt, andere dagegen, er sei nach Dänemark entkommen.

ójafnaðarmaðr

Konflikt 1

befreundeter Nachbar

Áskell

1. Diebstahl 2. Schiedsspruch durch Áskell 3. Zustimmung, aber Unzufriedenheit Konflikt 2

Neffe 1, Þorsteinn

1. Bezahlung verweigert 2. Sieg durch Holmgang, ohne Áskell 3. Verwundung des ójafnaðarmaðr Bjorn

Konflikt 3

Neffe 2, Háls

1. untergeschobener Diebstahl 2. Verleumdungsklage durch Áskell 3. (möglicher) Tod des ójafnaðarmaðr Abb. 3: Das narrative Schema der Exposition der Reykdœla saga (eigene Darstellung).

In dieser Episode werden verschiedene Steigerungen durchgespielt: Áskell ist zunächst nur freundschaftlich mit dem Bestohlenen verbunden, im zweiten Fall ist

viele dachten, dass Háls sie von dieser Sache zurückbehalte. Man fand es auch wunderlich, dass er so rücksichtslos vorgegangen und so zielstrebig bei der Hausdurchsuchung verfahren sei, außer er habe vorher Bescheid gewusst. Nun kam die Klage vor das Thing, und es ging so aus, dass Háls wegen Schafdiebstahls geächtet wurde, da Áskell nicht für ihn eintreten wollte.« 69 Reyk 2, S. 159; »Áskell ließ nun Eysteinn wegen der Verleumdung vor das Allthing laden, die er über Háls’ Schafdiebstahl vorgebracht hatte. Niemand wollte für Eysteinn eintreten und nun endete die Sache damit, dass Eysteinn geächtet wurde.«



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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bereits einer seiner Neffen beteiligt. Auch im dritten Konflikt ist ein Neffe der Geschädigte, die Situation verschärft sich aber, da mit Bjǫrn nun auch auf der Gegenseite ein Verwandter Áskells beteiligt ist. Die drei Auslöser variieren nur leicht (1. Diebstahl; Bezahlung verweigert; untergeschobener Diebstahl), bei den Lösungsstrategien werden drei Möglichkeiten aufgezeigt (2. Schiedsspruch durch Áskell; Holmgang ohne Áskells Rat; Klage durch Áskell). Beim Resultat des Konflikts ist ebenso wie beim Verwandtschaftsgrad eine deutliche Steigerung zu erkennen (3. Zustimmung und Unzufriedenheit; Verwundung; Tod). Die Exposition Reykdœla saga ok Víga-Skútu ist kompositorisch eng mit den folgenden Episoden verbunden. Sie zeigt ein Schema auf, das noch für fünf weitere Diebstähle oder Diebstahlsvorwürfe zur Anwendung kommen wird: Ein Störenfried eignet sich etwas unrechtmäßig an und Áskell tritt als Friedensbewahrer in Erscheinung (obwohl teilweise versucht wird, ihn herauszuhalten). Áskells familiäre Verstrickungen erschweren dies zunehmend, da seine Familienangehörigen den Dieben immer näherkommen. Sein Neffe Vémundr stellt sich dabei – wie vor ihm Bjǫrn – zunächst auf die Seite eines unbeteiligten Diebes und stiehlt schließlich selbst. Wie der hier eingeführte Eysteinn fügt sich auch Vémundr zunächst den Schiedssprüchen seines mächtigen Onkels, doch wird bei beiden Figuren ihre Unzufriedenheit betont, die einen andauernden Frieden verhindert. Damit tritt Vémundr selbst an die Stelle des ójafnaðarmaðr, was unweigerlich zur Eskalation führt, in deren Folge Áskell getötet wird. Áskells ursprüngliche Rolle als Berater des bestohlenen Opfers nimmt Eyjólfr Valgerðarson ein, der zum Schlichtungspartner für Áskell wird. Die Einleitung der Saga ist damit keineswegs als funktionslos zu betrachten. Im Gegenteil etabliert sie ein narratives Schema, das im Laufe der Saga noch häufig zum Einsatz kommt und nur leicht variiert wird.70

5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser Die augenfälligste narrative Funktion der beiden Verbrechen Diebstahl und Raub ist sicherlich ihr handlungsauslösender, kausal motivierender Charakter. Wie bereits besprochen, handelt es sich um Verbrechen, die innerhalb der Vorstellungswelt der Isländersagas unbedingt eine Reaktion fordern und normalerweise nicht unbeantwortet bleiben. Diese narrative Sprengkraft wird in den Erzählungen unterschiedlich eingesetzt: Mal als scheinbar harmloser Funke, der unbeabsichtigt weit größere Explosionen verursacht als abzusehen war, mal als gezielte Provokation, die eine Figur aus der Reserve locken soll. Ob tatsächlich etwas gestohlen oder geraubt wurde, ist dabei nicht immer von Belang, da ein unberechtigter Diebstahlsvorwurf als schwere Verleumdung gewertet wird.

70 Vgl. Kap. 5.2.1.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Die handlungstreibende Funktion des Diebstahls ist in keiner Isländersaga so prominent wie in der Reykdœla saga, die aus diesem Grund hier erneut exemplarisch und ausführlich besprochen werden soll. Nur an wenigen anderen Stellen werden die Folgen der Eigentumsdelikte so deutlich hervorgehoben. In vielen anderen Sagas haben Eigentumsdelikte zwar weitreichende Folgen, ›verschwinden‹ aber aus der Erzählung.71 Folgenreich aber nahezu vergessen ist etwa der Raub an Eiríkr dem Roten: Er leiht einem gewissen Þorgestr Sitzplanken (an. setstokkar)72 und bekommt sie nicht zurück, als er danach verlangt. Als Eiríkr sie sich wiederholen möchte, entbrennt ein Kampf, der einige Tote fordert. Für diese Totschläge wird Eiríkr geächtet, was direkt zur Besiedlung Grönlands führt. Der Raub dient hier als Baustein zur kausalen Motivierung der allgemein bekannten Ächtung des Protagonisten.73 Außerdem schwingt in der Besiedelungsgeschichte Grönlands damit ein leises Echo des Besiedelungsmythos Islands mit: Wie die ersten Siedler Norwegen verlassen, da sie sich nicht vom norwegischen König ›berauben‹ lassen wollen, treibt auch Eiríkr eine Eigentumsstreitigkeit in ein neues Land.74 Nur einmal innerhalb der Isländersagas hat ein Diebstahl Konsequenzen für die Handlung, obwohl, – oder gerade weil, – er unentdeckt bleibt: In der Heiðarvíga saga werden Pferde gestohlen, und zum richtigen Zeitpunkt zurückgegeben, um einen Verbündeten zu gewinnen und einen guten Vorwand zu haben, mehrfach auf einem anderen Hof ›nach dem Rechten‹ zu sehen. Der erste Teil der Saga ist nur noch in einer Paraphrase aus dem 18. Jahrhundert erhalten, sodass der Handlungsstrang um zwei verschwundene Pferde recht unvermittelt einsetzt.75 Offenbar waren auf dem letzten Thing die Pferde von Þórðr von Breiðavið verschwunden. Sie finden sich auf dem Hof des Protagonisten Barði. Dessen Ziehvater Þórarinn rät Barði, Þórðr die Pferde zurückzubringen, und keine Belohnung dafür anzunehmen. Þórarinn enthüllt seinem Ziehsohn, dass die Pferde auf seine Anweisung hin verschwunden seien: ›En því lét ek hesta þessa taka, at mér þótti þetta merkiligra, at spyrja eptir hestum þessum en dusilhrossum, ok hefi ek opt senda menn til Borgarfjarðar suðr í sumar at spyrja eptir þeim; þótti mér þat vera merkiligt ørendi, ok vættir mik, at eigi myndi í þat ráðit. Ok nú hefi ek sendan mann af nýju suðr, ok mun sá sunnan koma á morgin ok segja tíðendi sunnan ór heraðinu.‹76 71 Vgl. Kap. 4.1. 72 Dieser Begriff ist schwer zu übersetzen. Es handelt sich nach Baetke (Hrsg.) 2008, S. 527 um den »Abschlussbalken am set gegen die Raummitte«. Das set wiederum ist die »Seitenbühne, podestartige Erhöhung an den beiden Längsseiten des Raumes, zum Sitzen u. Schlafen dienend«. 73 Eir 2, noch kürzer in der Grœnlendinga saga: Hann léði Þorgesti á Breiðabólstað setstokka ok náði eigi, er hann kallaði til. Þaðan af gerðusk deilur ok bardagr með þeim Þorgesti, sem segir í sǫgu Eíriks (Grœn 1, S. 16; »Er lieh Þorgestr von Breiðabólstaðr seine Sitzplanken, und bekam sie nicht zurück, als er danach fragte. Deswegen kam es zu Auseinandersetzungen und Streit zwischen ihm und Þorgestr, wie in der Saga von Eírikr berichtet wird«). 74 Vgl. Kap. 7.4. 75 Zur Überlieferungssituation der Saga siehe Kap. 5.3.1. 76 Hvs 20, S. 272–273; »›Und ich ließ die Pferde deshalb nehmen, da es mir geschickter vorkam, nach



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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Als Barði die Pferde zurückbringt, bietet Þórðr ihm eine Belohnung an. Wie besprochen lehnt Barði das Angebot ab, und erklärt dem Eigentümer, dass er keine Belohnung annehmen wolle, da ihn derjenige, er hestan hafði heimta,77 so angewiesen habe. Stattdessen solle Þórðr sein Freund sein, wenn es nötig werde. Der Plan geht auf: Þórðr kämpft im Hochlandkampf auf Barðis Seite. Merkwürdig bleibt, dass Þórðr nicht nach der Identität des Diebes fragt, wenn diese dem Finder der Pferde offenbar bekannt ist. Von dieser Ausnahme abgesehen, müssen heimliche Taten irgendwann sichtbar gemacht werden, um nicht wirkungslos zu verklingen. Ein perfekter Diebstahl produziert naturgemäß keine erzählenswerten Geschichten, weshalb er zum richtigen Zeitpunkt offengelegt werden muss. Neben den schematischen Diebstählen der Reykdœla saga sollen hier gezielte Provokationen, Geduldsproben und Fälle von Verleumdung besprochen werden, da es für die handlungsauslösende Funktion des Diebstahls gleichgültig ist, ob tatsächlich ein Verbrechen begangen wurde, oder nicht.

5.2.1 Die Diebstähle der Reykdœla saga Wie bereits gezeigt,78 stehen drei Diebstähle am Beginn der Reykdœla saga, die der mächtige Gode Áskell bereinigen muss. Im weiteren Verlauf der Saga fällt dies immer schwerer, da ihm die Diebe verwandtschaftlich zunehmend näherstehen. Direkt nach dem Verschwinden des ersten Schurken Eysteinn tritt mit Hánefr ein weiterer Dieb in Erscheinung, der sich an Áskells Neffen Vémundr wendet, um den Konsequenzen seines Verbrechens zu entrinnen. Vémundr wird Áskell mehrfach in Schwierigkeiten bringen, schon seine Vorstellung erinnert an den ójafnaðarmaðr Eysteinn aus der Exposition: Vémundr var engi jafnaðarmaðr kallaðr.79

diesen Pferden zu fragen, als nach erbärmlichen Gäulen. Und in diesem Sommer habe ich oft Männer in den Borgarfjǫrðr nach Süden geschickt, um nach ihnen zu fragen. Dies erschien mir ein bemerkenswerter Vorwand zu sein, und ich glaube nicht, dass jemand Verdacht geschöpft hat. Und nun habe ich erneut einen Mann in den Süden geschickt, und dieser wird morgen aus Süden kommen und uns Neuigkeiten aus dem Gebiet bringen.‹« Innerhalb der Rachevorbereitungen Barðis nimmt Þórarinn mehrfach den Part des listenreichen Ratgebers ein. Zu Struktur und Aufbau der Episode und den Stellenwert der verlorenen Pferde im narrativen Gefüge der Saga vgl. Andersson 1967, S. 147–50, Clover 1982b, S. 79–80 sowie Shortt Butler 2018, S. 4–7. 77 Hvs 21, S. 273; »der die Pferde zu sich geholt habe«. 78 Vgl. Kap. 5.1.2. 79 Reyk 4, S. 160; »Vémundr wurde nicht als vernünftiger Mann bezeichnet.« Siehe auch Shortt Butler 2016, S. 96, die ebenfalls die steigende Nähe zu Áskell betont: »An ójafnaðarmaðr outside the family is one thing; the implication of there being ójafnaðr within the protagonist’s family is another situation entirely.«

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Auch die Figureneinführung Hánefrs verspricht nichts Gutes: Hánefr hét maðr. […] Fátt verðr frá honum vel sagt í þessarri sǫgu, ok var hann óorðsæll maðr.80 Hánefr ist der Ziehvater einer Tochter Vémundrs und damit näher mit dessen Familie verbunden, als der Nachbar aus der Exposition. Er nimmt den Knecht Þorleifr bei sich auf; kurz darauf heißt es, Hrafn, ein angesehener Bauer im Bezirk, vermisse 16 Schafe, ok spurði ekki til, ok þóttusk menn eigi vita, hvat af var orðit.81 Der Knecht bemerkt, dass Hánefr sehr oft nachts sein Bett verlässt und wird neugierig. Er folgt seinem Herrn und stürzt in der Dunkelheit, wobei er sich an der Hand verletzt. Als er das Blut an seiner Hand bemerkt, sieht er sich genauer um und tastet sich vorwärts. Dabei entdeckt er einen versteckten unterirdischen Gang, der mit Reisig bedeckt ist. Er stößt auf Schaffelle und einen Schafskopf, ok var þat mjǫk auðkennt.82 Er nimmt beides mit sich und verschließt den Gang wieder. Er nimmt Rauch wahr, und entdeckt danach ein Feuer, über dem ein Kessel hängt – dort sitzt sein Herr Hánefr. Der Knecht geht zu ihm und lætr illa at Hánef, er hann er at slíku um nætr.83 Hánefr redet sich heraus und bittet Þorleifr, sich zu ihm zu setzen. Dieser begreift, was vor sich geht und trennt sich von seinem Herrn, da er mit dessen verdächtigen Machenschaften nichts zu tun haben möchte. Der Knecht Þorleifr geht mit dem Schafskopf zu Hrafn, zeigt ihn aber zuerst nicht her. Sie unterhalten sich über den Schafdiebstahl, der Knecht bleibt aber vage in seinen Antworten. Erst als Hrafn nachfragt, ob Þorleifr einen Anhaltspunkt für ihn habe, deutet der Knecht an, dass er gegen Bezahlung durchaus eine Information für ihn hätte. Nachdem einhundert Silberstücke den Besitzer gewechselt haben, zeigt er Hrafn den markierten Schafskopf. Hrafn erkennt diesen sofort als sein Eigentum, und lässt sich zum unterirdischen Gang führen. Dort finden sie nichts und vermuten, dass Hánefr argwöhnisch geworden sei und alles weggeschafft habe. Sie gehen zu Hánefr und konfrontieren ihn, at hann mun vera nǫkkurs af valdr um sauðatǫkuna.84 Hrafn bietet an, er wolle nur so viele Schafe haben, wie ihm gestohlen wurden. Sie trennen sich ohne eine Einigung, doch ist Hrafn nun von Hánefrs Diebstahl (at Hánefr hefir stolit85) überzeugt. Hánefr dagegen geht zu seinem Freund Vémundr, dem er weismacht, er würde verleumdet; ok segir honum illmæli þat, sem haft var at honum.86 Vémundr fragt zwar nach, glaubt Hánefr aber, dass er nichts damit zu tun habe. Zu Beginn des Kapitels wird bereits indirekt auf die Öffentlichkeit der erzählten Geschichte (í  þessarri sǫgu) verwiesen, indem es über Hánefr heißt, er stünde

80 Reyk 4, S. 160; »Ein Mann hieß Hánefr. […] Wenig Gutes ist von ihm in dieser Saga zu berichten, und er war ein Mann, der in schlechtem Ruf stand.« 81 Reyk 4, S. 160–161; »und er erfuhr nichts von ihnen und es schien den Leuten, man könne nicht wissen, was aus ihnen geworden sei.« 82 Reyk 4, S. 161; »und das war leicht zu erkennen.« 83 Reyk 4, S. 161; »rügte Hánefr, dass er so etwas in der Nacht treibe.« 84 Reyk 4, S. 162; »dass er etwas mit dem Schafdiebstahl zu tun haben müsse.« 85 Reyk 4, S. 162; »dass Hánefr gestohlen hat«. 86 Reyk 4, S. 162; »und berichtet ihm von der Verleumdung, die gegen ihn im Gange sei.«



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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in schlechtem Ruf. Diese wird erneut bemüht, als man allgemein Hrafns Meinung teilt, man könne nicht wissen, was aus seinen Schafen wurde. Der Dieb Hánefr wird mit nächtlichem Treiben verbunden. Als sein redlicher Knecht versucht, ihm zu folgen, verletzt sich dieser – die Dunkelheit ist für die ehrliche Figur gefahrvoll, für den Dieb schützend. Nur langsam tastet sich Þorleifr zum Versteck vor, das unter der Erde und hinter Reisig liegt, also zweifach verhüllt ist. Auch das Feuer entdeckt der Knecht nicht unmittelbar, sondern erst, nachdem er den Rauch wahrgenommen hat.87 Sogleich konfrontiert er Hánefr und verurteilt das Handeln seines Herrn. Doch auch Þorleifr entscheidet sich, den Schafskopf zunächst zu verstecken, als er zu Hrafn kommt, sodass wieder eine Abstufung zwischen dem Wissen des Bestohlenen und des Knechts erzeugt wird. Erst nachdem er sich von Hrafn vom Schafdiebstahl berichten ließ, auf die Pflicht ›der Leute‹ verwiesen hat und bezahlt wurde, teilt der Knecht sein Wissen mit Hrafn. Hánefr geht nicht auf das gute Angebot des Bestohlenen ein und belügt Vémundr, dem er mitteilt, er werde des Diebstahls verleumdet. Im folgenden Kapitel wird ein Verwandter Hrafns eingeführt, der Bauer Steingrímr. Dieser ist mit einer Tochter Þorbjǫrns verheiratet und daher mit dessen Söhnen, Steinn und Helgi, verschwägert. Hrafn schickt nun den Knecht Þorleifr zu Steingrímr, um ihn in Sicherheit zu bringen. Man beschließt, Hrafn solle seinen Hof verkaufen und in Steingrímrs Nähe ziehen, außerdem will man Hánefr um sauðatǫkuna88 vorladen. Steingrímr will sich der Sache annehmen. Hánefr baut weiter auf die Hilfe Vémundrs, dem er nun auch den Schafdiebstahl gesteht. Vémundr ist über Hánefrs Täuschung erbost, wird ihm aber trotzdem helfen. Er lässt sich dessen Besitz übergeben und übernimmt die Rechtssache für ihn. Áskell erfährt von der Sache und warnt, Hánefr sei wie erwartet þræls efni.89 Steingrímr bringt die Klage vor das Thing: Ok lauk því svá, at Hánefr varð sekr um sauðatǫkuna.90 Steingrímr versucht nun, den geächteten Hánefr zu töten. Vémundr und seine Freunde beschließen, Hánefr außer Landes zu bringen, wovon Áskell abrät. Vémundr will Männer zusammenrufen, muss aber (ohne dessen Zustimmung) Áskells Autorität ins Spiel bringen, um diese zur Hilfe zu bewegen. Es kommt zum Kampf zwischen den Parteien, den Áskell noch verhindern wollte. Als noch eine Partei hinzustößt und der Kampf zu eskalieren droht, einigt man sich. Es sind auf beiden Seiten einige Männer gefallen, darunter auch der Dieb Hánefr. Im Schiedsspruch durch Áskell werden die Toten gegeneinander aufgewogen, der Diebstahl wird nicht mehr erwähnt.

87 Den genauen Ablauf des Wahrnehmungsvorgangs und der damit verbundenen Erzählperspektive bespricht Heinrichs 1974, S. 200–202. 88 Reyk 5, S. 163; »wegen Schafdiebstahls«. 89 Reyk 5, S. 164; »von der Natur eines Sklaven (bzw. Knechtes)«. 90 Reyk 5, S. 164; »Und es endete so, dass Hánefr wegen Schafdiebstals geächtet wurde.«

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Hánefr Vémundr

Konflikt 1

1. Diebstahl 2. Vergleichsangebot durch Hrafn 3. Anklage, Kampf, Tod des Diebes

Hrafn

Áskell

Steingrímr

4. Schiedsspruch durch Áskell Abb. 4: Der Schafdiebstahl der Reykdœla saga (eigene Darstellung).

Der Diebstahl Hánefrs an Hrafn wird erst zum größeren Problem im Bezirk, als beide Kleinbauern die Angelegenheit in die Hände mächtigerer Männer legen. So treten Vémundr und Steingrímr nun zum ersten Mal als Kontrahenten auf, die hier alle drei zuvor in der Exposition durchgespielten Varianten der Konfliktlösung erproben: Zunächst die formelle Klage, danach einen Kampf, bei dem mehrere Männer sterben, im Anschluss kommt es zum erfolgreichen Schiedsspruch durch Áskell. Dieser warnt seinen Neffen Vémundr zuvor mehrmals davor, sich mit einem Unruhestifter wie Hánefr einzulassen, bleibt aber erfolglos. Mit Hánefrs Tod hat man sich bereits des zweiten Diebes entledigt. An dessen Stelle tritt nun Vémundr selbst, dessen Verhalten dem Goden Áskell immer größere Schwierigkeiten einbringt. Er leiht sich ein Schiff von Áskell, um seinen Fischfang einzubringen, und bietet an, auch Áskells Erträge mitzubringen. Der hat einen Aufseher namens Kálfr eingestellt. Als Vémundr zu Kálfr kommt und ihm sagt, er solle die Fische Áskells an ihn übergeben, antwortet der, er habe den Fang bereits an Steinn verkauft. Vémundr wird wütend und bezeichnet ihn als Dieb: ›Já,‹ sagði Vémundr, ›þá varð ek heldr til seinn. En þat væri makligast, at ek dræpi þjóf þinn ok mættir þú þann veg eigi svíkja fleiri góða menn sem Áskel, ok muntu vera inn versti maðr.‹91 Sie fahren gemeinsam zu Áskell, der die Sache anders beurteilt: Er schenkt Kálfr den Gewinn, gibt ihm eine neue Arbeit, und wiegt die harte Behandlung durch Vémundr zu Kálfrs Gunsten auf. Erneut leiht sich Vémundr ein Schiff von Áskell, diesmal um Strandgut einzusammeln. Wieder gerät er in Streitigkeiten mit einem Aufseher Áskells, Máni. Áskell hatte Máni aufgetragen, das Strandgut zu verkaufen. Als Vémundr bei Máni ankommt, ist das Strandgut schon verkauft, und er wirft Máni vor, falsch gehandelt zu haben. Vémundr will nicht mit leeren Händen zurückkommen und lädt einen Wal auf sein Schiff, der Steinn, dem Schwager Steingrímrs, gehört. Vémundr kommt zu Áskell, erzählt ihm alles und bietet ihm die Hälfte des Wals an. Áskell verurteilt dieses Vorgehen und will kein Stück von dem haben, er Vémundr stæli.92 Áskell ist unzu-

91 Reyk 7, S. 170; »›Ja,‹ sagte Vémundr, ›da war ich wohl zu spät. Doch das wäre am passendsten, wenn ich dich Dieb tötete, dann könntest du gute Männer wie Áskell nicht wieder so betrügen. Du wirst ein besonders schlechter Mann sein.‹« 92 Reyk 8, S. 171; »das Vémundr gestohlen habe«.



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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frieden mit Vémundr, der denkt aber, er könne sich auch allein an der Beute erfreuen. Der bestohlene Steinn kommt zu seinem Schwager Steingrímr und erzählt ihm von Vémundrs Walraub. Steingrímr rät, man solle sich ein Beispiel an Áskell nehmen und wegen einer solchen Kleinigkeit keinen Streit anfangen. Stattdessen solle man die Sache ruhen lassen und sich nicht entzweien. Vémundr hat in diesen Episoden zunächst jemanden als Dieb verleumdet und wurde von Áskell selbst als Stehlender bezeichnet. Vémundr will als nächstes Holz kaufen, für das Steingrímr bereits Geld angezahlt hat. Der norwegische Händler will das Holz nicht herausgeben, weil er mit Steingrímr bereits handelseinig sei. Vémundr bezahlt einen Sklaven, damit der verkünde, Steingrímr brauche das Holz jetzt nicht mehr. So verkauft der Norweger das Holz dann schließlich an Vémundr. Steingrímr reagiert zunächst relativ ruhig, schickt dann aber doch Leute los, um nach dem Holz zu sehen. Bei dieser Gelegenheit werden zwei Sklaven Vémundrs erschlagen und das Holz zu Steingrímr geschafft. Vémundr ist über diesen Verlust wütend, lässt sich aber von Áskell beschwichtigen und diesen einen Vergleich für ihn anstreben. Áskell trifft sich zum ersten Mal mit Eyjólfr Valgerðarson, um mit ihm einen Vergleich auszuhandeln, der ihre beiden Verwandten Vémundr und Steingrímr betrifft. Dieser Vergleich lautet: Ok var sú gørð þeira, at jǫfn skal vera kørviðar takan, er hvárr hafði tekit frá ǫðrum, ok þræla drápit, er heimamenn Steingríms hǫfðu drepit við Þingvað.93 Damit ist zunächst alles bereinigt, Vémundr ist aber nur leidlich zufrieden mit dem Vergleich. Der Hinweis auf Vémundrs Unzufriedenheit erinnert hier an Eysteinn aus der Exposition und deutet die kommende Eskalation an. Kaum ist die Problematik um das Holz bereinigt, kommt es zum nächsten Streit zwischen Vémundr und Steingrímr. Steingrímr möchte nun Ochsen kaufen, wovon Landstreicherinnen Vémundr erzählen. Dieser reitet los, und als er erfährt, dass die Ochsen noch nicht von Steingrímr abgeholt wurden, nimmt er sie einfach mit sich. Er möchte die Tiere Áskell schenken, der sich aber zunächst erzählen lässt, woher sie kämen und sie dann nicht möchte. Vémundr behält die Ochsen also und wird von Áskell gewarnt, Steingrímr werde das nicht auf sich beruhen lassen. Knechte berichten Steingrímr, was geschehen ist. Þorleifr und Hrafn reiten in Steingrímrs Auftrag zu Vémundr. Sie holen die Ochsen aus dem Kuhstall und töten einen Knecht. Eine Magd entdeckt den Toten und berichtet Vémundr davon. Vémundr und seine Männer verfolgen die Ochsen, und es kommt zu einem Kampf, bei dem Vémundr Þorleifr tötet. Sie trennen sich und Vémundr schlägt den Ochsen die Köpfe ab, damit Steingrímr sie auf keinen Fall bekommen kann. Áskell übernimmt wieder die Rechtssache von Vémundr und trifft sich erneut mit Eyjólfr. Sie rechnen die Toten wieder gegeneinander auf; für die Ochsen sollen sechshundert Friese gezahlt werden. En Svartr skal koma fyrir þat, er teknir váru oxarnir frá Steingrími í fyrstunni, ok skapraun þá, er Vémundr gerði 93 Reyk 10, S. 175; »Und ihr Vergleich lautete, dass Holzdiebstähle, bei denen jeder vom anderen genommen hatte, und der Sklavenmord, den die Knechte von Steingrímr bei Þingvaðr begangen hatten, einander aufwiegen sollten.«

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

honum.94 Vémundr ist mit dem Vergleich wieder unzufrieden, akzeptiert aber formell. Danach kommt es zu mehreren Beleidigungen und Rachezügen auf beiden Seiten, sodass Áskell schließlich keinen friedlichen Ausgleich mehr herstellen kann. Vémundr

Konflikt 1

Kálfr

Áskell

1. Diebstahlsvorwurf 2. Schiedsspruch durch Áskell 3. Unzufriedenheit bei Vémundr Konflikt 2

Steingrímr

1. Raub eines Wals 2. Rüge durch Áskell 3. Steingrímr: Beispiel an Áskell nehmen Konflikt 3

Steingrímr

1. Ergaunerter Holzkauf 2. Kampf und Gegenraub 3. Vergleich durch Áskell, Unzufriedenheit Konflikt 4

Steingrímr

1. Ochsenraub 2. Kampf und Gegenraub 3. Vergleich durch Áskell, Unzufriedenheit Abb. 5: Áskells Schwierigkeiten mit Vémundr (eigene Darstellung).

Diese Reihung von Diebstahls- bzw. Raubepisoden zeigt nur leichte Variationen und verweist durch Áskells mehrfachen Vergleich und die immer wieder geäußerte Unzufriedenheit Vémundrs erneut auf das in der Exposition etablierte Schema. Wie vorbildhaft Áskells Verhalten einzuschätzen ist, zeigt der Kommentar der Gegenseite, man solle sich ein Beispiel an seinem Verhalten nehmen. Vémundr allerdings erkennt dies nie, sondern hat in Steingrímr einen zwar ähnlich vernünftigen Mann als Gegenspieler gefunden, der aber nicht mit ihm verwandt ist und dessen Geduld daher endlich ist. Später wird Vémundr erneut zum Gehilfen eines Raubes, indem er seinem Verwandten Narfi beim Versuch beisteht, mit Gewalt eine Braut von ihrer Hochzeitsfeier zu rauben. Beide Parteien setzen Zauberei ein, um den Raub zu vollführen oder zu vereiteln; schließlich scheitert der Angriff. Erneut schließen Áskell und Eyjólfr einen Vergleich und wiegen den Brautraub und die Tötung des gescheiterten Werbers gegen-

94 Reyk 11, S. 181; »Und Svartrs Tötung sollte damit verrechnet werden, dass die Ochsen Steingrímr zuerst geraubt worden waren, und mit den Kränkungen, die ihm Vémundr zugefügt hat.«



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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einander auf.95 Ein letztes Mal greift Áskell erfolgreich in Vémundrs Machenschaften ein, als er verhindert, dass Vémundr Steingrímr vor Gericht lädt – in der Folge dieses letzten Konflikts verlieren aber sowohl Steingrímr als auch Áskell ihr Leben. Der zweite Teil der Saga widmet sich Skúta, dem Sohn Áskells, der während der bisherigen Handlung auf Auslandsreisen war. Sein Streit mit Víga-Glúmr wird zum bestimmenden Thema des Abschnitts, erneut ist ein (vorgetäuschter) Diebstahl der Konfliktauslöser. Als neuer Unruhestifter wird Þorbergr in die Erzählung eingeführt, über ihn heißt es, er sei ekki vinsæll víð alþýðu manna96  – tatsächlich gerät er im Folgenden sowohl mit Skúta als auch mit dessen Feind Glúmr in verschiedene Streitigkeiten. Glúmr hatte mit drei Norwegern vereinbart, dass sie auf Island bei ihm leben sollten, diese werden allerdings von Þorbergr zu sich gelotst. Darüber kommt es zum Streit mit Glúmr, in dessen Verlauf Þorbergr von seinem Knecht Ótryggr nachts eine Stute in Glúmrs Schuppen verstecken lässt. Am nächsten Tag verkündet Þorbergr seinen Gästen, ihm sei eine Stute abhandengekommen, und fügt an, man müsse darauf gefasst sein, dass jemand sie gestohlen habe: ›Ok mun svá eptir að sjá,‹ segir hann, ›at af mannavǫldum mun vera, ok get ek, at stolit sé hrossinu.‹97 Sie brechen zur Hausdurchsuchung bei Glúmr auf, die Norweger sind dabei von vornherein überzeugt, Glúmr sei nicht so schlecht, at stela frá mǫnnum, ok sǫgðusk eigi mundu þangat fara til at rannsaka.98 Natürlich findet Þorbergr die Stute im Schuppen bei Glúmr und sagt ihm, er sei nun des Diebstahls überführt. Glúmr lässt sich auf keinen Vergleich ein, daher kommt es zur Anklage. Als diese erhoben wird, stürzt Glúmrs alter Vater Geirir auf Þorbergr zu und schlägt auf ihn ein. Glúmr schließt sich an und tötet Þorbergrs Sohn. Als der Kampf vorbei ist, hat Þorbergr eine bleibende Wunde im Gesicht, alle drei Norweger sind tot, und der Knecht Ótryggr ist verwundet. Glúmr heilt ihn, nachdem er die Wahrheit über die Stute erzählt – ok var nú bert illmælit af Þorbergs hendi við Glúm.99 Es geschehen insgesamt so viele Totschläge, dass Glúmr und sein Vater nach dem Vergleich in der Gegend geächtet werden. Es folgen viele blutige Auseinandersetzungen, in denen Skúta die Totschläger seines Vaters Áskell tötet und selbst einige Mordanschläge abwehrt. Glúmr und Skúta messen sich mehrfach, die Situation kann aber nicht bereinigt werden. Auch Þorbergr versucht weiter, Skúta töten zu lassen, gegen Ende der Saga wird hierbei erneut ein Diebstahl eingesetzt: Auðgísl, ein Verwandter Þorbergrs und inn mesti ónytjungr100 möchte mit der Hilfe seines Verwandten eine Auslandsfahrt antreten. Þorbergr ant-

95 Dieser Brautraub wird ausführlicher in Kap. 6.4 besprochen. 96 Reyk 17, S. 204; »nicht beliebt bei der Allgemeinheit.« 97 Reyk 18, S. 207; »›Und es wird sich zeigen,‹ sagt er, ›dass Menschen daran schuld sind, und ich glaube, dass das Pferd gestohlen wurde.‹« 98 Reyk 18, S. 208; »um Leute zu bestehlen, und sie sagten, sie wollten nicht zur Hausdurchsuchung mitkommen.« 99 Reyk 18, S. 210; »und nun war die Verleumdung Þorbergrs gegen Glúmr offenkundig.« 100 Reyk 27, S. 237; »der schlimmste Nichtsnutz«.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

wortet ihm, er werde nur helfen, falls Auðgísl seinen Feind Skúta töte. Auðgísl plant nun, Þorbergrs Schatzkiste aufzubrechen und seine Kleider und Waffen an sich zu nehmen. Daraufhin will er zu Skúta gehen und sich wegen des vermeintlichen Diebstahls Schutz vor Þorbergr erbitten. Als Auðgísl zu Skúta kommt, hat dieser schon gehört, dass die Geschichte wahr sei, und nimmt ihn auf. Nach einem halben Monat wagt Auðgísl den Angriff und scheitert; Skúta tötet ihn auf der Stelle. Skúta nimmt die feinen Kleider an sich und fragt bei Þorbergr nach, ob er etwas mit der Sache zu tun habe. Dieser leugnet alles und behauptet, Auðgísl hafa stolit frá sér gripunum.101 Die Sache wird fallengelassen. Zwei weitere Anschläge Þorbergrs und einen Gegenschlag für Skútas Vaterrache sind nötig, bis dieser schließlich sein Leben lässt und die Saga endet. Die beiden vorgetäuschten Diebstähle dienen im zweiten Teil der Saga ebenso als Konfliktauslöser, wie des bereits im ersten Teil für Eysteinn, Hánefr und Vémundr der Fall war. Diebstahl erweist sich hier nicht nur als handlungsauslösendes Moment, sondern auch als Verbindungsglied zwischen den beiden ansonsten nur sehr lose verbundenen Teilen der Erzählung. Das Verbrechen wird hier zum Leitmotiv erhoben, das in leicht veränderter und zunehmend schwerwiegender Ausformung die Saga strukturiert. Dabei wird noch repetitiver vorgegangen, als beispielsweise in der Vatnsdœla saga,102 wodurch die einzelnen Verbrechen hinter dem Muster der Fehde zurücktreten.

5.2.2 Diebstahlsvorwürfe als gezielte Provokation in der Njáls saga Die vielbesprochene Fehde der beiden Ehefrauen in der Brennu-Njáls saga nimmt bei einem Fest ihren Anfang, als Gunnarrs Ehefrau Hallgerðr sich von Njálls Ehefrau Bergþóra beleidigt fühlt, und Gunnarr nicht gewillt ist, sie gegen seine Freunde zu verteidigen. Während die Männer der Familien das erste darauffolgende Thing besuchen, schickt Bergþóra ihren Knecht Svartr in ein Waldstück, um Holz zu schlagen. Dieses besitzen Gunnarr und Njáll gemeinsam und schlagen jeweils so viel Holz, wie sie brauchen. Ein paar Bettlerinnen beobachten das Geschehen und reiten nach Hlíðarendi, um Hallgerðr davon zu berichten. Diese wird wütend und bezeichnet das Vorgehen als rán: ›Svá mun Bergþóra til ætla,‹ segir Hallgerðr, ›at ræna mik mǫrgu‹.103 Sie schickt den Knecht Kolr, um Svartr zu töten. Er wartet, bis Svartr völlig allein ist und schlägt ihm von hinten eine Axt in den Schädel (Nj 36). Die Fehde der beiden Frauen zieht sich über die nächsten Jahre hin, und findet immer dann statt, wenn die Männer beim Thing sind, wo sie die von ihren Frauen betriebenen Totschläge gütlich beilegen. Bergþóra rächt Hallgerðrs Tat, indem sie Atli anheuert, um Kolr zu töten. Atli 101 Reyk 27, S. 238; »Auðgísl habe ihm die Kostbarkeiten gestohlen.« 102 Vgl. Kap. 3.1. 103 Nj 36, S. 93; »›Bergþóra hat wohl vor,‹ sagt Hallgerðr, ›mich um Vieles zu berauben.‹«



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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tut dies im offenen Zweikampf und verkündet das Verbrechen danach den nächsten, die seinen Weg kreuzen (Nj 37). Hallgerðr hetzt daraufhin ihren Verwandten Brynjólfr auf, die Tat zu rächen – dieser tötet Atli so, wie Kolr zuvor Svartr; er schleicht sich von hinten an, und treibt eine Axt in seinen Kopf (Nj 38). Brynjólfr stirbt im folgenden Jahr durch die Hand Þórðr leysingjasons, des Ziehvaters der Njálssöhne. Dieser betont nun explizit: ›Ver þú þik, Brynjólfr, því at ek vil eigi níðask á þér‹,104 bevor er Hallgerðrs Verwandten tötet, und den Totschlag verkünden lässt (Nj 39). Für ihren Gegenschlag wählt Hallgerðr nun Männer, die Gunnarr verwandtschaftlich nahestehen und bewegt Sigmundr Lambason und seinen Begleiter Skjǫldr zum Totschlag an Þórðr. Es gelingt ihr sogar, mit Þráinn Sigfússon einen nahen Verwandten Gunnarrs dazu zu bewegen, die beiden zu begleiten: Síðan tǫluðu þau lengi hljótt, ok vissi engi, hvat þau hǫfðu í ráðagerðum.105 Als sie aufeinandertreffen, erhofft sich Þórðr erneut einen Zweikampf, doch Sigmundr und Skjǫldr nutzen ihre zahlenmäßige Überlegenheit aus und töten ihn (Nj 41). Es ist dieser Totschlag, der nun Njálls Söhne in die Fehde involviert, die ihren Ziehvater rächen möchten, aber durch den Vergleich ihres Vaters gebunden sind. Als jedoch Bettlerinnen Bergþóra á laun ófregit106 die Beleidigungen mitteilen, mit denen Hallgerðr ihre Söhne und ihren Mann bedacht hat, verkündet Bergþóra sie vor allen Männern des Hauses: ›Gjafir eru yðr gefnar feðgum ok verðið þér litlir drengir af, nema þér launið.‹107 In derselben Nacht ziehen ihre Söhne los und töten Sigmundr und Skjǫldr (Nj 45). Der Vorwurf, Bergþóra habe vor, sie zu berauben (›at ræna mik‹), fungiert hier als Vorwand für Hallgerðr, die bereits seit dem Fest schwelende Fehde anzufachen. Er ist damit als reine Provokation des Konflikts zu verstehen, zumal er völlig ungerechtfertigt ausgesprochen wird. Dass es sich um ein gänzlich rechtmäßiges Vorgehen handelt, wird vom Erzähler zuvor durch eine Darstellung der Besitzverhältnisse verdeutlicht, das Verbrechen wird nur in der Figurenrede Hallgerðrs genannt und nicht vom Erzähler gestützt. Da in der Szene auch Gunnarrs Mutter anwesend ist und Hallgerðrs Verhalten tadelt, kann angenommen werden, dass sich Hallgerðr dessen bewusst ist, und nicht etwa vermeintlich rechtschaffen handelt, um den Besitz der Familie zu verteidigen. Neben der handlungsauslösenden Funktion des Vorwurfs dient die Dichotomie ›heimlich vs. offen‹ im Verlauf der Fehde der Charakterisierung der beiden Frauenfiguren. Während Hallgerðrs Knechte und Verwandte immer von hinten, also heimlich und unehrenhaft angreifen, sind die Handlungen der Totschläger aus Bergþórshváll immer

104 Nj 39, S. 104; »›Wehre dich, Brynjólfr, weil ich an dir nicht zum Schurken werden will.‹« 105 Nj 41, S. 107; »Dann sprachen sie lange leise miteinander, und niemand wusste, was sie zu beratschlagen hatten.« 106 Nj 44, S. 114; »ungefragt im Geheimen«. 107 Nj 44, S. 114; »Geschenke sind euch gemacht worden, dem Vater und den Söhnen, und es wäre unehrenhaft von euch, sie nicht zu vergelten.« Zur Bedeutung von Geschenken siehe Kap.  1.4.1. ­Bergþóra vergleicht so die Pflicht zur Rache einer Beleidigung mit der Reziprozität des Schenkens.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

durch ihre Offenheit gekennzeichnet.108 Dies findet seinen Höhepunkt im Ausspruch Þórðrs leysingjasons: ›[…] því at ek vil eigi níðask á þér.‹109 Hier wird der Charakter der Anschläge aus Hlíðarendi impliziert; es handelt sich um níðingsverk,110 während Bergþóras Taten als rechtschaffene Vergeltungsschläge dargestellt werden. Sogar in Hallgerðrs anfänglicher Figurenrede wird dies deutlich, indem sie ihre Feindin des ráns bezichtigt, nicht des heimlichen Diebstahls, obwohl dies der stärkere Vorwurf gewesen wäre. Dieser Kontrast wird am Ende der Episode auf die Spitze getrieben, als die Bettlerinnen aus Hlíðarendi Bergþóra ungefragt und heimlich von Hallgerðrs Beleidigungen berichten, und die Hausherrin von Bergþórshváll sich umgehend laut an den ganzen Haushalt wendet, um das Gehörte offen zu verkünden, und ihre Söhne zur Rache aufzufordern. So wird am Ende der Episode feinsinnig darauf aufmerksam gemacht, dass Bergþóra mit ihrer betonten Offenheit die Blutfehde ebenso rücksichtslos betreibt, wie Hallgerðr mit ihrer schurkischen Heimlichkeit. Zwar muss man Andersson zustimmen, wenn er bemerkt, dass die Episode nicht zur Charakterisierung der beiden Frauenfiguren nötig gewesen wäre, da beide zu diesem Zeitpunkt bereits voll entwickelt seien. Dass die Fehde aber »ultimately no function in the plot« habe und nur »a bit of unattached prefatory matter« sei, geht zu weit.111 Stattdessen ist einerseits Millers Vorschlag zu bedenken, der den Streit als Strukturmodell für die späteren Fehden versteht,112 und andererseits die weitere Verflechtung anhand der Verbrechen einzubeziehen. Die Nennung des Diebstahls verbindet diese Episode ebenso mit der Exposition der Saga wie die eröffnete Dichotomie.113 Eine weitere interessante Verbindung lässt sich herstellen, wenn man Hallgerðrs Gespräche durch die Saga verfolgt: Als sie Gunnar auf dem Thing kennenlernt, wird die besondere Öffentlichkeit der Begegnung betont: Þau tǫluðu lengi hátt. […] ›Þykki þér hvergi fullkosta?‹ segir hann. ›Eigi er þat,‹ segir hon, ›en mannvǫnd mun ek vera.‹114 108 Vgl. auch Miller 2014a, S. 77: »The good men […], Bergthora’s people, always give their victims a fighting chance; those on Hallgerd’s side sneak up from behind or take advantage of numbers.« 109 Nj 39, S. 104; »›weil ich an dir nicht zum Schurken werden will‹« (im Sinne von ›keinen níð verüben‹). 110 Níð bezeichnet eine stilisierte Form der Verhöhnung und Kränkung, vgl. Kap. 2.1.1 sowie Kap. 5.3. Ein níðingsverk ist damit eine schmachvolle Tat, die von einem níðingr, einem ehrlosen Menschen, verübt wird. Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 444. Zum Typus des níðingr siehe auch Thorvaldsen 2011. 111 Andersson 1967, S. 46. 112 Er spricht vom hier etablierten ›Balanced-Exchange Model‹, vgl. Miller 2014a, S. 75–87. Auch Andersson selbst kommt in einer späteren Besprechung der Saga zu einem ähnlichen Fazit: »As so often in the sagas, this preface has a nice pertinence to the plot. A feud which is so formalized as to be abstract precedes the more realistic feuds which bedevil the careers of Gunnarr and Njáll« (Andersson 1970, S. 586). 113 Siehe Kap. 5.1.1. 114 Nj 33, S. 85–86; »Sie sprachen lange laut miteinander. […] ›Erscheint dir keiner gut genug?‹, sagt er. ›Das ist es nicht,‹ sagt sie, ›aber ich werde wählerisch (oder: schwierig im Umgang) sein, was Männer betrifft.‹« Mannvandr hat zwei Bedeutungen: 1. Schwierig, die Tüchtigkeit eines Mannes erfordernd; 2. wählerisch bei der Wahl (des Ehemannes), vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 405 und Dronke 1981, S. 19–20 sowie Cook 2008, S. 13.



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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Als sie sich nun, im Zuge der Fehde mit Bergþóra, von Gunnarr enttäuscht, seinem Onkel Þráinn zuwendet, wird dem die Heimlichkeit des Gesprächs gegenübergestellt. Diese beiden Szenen sind als Paar zu verstehen, angezeigt durch die Parallelität der Wortwahl und die Alliteration der getauschten Adverbien þau tǫluðu lengi hátt und tǫluðu þau lengi hljótt. Nicht nur die Art der Gesprächsführung hat sich verändert, sondern auch die Art der Schilderung: Während im Gespräch mit Gunnarr direkte Rede folgt, wodurch der Eindruck vermittelt wird, sie sei Gunnarr gegenüber ehrlich, folgt im Gespräch mit Þráinn die Bemerkung, niemand wüsste, worüber sie sprechen.

5.2.3 Geduldsproben und Verleumdung Nur selten trifft man in den Isländersagas auf eine Figur, die so langmütig oder zögerlich ist, dass sie sich von einem Diebstahl nicht aus der Ruhe bringen lässt. In solchen Fällen wird die handlungstreibende Funktion des Verbrechens (oder der entsprechenden Verleumdung) zugunsten einer Figurencharakterisierung ausgesetzt oder verzögert, die den Betroffenen als außergewöhnlich besonnen und ausgeglichen zeichnet. Diese Eigenschaft entspricht dem Sagaideal des jafnaðarmaðr, der nicht nur ›gleich‹ im Sinne von ebenbürtig ist, sondern auch ein besonnener Mensch, mit dem man sich (auch juristisch) ›vergleichen‹ kann.115 Wer in Konflikten allerdings zu nachsichtig und bedächtig agiert, setzt sich dem Vorwurf der Feigheit aus: Ehrenhaftes Handeln findet in einem Spannungsfeld von Mäßigung und Entschlossenheit statt.116 Die Öffentlichkeit des Vorgehens ist hier entscheidend. Findet eine Handlung nur zwischen zwei Parteien statt, kann versucht werden, das Geschehen zu ignorieren. Auf einen öffentlich vorgebrachten Diebstahlsvorwurf muss die Sagafigur dagegen ebenso zwingend reagieren, wie auf einen bekanntgewordenen Diebstahl. In der Víglundar saga ok Ketilríðar versuchen beispielsweise zwei Männer, den Bauern Þorgrímr zu provozieren. Nachdem sie bereits seinen Hengst getötet haben, stehlen die beiden seine zwei besten Ochsen. Sie führen sie fort, schlachten beide und lassen das Fleisch abhängen. All das geschieht nachts, und als man zuerst den toten Hengst findet, möchte Þorgrímr nichts unternehmen. Danach wird ihm berichtet, dass auch die beiden Ochsen verschwunden seien. Erneut reagiert er langmütig und gibt vor, die Identität der Verbrecher nicht zu kennen. Er antwortet, es würden sich wohl Diebe in den Bergen herumtreiben, und lässt die Ochsen nicht suchen. Nachdem auch dieser Diebstahl ihn nicht aufstacheln konnte, beauftragen seine Feinde schließlich eine Zauberin, sich des Problems anzunehmen und erreichen so endlich die erhoffte Eskalation.117 115 Vgl. etwa Fritzner (Hrsg.) 1886, S. 221. 116 Vgl. Kap. 2.1.1. 117 VíKet 10–12. Diebstahl steht hier in einem vagen Zusammenhang zur Zauberei, indem er ihr als Provokation hierarchisch untergeordnet ist. Vgl. Kap. 3.2.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Auch in der Hávarðar saga Ísfirðings lassen sich die Protagonisten von einem Diebstahlsvorwurf nicht aus der Fassung bringen. Hávarðr ist ein angesehener, gealterter Bauer und lebt mit seinem vielversprechenden Sohn Óláfr zusammen. Sein Kontrahent Þorbjǫrn ist ein Gode vornehmer Herkunft, jedoch übergriffig und übel gelitten.118 Immer wieder fehlen beim Abtrieb Schafe, wobei Þorbjǫrn die größten Verluste hat. Óláfr bringt sämtliche entlaufenen Schafe regelmäßig zu ihren Besitzern zurück. So wird er sehr beliebt und für Þorbjǫrn ein zunehmender Dorn im Auge. Als er die Schafe zum zweiten Mal zurückbringt, wirft Þorbjǫrn ihm vor, sich wie ein Bettler zu verhalten. Er kündigt daraufhin an, er werde die Schafe kein drittes Mal zurückbringen. Als wieder Hammel fehlen, setzt Þorbjǫrn das Gerücht in Umlauf, Óláfr würde diese bei sich zuhause festhalten, um sich einen Anteil zu sichern eða stela ella.119 Die Sachlage wird nicht weiter aufgeklärt, in der nächsten Szene unterhält sich Óláfr mit seinem Vater Hávarðr. Dieser möchte wissen, ob die servierte Hammelkeule auch wirklich von den eigenen Schafen stamme: ›Þat ætla ek þó, frændi, at hann sé af okkrum sauðum, en eigi Þorbjarnar bónda, ok mikit er at þola slíkan ójafnað.‹ Óláfr leggr niðr legginn á borðit ok roðnaði við, ok þótti þeim, er hjá sátu, sem hann þrýsti við borðinu, en þó brast sundr leggrinn ok svá snart, at annarr hlutronn stǫkk útar í bjórinn, svá at þar var fastr.120

Die Nachfrage seines Vaters erzürnt Óláfr sehr. Trotzdem schafft er es mit einiger Mühe, sich zu beherrschen. Beides nimmt sein Vater erfreut zur Kenntnis.121 Er sieht in der Reaktion seines Sohnes sowohl das nötige Ehrgefühl als auch die Fähigkeit, die aufkeimende Wut zu kontrollieren. Eine ähnliche Figurencharakterisierung findet mit Hilfe eines tatsächlich ausgeübten Diebstahls in der Kormáks saga statt. Als der Skalde Kormákr mit seiner Geliebten auf einer Bank sitzt, wird ihm til spotts122 die Verschlussspange seines Mantels gestohlen. Er verfolgt den Dieb und schleudert einen Speer nach ihm. Als dieser den Dieb aber verfehlt, lässt Kormákr die Sache auf sich beruhen und dichtet eine Skaldenstrophe, aus der hervorgeht, dass es ihm zu albern wäre, um die Spange zu kämpfen: ›[V]it skulum dálkinn deila c sem drengir tveir ungir‹.123 Zwar reagiert 118 Er entführt unter anderem die Töchter der Bauern und hält sie gegen ihren Willen bei sich fest, siehe Kap. 6.4. 119 Háva 2, S. 297; »oder andernfalls zu stehlen.« 120 Háva 2; S. 297–298. »›Ich nehme doch an, mein Sohn, dass diese von unseren Schafen stammt, und nicht von denen des Bauern Þorbjǫrn, denn es bräuchte viel, solch ein Unrecht hinzunehmen.‹ Óláfr legte die Keule auf den Tisch nieder und wurde rot, und es schien jenen, die dabeisaßen, als presste er sie gegen den Tisch, und so sprang die Keule so heftig in Stücke, dass ein Stück davon in die Giebelwand eindrang und dort stecken blieb.« 121 Der Konflikt mit Þorbjǫrn verschärft sich weiter aufgrund eines Walraubes (vgl. Kap. 7.2.3) und wird Óláfr das Leben kosten, bevor der alte Hávarðr über Þorbjǫrn triumphiert. 122 Kor 25, S. 295; »um ihn zu verspotten«. 123 Kor 25, S. 295; »›Sollen wir um die Spange kämpfen | wie zwei junge Burschen‹«.



5.2 Diebstahl und Raub als Handlungsauslöser 

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Kormákr im ersten Moment entschlossen auf den Diebstahl, belässt es aber bei diesem halbherzigen Tötungsversuch. Die Szene zeichnet den zuvor eher impulsiv reagierenden Kormákr als gereiften Protagonisten, der nach dem Diebstahl die Contenance wiedererlangt. Ein weit gravierenderer Diebstahl scheint in der Víga-Glúms saga stattzufinden, während der Protagonist auf Reisen ist. Hier gibt eine Verleumdung dem jungen Protagonisten die Gelegenheit, seine Entschlossenheit unter Beweis zu stellen und sich als erwachsener Bauer auf Island zu etablieren. Als Þorkell und Sigmundr zwei Kühe vermissen, nehmen sie an, dass diese gestohlen wurden und beschuldigen die Knechte von Glúmrs Mutter Ástriðr. Die Knechte werden schließlich um stulð124 vor Gericht geladen. Glúmrs Mutter schätzt ihre Knechte so sehr, dass sie lieber ein Bußgeld zahlen will, als sie deshalb zu verlieren. Þorkell bekommt das Selbsturteil zugesprochen und bestimmt, dass ihm fortan das bisher gemeinsam genutzte Feld Vitazgjafi allein gehören soll. Dieses Feld ist nie unfruchtbar und besonders wertvoll. Während des nächsten Things findet ein Viehhirte die verschwundenen Kühe: Sie waren in eine Senke gestürzt und zum Winteranfang mit Schnee bedeckt gewesen, ok varð nú bert illmælit við þrælana.125 Als Þorkell und Sigmundr davon erfahren, bieten sie lediglich an, Geld für das Feld zu bezahlen. Ástriðr findet aber, dass sie selbst dann nicht für die Verleumdung entschädigt wäre, wenn sie das Feld zurückbekäme, und will auf Glúmrs Rückkehr warten. Dieser mischt sich sofort nach seiner Heimkehr in den Konflikt ein, wird aber zunächst nicht ernst genommen. Es folgt Glúmrs erstes Gelächter, bei dem ihm Tränen aus den Augen schießen, die so groß sind wie Hagelkörner: Ok þann veg brá honum opt við síðan, þá er víghugr var á honum.126 Unter einem Vorwand macht sich Glúmr auf, und trifft auf Sigmundr. Sobald er mit ihm allein ist, schlägt Glúmr ohne weiteres Zögern den Speer in den Kopf seines Kontrahenten (VíGl 8). Þorkell sammelt nun Mannschaft zur Verfolgung des Totschlags an seinem Sohn Sigmundr. Auf die Totschlagsanklage reagiert Glúmr mit einer Gegenklage um illmæli við þrælana,127 und erhebt eine zweite Klage um stulð128 gegen Sigmundr. Dieser sei bußlos gefallen, da er auf dem Grund getötet wurde, den er Glúmr gestohlen habe. Glúmr hat mächtige Unterstützer gefunden und könnte Þorkells Ächtung herbeiführen. Kurz bevor dies geschieht, wird aber doch ein Vergleich angestrebt: Glúmr holt sich das Land seiner Familie zum halben Preis zurück, Þorkell muss es innerhalb eines Jahres verlassen.129 Der junge Glúmr hat sowohl im Kampf als auch auf dem Thing seine Entschlossenheit

124 VíGl 7, S. 21; »wegen Diebstahls«. 125 VíGl 7, S. 23; »und die Verleumdung der Knechte wurde nun offenkundig.« 126 VíGl 7, S. 26; »Und dies geschah danach noch oft mit ihm, wenn die Mordlust über ihn kam.« 127 VíGl 9, S. 32; »wegen der Verleumdung der Knechte«. 128 VíGl 9, S. 32; »wegen Diebstahls«. 129 Der Vergleich führt zur fortwährenden Feindschaft zwischen beiden Parteien und zu Þorkells folgenschwerem Ritual: Er opfert dem Gott Freyr einen Ochsen und bittet darum, dass Glúmr den Hof Þverá eines Tages genauso gegen seinen Willen verlassen müsse, wie er nun.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

unter Beweis gestellt und die Ehre der Familie verteidigt. Auf einen Angriff dieser Größenordnung ist dies innerhalb der Sagawelt die angemessene Reaktion, auf einen solchen Übergriff kann nicht mit Nachsicht reagiert werden. Eine ähnliche Episode findet sich auch in der Eyrbyggja saga, nur trifft die Verleumdung diesmal keine Knechte, sondern den Bauern selbst.130 Als Þorbjǫrn digri seine Pferde nicht finden kann, bittet er Spá-Gils um Hilfe, der durch Zauberei Verborgenes zum Vorschein bringen kann.131 Spá-Gils rät, den Verlust als solchen hinzunehmen. Dieser ist aber bereits öffentlich bekannt, sodass Þorbjǫrn eine Mannschaft zusammenzieht, die bei Þórarinn – dem Bauern, bei dem sie die Pferde am ehesten vermuten – eine Hausdurchsuchung durchführen sollen. Dort angekommen spricht Þorbjǫrn nicht mehr vom ›Verschwinden‹ der Pferde, sondern spricht zur Begrüßung einen Diebstahlsvorwurf aus: ›[V]ér leitum eptir hrossum þeim, er stolin váru frá mér i haust […].‹132 Dass auf eine solche Anschuldigung reagiert werden muss, wird von Þórarinns Mutter verbalisiert, die ihren Sohn umgehend beschimpft, ob er sich eine solche Kränkung gefallen lassen wolle. Ihre Aufhetzung zeigt die erhoffte Wirkung: Es kommt zum Kampf und anschließend zur Vereinbarung, die Angelegenheit auf dem nächsten Thing zu verhandeln (Eyr 18). Nachdem die Beschuldigung öffentlich vorgebracht wurde, entfaltet sich der handlungsauslösende Charakter des Diebstahlsvorwurfs und zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Im Kampfgetümmel wird Þórarinns Frau versehentlich die Hand abgeschlagen. Als Þorbjǫrns Leute davon erfahren, lachen sie über Þórarinn. Der kommt hinzu und spaltet Þorbjǫrn den Schädel. Es sterben mehrere Männer, doch Þórarinn kommt siegreich nach Hause. Seine Mutter wartet schon auf ihn und ist sehr stolz auf ihren Sohn, der schließlich für die Totschläge, die in Folge des Diebstahls begangen wurden, geächtet wird (Eyr 22).133 Nach der Ächtung findet man die verschwundenen Pferde tot auf (Eyr 23).134 Obwohl der Diebstahlsvorwurf also völlig grundlos ausgesprochen wurde, führt die Verleumdung zum Tod des Anklägers, der Ächtung des Beschuldigten, mehreren

130 Diese Episode gehört zu einer relativ klar abgegrenzten Erzählsequenz der Saga, die als Máhlíðingamál bezeichnet wurde, nach den in ihr enthaltenen Skaldenstrophen, den Máhlíðingarvísur. Vgl. Böldl 2005, S. 21 sowie Vésteinn Ólason 1989. 131 Auf seine Weissagung folgt die Nachfrage, ob Ausländer, Leute aus einem anderen Bezirk, oder Nachbarn die Pferde gestohlen hätten. Diese Reihenfolge zeigt, dass bei einem Diebstahlsfall zuerst Fremde verdächtigt werden, bevor die Verdächtigungen einen immer engeren Kreis betreffen. Zur sozialen Dimension des Diebstahls vgl. Kap. 7. 132 Eyr 18, S. 35; »›Wir suchen nach den Pferden, die mir im Herbst gestohlen wurden.‹« 133 Den besonders hohen Anteil an direkter Figurenrede dieser Episode bespricht Hartung 2017, S.  225–229. Diese Feststellung ist insofern interessant, als die Heimlichkeit des unterstellten Verbrechens auf der Handlungsebene hier der offenen, zeitdehnenden Darstellung gegenübersteht. Vgl. Kap. 4. 134 Þorbjǫrns Pferde starben im Kampf gegen Þórarinns Pferde. Zum Spiel mit den Mensch-Tier-Relationen in dieser Episode siehe Phelpstead 2014, S. 11.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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Toten unter den Unterstützern und einer verlorenen Hand. Obwohl alle Figuren entschlossen und im Einklang mit den Ehrvorstellungen ihres Umfelds vorgegangen sind, gibt es keinen ›Gewinner‹ in diesem Konflikt. Eine alternative Möglichkeit, solche Vorwürfe zu behandeln, wird noch im selben Kapitel aufgezeigt. Im folgenden Herbst sortiert ein Knecht des Goden Snorri beim Schafabtrieb die Tiere seines Herrn. Versehentlich ist ein Schaf von Vígfuss dabei, was dessen Verwandten sauer aufstößt. Er beschimpft den Knecht: ›Hvat mun þjófr þinn vita til þess?‹,135 und schlägt ihn ohnmächtig. Auch ein Verwandter Snorris ist anwesend, sodass es zum Kampf kommt, in dem allerdings niemand stirbt. Später fordert Vigfúss von Snorri eine Bußzahlung für diese Schmach. Snorri ignoriert dies und geht nicht auf die Anschuldigungen ein. Der erboste Vígfuss bringt die Klage vor das Thing, hier werden aber nur die Handgreiflichkeiten verhandelt, vom Diebstahl ist keine Rede mehr. Auf dem Thing wird entschieden, dass keine Buße zu zahlen ist. Snorri, der Protagonist der Saga, ist hier mit seinem abwartenden Kalkül wesentlich erfolgreicher als die kampfbereiten Beteiligten des zuvor geschilderten Pferdekonfliktes. Deren Verleumdungsepisode trägt damit indirekt zur Charakterisierung des Taktikers Snorri bei, der sich im eingangs skizzierten Spannungsfeld von Mäßigung und Entschlossenheit weit trittsicherer bewegt, als sämtliche Nebenfiguren der Eyrbyggja saga.

5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung Während Andersson annimmt, dass es nur eine einzige stehlende Frau in den Isländersagas gäbe,136 finden sich dort noch mindestens vier weitere Frauen, die sich dieses Verbrechens schuldig machen.137 Alle diese Frauen haben eine hohe soziale Stellung inne und setzen Diebstahl als gezieltes Mittel ein, um die männlichen Figuren ihrer Familie zum Handeln zu zwingen. Dies gelingt, da das Verbrechen Diebstahl entscheidende Merkmale mit der hvǫt, der ritualisierten Hetzrede, teilt und damit ein besonders starkes Werkzeug kausaler Motivierung darstellt. Innerhalb der Sagagesellschaft sind die Aufgaben von Männern und Frauen klar verteilt.138 Die männlichen Familienmitglieder repräsentieren die Familie nach außen, indem sie auf Thingversammlungen für sie eintreten und Konflikte aller Art

135 Eyr 23, S. 58; »›Was weißt du Dieb schon davon?‹« 136 Vgl. Andersson 1984, S. 505: »Hallgerð is, if I am not mistaken, the only female thief in the family sagas.« Kress 2008, S. 36 fügt außerdem Guðrún Ósvifrsdóttir hinzu. Obwohl sie auch auf Þuríðr Óláfsdóttir zu sprechen kommt (S. 32), rechnet sie diese nicht zu den weiblichen Dieben. Hier werden alle drei Frauenfiguren betrachtet und um Þuríðr sowie eine namenlose Diebin aus der Heiðarvíga saga ergänzt. 137 Eine frühere, englischsprachige Version dieser Überlegungen findet sich bei Hahn 2016. 138 Vgl. Kap. 2.1.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

mit anderen Bauern austragen. Ihr weiblicher Gegenpart, die Sagafrau hoher Abstammung, findet ihren Zuständigkeitsbereich innerhalb des Hofes und der Familie. Weder kann sie selbst losziehen, um einen Totschlag zu rächen,139 noch steht ihr offener Raub als ehrenhafte Handlungsoption zur Verfügung. Trotzdem kommt den Frauen häufig eine entscheidende Rolle im Verlauf von Familienfehden zu.140 Meulengracht Sørensen nennt sie »[æ]rens vogtere«141 und die hvǫt (oder frýja) ihr bemerkenswertestes Instrument, um auf homosoziale Konflikte einzuwirken.142 Er stellt die hvǫt in die Nähe des níð, der ebenso aus Vorwürfen von Unmännlichkeit, Feigheit und mangelnder Tatkraft besteht. Während níð in Konflikten unter Männern verwendet wird, um die Ehre des Gegners zu attackieren, wird eine hvǫt von Verwandten eingesetzt, um einen Mann dazu zu bewegen, die Ehre der Familie wiederherzustellen.143 In den meisten Fällen wird die hvǫt von einer weiblichen Figur durchgeführt, seltener greifen männliche Figuren auf dieses Mittel zurück, wenn sie beispielsweise aufgrund ihres Alters den Angriff nicht selbst führen können. Insbesondere die trauernde Witwe lenkt viele Fehden, indem sie männliche Familienangehörige aufstachelt, den Tod ihres Mannes zu rächen: Sie ist es, die durch ihre Aufhetzung den Angehörigen auswählt, der für die Rache verantwortlich sein wird, und somit das Zentrum der »vengeancetaking group«144 darstellt. Als narratives Mittel dient die hvǫt zur Beschleunigung der Handlung und macht die unterschiedlichen Moralvorstellungen der teilhabenden Figuren sichtbar.145 Der ›Hetzerin‹ als literarischer Figur widmet sich Rolf Heller, der 51 solcher Szenen in den Isländersagas ausmacht, was sie zur häufigsten Frauenrolle der Gattung macht.146 Vierzig Prozent aller Aufstachelungsepisoden finden sich laut Heller in der Brennu-Njáls saga und der Laxdœla saga. Diese beiden Sagas enthalten einige der schillerndsten und stärksten Frauenfiguren der Gattung, weshalb es nicht überrascht, dass auch die meisten Diebinnen der Isländersagas in ihnen zu finden sind. Heller spricht von einer ansteigenden Hierarchie innerhalb der Komponenten einer hvǫt: Auf den Vorwurf der Feigheit folgt die Anschuldigung der Unmännlichkeit, zuletzt kann blutige Kleidung des Verwandten zur Schau gestellt werden.147 Miller dagegen unterscheidet zwischen rein verbalen Aufhetzungen und ritualisierten Zeremonien,

139 Einige Szenen, in denen Frauenfiguren Gewalt anwenden, bespricht Ahola 2009. 140 Vgl. bspw. Clover 1993 (insb. S. 368–369), Miller 1990 (insb. S. 207–208 und S. 211–214), Kress 2008, Jochens 1986 und Beck 1978a. Die gegenteilige Funktion einer klugen und friedensstiftenden Ratgeberin bespricht Gos 2009. 141 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 238; »Wächter der Ehre«. 142 Siehe auch Clover 2002, Wolf 1965 (insb. S. 109–147), und Anderson 2002, S. 426–427. 143 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 239. 144 Miller 1983, S. 190. Siehe auch Clover 1993. 145 Vgl. Mundal 1993, S. 724. 146 Vgl. Heller 1958, S. 98. 147 Vgl. Heller 1958, S. 98.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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die blutgetränkte Gegenstände des Opfers enthalten.148 In beiden Modellen fungieren die Objekte zur Verstärkung der verbalen Anklage. Der Diebstahl weiblicher Figuren funktioniert in den Isländersagas nach den gleichen Prinzipien. Im Gegensatz zum offenen Raub findet er im Verborgenen, im Nicht-Öffentlichen, statt und hat daher nicht nur eine ›unmännliche‹ Semantik,149 sondern Schnittmengen mit der weiblichen Sphäre. Dementsprechend beginnen alle von Frauenfiguren begangenen Diebstähle in ihrer Planung und Ausführung heimlich. Sie müssen im rechten Moment öffentlich gemacht werden, um ihre Wirkung zu entfalten und als Instrument zur Aufhetzung zu funktionieren. Dies korrespondiert mit der stillen Aufbewahrung der Gegenstände eines Verstorbenen, die im direkten Anschluss an Totschläge beiseitegelegt werden.150 So sammelt beispielsweise Hildigunnr in der Njáls saga das Blut ihres getöteten Ehemanns mit seinem Umhang ein, legt ihn in eine Truhe und wartet auf ihren Onkel Flosi, den sie als Instrument ihrer Rache auserkoren hat. Am Ende ihrer ausgefeilten hvǫt legt sie ihn um Flosis Schultern, sodass das Blut des Getöteten über ihren Onkel rinnt (Nj 116). Ebenso wenig wie der blutige Umhang kann das Geheimnis um einen Diebstahl ewig bewahrt werden – beides dient dazu, männliche Familienmitglieder zum richtigen Zeitpunkt mit der Schande zu konfrontieren.151

5.3.1 Diebstahl und Aufhetzung in der Heiðarvíga saga Die einzige Saga, die die Motive Diebstahl und hvǫt in direkte Verbindung setzt, ist die Heiðarvíga saga.152 Die Überlieferungssituation dieser Saga ist außergewöhnlich schwierig: Inhaltlich lässt sich die Saga grob in zwei Teile gliedern. Dies hat dazu geführt, dass ihr erster Teil (der etwa den Kapiteln  1–15 entspricht), vom Rest des mittelalterlichen Manuskriptes getrennt wurde. Zur Kopie sandte man diesen ersten Teil im Jahr 1725 nach Kopenhagen zu Jón Ólafsson, dem Schreiber des berühmten Gelehrten und Handschriftensammlers Árni Magnússon. Dieser fertigte eine Abschrift an, welche zusammen mit der Handschrift 1728 dem verheerenden Stadtbrand Kopen148 Vgl. Miller 1983, S. 181. 149 Vgl. Kap. 3. 150 Einige dieser Gegenstände entwickeln eine besondere Bedeutung für die Narration, weshalb sie aus diesem Blickwinkel ebenfalls in Kap. 4.2 besprochen werden. 151 Eine weitere Rachemöglichkeit einer sozial hochstehenden weiblichen Figur streift Cochrane 2012, S. 64: Die Anheuerung eines Meuchelmörders aus einer niedrigen Schicht. Allerdings werden solche Figuren weit häufiger von Männern bezahlt, sodass es sich nicht um ein speziell weibliches Vorgehen handelt. 152 Die Heiðarvíga saga nimmt unter den Isländersagas auch aus anderen Gründen eine besondere Stellung ein: Ihre ausgefeilte Fehdestruktur und archaische Sprache haben dazu geführt, dass sie immer wieder als Teil der ältesten Schicht der Gattung diskutiert wurde (vgl. Mai 2000, Perkins 1999 und Heller 2001).

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

hagens ebenso zum Opfer fiel, wie viele andere Manuskripte. Zusätzlich hatte Jón Ólafsson eine Liste prägnanter sprachlicher Wendungen aus der Saga kopiert, mit deren Hilfe er aus dem Gedächtnis den ersten Teil der Saga, so gut es ihm möglich war, rekonstruierte.153 Wie nahe der auf diese Weise entstandene Text der originalen Handschrift steht, ist nicht mehr zu prüfen. Innerhalb der Rekonstruktion findet ein Schwertdiebstahl durch eine weibliche Figur statt, der für den zweiten Teil der Saga bedeutsam bleibt. Leider gibt es in der Diebstahlsepisode offensichtliche Gedächtnisfehler in der Nacherzählung. Weder die Namen der beteiligten Figuren noch die Anzahl der gestohlenen Schwerter stimmen mit dem erhaltenen Teil der Saga überein, sodass diese Quelle insgesamt mit einiger Vorsicht zu betrachten ist.154 Die Destabilisierung der Diebstahlsepisoden ist hier weniger narrativ als materiell begründet. Aufgrund der schwierigen Textsituation wird das Geschehen hier so detailreich wie möglich nachvollzogen: Am Übergang zum zweiten Teil der Saga freundet sich der intrigante Þórarinn, ein Protagonist beider Teile, mit einem gewissen Lygi-Torfi (in der Rekonstruktion: Lygi-Narfi) an. Dieser hat verwandtschaftliche Verbindungen zu Þórarinns Gegnern, pflegt aber ein schlechtes Verhältnis zu seiner Familie. Es gelingt Þórarinn, Lygi-Torfi/ Narfi dazu zu überreden, ihm das Schwert seines Feindes zu besorgen. Im zweiten Teil handelt es sich eindeutig um die Figur Þorbjǫrn, in der Rekonstruktion wird die Figur Þórólfr á Sleggjulæk genannt. In der Rekonstruktion wird Torfi/Narfi mehrfach abgewiesen und erhält nur ein Schwert, im erhaltenen Teil der Saga bringt er Þórarinn allerdings zwei Schwerter seiner Verwandten. Das zweite Schwert fehlt in der Rekonstruktion spurlos.155 Þórarinn gibt seinem Helfer ein prachtvolles Messer mit auf den Weg, welches er zum Tausch anbieten soll. Er weist ihn an, sich eine passende Lüge auszudenken, die rechtfertigen kann, wieso er sich das Schwert seines Verwandten leihen wolle. LygiTorfi/Narfi kann zwar ›Þórólfr‹ nicht zur Herausgabe des Schwertes bewegen, aber

153 Vgl. Guðni Jónsson/Nordal (Hrsg.) 1938, § 16, S. c–ci sowie Perkins 1999, S. 139. 154 Im rekonstruierten Teil der Saga findet auch ein Schafdiebstahl statt, auf den nicht näher eingegangen wird. Dieser veranlasst Víga-Styrr, eine deutliche Kennzeichnung aller Schafe im Bezirk anzuordnen. Als er sich bei einem Bauern namens Þórhalli aufhält, bemerkt er, dass das Schaf, das sie gerade verspeisen, ungekennzeichnet ist. Obwohl völlig unschuldig, fühlt sich Þórhalli umgehend in der Pflicht, die Offenheit des Vorgehens zu betonen: Þórhalli segir, at hvárki þeim né ǫdrum sé þat dult, […] (Hvs 7, S. 227; »Þórhalli sagt, dass weder ihnen noch anderen etwas verborgen sei […].«). Als seine Frau hinzukommt, reagiert sie höchst ungehalten, obwohl keinerlei Vorwurf ausgesprochen wurde, und sagt, at þat sé ójǫfnuðr stórr, at Styrr kenni bónda sínum þjófnað ok launi þannig góðan greiða, sem menn hans hafi optsinnis illa þegit; verðr hon óðamálug mjǫk (Hvs 7, S. 227; »dass es eine große Ungerechtigkeit sei, dass Styrr ihren Mann des Diebstahls bezichtige und damit einen guten Dienst entlohne, wie seine Männer oftmals Übles empfangen hätten; sie beginnt eine sehr heftige Rede«). Zum Provokationscharakter von Diebstahlsvorwürfen siehe Kap. 5.2. 155 Zu den Unstimmigkeiten innerhalb der Episode vgl. ausführlicher Guðni Jónsson/Nordal (Hrsg.) 1938, § 17, S. cxiii.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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dessen Ehefrau auf seine Seite ziehen. Diese versucht zunächst, ihren Ehemann mit Worten aufzustacheln, und wirft ihm vor, es sei schändlich, einem Verwandten in der Not die Hilfe zu verwehren: ›[E]ða hvat skal fretkarli þínum svá gott vápn, þarstu er kominn af fótum fram?‹156 Als sich ihr Ehemann weiterhin weigert, das Schwert herauszugeben, bricht die Frau seine Truhe auf: Ferr hon þá ok brýtr upp hirzluna, sem sverðit lá í, tekr þat ok selr í hendr Narfa; en hann strýkr þegar norðr ok fær Þórarni.157 Im Gegensatz zu den im Folgenden besprochenen weiblichen Diebstählen wird das Geschehen hier nur knapp berichtet und entfaltet keine besonderen, mit dem Geschlecht der Diebin verbundenen, Konsequenzen. Ob Torfi/Narfi seinem Auftraggeber überhaupt vom Handeln der Ehefrau erzählt hat, bleibt unerwähnt. Nicht einmal der Name der stehlenden Frau wird in der Rekonstruktion des ersten Teils genannt. Der Szene wird insgesamt erstaunlich wenig Gewicht beigemessen, bedenkt man, dass hier eine weibliche Figur ihren Mann zuerst mit beleidigenden Worten aufzustacheln versucht und sich dann gegen seine ausdrückliche Anweisung an seinem Eigentum vergreift. Allerdings muss fraglich bleiben, ob all diese Auffälligkeiten schon im ursprünglichen Text vorhanden waren. Da Jón Ólafsson bei dieser Passage offenbar einige Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion hatte, bleiben auch dort Zweifel zurück, wo keine eindeutigen Textstellen aus dem zweiten Teil Fehler offenbaren. Jedenfalls gelangt das Schwert seines Feindes in Þórarinns Hände, der es später seinem Ziehsohn Barði übergibt, damit dieser den gemeinsamen Feind mit der eigenen Waffe töten könne (Hvs 23). Zwar wird betont, dass Þórarinn Barði die ganze Geschichte mitteilt, der Fokus liegt hier aber auf seinen Händeln mit Lygi-Torfi (Hann sagði honum með ǫllum atburðum, hvé fór með þeim Lygi-Torfa, ok hvé hann hafði lokkat hann til at sœkja vápnit).158 Das gestohlene Schwert bleibt in der weiteren Erzählung präsent. Zu den üblen Vorzeichen, die den bestohlenen Þorbjǫrn vor dem Kampf plagen, zählt ein Traum, in dem er sich mit seinem alten Schwert sieht, ›en nú er eigi heima, ok brotnaði í sundr, þegar ek hjó fram.‹159 Barði ist später mit einem Schwert namens Þorgautsnaut gegürtet, dabei handelt es sich um das zweite (in der Rekonstruktion vergessene) Schwert der Familie.160 Þorbjǫrns Schwert dagegen landet in den Händen Þorbergrs, eines Sohnes von Þórarinn. Dieser brüstet sich beim Zusammentreffen mit dem Vorbesitzer: ›Ek heiti Þorbergr, en þetta sverð seldi mér Lygi-Torfi,

156 Hvs 15, S. 261–262; »›Was soll dir Furzkerl eine so gute Waffe nützen, wenn du nicht einmal mehr auf die Füße kommst?‹« Diese wörtliche Rede entstammt der Sammlung von Redewendungen, die Jón Ólafsson noch vor dem Verlust des mittelalterlichen Manuskriptes der Saga kopiert hatte. 157 Hvs 15, S. 262; »Sie geht hin und bricht die Kiste auf, in der das Schwert lag, nimmt es und gibt es Narfi [Torfi]; der bricht sogleich nach Norden auf und gibt es Þórarinn.« 158 Hvs 23, S. 280; »Er sagte ihm mit allen Einzelheiten, wie er mit Lygi-Torfi verfahren war, und wie er ihn verlockte, das Schwert zu besorgen.« 159 Hvs 26, S. 291; »›das nun aber nicht zuhause ist, und es brach in Stücke, als ich damit zuschlug‹«. 160 Vgl. Hvs 27, S. 295.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

frændi þinn, ok hér af skaltu mart hǫgg þola í dag, […].‹161 Þorbjǫrn gibt sich unbeeindruckt: ›Vera kann, at þat sé þar vápn, er ek á, en áðr vér skiljumsk í dag, þá muntu lítt oss frýja þurfa.‹162 In dieser Replik wird von einer Figur verbalisiert, dass der Diebstahl des Schwertes innerhalb der erzählten Welt als ebensolche Aufhetzung empfunden wird, wie eine Hetzrede (frýja). Ein weiterer Berührungspunkt der Motive findet sich in Þuríðrs Aufhetzung ihrer Söhne. Diese zählt zu den am stärksten ritualisierten hvǫt-Szenen der Gattung und wurde von der Forschung ausführlich diskutiert.163 Þuríðr verwendet mehrere Requisiten, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen: Zuerst tischt sie ihren Söhnen ein geteiltes Ochsenbein auf, mit dem Hinweis, die ungewöhnlich großen Stücke seien trotzdem wesentlich kleiner, als die Fleischstücke, in die ihr Bruder von seinen Feinden zerlegt wurde. Darauf folgen Steine, die in den Augen der Mutter leichter zu verdauen seien, als die Schmach, die ihre Söhne auf sich geladen haben, indem sie ihren Bruder noch nicht gerächt haben (Hvs 22). Der Erwerb dieses Ochsenbeines geschieht wesentlich früher und zählt zu den vielen narrativen Details, die zunächst aus dieser Saga verschwinden, um später ohne einen Hinweis auf die frühere Szene erneut bedeutsam zu werden.164 Der Knecht Þórðr wird von seinem Herrn aufgefordert, einen Ochsen zu schlachten. Da er erst sein Pferd wechseln muss, lässt er das Fleisch des Ochsen zunächst zurück. Bei seiner Wiederkehr var á brautu einn limr oxans. Þórðr mælti eigi gott. Maðr gengr í gegn, at á braut kvezk tekit hafa, ok bað hann eigi drifa sik um at rœða, nema hann vildi hafa hǫgg.165 Þórðr reitet mit dem restlichen Schlachtgut fort und wird später nicht auf den fehlenden Teil angesprochen (Hvs 19). Die Identität der Figur, die Þórðr hier anspricht wird nie aufgelöst. Auch, dass es sich um das später servierte Ochsenfleisch handelt, wird nie expliziert. Falls Þuríðr selbst der maðr (»Mensch, Mann«) ist, handelt es sich um den zweiten weiblichen Diebstahl dieser Saga. Auch, falls sie den Diebstahl nur angeordnet hat, und es sich hier um einen (männlichen?) Boten handelt, liegt die Verantwortung bei ihr.166 In der Edition

161 Hvs 30, S. 302; »›Ich heiße Þorbergr, und dieses Schwert verkaufte mir Lygi-Torfi, dein Verwandter, und hiermit sollst du heute viele Hiebe einstecken.‹« 162 Hvs 30, S. 302; »›Mag sein, dass dies die Waffe ist, die eigentlich ich besitze, aber bis wir heute voneinander scheiden, wirst du uns nicht lange aufhetzen müssen.‹« 163 Vgl. Heller 2001 sowie Martínez-Pizarro 1985. 164 Zu den narrativen Details der Heiðarvíga saga siehe Shortt Butler 2018. Joanne Shortt Butler danke ich für ihre Einschätzung dieser Szene. 165 Hvs 19, S. 271–272; »war ein Ochsenbein verschwunden. Þórðr sprach nicht gut darüber. Jemand kommt ihm entgegen, und gesteht, es mitgenommen zu haben, und sagt ihm, er solle nicht wagen, davon zu berichten – außer, er wolle Schläge haben.« 166 Eindeutig zugeschrieben wird ihr der Diebstahl von Martínez-Pizarro 1985, S.  222: »She first places before them outsize pieces of meat cut from an ox’s leg that she had stolen from the secretly prepared provisions for the men’s journey.«



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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wird auch auf die Möglichkeit eines Missverständnisses hingewiesen: »Er því líklegt, að Maðr í upphafi setningarinnar sé í rauninni misritun fyrir Þuríðr.«167 Der Zusammenhang zwischen weiblichem Diebstahl und Aufhetzungen ist in der Heiðarvíga saga unbestreitbar vorhanden. Tatsächlich stützt die requisitenlastige hvǫt im erhaltenen Teil der Saga die Rekonstruktion insofern, als das Motiv der stehlenden und hetzenden Frau hier ebenfalls auftritt. Solche Motivdopplungen werden in dieser Gattung häufig eingesetzt, und kommen auch in der Laxdœla saga in einem vergleichbaren semantischen Umfeld vor.168 Auch ist eine gewisse Uneindeutigkeit der Vorgänge für Diebstahlsnarrationen typisch;169 hier ist diese aber nicht intentional, sondern der Überlieferung geschuldet. Ein Gedächtnisfehler im ersten Teil wird von einem möglichen Schreibfehler im zweiten Teil begleitet, sodass insgesamt ein höchst instabiler Befund vorliegt. Festhalten lässt sich die semantische Nähe der beiden Motive weiblicher Diebstahl und Aufhetzung, deren Ausgestaltung soll jedoch im Folgenden nicht zur Untermauerung der Beispiele verwendet werden.

5.3.2 Hallgerðrs Diebstahl in der Brennu-Njáls saga Der berühmteste Diebstahl der Isländersagas wird von Hallgerðr Hǫskuldsdóttir in der Njáls saga initiiert, einige Jahre nach ihrer Heirat mit Gunnarr von Hlíðarendi. Hallgerðr, die bereits als das Kind mit den Diebesaugen in die Erzählung eingeführt wurde,170 ist zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit bereits zweimal verwitwet. Ihr Onkel Hrútr rät Gunnarr von der Ehe ab, da die Braut einen zwielichtigen Charakter habe (›hon er blandin mjǫk‹171). Wurde bei ihrem Kennenlernen noch die Öffentlichkeit ihrer Begegnung akzentuiert,172 möchte man ihre Hochzeit zunächst geheim halten, was aber scheitert. Während der Ehe strapaziert Hallgerðr des Öfteren das beherrschte Gemüt Gunnarrs,173 zur Eskalation kommt es nach einem erfolglosen Versuch, dem Bauern Otkell Nahrungsmittel abzukaufen. In Kapitel 47 werden die drei Brüder Otkell, Hallkell und Hallbjǫrn eingeführt. Hallbjǫrn bringt einen irischen Sklaven namens Melkólfr mit nach Island, und zieht mit diesem zu Otkell. Über den Sklaven heißt es, er sei nicht beliebt, und wünsche sich, anstelle von Hallbjǫrn dessen Bruder Otkell zum Herrn zu haben. Dieser ist freundlich zum irischen Sklaven und schenkt ihm Kleidung, ein Messer und einen Gürtel. Dafür

167 Hvs 19, S. 271; »Es ist wahrscheinlich, dass Maðr am Anfang des Satzes tatsächlich ein Schreibfehler für Þuríðr ist.« 168 Vgl. Kap. 5.3.2 sowie Kap. 5.3.3. 169 Vgl. Kap. 4.1. 170 Vgl. Kap. 5.1.1. 171 Nj 33, S. 86; »›sie ist von sehr unzuverlässigem (wörtlich: vermischtem) Charakter‹«. 172 Vgl. Kap. 5.2.2. 173 Vgl. Kap. 5.2.2.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

gehorcht der Sklave Otkell immer, sodass Otkell seinen Bruder bittet, den Sklaven an ihn zu verkaufen. Hallbjǫrn schätzt Melkólfr anders ein: Er schenkt ihm den Sklaven, warnt seinen Bruder aber, Melkólfr sei kein solcher Gewinn, wie Otkell annehme. Sobald Melkólfr einen neuen Besitzer hat, arbeitet er wesentlich schlechter. Otkell beklagt sich darüber mehrfach bei seinem Bruder, doch Hallbjǫrn antwortet, Melkólfr sei noch annat verr gefit.174 Bei Otkell hält sich häufig dessen Freund Skammkell auf, über den es heißt, er var illgjarn ok lyginn, ódæll ok illr viðreignar.175 Es kommt zu einer Missernte, sodass Gunnarr sowohl Heu als auch Nahrungsmittel knapp werden und keiner seiner Nachbarn ihm aushelfen kann. Er reitet mit Þráinn Sigfússon und Lambi Sigurðarson nach Kirkjubœr zu Otkell, um Heu und Essen von ihm zu erhalten.176 Ihr Dialog spielt alle Möglichkeiten des Warentransfers durch:177 ›Svá er háttat,‹ segir Gunnarr, ›at ek em kominn at fala at þér hey ok mat, ef til væri.‹ ›Hvárttveggja er til,‹ segir Otkell, ›en hvárki vil ek þér selja.‹ ›Villtú gefa mér þá,‹ segir Gunnarr, ›ok hætta til, hverju ek launa þér?‹ ›Eigi vil ek þat,‹ segir Otkell. Skammkell var tillagaillr. Þráinn Sigfússon mælti: ›Þess væri vert, at vér tœkim ok legðim verð í staðinn.‹ ›Aldauða eru Mosfellingar þá,‹ segir Skammkell, ›ef ér Sigfússynir skuluð þá ræna.‹ ›Með engi rán vil ek fara,‹ segir Gunnarr.178

Anstelle dieses Handels bietet Otkell den Sklaven Melkólfr zum Verkauf an, den Gunnarr erwirbt, bevor er abzieht. Essen und Heu erhält Gunnarr im Anschluss als Geschenk von Njáll, der ihn bittet, nie wieder einen anderen Mann aufzusuchen, und fortan nur noch ihn um Hilfe anzugehen. Der Sklave Melkólfr lebt nun im Haushalt auf Hlíðarendi. Sobald das nächste Allthing stattfindet, ruft Hallgerðr den Sklaven zu sich und schickt ihn nach Kirkjubœr:

174 Nj 47, S. 121; »Schlimmeres gegeben«. 175 Nj 47, S. 120; »bösartig und verlogen, ungesellig und schwierig im Umgang«. 176 Vgl. Miller 1986b, der annimmt, dass es sich grundsätzlich um eine schwierige soziale Situation handle, am Hof eines benachbarten Bauern einen Kauf vorzuschlagen. Im ehrenhaften Kontakt untereinander tauschen gleichrangige Nachbarn Geschenke oder bedienen sich anderer Mittel, um einander ihrer Unterstützung zu versichern. Kommt ein angesehener Bauer dagegen als Händler an den Hof eines anderen, führt ihm dies nicht nur die mangelnde soziale Verbundenheit vor Augen; es schwingt auch immer der gewaltsame Raub als Handlungsalternative mit. 177 Zu Handel, Geschenk und rán, den hier genannten Möglichkeiten des Warentausches, vgl. ausführlich Miller 1986b, S. 25–35. 178 Nj 47, S. 121–122; »›Die Sache ist so,‹ sagt Gunnarr, ›dass ich gekommen bin um euch Heu und Nahrungsmittel abzukaufen, wenn dies vorhanden ist.‹ ›Beides ist vorhanden,‹ sagt Otkell, ›aber keines davon will ich dir verkaufen.‹ ›Willst du es mir schenken,‹ sagt Gunnarr, ›und es darauf ankommen lassen, wie ich es dir entlohne?‹ ›Das will ich nicht,‹ sagt Otkell. Skammkell flüsterte ihm Übles ein. Þráinn Sigfússon erwiderte: ›Es wäre angemessen, wenn wir es nähmen und die Summe dafür hinterlegen.‹ ›Mausetot müssten die Mosfellingar sein,‹ sagt Skammkell, ›damit ihr Sigfússöhne sie berauben könntet.‹ ›Ich werde keinen Raub verüben,‹ sagt Gunnarr.«



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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›Þú skalt stela þaðan mat á tvá hesta ok hafa smjǫr ok ost, en þú skalt leggja eld í útibúrit, ok munu allir ætla, at af vangeymslu hafi orðit, en engi mun ætla, at stolit hafi verit.‹ Þrællinn mælti: ›Vándr hefi ek verit, en þó hefi ek aldri þjófr verit.‹ ›Heyr endemi!‹ segir hon, ›þú gerir þik góðan, þar sem þú hefir verit bæði þjófr ok morðingi, ok skalt þú eigi þora annat en fara, ella skal ek láta drepa þik.‹ Hann þóttisk vita, at hon myndi svá gera, ef hann fœri eigi; […].179

Schließlich fügt sich Melkólfr dem Befehl, nimmt zwei Pferde und schleicht bei Nacht zu seinem ehemaligen Hof. Da der Wachhund ihn kennt, schlägt er nicht an, sondern läuft ihm freudig entgegen. Melkólfr öffnet den Vorratsschuppen und belädt beide Pferde mit Nahrungsmitteln. Wie von Hallgerðr geplant, verbrennt er danach den Schuppen und tötet sogar den Hund, obwohl dieser ihn nicht verraten hat. Auf dem Rückweg reißen Melkólfrs Schuhbänder, sodass er sein Messer zückt, um den Schaden zu reparieren.180 Danach vergisst er allerdings versehentlich das Messer und seinen Gürtel. Als ihm der Verlust in Hlíðarendi auffällt, wagt er es nicht, zurückzugehen, sondern übergibt Hallgerðr das Diebesgut: Hón lét vel yfir.181 Als Gunnarr mit einigen Gästen nach Hause kommt, ist er überrascht, Butter und Käse auf seinem Tisch vorzufinden und fragt seine Frau, woher das Essen komme. Sie antwortet: ›Þaðan, sem þú mátt vel eta,‹ segir hon, ›enda er þat ekki karla at annask um matreiðu.‹182 Gunnarr begreift nun, was geschehen ist, und erhebt sich: ›Illa er þá, ef ek em þjófsnautr,‹ – ok lýstr hana kinnhest. Hon kvazk þann hest muna skyldu ok launa, ef hon mætti. Gekk hon þá fram ok hann með henni, ok var þá borit allt af borðinu ok borit innar slátr, ok ætluðu allir, at þat myndi þykkja fengit betr.183

Durch Hrútrs Frage, ›hvaðan þjófsaugu eru komin í ættir várar‹,184 ist dieser Diebstahl auch kompositorisch motiviert und wird vom Rezipienten der Njáls saga seit langem erwartet. Durch die Wortwahl þjófsaugu war bereits eindeutig vorgegeben, dass es 179 Nj 48, S. 123; »›Du sollst von dort mit zwei Pferden Nahrungsmittel stehlen, und Butter und Käse mitnehmen. Dann sollst du Feuer an die Scheune legen, und alle werden denken, dies sei aus Unachtsamkeit geschehen. Keiner wird denken, dass gestohlen wurde.‹ Der Knecht erwiderte: ›Schlecht bin ich gewesen, aber doch war ich nie ein Dieb.‹ ›Hat man so etwas schon gehört!‹ sagt sie, ›Du behauptest, gut zu sein, und doch bist du schon ein Dieb und Mörder gewesen, und wage es nicht, mir zuwider zu handeln, sonst lasse ich dich töten.‹ Er glaubte zu wissen, dass sie dies tun würde, wenn er es nicht täte; […].« 180 Diese Gegenstände werden ihn schließlich als Dieb überführen, da Otkell die von ihm verschenkten Stücke wiedererkennt, vgl. Sauckel 2014, S. 35. 181 Nj 48, S. 123; »Sie war zufrieden damit.« 182 Nj 48, S. 124; »›Von einem Ort, von dem du es zufrieden essen kannst,‹ sagt sie, ›außerdem ist es nicht an Männern, sich um Essensangelegenheiten zu kümmern.‹« 183 Nj 48, S. 124; »›Schlimm steht es, wenn ich ein Diebesgenosse bin,‹ – und gibt ihr eine Ohrfeige. Sie sagte, diese Ohrfeige werde sie in Erinnerung behalten und vergelten, wenn sie könne. Dann ging sie hinaus und er mit ihr, und da wurde alles vom Tisch geräumt und Geschlachtetes hereingebracht. Und alle dachten, dieses werde auf bessere Weise erworben worden sein.« 184 Nj 1, S. 7; »›woher Diebesaugen in unser Geschlecht gekommen sind‹«.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

sich um einen heimlichen Diebstahl handeln würde, den Hallgerðr vollführt. Dieser Umstand wird in der Episode mehrfach betont, beispielsweise durch Melkólfrs nächtliches Verschwinden, aber auch durch die Anweisung, die Scheune nach der Tat zu verbrennen.185 Damit das Verbrechen aber seine Wirkung auf Gunnarr entfalten kann, muss Hallgerðr ihr Geheimnis zum richtigen Zeitpunkt lüften. Nach der Herkunft der Mahlzeit gefragt, antwortet sie ihrem Ehemann, es sei nicht Männersache, sich um Essensangelegenheiten zu kümmern. Ihr verschleiertes Geständnis, für die Herkunft der Mahlzeit verantwortlich zu sein, korrespondiert mit der heimlichen Natur ihres Verbrechens und ist deutlich genug, um sowohl Gunnarr als auch den Gästen die Wahrheit zu offenbaren. Ihre Bezugnahme auf weibliches und männliches Terrain186 berührt den semantischen Unterschied zwischen rán und þjófnaðr: Gunnarrs ehrenhaftes und offenes Vorgehen ist gescheitert, weswegen seine Frau sich nun mit ›weiblichen‹ Methoden darum gekümmert hat, Essen auf den Tisch zu bringen. Nach der Ohrfeige verlässt das Paar den Raum, während der Blickwinkel des Erzählers bei den zurückgelassenen Gästen verbleibt. Diese bekommen nun Fleisch aufgetischt, von dem man annimmt, es wäre auf ehrliche Weise erworben. Die Heimlichkeit des Verbrechens wird hier von der Art der Narration gespiegelt, wie sich in Hallgerðrs mehrdeutigem Geständnis ebenso zeigt, wie in der Auslassung des Gesprächs der Eheleute, die den Raum verlassen. Die intradiegetische Verschleierung korrespondiert mit Auslassungen und Perspektivwechseln auf der extradiegetischen Ebene – eine Narrationstechnik, die bei Diebstahlsfällen häufiger zum Einsatz kommt.187 Hallgerðrs Beweggründe für diesen Diebstahl wurden in der Forschung weitgehend positiv beurteilt. Miller nimmt an, Hallgerðr wolle die Demütigung ihres Ehemannes vergelten, die sich auf den ganzen Haushalt erstreckt habe,188 und auch Robert Cook beurteilt ihre Motivation in diesem Sinne: [T]he motivation in this case (a wife fighting for her husband’s honor) is a noble one. The public humiliation is particularly hard to bear because her act of vengeance against Otkell was intended to make up for the public humiliation that Gunnarr endured at his hands.189

185 Vgl. Müller 2000, S. 200, der ebenfalls die Verbindung des Niederbrennens und der Heimlichkeit betont, da das Verbrechen durch das Feuer verschleiert werden soll. 186 Weibliches Terrain wird meist als die Welt innan stokks (»innerhalb des Haushalts«) bezeichnet und beinhaltet die Verantwortung für das Kochen, Servieren, für die Kindeserziehung, etc. (vgl. Clover 1993, S. 365). 187 Diese Erzähltechnik wird auch für die Diebstähle von Guðrún Ósvifrsdóttir verwendet, siehe Kap. 5.3.4, ebenso beim Diebstahl der Færeyinga saga, vgl. Kap. 4.1.3 und Schmidt 2016. Allgemein zur Erzähltechnik der Diebstahlsepisoden Kap. 4. 188 Vgl. Miller 2014a, S. 112. Heinrichs 1994 (S. 346) argumentiert dagegen, es handle sich um den ersten Schritt im Kampf der Eheleute. 189 Cook 2008, S. 28.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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Zwar ist es sicher in Hallgerðrs Interesse, für einen Ausgleich der Demütigung zu sorgen, dennoch erscheint diese Beurteilung die Schwere des Verbrechens nicht ausreichend zu berücksichtigen. Hallgerðrs bisherige Figurenzeichnung legt eine persönliche Komponente nahe, die nicht nur auf den Ausgleich zwischen zwei Haushalten abzielt. Während ihrer Ehe mit Gunnarr wird Hallgerðr mehrfach als enttäuschte Frau dargestellt, deren Ehemann nicht ihren hohen Erwartungen entspricht. Als sie Gunnarr auf dem Thing trifft, wird viel Raum darauf verwendet, die Kleidung der beiden Protagonisten darzustellen. Dies spricht dafür, dass Hallgerðrs Interesse insbesondere von den Königsgeschenken angezogen wird, die Gunnarr als Statussymbole zur Schau trägt. Sie weisen ihn als guten Kämpfer ebenso aus, wie als tapferen Mann. Ihre Erwartungen an ihren dritten Ehemann bringt sie klar zum Ausdruck: Gunnarr var í tignarklæðum þeim, er Haraldr konungr Gormsson gaf honum; hann hafði ok hringinn á hendi, Hákonarnaut. Þau tǫluðu lengi hátt. Þar kom, er hann spurði, hvárt hon væri ógefin. Hon segir, at svá væri, – ›ok er þat ekki margra at hætta á þat,‹ segir hon. ›Þykki þér hvergi fullkosta?‹ segir hann. ›Eigi er þat,‹ segir hon, ›en mannvǫnd mun ek vera.‹190

Cook weist auf die doppelte Bedeutung des Adjektivs mannvǫnd hin: »[T]hat she is indeed hard to please (this would answer Gunnarr’s question) and that she is very difficult towards men.«191 Beide Bedeutungsebenen beinhalten nicht nur eine kokette Herausforderung, sondern ebenso eine Warnung. Nach der Hochzeit erfüllt Gunnarr ihre Erwartungen an seine Kampfbereitschaft nicht, und schlägt sich beispielsweise während ihrer Fehde mit Bergþóra nicht auf ihre Seite. Schon hier drückt sie ihre Unzufriedenheit aus: ›Fyrir litit kemr mér […] at eiga þann mann, er vaskastr er á Íslandi, ef þú hefnir eigi þessa, Gunnar.‹192 Gunnarr wird als gutmütiger Mann dargestellt, der vieles daransetzt, Gewalt zu vermeiden. Hallgerðr dagegen ist eine stolze Frauenfigur, die Ehrkränkungen gerächt wissen möchte, wie dies ihr Ziehvater Þjóstólfr in ihrer ersten Ehe für sie tut.193 Ihr Diebstahl setzt Gunnarr unter Druck und zwingt ihn zur Handlung. Ähnliche Strategien verwendet Hallgerðr in ihrer Fehde mit den Bewohnern von Bergþórshváll, als sie mehrere Morde befiehlt, in der Hoffnung, Gunnarr gegen seine Freunde aufzubringen. Keine dieser Taten kann Gunnarr gegen Njáll aufreizen, der Diebstahl dagegen ist nun erfolgreich: Gunnarrr und Otkell geraten in einen Streit, in dem Gunnarr Otkell schließlich tötet. 190 Nj 33, S. 86; »Gunnarr trug die prächtigen Kleider, die König Haraldr Gormsson ihm gegeben hatte. Er trug auch den Ring Hákonarnaut am Arm. Sie unterhielten sich lange lautstark. Da fragte er sie, ob sie unverheiratet sei. Sie sagt, dass es so wäre – ›und es ist nicht jedermanns Sache, es zu wagen,‹ sagt sie. ›Erscheint dir keiner angemessen?‹ sagt er. ›Das ist es nicht,‹ sagt sie, ›aber ich werde schwierig (bzw. wählerisch) sein‹«. 191 Cook 2008, S. 13. 192 Nj 35, S. 91; »›Es nützt mir wenig, jenen Mann zu haben, der auf Island der Tapferste ist, wenn du dies nicht rächst, Gunnarr.‹« 193 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 163–164.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Gunnarrs Reaktion wird in der Episode planvoll motiviert. In seinem Dialog mit Otkell werden alle möglichen Arten des Warenaustausches bereits angesprochen – bis hin zum Raub der Güter, den sein Onkel Þráinn Sigfússon vorschlägt. Gunnarr lehnt dieses Vorgehen strikt ab (›Með engi rán vil ek fara,‹ segir Gunnarr194). Heimlicher Diebstahl, þjófnaðr, ist die einzige Variante, die im Gespräch der Männer nicht angesprochen wird und damit selbst für die gewaltbereiten Teilnehmer des Gespräches keine Option darstellt. Hallgerðr bedient sich also genau jenes Mittels, das die ehrenvollen Männer nicht in Betracht gezogen haben, was durch die sorgsame Verwendung des Rechtsvokabulars unterstrichen wird. Als Gunnarr erfährt, dass seine Ehefrau sogar noch weiter gegangen ist, als Þráinn vorgeschlagen hatte, verliert er seine Beherrschung und gibt Hallgerðr die dritte Ohrfeige ihres Lebens. Wie bereits durch den Verlauf ihrer beiden vorherigen Ehen etabliert wurde, wird Gunnarr dies mit dem Leben bezahlen, woran Hallgerðrs Figurenrede ihn und den Rezipienten erinnert (þann hest muna skyldu ok launa195). Gunnarrs Reaktion drückt aus, dass es nicht die Tat als solche ist, die ihn erzürnt, sondern der Rückfall auf seinen Ruf: ›Illa er þá, ef ek em þjófsnautr‹196 – das Verbrechen seiner Frau belastet seine persönliche Ehre direkt. Während er alle von ihr angeordneten Totschläge ehrenhaft kompensieren konnte, entehrt ihn die Verwicklung in ihren Diebstahl unmittelbar. Die Präsenz des Diebesgutes in Form von Butter und Käse auf seinem Tisch verdinglicht den Diebstahl deutlich sichtbar für all seine Gäste. Anschließend bemüht Gunnarr sich, durch großzügige Angebote eine öffentliche Anklage und einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden, dies gelingt aber nicht.197 Alle folgenden Kampfhandlungen werden von Hallgerðr erfreut kommentiert. In der Brennu-Njáls saga funktioniert das Verbrechen Diebstahl als Methode der Aufhetzung, mit der Hallgerðr den schwelenden Konflikt zwischen Gunnarr und Otkell aktiv befeuert und somit direkt in eine Fehde eingreift. Nachdem die Männer ihres eigenen sozialen Standes ihrem Druck nicht nachgeben, nutzt Hallgerðr ihre Stellung und wendet sich an Melkólfr, einen Sklaven. Im Verhältnis zu ihm ist sie in einer machtvollen Position. Dies korrespondiert mit Clovers These einer Trennung der Gesellschaft in ›machtvoll‹ versus ›machtlos‹, anstelle einer Genderdichotomie, die sich am biologischen Geschlecht orientiert.198 Zwar fällt es Hallgerðr schwer, auf Gunnarr Druck auszuüben, der ihren eigenen Status teilt, einem männlichen Sklaven 194 Nj 47, S. 121–122; »›Ich werde keinen Raub verüben,‹ sagt Gunnarr.« 195 Nj 48, S. 124; »diese Ohrfeige werde sie in Erinnerung behalten und vergelten«. 196 Nj 48, S. 124; »›Schlimm steht es, wenn ich ein Diebesgenosse bin.‹« 197 Zu den juristischen und sozialen Folgen des Diebstahls vgl. Kap. 7.1.1.2. 198 Vgl. Clover 1993, S. 380. Clover bezieht sich auf Laqueurs one-sex model, das seither häufig angegriffen wurde (vgl. Tirosh 2014a, S. 48–52 für eine Übersicht der Forschungsdebatte). Clovers allgemeiner Einschätzung, die Dichotomie ›machtvoll vs. machtlos‹ sei innerhalb der Isländersagas von größerer Bedeutung als die Unterscheidung ›männlich vs. weiblich‹ soll hier gefolgt werden, ohne deshalb den Unterschied zwischen den Geschlechtern unterschätzen zu wollen. Vgl. auch Rau u. Greulich 2014, S. 88–90.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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ihres Haushalts kann sie aber selbstverständlich Befehle erteilen. Ihr Verbrechen und die Gegenwart des Diebesgutes im gemeinsamen Haushalt erzwingen Gunnarrs Reaktion, da er diese Beleidigung nicht tolerieren kann, ohne seine Ehre und Männlichkeit aufs Spiel zu setzen. Hallgerðr gehört zu den Dieben mit der höchsten sozialen Stellung in den Isländersagas, als Tochter Hǫskuldrs und Ehefrau Gunnarrs ist sie Teil der mächtigsten Familien im Westen und Süden des Landes. Sie ist somit keinesfalls den Außenseiterfiguren zuzuordnen, die Andersson als typische Diebe betrachtet.199 Ihr schwieriger Charakter scheint die Forschung jedoch immer wieder dazu einzuladen, ihr eine Nähe zur Zauberei zu unterstellen. Tatsächlich gibt es diese Verbindung nur über ihren Onkel mütterlicherseits, Svanr, der Zauberei ausübt und als unverträglich gilt.200 Besonders weit geht dabei Helga Kress, die Hallgerðr als Hexe interpretiert und unter anderem die Verbrennung des Vorratsschuppens durch Melkólfr als Textevidenz heranzieht, indem sie Feuer mit Magie assoziiert.201 Aber auch Vésteinn Ólason schreibt in seinem Überblickswerk zu den Isländersagas: Auch Hallgerð in der Njáls saga ist latent mit der Welt der subversiven Frauen verbunden, […]. Der Grund, dass man sie den Zauberinnen zuordnet, obwohl sie selbst keine Zauberkräfte besitzt, ist ihre Anstiftung zum Diebstahl, wodurch sich die Worte ihres Verwandten Hrut bestätigen, dass sie die Augen eines Diebes habe. […]. Sie verkörpert die Frau als elementare Lebenskraft ebenso wie die Eva, die gemäß mittelalterlicher Vorstellung der Ursprung allen Übels ist […].202

Trotz der semantischen Nähe von Diebstahl und Zauberei macht ein Diebstahl eine Figur aber keinesfalls automatisch zauberkundig,203 ebenso wenig die Verwandtschaft zu einem Zauberer, zumal es in der Saga keinen Hinweis darauf gibt, dass Hallgerðr und Svanr eine nennenswerte Zeit miteinander verbracht hätten. Der Grund für diese Assoziation ist wohl in der gemeinsamen semantischen Nähe zum Konzept ergi zu suchen, den Diebstahl und Zauberei teilen. Wie Kress anderswo argumentiert,204 äußert sich ergi bei weiblichen Figuren durch übermäßige Sexualität. Diese wird für die Figur Hallgerðr mehrfach angedeutet, sodass man Andersson in seiner Einschätzung folgen kann, der dies in Kombination mit dem Diebstahl zum Anlass nimmt, Hallgerðr in die Nähe zwielichtiger Figuren zu rücken: 199 Vgl. Kap. 3. 200 Vgl. Nj 10, S.  31–33. Hallgerðrs Abstammung und Familienmitglieder werden ausführlich von Heinrichs 1994 diskutiert, die allerdings so weit geht, ein »archetypisches Grundmuster chthonischer, matriarchalischer Provenienz, Hallgerðr als Vertreterin einer Urmacht menschlichen Seins« (S. 335) erkennen zu wollen. Auch dort findet sich eine Zusammenfassung der Diebstahlsepisode (S. 347–349). 201 Vgl. Kress 2008, insb. S. 58: »Eldur og galdrar heyra saman, og voru galdramenn, hvort heldur þeir voru konur eða kvenlegir karlar, brenndir á báli« (»Feuer und Zauber gehören zusammen, und Zauberer, egal ob Frauen oder effeminierte Männer, wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«). 202 Vésteinn Ólason 2011, S. 163–164. 203 Zur Verbindung von Diebstahl und Zauberei siehe Kap. 3.2. 204 Vgl. Kress 1977.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Though not an outsider or an outcast in the normal sense, Hallgerðr is portrayed as a defective person. The deficiency is alluded to at the very outset when her uncle observes her as a young girl and asks how the ›thief’s eyes‹ got into the family. The thievish look about Hallgerðr is symptomatic of much more and becomes a highly charged metaphor for the underlying flaw that warps her personality […]. Given her thievish gene, it required no stretch of the imagination to make her into a shrew, a nymphomaniac, and a partner in crime with the slave Melkólfr.205

Es wurde häufig bemerkt, dass Hallgerðr vom Erzähler der Njáls saga sehr negativ gezeichnet wird und nur wenig Mühe darauf verwendet wird, ihre Taten nachvollziehbar zu motivieren.206 Während Hallgerðrs Diebstahl verurteilt wird, gilt dies nicht für eine weibliche Beteiligung an Fehden im Allgemeinen. Wie Meulengracht Sørensen bemerkt, stellt derselbe Erzähler beispielsweise Hildigunnr sehr positiv dar, obwohl sie die hvǫt durchführt, die maßgeblich zu den Ereignissen beiträgt, die schließlich zur brenna führen.207 Auch Njálls Abschiedsworte an seine Schwiegertochter Þórhalla, gesprochen als diese den brennenden Hof verlässt, illustriert diese Haltung. Sie verspricht ihm, ihre Familie aufzuhetzen, um den Mordbrand zu rächen, und Njáll antwortet: ›Vel mun þér fara, því at þú ert góð kona.‹208 Hallgerðr, die Frau mit den Diebesaugen, wird trotzdem eindeutig verurteilt. Die Frauen aus dem Laxárdalr werden dagegen in wesentlich positiverem Licht dargestellt, auch wird etwa für ihre Diebstähle jegliches Rechtsvokabular vermieden.

5.3.3 Þuríðr Óláfsdóttir in der Laxdœla saga Keine andere Isländersaga konzentriert sich so stark auf ihre weiblichen Figuren wie die Laxdœla saga.209 In ihrem Zentrum steht eindeutig Guðrún Ósvífrsdóttir, aber auch andere Frauen wie Unnr in djúpúðga, Þuríðr Óláfsdóttir und Þorgerðr Egilsdóttir bestimmen das Geschehen maßgeblich und werden im Gegensatz zu den männlichen Figuren als vielschichtige und leidenschaftliche Charaktere porträtiert.210 Die erste weibliche Diebin der Laxdœla saga ist Kjartans Schwester Þuríðr. Die Episode beginnt, als ihr Vater Óláfr auf einer Norwegenreise einen Mann namens Geirmundr gnýr kennenlernt, den er widerwillig mit nach Island nimmt, wo er ihn bei sich

205 Andersson 1984, S. 505. 206 Vgl. Cook 1992, S. 24 und Einar Ól. Sveinsson 1971, S. 107–109. 207 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 243–247. Siehe auch Miller 2014a, S. 21 sowie O’Donoghue 1992, S. 304–306 zur unterschiedlichen Bewertung der weiblichen Figuren innerhalb der Njáls saga. 208 Nj 129, S. 329; »›Es wird dir gut ergehen, denn du bist eine gute Frau‹«. Siehe auch O’Donoghue 1992, die eine Übersicht der Frauenfiguren in der Njáls saga bietet. Zur Rolle der Frauen in der Njáls saga stellt Gropper 2017b, S. 151 fest, dass diese aus der Erzählung verschwinden, sobald das von ihnen angestoßene Schicksal nicht mehr aufzuhalten ist. 209 Vgl. Frölich 2000, S. 11–12. 210 Vgl. Beck 2001, S. 163.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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auf Hjarðarholt wohnen lässt. Über Geirmundr heißt es, er habe stets ein besonderes Schwert bei sich, das er selten aus den Händen gebe (Lax 29).211 Obwohl er keine Sympathie für Geirmundr hegt, stimmt Óláfr auf Drängen seiner Frau Þorgerðr dessen Werbung um seine Tochter Þuríðr zu. Die Ehe ist nicht glücklich, weshalb Geirmundr nach drei Jahren Island verlassen will, allerdings ohne seiner Frau und Tochter Geld zu hinterlassen. Óláfr ist nicht gewillt, etwas dagegen zu unternehmen: Þetta líkar þeim mœðgum stórum illa ok segja til Óláfi, en Óláfr mælti þá: ›Hvat er nú, Þorgerðr, er austmaðrinn eigi jafnstórlátr nú sem um haustit, þá er hann bað þik mægðarinnar?‹ Komu þær engu á leið við Óláf, því at hann var um alla hluti samningarmaðr.212

Stattdessen gibt er Geirmundr sogar ein wertvolles Schiff mit auf den Weg. Þuríðr nimmt die Sache selbst in die Hand und folgt Geirmundr zusammen mit der gemeinsamen Tochter auf das Schiff. Neun Diener begleiten sie, um ihr bei ihrem Plan zu helfen: Allir menn váru í svefni. Hon gekk at húðfati því, er Geirmundr svaf í. Sverðit Fótbítr hekk á hnykkistafnum. Þuríðr setr nú meyna Gró í húðfatit, en greip upp Fótbít ok hafði með sér […].213 Als Geirmundr erwacht und den Diebstahl bemerkt, ist Þuríðr bereits vom Schiff gegangen und hat das Beiboot vorher so präpariert, dass Geirmundrs Männer ihr nicht folgen können. In ihrem folgenden Dialog ist Geirmundr bereit, viel Geld zu opfern, um das Schwert zurückzubekommen. Doch Þuríðr begreift, wie wertvoll das Schwert für ihn ist, und ist nicht zu überzeugen, ihm ihre Beute auszuhändigen. Er warnt sie, das Schwert werde ihr kein Glück bringen. Doch Þuríðr antwortet, sie werde es darauf ankommen lassen. ›Þat læt ek þá um mælt,‹ segir Geirmundr, ›at þetta sverð verði þeim manni at bana í yðvarri ætt, er mestr er skaði at, ok óskapligast komi við‹.214 Zurück in Hjarðarholt schenkt sie das Schwert ihrem Cousin Bolli, dem das Schwert wenig Glück bringen wird. Es taucht erneut auf, als Bolli und Kjartan sich in ihrem letzten Kampf gegenüberstehen, und Kjartan durch Fótbítr sein Leben verliert. Geirmundrs Fluch bewahrheitet sich damit: Der meistgeliebte Mann aus Þuríðrs Familie hat sein Leben verloren. Das nächste Mal wird das Schwert in Bollis Todesszene erwähnt, auch ihm hat es kein Glück gebracht.215 211 Vgl. auch Kap. 4.2.1.1. 212 Lax 30, S.  80–81; »Dies gefiel den beiden Frauen sehr schlecht und sie sagten es Óláfr, doch meinte Óláfr darauf: ›Was ist nun, Þorgerðr, ist der Norweger nicht mehr ganz so freigiebig wie in jenem Herbst, als er bei dir um das Mädchen warb?‹ Sie kamen zu keiner Einigung mit Óláfr, denn er war in allen Dingen ein besonnener Mensch.« 213 Lax 30, S. 81–82; »Alle Männer schliefen. Sie ging zu dem Schlafsack, in dem Geirmundr schlief. Das Schwert Fótbítr hing am Pfosten. Þuríðr setzt nun das Mädchen Gróa auf den Schlafsack, griff nach Fótbítr und nahm ihn mit sich.« 214 Lax 30, S. 82–82; »›Dann verhänge ich diesen Fluch,‹ spricht Geirmundr, ›dass dieses Schwert jenem Mann aus eurem Geschlecht den Tod bringe, bei dem es euch am schlimmsten trifft, und dass dies auf ungeheuerliche Weise geschehen werde.‹« 215 Dieses Geschehen wird ausführlich mit Fokus auf das verfluchte Schwert in Kap. 4.2.1.1 besprochen.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Als Tochter Óláfrs stammt Þuríðr aus einer angesehenen Familie, sodass auch bei diesem Diebstahl weder von einem niedrigen sozialen Status des Diebes noch von einer Außenseiterposition gesprochen werden kann. Auffällig ist, dass hier jegliche Art von Rechtsvokabular vermieden wird. Ihr Verbrechen trägt Anzeichen heimlichen Diebstahls, da Þuríðr stiehlt, während Geirmundr schläft, und sie sich davonschleicht. Trotzdem versteckt sie das Diebesgut nicht, reagiert offen auf seine Anschuldigung und verheimlicht auch später die Herkunft des Schwertes nicht. In den Worten der Grágás: oc leynir sa eigi er tecit hevir (»und verheimlicht nicht, es genommen zu haben«). Rechtlich gesehen könnte Geirmundr also wegen ráns eine Klage auf skóggangr anstreben, enn eigi vm þiof scap (»aber nicht wegen Diebstahls«). Hinzu kommt, dass Geirmundr und Þuríðr zu diesem Zeitpunkt noch immer verheiratet sind, was eine rechtliche Bewertung des Vorgangs zusätzlich erschweren würde.216 In der Saga wird Þuríðrs Verbrechen aber in keiner Weise geahndet. Ob dies allerdings der ›moralischen Richtigkeit‹ ihres Handelns zuzuschreiben ist oder der Tatsache, dass es sich um einen weiblichen Täter handelt, lässt sich nicht bestimmen. Es wäre möglich, ihr Geschlecht sowie ihre hohe soziale Stellung als Grund für eine ausbleibende Strafverfolgung zu bedenken, doch scheint ein pragmatischer Hintergrund am wahrscheinlichsten: Sie wird nie angeklagt, da Geirmundr und seine Männer das Land verlassen und während der Überfahrt sterben. Somit gibt es keinen Kläger, der sich der Sache annehmen könnte. Rechtlich bleibt Þuríðr ungestraft, auf anderen Ebenen hat ihr Diebstahl aber weitreichende Konsequenzen: Das verfluchte Schwert bleibt in der Familie, und ihre Tochter Gróa stirbt zusammen mit Geirmundr. Þuríðrs Diebstahl beinhaltet eine spezielle Symbolik, streng genommen handelt es sich um einen Austausch: Sie stiehlt das Schwert, das ihr Ehemann so hochschätzt, und lässt stattdessen die gemeinsame Tochter bei ihm. Loren Auerbach formuliert dies so: »She swaps her baby, the symbol of maternity and domesticity, for a sword, a symbol not only phallic but also one of war and battle, traditionally ›male‹ pursuits.« Die Symbolik dieser Szene drängt sich zweifelsohne auf, auch wenn Helga Kress mit ihrer Deutung als Kastrationsakt, bei dem Þuríðr ›ihn zu einer Frau‹ mache, wohl zu weit geht.217 Während das Schwert genau geschildert und hoch geschätzt wird, wird 216 Dies könnte man auch für den Schwertdiebstahl in der Heiðarvíga saga bedenken, wäre die Episode nicht so kurz (oder gar verkürzt) nacherzählt, vgl. Kap. 5.3.1. 217 Kress 1992, S. 214; »han til en kvinne«. Unterstützt wird die These der Entmannung beispielsweise durch Heide 2001 und wiederholt bei Kress 2008, S. 32. Weder diese noch eine der folgenden Szenen weiblicher Rache sollen hier als ›Kastrationsakte‹ verstanden werden, da eine Reduktion der Szenen auf ihren möglichen Symbolgehalt kaum dazu beiträgt, die vielfältigen Möglichkeiten zu erhellen, zu denen ein Diebstahl eingesetzt werden kann. Zustimmen kann man dagegen Frölich 2000, die es für »immerhin bemerkenswert [hält], daß bei Handlungen von Frauen gegen Männer in der Laxdœla dreimal Schwerter eine Rolle spielen: bei Þuríðr, bei Auðr, die ihren untreuen Gatten eigenhändig mit dem Schwert verwundet, und bei Guðrún, die Kjartans Schwert unbrauchbar macht,« und einräumt: »[E]s läßt sich nicht leugnen, daß der Saga mit dem Schwert ein prachtvolles Phallussymbol zu Verfügung steht und daß der Gedanke an Kastration in den genannten drei Fällen durchaus nahe liegt …« (S. 162).



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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das Kind Gróa nie als Figur beschrieben und von Þuríðr ohne das geringste Zögern aufgegeben. Der Tod des Kindes wird von niemandem beklagt oder auch nur erwähnt. Daher geht Auerbachs Interpretation zu weit, Gróa als »symbol of maternity and domesticity« zu verstehen. Beide Konzepte werden nie mit der Beziehung zwischen Þuríðr und ihrer Tochter in Verbindung gebracht. Innerhalb der Episode um Geirmundr und Þuríðr fungiert der Diebstahl des Schwertes als weibliche Rachemöglichkeit. Da ihr Vater nicht gegen die Ehrverletzung vorgehen möchte, die Þuríðr von ihrem Ehemann erfahren hat, wehrt sie sich selbst. Somit kann ihr Diebstahl auch als Vorwurf an ihren Vater verstanden werden, vielleicht auch an ihre Brüder, da keiner von ihnen versucht, Geirmundr aufzuhalten. Eine interessante Parallele in der Saga, Auðrs Rache an ihrem früheren Ehemann Þórðr, unterstützt diese Lesart. Þórðr lässt sich von Auðr scheiden, um Guðrún heiraten zu können, und begründet die Scheidung mit dem Vorwurf, Auðr trage Männerkleidung. Obwohl ihre Brüder mit dem Vorgehen nicht einverstanden sind, unternehmen sie nichts: Brœðrum Auðar líkar illa, ok er þó kyrrt.218 Auðr reagiert darauf mit einer kurzen Strophe, in der sie sich als alleingelassen bezeichnet: Vel es ek veit þat, | vask ein of látin.219 Danach schlüpft sie tatsächlich in Männerhosen, nimmt ein Schwert und greift Þórðr an. Sie verletzt seine Brustwarzen damit, und fügt ihm somit eine erhebliche Kränkung seiner Ehre zu. Ebenfalls auf sich gestellt, entscheidet sich Þuríðr für eine andere Art der Rache, indem sie nachts aus dem Haus schleicht und ihrem Ehemann seinen wertvollsten Besitz stiehlt, was ebenfalls als Ehrverletzung verstanden werden sollte. Diebstahl zeigt sich hier als Möglichkeit für eine Frau, einer männlichen Figur aktiv Schaden zuzufügen, nachdem die Männer ihrer Familie die Verletzung ihres Ehrgefühls nicht zu ihrer Zufriedenheit gerächt haben. Þuríðr ist sich des symbolischen Wertes des Schwertes bewusst und offensichtlich nicht an seinem hohen materiellen Wert interessiert. Weder möchte sie es Geirmundr für den hohen angebotenen Betrag zurückverkaufen, noch versucht sie danach, monetären Gewinn aus der Angelegenheit zu erhalten. Während Geirmundrs Männlichkeit in dieser Episode angegriffen wird, wird Þuríðr als starke und machtvolle Figur geschildert. Wie Hallgerðr nutzt Þuríðr ihre soziale Stellung, und nimmt neun Diener mit, die ihr bei ihrem Verbrechen helfen. Dies geschieht im Sinne von Clovers »rainbow coalition of everyone else (most women, children, slaves, and old, disabled, or otherwise disenfranchised men)«,220 die den machtvollen Männern der Sagagesellschaft gegenüberstehen. Innerhalb dieser Gruppe kommt dem sozialen Status der Frau eine besondere Bedeutung zu: Während es nicht in ihrer Macht steht, Óláfr gegen seinen Willen zur Handlung zu bewegen, kann sie selbstverständlich über die Diener verfügen – das Gespräch zwischen ihnen muss nicht einmal geschildert werden.

218 Lax 35, S. 96; »Auðrs Brüdern gefiel das wenig, und doch blieb es ruhig.« 219 Lax 35, S. 96; »Gut ist es zu wissen, | allein wurde ich gelassen.« 220 Clover 1993, S. 380.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

Wie Hallgerðrs Diebstahl in der Njáls saga beginnt auch Þuríðrs Verbrechen heimlich und trägt zunächst Konnotationen eines unehrenhaften, ›unmännlichen‹, vielleicht sogar ›weiblichen‹ Vorgehens, wird aber nach Erlangung des Diebesgutes aufgedeckt, was den þjófnaðr zum offenen rán macht. Als sich die Natur des Verbrechens von ›heimlich‹ zu ›offen‹ ändert, verlässt auch Þuríðrs ihre schwache Position und entscheidet sich für ein machtvolles Vorgehen. Macht, Ehre und Offenheit sind zwar Komponenten des vorherrschenden Männlichkeitsbildes, aber auch für die Frauenfiguren der Oberschicht von hoher Bedeutung, wie die vielen hvǫt-Szenen zeigen. Die Exorbitanz des Handelns von Auðr und Þuríðr liegt in der aktiven Selbstermächtigung: Beide Frauen entscheiden sich, es nicht bei einer verbalen Aufstachelung zu belassen, sondern greifen aktiv nach einem Schwert.

5.3.4 Guðrún Ósvifrsdóttir in der Laxdœla saga Guðrúns Diebstähle in der Laxdœla saga ereignen sich etwa in der Mitte der Saga und führen direkt zur Eskalation des Konfliktes zwischen ihr, Bolli und Kjartan. Kjartan hatte von seiner Norwegenreise zwei besondere Kostbarkeiten mit nach Island gebracht: ein golddurchwirktes Kopftuch und das Schwert Konungsnautr. Das Kopftuch wird ihm von der Königsschwester Ingibjǫrg mit auf den Weg gegeben, die es speziell für Guðrún Ósvífrsdóttir als Brautgabe vorsieht.221 Als Kjartan nach Island zurückkommt und von der Heirat Guðrúns mit Bolli erfährt, trifft er bei seinem Schiff auf seine Schwester Þuríðr und die Schwester seines Reisekameraden, Hrefna. Wie schon bei der Erlangung Fótbítrs spielt Þuríðr eine entscheidende Rolle, da sie es ist, die Hrefna in der Idee bestärkt, das Kopftuch anzuprobieren, und Kjartan dazu rät, Hrefna zu heiraten. Er schenkt das ursprünglich Guðrún zugedachte Kopftuch Hrefna als Brautgabe ok var sú gjǫf allfræg, því at engi var þar svá vitr eða stórauðigr, at slíka gersemi hefði sét eða átta; en þat er hygginna manna frásǫgn, at átta aurum gulls væri ofit í motrinn.222 Wie bei Fótbítr wird auch der Erwerb des Schwertes Konungsnautr mit schicksalhaften Worten begleitet. Der König gibt Kjartan die Worte mit auf den Weg: 221 Die symbolische Komponente dieses Geschenks bespricht Mundal 1997, S. 59–60. Sie versteht das Geschenk als Beleidigung konzipiert, die Kjartan treffen soll. Durch das weibliche Kleidungsstück als Geschenk für einen Mann stelle die Königsschwester bewusst Kjartans Männlichkeit in Frage. Sie lasse ihm durch ihre Worte, es handle sich um eine Brautgabe für Guðrún, keine andere Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Vergleicht man Kjartans (ausbleibende) Reaktion allerdings mit Flosis Wutausbruch in der Njáls saga, als ihm ein nur potentiell weibliches Kleidungsstück geschenkt wird, erscheint diese Intention eher unwahrscheinlich. Vielmehr schwingt die romantische Beziehung der beiden mit, indem sie ihm einen Brautschmuck mit auf die Reise gibt, den sie selbst aufgrund seiner Abreise nicht mehr benötigen wird. 222 Lax 45, S. 138; »und dieses Geschenk war weithin bekannt, denn niemand war so gebildet oder so reich, dass er eine solche Kostbarkeit gesehen oder besessen hätte; und nach Aussage verständiger Männer, waren acht Øre Goldes in das Tuch gewebt.«



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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›[L]áttu þér vápn þetta fylgjusamt vera, því at ek vænti þess, at þú verðir eigi vápnbitinn maðr, ef þú berr þetta sverð.‹223 Mit diesem Schwert gürtet sich Kjartan, als er in seinen kostbarsten Gewändern zum ersten Mal in Laugar bei Bolli und Guðrún zu Besuch ist. Beim Gegenbesuch der Leute von Laugar auf Hjarðarholt verhindert Kjartan zunächst, dass Hrefna das Kopftuch trägt, Guðrún lässt es sich darauf aber í hljóði (»im Geheimen«) von Hrefna zeigen. Kjartans Schwert ist nach diesem Besuch verschwunden, sogleich vermutet er einen Diebstahl durch Guðrúns Familie. Nach langer Suche wird das Schwert zu ihm zurückgebracht, nur die Scheide bleibt verschwunden. Zwar steht Guðrúns Bruder Þórólfr offensichtlich mit dem Verschwinden in Verbindung, die genauen Umstände bleiben aber ungeklärt. Kjartan möchte den Diebstahl verfolgen, wird aber von seinem Vater überzeugt, die Sache ruhen zu lassen und das andere Paar erneut zu besuchen. Zudem werden sie von Kjartans Mutter dazu gedrängt, das kostbare Kopftuch mit zu diesem Besuch zu nehmen. Dort angekommen geben Þorgerðr und Hrefna ihre Kleidung in Verwahrung. Schon am nächsten Tag ist das Tuch verschwunden, ok var þá víða leitat ok fannsk eigi. Guðrún kvað þat líkast, at heima myndi eptir hafa orðit motrinn, eða hon myndi hafa búit um óvarliga ok fellt niðr.224 Hrefna berichtet ihrem Mann vom Verlust der Kostbarkeit, der sie bittet, sich ruhig zu verhalten. Erneut wendet sich Kjartan an seinen Vater, der auch in diesem Fall auf Kjartan einwirkt, dem Diebstahl nicht offen nachzugehen. Trotzdem konfrontiert Kjartan Bolli bei der Abreise: ›[M]un ek þetta ekki í hljóðmæli fœra, því at þat er nú at margra manna viti um hvǫrf þau, er hér hafa orðit, er vér hyggjum, at í yðvarn garð hafi runnit. […] [N]ú hefir hér enn horfit sá gripr, er fémætr mun þykkja […].‹ Þá svarar Bolli: ›Eigi eru vér þessa valdir, Kjartan, er þú berr á oss; myndi oss alls annars af þér vara en þat, at þú myndir oss stulð kenna.‹225

Daraufhin meldet sich Guðrún zu Wort: ›Nú þó at svá sé, sem þú segir at þeir menn sé hér nǫkkurir, er ráð hafi til þess sett, at motrinn skyldi hverfa, þá virði ek svá, at þeir hafi at sínu gengit.‹226 Nach der Abreise bleibt es zunächst ruhig, über den Verbleib des Kopftuchs heißt es: Þat hǫfðu margir menn fyrir satt, at Þórólfr hefði brenndan motrinn 223 Lax 43, S. 132; »›Lass diese Waffe stets bei dir sein, denn ich nehme an, dass du ein unverwundbarer Mann sein wirst, wenn du dieses Schwert trägst.‹« Vgl. Kap. 4.2.1.2. 224 Lax 46, S. 143; »und es wurde überall danach gesucht, ohne es zu finden. Guðrún sagte, es sei am wahrscheinlichsten, dass das Kopftuch zuhause gelassen wurde, oder nachlässig behandelt worden sei und verloren ging.« 225 Lax 46, S. 143; »›Ich werde dies nicht in geheimer Rede vorbringen, weil es nun so ist, dass viele Leute davon wissen, dass hier Einiges verschwunden ist, und wir glauben, dass es den Weg in euren Hof gefunden hat. […] Nun ist hier auch jene Kostbarkeit verschwunden, die man als besonders wertvoll ansehen darf […].‹ Da antwortet Bolli: ›Wir sind dessen nicht schuldig, Kjartan, das du uns vorwirfst; alles andere hätten wir von dir erwartet, als dass du uns des Diebstahls bezichtigst.‹« 226 Lax 46, S. 144; »›Wenn es nun so wäre, wie du sagst, dass es hier Leute gäbe, die Verantwortung dafür hätten, dass das Kopftuch verschwunden ist, dann beurteile ich es so, dass sie das Ihrige an sich genommen haben.‹«

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

í eldi at ráði Guðrúnar, systur sinnar.227 Wie schon beim Diebstahl des Schwertes ist also Guðrúns Bruder Þórólfr involviert, den Kjartan später auch konkret als Þórólfr, þjófrinn228 bezeichnet. Kjartans öffentlicher Vorwurf an Bolli erinnert an eine Bestimmung der Grágás,229 die dem Bestohlenen das Recht zuspricht, den Verdächtigen vor Zeugen zur Herausgabe des Gutes aufzufordern. Wird dies verweigert, droht nach dem Rechtstext eine Geldstrafe, die hier nicht erwähnt wird. Die verwendete Ausdrucksweise mun ek þetta ekki í hljóðmæli fœra230 weist auf die bewusste Öffentlichkeit der Anklage hin, was den in der Grágás geforderten Zeugen entspricht. Um welche Art des Diebstahls es sich beim Kopftuch handelt, wird durch die vorhergehende Szene deutlich, in der sich Guðrún das Kopftuch im Geheimen zeigen lässt. Beide Male ist ihr Bruder Þórólfr beteiligt, der einmal das Diebesgut vernichtet und einmal den Diebstahl direkt ausführt. Zwar besteht in beiden Fällen kein Zweifel an der Schuld der Familie Ósvifrs, es werden aber weder rechtliche Konsequenzen eingeleitet, noch die Brisanz des ansonsten verachteten Vergehens anderweitig thematisiert.231 Wie zuvor bei ihrer Schwägerin Þúríðr handelt es sich bei Guðrún um eine weibliche Figur, die stiehlt und nicht dafür bestraft wird.232 Obwohl es in der Erzählung vermieden wird, Guðrúns Handeln als Diebstahl darzustellen und damit ein entsprechend negatives Licht auf die weibliche Hauptfigur zu werfen, wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten narrativ stark auf die Heimlichkeit ihres þjófnaðr gelenkt. Dies geschieht durch eine Wortwiederholung, die sogar in der von Heller für diese Saga als typisch erachteten Dreizahl auftritt:233 Guðrún lässt sich das Tuch zunächst í hljóði zeigen, Óláfr rät, man solle sem hljóðast vorgehen, und schließlich bricht Kjartan das Schweigen, indem er die Sache nicht í hljóðmæli vorbringen will. Obwohl sie nie ausgesprochen wird, ist die Natur des Diebstahls dem Rezipienten also offensichtlich. Auch die Aussage, das Kopftuch sei auf Guðrúns Drängen hin verbrannt worden, wird von den Worten þat hǫfðu margir menn fyrir satt begleitet. So wird die Erzählung hier destabilisiert und die Bewertung des Geschehens dem Rezipienten überlassen.

227 Lax 46, S. 144; »Viele Leute hielten es für gewiss, dass Þórólfr das Kopftuch im Feuer verbrannt habe, auf Anraten Guðrúns, seiner Schwester.« 228 Lax 48, S. 151; »Þórólfr, der Dieb«. Später nimmt Þórólfr am Angriff auf Kjartan teil, und wird dabei ausgerechnet an der (diebischen) Hand verletzt. Diese Verwundung wird mit der angeblichen Freude seiner Schwester über die Todesnachricht verbunden: Guðrún lét vel yfir, ok var þá bundit um hǫndina Þórólfs, […]. (Lax 49, S. 154; »Guðrún war erfreut darüber, und da wurde Þórólfrs Hand verbunden«). 229 Vgl. Grá § 227, S. 164. Wer denkt, sein Gegenüber habe von ihm gestohlen, soll ihn vor Zeugen auffordern, ihm den Gegenstand zu zeigen oder auszuhändigen. 230 Lax 46, S. 143; »›Ich werde dies nicht in geheimer Rede vorbringen‹«. 231 Vgl. Frölich 2000, S. 64. 232 Vgl. auch Frölich 2000, S. 64. 233 Vgl. Heller 1960, zur Dreizahl insb. S. 146–148.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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Dorothee Frölich interpretiert dies als Versuch, Guðrún weiter in einem positiven Licht darzustellen, zudem handle es sich »weniger um ein Aneignen als vielmehr um ein Verschwindenlassen von Gegenständen; es wird alles sorgsam vermieden, was Guðrún bei ihrer Vergeltungsaktion in einem schlechten Licht erscheinen lassen könnte.«234 Vésteinn Ólason sieht sie als verantwortlich, jedoch in einer aktiven Rolle: »Guðrun schickt ihre Brüder aus, die Schätze zu stehlen, die Kjartan von seinen Reisen mitgebracht hat.«235 Im Gegensatz zu Þuríðr und Hallgerðr muss Guðrún nicht auf die Hilfe von Dienern oder Sklaven zurückgreifen, da sie auf die Loyalität ihres Bruders Þórólfr zählen kann. Kein Gespräch zwischen beiden Figuren wird jemals auserzählt, diese Auslassungen tragen weiter dazu bei, Guðrúns Verantwortung zu verschleiern.236 An Guðrúns Schuld besteht jedoch kein Zweifel, ihr Kommentar zum Verschwinden des Kopftuchs kommt einem Geständnis gleich. Da es niemanden außer ihr gibt, auf den ihre Beschreibung zutreffen könnte, ist sowohl für die beteiligten Figuren als auch für den Rezipienten offensichtlich, wer das Tuch gestohlen hat. Unabhängig davon, ob man nun Guðrún selbst oder ihre Brüder als Diebe ausmachen möchte, ist der soziale Status des Täters in jedem Fall sehr hoch. Von den Figuren der Saga werden die beiden Diebstähle bei Weitem nicht so negativ beurteilt, wie man dies erwarten könnte. Speziell Óláfr versucht, den Diebstahl kleinzureden, obwohl es sich um enorme Vermögenswerte handelt. Er bezeichnet es als unwürdig, wegen solcher Dinge einen Streit unter Verwandten zu beginnen. Der materielle Wert des von der Königsschwester überreichten Kopftuches wird auffallend häufig und wortreich betont und sagt zugleich immer etwas über die Stellung der Frau aus, in deren Besitz es sich befindet. Schon als Ingibjǫrg es übergibt, heißt es, die Isländerinnen sollten sehen, at sú kona [Ingibjǫrg selbst] er eigi þrælaættar237 – es versinnbildlicht also die soziale Stellung der Schenkerin. Ebenso wird es die gesellschaftliche Position der Frau symbolisieren, der Kjartan es schenkt.238 Die Saga ließ bisher keinen Zweifel daran, dass Guðrún die herausragendste Frau Islands ist, sodass sie »um Ehemann und soziales Prestige gleichermaßen«239 betrogen wird, als Hrefna Kjartan und das Kopftuch erhält. Bemerkenswert ist auch, dass alle wichtigen Frauenfiguren beider Familien am Geschehen rund um das Kopftuch beteiligt sind.240 Kjartans Mutter Þorgerðr greift ein, indem sie Hrefna drängt, das Kopftuch mit nach Laugar zu nehmen,241 seine Schwester Þuríðr ist es, die Hrefna rät, das Kopftuch anzu-

234 Frölich 2000, S. 64. 235 Vésteinn Ólason 2011, S. 187. 236 Zur destabilisierenden Erzähltechnik von Diebstahlsepisoden siehe allgemein Kap. 4. 237 Lax 43, S. 131; »dass jene Frau [Ingibjǫrg selbst] nicht von Sklaven abstammt.« 238 Vgl. Sauckel 2014, S. 21. 239 Sauckel 2014, S. 21. 240 Den komplexen Frauenfiguren der Saga widmet sich Auerbach 1998, S. 43. 241 Vgl. Heller 1960, S. 143.

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 5 Narrative Funktionen von Diebstahl und Raub

probieren.242 Beide Ratschläge beschleunigen den Handlungsfortgang und verhindern eine Beruhigung des Konfliktes, nur Hrefna selbst bleibt durchgehend passiv. Sie fügt sich später zunächst dem Willen ihrer dominanten Schwiegermutter, die das Kopftuch als Statussymbol betrachtet und Hrefna drängt, es zu zeigen, und gibt ebenso Guðrúns Wunsch nach, das Tuch sehen zu wollen. Die aktivste Rolle nimmt Guðrún ein, von der es zwar nicht explizit heißt, dass sie das Tuch selbst gestohlen hat, die aber in jedem Fall in enger Verbindung zu diesem Verbrechen steht. Hrefna und Guðrún sind als Kontrastpaar konzipiert, die Rollenverteilung des Diebstahls (aktive Diebin versus passive Bestohlene) entspricht der bisherigen Figurenzeichnung. Durch den Diebstahl des Kopftuchs wird Hrefna das Symbol ihrer Stellung als Kjartans Ehefrau und bedeutendste Frau Islands gestohlen.243 Dass die Motivation für das Verbrechen in der Zerstörung dieses Symbols zu suchen ist, und Guðrún nicht etwa aus Habgier handelt, zeigt der anschließende Umgang mit dem Diebesgut; sie lässt ihren Bruder das Kopftuch verbrennen. Wie zuvor Hrútr die ihm zustehenden Rinder nur geraubt hat, um sie umgehend zu schlachten,244 stiehlt Guðrún das ihr zustehende Kopftuch nur, um es zu zerstören. Die Vernichtung dieser enormen Vermögenswerte grenzt diese beiden hochangesehenen Sagafiguren von gewöhnlichen Dieben ab und markiert ihr Verbrechen im Gegenteil als scheinbar rechtschaffene Tat, welche die – aus ihrer Sicht – vorgesehene Ordnung wiederherstellt. Obwohl bei Þuríðrs und Guðrúns Diebstählen eine direkte moralische Bewertung durch die Sagafiguren ausbleibt, ziehen sie für beide Frauen katastrophale Folgen nach sich. In Þuríðrs Fall wird der Zusammenhang zwischen ihrem Diebstahl und Kjartans Tod durch den Wortlaut des Fluches verbal markiert, das Schwert werde þeim manni at bana […], er mestr er skaði at […].245 Als Guðrún am Ende ihres Lebens auf ihr Handeln zurückblickt, ist auch sie sich des Ausmaßes ihrer Schuld bewusst (›Þeim var ek verst er ek unna mest‹246). In beiden Fällen wird Kjartan nicht namentlich genannt, sondern als größter Verlust und größte Liebe umschrieben. Beides könnte man als indirekte moralische Wertung der Verbrechen durch den Erzähler deuten. Die ehrenrührige Komponente dieses Verbrechens spricht Robert Cook an, der beide Verbrechen eindeutig Guðrún zuschreibt: »Guðrún takes action of a shameful sort against Kjartan, but an action open to women: theft. She steals Kjartan’s sword

242 Die Häufigkeit der hier dargestellten Dialoge zwischen Frauenfiguren ist innerhalb der Gattung ungewöhnlich. Þuríðrs Interaktion mit Hrefna wird bei Deusen 2014 sogar als eine von nur fünf angedeuteten Frauenfreundschaften in den Isländersagas gewertet. 243 Den symbolischen Wert des Kopftuches bespricht auch Ármann Jakobsson 1998, S. 359–360. 244 Siehe Kap. 7.2.2.2. 245 Lax 30, S. 82; »jenem Mann […] den Tod bringen, bei dem es euch am schlimmsten trifft […].« 246 Lax 78, S. 228; »›Dem (oder: denen) tat ich das Schlimmste an, den (oder: die) ich am meisten liebte‹«. Dieser häufig diskutierte Satz ist rätselhaft und uneindeutig. Er könnte sowohl Kjartan, als auch Bolli, als auch beide Männer ansprechen. Welcher Interpretation man sich auch anschließen möchte; das Eingeständnis ihrer persönlichen Schuld steht im Vordergrund.



5.3 Diebstähle als Mittel zur Aufhetzung 

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and then takes the headdress which Kjartan gave to Hrefna.«247 Obwohl Cook damit den Diebstahl des Schwertes vereinfacht, spricht er einen interessanten Punkt an: Durch den Diebstahl des Kopftuches hat Guðrún eine Möglichkeit gefunden, direkt zur von ihr erwünschten Eskalation des Konfliktes beizutragen. Es wiederholt sich ein Schema, das bereits bei Þuríðr angewandt wurde. Erneut kann eine Frau eine Kränkung ihres Ehrgefühls durch einen Diebstähl rächen, nachdem die Männer ihrer Familie dies nicht entschlossen genug getan haben. Wie Hallgerðr und Þuríðr muss auch Guðrún ihr Verbrechen öffentlich machen, um dessen Effekte freizusetzen. Auch in ihrer Aussage spiegelt sich die obskure Natur des Verbrechens in ihrer rätselhaften Wortwahl: ›Nú þó at svá sé, sem þú segir at þeir menn sé hér nǫkkurir, […]‹.248 Hier wiederholt sich das bereits bei Hallgerðr besprochene narrative Schema, indem die intradiegetische Heimlichkeit mit der uneindeutigen Erzählweise korrespondiert. Die größte Gemeinsamkeit der drei Diebstähle sind die jeweiligen Beweggründe der Figuren.249 Alle drei handeln aus enttäuschter Liebe und frustrierten Erwartungen; Þuríðr und Guðrún bestehlen beide den Mann, den sie einst geliebt haben, um die erlittene Kränkung zu rächen. Hallgerðr stiehlt mit dem gleichen Ziel, aber von einer männlichen Figur, die ihren Ehemann und Haushalt kränkte. Sie alle haben zuvor versucht, die männlichen Angehörigen ihres Haushalts auf anderen Wegen zum Handeln zu bewegen und sind gescheitert. Weder Óláfr noch Bolli wollten auf die Aufhetzung reagieren, und auch Gunnarr konnte sich zügeln, bis ihn Hallgerðr durch den Diebstahl aufreizte. Diebstahl funktioniert in den Isländersagas als aktives Mittel für eine Frau, an einer von Männern dominierten Fehde Anteil zu haben und einen Konflikt zu befeuern. Das Verbrechen beinhaltet dieselben semantischen Komponenten, die auch die hvǫt zu einem machtvollen Instrument machen und funktioniert wie diese: Es setzt männliche Figuren dem Vorwurf der Feigheit und der Unmännlichkeit aus, wodurch sie zur Handlung gezwungen werden. Wie die Requisiten der hvǫt werden auch die gestohlenen Objekte als Manifestation des Vorwurfs in der Erzählung verwendet. Diebstahl erweitert das Repertoire der Sagafrauen, das sie einsetzen können, um ihren Angehörigen ihren Willen aufzuzwingen oder sogar selbst Rache zu nehmen.

247 Cook 1992, S. 41. Auch Liebelt 1993, S. 144 schreibt den Diebstahl des Schwertes uneingeschränkt Guðrún zu und spekuliert über deren Gefühle; »ein kühl kalkulierter Racheakt oder der verzweifelte Wunsch aus ihrem verwunderten Inneren heraus auch den Geliebten empfindlich zu treffen, um ihn wenigstens so zu erreichen und seine zur Schau getragene Gleichgültigkeit ihr gegenüber zu durchbrechen?« 248 Lax 46, S. 144; »›Wenn es nun so wäre, wie du sagst, dass es hier Leute gäbe, […].‹« 249 Aus anderem Blickwinkel bringt auch Kersbergen 1927, S. 73 die beiden Diebinnen Hallgerðr und Guðrún in Verbindung und nimmt an, die Njáls saga entlehne hier aus der Laxdœla saga.

6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer Die Faszination des Diebstahls begründen Gehrlach und Kimmich über ein »spezifisches Element, das ihn aus den allermeisten anderen Verbrechen hervorhebt: Er erzählt immer von einem scheinbar unbedarften oder bewusst provozierenden Schelmentum, das sich über bestehendes Recht und über Eigentumsgrenzen hinwegsetzt […].«1 Dem kann man mit Blick auf den Figurentypus in der Weltliteratur nur zustimmen: Im Schelmentum liegt der Charme des Diebes als literarische Figur begründet, die durch Klugheit, List und Täuschung die Reichen um ihre Besitztümer erleichtert.2 Solche Diebesfiguren sind in den Isländersagas nicht zu finden. Die Frage, warum nicht, ist naturgemäß nicht abschließend zu beantworten. Wahrscheinlich passt der charismatische Diebestypus nicht recht in diese Gattung, deren zentrales Thema das Kollektiv der isländischen Bauerngesellschaft ist. Innerhalb einer auf Offenkundigkeit bauenden sozialen Ordnung kann es keine Bewunderung für die Kunstfertigkeiten eines Einzelnen geben, der andere bestiehlt. Ein von der Gesellschaft oder dem Publikum bewunderter Dieb setzt einen ›gemeinsamen Feind‹ voraus, wie einen ungerechten König, eine die Bevölkerung unterdrückende Aristokratie oder einen als ungerecht empfundenen Kapitalismus.3 Diebe sind Figuren, die »Reichere oder Mächtigere um ihren Überfluss erleichtern und diese so als überwindbar und depotenzierbar herausstellen.«4 Daran scheinen die Isländersagas kein Interesse zu haben; ihre Sympathien liegen in aller Regel bei ihren Protagonisten, die fast ausnahmslos der Oberschicht entstammen. In den Isländersagas sind es daher meist ›normale‹ Mitglieder der Sagagesellschaft, die im Laufe ihres Lebens einen Diebstahl oder einen Raub begehen. Diebe oder Räuber, deren primäres Charakteristikum diese ›Profession‹ darstellt, gibt es nur sehr selten. Trotzdem soll hier der Versuch unternommen werden, sich dem Phänomen Diebstahl auch über die Figuren anzunähern, die traditionell einen wichtigen Ankerpunkt der Erzähltextanalyse darstellen. Dabei kann die Figur grundsätzlich aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Innerhalb der erzählten Welt ist sie eine Person: Sie hat einen Charakter, ein bestimmtes Aussehen, eine Biographie und soziale Beziehungen.5 Dies macht nicht nur die Figur, sondern den ganzen Text für

1 Gehrlach u. Kimmich 2018, S. 9. 2 Als ambivalenter Figurentypus steht er damit dem Trickster nahe, vgl. Sauckel 2018. 3 Den Anstoß zu dieser Idee gab mir Klaus Böldl (Kiel) in einem Gespräch über das Motiv des ›edlen Räubers‹, der ein Gefühl für die ungerechte Verteilung von Gütern voraussetze, und daher in den ­Isländersagas einen schweren Stand habe. 4 Gehrlach 2016, S. 17. 5 Vgl. Köppe u. Kindt 2014, S. 116–122. Dort wird die Figur einerseits als »Person«, andererseits als »Artefakt« betrachtet, eine ähnliche Einteilung (teilweise unter Verwendung anderer Terminologie) findet sich in den meisten Überblicksdarstellungen zur Erzähltextanalyse. https://doi.org/10.1515/9783110699265-006

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

den Rezipienten zugänglich.6 Die Figur stellt einen Anknüpfungspunkt dar, indem man mit ihr ›mitfühlen‹,7 und ihr Erleben und Handeln mit dem eigenen Erfahrungshorizont abgleichen kann: Literarische Figuren erwecken ganz selbstverständlich den Anschein, echte Menschen zu sein. Was uns die Texte nicht über sie erzählen, vor allem über ihr Innenleben, ergänzen wir spontan aus unserem eigenen Erfahrungsschatz, aus unseren eigenen Gefühlen und Gedanken, wenn wir uns vorstellen, in der gleichen Situation zu sein. […] So lernen wir lesen, und wir können es zunächst gar nicht anders.8

Daher ist es erforderlich, den Blick gezielt auf die ›Gemachtheit‹ der Figur zu richten, besonders bei der Analyse mittelalterlicher Literatur. Das Handeln und Fühlen der Figuren ist an andere Wertvorstellungen gebunden,9 und auch dessen Darstellung folgt anderen Konventionen als in moderner Literatur.10 So lebhaft und ›echt‹ literarische Figuren erscheinen mögen, sind sie doch »Esembles von Zeichen, aus denen unsere Einbildungskraft die Vorstellung von Menschen erzeugt.«11 Jede Beschreibung einer Figur ist lückenhaft und fordert zur Ergänzung auf; die Menge der bekannten Information weicht jedoch stark ab, je nach Gattungskonvention und Position der Figur innerhalb der Erzählung.12 Protagonisten werden wesentlich ausführlicher charakterisiert als Nebenfiguren, die im extremsten Fall völlig ohne individuelle Cha­rak­ ter­züge auskommen.13 6 Vgl. Köppe u. Kindt 2014, S. 124. Ähnlich auch Krogh Hansen 2016, S. 243–244. Dort auch der Hin­ weis, dass dieser Aspekt der Figur in der Narratologie lange Zeit vernachlässigt wurde, »einerseits auf­grund ihrer Tendenz, Figuren ausschließlich als Funktionsträger, die bestimmte Rollen ausführen, zu begreifen; andererseits aufgrund ihrer entschiedenen Gleichgültigkeit gegenüber den psychologischen Aspekten von Figuren« (S.  244). Neuere Forschung scheint die Figuren dagegen ebenso wertzuschätzen (vgl. insb. Jannidis 2008), wie Leser dies schon immer tun: »All in all, we might be reading for the plot, but we most certainly also read for the character« (Krogh Hansen 2012, S. 102). Das Eigenleben der Figur veranschaulicht Krogh Hansen 2012, S. 101 an Kindern, die Superman oder Harry Potter spielen, ebenso wie am Eingang von Figurennamen in die Alltagskommunikation (›Richtig, Sherlock!‹). Ähnlich auch Jannidis 2008, S. 1–2. 7 Zu Leserempathie, Figuren und Fokalisierung siehe Mellmann 2010. 8 Schulz 2015, S. 8. 9 Vgl. Kap. 2.1. 10 Vgl. Kap. 4 sowie Kap. 1.4.2. 11 Schulz 2015, S. 11. 12 Entsprechend variiert auch die affektive Einstellung des Rezipienten gegenüber der Figur. Auch andere Faktoren, wie die Kommunikationssituation oder die Fokalisierung, haben Einfluss darauf, wie stark der Rezipient die Figur als Person oder als Konstrukt wahrnimmt. Mit dem Verhältnis des Rezipienten zur literarischen Figur (und der emotionalen Wahrnehmung von Literatur und Kunst im Allgemeinen) beschäftigt sich die sog. Rezeptionsästhetik (engl. reader-response criticism), vgl. einführend Köppe u. Winko 2013 mit weiterführender Literatur. 13 Schulz 2015, S. 12–13 stellt außerdem fest, dass Figuren in mittelalterlichen Erzählungen meist bloße »Handlungsträger« seien, und keine »komplexen Charaktere«. Als Beispiel führt er unter anderem Isoldes Ehemann Marke im Tristan-Stoff an, dessen autobiographisches Gedächtnis sich immer



6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer 

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Für die Beschreibung einer Figur als »Textkonstrukt«14 hat die Literaturwissenschaft (und insbesondere die Narratologie) ein kaum mehr zu überblickendes Instrumentarium erarbeitet, ohne dabei zu einer allgemein akzeptierten Terminologie zu gelangen.15 Man unterscheidet traditionell zwischen runden und flachen Figuren.16 Während runde Figuren mehrere Eigenschaften haben und komplex konstruiert sind, verkörpern flache Figuren nur eine einzige Eigenschaft oder Idee; sie stellen einen bestimmten Typus dar, ohne individuelle Züge zu erhalten. In den Isländersagas gibt es beispielsweise den Figurentypus des ójafnaðarmaðr. Wird eine Figur mit dieser Bezeichnung eingeführt, reicht dies aus, um die Vorstellung eines potentiell gewalttätigen Unruhestifters aufzurufen, der zwangsweise mit anderen Figuren in Konflikt geraten wird.17 Unbedeutende Figuren werden häufig mit keinem weiteren Attribut ausgestattet und bleiben flach. Je mehr Attribute hinzugefügt werden, umso runder wird die Figur – auch unter den wichtigen Handlungsträgern der Isländersagas gibt es also ójafnaðarmenn, wie Mǫrðr Valgarðsson, den Antagonisten der Njáls saga. Charakterisiert werden Figuren nicht nur durch direkte Beschreibungen des Erzählers, sondern auch durch ihr Handeln, ihre Figurenreden und ihre Interaktion mit anderen Figuren. Hat eine Figur keine andere Funktion, als eine andere zu charakterisieren, handelt es sich um einen »Charaktanten«.18 Auch Beziehungen zwischen Figuren sind für die Analyse anregend: Die Konstellation der Figuren arbeitet häufig mit Kontrasten und Korrespondenzen,19 indem beispielsweise zwei widerwillige wieder »auf Null stellen« lässt, und somit immer aufs Neue mit Isoldes Untreue konfrontiert wird, anstatt dass sich sein Argwohn mehren würde. Diese Feststellung lässt sich jedoch nicht auf die ­Isländersagas übertragen, die ihren Protagonisten durchaus eine Charakterentwicklung zugestehen, und auch Nebenfiguren nicht wesentlich eindimensionaler konzipieren als moderne Erzähltexte. Zu »Typen und Individuen« in den Isländersagas siehe Vésteinn Ólason 2011, S. 141–146; den Aufbau von Figureneinführungen in den Isländersagas bespricht Schach 1978, S. 240–241. Auch er stellt fest, dass »the men and women who people the Íslendingasögur are far more complex and life-like than the characters of medieval romance« (S. 240). 14 Krogh Hansen 2016, S. 235. 15 Hier wird größtenteils der Einteilung von Krogh Hansen 2016, S. 239–249 gefolgt und versucht, auf erklärungsbedürftige Terminologie zugunsten einer Beschreibung zu verzichten. 16 Diese Kategorien finden sich in vielen erzähltheoretischen Überblickswerken und gehen auf ­Forster 1927 zurück: »Flat characters were called ›humorous‹ in the seventeenth century, and are sometimes called types, and sometimes caricatures. In their purest form, they are constructed round a single idea or quality: when there is more than one factor in them, we get the beginning of the curve towards the round« (Forster 1927, S. 103–104). Zur Popularität und Praktikabilität dieser Einteilung siehe Jannidis 2008, S. 86–87. Im Anschluss findet sich dort ein Überblick über andere Kategorisierungen und Begrifflichkeiten, vgl. S. 87–102. 17 Vgl. Vésteinn Ólason 2011, S. 164–167 sowie Shortt Butler 2016, insb. S. 24–41. 18 Krogh Hansen 2016, S. 243. Dort auch ausführlicher zu den Mitteln der Charakterisierung, wie der Sprache der Figur, den Lautwert ihres Namens, etc. 19 Vgl. Köppe u. Kindt 2014, S. 139 sowie Jannidis 2008, S. 105. Figurenzeichnung mit Hilfe von Kontrasten und Korrespondenzen bespricht für die Isländersagas Schach 1978, S. 242–247 mit vielen Beispielen.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Helfer in einer Szene auftreten. Der Vergleich ihrer Ähnlichkeiten und Abweichungen kann interessante Perspektiven eröffnen. Im Folgenden werden zuerst Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten untersucht.20 Verschiedene Räuberfiguren können als Charaktanten eingesetzt werden, um dem Protagonisten eine Möglichkeit zur Erprobung seiner Fähigkeiten zu bieten. Danach wird dem Typus des Diebes in den Isländersagas nachgespürt, der sich mit einer Ausnahme am ehesten in Sklavenkollektiven finden lässt. Anschließend wird anstelle des Diebes als Figurentypus der Diebstahl als stereotypes Narrationsmuster vorgeschlagen, das Figuren mit passender Prädisposition beinhaltet. Die einzigen Protagonisten der Isländersagas, die man als ›Räuber und Diebe‹ bezeichnen könnte, sind Geächtete. Zum Leben außerhalb der Gesellschaft verurteilt, haben sie wenig andere Möglichkeiten um am Leben zu bleiben, als von anderen zu nehmen. Einen besonders interessanten Verlauf nimmt die Fóstbrœðra saga: Hier müssen sich die Protagonisten erst solcher Nebenfiguren erwehren, bevor sie selbst immer mehr Eigenschaften ihrer Feinde annehmen und zunehmend selbst in die zuvor bekämpfte Rolle schlüpfen. Ähnlich ambivalent ist der berühmte Gesetzlose Grettir Ásmundarson gezeichnet, der selbst eine ebenso große Bedrohung darstellt, wie die Antagonisten, vor denen er die Gemeinschaft immer wieder beschützt. Hinzu kommt die Figur Jǫkull aus der Vatnsdœla saga, welche den besten Repräsentanten des Motivs des edlen Räubers in der Gattung darstellt. Die Räuberbanden der Isländersagas fordern nicht nur einen einzelnen Helden heraus, sie stellen eine Probe für das Bauernkollektiv dar. Verschwindet die einzelne Figur schon zunehmend in einer großen Gruppe von Räubern, wird sie in anderen Szenen völlig zum Objekt: Indem sie selbst geraubt wird. Abschließend soll daher auf die vielen Fälle von Menschen- und Frauenraub in den Isländersagas eingegangen werden.

6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten Die anhaltende Anziehungskraft, die die Isländersagas auf ihre Rezipienten ausüben, lässt sich nicht zuletzt über ihre vielen runden Figuren erklären, die noch heute als Anknüpfungspunkte funktionieren.21 Zuletzt beschreibt Viðar Pálsson die Protagonisten der Isländersagas:

20 Begrifflich sind ›Typus‹ und ›Stereotyp‹ nicht deckungsgleich, da das Stereotyp stärker kulturell und soziologisch konnotiert ist – beispielsweise als stereotypes Bild des Deutschen im amerikanischen Film (zu solchen Stereotypen vgl. Schweinitz 2010). Hier wird daher als Adjektiv ›typenhaft‹ vorgezogen, und ›stereotyp‹ nur für Narrations- und Vorstellungsmuster verwendet, im Sinne von ›schablonenhaft‹. 21 Die Entwicklung der avancierten erzählerischen Fähigkeiten, die es benötigt, um so vielschichtige Figuren zu kreieren, bespricht Andersson 2006 (insb. S. 60–85) als wichtigen Faktor in der Gattungs-



6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten 

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[S]aga heroes and their adversaries are faulty and incomplete – that is, human – and their complexity characterizes the sagas as neither hagiography nor exempla but ›historical‹ in outlook. […] Rather than juxtaposing ›good‹ and ›evil‹ in their treatment of the heroic, the sagas show constant awareness of how thin the line can be between jafnaðr (fairness) and ójafnaðr (unfairness), ofsi (vehemence) and hóf (moderation), and the like, and the saga hero is never entirely ›good‹. He is not larger than life but dramatic and tragic on a human scale, acting misguidedly on emotional impulsiveness while not governed by base motives.22

Sucht man entsprechend nach flachen Figuren oder Typen,23 wie nach Dieben und Räubern, wird man diese nur unter den Nebenfiguren finden. Hier wiederum dominieren verschiedene Spielarten des Räubers, der durch sein offenes Vorgehen mit dem Protagonisten interagieren kann und zu seiner Charakterzeichnung beiträgt. Ein Dieb eignet sich schon per Definition schlechter als Charaktant, da sein Vorgehen unbemerkt bleiben soll und damit weniger Reaktionsmöglichkeiten bietet.

6.1.1 Räuber zur Erprobung: Wegelagerer, Geächtete, Wikinger Gänzlich flache Figuren, die keinerlei Individualisierung erfahren, tauchen in den Isländersagas bevorzugt im Ausland auf. Sie benötigen weder eine genealogische Anbindung an andere Figuren, noch muss erläutert werden, woher sie kommen oder wohin sie gehen. Eine Untergruppe des Figurentypus ›Räuber‹, auf die dies besonders häufig zutrifft, sind Wegelagerer. Sie kommen meist ohne Charakterisierung oder Namen aus, und dienen nur dazu, den Protagonisten auszuzeichnen und die Handlung voranzutreiben. Als beispielsweise Geirr und Hörðr in der Harðar saga ok ­Hólmverja nach Norwegen reisen, versucht dort umgehend eine Gruppe von Männern, Geirr seinen Umhang zu entwenden. Über diese Figuren weiß man nicht mehr, als dass es sich um Männer handelt, die im Dienst der berüchtigten Königin Gunnhildr stehen. Geirr kann sich und seinen Umhang verteidigen und verletzt im Kampf einen der Männer so stark am Arm, dass dieser an den Folgen stirbt. Dieser Zwischenfall dient dazu, einerseits einen kurzen Kontakt mit der Königsfamilie herzustellen, die genese der Isländersagas. Einen kurzen Forschungsbericht zu den möglichen Quellen, Einflüssen und Vorbildern der Figurenbeschreibungen bietet Viðar Pálsson 2017. 22 Viðar Pálsson 2017, S. 220 (Hervorhebungen im Original). 23 Als ›Typus‹ wird hier eine literarische Figur mit wenigen Eigenschaften verstanden, die auch außerhalb des konkreten Textes als Merkmalsbündel bekannt sind (vgl. Jannidis 2008, S. 103). Die Grenze zum ›Motiv‹ ist nicht klar zu ziehen: Während manche Typen wie der ›verrückte Wissenschaftler‹ frei eingesetzt werden können, sind andere, wie etwa der ›wandernde Jude‹, mit einer reichen Motivtradition verbunden. Unterschiedliche Zeiten und Gattungen kennen ihre eigenen Typen, die allerdings wandern und nachwirken können, wie die Allegorien mittelalterlicher Mysterienspiele oder die Figuren der Commedia dell’arte. Auch für die Isländersagas könnte man eine Vielzahl von Typen ausmachen, wie die ›schwatzhafte Magd‹ oder den ›feigen Sklaven‹, dies wurde aber bisher nicht systematisch unternommen. Wie fruchtbar eine neue Betrachtung der Figurentypen in Isländersagas sein könnte, zeigt Shortt Butler 2016 mit einer Untersuchung zu ójafnaðarmenn (»Unruhestiftern«).

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Protagonisten aber andererseits direkt weiter nach Gotland zu senden, um nicht dem Zorn der Königin zu begegnen. Durch die erfolgreiche Abwehr des Raubüberfalls schmälert sich die Ehre Geirrs trotz der Flucht nicht (Har 13). Die Wegelagerer sind hier reine Charaktanten, die völlig blass bleiben und keine eigene Charakterisierung erfahren. Sie dienen lediglich dazu, Geirrs Mut und Kampfkraft sichtbar zu machen. In der Hallfreðar saga vandræðaskálds trifft der Titelheld auf einen Wegelagerer mit ähnlich eindimensionaler Figurenzeichnung. Auf seinen Reisen begegnet H ­ allfreðr einem Mann namens Auðgísl, der ihm Silber verspricht, wenn er ihn begleitet. Die beiden treffen auf Ǫnundr, der sich als Wanderer ausgibt, und anbietet, sie gegen Bezahlung durch das Terrain zu führen, in dem sich niemand besser auskenne als er. Auf Hallfreðrs Drängen nehmen sie ihn mit, und noch am gleichen Abend versucht Ǫnundr, die beiden Reisenden zu töten. Auðgísl stirbt, Hallfreðr kann sich aber verteidigen und Ǫnundr im Kampf töten. Am nächsten Morgen findet er Auðgísls Leichnam und Ǫnundrs Hütte, in der der Wegelagerer reichlich Geld und Waren angesammelt hatte (Hal 7). Später lernt er Auðgísls Witwe kennen und überzeugt sie, dass nicht er ihren Mann getötet habe. Sie gehen zurück zu Ǫnundrs Hütte, wo das ganze Vermögen Hallfreðr überlassen wird (Hal 8). Ǫnundr wird etwas plastischer, als es die Wegelagerer der Harðar saga sind: Immerhin erfährt man seinen Namen und auch, dass er bereits früher raubte und Reichtümer in einer Höhle ansammeln konnte. Weit wichtiger ist seine Funktion als Charaktant für den Protagonisten Hallfreðr. Er gibt ihm nicht nur Gelegenheit, seine anfängliche Naivität durch einen ehrenhaften Kampf aufzuwiegen, sondern bringt ihm auch auf ehrenhafte Weise ein großes Vermögen ein. Dies ist die häufigste Funktion flacher Räuberfiguren in Isländersagas: Sie bieten dem Protagonisten eine Möglichkeit, sein Durchsetzungsvermögen und seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Neben Wegelagerern können auch Geächtete diesen Zweck erfüllen, die beiden Gruppen teilen das entscheidende Merkmal des umherziehenden Raubens.24 Ein Gesetzloser dient beispielsweise in der Vápnfirðinga saga dazu, den zwölfjährigen Brodd-Helgi als erwachsenen und geachteten Protagonisten der Saga einzuführen.25 Über Svartr heißt es bei seiner Figureneinführung, er sei ein großer Unruhestifter, dementsprechend gerät er mit seinem Nachbarn in Streit um Weiderechte. Schließlich erschlägt er den Nachbarn und wird geächtet, – bereits die Totschlagsklage führt der junge Brodd-Helgi. Als Geächteter stiehlt Svartr nun das Vieh der umliegenden Bauern. Es wird eigens betont, dass er mehr Schaden anrichtet, 24 Zur Erprobung eines jungen Helden eignen sich gesetzlose Nebenfiguren zwar vorzüglich, dies trifft aber nicht auf die gesetzlosen Protagonisten zu. Als der Gode Snorri in der Grettis saga seinen Sohn ermahnt, er solle endlich eine mannhafte Tat vollbringen und einnhvern skógarmann (Gts 68, S. 220; »irgendeinen Gesetzlosen«) erschlagen, gerät dieser ausgerechnet an Grettir Ásmundarson. Dieser ist dem jungen Mann derart überlegen, dass er sich im Kampf langweilt und dem Jungen rät, er solle lieber seinem mächtigen Vater mitteilen, dass Grettir Ásmundarson ihn gut behandelt habe. Der Gesetzlose steigt damit in der Achtung des Goden, der seinem Sohn auch keinen Vorwurf mehr macht. Zur Figur Grettir Ásmundarson siehe Kap. 6.2.2. 25 Später wird er selbst eines Diebstahls schuldig, vgl. Kap. 6.1.2.



6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten 

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als für sein Auskommen nötig gewesen wäre. Als auch Schafe vom Hof seines Vaters verschwinden, macht sich Brodd-Helgi auf die Suche nach dem Geächteten und tötet ihn. Die ganze Angelegenheit bringt dem Jungen einen ehrenvollen Ruf ein (Vpn 2). Svartr wird durch sein mehrfaches Auftreten bereits als komplexere Figur gezeichnet, als dies bei reinen Charaktanten der Fall ist. Trotzdem erfüllt er die gleiche Aufgabe, indem er dem jungen Protagonisten Gelegenheit gibt, sich zuerst in einer juristischen Angelegenheit als rechtskundig zu erweisen, und im Anschluss seine Tapferkeit und Kampfkraft unter Beweis zu stellen. Auch in den Ächtersagas, deren Protagonisten selbst zur Gesetzlosigkeit verurteilt sind, tauchen einige unbedeutende Räuberfiguren auf. Da die Protagonisten sich außerhalb des sozialen Raumes aufhalten, erfüllen gesetzlose Nebenfiguren hier wichtige Funktionen als Charaktanten und Korrespondenzfiguren, die kaum eine ehrenhafte Figur einnehmen könnte. Schon Heusler stellt Ähnliches fest: Solche niedrigen Waldmänner beleben die Einsamkeit der isländischen Gebirgswüste: Zu Grettir stoßen solche dunkeln Gesellen; aber auch zu Hördh, auf seine Küsteninsel, strömen sie hinaus. Das Räubergesindel, das ein paarmal im Hintergrunde auftaucht, die ránsmenn und útilegumenn, darf man wohl immer als Geächtete ansehen […].26

Der dritte räuberische Figurentyp, dem eine Funktion als Gegenspieler zukommen kann, ist der Wikinger.27 Einem solchen begegnet der Protagonist der Gunnlaugs saga ormstungu während seines Aufenthalts am englischen Königshof. Als Lohn für seine Dichtkunst wird der junge Gunnlaugr in das Gefolge des Königs aufgenommen. Am Hof leiht Gunnlaugr einem Fremden namens Þórormr Geld: [H]ann var mikill ok sterkr ok furðu torvelligr.28 Als er dem König davon berichtet, reagiert dieser besorgt: ›[Þ]essi er inn mesti ránsmaðr ok víkingr, ok eig ekki við hann, en ek skal fá þér jafnmikit fé.‹29 Gunnlaugr lehnt die Großzügigkeit des Königs ab und begründet, das Gefolge stünde in schlechtem Licht da, wenn sie ihren Besitz solchen Männern überließen und andere dafür büßen ließen. Stattdessen fordert er das Geld mit einer Strophe zurück. Er stellt Þórormr vor die Wahl, das Geld zurückzuzahlen, oder sich im Holmgang mit ihm zu messen. Als der König vom bevorstehenden Holmgang hört, schenkt er Gunnlaugr ein spezielles Schwert, weist ihn aber an, so zu tun, als würde er mit einem anderen Schwert kämpfen. Während der Kampfszene wird der ránsmaðr ok víkingr (»Räuber und Wikinger«) nun zweimal als berserkrinn (»der Berserker«)30 bezeichnet. Die Taktik hat Erfolg: Mit dem Königsgeschenk gelingt es Gunnlaugr, Þórormr zu töten. Der erfolg-

26 Heusler 1911, S. 185–186 (Hervorhebung im Original). 27 Zum Wikingerbild der Isländersagas siehe Kap. 2.1.2. 28 Gun 7, S. 71; »Er war groß und stark und schwierig im Umgang«. 29 Gun 7, S. 72; »›Dieser [Mann] ist der schlimmste Räuber und Wikinger, und setz dich nicht mit ihm auseinander; ich werde dir das Vermögen ersetzen.‹« 30 Gun 7, S. 73.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

reiche Held bekommt vom König noch einen goldenen Ring geschenkt und soll versprechen, im Herbst nach England zurückzukehren. Þórormr bleibt als Figur flach und dient nur als Charaktant für Gunnlaugr, der durch seinen Sieg an Ansehen am Königshof gewinnt. Die Bezeichnungen ›Räuber‹, ›Wikinger‹ und ›Berserker‹ sind hier austauschbar und auch die Beschreibung als »groß und stark und schwierig im Umgang« ist äußert schablonenhaft gehalten. Im Fall flacher Nebenfiguren ist der Wikinger nicht klar vom Räuber zu unterscheiden, es handelt sich vielmehr um einen seefahrenden Wegelagerer, was durch die wechselnden Begrifflichkeiten illustriert wird. Die Austauschbarkeit der verschiedenen Räubertypen offenbart sich ebenso, wenn sie in Variation direkt hintereinander gereiht vorkommen, wie in der kurzen Erzählung Stjǫrnu-Odda draumr. Diese beginnt wie eine normale Isländersaga, hat aber einen Traum in ihrem Zentrum, dessen Inhalt man eher als Vorzeitsaga klassifizieren würde.31 In ihm muss sich ein junger König beweisen und verfolgt zu diesem Zweck zwei Geächtete, die im Wald leben und die Bevölkerung überfallen. Der junge König legt Wert auf den Ehrgewinn der Unternehmung und will daher nur einen Begleiter mitnehmen, um den Übeltätern32 nicht in einer Überzahl zu begegnen (Stj 3). Hier wird zunächst der Aspekt des zu erlangenden Ruhms durch den Sieg über Räuber thematisiert. Anschließend taucht eine weitere interessante Komponente auf: Der König wählt seinen Skalden als Begleiter, entschließt sich dann aber, alleine zu kämpfen, damit der Skalde überlebt und von seinem Kampf berichten kann (Stj 4). Es reicht nicht, die Räuber zu töten, es muss auch davon erzählt werden: Selten tritt der Zusammenhang von Ehre und Erzählung so deutlich hervor. Im Anschluss hat sich der König bewiesen und lässt seine Untertanen in das gefundene Räuberversteck gehen, um ihr Vermögen zurückzuholen. Sie alle entschließen sich, ihr Eigentum ihrem siegreichen König zu überlassen. Dieser erweist sich nun als souveräner Herrscher und will sich im direkten Anschluss den Besitz eines verdienten Jarls seines Reiches aneignen, nachdem dieser in hohem Alter stirbt. Diesen Plan durchkreuzt vorläufig dessen kämpferische Wikingertochter, die die Besitztümer ihres Vaters zurückerobert. Als der König am Ende des Traums auch diese Bedrohung überwunden hat, wird er König über ganz Gotland.33 Verschiedene Figuren und Varianten des hier besprochenen 31 Zur Erzählsituation und Genreeinordnung dieser interessanten Erzählung vgl. Hui 2016. 32 Diese werden mit verschiedenen Begrifflichkeiten beschrieben. Zuerst werden sie ganz allgemein illvirkjar (»Übeltäter«) genannt, später heißt es, diese víkingar (»Wikinger«) töteten Menschen, um an deren Vermögen zu kommen, und sie seien náliga berserkir (»beinahe Berserker«), vgl. Stj 3, S. 462– 463. Zum synonymen Gebrauch dieser Begriffe siehe Kap. 2.1.2. 33 Weibliche Wikinger kommen in Isländersagas ansonsten nicht vor. Hléguðr jarlsdóttir ist eine einmalige Ausnahme. Sie erwirbt sich fjár ok frama (Stj 2, S. 461; »Vermögen und Ehre«) auf Wikingerfahrt, und wird mit dem gleichen Vokabular besprochen wie ihre männlichen Kollegen. Allerdings geschieht die gesamte Handlung innerhalb einer Traumerzählung und wird zusätzlich durch Gotland als Schauplatz von der Wirklichkeit der Isländersagas entrückt. Der ganze Traum trägt Züge einer Vorzeitsaga, was allzu deutlich wird, als Hléguðr während eines Kampfes einen Wolfskopf zu haben scheint, mit dem sie ihren Gegnern die Köpfe abbeißen kann (Stj 2).



6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten 

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Spektrums – Räuber im Wald, übergriffige Könige und Wikinger – werden aneinandergereiht. So entsteht ein kurzweiliger Handlungsverlauf für eine Traumerzählung, deren Schwerpunkt auf der Darstellung der Erzählsituation liegt. Die simpel gestrickte histoire gibt dem verschachtelten discours Raum. Neben den zuvor besprochenen mehr oder weniger typenhaften Räuberfiguren gibt es auch einige flache Charaktere, die zwar stehlen oder dessen bezichtigt werden, ansonsten aber keine Charakteristika tragen, die sie als Räuber oder Diebe kennzeichnen würden. Jón und Auðólfr in der Þórðar saga hreðu werden beispielsweise mit starker Markierung eingeführt, um kurz darauf auf einem Markt in Konflikt mit den Protagonisten zu geraten: Sá maðr kemr til sögunnar, er Jón hét. […] Hann var vel fjáðr ok engi jafnaðarmaðr ok óvinsæll. Guðrún hét kona hans, ofláti mikill ok metnaðarfull. Bróðir hennar hét Auðólfr.34 Bei Guðrún handelt es sich um eine schwach ausgearbeitete Kopie der weiblichen Protagonistin Sigríðr. Beide Frauen schicken männliche Familienangehörige zum Markt, um dort einen schönen Mantel für sie zu kaufen. Um diesen Mantel entsteht ein Streit, da zwar Auðólfr und Jón zuerst in der Bude waren, sie aber noch einmal verlassen mussten, um Geld zu holen. Als die Protagonisten das Zelt betreten, wird ihnen der Mantel sofort verkauft, und es kommt zum Konflikt zwischen beiden Parteien. Erst im Nachhinein wird der Vorgang als Raub bezeichnet. Eiðr segir: ›Þeir vildu ræna hann […].‹35 Die Funktion der drei Nebenfiguren liegt zum einen in der Erprobung der Helden, zum anderen aber auch im Sichtbarmachen der sozialen Unterschiede: Als Korrespondenzfiguren sind sie den Protagonisten ähnlich, aber doch sozial und narrativ klar unterlegen.36

6.1.2 Der Dieb als Figurentypus in den Isländersagas Wie bereits anhand der ›Semantik des Diebstahls‹ besprochen, extrahiert Andersson aus den Isländersagas einen Figurentypus des Diebes, der als »an outsider, a sorcerer, and a sexual deviant«37 dargestellt werde. Dieser Typus wird jedoch von keiner Figur vollständig realisiert, maximal werden zwei der von Andersson genannten Merkmale ausgearbeitet. Dem seltenen Fall einer Figur, deren primäres Charakteristikum es ist, ein Dieb zu sein, begegnet man in der Fóstbrœðra saga. Als Þorgeirr, einer der beiden Schwurbrüder, ein Haus bauen will, hilft ihm dabei ein Handwerker namens Veglágr. Zusammen kommen die beiden nach Reykjahólar, und schon bald heißt es:

34 Þórð 4, S. 180; »Ein Mann namens Jón kommt in die Saga. Er war sehr vermögend, aber ein Unruhestifter und unbeliebt. Guðrún hieß seine Frau, sie war hochmütig und stolz. Ihr Bruder hieß Auðólfr.« 35 Þórð 4, S. 182; »Eiðr sagt: ›Sie wollten ihn berauben […].‹« 36 Zur narrativen und sozialen Hierarchie in den Isländersagas siehe Kap. 7. 37 Andersson 1984, S. 502. Siehe ausführlich Kap. 3.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Þann vetr váru stulðir miklir á Reykjahólum; hurfu mǫnnum gripir margir ór hirzlum, ok var svá mikill gangr at þvi, at náliga ór hvers manns hirzlum hvarf nǫkkut, hversu rammligr láss sem fyrir var, en þó var engi lássinn brotinn.38

Man beruft eine Versammlung ein, auf der beschlossen wird, eine rannsókn39 durchzuführen. Auf mehreren Höfen werden die Truhen überprüft, bis man zum Haus von Veglágr smiðr kommt. Dieser weigert sich zunächst, seine Truhe aufzuschließen: ›Aldri hefi ek rannsakaðr verit sem þjófar, ok mun ek eigi lúka upp kistunni.‹40 Erst als der Anführer der Truppe droht, die Kiste notfalls mit einer Axt zu öffnen – ›konungs lykil, þann er at ǫllum kistum gengr ok lásum‹41 –, muss sich Veglágr fügen. Man findet in der Truhe nicht nur einige der verschwundenen Gegenstände, sondern auch verschiedene Schlüssel, die zu den Schlössern in den benachbarten Häusern passen. Nun ist man sich einig, dass Veglágr die Diebstähle begangen haben muss und zwingt ihn, seine Schuld zu bekennen. Veglágr gesteht mehrere Diebstähle und führt die Männer zu den Stellen, an denen er das Diebesgut versteckt hat. Illugi möchte den Dieb tot sehen; ›ok er þat mitt ráð, at hann sé hengðr.‹42 Þorgeirr aber setzt sich dafür ein, dass Veglágr sein Leben behält und lediglich verbannt wird. Vorläufig nimmt Þormóðr (der zweite Schwurbruder) den Dieb bei sich auf, dies kann sein Leben aber nur um kurze Zeit verlängern. Schon in der darauffolgenden Episode verlässt Veglágr Island und begeht weitere Verbrechen: Veglágr fór upp á Skotland ok gerðisk þar mikill þjófr ok var þar drepinn um síðir.43 In Veglágrs Fall wird, wie bei Grettirs Diebstählen,44 Hängen als Strafe vorgeschlagen.45 Obwohl keine Gerichtsverhandlung stattfindet, entspricht die ausgeführte Strafe der Verbannung den Rechtsvorstellungen, die sich in der Grágás niederschlagen. Bemerkenswert ist insbesondere Veglágrs planvolles und geschicktes Vorgehen. Er nutzt sein handwerkliches Können für seine Diebstähle, um passende Zweitschlüssel für die Truhen seiner Nachbarn zu fertigen und verwendet diese danach heimlich 38 Fbr 13, S. 186; »In diesem Winter gab es auf Reykjahólar viele Diebstähle; es verschwanden viele Wertgegenstände aus den Truhen, und es nahm ein solches Ausmaß an, dass nahezu aus jedermanns Truhe etwas abhandenkam, egal wie stark das Schloss daran war, und obwohl das Schloss nicht aufgebrochen wurde.« 39 Fbr 13, S. 187; »Hausdurchsuchung«. 40 Fbr 13, S. 187; »›Noch nie bin ich durchsucht worden wie ein Dieb, und ich werde die Kiste nicht aufschließen.‹« Die Formulierung rannsaka sem þjófar taucht in den Isländersagas häufiger auf. Sie ist Ausdruck der Empörung des Durchsuchten, egal, ob dieser wirklich etwas zu verstecken hat oder nicht. Dabei wird häufiger nach Personen als nach Diebesgut gesucht (vgl. bspw. Fljót 19, S.  275; Fljót 20, S. 285. Ähnlich auch HrGu 2, S. 323). 41 Fbr 13, S. 188; »›dem Königsschlüssel, der alle Schlösser öffnen kann‹«. 42 Fbr 13, S. 188; »›und es ist mein Rat, dass er gehängt wird‹«. 43 Fbr 13, S. 191; »Veglágr fuhr nach Schottland, beging dort weitere schwere Diebstähle, und wurde schließlich getötet.« 44 Vgl. Kap. 6.2.2. 45 Vgl. Andersson 1984, S. 501 sowie Lúðvík Ingvarsson 1970, S. 397.



6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten 

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genug, um nie erwischt zu werden. Die Figur Veglágr entspricht dem von Andersson angenommenen Typus des Diebes weitestgehend: Er ist ein Außenseiter ohne soziale Verbindungen, der kurz nach der Tat wieder aus der Saga verschwindet. Auf seine Sexualität wird allerdings nie eingegangen und auch eine Verbindung zur Zauberei wird ihm nicht nachgesagt.46 Der Typus des Diebes als Außenseiter ist in den Isländersagas zwar vorhanden, weit häufiger strecken aber angesehene Isländer ihre Finger nach dem Eigentum ihrer Nachbarn aus, als Fremde dies tun. Das Vorhandensein des Typus deutet sich durch seine Inversion in der Vápnfirðinga saga an, in der zwar die Erwartung eines Diebstahls durch einen Außenseiter geweckt wird, diese aber nicht eingelöst wird: Þorleifr inn kristni bringt von seinen Reisen den Norweger Hrafn mit, auðugr ok fjǫlkunnugr at gersemum, sínkr maðr ok fálátr ok vel stilltr.47 Hrafn hat einen großartigen Goldring und eine Kiste voller Gold und Silber bei sich. Der Protagonist der Saga, Brodd-Helgi, bietet Hrafn Quartier an, der lehnt aber ab, da er gehört habe, dass Brodd-Helgi geldgierig sei. Hrafn kommt stattdessen bei Helgis Freund Geitir unter. Die Beschreibung der Schätze und des habgierigen Ausländers lenken die Rezipientenerwartung bereits in Richtung eines Diebstahls, bevor ein Fest stattfindet. Hier wird nun aber berichtet, dass Geitir und Brodd-Helgi die Köpfe zusammenstecken: Orð var á því, at þeim Helga ok Geiti þœtti svá tíðrœtt vera at því boði, at menn fengi hvárki af þeim tal né gaman.48 Wird in den Isländersagas derartig über ein Zwiegespräch gemunkelt, ist meist eine Verschwörung im Gange.49 Kurz darauf wird der Norweger getötet, während BroddHelgi und Geitir sich eindeutig anderswo aufhalten. Doch wird erneut beiläufig angedeutet, was von der Sache zu halten ist: Ein gewisser Tjǫrvi sei ein Freund von Helgi und Geitir und sei den ganzen Tag verschwunden gewesen. Helgi und Geitir bestatten den Norweger und einigen sich, seinen Besitz unter sich aufzuteilen – Geitir nimmt die Sachen in Verwahrung und verschließt den Schuppen. Obwohl die Saga nie explizit macht, dass Geitir und Brodd-Helgi den Norweger haben töten lassen, um sich seine Kostbarkeiten zu teilen, gibt sie genügend Hinweise auf die Täterschaft, dass es dem Sagapublikum kaum entgehen kann. Auch im Folgenden zeigt sich, dass nicht Störenfriede von Außen den sozialen Frieden unter den Bauern bedrohen, sondern die Habgier der Einheimischen.50 46 Dass Sexualität und Zauberei nur indirekt mit dem Diebstahl in Verbindung gebracht werden können, wird ausführlich in Kap. 3 dargelegt. 47 Vpn 4, S. 28; »reich und bewandert, was Kostbarkeiten angeht. Ein habgieriger Mensch, wortkarg und zurückhaltend.« 48 Vpn 4, S. 29; »Es wurde darüber gesprochen, dass Helgi und Geitir so viel miteinander sprachen, dass die Leute weder Gespräche noch Kurzweil von ihnen hatten.« 49 Vgl. Kap. 4.1. 50 Als Hrafns Handelspartner Þorleifr inn kristni sein Schiff erneut bepackt, lässt er Geitirs Schuppen aufbrechen, um die Waren des Norwegers herauszuholen. Er bringt dessen Besitz seinen Erben nach Norwegen, weshalb Brodd-Helgi und Geitir sehr verstimmt sind (Vpn 4). Während Þorleifr unterwegs ist, entzweien sich die beiden Freunde auch noch untereinander. Helgi fragt Geitir, ob er wisse, ob die

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Der Dieb als Figurentypus ist in den Isländersagas im Gegensatz zum Räuber insgesamt nur schwach ausgeprägt. Wo man ihn erkennen möchte, ist seine Figurenanlage genauso über andere Typen, wie etwa ›den feigen Sklaven‹ oder ›den zwielichtigen Fremden‹ erklärbar, die in der Gattung häufiger vertreten und stärker ausgeprägt sind. Wie alle anderen Figuren können diese Typen Diebstähle begehen, was sie auch zu Dieben macht, aber nicht den Kern ihrer Figurenanlage darstellt. Der Dieb als Figur ist in den Isländersagas damit weniger bedeutsam als der Diebstahl als Motiv. Dieses allerdings folgt häufig einem vorhersehbaren Narrationsmuster, welches anstelle der Figur als ›Stereotyp‹ bezeichnet werden kann. Es findet sich in vielen der bereits besprochenen Episoden, ein Paradebeispiel beinhaltet die Víga-Glúms saga: Als sich Víga-Glúmr in der nach ihm benannten Saga häuslich eingerichtet hat, werden er und sein blinder, weiser Nachbar Halli als Korrespondenzpaar konstruiert. Beide haben mehrere Söhne, von denen jeweils einer als Unruhestifter eingeführt wird. Vigfúss Glúmsson ist ein hávaðamaðr mikill, ójafnaðarmaðr. Bárðr Hallason var hávaðamaðr ok ójafnaðarmaðr mikill.51 Vigfúss’ Ziehvater ist der Freigelassene Hallvarðr; hann rakaði fé saman, refjusamr í fjárreiðum.52 Der Verlauf des Konfliktes ist durch die Art der Figureneinführung vorgegeben: Die beiden Söhne müssen zwangsläufig aneinander geraten, der Ziehvater wird zum Auslöser des Konfliktes werden, die beiden Väter werden den Konflikt ihrer Söhne verhandeln müssen. Als Stein des Anstoßes drängt sich ein Viehdiebstahl (alternativ ein Weidestreit) geradezu auf, da die monetäre Komponente schon durch die Beschreibung des Ziehvaters ins Spiel gebracht wurde. So verwundert es nicht, dass Halli nach kurzer Zeit einige Schafe abhandenkommen. Bárðr vermutet sofort, dass Hallvarðr etwas damit zu tun haben müsse, schließlich seien mit Glúmr þjófar53 in den Bezirk gekommen. Halli will, dass Bárðr Hallvarðr um stulð54 vorlädt, und vermutet, dass es Glúmr nicht gelingen wird, Hallvarðr vor der Verurteilung zu bewahren. Als die Klage vorgebracht wird, will Vigfúss nicht akzeptieren, dass sein Ziehvater wegen Diebstahls angeklagt wird, während Glúmr lieber für ihn Buße zahlen würde, ›heldr en leggja fyrir slíkan mann virðing mína.‹55

Kiste des Norwegers auch im Schuppen gewesen sei und unterstellt ihm, sie genommen zu haben. Geitir dagegen fragt Helgi nach dem Verbleib des Ringes, den er im Besitz seines Freundes vermutet (Vpn 5). Dieser Episode folgen zwei weitere Eigentumsstreitigkeiten, die zum Zerwürfnis der beiden befreundeten und verschwägerten Familien führen. 51 VíGl 17, S. 56–57 bzw. S. 58. Sowohl hávaðamaðr als auch ójafnaðarmaðr werden normalerweise mit »Unruhestifter« übersetzt. Der Schwerpunkt beim hávaðamaðr liegt auf seinem lärmenden, hochfahrenden Temperament, beim ójafnaðarmaðr auf seiner antisozialen Art und Übergriffigkeit. Der Einsatz des verstärkenden mikill zeigt, dass der Schwerpunkt beim einen auf der ersten Ausprägung, beim anderen auf der zweiten Ausprägung liegt. Zum Figurentypus vgl. insgesamt Shortt Butler 2016. 52 VíGl 17, S. 58; »raffte ein Vermögen zusammen, betrügerisch in Geldangelegenheiten.« 53 VíGl 17, S. 58; »Diebe«. 54 VíGl 17, S. 59; »wegen Diebstahls«. 55 VíGl 18, S. 60; »›lieber als für einen solchen Mann meine Ehre aufs Spiel zu setzen.‹«



6.1 Diebe und Räuber als typenhafte Antagonisten 

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Ein bitterer Konflikt zwischen Vater und Sohn endet damit, dass Glúmr die Klage zu Fall bringt, ok fekk af óvirðing.56 Nach zwei Wintern vermisst Halli einen fetten Eber. Bárðr schlägt sofort vor: ›Hann man farinn at leita sauða þeira, er stolit varit fyrra haust.‹57 Hallvarðr wird erneut des Diebstahls verdächtigt. Man will Klage erheben, da Vigfúss gerade nicht im Land ist. Bárðr macht sich auf zur Vorladung und entscheidet sich dann doch spontan, Hallvarðr den Kopf abzuschlagen. Halli will die Sache nun mit Glúmr ins Reine bringen und bietet ihm daher ein Selbsturteil an. Glúmr geht auf diese Geste ein und setzt eine sehr geringe Buße fest. Zudem zahlt er auch für den Eber und die verlorenen Schafe – womit er die Schuld seines Haushalts am Verschwinden der Tiere anerkennt. Auf die beiden Diebstahlsvorwürfe folgt mit einem Pferdekampf ein weiteres Standardmotiv aus dem Repertoire der Isländersagas, um Konflikte zu befeuern.58 Kurzzeitig muss Bárðr das Land verlassen, wird aber bald nach seiner Rückkehr von einem Norweger aus Vigfúss’ Mannschaft getötet. Halli holt sich mächtige Unterstützer, die dabei helfen, Vigfúss zu ächten. Dieser will das Land nicht verlassen, weshalb Glúmr seinen Sohn sechs Winter lang versteckt. Der Diebstahl steht hier in seiner handlungsauslösenden Funktion im Vordergrund, er dient zur kausalen Motivierung der Konflikte zwischen Bárðr und Vigfúss.59 Das tatsächliche Schicksal der Tiere wird nicht aufgeklärt, Hallvarðrs Schuld nie bewiesen  – ob wirklich gestohlen wurde, spielt für den ehrkränkenden Charakter des Verdachts keine Rolle. Hallvarðr als Figur kann damit nicht als typenhafter Dieb bezeichnet werden, da dieses Charakteristikum kaum hervortritt. Trotzdem ist er als Freigelassener eine Figur von niedrigem sozialem Stand, der zudem mit monetären Aspekten in Verbindung steht. Als Ziehvater steht er Vigfúss nahe wie ein Familienmitglied, ohne dieselben engen Bande zu Glúmr zu haben. Er ist damit zwar kein Dieb im Sinne eines Typus, aber eine Figur mit perfekter Prädisposition für einen Diebstahl. Eine solche hat auch Víga-Hrappr (»Totschlag-Hrappr«) in der Brennu-Njáls saga, der zweifelsohne zu den schlimmsten Schurken der Isländersagas zählt. Die Njálssöhne Grímr und Helgi lernen ihn auf ihrer Auslandsfahrt kennen und bringen ihn mit nach Island, um Gunnarrs Onkel Þráinn Sigfússon einen Gefallen zu erweisen. Dieser zeigt sich zuhause nicht in erhofftem Maße erkenntlich, was einiges zum Groll zwischen den beiden Familien beiträgt, und schließlich zur Eskalation des schwelenden Konfliktes, und in letzter Konsequenz zum Mordbrand an Njáll und seiner Familie führt. Zu seinen vielen üblen Taten in Norwegen wird ein Tempelraub hinzugefügt, der ihm den Zorn Jarl Hákons einbringt. Dieser ist bei einem Fest, als sich Hrappr zum Götterhaus schleicht. Im Tempel sitzen drei Götter. Þorgerðr hǫlgabrúðr reißt Hrappr die Haube vom Kopf und zieht ihr einen Goldring ab. Danach nimmt er auch Þórr 56 VíGl 18, S. 60; »und Schande davontrug.« 57 VíGl 19, S. 61; »›Er wird die Schafe suchen gegangen sein, die letzten Herbst gestohlen wurden.‹« 58 Zur literarischen Funktionalisierung von Pferdekämpfen vgl. Rohrbach 2013. 59 Vgl. Kap. 5.2, zur schablonenhaften Motivverwendung insbesondere Kap. 5.2.1.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

seinen Goldring ab, und einen dritten von Irpa. Er trägt alle drei Götterfiguren nach draußen und tók af þeim allan búninginn.60 Im Anschluss verbrennt er das Götterhaus und macht sich mit seiner Beute davon. Auf seiner Flucht trifft er die Njálssöhne, denen er die Ringe anbietet, damit sie ihn verstecken. Es folgen einige amüsante Versteckspielepisoden, in denen der Jarl Hrappr nicht finden kann, da Grímr und Helgi immer neue Verstecke für ihn ersinnen. Zuhause auf Island sorgt Hrappr für weitere Unruhen, und tut sich mit Hallgerðr zusammen, der nachgesagt wird, ein Verhältnis mit ihm zu haben. Víga-Hrappr wird insgesamt als perfekter Bösewicht konturiert: Der Tempelraub verstärkt diese Figurenanlage, ebenso wie die Verbindung zu H ­ allgerðr.61 Dies macht ihn nicht zum ›Räuber‹, der Raub trägt aber zu seiner Anlage als Schurke bei. Eigentumsdelikte und Vorwürfe, jemand sei ein Dieb oder Räuber, werden in den Isländersagas verwendet, um Figuren negativ zu markieren oder zu ihrer Charakterisierung als Schurken beizutragen. Verknappt geschieht dies ein weiteres Mal in der Brennu-Njáls saga, als Njáll seinem Freund Gunnar rät, wie er im Gespräch mit Hrútr die Männer aus verschiedenen Regionen Islands diffamieren soll. Über die Leute aus dem Reykjadalr soll er behaupten: Þjófar eru þar ok illmenni.62 Die ›Diebe‹ stellen hier weniger einen Figurentypus dar als eine Verstärkung für illmenni (»Verbrecher; schlechte Menschen«).

6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete Eine besondere Gruppe unter den Räubern und Dieben der Sagaliteratur bilden Geächtete. Die Gesetzlosigkeit stellt innerhalb des isländischen Rechtssystems zur Sagazeit die schwerste Strafe dar, da der isländische Freistaat keine Todesstrafe kannte. Gesetzlosigkeit bedeutet den Verlust aller Rechte, des gesamten Besitzes, und den völligen Ausschluss aus allen öffentlichen Handlungen der sozialen Gemeinschaft.63 Grundsätzlich gibt es zwei Varianten der Gesetzlosigkeit, die kleine Acht (an. fjǫrbaugsgarðr) und die große Acht. Bei der kleineren Form wird eine meist dreijährige Verbannung aus Island ausgesprochen. Die Betroffenen müssen zwar das Land verlassen, können diese Zeit aber wie jede andere Reise verbringen. Entsprechend trägt die Darstellung dieser Acht in den Sagas deutlich positive Züge, insbesondere, wenn

60 Nj 88, S. 214; »und nimmt ihnen ihre gesamte Ausstattung.« 61 Zur Figur Hallgerðr und deren Verbindung zum Diebstahl siehe Kap. 5.1.1 sowie Kap. 5.3.2. 62 Nj 22, S. 61; »Diebe sind dort und Verbrecher«. 63 Das Vermögen des Geächteten zu konfiszieren ist Aufgabe des Anklägers. Dieser als féránsdómr (wörtlich: »Vermögensraubgericht«) bezeichnete Akt teilt einige Merkmale mit dem rán, folgt in den Sagas aber immer auf ein Gerichtsurteil, weshalb er hier nicht als Eigentumsdelikt besprochen wird. Zum féránsdómr siehe Heusler 1911, S. 147–152.



6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete 

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ein junger Isländer von ihr betroffen ist: Diese sollten in ihrer Jugend ohnehin eine längere ›Bildungsreise‹ unternehmen, bevor sie auf Island einen Hof übernehmen.64 Bei der großen Acht, dem skóggangr (wörtlich: »Waldgang«), handelt es sich um ein völlig anderes Strafmaß: Der Betroffene wird auf Lebenszeit geächtet, darf straffrei getötet werden, verliert sein Hab und Gut, und verwirkt das Recht, an Thingversammlungen teilzunehmen.65 Hinzu kommt ein Hilfsverbot, das es allen Verwandten und Freunden des Verurteilten verbietet, ihn zu unterstützen oder zu beherbergen.66 Eine Spezialität der isländischen Acht stellt das Ausreiseverbot dar; der Gesetzlose ist óferjandi, er darf nicht befördert werden. Die Insel Island wird damit zum Gefängnis für den Gesetzlosen, dem es versagt ist, wie sein kontinentaleuropäischer Gegenpart in einem neuen Land ein neues Leben zu beginnen.67 Da dem Gesetzlosen ebenso jede Art von Handel verboten ist, bleibt ihm kaum eine andere Möglichkeit, an Essen und Kleidung zu gelangen, als zu stehlen.68

6.2.1 Vom Held zum Räuber: Die Fóstbrœðra saga Die Fóstbrœðra saga69 gilt vielen Forschern als lose verknüpfte Sammlung verschiedener Gewaltdarstellungen, und auch ihre Erzähltechnik betreffend steht sie unter 64 Vgl. Poilvez 2012, S. 119, die die Exilerfahrung ebenfalls mit der Auslandsreise nach Norwegen, der útanferð, gleichsetzt und dazu ausführt: »This voluntary and positive departure was an initiatic exile, a symbolic transition from young man to accomplished man. This move was almost socially mandatory. By contrast, a man who stayed at home was heimskr, which has to second meaning of ›idiot‹ […]«. Zur dreijährigen Verbannung fügt sie an: »In theory, exile as a rite of passage […] and lesser outlawry are totally different, but in practice there is not such a large difference« (S. 120). Zur Bedeutung und Notwendigkeit der útanferð siehe auch Meulengracht Sørensen 1993a, S. 224–226. 65 Tatsächlich gilt der Verbrecher rechtlich bereits direkt nach der Ausübung einer Tat, die mit Gesetzlosigkeit bestraft wird, als Geächteter. Ihm ist es also sogar verboten, die Thingversammlung zu besuchen, auf der sein eigener Rechtsfall besprochen wird, vgl. Ahola 2009, S. 24. 66 In den Isländersagas wird dieses Verbot häufig thematisiert und noch häufiger gebrochen. Sowohl mächtige Männer helfen Outlaws (meist im Gegenzug für deren Dienste als Meuchelmörder) als auch einige weibliche Figuren, die die Gesetzlosen beherbergen. Unterstützung durch die Familie können sich die meisten Geächteten ebenso erhoffen, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. Vgl. zusammenfassend Amory 1992, S. 192–193 sowie S. 198–202. Zum besonderen Zusammenhang zwischen weiblichen Figuren und Gesetzlosen siehe Ahola 2009. 67 Vgl. Poilvez 2012, S. 116. 68 In den Isländersagas findet sich häufig eine dritte Variante, die heraðssekt (»Bezirksacht«). Der Betroffene wird dabei aus einem bestimmten Gebiet verbannt, darf aber in einem anderen Teil Islands ein geregeltes Leben aufnehmen. Vgl. Heusler 1911, S. 163–164. 69 Die Fóstbrœðra saga ist in unterschiedlichen Fassungen erhalten und in den drei prominentesten Sammelhandschriften Islands vertreten. Die kürzeste Version stellt dabei der Text der Hauksbók dar, der allerdings erst bei Kapitel 11 einsetzt. Vom Text der Mǫðruvallabók ist dagegen heute nur noch der Anfang erhalten, es existiert aber eine Abschrift aus einer Zeit, als diese noch vollständig war. Die längste Fassung der Flateyjarbók kennt vier zusätzliche Episoden und weit mehr Erzählerkommentare, vgl. Simek 1990, insb. S. 395–396.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

dem »Verdikt der Grobschlächtigkeit.«70 Die vielen gewalttätigen Auseinandersetzungen werden dabei gemeinhin als Mittel zur negativen Charakterzeichnung beider Protagonisten gedeutet, bis hin zur Einstufung Þorgeirrs als »Anti-Helden«71 und der Gesamtdeutung des Textes als sozialkritischer Parodie.72 Ebel argumentiert dagegen, den Konfliktdarstellungen wohne eine doppelte Logik inne, indem zum einen die Totschläge auf deren gesellschaftliche Akzeptanz rückbezogen werden, und zum anderen die einzelnen Gewalttaten über die Saga hinweg in einen größeren Konfliktkontext gestellt werden.73 Obwohl Gewalt insgesamt als Forschungsschwerpunkt gesehen werden kann, wurden die Fälle von Raub dabei bisher nicht berücksichtigt. Dennoch sind diese Verbrechen für die Motivation des Geschehens ebenso bedeutsam wie für die Figurenzeichnung Þorgeirrs, der im Laufe der Erzählung zu eben jenem Typ von Räuber und Gewalttäter wird, gegen den er sich an ihrem Anfang stellt. Zu Beginn der Saga werden die beiden jungen Männer Þorgeirr und Þormóðr als enge Freunde eingeführt, die einander schwören, sich gegenseitig rächen zu wollen, falls einer von ihnen getötet werde.74 Sie gelten allgemein als unverträglich, sodass man sich bei ihren Vätern beklagt, welche Plage ihre Söhne seien. Trotz dieser negativen Darstellung kommt ihnen zunächst die Funktion zu, Raubüberfälle in der Gegend zu rächen. Der erste Fall führt direkt zum Tod Hávarrs, des Vaters von Þorgeirr. Hávarr verleiht ein Pferd an Jǫðurr, einen unverträglichen Zeitgenossen, der als lítill jafnaðar­ maðr75 gilt. Jǫðurr reitet das Pferd länger als besprochen wurde, und wird deshalb von Þorgeirrs Vater konfrontiert. Auch nach ihrem Streit will der Reiter nicht absteigen und verkündet: ›Þó munu vér hafa hestinn, þótt þú vilir eigi ljá.‹76 Hávarr will sich sein Pferd mit Gewalt zurückholen und wird dabei von Jǫðurr getötet. Dieser durch einen Raub provozierte Totschlag wird von Þorgeirr umgehend gerächt, wofür er allgemeine Anerkennung erhält, und von seiner Mutter überschwänglich gelobt wird.77 Sein erster Totschlag ist damit zum einen eine legitime Vaterrache und trifft zum anderen einen Mann, der als Störenfried die soziale Ordnung bedroht und Besitzrechte missachtet. In der darauffolgenden Episode treffen die Schwurbrüder auf Ingólfr und seinen Sohn Þorbrandr, über die es heißt, sie seien ójafnaðarmenn miklir, tóku jafnan annarra

70 Ebel 2000, S. 25. Dort findet sich auch eine Zusammenstellung solcher negativer Urteile. 71 Vgl. Simek 1990. 72 Vgl. Kress 1987. Gegen eine satirische oder parodistische Deutung der Erzählung als Ganzes spricht sich insb. Meulengracht Sørensen 1993b aus, auch wenn humorvolle Passagen zu erkennen seien (S. 395–402). Einen Forschungsüberblick zur Fóstbrœðra saga liefert Hartmann 2011, S. 6–8. 73 Bei diesem werden zunächst die Schwurbrüder mit den Mächtigen Islands konfrontiert, und schließlich die Konflikte innerhalb Islands mit der norwegischen Königsmacht. Vgl. Ebel 2000, S. 36. 74 Die Beziehung der beiden Schwurbrüder diskutierte zuletzt Greulich 2011, der den Text mit Hilfe eines queer readings auf eine mögliche homoerotische Komponente prüft. 75 Fbr 2, S. 126; »wenig zu Vergleichen bereiter Mann«. Zum Konzept des ójafnaðarmaðr siehe Shortt Butler 2016 sowie Kap. 6. 76 Fbr 2, S. 127; »›Doch werden wir den Hengst mitnehmen, auch wenn du ihn nicht verleihen willst.‹« 77 Vgl. Ebel 2000, S. 36; Þorgeirrs Vaterrache wird in Fbr 3–6 insgesamt als vorbildlich dargestellt.



6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete 

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manna fé með kúgan eða ránum.78 Wieder handelt es sich um ójafnaðarmenn, ebenso wiederholt sich das Thema des Raubes. Þorgeirr und Þormóðr kommen in einen Schneesturm und finden Unterkunft bei einer Frau namens Sigrfljóð. Sie bleiben eine Woche bei ihr, eigentlich wollen sie auf Walfang nach Strandir. Sigrfljóð hetzt nun die beiden jungen Männer auf, sich stattdessen um ein dringenderes Problem zu kümmern: ›Drengiligra sýnisk mér at drepa þá illvirkja, er hér ræna menn, en starfa at hvǫlum‹.79 Während der Pferdekonflikt zuvor zwei einzelne Männer betraf, stehen sich nun zwei Gruppen gegenüber, indem die Schwurbrüder für die Gastgeberin handeln und die beiden Unruhestifter unter dem Schutz des Goden Vermundr stehen. Die beiden reiten zu Ingólfr und Þorbrandr und stellen sie vor die Wahl, entweder allen geraubten Besitz zurückzugeben oder sich und ihr Vermögen im Kampf zu verteidigen. Þorbrandr gibt sich wenig beeindruckt: ›Vér hǫfum fengit féit með karlmennsku ok hraustleik, ok munu vér eigi annan veg láta en vér hǫfum fengit, […]‹80 Die Schwurbrüder töten Vater und Sohn im Kampf, beladen ihre Pferde mit Lebensmitteln und treiben die Rinder davon. Sigrfljóð lobt ihre Tat und reitet daraufhin zum Goden Vermundr, um die beiden Männer von ihrer Schuld freizukaufen. Sie argumentiert, beide hätten nur getan, was eigentlich die Pflicht des Goden gewesen wäre und hätten daher eigentlich seine Dankbarkeit verdient: ›[H]verr skal hegna ósiðu, rán eða hernað, ef eigi vilið þér, er stjórnarmenn eru kallaðir heraða?‹81 Sie gibt ihm hundert Silberøre, um die beiden freizukaufen, und schüttet Vermundr das Geld in den Schoß. Ebel betont in seiner Besprechung der Episode Sigrfljóðs Gastfreundschaft. Im Gegenzug würden die Schwurbrüder zum Dank jeden töten, der »wehrlose Frauen […] tyrannisiert hat.«82 Auch, wenn den Schwurbrüdern hier zweifellos die »Funktion von Ordnungshütern«83 zukommt, ist dies nicht als Motivation der Figuren zu sehen, die vielmehr ihre eigene Mannhaftigkeit unter Beweis stellen möchten und auf die Anstachelung ihrer Gastgeberin reagieren.84 Auch Meulengracht Sørensen bespricht die ›ritterliche‹ Lesart der Episode, weist aber zurecht darauf hin, dass die Schwurbrüder

78 Fbr 3, S. 134; »große Übeltäter, die ständig das Eigentum anderer Menschen an sich nahmen, durch Zwang oder Raub.« 79 Fbr 4, S. 137; »›Mannhafter erschiene es mir, diese Übeltäter zu töten, die hier die Menschen berauben, als sich an einem Wal zu schaffen zu machen.‹« 80 Fbr 4, S. 138; »›Wir haben uns das Vermögen mit Mannhaftigkeit und Tapferkeit erworben, und wir werden auf keine andere Weise davon ablassen, als auf jene, mit der wir es erworben haben […].‹« 81 Fbr 5, S. 141; »›Wer soll diese Unsitten bestrafen, Raub und Verheerung, wenn nicht ihr es tun sollt, die ihr hier als die führenden Männer bezeichnet werdet?‹« Gos 2009, S. 290–291 argumentiert, dass die Antwort auf diese Frage nicht in den Schwurbrüdern liegt, sondern Sigrfljóð sich selbst und andere weise Frauen meint. Da Vermundr seiner Pflicht als Gode nicht nachkommt, sei es an Frauen wie ihr, sich Problemen anzunehmen und die Energien von jungen Unruhestiftern wie Þorgeirr und Þormóðr in die rechte Bahn zu lenken. 82 Ebel 2000, S. 38. 83 Ebel 2000, S. 36. 84 Vgl. Hartmann 2011, S. 15.

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hier deutlich mit ihren Gegnern korrespondieren und als ebensolche Unruhestifter dargestellt werden, wie das Vater-Sohn-Gespann, gegen das sie antreten. Erst durch die Aufhetzung Sigrfljóðs können sie ihre Kampfkraft positiv einsetzen, und »for a little while the foster-brothers are real heroes.«85 Nach einem weiteren Totschlag trifft Þorgeirr nun auf Þorgíls und seine Männer. Diese zerlegen gerade einen gestrandeten Wal, als die Schwurbrüder zu ihnen stoßen. Þorgeirr fordert Þorgíls auf, er solle nun vom Wal ablassen, da alle den gleichen Anspruch auf das Fleisch hätten. Er könne entweder behalten, was er bereits herausgeschnitten hat und ihnen die unzerteilte Hälfte überlassen, oder sowohl vom unzerteilten als auch vom zerteilten Fleisch die Hälfte abgeben. Schnell wird klar, dass keine friedliche Einigung zu erzielen ist. Þorgeirr tötet den Bauern und nimmt den ganzen Wal an sich. Für diesen Totschlag wird er geächtet.86 Die rechtliche Beurteilung dieser Episode ist schwierig. Der Wal ist auf einem almenning gestrandet, einem Strandabschnitt, der der Allgemeinheit zugeordnet ist.87 Die Grágás erkennt für einen solchen Fall jedem Mann so viel Fleisch zu, wie er herausschneiden und forttragen kann. Schneidet er mehr heraus und andere Männer stoßen hinzu, dürften diese alles übernehmen, was er zurückgelassen habe.88 ­Þorgeirr hat damit zwar das Recht auf seiner Seite,89 allerdings wird in der Episode deutlich, dass dies nicht der eigentliche Kern des Disputs ist, sondern der kurze Rechtstreit nur als Anlass dient, Þorgeirrs Gewaltbereitschaft herauszufordern. Er möchte mit Þorgíls kämpfen, um sich »mit einem älteren und im Kampf erfahreneren Mann zu messen und so sein Leistungsvermögen zu erproben.«90 Der Streit um den Wal ist die erste Episode, in der Þorgeirr eindeutig als asozialer Aggressor dargestellt wird, wie auch Ebel feststellt: »Wenn jetzt erzählt wird, daß er als Mörder Þorgils geächtet wird, dann vermittelt der Text seine Geschichte als die eines Mannes, der aus dem Akzeptanzgefüge der umgebenden Gemeinschaft völlig herausgefallen ist.«91 Die Totschläge, die Þorgeirr nun als Gesetzloser begeht, erfolgen zunehmend grundlos, was ihn als skrupellosen Mörder zeichnet. Die letzte Episode auf Island spannt einen Bogen zu seinem ersten Totschlag: Þorgeirrs Pferd verschwindet. Er sieht jemanden damit reiten und beobachtet ihn. Es handelt sich um Bjarni, bei dessen Familie sich Þorgeirr gerade als Gast aufhält. Þorgeirr spricht Bjarni an, der erwidert, 85 Meulengracht Sørensen 1993b, S. 405. 86 Auch die Grettis saga (Gts 25) berichtet von diesem Zwischenfall, dort erscheint Þorgíls (als Verwandter von Grettirs Vater Ásmundr) als etwas entgegenkommender, wird aber ebenso von Þorgeirr getötet wie in der hier geschilderten Episode. 87 Vgl. Hartmann 2011, S. 16–17. 88 Zum Walraub siehe Kap. 7.2.3. 89 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993b, S. 405–406. 90 Hartmann 2011, S. 16–17. Auch Ebel 2002, S. 37 beurteilt die Episode in diesem Sinn: »Die Begründung für die Tötung sucht der Text unmissverständlich im Charakter Þorgeirrs und nicht in Gesetzen des Freistaats«. 91 Ebel 2000, S. 37–38.



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er wisse nicht, wem das Pferd gehöre. Wie im zweiten Kapitel wird erst geraten, sofort abzusteigen; Bjarni möchte aber noch bis zum Haus reiten. Þorgeirr tötet ihn darauf noch auf dem Pferd. Ein Knecht eilt zu Hilfe und wird ebenfalls von Þorgeirr getötet.92 Als er mit seinen Begleitern weiterreitet, tötet Þorgeirr noch einen Mann – diesmal nur, weil der den Kopf gerade so einladend vorstreckt.93 Einen Reflex der anfänglichen Rechtschaffenheit der Schwurbrüder findet man kurz vor Þormóðrs Tod. Dieser kämpft an der Seite König Óláfrs in der Schlacht bei Stiklastaðir und wird tödlich verwundet. Nach der Schlacht will Kimbi, der auf der gegnerischen Seite kämpfte, von Þormóðr jenen Ring, der ihn als Gefolgsmann des Königs ausweist. Zu diesem Preis würde er ihn verstecken und ihn dadurch möglicherweise retten. Þormóðr tut zunächst so, als würde er ihm den Ring geben wollen und schlägt ihm stattdessen die Hand ab, ok kvað hann eigi þeiri mundu stela síðan.94 Stattdessen schenkt Þormóðr seinen Ring schließlich einer Heilerin und stirbt. In der Fóstbrœðra saga zeigt sich, wie flexibel sich das Verbrechen Raub als Motiv einsetzen lässt, und welche unterschiedlichen Figurenaspekte es hervorzubringen vermag. Während die Schwurbrüder (und insbesondere Þorgeirr) zunächst eine wichtige Funktion in der Sagagesellschaft erfüllen, indem sie Räuber und Unruhestifter besiegen können, wird es zunehmend schwieriger, ihre Gewaltbereitschaft zu kanalisieren. Es fehlt die nötige Mäßigung, die den ehrenhaften Protagonisten ebenso kennzeichnet wie seine Kampfkraft. Eine ähnliche Thematik findet sich in der Grettis saga Ásmundarsonar, die im Spannungsfeld zwischen Bewunderung für ihren exorbitanten Helden und der Verdammung seiner Taten erzählt wird.

6.2.2 Der raubende Held: Grettir Ásmundarson Da ihm jeder ehrenhafte Zugang zu Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs nach seiner Ächtung verwehrt ist, bleibt es auch bei Grettir Ásmundarson, dem berühmtesten Gesetzlosen der Isländersagas, nicht aus, dass er mehrere Diebstähle begeht.95 Im unmittelbaren Anschluss an seine Verurteilung zieht Grettir sich nachts eine schwarze Kutte an und stiehlt ein Pferd. An der Heimlichkeit seines Vorhabens kann kein Zweifel bestehen. Zuerst heißt es, Grettir warte bis zur Nacht, því at hann

92 Die Motivdopplung erkennt auch Schottmann 1992, S. 17, spricht aber von »stereotype[r] Schematik« und »regellosen Wiederholungen«, was insgesamt zu einer Gesamthandlung »ohne größere künstlerische Sorgfalt« führe. 93 Diese Episode ist nur im Text der Flateyjarbók enthalten. 94 Fbr 24, S. 240; »und sagte, er werde mit dieser Hand nicht mehr stehlen.« Auch diese Episode stammt aus der Flateyjarbók-Redaktion der Saga. 95 Der ebenso berühmte Outlaw Gísli Súrsson stiehlt hingegen nie, da er auf die Loyalität und Hilfe seiner Ehefrau und anderer Helferinnen bauen kann, die ihn mit allem Notwendigen versorgen.

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vildi eigi, at kaupmenn yrði varir við.96 Im Anschluss wirft er sich eine schwarze Kutte über ok dulðisk svá.97 Grettir geht zu Sveinns Hof und sattelt dort dessen ungewöhnlich schnelle Stute Sǫðulkolla, mit der er ungestört davonreiten kann. Als man dem Bauern vom Diebstahl berichtet, reagiert dieser mit einer Skaldenstrophe und lächelt. Er verfolgt Grettir, der beim nächsten Bauern den Diebstahl ebenfalls durch eine Skaldenstrophe bekannt macht. Sveinn befragt den Bauern in Versform und verfolgt Grettir weiter. Der humorvolle Charakter der Episode wird umso deutlicher, als Grettir am nächsten Hof anhält und einer Frau eine weitere Skaldenstrophe hinterlässt, mit der Bitte, diese gamanvísu (»Scherzstrophe«) weiterzuleiten. Schließlich trifft Sveinn auf Grettir und begrüßt ihn bemerkenswert ruhig: Hverr reið hryssu várri; Hver verðr raun á launum; Hverr sá hvinn et stœrra; Hvat mun kuflbúinn dufla.98

›Wer ritt unsere Stute? Welcher Lohn wird sich ergeben? Wer sah einen größeren Dieb? Was wird der Kuttenträger würfeln?‹99

Auch in den Fragen wird durch den Hinweis auf Glückspiel (dufla) der spielerische Gehalt der Episode unterstrichen. Die beiden trennen sich gütlich und voller Freude über ihre Sǫðulkolluvísur (»Sǫðulkolla-Strophen«). Als Kompensation für den Diebstahl muss Sveinn eben diese Strophen angesehen haben, da keinerlei Hinweis auf einen anderen Ausgleich erfolgt. O’Donoghue weist in ihrer Interpretation der Szene auf die augenfällig gelassene Haltung Sveinns hin, die kaum mit den erwartbaren Reaktionen auf das Verbrechen Diebstahl in Einklang zu bringen ist. Zwar sei der Text der Skaldenstrophen wesentlich ernster als die umrahmende Prosa, insgesamt werde die »light-heartedness«100 der Episode aber umso deutlicher, wenn man sie im Gesamtkontext der Saga sehe: Zwischen seiner Ächtung und dem Besuch seiner trauernden Mutter, ist die Verfolgungsjagd der beiden Skalden in Grettirs »deepest sorrows«101 eingebettet. O ­ ’Donoghue zieht ähnliche narrative Strategien in Shakespeares Tragödien zum Vergleich heran, die existenzielle Krisen gerne mit vergnüglichen Szenen kontrastieren.102 Es erscheint zwar gewagt, ausgerechnet einen Diebstahl als Thema einer ›comic relief‹-Szene auszumachen, trotzdem ist O’Donoghue zuzustimmen. Der Diebstahl wird in dieser Episode zum bloßen Anlass für die Verfolgungsjagd zweier kunstvoller Skalden degra96 Gts 47, S. 148; »weil er nicht wollte, dass die Kaufleute davon wissen«. 97 Gts 47, S. 148; »und verbarg sich so«. Der Umhang in dieser Szene erinnert O’Donoghue 2005, S. 197 an Óðinns Wanderungen – eine Implikation, die auch mit dem folgenden humoristischen Dichterwettstreit zwischen Sveinn und Grettir harmoniert. 98 Gts 47, S. 151–152. 99 Seelow (Übers.) 1998, S. 121. 100 O’Donoghue 2005, S. 199. 101 O’Donoghue 2005, S. 199. 102 Vgl. O’Donoghue 2005, S. 199.



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diert und entfaltet seine Implikationen nicht. Stattdessen stehen die Figuren Sveinn und Grettir im Vordergrund, was für Grettirs Zeit in der Acht mehrfach zu beobachten sein wird. Seine besondere Kunstfertigkeit, sein Witz und seine Exorbitanz dominieren die Erzählung, während viele seiner konkreten Verbrechen nicht mit demselben Maßstab bewertet werden, der für andere Verbrecher gilt. Dieser erste Diebstahl geschieht direkt nach Grettirs Ächtung. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht seine Diebeskarriere im direkten Anschluss an die Verhandlung, bei der versucht wurde, seine Ächtung aufzuheben (Gts 51). Der Zwang zum Diebstahl wird somit eng mit den Entscheidungen des Things verwoben und als kausale Notwendigkeit motiviert. Seine Diebstähle werden kumulativ erzählt: Þá er Grettir kom yfir Þorskafjarðarheiði í Langadal, lét hann sópa greipr um eignir smábœnda ok hafði af hverjum þat, er hann vildi. Tók hann af sumum vápn, en sumum klæði; gengu þeir allmisjafnt af, en allir sǫgðusk nauðgir láta, þegar hann var á brottu.103

Grettir stiehlt außerdem erneut ein Pferd und zusätzliche Kleidung und Nahrungsmittel. Am Ende der Schilderung heißt es, Grettir fór nú djarfliga ok hafði engi varðhǫld á sér.104 Da Grettir als útlagi (»Gesetzloser«) bereits außerhalb des Rechts steht, kann er nicht weiter belangt werden.105 Trotzdem versuchen die bestohlenen Bauern, sich gegen Grettir zur Wehr zu setzen, und können ihn in einer großen Gemeinschaftsanstrengung überwältigen. Sie beratschlagen, was nun zu tun sei, da niemand wagt, ihn als Gefangenen mit sich zu nehmen. Als beste Lösung erscheint es den Kleinbauern, einen Galgen zu errichten, und den Dieb zu hängen.106 Grettirs Hinrichtung verhindert eine Frau namens Þorbjǫrg, Tochter von Ólafr pái Hǫskuldsson, der dem Sagapublikum mindestens als Protagonist der Laxdœla saga bekannt ist. Þorbjǫrg, die im Gegensatz zu den anwesenden Männern Grettirs hohen sozialen Status teilt und ebenfalls von Landnehmern abstammt, warnt die Bauern, sich nicht selbst in Schwierigkeiten zu bringen, því at hann er maðr frægr ok stór­ ættaðr, þó at hann sé eigi gæfumaðr.107 Auch hier treten Grettirs Verbrechen hinter

103 Gts 52, S. 166; »Als Grettir über die Þorskafjarðarheiðr in das Langadalr kam, fiel er über das Eigen­tum der Kleinbauern her und bekam von jedem das, was er wollte. Von manchen nahm er Waffen, und von manchen Kleider; sie gaben es alle auf sehr unterschiedliche Art auf, doch sagten alle, sie hätten es gezwungenermaßen aufgegeben, wenn er weg war.« 104 Gts 52, S. 166; »ging nun unerschrocken vor und traf keine Schutzmaßnahmen für sich.« 105 Vgl. Poilvez 2012, S. 121. 106 Die geplante Exekution am Galgen könnte darauf hindeuten, dass den Isländern diese Strafe für Diebstahl aus anderen Ländern bekannt war. Vgl. Heusler 1911, S. 36 sowie Andersson 1984, S. 501. Auch Lúðvík Ingvarsson 1970 nimmt an: »Í meðvitund höfundar Grettis sögu virðist henging hafa verið hin rétta aftökuaðferð við ránsmenn« (S. 397; »In der Vorstellung des Verfassers der Grettis saga scheint Hängen die richtige Hinrichtungsform für Räuber gewesen zu sein«). 107 Gts 52, S. 169; »weil er ein berühmter Mann und aus vornehmem Geschlecht ist, auch wenn er kein Glücksmensch ist.«

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seiner Figurenanlage zurück. Obwohl er zweifelsohne ein Dieb ist und den Bauern größten Schaden zugefügt hat, erinnert Þorbjǫrg daran, dass er ihnen gesellschaftlich weit überlegen ist, und spricht den Kleinbauern das Recht ab, über ihn zu urteilen.108 Im Laufe seiner Acht trifft Grettir nur auf eine Figur, die seinem räuberischen Treiben Einhalt gebieten kann. Grettir nimmt inzwischen Reisenden ihre Habe weg, da er Schwierigkeiten hat, sich zu versorgen. Eines Tages sieht er einen prächtig ausgerüsteten Mann und spricht ihn an, ob er etwas von seinen Sachen hergeben wolle. Loptr will wissen, was er dafür bekomme, und Grettir erwidert: ›Hefir þú eigi spurt þat, at ek legg ekki fé í móti, ok sýnisk þat þó flestum, at ek fá þat, sem ek vil?‹109 Loptr entgegnet, Grettir bekomme nichts von ihm, was er festhalten könne. Es gelingt Grettir nicht, Loptr den Zügel seines Pferdes zu entreißen. Grettir inn sterki (»der Starke«) muss einsehen, dass er Loptr an Kraft unterlegen ist. Direkt nach dieser Kraftprobe werden, wie schon bei Grettirs Zusammentreffen mit Sveinn, Skaldenstrophen zwischen den beiden Männern gewechselt. Ihre Wege trennen sich vorerst, bis Loptr an späterer Stelle unter dem Namen Hallmundr wieder in der Erzählung auftaucht. Bei ihrer ersten Begegnung wird Loptr mit nur wenigen Worten beschrieben. Er trägt einen Hut, der sein Gesicht zur Hälfte verdeckt, und wird ansonsten nur als groß bezeichnet. Wie zuvor Grettirs schwarze Kutte erinnert auch Loptrs Hut die Forschung an Óðinn: »The Odinic costume of this man combined with his name, which is one of Loki’s names, emphasizes his hidden potential and mythic essence.«110 Erst bei ihrem Auftritt als Hallmundr wird die Figur klarer beschrieben: Als Halbtroll, der mit seiner Tochter in einer Höhle lebt.111 Kurz nach seinem Zusammentreffen mit Loptr geht Grettir zum Gesetzessprecher Skapti und bittet ihn um Hilfe. Skapti versucht, an Grettirs Ehrgefühl zu appellieren und spricht ihn auf seine hohe Abstammung an: ›Þat er mér sagt, at þú farir heldr óspakliga ok grípir fyrir mǫnnum góz sitt, ok samir þér þat illa, svá stórættuðum manni. Nú væri allt betra um at tala, ef þú ræntir eigi; en með því at ek skal heita lǫgmaðr í landinu, þá stendr mér eigi at taka við útlegðarmǫnnum ok brjóta svá lǫgin […].‹112

Skaptis Worte bringen Grettir vorläufig dazu, seinen Lebensstil zu überdenken. Er richtet sich auf der Arnarvatnsheiði ein und versucht, vom Fischfang zu leben, því

108 Zu sozialen und narrativen Hierarchien in den Isländersagas siehe Kap. 7. 109 Gts 54, S. 175; »›Hast du noch nicht davon gehört, dass ich kein Geld im Gegenzug gebe; und es doch den meisten so scheint, als würde ich bekommen, was ich will?‹« 110 Ahola 2014, S. 325. 111 Zur Figur Loptr/Hallmundr siehe Ahola 2014, S. 344–345. 112 Gts 54, S. 177–178; »›Mir wird erzählt, dass du ziemlich ungestüm vorgehst, und Leuten ihr Hab und Gut wegnimmst, und das geziemt dir schlecht, als Mann aus so angesehener Familie. Nun wäre es viel leichter, darüber zu reden, wenn du nicht rauben würdest; doch, weil man mich nun einmal den Gesetzessprecher dieses Landes nennt, steht es mir nicht an, Gesetzlose bei mir aufzunehmen und so das Recht zu brechen […].‹«



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at hann vildi nú hvatvetna annat en ræna.113 Dieses Vorhaben scheitert jedoch nach kurzer Zeit: Grettir hat einen anderen Gesetzlosen bei sich aufgenommen, der ihn verraten will, um damit die eigene Freiheit zu erkaufen. Sowohl diese Begegnung als auch Grettirs Angst vor der Dunkelheit treiben ihn wieder in bewohnte Gebiete. Schon bald knüpft er an sein früheres Leben an und wählt eine Höhle als Ausgangspunkt für Raubzüge in die umliegenden Gehöfte. Wieder verlieren viele seinetwegen ihr Eigentum. Grettir scheint wegen der guten Lage seiner Höhle ebenso unangreifbar wie aufgrund seiner mächtigen Freunde. Zur Zeit des Viehabtriebs stiehlt Grettir vier Schafe. Als die Bewohner sie sich zurückholen wollen, wird Grettir so wütend, dass er zwei Männer einen Hang hinunterwirft. Es folgt erneut eine humorvoll geschilderte Episode, in der Grettir einem der Bauern einen Kleidersack vom Pferd stiehlt und den daraus resultierenden Kampf nicht nur gewinnt, sondern den Bauern schmachvoll auspeitscht. Er nimmt alles mit sich, was der Bauer in seinem Fluchtversuch vom Pferd geworfen hat: Die Episode zeigt, dass der hochgeborene Grettir inzwischen so nah am Existenzminimum lebt, dass er für jedes noch so geringe Gut Verwendung hat (Gts 59). Es bleibt nicht bei diesen Kleinigkeiten. Im dritten Winter holt sich Grettir von einem Hof sechs Hammel und von einem weiteren zwei Rinder und viele Schafe. Die Bewohner des Tals entschließen sich nun, Grettir mit so vielen Leuten anzugreifen wie möglich. Zehn Männer sterben und fünf werden schwer verwundet. Grettir kann trotz aller Anstrengungen der Bauern entkommen und zieht sich in seine Höhle zurück.114 In der letzten größeren Diebstahlsepisode der Saga taucht Grettir selbst nicht auf, dafür der zuvor besprochene Hallmundr. Der Gesetzlose Grímr hat Grettirs frühere Stellung auf der Arnarvatnsheiði übernommen und lebt dort wie Grettir vom Fischfang. Er fängt 100 Fische, die alle am nächsten Tag verschwunden sind. Am nächsten Tag fängt er 200 Fische, die ebenso über Nacht verschwinden. Am dritten Tag fängt er 300 Fische. Endlich folgt er dem nächtlichen Dieb, bei dem es sich um Hallmundr handelt. Grímr kann Hallmundr tödlich verwunden (dieser lebt aber noch lange genug, um seiner Tochter eine lange Lebensgeschichte in Versform zu hinterlassen, die Hallmundarkviða). Grímr hat Mitleid mit Hallmundrs Tochter und rechtfertigt sich: ›[M]átta ek varla sjá, at han rænti mik.‹115 Sie gibt ihm Recht: ›[G]efsk illa ójafnaðr.‹116 Zum letzten Mal wird an die Formulierungen aus Grettirs Raubzügen erinnert, als die Bauern ihn auffordern, seine letzte Zuflucht, die unzugängliche Insel Drangey, zu ver-

113 Gts 55, S. 178; »denn er wollte nun alles andere als zu rauben.« Poilvez 2012, S. 124 deutet Grettirs Entschluss, mit dem Rauben aufzuhören, als erhoffte Emanzipation von der Gesellschaft nach den schlechten Erfahrungen mit der Bauerngruppe. Dem widerspricht der enge Zusammenhang mit ­Skaptis Ermahnung und der Erinnerung an seine hohe Abstammung. 114 Auch in Gts 66 und Gts 72 wird berichtet, dass Grettir sich von den Bauern der jeweiligen Gegend alles, was er benötigt, besorge. 115 Gts 62, S. 205; »›Ich konnte kaum zusehen, wie er mich beraubte.‹« 116 Gts 62, S. 205; »›Unrecht bringt Schlechtes.‹«

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lassen. Grettir antwortet, er werde nur tot von der Insel gehen: ›[E]kki læt ek laust þat, sem ek hefi hǫndum á komit.‹117 Obwohl die Isländersagas einige bemerkenswerte und ambivalente Protagonisten aufweisen können, fällt Grettir Ásmundarson der Forschung immer wieder als besonders eigenwillige und schwierige Figur auf. Seiner enormen körperlichen Stärke und seinem aufbrausenden Temperament steht – speziell nach der Verfluchung durch einen Wiedergänger – seine Verwundbarkeit durch seine Angst vor Einsamkeit und Dunkelheit gegenüber. Während er in einigen Episoden ein ausgeprägtes Ehrgefühl an den Tag legt oder Bauern vor Bedrohungen rettet, wird er in anderen selbst zur Landplage, die die Bauern ihren Besitz und oft ihr Leben kosten kann. So changiert die Figur mehrfach zwischen den beiden Figurentypen Held und Monster,118 was ihre Einordnung erschwert und die Faszination der Figur erklären kann.119 Diese Uneindeutigkeit wird durch Hallmundr/Loptr noch deutlicher hervorgehoben, der für Grettir als Korrespondenzfigur konzipiert ist. Sein Ende nimmt vorweg, wie man auch über Grettir urteilen wird: Man musste ihm Einhalt gebieten, da man sich nicht berauben lassen durfte – und doch stellt es einen großen Verlust dar, einen so außergewöhnlichen Mann zu verlieren.120

6.2.3 Räuberbanden zur Erprobung des Kollektivs Neben herausragenden Einzelfiguren gibt es auch einige Räuber, die in der Gruppe operieren und für die jeweilige Erzählung von hoher Bedeutung sind. Die größte und bekannteste Räuberbande der Isländersagas schließt sich zusammen, nachdem Hörðr in der Harðar saga ok Hólmverja geächtet wurde. Er zieht zunächst mit seinem Gesinde zu seinem Ziehbruder Geirr. Schon nach kurzer Zeit werden dessen Nahrungsmittelvorräte knapp, worauf Geirr vorschlägt, das benötigte Vieh vom Nachbarshof zu

117 Gts 71, S. 228; »›Ich lasse nicht los, was ich in die Hände bekommen habe.‹« 118 Vgl. beispielsweise Hawes 2008 sowie Merkelbach 2016. 119 Vgl. Merkelbach 2017a. 120 Zur Interpretation dieser widerständigen Figur wurde unter anderem die Vatnsdoela saga herangezogen. Harris 2011 argumentiert etwa, dass bei der Komposition der Grettis saga Motive und Themen aus der Vatnsdœla saga verwendet wurden, um Grettirs ógœfa (»Glücklosigkeit«) aus dem Schicksal seiner Vorfahren zu entwickeln. Grettirs Mutter ist eine Enkelin von Jǫkull Ingimundarson, der wiederum ein Enkel des Räubers Jǫkull ist. Grettir besitze die Charakteristika der Jǫkull-Figuren, die verhindern, dass er am Glück der restlichen Vorfahren Anteil haben kann. Schon Ciklamini 1966 begründet Grettirs Charakter durch seine mütterliche Abstammung und bringt den Namen ›Jǫkull‹ mit Riesen in Verbindung. Diese Überlegungen führen Harris zur These, dass es sich bei Grettirs berühmtem Schwert Jǫkulsnautr nicht, wie allgemein angenommen, um das Schwert Ættartangi der Vatnsdœla saga handle, sondern um das Schwert des Räubers Jǫkull, das als dingliche Manifestation der ererbten ógœfa zu interpretieren sei. Zu unheilvollen Schwertern in den Isländersagas siehe Kap.  4.2, zum ersten Träger dieses Namens in der Vatnsdœla saga siehe Kap. 6.3.



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stehlen. Er wird zwar ertappt, kann die beiden Männer aber im Kampf töten und einen Ochsen davonführen. Hörðr, der zuvor aufgrund einer Lappalie mehrere Menschen tötete, zeigt sich über den Diebstahl entrüstet: Ok er þeir kómu heim í Botn, líkaði Herði allilla ok kveðst á burt skyldu, ef þeir vildi stela. ›Þykir mér,‹ segir hann, ›miklu ráðligra at ræna ef eigi má við annat vera.‹121 Hörðr will nicht, dass der Ochse verwendet wird, und man erzählt sich sogar, er habe den Bauern entschädigt. Diese Episode stellt ein weiteres Beispiel für den Unterschied zwischen Diebstahl und Raub dar. Während Hörðr das heimliche Stehlen rundheraus ablehnt, scheinen ihm offene Raubüberfälle eine ehrenhafte Alternative zu sein, ihr Auskommen zu sichern. Die Szene erinnert – auch in ihrer Wortwahl – so stark an den Ausspruch des jungen Egill in der Egils saga Skalla-Grímssonar, dass man eine Entlehnung annehmen könnte. Auch Egill erscheint der Diebstahl einer Schatztruhe allill ok eigi hermannlig,122 trotzdem fordert er seine Begleiter im direkten Anschluss auf, offen gegen den Bauern vorzugehen und erschlägt ohne Gewissensbisse mehrere Bewohner des Gehöfts, um sich den Schatz ehrenhaft anzueignen.123 Nachdem aber die Probleme mit den Bauern der Gegend immer gravierender werden, entscheiden sich die Ziehbrüder, eine abgelegene Insel zu besiedeln, und scheinen ihre moralischen Bedenken überwinden zu können. Zusammen mit seinem Ziehbruder Geirr wird Hörðr zum Anführer der Hólmverjar (»Inselverteidiger«). Sie richten sich auf der Insel längerfristig ein und bekommen einen solchen Zustrom verschiedener Krimineller, dass nach kurzer Zeit zwischen 80 und 200 Personen auf der Insel leben, darunter auch Frauen und Kinder. Die kleine Insel kann eine solche Gruppe nicht versorgen, sodass die Verbrecher umgehend damit beginnen, Raubzüge gegen die umliegenden Höfe zu unternehmen.124 Der folgende Teil der Saga besteht aus einer Abfolge verschiedener Variationen von Raubzügen und Bemühungen im Bezirk, sich zu erwehren. Zunächst brüstet sich die Zauberin Þorbjörg katla, die Leute von Hólm würden es nicht wagen, sie anzugreifen. Größtenteils erliegen diese ihren Illusionen, nur Hörðrs Blick kann nicht getäuscht werden. So können sie ihr ganzes Schiff mit Schafen beladen und schlachten die Tiere noch an Bord, während ihre Eigentümer vom Ufer zusehen müssen (Har 25). Die Episode wiederholt sich, indem eine weitere Zauberin, Skroppa, ihr Glück herausfordert. Diesmal ist Hörðr von Anfang an bei seiner Räuberbande, sodass der Illusionszauber scheitert und die Hólmverjar reiche Beute machen. Nur einen gewissen Þorsteinn gullknappr verschont die Gruppe, da dieser ihnen schwört, sie niemals zu verraten und sie im Zweifelsfall vor Angreifern zu warnen (Har 26). 121 Har 22, S. 60; »Und als sie heim nach Botn kamen, fand Hörðr das sehr schlecht und sagte, er würde fortgehen, wenn sie stehlen wollten. ›Es scheint mir,‹ sagte er, ›wesentlich besser zu rauben, wenn wir nicht anders auskommen können.‹« 122 Eg 46, S. 117; »›ganz schlecht und nicht kriegerisch [i.S.v. mannhaft, tapfer]‹«. 123 Vgl. Kap. 2.1.2. 124 Vgl. auch Amory 1992, S. 196.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Nach den beiden Zauberinnen überfällt eine Gruppe aus Hólm nun den Hof eines Bauern namens Ormr. Lediglich sein Knecht Bolli ist anwesend, sodass es den Räubern leichtfällt, das Vorratshaus aufzubrechen und Waren und Essen herauszutragen. Sie finden darin auch eine Kiste mit Ormrs Wertsachen und nehmen sie mit sich. Im Anschluss verspricht der Knecht seinem Herrn, die Kiste zurückzuholen. Zu diesem Zweck gibt er sich bei Þorsteinn gullknappr als Gesetzloser aus, der sich Hörðr anschließen wolle und lässt sich übersetzen. Hörðr ahnt vom ersten Augenblick an, dass es sich um einen Spion handelt, Geirr nimmt ihn aber freudig auf. Bisher haben es die Räuber nicht geschafft, die Kiste zu öffnen. Bolli kann der Gruppe weismachen, dass es sich lediglich um eine Werkzeugkiste des Bauern handle, und man sie wieder an Land bringen sollte. Als sie am Hof des Bauern ankommen, entbrennt ein Kampf, bei dem einige Hólmverjar ihr Leben verlieren. Nach diesem Erfolg lässt Ormr Bolli frei und gibt ihm Land, auf dem er selbst ein erfolgreicher Bauer wird (Har 27). Es folgt der erste Raubzug, der ein Mitglied aus Hörðrs Familie involviert, sodass neben den steigenden Vermögenswerten auch die persönliche Problematik der Überfälle steigt (Har 28). Nachdem es der Bande gelungen ist, 80 Schafe zu rauben, gehen sie nun mit 60 bewaffneten Männern an Land, um bei Hörðrs Schwager Indriði das Vieh zu stehlen. Hörðr tötet zwar den Knecht seines Schwagers, schreckt dann aber davor zurück, auch einen kleinen Jungen zu töten. Der Überfall scheitert deshalb, und das Kind geht zu Hörðrs Schwester, um von diesem Vorfall zu berichten. Später holt sich die Gruppe die Schafe bei einem anderen Bauern (Har 29). Nachdem ein weiterer Raubzug scheitert, schlägt Hörðr seiner Bande vor, man solle nun mit dem Rauben aufhören, und stattdessen ein Schiff kapern und auf Wikingerfahrten gehen.125 Die Gruppe entscheidet sich dagegen, insbesondere, da man noch einige Feinde in ihren Häusern verbrennen möchte (Har 30). Vor dem Angriff auf Indriðastaðir, dem Hof seines Schwagers, warnt Hörðr seine Schwester, und die Geschwister bieten sich gegenseitigen Schutz an. Der Angriff verläuft nicht wie geplant, da Hörðrs Schwester durch einen hellsichtigen Traum das Schlimmste verhindern kann (Har  31). Endlich versammeln sich alle Bauern des Bezirks, um einen Plan zu schmieden, wie man den Leuten von Hólm entgegentreten könnte. Man will jemanden schicken, der den Räubern Loyalität schwört und ihnen freien Abzug zusichert, wenn sie ihn auf das Festland begleiten (Har 32). Inzwischen langweiligen sich einige Verbrecher auf der Insel, sodass sie gerne auf das Angebot eingehen. An Land angekommen werden sie alle enthauptet (Har 34). Beim zweiten Versuch lässt sich auch Geirr überzeugen und stirbt ebenso wie seine Gesellen, als er das Festland betritt. Hörðr ist nun nur noch von sechs Männern, seiner Frau und seinen Kindern umgeben auf der Insel (Har 35). Schließlich lässt sich auch Hörðr von der Insel locken und ficht einen spektakulären letzten Kampf mit seinen Verfolgern. Nach seinem Tod wird sein Mut allgemein gepriesen, an seinen Verbrechen seien sowohl seine Gesellen Schuld als auch sein Schicksal (Har 36). 125 Vgl. Kap. 2.1.2.



6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete 

 191

Eine ähnliche Gruppe formiert sich in der Eyrbyggja saga um Óspakr Kjallaksson, die schließlich kollektiv geächtet wird.126 Die Episode beginnt kurz nachdem der Gode Snorri nach Tunga gezogen ist (Eyr 56). Óspakr wird als typischer ójafnaðarmaðr127 in die Saga eingeführt; er ist groß, stark und äußert unbeliebt. Sein Sohn Glúmr ist noch sehr jung, als die Episode einsetzt. Óspakr umgibt sich grundsätzlich mit einer Gruppe von sieben oder acht Männern und hat stets ein Schiff fahrtbereit. Schon bei seiner Einführung heißt es, sie nähmen af hvers manns eigu eða rekum, þat er þeim sýndisk.128 Es folgt eine der vielen Streitigkeiten um das Fleisch eines angeschwemmten Wales,129 auf den Óspakr Anspruch erhebt. Es gelingt der Gruppe, das Walfleisch an Bord zu bringen. Óspakrs Kontrahent, der mächtige Bauer Þórir, bleibt entzürnt zurück. Óspakr und seine Gefährten richten sich innerhalb einer Wallanlage dauerhaft ein. Dort ergeht es ihnen ähnlich wie den Hólmverjar: Da sie so viele sind, gehen die Vorräte schnell zur Neige (Eyr 57). Zur Versorgung seiner Räuberbande raubt Óspakr daher das Gehöft eines Bauern aus und nimmt vier Pferde mit sich. Als Þórir seinen Weg kreuzt und ihn auf die Pferde anspricht, antwortet Óspakr: ›Hvárki váru gefin né goldin né sǫlum seld.‹130 Da also alle ehrenhaften Möglichkeiten des Pferdeerwerbs ausgeschlossen sind, kommt es zum Kampf. Nachdem beide Seiten Tote zu beklagen haben, übernimmt der Gode Snorri die gerichtliche Verfolgung der Räuberbande und lässt sie alle zu Gesetzlosen erklären. Die Geächteten verüben im Anschluss zahlreiche Gewalttaten und scharen weitere Räuber um sich; þeir gerðu þar mikit hervirki í ránum ok manndrápum, […].131 Erneut errichten die Räuber einen Verteidigungswall, inzwischen ist ihre Schar auf 30 Männer angewachsen. Snorri zieht das Ächtergut Óspakrs ein und verteilt es zur Entschädigung an die Opfer seiner Raubzüge. Óspakr und seine Gesellen siedeln nun mit zwei Schiffen voller Raubgut nach Eyri über und verschanzen sich im durch einen Wall gesicherten Gehöft. Dort hat Óspakr nun wie Hörðr seine Ehefrau und seinen Sohn bei sich. Die Angriffe betreffen jetzt Snorri und seine direkten Nachbarn – zuerst rudert Óspakr nach Tunga, erschlägt Þórir und nimmt alles mit sich, dessen er habhaft werden kann. Auch auf einem anderen Hof plündern die Räuber, bevor sie sich hinter ihren Wall zurückziehen und dort den Winter verbringen (Eyr 60). Snorri ruft nun eine große Schar zusammen, die gemeinsam das Gehöft angreift. Es gelingt ihnen, Óspakr trotz tapferer Gegenwehr zu töten. Die Räuber geben die Anlage in Snorris Hände, als er ihnen freien Abzug zusichert. Snorri erlaubt Óspakrs

126 Vgl. Amory 1992, S. 196. 127 Eyr 57, S. 157; »Unruhestifter«. 128 Eyr 57, S. 157; »von jedem das an Eigentum oder Strandgut, was ihnen gefiel.« 129 Zum Walraub als Motiv in den Isländersagas vgl. Kap. 7.2.3. 130 Eyr 58, S. 161; »›Weder wurden sie geschenkt, noch als Zahlung gegeben, noch verkauft.‹« Vgl. Miller 1986b, S. 18–19, der dieses Zitat als Einstieg in eine Diskussion der möglichen Arten des Warentransfers unter sozial mehr oder weniger gleichgestellten Figuren verwendet. 131 Eyr 59, S. 163; »Sie richteten große Verheerung durch Raubzüge und Totschläge an.«

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Witwe, den Hof zu behalten und ihren Sohn dort großzuziehen. Glúmr Óspaksson heiratet später die Schwester von Grettir dem Starken, wodurch die Episode mit dem berühmtesten Gesetzlosen Islands verknüpft wird. Abschließend heißt es huldvoll über Snorri und seinen Freund Sturla: Þeir Snorri goði ok Sturla støkkðu á brott ­víkingum sinn veg hverjum ok dreifðu svá óaldarflokki þessum ok fóru heim síðan.132 Die Räuberbanden der Harðar saga und der Eyrbyggja saga ähneln einander stark. In beiden Fällen lässt sich das bereits aus den einzelnen räuberischen Nebenfiguren bekannte Muster auf Gruppenkämpfe übertragen: So, wie ein einzelner Räuber dazu dienen kann, einen Protagonisten auf die Probe zu stellen, stellt eine Gruppe von Räubern eine Herausforderung an das Kollektiv dar. Nur, wenn die Bewohner der betroffenen Gegend gemeinsam gegen die Bedrohung vorgehen und sich der Führung kluger Anführer anvertrauen, kann eine Räubergemeinschaft besiegt werden. Der Unterschied beider Gruppen liegt in der Perspektivierung der Erzählung. Zwar ist Óspakr eine relativ runde Figur, aber doch eine Nebenfigur, die zur Charakterisierung des Protagonisten Snorri eingesetzt wird. In der Harðar saga ok Hólmverja ist der Anführer der Räuberbande der Protagonist der Saga, dessen Schicksal schon vor seiner Ächtung im Zentrum der Saga steht. Daher hat die Schilderung dieser Gruppe eine persönliche Komponente, die an die Tragik anderer Ächtersagas erinnert. Die privaten Konsequenzen der Acht bleiben durch Nebenfiguren wie Hörðrs Frau oder seine Schwester in der Erzählung präsent, was aber nichts daran ändert, dass am Ende das Kollektiv über die Störenfriede triumphiert. Vor Räuberbanden sind die Protagonisten der Isländersagas nicht einmal im fernen Grönland gefeit. Während sich Þorgils in der Flóamanna saga bei Eiríkr rauði aufhält, heißt es: Um vetrinn bar þat til, at mein mikit varð at útilegumönnum. […] Þeir váru þrír tigir ok sekir allir. Urðu men af þeim fyrir ránum miklum ok sögðu til Eiríks.133 Als Þorgils um Hilfe gebeten wird, erwidert er zwar, er sei nicht nach Grönland gekommen, at leggja sik í hættu við illmenni,134 ringt sich aber durch, den Bauern zu helfen. Er plant, mit 30 Männern loszufahren und sich an den Inseln, auf denen die Räuber wohnen, mit weiteren 30 Mann von Eiríkr zu vereinen. Dort wartet er aber vergeblich auf die Unterstützung seines Kameraden. Eines Nachts sieht er einige junge Männer an einem Feuer sitzen und rudert zu ihnen. Er gibt sich als Narr aus und erfährt in seiner Verkleidung, dass der Anführer der Räuberbande am Abend zu dieser Stelle kommen werde. Am Abend überfällt er die inzwischen als víkingarnir135 bezeichnete Räuber-

132 Eyr 62, S. 169; »Snorri goði und Sturla vertrieben die Wikinger nun in alle Richtungen, und zerstreuten so diese Bande von Unruhestiftern, und zogen dann nach Hause.« 133 Flóa 25, S.  305; »Im Winter geschah es, dass großer Schaden von Geächteten angerichtet wurde. […] Es waren 30 und sie waren alle geächtet. Die Leute wurden stark von ihnen beraubt und sagten es Eiríkr.« 134 Flóa 25, S. 305; »um sich wegen Übeltätern in Gefahr zu bringen.« 135 Flóa 25, S. 306; »die Wikinger«. Zur synonymen Verwendung der Begriffe Wikinger, Räuber und Übeltäter siehe Kap. 2.1.2.



6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete 

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bande und trifft auf geringen Widerstand. Die Räuber bitten um Gnade, die ihnen Þorgils verwehrt, da sie diese wegen ihrer Verbrechen verwirkt hätten. Þorgils und seine Begleiter machen große Beute, vieles davon geben sie den beraubten Bewohnern Grönlands zurück, wodurch sie sich viele Freunde erwerben. Diese Episode ist nicht nur wesentlich knapper geschildert als die beiden vorherigen, sondern unterscheidet sich auch in ihrer Funktionalisierung. Während die Räuberbanden um Óspakr und Hörðr dazu dienen, die Bewohner eines Bezirkes zum gemeinschaftlichen Handeln zu bewegen, steht hier ein Einzelner im Vordergrund. Durch seine listige Verkleidung kann er mit einer kleinen Anzahl von Gefolgsleuten die größere Gruppe besiegen. Damit wird er nicht nur als klug und kriegerisch charakterisiert, sondern wird auch mit Attributen versehen, die in anderen Gattungen zum Dieb gehören: Maskerade und Listenreichtum.136 Zwei ungewöhnliche Variationen des Motivs finden sich in der Hávarðar saga Ísfirðings und der Þorskfirðinga saga. Nachdem Hávarðr vom Ísafjǫrðr in der nach ihm benannten Saga einige schlimme Verluste und Demütigungen durch seinen Widersacher Þorbjǫrn erlitten hat,137 gelingt es ihm etwa in der Mitte der Erzählung, ihn zu töten. Da er die Rache vieler Verwandter fürchten muss, sucht er sich Rückhalt bei seinem Freund Steinþórr und schart mit ihm zusammen eine größere Gruppe von Männern um sich. Obwohl nicht formal geächtet, hat diese Gruppe von Männern doch mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie Hörðr und Geirr in der Harðar saga. Steinþórrs Hof ist nicht darauf ausgelegt, eine so große Gruppe von Kämpfern zu versorgen, weshalb man sich auf den Weg zu Steinþórrs Schwager macht, um von dort Nahrungsmittel zu erbitten. Ganz wie Hörðr hat auch Steinþórr eine ihm sehr gewogene Schwester. Diese erlaubt den Männern, so viel aus dem Vorratshaus zu nehmen, wie sie benötigen (Háva 15). Als ihr Mann Atli nach Hause kommt, wird er sehr wütend und schimpft über die Räuber, die seine Vorräte geplündert hätten. Auch als ihm seine Frau die Lage erklärt, wütet Atli weiter, die Männer hätten ›[…] stolit ok rænt hér ǫllu, svá at vit munum brátt á húsgangi.‹138 Die synonyme Verwendung von stolit ok rænt (»gestohlen und geraubt«) verweist auf den wütenden Vorwurfscharakter der Situation; im Gespräch der Eheleute geht es nicht um eine juristische Unterscheidung – im Gegenteil ist diese Accumulatio als verstärkendes Stilmittel zu werten. Steinþórrs Schwester weiß sich zu helfen. Sie lädt ihren Mann zu sich ins Bett ein, auch dort nennt er ihren Bruder noch einen Räuber, bis er für eine Weile verstummt. Anschließend ist er wieder bei bester Laune und freut sich, dass er eine so großartige Frau habe (›mikla gersimi á ek‹)139 und auch seinen Schwager nennt er nun einen rausna­maðr (»großartigen Menschen«) anstatt eines ránsmaðr (»Räubers«).140 Diese 136 Vgl. Kap. 1.1. 137 Vgl. Kap. 5.2.3 und Kap. 7.2.3. 138 Háva 16, S. 344; »›hier gestohlen und geraubt, sodass wir bald betteln gehen müssen.‹« 139 Háva 16, S. 345; »›eine große Kostbarkeit besitze ich.‹« 140 Háva 16, S. 345.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

beide lautlich ähnlichen Bezeichnungen unterstreichen den humoristischen Ausgang der Episode, und relativieren die Taten Hávarðrs, der auch ansonsten in seiner Saga mit viel Sympathie begleitet wird. In der Þorskfirðinga saga zählt eine Räuberbande zu den Gefahren, die Þórir und seine Gefährten auf ihrer abenteuerlichen Auslandsreise überwinden müssen. Nachdem sie bereits Kontakt mit einem Hügelbewohner hatten und drei Flugdrachen besiegen konnten,141 kommen sie in den schwedischen Elfarskógr. Dort finden sie eine Befestigungsanlage vor, in der Platz für zwölf Männer ist. Sie übernehmen die Anlage und sehen vom Wall aus zwölf Krieger auf sich zureiten, von denen zwei weit größer sind als alle anderen. Diese stellen sich als Hauknefr und Háma vor, und fordern Þórir auf, die Anlage zu verlassen. Es folgen einige Duelle zwischen den beiden Gruppen, die nur die beiden größten Krieger überleben. Sie schließen sich darauf der Gruppe von Schwurbrüdern an und teilen das Vermögen unter sich auf (Þorsk 5). Hier wird die Räuberbande ebenfalls nicht als Bedrohung des Gemeinwesens dargestellt, sondern als prinzipiell artverwandte Gruppe, deren Behausung die Protagonisten ebenso übernehmen können wie ihre besten Krieger. Während die Isländersagas also einige Räubergruppen kennen, sind Diebesbanden sehr selten. Dies liegt bereits in der Natur der Verbrechen begründet: Da Räuber ohnehin offen operieren, schadet eine große Menschenmenge ihrem Vorhaben nicht. Diebe, die heimlich vorgehen, sollten keine Aufmerksamkeit erregen, weshalb es sich beim Diebstahl meist um das Verbrechen eines Einzelnen handelt. Über den Dieb Þórólfr heljarskinn142 der Vatnsdœla saga heißt es aber, er finde von rechtschaffenen Männern keine Unterstützung und schare deshalb eine Bande von neun Dieben um sich, allir hans jafningjar eða verri.143 Deren Feigheit wird schon bei ihrer ersten Erwähnung sichtbar, da einige bereits fliehen, als sie von Þorsteinns Plänen hören, ihren Anführer anzugreifen. Die verbleibenden Diebe haben keine nennenswerte Funktion im folgenden Kampfgeschehen. Zunächst dienen sie als Publikum für Þórólfrs Ansprache: Sie sollen mutig kämpfen, ›en þó hafa þeir brœðr rammar fylgjur; leitu vér þá til leyna várra, ef at oss ekr.‹144 Die folgende Kampfschilderung konzentriert sich auf ihren Anführer, es heißt nur kurz, man verfolgte fǫrunautum Þórólfs.145 Nach Þórólfrs Tod bekommen es auch seine verbliebenen Gesellen mit der Angst zu tun; óttudusk þeir ok hljópu undan honum tveir í nestangann, ok drap hann þá báða. Inn þriði hljóp fyrir hamra ofan.146 Þórólfrs Diebesbande wird nicht näher beschrieben

141 Vgl. Kap. 4.2.3. 142 Vgl. Kap. 3.1. 143 Vtn 30, S. 82; »alle so [schlimm] wie er, oder schlimmer«. 144 Vtn 30, S. 83; »›auch wenn diese Brüder mächtige Fylgien haben; wir fliehen in unser Versteck, falls sie uns zusetzen.‹« 145 Vtn 30, S. 83; »Þórólfrs Begleiter«. 146 Vtn 30, S. 84; »sie fürchteten sich und zwei flüchteten vor ihm bis zur Spitze der Landzunge, und da tötete er beide; der Dritte sprang von der Klippe.«



6.2 Räuber als Protagonisten: Geächtete 

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und dient nur der Figurenzeichnung ihres Anführers. Ihre einzige klar erkennbare Eigenschaft ist Feigheit, was durch alle drei Verben, die mit ihnen verbunden sind, klar sichtbar wird; sie sollen sich verstecken (leyna), und müssen zweimal um ihr Leben laufen (óttudusk þeir ok hljópu; [i]nn þriði hljóp). Nachdem die Hauptfiguren der Vatnsdœla saga diese Diebesbande ebenso erfolgreich bekämpft haben wie einzelne Diebe,147 scheint gegen Ende der Saga zunächst Ruhe eingekehrt: Man hält das neue Familienoberhaupt Ingólfr für einen großen Häuptling, der in vielen Dingen seinen Vorfahren Ehre mache. Unmittelbar darauf heißt es: Útilegumenn ok ránsmenn váru mjǫk í þenna tíma bæði suðr ok norðr, svá at náliga mátti engi á sínu halda.148 Der beraubte Óláfr wendet sich an Ingólfr und bittet ihn um Hilfe. Ingólfr reitet mit 14 Männern los, bei ihrem Ritt über das Hochland sprechen sie über den Raub (um ránit); man habe ihm Güter im Wert von fünfzehnhundert [Ellen Fries] geraubt (rænt). Ab einem bestimmten Punkt verläuft die Spur der Räuber in zwei Richtungen, die Gruppe teilt sich also auf. Ingólfrs Gruppe findet den Unterschlupf der Räuber, vor dem 18 Pferde angebunden sind. Um sich den þjófarnir (»Dieben«) zu stellen, raten die Begleiter, zunächst die Gruppe wiederzuvereinen. Ingólfr fürchtet aber, die Diebe könnten so ein Höhlenversteck erreichen, und greift stattdessen mit nur einem Helfer sofort an. Er tötet fünf Männer, jedoch fällt sein Begleiter, und auch Ingólfr wird schwer verletzt. Die Diebe fliehen und nehmen das Diebesgut auf ihren Pferden mit sich. Ingólfr erliegt schließlich seinen Wunden, und da seine Söhne noch Kinder sind, ist das Vatnsdalr zunächst ohne Anführer. Die Verbindung útilegumenn ok ránsmenn zeigt ebenso wie der Wechsel von rán und ræna zu þjófarnir, dass der tatsächliche rechtliche Status der Täter oder des Verbrechens hier ihrer literarischen Funktion untergeordnet ist.149 Die Episode dient dazu, Ingólfrs exzeptionelle Tapferkeit darzustellen und ihn mit seinen Vorfahren zu verknüpfen, die ebenfalls Räuber und Diebe bekämpften. Dabei steigern sich die Bedrohungen, denen die Familie ausgesetzt ist, zunehmend: Während Ingimundrs Söhne zuerst einzelnen Dieben und Zauberern ausgesetzt waren und einmal einer neunköpfigen Diebesbande gegenüberstehen, sind es in Ingólfrs Generation bereits 18 Räuber,150 die es zu bekämpfen gilt. Die exakte Doppelung der Anzahl verbindet die beiden Episoden um Räuberbanden. Somit ist es möglich, den Niedergang des Geschlechtes, dessen direkte Linie mit Ingólfrs Tod zum Erliegen kommt, ausreichend

147 Vgl. Kap. 3.1. 148 Vtn 41, S. 107; »Zu dieser Zeit gab es viele Geächtete und Räuber im Süden wie im Norden, sodass man sich kaum vor ihnen schützen konnte.« 149 Ähnlich wie im zuvor besprochenen Gespräch der Eheleute in der Hávarðar saga Ísfirðings. 150 Amory 1992, S. 195 stellt mit Blick auf Gruppen von Gesetzlosen zu dieser Stelle fest: »the magic number of eighteen seems to designate a large representative band of outlaws.« Auch, wenn dies nicht der einzige Fall einer achtzehnköpfigen Bande in den Isländersagas ist, sollte die Zahl nicht von der neunköpfigen Diebesbande in der gleichen Saga getrennt betrachtet werden.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

zu begründen, ohne dabei Ingólfrs Tapferkeit in Frage stellen zu müssen.151 Während die Anzahl der Diebe und Räuber stetig ansteigt, vermindert sich ihre narrative Ausgestaltung zunehmend  – vom einzelnen, exzeptionellen Räuber zur gesichtslosen Verbrecherbande – bis am Ende der Vatnsdœla saga durch gesichtslose Einzelne die Antagonisten ihren gestalterischen Tiefpunkt erreicht haben.152

6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga Die schillerndste Räuberfigur der Isländersagas ist fraglos Jǫkull in den vier Anfangskapiteln der Vatnsdœla saga. Er lebt in den norwegischen Wäldern, es bleibt aber unerwähnt, ob er je formal geächtet wurde. Wie viele andere Räuber und Wegelagerer bietet seine Figur einem jungen Sagahelden Gelegenheit, seinen Wert unter Beweis zu stellen.153 Jǫkulls Einführung ist erzähltechnisch interessant, da er im ersten Kapitel der Saga nur über die öffentliche Meinung charakterisiert wird: Í þenna tíma þóttusk menn þess verða varir, at úthlaupsmenn eða illvirkjar myndi vera á leið þeiri, er liggr á milli Jamtalands ok Raumsdals, því at engir kómu aptr, þeir er fóru, ok þótt saman væri fimmtán eða tuttugu, þá hǫfðu þó engir aptr komit, ok þóttusk menn því vita, at frágørðamaðr myndi úti liggja.154

Der Ruf des eigentlichen Protagonisten, des mit ausführlicher Genealogie eingeführten Ketill raumr, leidet unter dem Gerede der Leute: Menn Ketils bónda urðu minnst fyrir þessum ófriði, bæði manndrápum ok féskǫðum, ok gerðu menn mikit orð á til ámælis, at sá væri mikill vanskǫrungr, er yfirmaðr var þess heraðs, at engar atgørðir skyldu í mót koma slíkum óhœfum, ok kváðu Ketil nú mjǫk eldask en hann gaf sér fátt um, en þótti þó eptir því, sem þeir sǫgðu.155

151 Auch Clasen 2005, S. 162, bespricht diese Episode als erfolgreiche Demonstration seiner Anlagen, ohne jedoch seinen direkt daraus resultierenden Tod zu erwähnen. Ingólfrs Nachfolger Þorkell krafla wird dagegen als weit weniger erfolgreicher Gode dargestellt, vgl. Kap. 6.3. 152 Vgl. Kap. 6.2.3. 153 Siehe Kap. 6.1.1. 154 Vtn 1, S. 4; »Zu dieser Zeit glaubten die Leute, zu bemerken, dass Räuber oder Verbrecher auf dem Weg unterwegs wären, der zwischen Jamtaland und Raumsdalr verläuft, da niemand, der ihn benutzte, zurückkehrte. Und selbst wenn 15 oder 20 zusammen reisten, kehrte keiner zurück, und daher glaubten die Leute, dass ein außergewöhnlicher Mann außerhalb der Siedlung leben müsste.« 155 Vtn 1, S. 4; »Die Leute des Bauern Ketill waren am wenigsten von diesen Angriffen betroffen, Totschlägen wie Raubüberfällen. Und so wurden Vorwürfe laut, dass derjenige, der in dieser Gegend herrschte, wohl ein großer Feigling sei, wenn keine Maßnahmen gegen solch schändliche Taten ergriffen würden. Sie sagten, Ketill sei alt geworden, doch dieser ließ sich wenig anmerken, und dachte dennoch an das, was sie sagten.«



6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga 

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Ketill, der eingangs als tapferer Kämpfer beschrieben wird, fordert nun seinen Sohn Þorsteinn auf, etwas gegen den Unruhestifter zu unternehmen. Mütterlicherseits ist Þorsteinn ein Enkel Án bogsveigis, des berühmtesten Gesetzlosen der Vorzeitsagas.156 Zu Beginn der Saga ist Þorsteinn 18  Jahre alt und hat sich noch nicht im Kampf bewährt. Ketill versucht seinen Sohn mit einer Ansprache aufzuhetzen, die seine Männlichkeit ebenso in Frage stellt, wie seine Fähigkeit, die Familientradition weiterzuführen.157 Es gelingt ihm, Þorsteinn zum Handeln zu bewegen. Dieser reitet in den Wald, um sich den Verbrechern zu stellen, noch immer ist von einer Vielzahl von Gegnern die Rede. Er stößt auf ein Haus, das große Truhen und wertvolle Schätze beherbergt und versteckt sich im Inneren der Halle.158 Der Räuber wird bei seinem ersten Auftritt ausführlich beschrieben: [S]já maðr var harðla mikill, hvítr var hann á hár, ok féll þat á herðar með fǫgrum lokkum. Þorsteini sýndisk maðrinn vera inn fríðasti […]; hann setti munnlaug fyrir sik ok þó sik ok þerrði á hvítum dúk. Hann renndi ok af verpli vænan drykk í stórt stéttarker ok tók síðan til matar. Allt sýndisk Þorsteini athæfi þessa manns merkiligt ok mjǫk hœverskligt; miklu var hann meiri maðr en Ketill, faðir hans, ok þótti hann, sem var, manna mestr.159

Der Ankömmling bemerkt, dass bereits jemand im Haus sein muss und sucht nach Þorsteinn, dem es gelingt, das Haus heimlich zu verlassen. Er wartet, bis der Räuber eingeschlafen ist, greift sich dessen Schwert und ersticht ihn im Schlaf. Der tödlich Verwundete fragt nach dem Namen seines Angreifers und erklärt: ›[E]n nú vartu heldr til skjótr, en ek heldr til seinn, því at nú var ek á brott búinn at hverfa frá þessu óráði,

156 Án ist der Protagonist der Áns saga bogsveigis, eine Deutungsmöglichkeit dieser Verwandtschaft folgt unten. Der Stoff um den Geächteten Án muss wesentlich älter als die junge Vorzeitsaga sein, da er bereits um 1200 in der Gesta Danorum (Buch VI) von Saxo Grammaticus verarbeitet wurde (vgl. Naumann 1996, S. 87). Ausführlich zu möglichen Vorlagen der Saga und ihrem Verhältnis zu Saxo Grammaticus siehe Hughes 1976, insb. S. 197–207. 157 Vgl. Vtn 3, S. 8; faðir hans segði hann eigi betra til vápns en dóttur eðr aðra kónu (»sein Vater sagte, er tauge mit der Waffe nicht besser als eine Tochter oder eine andere Frau«). 158 Vgl. Clasen 2005, S. 47, die argumentiert, Þorsteinn kämpfe vorzugsweise gewaltlos und wolle den Wegelagerer daher nicht verletzen. Der Text gibt allerdings keinen Anlass zu dieser Interpretation: Þorsteinn versteckt sich bereits, nachdem er die Größe der Behausung gesehen hat, und es heißt, er wolle erst sehen, mit wem er es zu tun habe. Zwar wird beschrieben, Þorsteinn empfinde es als Verlust, diesen Mann zu töten, dies ist aber deutlich mit der Schilderung des guten Aussehens und der gepflegten Manieren des Räubers verknüpft, und nicht mit Þorsteinns Pazifismus. 159 Vtn 3, S. 7; »Der Mann war sehr groß, hatte sehr helles (bzw. blondes/weißes) Haar, das ihm in schönen Locken auf die Schultern fiel. Þorsteinn fand, dieser Mann sei außergewöhnlich schön […]. Er stellte eine Waschschüssel vor sich, wusch sich und trocknete sich mit einem weißen Tuch ab. Er goss auch einen köstlichen Trunk aus einem Fass in einen großen Becher und begann dann, zu essen. Das ganze Verhalten dieses Mannes erschien Þorsteinn merkwürdig und von sehr höfischer Art; er war viel größer als Ketill, sein Vater, und er schien der größte aller Männer zu sein, was er auch war.«

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

en á ek alls kosti við þik, hvárt ek læt þik lifa eða deyja‹.160 Der Räuber beschließt, Þorsteinn am Leben zu lassen und nennt endlich seinen Namen: Er stellt sich als Jǫkull vor und erklärt, er sei der Sohn des Jarls Ingimundr von Gautland. Er gibt Þorsteinn seinen goldenen Ring, den er Jǫkulls Mutter überbringen soll. Sie werde ihm nicht nur glauben, sondern ihm auch seine Schwester zur Frau geben. Er prophezeit Þorsteinn ein glückliches Leben (›þú munir gæfumaðr verða‹161) und bittet ihn, seinen Namen niemals zu verraten, da er unehrenhafte Taten vollbracht habe, ihn aber in seiner Familie weiterzuvererben. Þorsteinn kehrt zu seiner Familie zurück und lässt sich dort für seine Taten preisen: ›Þat er ǫllum yðr kunnigt at gera, at ótti sá, er á hefir legit hér um hríð af stigamǫnnum, at menn máttu eigi fara ferða sinna, hann er nú af ráðinn ok endaðr. Er þat ok mest undir þessi minni ­þingstefnu, at ek vil, at hverr taki sitt fé, þat er átt hefir, en ek mun þat eignask, er af gengr.‹162

Wie Jörg Büschgens bemerkt,163 wird nur in der Jǫkull-Episode und beim Tod ­Ingimundrs die von Andersson benannte Erzähltechnik staging verwendet, bei der die Erzählzeit gedehnt wird, um eine höhere Dichte von Details in die Beschreibung aufzunehmen und Dialogpartien einzusetzen, die für Schlüsselszenen der Isländersagas typisch ist.164 Erzähltechnisch weist diese Episode noch weitere Besonderheiten auf. Keine andere Figur der Saga erhält einen annähernd vergleichbaren Auftritt, dieser ist bei Jǫkull mehrteilig aufgebaut: Zunächst wird durch die ausführliche Beschreibung der Furcht der Bevölkerung und die Annahme, es handle sich um eine größere Gruppe von Räubern, eine enorme Erwartungshaltung aufgebaut. In einem zweiten Schritt werden Þorsteinns Eindrücke geschildert, der zunächst das leere Haus vorfindet. ­Þorsteinn wird hier deutlich als Wahrnehmungsinstanz gekennzeichnet: Þar sá hann rekkju eina; hon var miklu meiri en nǫkkur sæng, er Þorsteinn hafði fyrr sét; þótti honum sá œrit hár, […]. Síðan heyrði hann út dyn mikinn, […]. Allt sýndisk Þorsteini athæfi þessa manns merkiligt ok mjǫk hœverskligt […], ok þótti hann, sem var, manna mestr.165

160 Vtn 3, S. 9; »›Aber nun warst du vielmehr zu schnell, und ich vielmehr zu spät, denn nun war ich gerade soweit, mit diesen Verbrechen aufzuhören, doch nun habe ich alle Gewalt über dich, ob ich dich leben oder sterben lasse.‹« 161 Vtn 3, S. 10; »›du wirst ein Glücksmensch sein‹«. 162 Vtn 4, S. 12; »›Es ist euch allen kundzutun, dass die Furcht, die hier in der Gegend lange vor Wegelagerern herrschte, dass die Leute nicht ihren Fahrten nachkommen konnten, aus dem Weg geschafft und beendet ist. Ich habe euch vor allem deshalb versammelt, weil ich will, dass jeder das Vermögen zurücknimmt, das er besessen hat, und ich werde das behalten, was zurückbleibt.‹« 163 Vgl. Büschgens 2009, S. 160. 164 Vgl. Andersson 1967, S. 55. 165 Vtn 3, S. 6–7 (eigene Hervorhebung); »Da sah er ein Bett; es war viel größer als irgendein Bett, das Þorsteinn zuvor gesehen hatte; es schien ihm, jener müsse überaus groß sein, […]; Dann hörte er draußen großen Lärm, […]; das ganze Verhalten dieses Mannes erschien Þorsteinn merkwürdig und von sehr höfischer Art; […], und er schien ihm der größte alle Männer zu sein, was er auch war.«



6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga 

 199

Diese Szene sticht als eine der seltenen längeren Passagen interner Fokalisierung innerhalb der Isländersagas ins Auge. Danach wechselt die Fokalisierung zu Jǫkull, der nach dem Eindringling sucht und zweimal in direkter Rede seine Gedanken ausdrückt: ›Skipun er hér á orðin, […] ok veit ek eigi, hvat þat veit, […]‹; ›Kyrrt mun ek nú vera láta, […] ok má vera, at þat komi fram um mína hagi, sem mælt er, at illa gefask ill ráð.‹166 Der Räuber legt sich zu Bett und die Fokalisierung wechselt zurück zu ­Þorsteinn, dessen Gedanken, Ängste und Motivationen durch einen inneren Monolog geschildert werden, der innerhalb der Gattung seines Gleichen sucht.167 Als ­Þorsteinn den Räuber mit dem Schwert durchbohrt, hat dieser noch Gelegenheit zu einer der längsten direkten Reden der Vatnsdœla saga, um seine Beweggründe und seine Identität zu erläutern. Die darauffolgenden Szenen, in denen Þorsteinn sich bei der Familie des Getöteten aufhält, ergänzen durch die so erschließbare Genealogie die Figurenzeichnung Jǫkulls zu der eines vollwertigen Protagonisten einer Isländersaga. Insgesamt kann Jǫkull als stark markierte Figur verstanden werden, durch deren außergewöhnliche narrative Inszenierung die Frage nach möglichen Einflüssen und Vorbildern evoziert wird. Denkbar wäre, dass es sich bei dieser Figur um einen seltenen Vertreter des Motivs des ›edlen Räubers‹ in Skandinavien handelt, wie es im 13. und 14. Jahrhundert besonders in Großbritannien populär war. Dieses Motiv wird je nach Forschungstradition unterschiedlich benannt, und besteht in seinem Kern aus dem Eintritt des Helden in die Gesetzlosigkeit durch Irrtum oder jugendliche Hitzköpfigkeit, eine angesehene Abstammung, und ein Leben außerhalb der Gesellschaft.168

166 Vtn 3, S. 7–8; »›Etwas ist hier nicht in Ordnung, […] aber ich weiß nicht, was das bedeutet, […]‹; ›Jetzt werde ich es gut sein lassen, […] und es kann sein, dass es so um mich stehen wird, wie gesagt wird, dass Schlechtes von schlechten Plänen kommt.‹« 167 Svá sýndisk Þorsteini, sem þat væri in mesta gersemi ok alllíkligt til bits, ok gerði sér þat í hug, at duga myndi, ef hann næði saxinu. Honum kom nú ok í hug eggjan feðr síns, at þrótt ok djarfleik myndi til þurfa at vinna slíkt afrek eða ǫnnur, en frami ok fagrligir penningar myndi í móti koma, ok hann myndi þá þykkja betr gengit hafa en sitja við eldstó móður sinnar. Þá kom honum ok í hug, at faðir hans segði hann eigi betra til vápns en dóttur eða aðra konu ok meiri sœmð væri frænðum, at skarð væri í ætt þeira en þar sem hann var. Slíkt hvatti Þorstein fram, ok leitaði hann sér þá fœris, at hann mætti einn hefna margra vanréttis, en í ǫðru lagi þótti honum þó skaði mikill um manninn (Vtn 3, S. 8; »Da erschien es Þorsteinn, als sei dies [das Schwert] die größte Kostbarkeit und wahrscheinlich außergewöhnlich scharf, und da kam es ihm in den Sinn, dass es von Nutzen wäre, wenn er das Schwert erreichen könnte. Ihm kam nun auch die Aufhetzung seines Vaters in den Sinn, dass man Kraft und Mut bräuchte, um solche oder andere Heldentaten zu vollbringen, doch Ehre und ein prächtiges Vermögen könnte man erreichen, und dass es ihm danach besser ergangen zu sein scheinen werde, als am Herd seiner Mutter zu sitzen. Da kam ihm auch in den Sinn, dass sein Vater sagte, er tauge mit der Waffe nicht besser als eine Tochter oder eine andere Frau, und dass es seinen Verwandten mehr Ehre brächte, wenn ein leerer Platz in ihrem Stammbaum wäre, als so jemand wie er. Das trieb Þorsteinn an, und er wollte die Gelegenheit ergreifen, allein das Leid vieler zu rächen, aber andererseits erschien es ihm sehr schade um diesen Mann«). Vgl. auch Büschgens 2009, S. 162–163, der allerdings von einem »inner dialogue« spricht. 168 Da das Motiv für die Figur Jǫkull in der Vatnsdœla saga nicht voll ausgebildet ist, und wenige Informationen über Jǫkulls Biographie zur Verfügung stehen, wird hier nicht zwischen »gerechten

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Ein möglicher Einfluss englischer Traditionen auf die Darstellung isländischer Gesetzloser ist jedoch stark umstritten,169 sodass man nur festhalten kann, dass die Beschreibung Jǫkulls einzigartige Elemente enthält: Seine besondere Schönheit, seine Waschgewohnheiten, sein höfisches Benehmen  – höfisch-ritterliche Züge, die den Gesetzlosen und Räubern der Isländersagas normalerweise fehlen. Nur eine Parallele findet sich im Korpus, bei zwei geächteten Nebenfiguren in der Reykdœla saga. Diese werden von einem Goden als Meuchelmörder angeheuert, zuvor heißt es: Maðr hét Óláfr ok annarr Þorgautr. Þeir váru sekir menn, ok þó var þeim mart vel gefit. Þeir váru menn vænir ok kurteisir ok góðir fardrengir.170 Leider erfährt man nicht, für welche Verbrechen die beiden geächtet wurden, sodass es sich zwar um höfische und schöne Gesetzlose handelt, aber nicht unbedingt um ›edle Räuber‹. Jǫkulls Behauptung, er wollte soeben mit dem Rauben aufhören, reicht nicht aus, ihn als Vorläufer Robin Hoods anzusprechen, der von den Reichen stiehlt, um den Armen zu geben, zumal dieser Zug der englischen Tradition erst relativ spät hinzugefügt wurde. In der Räuberepisode am Anfang der Vatnsdœla saga wird durch den Hinweis auf Án bogsveigi deutlich markiert auf eine einheimische Tradition gesetz­ loser Helden verwiesen. Ob diese mit dem Motiv des ›edlen Räubers‹ kombiniert wurde, muss fraglich bleiben. Dass Jǫkulls Gnade und Þorsteinns Verwandtschaft zu Án bogsveigi zum Kern der Erzähltradition gehören, zeigt jedoch die knappe Schilderung der Landnámabók:

Räubern« (vgl. Frenzel 2008, S.  578–591), »edlen Räubern« (Hobsbawm 2007, S.  59—76), und dem »guten Outlaw« (vgl. Benecke 1973) unterschieden. 169 Über das Verhältnis von isländischen und englischen Erzählungen über Gesetzlose wurde häufig diskutiert. Schon 1921 behandelte Henry G. Leach die englischen ›Outlaw Legends‹ vergleichend mit den isländischen Ächtersagas, konnte aber nur feststellen, dass den Sagas über Grettir, Gísli und Hörðr die gleiche Sympathie für den Geächteten innewohnt, die auch die englischen Zeugnisse charakterisiert (vgl. Leach 1921, insb. S. 335–355). Leachs These, die englischen Erzählungen von Gamelyn und Robin Hood seien skandinavisch beeinflusst (vgl. Leach 1921, S. 352), wurde von Joost de Lange 1935 unterstützt, der sogar so weit geht, die Áns saga bogsveigis als besten Repräsentanten einer gemeinsamen Quelle der altnordischen wie englischen Outlaw-Tradition auszumachen. Diese Annahmen konnten weder die nordistische noch die anglistische Forschung überzeugen, vor allem, da aufgrund der frühen Datierung der ersten englischen Legenden mit verlorenen und mündlichen Vorstufen der späten Vorzeitsaga operiert werden musste (dagegen zuerst Spoelstra 1938, später auch Benecke 1973, S. 6–7 sowie Hughes 2005, S. 291–296). Ohlgren (Hrsg.) 2005 schiebt in seinem Sammelband Medieval Outlaws die Frage nach der Stofftradition zur Seite, und nimmt die Áns saga bogsveigis auf, denn »they [all] exhibit similarities in character types, story lines, and mindsets too close to be accounted for by coincidence or common tradition« (S.  xvii). Neue Zustimmung erhält die Idee einer gemeinsamen Tradition durch Orchard 2015. Die Frage, ob der ›Greenwood‹ bis nach Island reichte – oder gar einen skandinavischen Wald zum Vorbild hatte – ist also noch immer nicht abschließend erörtert. 170 Reyk 22, S. 218; »Ein Mann hieß Óláfr und ein zweiter Þorgautr. Sie waren Geächtete, und doch war ihnen viel Gutes gegeben. Sie waren schöne und höfische Männer und gute Seefahrer.«



6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga 

 201

Ketill átti Mjǫll, dóttur Ánar bogsveigis. Þorsteinn hét son þeira; han vá á skóginum til Upplanda af áeggjun fǫður síns Jǫkul, son Ingimundar jarls af Gautlandi. Jǫkull gaf honum líf. Síðan fekk ­Þorsteinn Þórdísar systur hans.171

Blickt man über die hier gezogenen Gattungsgrenzen hinaus, findet sich das Thema des moralisch gerechtfertigten Raubes im Zusammenhang mit Wikingern,172 die den christlichen Glauben annehmen und verbreiten. So berichtet etwa die Kristni saga über Þorvaldr Koðránsson, er var fyrst í hernaði, en hlutskipti þat er hann fekk lagði hann til útlausnar herteknum mönnum, allt þat er hann þurfti eigi at hafa til kostar sér. Áf slíku varð hann ágætr ok vinsæll.173 Dieses Vorgehen unterscheidet ihn von den anderen Teilnehmern des Wikingerzuges, wie Irene Kupferschmied feststellt: »Seine positiven Eigenschaften entschuldigen seine barbarischen Taten, weisen aber zugleich auf seine besondere Stellung und sein Wirken in späterer Zeit voraus.«174 Im weiteren Verlauf der Saga wird Þorvaldr von Bischof Friðrekr getauft und schließt sich dessen Missionstätigkeit an.175 Für den intradiegetischen Effekt dieser Motiveinbindung lässt sich festhalten, dass durch die Vermählung Þorsteinns mit Jǫkulls Schwester deren Nachkommen, die Protagonisten der Vatnsdœla saga, mütterlicher- wie väterlicherseits von außergewöhnlichen Räuberfiguren abstammen, was für die Gesamtinterpretation der Saga berücksichtigt werden muss. Interessant ist dies besonders in der Kombination mit der ungewohnt positiven Darstellung der Machtübernahme Haraldr hárfagris in dieser Saga.176 Während viele Isländersagas, deren Handlung in Norwegen einsetzt, den Widerstand der Aussiedlerfamilie gegen die durch Haraldr erfolgten Enteignungen schildern, kompensiert die Vatnsdœla saga diesen fehlenden Beweis für die Unabhängigkeit und Durchsetzungskraft der Protagonistenfamilie durch die stellvertretende familiäre Anbindung an zwei Gesetzlose. Das Thema der autonomen und selbstbestimmten Lebensführung  – in Áns Fall auch der Widerstand gegen einen ungerechten König – steht damit ebenso im Zentrum der Exposition dieser Isländersaga wie bei anderen norwegischen Vorgeschichten. Das Motiv des ›räuberischen Königs‹ wird hier durch das Motiv des ›edlen Räubers‹ substituiert. 171 Landnámabók (S 179, H 145), S. 217; »Ketill war mit Mjǫll verheiratet, der Tochter von Án bogsveigi. Þorsteinn hieß ihr Sohn; er erschlug auf die Aufhetzung seines Vaters hin Jǫkull, den Sohn des Jarls Ingimundr von Gautland, in den Wäldern Upplands. Jǫkull schenkte ihm das Leben. Danach bekam Þorsteinn dessen Schwester Þórdís zur Frau.« 172 Zu Moralfragen auf Wikingerfahrten siehe Kap. 2.1.2. 173 Kristni saga 1, S. 4; »war zuerst auf Kriegsfahrt, aber er verwendete die Beute, die er machte, um Gefangene auszulösen; außer dem, was er brauchte, um sein eigenes Auskommen zu sichern. Dadurch wurde er berühmt und beliebt.« 174 Kupferschmied 2009, S. 53. Über Þorvaldr berichtet ausführlicher der Þorvalds þáttr víðfǫrla. 175 Ein moralisch betrachtet ›guter‹ Gesetzloser taucht auch in der Færeyinga saga 10–16 auf. Þorkell Þurrafrost (genannt ›Úlfr‹) lebt im Wald und hilft zwei Kindern, indem er sie aufnimmt und ausbildet (vgl. Schmidt 2018b, S. 519–536). 176 Vgl. Kreutzer 1994, S. 457–458 sowie Kap. 7.4.

202 

 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Im Anschluss werden in dieser Saga mehrere Generationen auf Raubzug gehen. Der eingangs gescholtene Þorsteinn lebt eine Weile auf dem Hof seines Schwiegervaters. Nach dessen Tod kehrt er aber auf den Hof seines eigenen Vaters zurück und übernimmt dessen Führung. Kurz darauf heißt es, er gehe im Sommer í hernaði und erwerbe sich dort fjár ok virðingar.177 Als sein Sohn Ingimundr alt genug ist, möchte dieser selbst auf Fahrt gehen und bekommt von seinem Vater ein Schiff geschenkt. Auch Ingimundrs Ziehvater unterstützt die Unternehmung und schenkt seinem eignen Sohn ebenfalls ein Schiff. Die beiden jungen Männer sind auf ihrem Wikingerzug sehr erfolgreich; fóru vel með víkingskap sínum.178 Als sie mit ihren Männern zu Þorsteinn zurückkommen, findet dieser, sein Sohn stelle zu hohe Ansprüche an seine Gastfreundschaft. Ingimundr verteidigt sich aber wortgewandt, sein Vater solle sich von seiner Beute so viel nehmen, wie er für angemessen halte und wie es nach Wikingersitte ehrenhaft sei (Vtn 7), und sie aus den erbeuteten Vorräten bewirten. Auch im folgenden Sommer gehen die jungen Männer auf Plünderfahrt, wobei ausnahmsweise der ehrenhafte Charakter ihrer Fahrt betont wird; sie nehmen ihre Beute nämlich von reyfurum ok ránsmǫnnum, þeim sem lǫgðusk á fé bænda eða kaupmanna.179 Zwar ist keine Rede davon, dass die beiden jungen Wikinger dieses Vermögen an jemanden zurückgeben wollen, es fällt aber dennoch auf, dass dieser Gedanke in der Vatnsdœla saga auftaucht, die mit dem ›edlen Räuber‹ Jǫkull eingeleitet wurde. Auch in den darauffolgenden Sommern machen sie reiche Beute und schließen sich später König Haraldr hárfagri an (Vtn 8–9).180 Zur strukturellen Bedeutung der Anfangsepisoden liegen unterschiedliche Interpretationen in der Forschungsliteratur vor. Barbara Clasen diskutiert in ihrer Dissertation zur Vatnsdœla saga deren Struktur und teilt die Saga in fünf Abschnitte, die 177 Vtn 7, S. 17; »auf Kriegszug«; »Vermögen und Ehren«. 178 Vtn 7, S. 19; »es lief gut mit ihrem Wikingerdasein«. 179 Vtn 7, S. 20; »von Plünderern und Räubern, die Bauern oder Kaufleute ausgeraubt hatten«. Eine solche Einschränkung ist selten. In der Flóamanna saga wird betont, man raube nur hernaðarmönnum (»Kriegsmänner, Wikinger«) aus, lasse aber bændr ok kaupmenn fara í fríði (Flóa 16, S. 262; »Bauern und Kaufleute in Frieden fahren«). Auch im kurzen Jökuls þáttr Búasonar heißt es, man beraube nur Berserker und Übeltäter, schütze aber Kauffahrer (Jök 3). Perkins 1972, S. 274 bietet eine Stellensammlung zu Motivparallelen in anderen Sagagattungen. 180 Wesentlich später geht auch Ingimundrs Nachfahre Þorkell krafla auf Heerfahrt und erbeutet einen großen Schatz. Jarl Sigurðr, der den Plünderzug anführt, beschließt großzügig, dass diese Beute nur Þorkell allein zusteht (Vtn 43). Normalerweise wird die Beute eines Plünderzuges aufgeteilt. Die entsprechenden Übereinkünfte werden analog zu Handelsfahrten als félag bezeichnet (vgl. Wieske 2011, S. 91). Die Partner legen ihr Vermögen und ihre Waren zusammen und teilen auch den Gewinn sowie das Risiko, das aus der Handelsunternehmung entsteht. In den Isländersagas wird ein félag im Zusammenhang mit einem Wikingerzug bspw. in Eg 1, Vtn 7 sowie Gts 1 und Gts 19 erwähnt. Werden wie hier spezielle Gegenstände aus der zu teilenden Beute herausgenommen, bezeichnet man diese als afnámsfé (»vorweggenommenes Gut«). So behält sich beispielsweise Egill Skalla-Grímsson eine Schatztruhe als persönliches Eigentum vor, die er unter speziellen Umständen gewonnen hat (Eg 46, S. 118, vgl. Kap. 2.1.2.).



6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga 

 203

sie jeweils mit dem von Andersson181 etablierten sechsgliedrigen Strukturmodell der Isländersagas in Einklang zu bringen versucht.182 Naturgemäß fällt in einer strukturalistischen Lesart der Exposition eine besondere Bedeutung zu. Clasen fokussiert eingangs auf die Þorsteinns Familie, die sich hier als friedliebendes und verantwortungsbewusstes Geschlecht präsentiere, zudem würden die Themen Glück und Zuverlässigkeit etabliert.183 Clasen klassifiziert Jǫkull als Dieb und widmet dem »DiebstahlAspekt« in der Vatnsdœla saga ein eigenes Kapitel.184 Ihre These lautet, »dass der Verfasser […] die Kombination von Diebstahl und Godenwürde gewählt hat, um damit eine Botschaft zu transportieren«,185 und geht davon aus, dass »[a]lle Häuptlinge bzw. Goden […] mit Dieben zu kämpfen«186 hätten. Dieser These liegt damit eine Annahme zu Grunde, die so nicht zu unterstützen ist. Natürlich wäre es für einen strukturalistischen Ansatz möglich, Diebe und Räuber gleichzusetzen. Allerdings muss sie, um in allen fünf Abschnitten einen Dieb zu finden, auch Antagonisten aufnehmen, die niemals stehlen oder rauben: Hrolleifr, der versucht, Ingimundrs Godentum zu erringen (»es Ingimundr stehlen will«187), und Þorkell silfri, der auf diese Art ebenfalls zum »potentiellen Dieb des goðorðs«188 gemacht wird und sich nie des Diebstahls oder des Raubes schuldig macht. Diese zu weit gefasste Definition des Diebstahls verkennt, dass beide Figuren, die hier fälschlich zu Dieben gemacht werden, stattdessen Zauberei einsetzen, um ihre Macht zu vergrößern. Tatsächlich wechseln sich in den Merkmalen der Antagonisten der Vatnsdœla saga die Elemente Zauberei und Diebstahl ab. Diese Vergehen stehen sich auch im weiteren Verlauf dieser Saga ­semantisch besonders nahe, wie sich an Figuren wie Þórólfr sleggja und Þórólfr heljarskinn zeigen lässt.189

181 Vgl. Andersson 1967. Andersson beurteilt die Vatnsdœla saga, die dem von ihm postulierten Aufbau einer Isländersaga nicht entsprechen möchte, insgesamt negativ (»[…]a chronicle in form and a crusade in spirit. As such the saga is more rewarding to the historian of witchcraft than to the literary historian«, S. 222), und räumt ihr, wie auch der Eyrbyggja saga, eine Sonderstellung innerhalb der Gattung ein. Hier setzt Clasen ein, die nicht nur in jedem ihrer fünf Abschnitte Anderssons Modell eigenständig realisiert sieht, sondern auch alle fünf Abschnitte übergreifend in sein Schema einordnet. 182 Im Anschluss an Andersson 1967 diskutiert auch McCreesh 2010 die Struktur der Saga, allerdings ohne Einbeziehung der Exposition und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Magie, weshalb diese Lesart hier nicht vertieft wird. 183 Vgl. Clasen 2005, S. 100, S. 111 und S. 115. 184 Vgl. Clasen 2005, Kapitel 5.3.2 »Der Diebstahl-Aspekt«. 185 Clasen 2005, S. 158–159. Welche Botschaft transportiert werden soll, wird nicht ausgeführt, am Ende des Kapitels heißt es: »Daher ist es diese Konfliktkategorie [die der Diebstähle], aus der heraus sich die Klimax der Vatnsdœla saga entwickelt. Diese besteht somit in der akuten Gefahr, das goðorð der Familie zu verlieren« (S. 168). 186 Clasen 2005, S. 158. 187 Clasen 2005, S. 160. 188 Clasen 2005, S. 162 (Hervorhebung im Original). 189 Siehe Kap. 3.1.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Jǫkull habe durch das Eingeständnis seiner bösen Taten vor seinem Tod die Funktion, darzustellen, »was Recht ist und wer recht handelt.«190 Die Episode diene dem Handlungsverlauf der Saga, indem sie Þorsteinns sozialen Aufstieg erkläre, und die Familie dynastisch mit einem Jarl verknüpfe. Beidem kann sicher zugestimmt werden, denn durch die Überwindung Jǫkulls beweist sich der junge Þorsteinn und erwirbt durch dieses Abenteuer hohes Ansehen, eine Verbindung mit einer Jarlstochter und die Anerkennung seines Vaters. Ebenso wird er von den Gefolgsleuten der Familie bewundert, denen er großzügig ihre geraubten Besitztümer zurückgibt. Dieser Zug setzt sich bei seinem Sohn Ingimundr fort, für den in den folgenden Kapiteln immer wortreich betont wird, wie generös er die Beute seiner Wikingerzüge zuhause verteilt. Þorsteinns Sieg über den ›edlen Räuber‹ führt zur Anbindung an eine aristokratische Familie mit höfischen Sitten, die sich in Jǫkulls Manieren ebenso zeigen wie im Lebenswandel seiner Familie (als Þorsteinn bei Jǫkulls Familie ankommt, heißt es: Jarl var farinn á veiðar at ríkra manna sið191). Diese ist nicht nur deutlich über die eigene väterliche Abstammung gestellt (frændr hans váru ótignir192), sondern wird auch als dominierender Teil weitergeführt, wie die Weitergabe der Namen an ­Þorsteinns Söhne zeigt (›Sjá sveinn skal heita Ingimundr eptir moðurfeðr sínum, ok vænti ek honum hamingju sakar nafns‹193). Wie Clasen richtig bemerkt, wird in dieser Episode das ›Glück‹ als Motiv eingeführt, das zum prägnantesten Zug der Vatnsdœla saga wird.194 Interessanterweise ist es Þorsteinn, dem das Glück innewohnt, dies bleibt aber innerhalb seiner eigenen Familie unbemerkt. Es ist der Räuber, der als Erster erkennt, dass Þorsteinn vom Glück begünstigt ist (›þú munir gæfumaðr verða‹195), und auch dessen Eltern haben die Fähigkeit, dies sofort zu erkennen. Seine Mutter bemerkt dessen hamingj[a],196 und auch der Vater spricht von der ›hamingju manns þessa‹.197 Dieses Motiv entfaltet sich erst in Verbindung mit der Jarlsfamilie und vererbt sich fortan weiter – der erste Satz, den eine Figur an Ingimundr richtet, lautet: ›Hamingjusamligr sveinn ertu‹.198 Offen bleibt in Clasens Interpretation die Frage, aus welchen Gründen und zu welchem Zweck Jǫkull derart umfangreich eingeführt wird, wenn nur sein Tod von Bedeutung wäre. Seine strukturelle Bedeutung wird durch die Weitergabe seines Namens deutlich: Jǫkulls Wunsch, sein Name solle weitergegeben werden, erfüllt sich

190 Clasen 2005, S. 159 (Hervorhebung im Original). 191 Vtn 5, S. 13; »Der Jarl war auf die Jagd gegangen, nach der Sitte vornehmer Männer«. 192 Vtn 6, S. 17; »seine Verwandten waren nicht von [so] hohem Stand«. 193 Vtn 7, S. 17; »›Dieser Junge soll Ingimundr heißen, nach dem Vater seiner Mutter, und ich erhoffe ihm Glück wegen dieses Namens‹«. 194 Vgl. Clasen 2005, S. 48. 195 Vtn 3, S. 10; »›du wirst ein Glücksmensch sein‹«. 196 Vtn 4, S. 12; »Glück [oder: Schutzgeist]«. 197 Vtn 5, S. 14; [von dem] »›Glück dieses Mannes‹«. 198 Vtn 7, S. 18; »›Ein Glückskind bist du‹«.



6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga 

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kurz vor der Auswanderung nach Island, als nach der Geburt Þorsteinns Ingimundrs zweiter Sohn zur Welt kommt: ›Þessi sveinn er allmikilfengligr ok hefir hvassar sjónir; hann mun verða, ef hann lifir, ok eigi margra maki ok eigi mikill skapdeildarmaðr, en tryggr vinum ok frændum ok mun vera mikill kappi, ef ek sé nǫkkut til; mun eigi nauðr at minnask Jǫkuls frænda várs, sem faðir minn bað mik, ok skal hann heita Jǫkull.‹199

Den sprechenden Namen Jǫkulls200 deutet Büschgens, im Vergleich mit anderen Trägern dieses Namens, als Marker für eine Figur, die mit der Welt der Riesen in Verbindung stehe, was sich durch eine biologische Verbindung oder einen gewalttätigen Charakter äußern könne.201 Für einen Räuber, dessen ungewöhnliche Größe mehrfach betont wird, erscheint diese Namenswahl passend. Zusätzlich könnte man den Namen, in seiner Bedeutung »Eiszapfen, Eis« auch als weiteren Hinweis auf die Farbe Weiß verstehen,202 die zwei Mal in seiner Beschreibung auftaucht: hvítr var hann á hár und þó sik ok þerrði á hvítum dúk.203 Büschgens deutet die Episode als Präfiguration des späteren Verhältnisses zwischen den Brüdern Þorsteinn und Jǫkull Ingimundarson, und den Kampf zwischen scheinbar konträren Wertvorstellungen.204 Diese Deutung überzeugt weit mehr als Clasens Argumentation, zumal sie erkennt, dass für diese erzähltechnisch markierte Episode angenommen werden muss, dass sie auch für die Handlung der Vatnsdœla saga einen besonderen Stellenwert einnimmt. Die Exposition der Saga legt besonderen Wert auf vererbte und erlernte Tugenden und zeigt den Krieger und Wikinger Ketill raumr und den ›edlen Räuber‹ Jǫkull als zwei Ausprägungen eines selbstbestimmten Lebensstils, von denen der vom Glück begünstigte Þorsteinn lernt, bevor er mit der Jarlstochter den Sohn Ingimundr zeugt. Ingimundr vereint in sich alle zuvor dargestellten Stärken und wird zudem durch die Begünstigung durch Freyr und die Verbindung zu König Haraldr zum strahlenden Helden der Saga. Die Charakteristika dieser vollkommenen Figur teilen sich unter seinen Söhnen auf und werden so auf diese verteilt, wie es ihre Namensgebung vermuten lässt. Gemeinsam können sich die

199 Vtn 13, S. 37; »›Dieser Junge ist sehr forsch und hat einen scharfen Blick; falls er überlebt, werden nur wenige seinesgleichen sein und er wird kein besonders beherrschter Mensch sein, doch treu gegenüber seinen Freunden und Verwandten, und er wird ein großer Kämpfer werden, wenn ich mir es so ansehe. Es wird nicht schwierig sein, uns unseres Verwandten Jǫkulls zu erinnern, wie mein Vater mich bat, also soll er Jǫkull heißen.‹« 200 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 315: »1. Eiszapfen; Eis, 2. Gletscher«. 201 Vgl. Büschgens 2009, S. 160–161. 202 Diesen Hinweis verdanke ich Matthias Teichert, München/Göttingen. 203 Vtn 3, S. 7; »er hatte weißes (bzw. helles) Haar« und »wusch sich und trocknete sich mit einem weißen Tuch«. Der mehrfache Hinweis auf die Farbe Weiß bei der Schilderung Jǫkulls erinnert dabei an den Zwergennamen Litr in der Áns saga bogsveigis, vgl. Hughes 2005, S. 334. 204 Vgl. Büschgens 2009, S. 163.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

ungleichen Brüder Þorsteinn und Jǫkull ebenso erfolgreich im Vatnsdalr behaupten, wie zuvor ihr Vater. Erst die darauffolgenden Generationen haben Schwierigkeiten, ihre Vormachtstellung zu behaupten; dies geht auch mit dem Bruch der Namensgebungstradition einher.205 Clasen übergeht in ihrer Interpretation das unübersichtliche letzte Kapitel der Vatnsdœla saga kommentarlos.206 Dieses schildert den letzten Konflikt, den der nur noch entfernt mit Ingimundr verwandte Gode Þorkell krafla vor seinem Tod schlichten muss. Hier tauchen allerdings weitere Diebesfiguren auf, die in einer auf dieses Verbrechen fokussierten Lesart nicht fehlen dürften. Das Geschehen ist denkbar verworren: Es werden zwei neue Brüderpaare in die Erzählung eingeführt; Fǫstólfr und ­Þróttólfr stehen Húnrøðr und Úlfheðinn gegenüber. Fǫstólfr und Þróttólfr verstecken einen Mann bei sich, der nie namentlich genannt wird,207 und für den sie eine ebenfalls nicht näher bezeichnete Anklage auf dem Thing vertreten wollen. Währenddessen soll dieser Mann in den Þjófadalir (»Diebestälern«) die Verhandlung abwarten. Húnrøðr und Úlfheðinn208 reiten ebenfalls zum Thing. Bei ihrem Ritt entlaufen ihnen einige Pferde: Þeir sá mann skammt frá sér ok hugðu vera illmenni ok hann myndi tekit hafa hross þeira; þeir fréttusk ok eigi fyrir ok hljópu þegar at honum ok drápu hann; […].209 Dass es sich um den gleichen Mann handelt, den Fǫstólfr und Þróttólfr vertreten wollen, wird erst deutlich, als diese erbost auf die Nachricht des Totschlags reagieren. Dieser Vorfall motiviert den Kampf der beiden Brüderpaare, in dessen Folge Úlfheðinn stirbt. Sogleich wird eine weitere Figur unvermittelt eingeführt und beraubt: Skúmr hét lausingi einn, hann hafði aflat fjár ok orðinn auðigr. Húnrøðr eyddi fyrir honum, ok fór hann útan ok kom til Nóregs […].210 In Norwegen erwirbt sich Skúmr ein neues Vermögen. Húnrøðr, der sich zuvor nicht auf eine Bußzahlung für seinen Bruder einlassen wollte, ist inzwischen trotz des Raubes an Skúmr völlig mittellos und bittet daher den Goden Þorkell krafla um Hilfe. Dieser fordert nun Fǫstólfr und Þróttólfr auf, die Buße nachträglich zu zahlen, oder die Gegend zu verlassen. Zunächst ent205 Vgl. Clasen 2005, S. 48; »Obwohl vermutlich nicht vom Verfasser bestimmt (denn Genealogien belegen den Stammbaum der Familie), fungiert dieser Bruch zusätzlich auch als literarisches Moment.« Der bewusste Einsatz dieses ›Moments‹ zeigt sich durch die vorherige starke Betonung aller Namensgebungsszenen. 206 Auch die restliche Forschungsdiskussion übergeht dieses Kapitel. Nur Andersson 1967, S. 221 erwähnt den Konflikt in seiner Strukturübersicht: »He [Þorkell krafla] settles a second quarrel.« 207 Die Episode wird in der Handschrift Þórðarbók verkürzt wiedergegeben, hier hat der mysteriöse Mann dafür einen Namen; Þorgrímr. Vgl. Vtn 47, S. 46 (Fn. 3). 208 Úlfheðinn erhält eine Vorgeschichte, die davon berichtet, wie er mit Hilfe von Zauberei einen Holmgang für sich entscheiden konnte. In diesem Kapitel treffen sich damit erneut die Motive Diebstahl und Zauberei, was in der Vatnsdœla saga mehrmals geschieht, vgl. Kap. 3.1. 209 Vtn 47, S. 128; »Sie sahen in ihrer Nähe einen Mann und dachten, er sei ein Verbrecher und werde ihre Pferde genommen haben; sie fragten auch nicht danach, sondern stürmten auf ihn los und töten ihn.« 210 Vtn 47, S. 129; »Skúmr hieß ein Freigelassener. Er hatte Vermögen angesammelt und war reich geworden. Húnrøðr nahm ihm das Vermögen weg, und er fuhr aus und kam nach Norwegen.«



6.3 Die ›edlen Räuber‹ der Vatnsdœla saga 

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scheiden sie sich für Letzteres, auf dem Weg nach Norwegen kommt Þróttólfr aber zu einer überraschenden Einsicht: ›Eigi skiptir þat hǫgum til, at Húnrøðr, góðr drengr, skal vera félauss orðinn ok hlotit þat mest af okkr, en þræll hans, Skúmr, skal orðinn auðigr sem Njǫrðr.‹211 Sie töten daraufhin Skúmr und schicken sein Vermögen an Húnrøðr. Unter diesen Voraussetzungen kann Þorkell die Parteien versöhnen. Im direkten Anschluss stirbt der Gode, und erhält den wohlwollenden Nachruf des Erzählers, er sei Ingimundr und Þorsteinn am ähnlichsten gewesen, übertreffe sie aber darin, dass er Gott geliebt habe und sich christlich auf seinen Tod vorbereitet habe. Vergleicht man das Ende der Saga mit ihrem Anfang, ist der positive Erzählkommentar auf der Narrationsebene ebenso überraschend, wie es Þróttólfrs Neubewertung seines Gegenspielers innerhalb der Erzählung ist. Während es dem Glücksmenschen Þorsteinn am Anfang gelingt, einen exzeptionellen Räuber zu überwinden, hat es Þorkell krafla am Ende der Saga mit den Diebereien unbedeutender Männer zu tun. Der erste Verbrecher des letzten Kapitels wird nur als maðr (»Mann; Mensch«) bezeichnet, und vage durch seinen Aufenthalt in den Þjófadalir mit dem Motiv Diebstahl in Verbindung gebracht. Ob er tatsächlich für das Verschwinden der Pferde verantwortlich ist, spielt in der Vatnsdœla saga keine Rolle. Entsprechend leicht kann er von einem unbedeutenden Brüderpaar überwunden werden. Einer der Brüder wird danach selbst übergriffig – Skúmr ist als Freigelassener von geringem sozialem Stand ein leichtes Opfer, und erfährt keine Individualisierung, obwohl er zweimal beraubt wird. Der plötzliche Gesinnungswechsel Þróttólfrs wird nur über den gemeinsamen sozialen Stand mit Húnrøðr ansatzweise begründet, sodass auch die beiden Brüderpaare als relativ flache Figuren verbleiben, deren Handeln schlecht nachvollziehbar ist. Die Voraussetzungen, unter denen Þorkell die Kontrahenten versöhnen kann, sind insgesamt unzureichend motiviert und nicht etwa mit seinem Geschick in der Ausübung des Godentums in Verbindung zu bringen. Doch nicht nur innerhalb der erzählten Welt hat sich das Format der Kontrahenten wesentlich verkleinert, auch die Erzähltechnik des letztens Konflikts ist nicht mit der ausgefeilten Figurenzeichnung des Anfangs zu vergleichen. Während Jǫkull und Þorsteinn runde Figuren mit einem innerhalb der Gattung außergewöhnlich stark beleuchteten Innenleben darstellen, wird am Ende der Saga völlig auf die Schilderung von Wahrnehmungsvorgängen oder Perspektivwechsel verzichtet. Insgesamt betrachtet drängt sich in histoire und discours ein Bild des Niedergangs auf: Keines der Verbrechen kann ansatzweise mit dem bezirksweiten Schrecken verglichen werden, den Jǫkull verbreitet, und auch der Protagonist kann nur unter idealen Bedingungen für Ausgleich sorgen, während seine Vorfahren große Taten vollbringen konnten. Sogar die Erzählweise der Episode ist verworren und untermotiviert, verglichen mit dem künstlerisch avancierten Erzählstil der Anfangskapitel. Dieses Gesamtbild kann durch 211 Vtn 47, S. 130; »›Es ist nicht so, wie es sein sollte, wenn Húnrøðr, ein guter Mann, arm geworden sein soll – und das vor allem unseretwegen –, aber sein Sklave Skúmr so reich geworden sein soll wie Njǫrðr.‹«

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

den Erzählerkommentar, Þorkell sei seinen Vorfahren überlegen, da er ein guter Christ sei, kaum ausgeglichen werden. Das Ende der Saga ließe sich nur dann als Beispiel ebenso großer Erzählkunst deuten wie ihr Anfang, wenn man diesen Kontrast als bewusstes Konterkarieren des Erzählerkommentars deuten würde.212

6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub In den Isländersagas gibt es viele Figuren, die so schwach gezeichnet sind, dass man sie kaum als solche bezeichnen möchte. Obwohl von menschlicher Natur, ist ihre ›Handlungsmacht‹ geringer als die so mancher Gegenstände.213 In besonderem Maß trifft dies auf Figuren zu, die im Rahmen eines Menschenraubs zur Beute und damit zum Objekt degradiert werden. Diese Fälle werden in den Isländersagas selten auserzählt, sondern sind nur als implizite Hintergrundgeschichten einiger Sklaven fassbar.214 Handelt es sich nicht um unfrei auf Island Geborene, gehört normalerweise ein Fall von Menschenraub zur Biographie des Sklaven. Rechtlich wurden Sklaven im altisländischen Recht als Eigentum behandelt215  – dieser ontolologische Status zwischen Mensch und Ding scheint in den Erzähltexten eine Darstellung als flache Nebenfigur anzuziehen: Es handelt sich um eine außergewöhnlich stereotyp gehaltene Figurengruppe der Gattung. Daneben gibt es einige geraubte Frauenfiguren, die entweder ebenfalls zu Unfreien werden oder im Rahmen eines Brautraubs enführt werden und anschließend eine sexuelle oder eheliche Beziehung mit ihrem Räuber eingehen oder eingehen müssen. Einen kurzen Einblick in seine Vorgeschichte gewährt im Þorsteins þáttr uxafóts der Sklave Freysteinn, der seinem Herrn sehr nahesteht und schließlich in die Frei212 Für moderne Erzählungen bemerkt Biebuyck 2016, S. 199: »Veränderungen im Erzählstil gehen oft einher mit dem, was auf der Handlungsebene geschieht und was erzählt – oder offenkundig verschwiegen – wird.« Veränderungen im Stil können hier Hinweise auf die (mangelnde) Zuverlässigkeit des Erzählers geben. Zwar darf man den Isländersagas wohl kaum die bewusste Installation eines unzuverlässigen Erzählers unterstellen, möglicherweise könnte dies aber als Reflex einer ambivalenten Haltung des Erzählers verstanden werden. Diese Idee müsste durch eine gattungsübergreifende Analyse der abschließenden Erzählerkommentare und der tatsächlich dargestellten Verhältnisse überprüft werden. Denkbar wäre, dass es sich bei dieser Art von Lob um eine Gattungskonvention handelt, die den Rezipienten zur Evaluation der tatsächlichen Verhältnisse einlädt. Dies könnte sich in den Zeithorizont des Umbruchs und des Niedergangs des isländischen Freistaats einfügen. 213 Vgl. Kap. 4.2. 214 Sklaverei war in den ersten Jahrzehnten nach der Besiedelung Islands verbreitet, verlor aber rasch an Bedeutung. In den Isländersagas werden unfreie Sklaven und freie Knechte begrifflich nicht eindeutig voneinander getrennt. Während der Begriff þræll noch in fast allen Fällen einen Unfreien meint, kann sveinn sowohl einen freien als auch einen unfreien Knecht bezeichnen. Auch das weibliche Gegenstück, ambátt wird allgemein für Mägde verwendet, ohne klaren Bezug zu ihrem juristischen Status. Vgl. Wilde-Stockmeyer 1978, S. 40–47 für eine Übersicht der Begrifflichkeiten. 215 Vgl. Wilde-Stockmeyer 1978, S. 69–71.



6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub 

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heit entlassen wird. Der Wikinger Sokki hatte Freysteinns Vater auf seinem Gehöft verbrannt, den Jungen geraubt und in die Sklaverei verkauft (en tók piltinn ok seldi mansali216). Über den Ablauf des Raubes erfährt man ebenso wenig wie über die Stationen, über die Freysteinn nach Island gelangte. Eine ausführlichere Schilderung des grausamen Verbrechens findet sich im Egils þáttr Síðu-Hallssonar. Während Egill Síðu-Hallsson auf Norwegenreise ist, schließt er sich König Óláfr an, der gerade im Reich von König Knútr Angst und Schrecken verbreitet. Dabei machen sie reiche Beute und erhalten den Befehl, alle Männer, die älter als 15 Winter sind, zu verschleppen und zu den Schiffen zu bringen. An Bord hört Egill die kläglichen Geräusche der Gefangenen: ›Eigi má ek þetta bera,‹ segir Egill, ›miklu er fólk þetta aumara; vil ek eigi heyra læti þessi lengr;‹ – sprettr upp síðan ok ferr til tjaldsins ok leysir bandingjana alla ok lætr á brott hlaupa, ok eru þeir senn ór augsýn.217

Nur an dieser Stelle wird die dem Menschenraub inhärente Grausamkeit greifbar, die hier den Protagonisten dazu bewegt, sich gegen den Willen des Königs aufzulehnen. Trotzdem sind die Sklaven hier bestenfalls als Charaktanten zu verstehen – weder erfahren sie eine Individualisierung, noch werden ihnen Eigenschaften zugeschrieben, die über das Schreien und Laufen hinausreichen. Etwas mehr erfährt man über Ketills Sklaven in der Egils saga. Diese wurden von ihm aus Irland entführt und ergreifen die Flucht, während ihr Herr nach einer Wohnstätte sucht. Zufällig gelangen sie an den Hof des soeben zum ersten Mal erwähnten Þórðr Lambason, und brennen diesen mit all seinen Bewohnern nieder. Danach plündern sie das Vorratshaus und nehmen alle Waren und Pferde mit sich. Als Þórðrs Sohn Lambi nach Hause kommt und die Flammen sieht, reitet er den Sklaven nach, die sofort fliehen und ihre Beute zurücklassen. Nachträglich bekommen die Sklaven Namen, nach denen die angrenzenden Orte benannt seien: [Þ]á sóttu þeir Lambi eptir þeim ok drápu þar þann, er Kóri hét, – því heitir þar síðan Kóranes –, en Skorri ok Þormóðr ok Svartr gengu á kaf ok summu frá landi. Síðan leituðu þeir Lambi at skipum ok reru at leita þeira, ok fundu þeir Skorra í Skorraey ok drápu hann þar; þá reru þeir út til Þormóðs­ skers ok drápu þar Þormóð; er við hann skerit kennt.218

216 ÞUxaf 6, S. 355; »und nahm den Jungen und verkaufte ihn in die Sklaverei«. 217 EgSH 2, S. 378; »›Das kann ich nicht ertragen,‹ sagt Egill, ›diese Leute sind schrecklich beklagenswert; solche Laute will ich nicht länger hören;‹ – er springt sogleich auf und geht zum Vorhang und befreit alle Gefangenen und lässt sie davonlaufen, und sie waren bald außer Sichtweite.« 218 Eg 77, S. 241; »Lambi und seine Männer verfolgten sie und erschlugen dort den, der Kóri hieß, – deshalb heißt die Stelle seither Kóranes –, doch Skorri und Þormóðr und Svartr gingen ins Wasser und schwammen vom Land weg. Da suchten sich Lambi und seine Männer Boote und ruderten aus, um sie zu verfolgen, und sie fanden Skorri auf Skorraey und töteten ihn dort; dann ruderten sie hinaus zur Þormóðssker und töteten dort Þormóðr, nach dem die Schäre benannt ist.«

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Diese Figuren dienen immerhin ihrem früheren Herrn Ketill und ihrem Totschläger Lambi als Charaktanten, indem sie den einen als schlechten Dienstherrn, den anderen als entschlossenen Verfolger kennzeichnen. Ihre Flucht und das Zurücklassen des Diebesgutes zeichnet sie zudem als feige, was dem Typus des Sklaven in Isländersagas entspricht.219 Die Namen der Sklaven sind jedoch vermutlich kein Hinweis auf rundere Figuren. Stattdessen sollten sie im Zusammenhang der Vorliebe der Isländersagas verstanden werden, die Entstehung von Ortsnamen durch Erzählungen zu erklären.220 Eine namenlose Gruppe unbekannter Größe stellen die Sklaven in der Flóamanna saga dar, die ebenfalls aus eigenem Antrieb handeln und mit dem Protagonisten interagieren. Sie können damit immerhin als ›Figuren‹ im Sinne von ›Handlungsträgern‹ bezeichnet werden. Zusammen mit seiner Mannschaft und seiner Ehefrau Þórey erleidet Þorgils Schiffbruch in Grönland. Þorgils möchte eines Tages aufbrechen, um nach einem Ausweg zu suchen. Alle Mitglieder seiner Expedition wollen ihn unbedingt begleiten, und seine Frau plagen böse Vorahnungen. Trotzdem lässt Þorgils sie und ihr neugeborenes Kind widerwillig mit den Sklaven allein – obwohl er ihnen schon zu diesem Zeitpunkt misstraut (en kvaðst eigi vel trúa þrælunum).221 Als er zurückkommt, sind alle Kisten, alle Männer und das Boot fort. Þorgils ahnt, dass etwas Schlimmes passiert ist. Im Haus findet er seinen kleinen Sohn an der Brust seiner toten Mutter saugend vor, und entdeckt eine kleine Wunde an seiner Frau, als sei sie erstochen worden. Þessa sýn hafði svá sét, at honum þótti mestr harmr í vera.222 Er stellt fest, dass auch alle Lebensmittel gestohlen wurden, sodass Þorgils seine eigenen Brustwarzen aufschneidet, um sein Kind zu stillen.223 Die Sklaven der Flóamanna saga bringen zwar tragische Ereignisse in Gang, bleiben aber trotzdem sehr flach in ihrer Darstellung. Ihr einziges Merkmal ist ihr Status als Unfreie, weder wird von ihrer ethnischen Herkunft berichtet noch ein Zusammenhang zu anderen Verbrechen hergestellt. Es ist

219 Vgl. Kap. 2.1. 220 Vgl. Egeler 2018, S. 81 sowie S. 89 zu aus Ortsnamen entwickelten Narrativen in Isländersagas. 221 Flóa 23, S. 287; »doch sagte er, er vertraue seinen Sklaven nicht.« 222 Flóa 23, S. 287; »Dieser Anblick schien ihm der größte Schmerz in seinem Leben zu sein.« 223 Es heißt, zuerst komme Blut, dann ein Gemisch aus Blut und Milch, doch schließlich sei Milch aus der Brust des Vaters geflossen, die das Kind am Leben gehalten habe. Zum Phänomen des stillenden Mannes siehe Bilstein 2016, S.  98–109. Aus medizinischer Sicht vgl. Tönz 2000, zur Motivverwendung in der Saga Bliksrud 2008, mögliche Quellen diskutiert Perkins 1972, S. 319–325. Wenn auch das gewaltvolle Aufschneiden der Brustwarzen in der Saga darauf hindeutet, dass das Phänomen nur im Ansatz bekannt war, zeigt die Art der literarischen Verarbeitung in der Flóamanna saga doch, wie die Erzählkunst der Isländersagas mit wenigen Worten große Emotionen transportieren und verarbeiten kann. Es bleibt nicht bei der einmaligen Schilderung des wunderlichen Vorgangs. Später heißt es, man habe eine Amme für das Kind gefunden, und doch wolle es nicht trinken, da die Milch nicht dunkel sei wie die des Vaters (Flóa 24). Als der inzwischen fast erwachsene Sohn stirbt, fällt Þorgils in tiefen Kummer und sagt ungewöhnlich einfühlsam, ›mundu várkynna konunum, þótt þær ynni brjóstbörnunum meira en öðrum mönnum‹ (Flóa 29, S. 312; »›man muss es den Frauen nachsehen, wenn sie ihre Stillkinder mehr lieben, als andere Menschen‹«).



6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub 

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unklar, ob sie selbst geraubt wurden oder ihre Vorfahren. Hier emanzipieren sich die ›Gestohlenen‹ zu Dieben – sie werden vom Objekt zum Subjekt des Stehlens. Einen Diebstahl begehen auch die Sklaven der Eyrbyggja saga, dies allerdings nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag ihres Herren. Þórólfr bægifótr, einer der berühmtesten Schurken der Isländersagas, wird mit zunehmendem Alter immer schwieriger und gewalttätiger.224 Er holt sich Rat beim Bauern Úlfar, wann er sein Heu einholen sollte, und lässt seine Sklaven daraufhin auch auf der gemeinsam bewirtschafteten Wiese das Heu einholen. In Þórólfrs Auftrag bringen die Sklaven auch Úlfars Heu in Þórólfrs Scheune. Dieser konfrontiert seinen Nachbarn umgehend, wieso er ihn beraube. Þórólfrs Sohn Arnkell versucht, den Konflikt zu schlichten und entlohnt Úlfar sogar. Als sein Vater uneinsichtig bleibt, holt sich Arnkell sieben Ochsen zur Entschädigung, worauf Þórólfr schwört, Úlfar werde teuer für diesen Ärger bezahlen (Eyr 30). Im Anschluss macht Þórólfr seine Sklaven betrunken und stachelt sie an, an Úlfar einen Mordbrand zu verüben. Arnkell kann das Feuer rechtzeitig löschen, lässt die Sklaven aber kollektiv hängen. Der Konflikt erreicht darauf die höchste Ebene der sozialen wie narrativen Hierarchie der Eyrbyggja saga,225 indem Þórólfr beim Goden Snorri vorspricht, und dieser die Sache vor Gericht für ihn übernimmt. Arnkell muss sich Snorri geschlagen geben und zahlt eine relativ geringe Buße für die Knechte; unðu þeir Arnkell ok Snorri illa við þessa málalykðir, en Þórólfr verst.226 Aus Angst vor weiteren Konsequenzen übergibt Úlfar seinen Besitz an Arnkell und stellt sich unter dessen Schutz.227 Þórólfrs Sklaven fungieren hier als Werkzeug ihres Herren und sind so schwach gezeichnet, dass sie kaum als Figuren wahrnehmbar sind. Sie tragen keine Namen und stellen ein gesichtsloses Kollektiv dar, dessen Größe nie genannt wird. Ihre Stellung in der Narration entspricht ihrem rechtlichen Status: Obwohl die Höchsstrafe für Diebstahl Gesetzlosigkeit darstellt und im altisländischen Recht keine Todesstrafe vorgesehen ist, werden die Sklaven ohne Umschweife von Arnkell gehängt. Auf der Handlungsebene sind sie Eigentum, kaum ›Personen‹ – auf der Narrationsebene sind sie kaum ›Figuren‹.

224 Den größten Schaden richtet Þórólfr allerdings nach seinem Tod an, indem er zu einem gefürchteten Wiedergänger wird, vgl. Böldl 2005, S. 117–124. 225 Zu sozialen und narrativen Hierarchien siehe ausführlich Kap. 7. 226 Eyr 31, S. 87; »Arnkell und Snorri erschien das Ergebnis der Sache schlecht, aber Þórólfr noch viel schlechter.« Während Þórólfr bald darauf stirbt, rückt der Konflikt zwischen Snorri und Arnkell ins Zentrum der Saga. Auch dieser enthält einen Streit um eine Wiese, die Þórólfr an Snorri übertragen hatte, und die Arnkell nach dem Tod seines Vaters für sich reklamiert. 227 Die Eigentumsstreitigkeiten sind damit nicht abgeschlossen. Der Vorgang gefällt den Þorbrandssöhnen nicht, da Úlfar ihr Freigelassener war und sie denken, sein Besitz müsse nach seinem Tod an sie zurückfallen (Eyr 31). Dieser Konflikt wird stellvertretend ausgetragen, als Úlfars Bruder stirbt und Arnkell den Þorbrandssöhnen dessen Erbe streitig machen will, da er es als Úlfars Muttererbe ansieht. Arnkells Sieg währt für Úlfar nur kurz, da nun Þórólfr Úlfar töten lässt und den Þorbrandssöhnen ausrichten lässt, sie sollten sich ihr Erbe nun nicht erneut nehmen lassen. Arnkell gelingt es aber, Úlfars Tod zu rächen und dessen Besitz an sich zu bringen (Eyr 32).

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Obwohl die Gattung einige außergewöhnliche und runde Frauen kennt, könnte man bei vielen weiblichen Figuren die Frage stellen, ob sie als ›Subjekt‹ oder ›Objekt‹ konzipiert sind. In Fällen von Frauenraub werden sie eindeutig zur Beute der handelnden männlichen Figuren. Der Frauenraub stellt sich in den Isländersagas als Sonderfall des Menschenraubs dar, der als Motiv wesentlich ausführlicher ausgestaltet ist.228 Es tritt in den Isländersagas in zwei Ausprägungen auf. Zum einen gibt es Frauenfiguren, die als Sklavinnen oder Mägde auftreten, und erst später ihre vornehme Herkunft offenbaren. Die genauen Umstände ihrer Entführung werden nicht auserzählt, wodurch der Raubaspekt hier im Hintergrund bleibt. Das bekannteste Beispiel für diesen Typus stellt die Sklavin Melkorka aus der Laxdœla saga dar. Hǫskuldr erwirbt sie auf einem Markt, und erst einige Jahre später erweist sie sich als irische Königstochter. Bei ihrer Figureneinführung wird Melkorka von einem Händler namens Gilli inn gerski an Hǫskuldr verkauft. Ihr Besitzer hält sie für stumm, möchte sich aber trotzdem ungern von ihr trennen und verkauft sie nur für den dreifachen Preis einer Sklavin. Hǫskuldr verbringt die Nacht mit ihr und kleidet sie am nächsten Morgen in edle Gewänder, die ihr ausgesprochen gut stehen (Lax 12). Dies deutet ihre hohe Geburt ebenso an wie das außerordentlich schöne und vielversprechende Kind, das sie wenig später mit Hǫskuldr bekommt. Als ihr Sohn zwei Jahre alt ist, hört Hǫskuldr seine vermeintlich stumme Sklavin mit ihrem Kind sprechen, worauf er sie nach ihrem Namen fragt. Sie stellt sich nun als Melkorka, Tochter des Irenkönigs Myrkjartan, vor. Man habe sie geraubt, als sie 15 Jahre alt war (Lax 13). Diese Geschichte bewahrheitet sich, als sie ihren erwachsenen Sohn Óláfr mit einigen Erkennungszeichen ausstattet und ihn auf die Reise zu seinem Großvater schickt (Lax 20). Parallel zur Entfaltung ihrer Hintergrundgeschichte wird Melkorka als Figur zunehmend runder dargestellt, erhält einige Charakteristika und mehrere Szenen wörtlicher Rede. Ähnlich vornehmer Herkunft ist Arneiðr in der Droplaugarsona saga, deren Entführung ausführlicher geschildert wird. Zu Beginn der Erzählung kommt Ketill nach Jämtland zu Véþormr, mit dem er schnell Freundschaft schließt. Zwei fremde Frauen sind bei ihm, die verschiedene Arbeiten für ihn verrichten. Die jüngere der beiden weint häufig, sodass Ketill sie anspricht und nach ihrer Familie fragt. Im Gespräch stellt sich heraus, dass die Frau Arneiðr heißt und ihr Vater Jarl über die Hebriden war. Véþormr kam auf einem großen Wikingerzug dorthin und verbrannte den Hof

228 Hier wird der Frauenraub als literarisches Motiv betrachtet. Im engeren juristischen Wortsinn bezeichnet man nur solche Taten als ›Frauenraub‹, die innerhalb der eigenen sozialen Gruppe geschehen und eine längerfristige Verbindung oder eine Ehe nach sich ziehen. Als »[e]xogamen Frauenraub« bezeichnet man dagegen Entführungen, die zur Beschaffung von Sklaven durchgeführt werden, und deren sexuelle Komponente optional ist (vgl. Saar u. Strauch 2003, S. 161). Zur rechtlichen Situation auf Island siehe Saar u. Strauch 2003, S. 168: Alle Beteiligten konnten nach den Bestimmungen der Grágás mit der milden Acht belegt werden, wenn die Entführung mit dem Willen der Frau geschah. Wurde eine Frau gegen ihren Willen geraubt, droht dem Räuber Gesetzlosigkeit.



6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub 

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ihres Vaters mit allen Männern darin. Die Frauen wurden nach draußen geführt: ›[O]k síðan fluttu þeir okkr móður mína higat, er Sigríðr heitir, en seldu aðrar konur allar mansali.‹229 Am gleichen Abend kauft Ketill Arneiðr und sorgt dafür, dass sie danach nicht mehr arbeiten muss. Etwas später finden Ketill und Arneiðr Kisten voller Gold. Er bietet der jungen Frau an, sie zusammen mit dem Gold zu ihrer Familie zu bringen, sie möchte aber in Zukunft bei ihm bleiben (Drop 1). Die beiden heiraten und gründen eine Familie auf Island (Drop 2). Arneiðr lebt zum Zeitpunkt ihrer Figureneinführung noch bei ihrem Entführer, während Melkorka mindestens eine weitere Station hinter sich hat, da sie im Zelt eines Sklavenhändlers sitzt. 230 Beide können den Status als Beute hinter sich lassen und werden im Laufe der Erzählung zu rund gestalteten Frauenfiguren, die als Mütter bedeutender Nachkommen in das Zentrum der dargestellten Gesellschaft rücken. Bei Arneiðr wird ihre Subjektwerdung und neue Handlungsmacht stark herausgestellt, indem sie die Entscheidung selbst trifft, mit Ketill leben zu wollen. Daneben gibt es mehrere Episoden, in denen vom Raub einer Frau ›aus gutem Hause‹ berichtet wird, die gegen den Willen ihres Vormundes von einem jungen Mann entführt wird.231 Dabei gibt es sowohl Fälle, bei denen die Frau aus freien Stücken mit dem jungen Mann geht als auch solche, bei denen sie gegen ihren Willen entführt wird.232 In jedem Fall handelt es sich um eine Ehrkränkung für die Familie der Frau, da durch die Entführung nicht nur ihre persönliche Ehre angegriffen wird, sondern die ihrer Familie.233 Beispielsweise in der Kjalnesinga saga wird die schöne Ólof von drei Männern umgarnt, die sie ständig besuchen und auf drei Stühlen um sie herumsitzen. Eines Tages fasst sich der Protagonist der Saga, Búi Andríðarson, ein Herz und nimmt sie mit sich. Dem Paar ist bewusst, dass es gegen den Willen des Vaters der jungen Frau handelt – Ólof selbst geht aber bereitwillig mit Búi und zieht zu ihm und seiner zauberkundigen Ziehmutter in eine Höhle, wo sie eine gemeinsame Tochter bekommen (Kjal 9). Diese wird von der Ziehmutter erzogen, da Ólof zu ihrem Vater zurückkehrt. Während Búi auf einer Auslandsreise ist, wird auf Island fälschlicherweise von seinem Tod berichtet. Kolfiðr, der sich ebenfalls um Ólof bemüht hatte, will sich diese

229 Drop 1, S. 138; »›und dann brachten sie uns hierher, mich und meine Mutter, die Sigríðr heißt. Doch die anderen Frauen wurden alle in die Sklaverei verkauft.‹« 230 Vgl. auch Ebel 1993, S. 72–73, die die beiden Episoden ebenfalls als Parallelen bespricht. 231 Dies geschieht auch in der Egils saga, die hier nicht weiter besprochen wird, da die Entführung der Frau den Auftakt zu langen Erbstreitigkeiten bildet, die ausführlich in Kap. 8.2 behandelt werden. 232 Ebel zieht zur Erklärung die Entstehungszeit der Sagas heran: »Die Wikingerzeit war beendet, seit Mitte des 11. Jahrhunderts gibt es Sklaven dieser Art nicht mehr. Das Raub-Motiv ändert sich nun zum Entführungs-Motiv, […].« Ebel 1993, S. 73 (Hervorhebungen im Original). Das Entführungsmotiv beschränkt sich allerdings nicht auf späte Isländersagas. Auch in der Færeyinga saga, die gemeinhin zur ältesten Schicht der Gattung gerechnet wird, wird ein Entführungsmotiv verarbeitet und mit der Outlaw-Thematik verbunden. Þorkell Þurrafrost lebt hier mit Ragnhildr im Wald, die er gegen den Willen ihres Vaters entführte (Fær 15, vgl. Schmidt 2018b, S. 519–536). 233 Vgl. Ebel 1993, S. 77.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Gelegenheit nicht entgehen lassen ok tók þaðan á brutt Ólofu ina vænu nauðga ok at óvilja föður hennar.234 Es gelingt Búi – der inzwischen im Ausland mit der Tochter des sagenhaften Königs vom Dovrefjell einen Sohn gezeugt hat – zwar, Ólof zu befreien, doch möchte er sie nicht mehr haben, ›síðan Kolfiðr hefir spillt henni.‹235 Búi, der Ólof selbst gegen den Willen ihres Vaters entführt und ein uneheliches Kind mit ihr gezeugt hat, sieht den zweiten Frauenraub und die daraus resultierende Beziehung mit Kolfiðr nun als Hindernis, erneut mit der Mutter seiner Tochter zusammenzuleben. Ólofs Ehre hat offenbar gelitten, selbst in den Augen eines Frauenräubers. Die umgekehrte Situation findet sich in der Kormáks saga. Die schöne Steingerðr wird hier nicht nur von mehreren Protagonisten begehrt, sondern erlebt auch zwei Entführungsversuche. Zuerst werden Steingerðr und ihr Ehemann Þorvaldr auf einer Schiffsreise von Wikingern überfallen, die Steingerðr rauben wollen. Der sie begehrende Skalde Kormákr kann sie aber retten und bringt sie sicher an den Königshof zurück (Kor 24). Etwas später nimmt Þorvaldr seine Frau erneut mit auf die gefährliche Route. Kormákr fährt den beiden nach und findet Þorvaldrs Schiff geplündert vor; þeir váru ræntir fé ǫllu, en Steingerðr brott tekin af víkingum.236 Es gelingt Kormákr, Steingerðr zu befreien. Nach dieser erneuten Rettung fordert sogar Steingerðrs Ehemann seine Frau auf, nun endlich mit Kormákr zu gehen, der sie so mutig befreit habe. Steingerðr erklärt aber, sie wolle nicht kaupa um knífa.237 Ob Steingerðr hier um ihre Ehre besorgt ist, oder aus anderen Gründen nicht mit Kormákr leben möchte, bleibt ebenso unerzählt, wie viele andere Emotionen der Gattung. Im Gegensatz zur auffällig passiv konzipierten Figur Ólof wird Steingerðr ein starker eigener Wille zugeschrieben, der in ihrer finalen Entscheidung, nicht mit Kormákr gehen zu wollen, gipfelt und sie als aktives Subjekt der Episode zeichnet. Im Zentrum der Víglundar saga ok Ketilríðar steht die unglückliche Liebe der beiden Titelhelden, deren Glück insbesondere durch Ketilríðrs Familie verhindert wird. Dieses Thema wird zuerst in Norwegen anhand der jungen Ólof geisli (»Sonnenstrahl«) durchgespielt, die später Víglundrs Mutter sein wird und in jungen Jahren in Þorgrímr verliebt ist. Die Saga verweist besonders häufig auf die öffentliche Meinung, Gerüchte und Mutmaßungen, was bei beiden jungen Paaren mehrfach eingesetzt wird. Zuerst munkeln nökkurir menn,238 dass Þorgrímr und Ólof sich einander versprochen hätten. Wie viele Bräutigame der Isländersagas geht Þorgrímr trotzdem für eine Weile auf einen Wikingerzug und verdient sich den Sommer über Ruhm und Ansehen, während seine Verlobte von ihrem Vater anderweitig vermählt wird. Als

234 Kjal 16, S.  38; »und nahm von dort Ólof die Hübsche mit Zwang fort, gegen den Willen ihres Vaters.« 235 Kjal 16, S. 40; »›weil Kolfiðr sie verdorben hat.‹« 236 Kor 26, S. 296; »sie waren ihres ganzen Vermögens beraubt worden, und Steingerðr war von den Wikingern entführt worden.« 237 Kor 26, S. 297; »die Messer austauschen.« 238 VíKet 6, S. 71; »manche Leute«.



6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub 

 215

Þorgrímr davon erfährt, reist er sofort zum Hochzeitsfest und konfrontiert Ólofs Ehemann damit, dass die Braut sich bereits ihm versprochen habe, und er sie daher als seine Frau ansehe.239 Nach dem wütenden Wortgefecht der beiden Männer kommt es zu einer Episode, deren Erzähltechnik innerhalb der Isländersagas bemerkenswert ist: Es erlöschen plötzlich alle Fackeln in der Halle, sodass ein lautes Durcheinander herrscht. Als es wieder hell wird, ist Þorgrímr ebenso verschwunden wie die Braut. Þóttust nú allir vita, at hann mundi þessu valda; var þat ok satt, at Þorgrímr hafði tekit brúðina ok bar hana til skips.240 Für diese Tat wird Þorgrímr vom König geächtet. Þorgrímr und Ólof heiraten und bekommen Kinder. Schon in seiner Kindheit verliebt sich ihr Sohn Víglundr in die schöne Ketilríðr, die Ólof zur Erziehung anvertraut wurde. Víglundr möchte sich mit Ketilríðr verloben, sie antwortet aber immer ausweichend, sie könne nicht ohne ihre Eltern entscheiden. Trotzdem erzählen sich die Leute auch über dieses junge Paar, sie hätten einander die Ehe versprochen (VíKet 7). Viele Jahre später treffen die Kinder des zuvor verschmähten Ketills in Norwegen auf Þorgrímrs Söhne und lösen die mit dem Brautraub verbundenen Schwierigkeiten auf. Ihre Schlichtungsvereinbarung besagt, dass Ólof rechtmäßig mit Þorgrímr verheiratet bleiben soll, Ketill aber das Anrecht auf das Erbe ihres Vaters erhält. Gleich zwei Ehen besiegeln den Frieden, Þorgrímrs Sohn heiratet eine Tochter Ketills, Ketills Sohn heiratet Þorgrímrs Tochter. Die drei folgenden Jahre verbringen alle jungen Männer gemeinsam auf Raubzügen (VíKet 19). Zuhause auf Island führt Ketilríðrs Vater derweil eine konspirative Unterhaltung mit Þorgrímr, Víglundrs Vater – ok vissi engi maðr tal þeira.241 Direkt darauf wird Ketilríðr mit einem gewissen Þórðr verheiratet, ohne je die Ehe mit ihm zu vollziehen. Als die jungen Männer von ihrem Wikingerzug zurückkommen, trifft Víglundr seine Geliebte auf dem Hof ihres Ehemannes an, was Víglundr in tiefe Trauer stürzt, die ihn beinahe dazu bringt, ihren betagten Ehemann im Bett zu töten (VíKet 22). Stattdessen hadert er in Versform mit seinem Schicksal: Vilda ek verða aldri, víglundr, at því fundinn at vera svá tamr við tróðu, at taka ek manns konu annars; nema at mér í myrkri manligr kæmi svanni, þat tek ek undan eiði, enn at ek þreifi [til] hennar.242

Schlachtbaum will nie schuldig werden, mit Schöner so vertraut zu sein, eines anderen Mannes Mädchen unmannhaft zu rauben. Käme aber Schlanke im Schutz der schwarzen Nacht zu mir, will ich lieber keine Eide leisten, die Liebste nicht zu ergreifen.

239 Zur Rechtmäßigkeit der Vorgänge und der verwendeten Terminologie vgl. Ebel 1993, S. 76. 240 VíKet 6, S. 73; »Nun glaubten alle zu wissen, dass er dahintersteckte; und es war auch wahr, dass Þorgrímr die Braut mitgenommen hatte und sie zum Schiff gebracht hatte.« 241 VíKet 20, S. 103; »und kein Mensch wusste, worüber sie gesprochen hatten.« Zu solchen Floskeln und der öffentlichen Meinung in Isländersagas siehe Kap. 4.1. 242 VíKet 22, S. 112–113; Übersetzung von Thomas Esser (Übers.) 2011, S. 242–243.

216 

 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

Víglundr lehnt hier den Frauenraub als Option ab, obwohl seine eigenen Eltern auf diese Weise zueinanderfanden. Wenig später stellt sich heraus, dass dies auch nicht nötig gewesen wäre, da Ketilríðrs Vater sie nur zum Schein mit ihrem alten Ehemann verheiratet hatte, um sie auf dessen Hof für Víglundr zu bewahren (VíKet 23). In dieser Saga wird zuerst vorgeführt, welche rechtlichen Konsequenzen eine Brautentführung nach sich zieht, in diesem Fall eine Ächtung und anschließende Erbschwierigkeiten. Ein Ehrverlust der Familie wird nicht thematisiert, erst später hat Víglundr moralische Bedenken, die Tat seines Vaters zu wiederholen. Der zweite Brautvater wird zum Helfer des jungen Verliebten und ersinnt eine Möglichkeit, die Ehre seiner Tochter zu wahren und sie für Víglundr aufzusparen. Ketilríðr bleibt als Figur blass, alle Entscheidungen werden durchgängig für sie und über ihren Kopf hinweg getroffen. Víglundrs Sorge gilt dementsprechend auch weniger Ketilríðrs Ehre oder Selbstbestimmtheit, als seiner eigenen Außenwirkung. Noch weiter als Ólof und Ketilríðr rücken die Frauenfiguren in den Hintergrund, die in der Reykdœla saga, der Ljósvetninga saga und der Hávarðar saga Ísfirðings geraubt werden. Sie dienen ebenso als Konfliktauslöser wie Schafe, Pferde oder Rinder in den vielen Fällen von Viehdiebstahl. Ihre Handlungsmacht ist damit sogar noch geringer als die der zuvor beschriebenen Sklaven, sie sind funktionsgleich zu Tieren. In der Reykdœla saga entschließt sich Narfi, ein Verwandter des Protagonisten Vémundr, zu heiraten, und wählt sich Þóra zur Braut. Beide Männer wissen, dass diese bereits mit Helgi verlobt ist, halten aber trotzdem an ihrem Plan fest. Hilfe erhofft sich Vémundr von einer zauberkundigen Frau namens Ísgerðr. Doch ist zu Þóras Hochzeit mit Steinfinnr eine weitere magiebegabte Figur geladen. Die Braut sitzt an ihrem Hochzeitstag mit einigen Frauen zusammen, als ein Knecht zu ihr tritt, um sie abzuholen. Als sie aus dem Haus kommen, überfällt sie eine so große Finsternis, dass sie nichts mehr sehen können.243 Der Knecht bekommt einen Schlag zwischen die Schultern und das Mädchen wird davongeweht (bylr mikill kom at henni).244 Der Wind trägt das Mädchen zu den Schiffsschuppen, wo Vémundr und seine Gefährten bereits lauern. Plötzlich hören sie eine laute Stimme, die ihnen aufträgt, die Braut zu ergreifen, wenn es ihnen wirklich bedeutsam erscheine. Vémundr packt sich das Mädchen, zieht es auf sein Pferd und reitet mit ihr fort, bis sie zu einem Gehöft kommen. Dort bleiben sie stecken, was Steinnfinnrs Gegenzauber zugesprochen wird. Auf der Hochzeitsfeier wird sogleich vermutet, Vémundr stecke hinter der Zauberei. Steinfinnr bietet seine Hilfe an und offenbart ihnen, Ísgerðr sei gekommen, habe die Zauberei bewirkt und dem Knecht zwischen die Schultern geschlagen. Sie reiten los und treffen auf Vémundr, nun kommt es zum Kampf. Vémundrs Gruppe kann besiegt werden, wodurch die Braut gerettet wird und schließlich doch noch Hochzeit mit Helgi feiern kann. In einem Vergleich werden schließlich die Toten gegeneinander 243 Die Kombination des Frauenraubes mit plötzlich einsetzender Finsternis stellt eine Parallele zur Víglundar saga ok Ketilríðar dar. 244 Reyk 14, S. 192; »ein mächtiger Windstoß erfasste sie«.



6.4 Geraubte Figuren: Menschen- und Frauenraub 

 217

aufgewogen, der Brautraub wird mit der Tötung des Werbers Narfi aufgerechnet. Der Brautraub ist nur eines von vielen Vergehen, an denen Vémundr beteiligt ist. Hier rückt die Frage nach der Ehre der Brautfamilie in den Hintergrund, der Frauenraub stellt eine zusätzliche Ausgestaltung der in der Reykdœla saga häufig eingesetzten Diebstahls- und Raubthematik dar.245 Þóra nimmt im Konfliktschema den gleichen Platz ein, den ansonsten Vieh oder Holz innehat und wird ebenso wenig charakterisiert wie Dinge oder Tiere. In der Ljósvetninga saga kann ein Frauenraub gerade noch verhindert werden. Die Brüder Sǫlmundr und Sǫxólfr sind beide ójafnaðarmenn246 und dafür bekannt, Frauen zu belästigen. Sǫlmundr findet Gefallen an der Tochter eines benachbarten Bauern und besucht sie mehrfach, was dem Bauern übel gefällt. Er kann es allein nicht verhindern und bittet daher den mächtigen Ófeigr um Hilfe. Dieser schafft es, die Frau noch rechtzeitig aus den Fängen der Brüder zu befreien und kann sie einschüchtern, weshalb sie die Besuche einstellen.247 Während in der Ljósvetninga saga eine mächtige Figur benötigt wird, um einem Frauenraub Einhalt zu gebieten, geht die Bedrohung in der Hávarðar saga Ísfirðings von einem Goden aus. Þorbjǫrn ist zwar von vornehmer Herkunft, aber in jeder Beziehung ein übler Geselle, was sich durch verschiedene Motivvariationen von Diebstahl und Raub zeigt.248 Gleich zu Beginn der Saga heißt es über ihn, er entführe den Leuten ihre Töchter und Nichten und behalte diese eine Weile bei sich, bevor er sie wieder nach Hause schicke. Zur Zeit sei Sigríðr, eine Frau von guter Abstammung, gegen den Willen ihrer Familie bei ihm (Háva 1). Hávarðrs Sohn Óláfr stattet dieser Sigríðr einige Besuche ab, sodass ihnen ein Verhältnis nachgesagt wird. Der Zorn über diese Besuche reiht sich in einige andere Streitigkeiten ein, die Þorbjǫrn mit Hávarðr und seiner Familie austrägt (Háva 2). Nach einer Weile gelingt es, Sigríðr aus Þorbjǫrns Haus zu einem Verwandten zu bringen. Óláfr wird etwas später von Þorbjǫrn getötet. Als dieser sich nach dem Totschlag nach Sigríðr erkundigt, heißt es, sie sei am Morgen mit Ólafr fortgegangen und ward nie wieder gesehen (Háva 4). Sowohl diese Angelegenheit als auch die generelle Aussage, Þorbjǫrn entführe den vornehmen Bauern ihre Töchter, erhalten innerhalb der Saga überraschend wenig Aufmerksamkeit. Sie bilden lediglich den Auftakt zu vielen weiteren üblen Taten Þorbjǫrns und zeigen, wie wenig Þorbjǫrn den Besitz und die Familie seiner Nachbarn achtet. Ein sich stetig 245 Vgl. Kap. 5.2.1. 246 Ljós 1, S. 4; »Unruhestifter«, vgl. Kap. 6. 247 Bei der Figurenzeichnung Sǫlmundrs werden mehrfach Eigentumsdelikte eingesetzt. Direkt auf den versuchten Frauenraub folgt eine Auseinandersetzung mit einem norwegischen Kaufmann, bei der Sǫlmundr die Ware nicht bezahlen will. Er wird deshalb geächtet und geht mit seinem Bruder auf Raubzüge (Ljós 1). Schließlich kommt er früher als verabredet nach Island zurück und wird von zwei mächtigen Goden geschützt, was der zentralen Person der Saga, Guðmundr inn ríki, die Feindschaft zweier junger Männer einbringt (Ljós 3–4). 248 Vgl. Kap. 7.2.3 für einen Fall von Walraub und Kap. 5.2.3, in dem der von ihm ausgesprochene Diebstahlsvorwurf untersucht wird.

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 6 Figur und Typus: Diebe, Räuber, Wegelagerer

wiederholender Frauenraub innerhalb der höheren Schicht der Sagagesellschaft könnte – oder müsste – eine wesentlich höhere Sprengkraft innerhalb des sozialen Gefüges entfalten. Das Motiv wird in dieser Saga aber nur aufgerufen, und nicht ausgestaltet.249 In beiden Sagas bleiben einige der geraubten Frauen sogar namenlos, die Episoden könnte genauso gut wiederholte Schafdiebstähle zum Zentrum haben und treten auch als Motivvariation im Umfeld anderer Eigentumsdelikte auf.250 An das Motiv des Frauenraubes grenzt das Motiv der erzwungenen Herausgabe einer Frau an, das in den Isländersagas häufiger vorkommt. Berserker oder andere Übeltäter kommen hier an den Hof eines Bauern und wollen sich mit ihm oder einem Stellvertreter duellieren. Als Preis wird oft eine junge Frau gefordert, meist die Frau oder Tochter des Bauern.251 Die Motive sind nicht klar voneinander abzugrenzen,252 und dienen in erster Linie der Charakterisierung des männlichen Protagonisten. Dieser kann hier eine Kraftprobe bestehen indem er entweder selbst eine Frau raubt oder eine weibliche Figur befreit, wodurch die Entführungsepisode zur Brauterwerbsepisode wird. Die Frauenfiguren dieser Episoden funktionieren als Beute und erfahren wenig Individualisierung. Alternativ zu Frauen kann vor solchen Duellen auch Landbesitz oder Vermögen jeder Art gefordert werden, was erneut zeigt, dass Natur oder ontologischer Status der Beute im Motiv variieren können und die Frauen nicht als Figuren im Sinne von Handlungsträgern angelegt sind.

249 Auch in der Njáls saga wird ein Frauenraub nie auserzählt und dient nur zur Charakterisierung eines üblen Schurken. Torfi, bei dem der Unruhestifter Hrappr nach vielen Verbrechen unterschlüpft, lässt seinen Gast wissen: ›[E]k nam konu þessa, er hér er hjá mér, ok hefr margr maðr eptir mér leitat‹ (Nj 87, S. 213; »›Ich raubte diese Frau, die hier bei mir ist, und viele Männer haben versucht, mich zu fassen‹«). 250 Eine weitere Motivvariation findet sich in der Bárðar saga Snæfellsáss und der Fljótsdœla saga. Beide Fälle dienen zur Erprobung des Helden, es handelt sich um ›märchenhafte‹ Abenteuer ähnlich dem Motiv der geraubten Prinzessin (zur Motivverwendung im Altnordischen vgl. Kruse 2009, S. 125– 144). Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei der Rückgewinnung und dem männlichen Protagonisten. Beide Sagas interessieren sich weder für den Frauenraub als solchen, noch für die Frauen als Beute. Auch in der Svarfdœla saga berichtet eine namenlose Frau, sie sei von Snækoll Ljótsson geraubt worden, der zwei Kinder mit ihr zeugte (Sva 12). Klaufi, eines der beiden Kinder, wird als Erwachsener zum Protagonisten der Saga und wird einer Frau noch wesentlich übler mitspielen (zu Yngvildrs Schicksal und der allgemeinen Misogynie der Svarfdœla saga siehe Waugh 1998). 251 Solche Aufforderungen zum Duell finden sich beispielsweise in Gís 1, Eg 64 oder Gts 19. Dort wird diese Sitte als Grund angegeben, aus dem Jarl Eírkr Holmgänge in Norwegen verbietet: Þótti mǫnnum þat mikill ósiðr í landinu, at úthlaupsmenn eða berserkir skoruðu á holm gǫfga menn til fjár eða kvenna, […] ok því tók Eiríkr jarl allar hólmgǫngur í Noregi […]. (Gts 19, S. 61; »Die Leute fanden, es sei eine große Unsitte im Land, dass Übeltäter oder Berserker angesehene Männer zum Holmgang forderten, um Vermögen oder Frauen zu gewinnen, […] und deshalb verbot Jarl Eiríkr alle Holmgänge in Norwegen«.) Zu Holmgängen dieser Art vgl. Deeg 2016, S. 98–101. 252 Ein Grenzfall liegt beispielsweise in Flóa 15 vor, in der sich ein Frauenraub zunehmend in Richtung eines Duells entwickelt.

7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien Die Verbrechen Diebstahl und Raub sind untrennbar mit sozialen und ökonomischen Unterschieden verbunden: Jemand begehrt etwas, das einem anderen gehört und beschließt, dieses Missverhältnis aufzuheben, indem er sich den Besitz des anderen aneignet. Beide Verbrechen betreffen damit die Hierarchie zwischen Opfer und Täter und verändern die Situation zwischen beiden Parteien nachhaltig.1 Doch nicht nur zwischen Opfer und Täter besteht eine Diskrepanz, auch unter den Verbrechern gibt es Unterschiede, die sich auf ihre soziale Stellung zurückführen lassen. Stehen sich zwei Figuren gegenüber, die innerhalb der Sagagesellschaft einen ähnlichen Rang bekleiden, ist die Situation eine völlig andere als zwischen Kontrahenten, die an unterschiedlichen Enden der sozialen Skala positioniert sind. Die Figuren der Isländersagas stehen allerdings nicht nur in sozialer Hierarchie zueinander, sie unterscheiden sich auch unter erzählerischen Gesichtspunkten. Hauptund Nebenfiguren, Helden und Schurken stehen einander keinesfalls gleichwertig gegenüber. Stattdessen tritt neben die dargestellte soziale Hierarchie der Figuren eine ›narrative Hierarchie‹, die nicht zwingend mit dem sozialen Status der Figuren korrespondiert. Der Ablauf eines Konflikts ist nicht allein durch die Stellung der Figuren innerhalb der Sagagesellschaft zu verstehen, er gehorcht narrativen Logiken. Soziale, ökonomische und narrative Hierarchien spielen in allen Diebstahlsfällen der Isländersagas eine bedeutende Rolle. Hier werden zunächst jene Verbrechen besprochen, bei denen Eigentum von einer Stufe der sozialen oder narrativen Hierarchie auf eine andere transferiert wird. Da dies bei den meisten Delikten der Fall ist, wird die Situation zunächst anhand einer kleineren Textmenge untersucht, um prozentuale Schlüsse im Vergleich zu anderen Verbrechen aufzeigen zu können. Hierfür wurden die Sagas einer einzigen Handschrift ausgewählt, der Mǫðruvallabók. Diese Sammelhandschrift aus dem 14. Jahrhundert enthält insgesamt 11 Sagas.2 Die Besonderheit dieser Handschrift besteht darin, dass sie im Gegensatz zu den meisten Kompilationen ausschließlich Isländersagas enthält.3 Da hier erstmals ein gewisses

1 Vgl. Gehrlach 2016, S. 384. 2 Wobei die Laxdœla saga den Bolla þáttr enthält. Diese Erzählungen werden hier als zwei Texte betrachtet, die jedoch in engem Verhältnis zueinander stehen. 3 Die Mǫðruvallabók (AM 465 fol.) enthält folgende Sagas: Brennu-Njáls saga, Egils saga Skalla-Grímssonar, Finnboga saga, Bandamanna saga, Kormáks saga, Víga-Glúms saga, Droplaugarsona saga, Ǫlkofra saga, Hallfreðar saga vandræðaskálds, Laxdœla saga und den Anfang der Fóstbrœðra saga. Es sind noch 200 Pergamentblätter erhalten, 189 davon stammen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, die restlichen wurden später hinzugefügt. Sowohl die vollständige Transkription der Handschrift durch Arkel-De Leeuw Weenen 1987 als auch ein Online-Faksimile helfen dabei, die Handschrift zu erschließen (https://handrit.is/is/manuscript/view/is/AM02-0132). Vgl. daneben Müller 2001 und Chesnutt 2010 zur Mǫðruvallabók und ihren Sagas. https://doi.org/10.1515/9783110699265-007

220 

 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Gattungsbewusstsein erkennbar ist, stehen die Sagas der Mǫðruvallabók im Zentrum der meisten neuzeitlichen Korpora und bilden gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner verschiedener Korpusdefinitionen. Anhand der Sagas der Mǫðruvallabók soll gefragt werden, welche Auswirkungen die soziale Stellung der am Diebstahl oder Raub beteiligten Personen auf den Umgang mit den Verbrechen hat. Mit welchen Mitteln erwehren sich sozial niedrig gestellte Personen eines Übergriffs, im Gegensatz zu sozial höher gestellten Figuren? Die Auswertung der für die Mǫðruvallabók getroffenen Schlüsse wird durch einen Ausblick auf zwei andere Texte der Gattung ergänzt: Die Fljótsdœla saga, die den Sagas der Mǫðruvallabók sehr nahesteht, und die Hœnsa-Þóris saga, die außerhalb dieser Handschrift als Paradebeispiel für die Bedeutung sozialer und narrativer Hierarchien in den Isländersagas gelten darf.4 Danach werden mit Blick auf das Gesamtkorpus jene Fälle betrachtet, die innerhalb derselben Gesellschaftsschicht verübt werden. Insbesondere Figuren, die sich eines rán (»Raubes«) schuldig machen, kann häufig ein ebenso hoher sozialer Status bescheinigt werden wie ihren Opfern. Nur in wenigen Fällen werden rechtliche Schritte eingeleitet, wodurch rán als Verbrechen dargestellt wird, dessen sich die Oberschicht der Sagagesellschaft ohne gerichtliche Hilfe erwehrt. Auch beim heimlichen þjófnaðr (»Diebstahl«) kommt es in den Sagas verhältnismäßig selten zu Gerichtsverhandlungen. Dies wirft die Frage nach der generellen Einstellung der Figuren zu Verhandlungen auf dem Thing auf, die Fälle von Diebstahl, und damit die Ehre der Protagonisten, betreffen.5 Im Anschluss werden zwei Sonderfälle betrachtet, die ihren speziellen Status durch den erzählten Ort erhalten: Werden Verbrechen im Ausland begangen, ist die Rechtssituation eine andere, insbesondere, wenn ein König oder Jarl involviert ist. Tritt dieser als Räuber oder Dieb auf, tut er dies innerhalb eines (selbst gesteckten) rechtlichen Rahmens, indem er seine Untertanen ›enteignet‹. Diese Sonderform des Diebstahls hat die Erzähltradition der Enteignung durch Haraldr hárfagri hervorgebracht, die in vielen Sagas die Landnahme auf Island motiviert und zum Gründungsmythos wurde. Dieser soll hier gesondert betrachtet werden, da er eine bedeutsame Verlusterzählung darstellt, die für die Gattung den Zusammenhang von Eigentum, Macht und Ehre entscheidend beeinflusst und auch zur Konstruktion des Selbstverständnisses mächtiger Familien beiträgt: Übergriffe auf ihren Besitz und ihre Selbstbestimmtheit – ihre helgi – können unter keinen Umständen geduldet werden, auch dann nicht, wenn der Kontrahent ein König ist.

4 Vgl. Andersson 1967, S. 115–117. 5 Die verschiedenen Möglichkeiten, einen Konflikt beizulegen, beleuchtet Miller 1984 mit Verweis auf Heusler 1911. Weniger als ein Viertel aller Rechtsstreitigkeiten in Sagas enden demnach in einer formellen Anklage, vgl. Kap. 7.1.1. Aus rechts- und kulturhistorischer Perspektive werden die ­»Disputing Strategies« des mittelalterlichen Skandinaviens bei Esmark et al. (Hrsg.) 2013 diskutiert.



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

 221

7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren Um zu prüfen, ob bei Eigentumsdelikten besondere Mechanismen greifen, muss zuerst das Blickfeld auf das dargestellte Rechtssystem und dessen Umgang mit sozialen Unterschieden erweitert werden. Reagieren die Figuren der Isländersagas anders, wenn Konflikte ihr Eigentum betreffen oder werden die gleichen Lösungsstrategien verwendet, die im gesamten Strafrecht, etwa nach Totschlägen, zum Einsatz kommen? Die besten Vergleichswerte für diese Fragestellung bietet noch immer Heuslers Studie Das Strafrecht der Isländersagas aus dem Jahr 1911. Er versammelt insgesamt 520 Delikte und bespricht diese anhand der auf sie folgenden Reaktionen. Heusler stellt dabei fest, dass nur ein kleiner Anteil der Verbrechen vor Gericht gebracht wird, ein Großteil dagegen von den Kontrahenten privat gelöst wird: 297 Fällen wird mit gewaltsamen Rachetaten begegnet, in 104 Fällen vergleichen sich die Parteien direkt. Es bleiben 119 angestrebte Gerichtsverfahren, von denen aber 9 außerrechtlich abgebrochen werden und 60 in einem Vergleich enden. Damit finden sich in Heuslers Korpus nur 50 rechtsförmlich durchgeführte Prozesse.6 Vergleiche zu Heuslers Zahlen anzustellen ist schwierig, da seine Berechnungen nicht vollständig nachvollziehbar sind. Weder bietet er eine Auflistung der Delikte, noch schlüsselt er nach den einzelnen Straftaten auf. Besprochen werden größtenteils Totschläge, der Anteil anderer Straftaten wie Diebstahl oder Beleidigung bleibt unklar. Auch decken sich die von Heusler ausgewählten 40 Isländersagas und -þættir nicht vollständig mit dem in dieser Arbeit definierten Korpus, weshalb Vergleiche anhand der Sagas der ­Mǫðruvalla­bók angestellt werden sollen, die hier wie bei Heusler vollständig enthalten sind.7 7.1.1 Eigentumsdelikte und Hierarchien in der Mǫðruvallabók8 Innerhalb der Mǫðruvallabók findet sich eine überschaubare Gruppe von 15 Diebstahlsfällen, von denen nur einer außerhalb Islands angesiedelt ist und daher getrennt 6 Vgl. Heusler 1911, S. 40. 7 Heusler bespricht folgende Sagas und þættir: Bandamanna saga, Bjarnar saga Hítdœlakappa, Bolla þáttr, Brennu-Njáls saga, Droplaugarsona saga, Egils saga Skalla-Grímssonar, Eiríks saga rauða, Eyrbyggja saga, Finnboga saga ramma, Flóamanna saga, Fóstbrœðra saga, Gísla saga Súrssonar, Grettis saga Ásmundarsonar, Grœnlendinga þáttr, Gull-Þóris saga, Gunnars þáttr Þiðrandabana, Gunnlaugs saga ormstungu, Hallfreðar saga vandræðaskálds, Harðar saga ok Hólmverja, Hávarðar saga Ísfirðings, Heiðarvíga saga, Hœnsa-Þóris saga, Hrafnkels saga Freysgoða, Hrafns þáttr Guðrúnarsonar, Hrómundar þáttr halta, Kormáks saga Ǫgmundarsonar, Laxdœla saga, Ljósvetninga saga, Ǫgmundar þáttr dytts, Ǫlkofra þáttr, Reykdœla saga, Svarfdœla saga, Valla-Ljóts saga, Vápnfirðinga saga, Vatnsdœla saga, Víga-Glúms saga, Þórðar saga hreðu, Þorsteins saga hvíta, Þorsteins þáttr SíðuHallssonar, Þorsteins þáttr stangarhǫggs, vgl. Heusler 1911, S. 16–18. 8 Siehe auch Hahn 2020.

222 

 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

betrachtet werden sollte.9 Die 14 auf Island stattfindenden Verbrechen werden durch fünf Rachetaten, zwei direkte Vergleiche oder unmittelbare Schiedssprüche und sieben angestrebte Gerichtsverfahren gelöst. Davon werden zwei abgebrochen, und fünf enden in einem Vergleich, der meist als Selbsturteil realisiert wird. Es lässt sich also schon vorab die bemerkenswerte Tatsache festhalten, dass in der Mǫðruvallabók – die immerhin Sagas wie die Laxdœla saga, die Egils saga und die ›Rechtssaga‹ von Njáll enthält10 – keine einzige Figur des Diebstahls verurteilt wird. Im Einzelnen lassen sich für Heuslers Strafrechtsdelikte und für die Diebstahlsfälle der Mǫðruvallabók folgende Verteilungen der Strafverfolgung feststellen: Strafrechtsdelikte (Heusler 1911)

Diebstahlsdelikte (Mǫðruvallabók)

10% 2%

0%

11%

20%

36%

36%

57% 14%

Rache: 57 % Vergleich: 20 % Abbruch: 2 % Vergleich nach Klage: 11 % Gerichtsurteil: 10 %

14%

Rache: 36 % Vergleich: 14 % Abbruch: 14 % Vergleich nach Klage: 36 % Gerichtsurteil: 0 %

Abb. 6: Strafrechtsdelikte bei Heusler und Diebstahlsfälle der Mǫðruvallabók (eigene Darstellung.)

Trotz der begrenzten Vergleichbarkeit aufgrund der unterschiedlichen Korpora zeigt sich deutlich, dass bei Diebstahlsdelikten überproportional häufig Gerichtsverfahren angestrebt werden. Nur 50 % der Verbrechen werden durch außergerichtlichen Vergleich oder Rachetaten gelöst, während in Heuslers Untersuchung 77 % der Straftaten auf diese Weise verfolgt werden. Die hohe Bedeutung außergerichtlicher Vergleiche bei Konfliktlösungen, die für das mittelalterliche Island in jüngerer Forschung festgestellt wurde,11 kann insbesondere für Diebstahlsfälle festgestellt werden. Bemer9 Dieser Diebstahl einer Schatztruhe wird in Kap. 2.1.2 besprochen. 10 Keine andere Isländersaga enthält ähnlich viele juristische Angelegenheiten, weshalb die Njáls saga schon früh das Interesse von Rechtshistorikern angezogen hat, einen Überblick bietet Ordower 1991, S. 42–45. Trotz der vielen Gerichtsszenen der Saga wird kein einziger Fall zu einem rechtskräftigen Urteil geführt, vgl. auch Heusler 1911, S. 41. 11 Vgl. insb. Jón Viðar Sigurðsson 2014 sowie Orning 2013.



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

 223

kenswert ist dabei aber, dass die Parteien nur selten ohne eine Klage zu einem Ergebnis kommen: 11 % (Vergleich nach Klage) in Heuslers Korpus stehen 36 % bei den Diebstahlsdelikten der Mǫðruvallabók gegenüber. Hinzufügen könnte man außerdem die 14 % abgebrochener Rechtsfälle, da diese ebenso zuerst zur Klage gebracht werden, bevor sie normalerweise durch den Tod eines Kontrahten ›abgebrochen‹ werden. Diese Abweichungen können unterschiedlich begründet werden. Nahe läge einerseits ein erneuter Rückgriff auf die ›Natur‹ dieser Verbrechen,12 die eine bestimmte Reaktion erfordern könnte, und andererseits die soziale Stellung der beteiligten Figuren und deren Relation. Heusler unterscheidet grob zwischen ›Rache‹, ›Vergleich‹ und ›Gerichtsgang‹ als Möglichkeiten, auf eine Straftat zu reagieren und sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen Delikt und Strafverfolgung. Stattdessen sind soziale Macht und persönliche Beweggründe entscheidend für ihn: Mit dieser Dreiheit des Vorgehens verbindet sich, wohlgemerkt, keine Dreiteilung der Delikte; auch keine Zweiteilung, etwa so, daß racheheischende Taten denen gegenüberständen, die nach ihrer inneren Art mit Vergleich vorlieb nehmen. Vielmehr gilt für Altisland der Satz: ein und dieselbe Missetat kann Rache hervorrufen oder Vergleich oder gerichtliche Verfolgung. Dies hängt ab von der Macht der beiden Parteien, von dem Willen des Verletzten, den Ansprüchen, die er an die Vergeltung stellt; denn zwischen den drei Vorgängen besteht eine Abstufung des Wertes.13

Wie der oben angestellte Vergleich zeigt, kann dem nicht vollständig zugestimmt werden. Zwar kann jedes Verbrechen innerhalb der Isländersagas jede Art der Reaktion hervorrufen, trotzdem kommen einige Vorfälle mit größerer Wahrscheinlichkeit vor Gericht als andere. Bei Eigentumsdelikten lässt sich eine deutliche Tendenz feststellen, offenen Raub (rán) mit gewaltvollen Rachetaten zu vergelten, während heimlicher Diebstahl (þjófnaðr) eher zu Klagen führt. Dies wiederum ist tatsächlich durch die von Heusler abgewiesene ›innere Art‹ der Verbrechen zu erklären: Ein Räuber muss zumindest mächtig genug sein, um seinem Gegner offen zu begegnen. Die des rán schuldigen Figuren der Isländersagas haben besonders häufig den gleichen hohen sozialen Status, den auch ihre Opfer innehaben. Dabei sind sie entweder erfolgreich und erreichen ihr Ziel durch das Verbrechen, oder werden ohne Gerichtsverfahren von ihren Gegnern bestraft. Ein Dieb aber muss heimlich vorgehen, da er die Reaktion seines Opfers zu fürchten hat. Gehrlach stellt für die Figur des Diebes allgemein fest: Ein Dieb ist also immer schwächer als ein Räuber, und er ist auch schwächer als der Bestohlene. Das ist insofern von Bedeutung, als der Dieb nicht nur während der Tat, sondern auch danach unbemerkt und unerkannt bleiben muss, weil er sonst mit empfindlicher Strafe zu rechnen hat.14 12 Vgl. Kap. 3. 13 Heusler 1911, S. 42. Er führt weiter aus, die Rache sei die edelste und ehrenvollste Form der Ver­gel­ tung und bezieht dies auf eine vorangegangene Tötung. Darauf folge die Ächtung oder das ehrenvolle Selbsturteil. Erst darauf folge der Vergleich, bei dem der Gegner miteinbezogen werden muss. Natürlich spiele auch die Höhe der Buße eine Rolle bei der Beurteilung des Prestiges. 14 Gehrlach 2016, S. 20.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Die soziale Stellung ist aber nicht nur für den Verbrecher ein wichtiges Analysekriterium, sondern auch für das Opfer. Während ein mächtiger Gode wenige Probleme haben wird, dem Schafdiebstahl eines kleinen Bauern zu begegnen, stellt sich die Frage: Was passiert, wenn der Gode den kleinen Bauern bestiehlt? Welche Möglichkeiten hat eine sozial benachteiligte Figur, zu ihrem Recht zu kommen und angemessene Kompensation zu fordern? Hier muss auch berücksichtigt werden, wie die soziale Logik mit der Logik der Erzählung korrespondiert. Für jene Fälle von Diebstahl und Raub der Mǫðruvallabók, die außergerichtlich gelöst werden, ergibt sich folgende Aufteilung: Rachetaten 1

Lax 19

Hrútr raubt seinem Halbbruder Hǫskuldr 15 Rinder, es kommt zunächst zum Kampf, die Männer versöhnen sich aber und Hrútr erwirbt durch den Raub den Respekt Hǫskuldrs (keine Anklage).15

2

Lax 30

Eine Frau stiehlt aus Rache das Schwert ihres Ehemannes – der Bestohlene spricht einen folgenreichen Fluch aus (keine Anklage).16

3

Lax 46

Innerhalb der Fehde zwischen Guðrún und Kjartan lässt sie ihm sein Schwert und seiner Frau ein kostbares Tuch stehlen, er rächt sich zunächst unblutig, es kommt schließlich zur Tötung Kjartans (keine Anklage).17

4

Lax 35

Hrútr erwischt den sozial niedriger stehenden Eldgrímr beim Rinderdiebstahl und tötet ihn im Kampf.18

5

Eg 77

Entflohene Sklaven plündern ein Vorratshaus, werden entdeckt und verfolgt. Die Sklaven fliehen und lassen ihre Beute zurück. Schließlich werden sie getötet.19

Vergleich / Außergerichtlicher Schiedsspruch 6

Band 4 Nach einem Schafdiebstahl strebt der Gode Oddr gegen seinen ehemaligen Arbeiter Óspákr einen Vergleich an. Dieser kommt nicht zustande, der Mittelsmann wird getötet. Es folgt eine Klage wegen Totschlags, der Diebstahl wird nicht verfolgt.21

7

Fbr 13 Der Handwerker Véglágr wird des mehrfachen schweren Diebstahls überführt. Die angesehenen Männer auf Reykjahólar diskutieren mögliche Strafen, schließlich fällt als Schiedsspruch die Landesverweisung (Der Dieb stiehlt in Schottland erneut und wird dort gehängt).21

15 Dieser Raub wird ausführlich in Kap. 7.2.2.2 besprochen. 16 Dieser Vorgang wird ausführlich in Kap. 5.3.3 besprochen. 17 Das ›Verschwinden‹ dieser Gegenstände wird ausführlich in Kap. 5.3.4 besprochen. 18 Dieser Vorgang wird ausführlich in Kap. 7.2.2.2 besprochen. 19 Vgl. Kap. 6.1.2. 20 Der Schafdiebstahl und seine Erzähltechnik werden ausführlich in Kap. 4.1.2 besprochen. 21 Véglágrs Diebstähle werden in Kap. 6.1.2 besprochen.



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

 225

In den ersten drei Fällen der Laxdœla saga gehören alle Parteien der höchsten Schicht der Sagagesellschaft an und sind sogar familiär miteinander verbunden – man regelt die Diebstähle ›unter sich‹, ohne eine dritte Partei als Schlichter oder Richter anzurufen. Die Diebe der Fälle 4 bis 7 werden auf frischer Tat ertappt und stehen sozial alle drei deutlich unter den Bestohlenen, wenn auch Óspákr als unabhängiger Bauer weit über den Sklaven der Egils saga anzusiedeln ist. In allen drei Fällen haben die Bestohlenen die Macht, nach ihrem Gutdünken vorzugehen. Klagen 8

Lax 35

Wohl kein Diebstahl, Klage auf skóggangr wegen Diebstahls und Zauberei (um þjófnað ok fjǫlkynngi). Es kommt nie zur Verhandlung, außerrechtlicher Abbruch.

9

Dropl 5

Klage wegen Schafdiebstahls. Beide Parteien suchen sich mächtige Unterstützer, es kommt zum Vergleich. Der Geschädigte Þorgeirr sucht Hilfe bei Helgi Droplaugarson. Der übernimmt die Klage und lädt beim nächsten Allthing den Dieb Þórðr vor; es kommt zum Selbsturteil.22

10 VíGl 7

Klage nach angeblichem Rinderdiebstahl, es kommt zum Vergleich. Das Selbsturteil liegt beim Geschädigten (Bußgeld). Glúmrs Mutter Ástrið ist allein auf Island, während ihre Knechte des Diebstahls beschuldigt werden. Der Vorwurf stellt sich als unwahr heraus, Glúmr kehrt zurück, tötet einen der beiden Kläger und lädt den anderen wegen Verleumdung der Knechte und Diebstahls vor. Es kommt zum Vergleich, Glúmr bekommt das Land zurück, der zweite Kläger wird des Landes verwiesen.23

11 VíGl 17–18

Klage wegen Schafdiebstahls kann vor dem Prozess abgewendet werden. Glúmr setzt sich widerwillig für den Dieb ein, die Abwendung der Klage bringt ihm Schande ein. Später wird ein umstrittener Vergleich geschlossen, es bleibt beim Konflikt zwischen den Parteien.24

12 Bol

Bolli nimmt sich Heu bei einem Bauern und wird deshalb auf skóggangr verklagt. Es kommt zum außerrechtlichen Abbruch, indem Bolli den Kläger vor einem Urteil tötet. 25

13 Nj 47–51

Nach Hallgerðrs Essensdiebstahl werden sie und ihr Ehemann Gunnarr verklagt. Es kommt zu einem Vergleich, der Gunnarr ein Selbsturteil zuspricht. Dieser urteilt sehr hart, obwohl er vor der Klage drei Kompensationsmöglichkeiten angeboten hatte (1. Bußfestlegung durch Männer des Bezirks, 2. Selbsturteil Schädiger, 3. Selbsturteil Geschädigter).26

22 Dieser Diebstahlsfall ist in den größeren Konflikt zwischen Helgi Droplaugarson und Helgi Ásbjarnarson eingebettet. Siehe unten. 23 Vgl. Kap. 5.2.3. 24 Vgl. Kap. 6.1.2. 25 Vgl. Kap. 7.1.1.1. 26 Vgl. Kap. 7.1.1.2.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

14 Eg 80–82

Streit um Weideland, es kommt zur Diebstahlsklage. Die Väter der beiden Parteien nehmen sich des Problems an, da sie alte Freunde sind. Es kommt zum Vergleich, in dem Egill das Selbsturteil zufällt. Dieser verbannt ihn wegen Beraubung aus dem Bezirk und brüstet sich seiner sozialen Machtstellung.27

Innerhalb der Diebstahlsfälle, die zur Klage führen, ist das Kapitel 35 der Laxdœla saga auszuklammern, da kein Diebstahl stattfindet und die Klage nur zur Verstärkung der Anklage wegen Zauberei dient.28 Sowohl in der Droplaugarsona saga als auch in der Víga-Glúms saga gewinnt derjenige die Klage, der die mächtigeren Männer als Unterstützung aufbieten kann. Die Konflikte beginnen als Streitereien zwischen gleichgestellten Männern einer mittleren sozialen Schicht und werden erst später in mächtigere Hände übergeben. In der Droplaugarsona saga kauft sich ein Mann namens Þorgeirr Schafe, die ihm aber schon bald entlaufen. Im Herbst sucht er sein Vieh und findet 18 Schafe in Þórðrs Pferchen, als sie gerade gemolken werden. Er sucht Þórðr auf und fordert Schadensersatz. Þorgeirrs Vorschlag lautet, er möchte entweder ebenso viele Hammel erhalten, oder Þórðr solle seine Mutterschafe den Winter über versorgen. Þórðr ist der Ziehvater eines Kindes des mächtigen Helgi Ásbjarnarson und lässt sich auf keinen Handel ein, weil er zuversichtlich ist, dass ihm dieser helfen werde. Þorgeirr wendet sich nun an Helgi Ásbjarnarson, doch auch dessen Vermittlung bringt Þórðr nicht dazu, Kompensation zu leisten. Þorgeirr sucht nun Hilfe bei Helgi Droplaugarson. Dieser übernimmt die Klage und lädt beim nächsten Allthing Þórðr vor, und kallaði hann leynt hafa ásauðnum þjóflaunum ok stolit nytinni.29 Es kommt zu einem Vergleich: Þorgeirr bekommt so viele Kühe, wie ihm Mutterschafe verloren gingen. Als Helgi Droplaugarson eingreift, hat Þórðr keine Chance mehr auf einen fairen Vergleich. In der Víga-Glúms saga unterliegen Ástriðr und ihre Knechte zunächst, weil sie allein gegen die nun angesehenste Familie des Bezirks stehen. Als aber Glúmr zurückkommt, ändert das die Situation völlig. Als Protagonist der Saga und Figur von guter Abstammung weiß dieser, wie er eine bessere Lösung erzielen kann. Der zweite Diebstahlsfall der Saga zeigt, dass Glúmr selbst dann eine Klage zu Fall bringen kann, wenn er und alle anderen wissen, dass er im Unrecht ist. Dies bringt ihm zwar einen Ehrverlust ein, schadet aber seiner Macht im Bezirk nicht – er kann den Dieb erfolgreich schützen. Wie innerhalb einer Fehde, liegt die Chance des kleinen Mannes im Prozess darin, mächtige Unterstützer zu gewinnen.30 Dies gelingt insbesondere dann, wenn diese dem Beklagten aus anderen, persönlichen Gründen schaden wollen und die Klage daher gerne zum Anlass nehmen, einen Streit zu beginnen und zu befeuern. 27 Vgl. Kap. 7.1.1.3. 28 Diese Episode wird ausführlich in Kap. 3.2 besprochen. 29 Drop 5, S. 150; »bezichtigte ihn, Mutterschafe in diebischer Absicht versteckt zu haben, und deren Milchertrag gestohlen zu haben.« 30 Heusler 1911, S. 103; »Ohne Macht kein Erfolg im Prozesse.«



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

 227

Die Beispiele 12 bis 14 illustrieren, wie sehr es den Mächtigen anficht, von einem ihm gesellschaftlich untergeordneten Mann vor Gericht geladen zu werden. Für Fall 14 bespricht diesen Punkt auch Heusler: Für den stolzen wohlgeborenen Mann kann es etwas Beleidigendes haben, sich vor das Gericht zerren zu lassen […]. Ein Mann wie Gunnar will nicht, daß man den Staat mit seinen Angelegenheiten bemenge. Für sühnbare Sachen, wie diesen Frevel seines Weibes, soll der Appell an das eigene Anstandsgefühl genügen. Diese Denkweise hängt doch wohl damit zusammen, daß die Gerichtsbank mit kleinen Leuten besetzt war; Bauern, die man schon mit ein paar Unzen glücklich machen und zur Umstoßung ihres ersten Urteils verführen konnte, […]. Einer von denen sollte das Urteil finden über einen Gunnar von Hlidharendi! In solchen Leuten konnte ein Mann von Standesgefühl und mit den Gewohnheiten eines kleinen Selbstherrschers keine Pairs erblicken.31

Mit Bezug auf die gleiche Textstelle diskutiert von See eine ähnliche Frage: Gibt es im mittelalterlichen Island eine Gleichheit vor dem Gesetz? Seiner Meinung nach fehlt der Gleichheitssatz »wohl nicht prinzipiell, aber doch in der landläufigen Auffassung und in der Praxis.«32 Zwar soll hier nicht nach historischer Praxis gefragt werden, von Sees ›landläufige Auffassung‹ spiegelt sich allerdings ebenso in den Isländersagas und korrespondiert mit deren Erzähllogik: Auch innerhalb der Narration kann kein Gleichheitssatz postuliert werden. Schillerende Protagonisten treffen auf typenhafte Nebenfiguren und die Stellung des Diebes in den Augen des Rechts und der Erzählung hängt davon ab, zu welche dieser Gruppen er gehört. Die drei folgenden Beispiele aus der Mǫðruvallabók zeigen, wie stark Erzähllogik und sozialer Status miteinander verwoben sind. 7.1.1.1 Bolla þáttr Der Bolla þáttr ist nur in Handschriften der Laxdœla saga überliefert, sein Figureninventar schließt daher lose an die Saga an und gruppiert sich um den erwachsenen Bolli Bollason.33 Die Erzählung handelt von zwei Rechtsstreitigkeiten, an denen der Protagonist beteiligt ist. Im ersten Fall nimmt er sich der Verfolgung eines Totschlags an einem Kind an, mit dem er weitläufig verwandt ist. Nachdem der Beschuldigte zur Gesetzlosigkeit verurteilt wurde, möchte Bolli die Vollstreckung des Urteils persönlich überwachen und tötet den Verurteilten, als dieser unerlaubt das Land verlassen will. Durch diese erste Rechtssache erwirbt sich Bolli sowohl Freunde als auch Feinde im Norden Islands.

31 Heusler 1911, S. 100. 32 von See 1964, S. 67. 33 Der Text ist kein ursprünglicher Teil der Laxdœla saga, sondern als eine Art Fortsetzung vermutlich gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstanden. Vgl. Lax, S. lxxii–lxxvi.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Als er dort später mit seinen Männern unterwegs ist, gelangt er zu dem Hof Skeið. Über den dort lebenden Bauern Helgi heißt es, hann var ættsmár ok illa í skapi,34 allerdings habe er eine kluge Frau. Bollis Männer finden beim Hof eine größere Menge Heu, mit dem sie ihre Pferde füttern. Als Helgi davon erfährt, warnt ihn seine Frau noch, sich nicht mit solchen Männern anzulegen, er aber kvað aldri hana skyldu þessa ráða, at hann léti stela heyjum sínum.35 Helgi geht nach draußen, wo sich Bolli gerade auf seinen Speer Konungsnautr stützt. Helgi tritt auf ihn zu und fragt: ›Hverir eru þessir þjófarnir, er mér bjóða ofríki ok stela mik eign minni […]?‹36 Bolli reagiert zunächst ruhig und verspricht, der Bauer werde angemessen bezahlt werden. Helgi bleibt unversöhnlich: ›Ek kalla yðr hafa stolit mik þessu, sem þér hafið haft, ok gǫrt á hendr yðr skóggangssǫk‹.37 Erneut ist Bolli um Ausgleich bemüht und bietet Helgi an, selbst eine angemessene Entschädigung zu fordern. Der Bauer möchte aber nichts anderes als den Speer Konungsnautr, von dem Bolli sich jedoch unter keinen Umständen trennen will.38 Helgi lädt Bolli also wegen Diebstahls vor und fordert dessen Ächtung. Zudem bezichtigt er ihn, da er schon so lange unterwegs sei, länger als einen halben Monat auf Kosten anderer gelebt zu haben, und verklagt ihn deshalb zusätzlich wegen Bettelei. Als Bolli die Anklage hört, steht er dort ruhig ok heyrði til ok brosti við litinn þann.39 Bolli strebt eine Gegenklage ›um illmæli‹40 mit dem Ziel der Ächtung gegen Helgi an, obwohl seine Männer raten, den Bauern einfach zu erschlagen. Als Helgi zu seiner Frau zurückkehrt, ist ihm bereits bewusst, dass er keine Unterstützer gegen Bolli finden wird und sich in eine ausweglose Situation gebracht hat – hann var vesalmenni, ok þó skapillr ok heimskr.41 Helgis Frau versucht daraufhin, ihrem Mann zu helfen, indem sie Bollis derzeitigen Gastgeber Þorsteinn um Hilfe bittet und ihm vom törichtem Verhalten ihres Mannes berichtet. Þorsteinn tut alles in seiner Macht stehende, doch ist Bolli unversöhnlich, worauf sich die Männer im Zorn trennen. Schließlich kommt es zum Kampf zwischen den Gruppen um Bolli, Helgi und Þorsteinn. Als Bolli Helgis Stimme hört, wirft er den Speer Konungsnautr nach ihm. Der Bauer wird so durchbohrt, dass

34 Bol 84, S. 239; »er war von niedriger Herkunft und hatten einen üblen Charakter.« 35 Bol 84, S. 239; »sagte, sie solle ihm niemals dazu raten, sich sein Heu stehlen zu lassen.« 36 Bol 84, S.  239; »›Was sind das für Diebe, die mir Gewalt antun und mir mein Eigentum stehlen […]?‹« 37 Bol 84, S. 239–240; »›Ich erkläre, dass ihr mir gestohlen habt, was ihr genommen habt, und eine Ächtungsklage auf euch geladen habt.‹« 38 Dass der Speer Konungsnautr mit Kjartans Schwert Konungsnautr (vgl. Kap. 4.2.1.2) in Verbindung steht, ist kaum wahrscheinlich. Name und Herkunft des Speers werden nicht thematisiert – möglich wäre also einerseits, dass es sich um den Speer Konungsnautr handelt, den Óláfr eine Generation vor Kjartan und Bolli erhalten hat oder aber, dass sich Bolli Bollason auf seinen Reisen ein eigenes Königsgeschenk erworben hat, das nicht mit den früheren Waffen dieses Namens in Verbindung steht. 39 Bol 84, S. 240; »und hörte zu und lächelte ein wenig darüber.« 40 Bol 84, S. 240; »›wegen Verleumdung‹«. 41 Bol 85, S. 241; »er war ein erbärmlicher Mann, und dazu bösartig und töricht.«



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

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seine Leiche am Spieß baumelt. Nur durch das Eingreifen eines gewissen Ljótr kann der Kampf beendet werden, solange Bolli und Þorsteinn noch am Leben sind, sodass die Sache auf einem einberufenen Thing verhandelt wird. Das Urteil lautet, Helgi sei fyrir illyrði sín42 getötet worden, weshalb keine Buße gezahlt werden müsse. Bolli und Þorsteinn vergleichen sich durch Bußzahlungen. Der þáttr endet mit der Erklärung, Bolli habe sich im Norden großen Ruhm erworben und sogar für Helgis Frau gesorgt, der er eine angemessene Heirat verschaffte. Aus einem juristischen Blickwinkel betrachtet kann die Diebstahlsepisode des Bolla þáttr nahezu als Fallbeispiel zur Illustration des § 227 der Grágás gelesen werden. Das besondere Interesse des þáttr an juristischen Fragen und Rechtsvokabular unterscheidet sich auffällig von der Laxdœla saga, in der solche Referenzen vermieden werden.43 Der Konflikt entzündet sich am Verleumdungscharakter des Vorwurfs des þjófnaðr (»Diebstahls«). Geklagt wird, wie rechtlich vorgesehen, auf skóggangr (»Gesetzlosigkeit«). Dass gerade Helgi diese Klage anstrebt, ist bemerkenswert, da es sich gesellschaftlich um eine niedrigstehende, bestohlene Figur handelt. Dies erhärtet den Eindruck, dass mächtige Sagafiguren eher zur Selbstjustiz greifen, während einfache Bauern zur Wahrung ihrer Interessen auf rechtliche Mittel angewiesen sind. Bolli und seine Männer nehmen sich das Heu zur Verpflegung ihrer Pferde offen und versuchen nicht, ihre Tat zu verheimlichen. Helgis Frage nach þessir þjófarnir geht daher von Anfang an über ihren eigentlichen Tatbestand, der als rán zu werten wäre, hinaus. Auch Andersson bespricht die Episode in diesem Sinne und kommt auf den sozialen Rang der beiden Figuren zu sprechen: »When Helgi, a lowborn man, uses them both [the terms þjófr and stela] in a single sentence directed at a distinguished man like Bolli, the provocation is obvious and extreme.«44 Es ist daher bemerkenswert, dass Bolli zunächst nicht auf die Provokation des Bauern eingeht und ihm sogar eine hohe Ausgleichssumme anbietet.45 Interpretiert Helgi das Verbrechen als ­þjófnaðr, stellt sich rechtlich die Frage nach dem Wert des gestohlenen Gutes. Da der Bauer auf skóggangr klagt, müsste das Heu nach der Einteilung der Grágás einen Wert von hálfs eyris eða meira fiár (»einer halben Unze oder mehr«) gehabt haben, was nicht festgestellt werden kann, da weder ein Hinweis auf den Heupreis gegeben wird, noch auf die Menge des von den Pferden gefressenen Heus. Insgesamt wird die Forderung des Bauern in der Erzählung als überzogen und impulsiv dargestellt, sodass man davon ausgehen kann, dass es sich nicht um einen Vermögenswert gehandelt haben kann, zu dessen Ausgleich eine so schwerwiegende Strafe wie die Gesetzlosigkeit angemessen wäre. Bollis Angebot, Helgi dürfe die Entschädigungssumme selbst festlegen, kann als generös gelten, da es weit über die doppelte Entschädigung hinaus geht, die in der Grágás für den Diebstahl eines 42 Bol 88, S. 247; »wegen seiner üblen Reden.« 43 Vgl. Burrows 2009, S. 47. 44 Andersson 1984, S. 500–501. 45 Vgl. Andersson 1984, S. 500.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Gutes, welches pennings er vert eða mera (»einen Pfenning oder mehr wert ist«), festgelegt ist. Als keine Einigung erzielt werden kann und die Klagen ausgesprochen werden, entsprechen diese genau den Bestimmungen der Grágás, indem Helgi eine skóggangssǫk (»Ächtungsklage«) anstrebt, und Bolli im Gegenzug mit einer Klage um illmæli (»wegen Verleumdung«) reagiert, die ebenfalls auf skóggangr (»Gesetzlosigkeit«) abzielt. Tatsächlich kommt es zu keiner Verhandlung, da dem Bauern schon zuvor bewusst ist, dass er gegen einen angesehenen Mann wie Bolli keine Unterstützer finden wird. Interessant ist hierbei, dass er selbst als heimskr (»töricht«) bezeichnet wird und seine einzige Chance, dem Unheil zu entgehen, in seiner Frau besteht, die über das notwendige soziale Ansehen verfügt, um eine Versöhnung anzustreben. Obwohl Bolli im Moment der Beschuldigung noch auf Ausgleich bedacht war, stellt die Klage wegen þjófnaðr eine so starke Beleidigung dar, dass auch Þorsteinn, mit dem Bolli bis zu diesem Zeitpunkt freundschaftlich verbunden ist, ihn nicht besänftigen kann, wodurch sich erneut der starke Beleidigungscharakter des Vorwurfs zeigt. Wie in der Laxdœla saga wird auch in diesem Fall die Verhandlung nicht abgewartet, sondern zur Selbstjustiz gegriffen. Erst als in Folge des Vorfalls einige Männer ihr Leben verloren haben, kommt es zu einem Schiedsspruch, der allerdings den Rechtsvorstellungen der Grágás entspricht. Helgi sei fyrir illyrði sín (»wegen seiner üblen Reden«) bußlos getötet worden. Mit dem Schiedsspruch tritt ein weiteres Rechtsmittel in Erscheinung: Eine Person, der beide Seiten vertrauen, fällt ein Urteil, das wiederum den Bestimmungen der Grágás auffallend nahesteht. Narrativ dient die Episode eindeutig der Erhöhung Bollis, der in dieser Situation als besonders beherrschter und kluger Mann dargestellt wird. Bolli reagiert auf die Provokation vordergründig gelassen, und hört mit einem Lächeln zu. Dies sollte seinen Ankläger umso mehr beunruhigen: »Saga readers know of course what it means to smile a little under the pressure of insult; it means turmoil and violence. The little smile seals Helgi’s fate, […].«46 Eine gewisse Ironie wohnt später auch Helgis Todesart inne: Er wird vom Speer Konungsnautr aufgespießt und erhält damit mit dem geforderten Speer gewissermaßen die Entschädigung von Bolli, die er zuvor gefordert hat.47 Bolli stellt eine Figur aus den höchsten gesellschaftlichen Kreisen dar, sein Gegenüber Helgi ist von wesentlich niedrigerem Stand. So verlagert sich die Thematik des sozialen Status in dieser Episode auf die Rolle des Anklägers, der durch sein mangelndes Rechtsverständnis ebenso wie durch seine fehlende Einsicht in soziale Verhaltensnormen eine Beschuldigung ausspricht, die ihn schließlich das Leben kostet. Helgis niedriger sozialer Status und unbedeutende Abstammung werden von Anfang an thematisiert und immer wieder in Erinnerung gerufen, indem auf die weit bessere Stellung seiner Frau Bezug genommen wird. Auch wenn der Wert des Heus unbestimmt

46 Andersson 1984, S. 500. 47 Vgl. Andersson 1984, S. 501.



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

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bleibt, ist Helgis Vorgehen aus juristischer Perspektive einleuchtend. Innerhalb der erzählerischen Logik der Episode ist sein Vorgehen aber zum Scheitern verurteilt. Die Aussichtlosigkeit seines Handelns wird ihm von mehreren Figuren bescheinigt, bis er sie endlich selbst erkennt. Es ist heimskr (»töricht«), einen Mann wie Bolli vor Gericht zu laden, ohne sich zuvor hochstehende Unterstützer gesucht zu haben. Die sozialen Normen treten hier deutlich hervor. Helgi ist als unbedeutende, einfältige Nebenfigur konzipiert. Innerhalb der Erzähllogik kann eine solche nicht über den heldenhaften Protagonisten triumphieren.48 7.1.1.2 Brennu-Njáls saga Der am häufigsten besprochene Diebstahl der Isländersagas ereignet sich in Kapitel 48 der Brennu-Njáls saga, nachdem Gunnarr von Hlíðarendi erfolglos versucht hat, bei seinem Nachbarn Otkell Heu und Nahrungsmittel zu erwerben. Als sein Onkel Þráinn Sigfússon auf Otkells Weigerung hin vorschlägt, die benötigten Güter einfach mitzunehmen, verwehrt sich Gunnarr eindeutig: ›Með engi rán vil ek fara‹.49 Stattdessen erwirbt er den Sklaven Melkólfr, den Hallgerðr später zu seinem früheren Herrn schickt, um dort Käse und Butter zu stehlen und das Vorratshaus niederzubrennen.50 Melkólfr erweist sich als ebenso ungeschickter wie unwilliger Dieb und verliert auf dem Rückweg seinen Gürtel und ein Messer, beides Geschenke seines früheren Dienstherrn. Als Otkells Freund Skammkell die beiden Gegenstände findet, erkennt er die Gegenstände und zeigt sie herum. Man sucht sich Rat bei Gunnarrs listigem Gegenspieler Mǫrðr. Schon jetzt ist den Männern bewusst, dass es schwierig sein wird, Gunnarr herauszufordern: ›Vant þykkir oss með slíku at fara,‹ segir Skammkell, ›er við slíka ofreflismenn er um at eiga.‹51 Mǫrðr lässt sich seinen Rat bezahlen und schmiedet folgenden Plan: Man solle Frauen mit allerhand Kleinwaren herumziehen lassen, damit diese darauf achten, was ihnen die Hausfrauen als Bezahlung anbieten, ›því at allir hafa þat skap at gefa þat upp fyrst, er stolit er, ef þat hafa at varðveita, […].‹52 Der Plan geht auf, indem Hallgerðr ausgerechnet den gestohlenen Käse als Bezahlung anbietet. Ein Vergleich mit Otkells Käseform überführt sie als Diebin, worauf Mǫrðr sich aus der Angelegenheit wieder zurückzieht. Gunnarr erfährt von den Vorgängen während eines Gastmahls in seinem Haus und verliert die Beherrschung: Er gibt Hallgerðr eine Ohrfeige, die er mit seinem Leben bezahlen wird. Seine verbale Reaktion konzentriert sich dagegen nicht auf ihr Verbre48 Jedenfalls nicht, ohne ihn der Lächerlichkeit preiszugeben: In der Hœnsa-Þóris saga gelingt einer ähnlich angelegten Figur der Sieg, was der Saga einen satirischen Anstrich verleiht, vgl. Kap. 7.1.2.2. 49 Nj 47, S. 121–122; »›Ich werde keinen Raub verüben.‹« 50 Eine ausführliche Zusammenfassung dieser Episode findet sich in Kap. 5.3.2. 51 Nj 49, S. 125; »›Schwierig scheint es uns, in einer solchen Sache vorzugehen,‹ sagt Skammkell, ›wenn so übermächtige Leute damit zu haben.‹« 52 Nj 49, S. 125; »›denn alle haben im Sinn, zuerst das loszuwerden, was gestohlen ist, wenn so etwas in ihrem Besitz ist.‹«

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chen, sondern auf die Auswirkungen auf seinen persönlichen Ruf: ›Illa er þá, ef ek em þjófsnautr.‹53 Der Begriff þjófsnautr (»Diebesgenosse«) stellt einen juristischen Fachbegriff dar, der auch in der Grágás verwendet wird. Gunnarr ist somit inzwischen in ein Verbrechen involviert, das noch wesentlich ernster zu beurteilen ist als es das rán gewesen wäre, welches Þráinn Sigfússon vorgeschlagen hat. Hallgerðr hat ­Gunnarrs Geduld schon oft erprobt, doch gelingt es ihr erst durch diesen Diebstahl, eine Eskalation herbeizuführen, indem nun seine persönliche Ehrbarkeit in Zweifel steht. Schon nach kurzer Zeit wird der Diebstahl Gegenstand lokalen Geredes.54 Gunnarrs Bruder weist ihn auf die Gerüchte hin: ›Illt er at segja: alrœmt er, at Hallgerðr muni stolit hafa ok valdit þeim inum mikla skaða, er varð í Kirkjubœ.‹55 Er rät ihm, Otkell aufzusuchen und die Situation durch ein großzügiges Angebot zu bereinigen. Als Gunnarr am Hof Otkells ankommt, gesteht er die Tat seiner Frau ohne Umschweife und schlägt drei Möglichkeiten vor: 1. Die ehrbaren Männer der Gegend sollen vermitteln und über ein Bußgeld entscheiden, 2. Gunnarr könnte ein Selbsturteil sprechen, 3. das Selbsturteil könnte Otkell zufallen. Otkell lehnt all diese Angebote ab, da ihm sein intriganter Freund Skammkell rät, die Angelegenheit stattdessen in die Hände zweier mächtiger Verwandter zu legen, Gizurr des Weißen und des Goden Geirr.56 Skammkell möchte den Botengang selbst erledigen, vorgeblich wegen Otkells schlechten Augen und den daraus resultierenden Schwierigkeiten bei Reisen. Gizurr und Geirr bescheinigen Gunnarr, sehr großzügige Angebote gemacht zu haben. Was genau die beiden raten, bleibt durch einen Zeitsprung in der Erzählung ungewiss. Skammkell erzählt Otkell nun, dass ihm geraten worden sei, Hallgerðr wegen Diebstahls vorzuladen und Gunnarr für die Nutzung gestohlener Güter. Zu diesem Zweck reiten sie zu Gunnarr und laden ihn vor das nächste Allthing. Erst jetzt wird Gunnarr ungehalten (Nj 50). Er sucht nun den Rat seines Freundes Njáll. Gemeinsam reiten sie zum Allthing, in Begleitung der gesamten Sigfússon-Sippe und der Söhne Njálls ok var þat mælt, at engi 53 Nj 48, S. 124; »›Schlimm steht es, wenn ich ein Diebesgenosse bin.‹« Vgl. auch Kap. 5.3.2. 54 Zur Funktion von Klatsch und Gerede in Rechtsangelegenheiten vgl. Miller 1986a, S. 110. 55 Nj 49, S. 126; »›Schlechtes gibt es zu sagen; es heißt überall, dass Hallgerðr gestohlen haben wird, und jenen großen Schaden verursacht hat, der in Kirkjubœr entstanden ist.‹« 56 Eine Erklärung für das Ausschlagen der großzügigen Angebote bietet Miller 1986b, S. 32 an: »In this context Skammkel’s advice is right. Otkel gains no prestige if Gunnar freely grants the power of self-judgment. Units of prestige would only be transferred if Otkel were to force Gunnar to offer selfjudgment, or if Gunnar’s offer were motivated by fear that Otkel could force it from him, and not by impatient irritation to have done with the matter.« Auch Miller bezieht sich auf die soziale Stellung der Kontrahenten; Otkells einzige Hoffnung kann sein, durch das gewaltsame Bezwingen Gunnarrs größere Ehre zu gewinnen, da ihm bereits das Selbsturteil – die beste zu erwartende Option – angeboten wurde (Miller 1986b, S. 33).



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flokkr myndi jafn-harðsnúinn þeim.57 Zusätzlich versichert Gunnarr sich der Unterstützung durch Hallgerðrs Familie: Hrútr und Hǫskuldr schließen sich seiner Sache an und raten Gunnarr, Gizurr den Weißen zu einem Duell zu fordern, falls dieser ihm kein Selbsturteil gewähren möchte. Insbesondere Hrútr zieht auf eine gewaltvolle Lösung des Konflikts ab: ›[H]ǫfu vér nú lið svá mikit allir saman, at þú mátt fram koma slíku sem þú vill.‹58 Nun erfahren Gizurr und Geirr, wie ihre ursprünglichen Ratschläge verdreht wurden und erkennen sogleich, dass nur das Zugeständnis eines Selbsturteils Gewalt verhindern kann. Gunnarr nimmt diese Möglichkeit an und urteilt, dass er für die gestohlenen Güter ebenso zu zahlen habe, wie für das niedergebrannte Vorratshaus. Gleichzeitig verfügt er aber, dass er vorgeladen wurde, um verleumdet zu werden und spricht sich selbst für diese Schande genau die gleiche Summe zu, die er zum Ausgleich des ursprünglichen Verbrechens festgelegt hatte. Er warnt Otkell noch, ihn nie wieder zu provozieren und lehnt alle Freundschaftsgesuche der gegenüberstehenden Gruppe ab. Die Episode endet mit einem Erzählerkommentar, Gunnarr habe große Ehre aus diesem Fall gewonnen.59 Der Rechtsstreit wird durch Fragen eingerahmt, die Gunnarrs persönliche Ehre betreffen. Diese ist zuerst schwer beschädigt, als ihn seine Frau zum Diebesgenossen macht und Otkell ihn vorlädt und wird durch sein Selbsturteil wiederhergestellt. Diese Episode dient auch in Heuslers Ausführungen zum Strafrecht als Beispiel für die negative Haltung zum Gerichtsverfahren im Allgemeinen: [B]ei einem Falle von Diebstahl nimmt die Staatsgewalt in der Anschauung der Isländer die Stellung ein, daß eine Anrufung dieser Gewalt, eine Ladung vor Gericht, als Schimpf empfunden wird, ebenso hoher Strafe würdig wie der Diebstahl selbst; und dies unter Billigung der wackersten Männer.60

Betrachtet man die Kontrahenten mit Bezug auf ihre soziale Stellung, hat Otkell eigentlich keine geringere Position inne als Gunnarr: Keiner von ihnen besitzt ein Godentum, beide sind unabhängige Bauern und mit mächtigen Männern verwandt, wie Gizurr und Geirr auf Otkells Seite und Hrútr und Hǫskuldr auf Gunnarrs. Innerhalb der Brennu-Njáls saga stellt Gunnarr jedoch den strahlenden Helden dar, während Otkell als ungeschickte und schwache Nebenfigur dargestellt wird, die den üblen Machenschaften Skammkells nicht widerstehen kann.61 Hrútrs Aussage, man hätte 57 Nj 51, S. 130; »und es hieß, dass keine Gruppe so fest zusammenhaltend und streitbar sei, wie die ihre.« 58 Nj 51, S.  131; »›Wir alle zusammen sind nun eine so starke Mannschaft, dass du durchsetzen kannst, was auch immer du willst.‹« 59 Vgl. auch Müller 2000, S. 200. 60 Heusler 1911, S. 100. 61 Ähnlich beurteilt auch Müller 2000, S. 200 diese Figur: »Dem angesehenen und mächtigen Protagonisten Gunnar steht der ójafnaðarmaðr Otkel gegenüber, der im Umgang mit jenem diesem Eindruck vollständig gerecht wird. Kleinkrämerisch lehnt er Gunnars Bitte um Heu ab, zögerlich schickt

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nun genügend Männer, um durchzusetzen, was immer man wünsche, zeigt deutlich, dass sich dieser Konflikt keineswegs um juristische Gerechtigkeit dreht. Otkell verliert sein Bestreben auf dieselbe Art, die im Bolla þáttr Helgi zu Fall bringt: Durch die Ablehnung eines großzügigen Angebots des Protagonisten ist das Schicksal der Nebenfiguren besiegelt.62 Nach dem Abschluss der Rechtssache bereiten sich Otkell und Skammkell auf einen Angriff auf Gunnarr vor, den Gunnarr in einer heldenhaften Kampfszene deutlich für sich entscheiden kann. Otkell wird während des Kampfes getötet, die Totschlagsklage führt der Gode Geirr gegen Gunnarr, trotzdem kann dieser sich vorerst behaupten. Erst Gunnarrs nächster Konflikt mit Starkaðr und Egill führt zu den Verwicklungen, die schließlich in seinen Todeskampf münden. Als er sein Haus gegen seine Feinde verteidigt, reißt ihm die Bogensehne, worauf er seine Frau Hallgerðr bittet, ihm eine Strähne ihres Haares als Ersatz dafür zu geben. Als er eingesteht, dass sein Leben von ihrer Hilfe abhängt, vergilt sie ihm die Ohrfeige und verweigert ihre Hilfe. Durch diese Szene wird Gunnarrs Tod deutlich mit dem Diebstahl seiner Frau verknüpft und an die Ereignisfolge erinnert, die sein Ende herbeigeführt hat. 7.1.1.3 Egils saga Skalla-Grímssonar Der letzte Disput im konfliktreichen Leben des großen Sagahelden Egill Skalla-Grímsson dreht sich um eine Eigentumsfrage. Sein Sohn Þorsteinn gerät in eine Auseinandersetzung mit Steinarr, dem Sohn ihres wohlhabenden Nachbarn Ǫnundr. Sie streiten um eine Wiese, die zu Egills Land gehört und auf der Steinarr sein Vieh im Frühjahr weiden lässt. Þorsteinn beruft sich auf die althergebrachten Nutzungsrechte an der Weide und fordert seinen Nachbarn auf, sein Vieh fortzutreiben. Steinarr weigert sich und lässt ihn wissen, sein Vieh werde auch in Zukunft überall dort grasen, wo es gerne möchte.63 Knechte sollen fortan das Vieh beaufsichtigen, drei von ihnen werden von

er seinen Freund Skammkel zu den Konsultationen mit seinen eigenen Verwandten, ungeschickt überläßt er seinen Fürsprechern vor Gericht die Aufgabe zu retten, was noch zu retten ist. In den Augen der Rezipienten mußte es sich um die vergeblichen Bemühungen eines weder sozial noch ethisch seinem Bestreben gewachsenen Mannes handeln, die soziale Ordnung zu stören.« 62 Eine motivische Verbindung zwischen den Episoden des Bolla þáttr und der Njáls saga stellt ­Kersbergen 1927, S. 72 her. Sie bezeichnet das Motiv als »De geweigerte verkoop« (»Der verweigerte Verkauf«) und zieht außerdem die Hœnsa-Þóris saga und die Eldgrímr-Episode der Laxdœla saga zum Vergleich heran. Sie möchte weniger von direkten Entlehnungen sprechen als von einem Stereotyp, das sich in mehreren Isländersagas findet: Einem erfolglosen Versuch, etwas zu kaufen, der in einem Diebstahl mündet. 63 Weideland betreffende Unstimmigkeiten kommen in den Isländersagas häufig vor, führen aber nicht zwangsläufig zu einer Diebstahls- oder Raubklage. In der Króka-Refs saga wird der Vorwurf beispielsweise nie ausgesprochen, auch wenn der Fall zunächst sehr ähnlich abläuft. Ein Nachbarschaftsstreit dreht sich darum, dass das Vieh des einen Bauern gerne einen Fluss überquert, um auf der saftigeren Weide des Nachbarn zu grasen. Als dies von einem Knecht verhindert wird, ist die Bäuerin zornig und hetzt ihren Mann auf, den Knecht zu töten. Diese Tat wiederum vergilt Króka-



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Þorsteinn getötet, der klarstellt: Er werde so viele Knechte töten, wie es eben notwendig sei, um sein Eigentum zu verteidigen. Steinarr sucht sich Unterstützung und lädt Þorsteinn wegen der Totschläge vor das nächste Thing. Nun nehmen sich ihre Väter, Egill und Ǫnundr, des Rechtsstreits an. Die beiden sind alte Freunde und wollen daher den Streit ihrer Söhne beilegen. Ǫnundrs Vertrauen in Egill geht so weit, dass er ihm das Selbsturteil in dieser Sache überlässt. Egill beginnt seinen Urteilsspruch, indem er den Zuhörern in Erinnerung ruft, dass es sein Vater Grímr war, der zuerst in Mýrar Land nahm und einen Teil dieser Landnahme an Ǫnundrs Vorfahren vergab, und fährt fort: ›Nú var eigi þat, Steinarr, at þú gerðir þér óvitandi at beita land Þorsteins ok lagðir undir þik eign hans ok ætlaðir, at hann myndi vera svá mikill ættleri, at hann myndi vera vilja ræningi þinn, […] en Þorsteinn drap fyrir þér þræla tvá. Nú er þat ǫllum mǫnnum auðsýnt, at þeir hafa fallit á verkum sínum, ok eru þeir óbótamenn […]. En fyrir þat, Steinarr, er þú hugðisk ræna mundu Þorstein, son minn, landeign sinni, þeiri er hann tók með mínu ráði ok ek tók í arf eptir fǫður minn, þar fyrir skaltu láta laust þitt land að Ánabrekku […].‹64

Ǫnundr reagiert ungehalten auf diese Entscheidung und lässt Egill wissen, dass sein Urteil zu noch mehr Gewalt führen werde. Egill antwortet jedoch kühl: ›[H]ugða ek, Ǫnundr, at þú myndir þat vita, at ek hefi haldit hlut mínum fyrir þvílíkum svá mǫnnum, sem þit eruð feðgar.‹65 Wie in der Njáls saga zeigt sich auch hier, dass nicht die tatsächliche Stellung einer Figur im sozialen Gefüge von Belang ist, sondern die Relation zu jener des Protagonisten. Steinarr ist selbst ein wohlhabender Großbauer aus einer mächtigen Familie und gehört keinesfalls zu den ›kleinen Leuten‹ der Sagagesellschaft. Nichtsdestotrotz ist er Þorsteinn weit unterlegen: Dieser ist der Enkelsohn des landnámsmaðr SkallaGrímr Kveld-Úlfsson, worauf Egill während seines Urteils immer wieder zu sprechen kommt. Ihre ›noble‹ Abstammung setzt die Protagonistenfamilie der Egils saga von ihren Nachbarn ab, und ihre Geschichte als ursprüngliche Landnehmer perspekti-

Refr, indem er den Bauern tötet und damit seinen Status als kólbítr (Vgl. Kap. 4.1.2) hinter sich lässt (Krók 2–4). Auch in der Þorskfirðinga saga werden solche Streitigkeiten genannt, bilden aber nur die Szenerie für den heldenhaften Auftritt Gunnarrs, eines Verwandten des Protagonisten, der extravagant ausgestattet auf seinem Pferd heranprescht, und scheinbar mit einem Streich den zuvor lange schwelenden Konflikt löst (Þorsk 14). 64 Eg 82, S. 287; »›Nun war es nicht so, Steinarr, dass du unwissentlich auf Þorsteinns Land hast weiden lassen, und dir sein Eigentum angeeignet hast, und dachtest, er schlüge so sehr aus der Art seiner Familie, dass er sich von dir berauben ließe, […]. Zwar tötete Þorsteinn zwei deiner Knechte, doch ist es allen Männern offensichtlich, dass sie wegen ihrer Taten gefallen sind, und bußlos Gefallene sind. […] Und da du, Steinarr, dachtest, du könntest Þorsteinn, meinen Sohn, seines Landbesitzes berauben, den er mit meiner Zustimmung übernommen hat, und den ich als Erbe meines Vaters erhalten habe, deshalb sollst du dein Land in Ánabrekka verlieren.‹« 65 Eg 82, S. 288; »›Ich hätte gedacht, Ǫnundr, dass du wissen müsstest, dass ich meine Angelegenheiten noch immer gegen solche Leute wie dich und deinen Sohn verteidigt habe.‹«

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viert die Eigentumsverhältnisse: Egills Vater übergab das Land an Ǫnundrs Familie, daher ist Egill überzeugt, wie ein Lehnsherr das Recht zu haben, es auch wieder einzuziehen. Obwohl Þorsteinn ursprünglich wegen dreifachen Totschlags vor Gericht geladen wurde, bewertet Egill das vorangegangene rán als wichtiger und die Reaktion seines Sohnes als folgerichtig. Innerhalb der narrativen Logik der Egils saga ist es unvermeidbar, den Konflikt auf diese Weise enden zu lassen: Egills Familie kämpfte mehrfach um ihr Erbe und ihren Grundbesitz und hat immer wieder bewiesen, dass sie nicht nachgeben würden – nicht gegen Könige, und gewiss nicht gegen þvílíkum svá mǫnnum (»solche Leute«) wie Ǫnundr und seine Nachkommen.66

7.1.2 Soziale und narrative Hierarchien in der Mǫðruvallabók und darüber hinaus Innerhalb der Mǫðruvallabók werden alle Diebstahlsfälle, bei denen außergerichtliche Lösungen angestrebt werden, von mächtigen Protagonisten geführt, in deren Macht es liegt, einen Verbrecher auch ohne gerichtliche Schritte zu bestrafen. In sieben Fällen kommen Rechtsvorstellungen zum Tragen, die sich auch in der Grágás finden: Zwei werden direkt durch Protagonisten vor Gericht gebracht, zwei weitere Anklagen werden ursprünglich von Nebenfiguren vorgebracht, bevor mächtigere Figuren (Glúmr and Helgi Droplaugarson) den Disput übernehmen. Während also die Protagonisten aus dem vollen Arsenal altnordischer Konfliktlösungsstrategien schöpfen können, haben Nebenfiguren wie kleine Bauern wenige andere Möglichkeiten, als vor Gericht zu gehen und mächtige Unterstützer zu suchen. Die Wahlmöglichkeit der sozial höherstehenden Akteure wird häufig von anderen Figuren herausgehoben, indem diese beispielsweise vorschlagen, gewaltsam vorzugehen, ohne lange zu verhandeln. Den wichtigsten Unterschied zwischen der Darstellung strafrechtlicher Handlungen in den Isländersagas und der Grágás stellt die Beziehung zwischen Täter und Opfer dar: Während dem Rechtstext die Annahme zu Grunde liegt, beide Parteien seien in den Augen Justitias gleich, porträtieren die Erzählungen eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft. Ihr Interesse gilt mächtigen Figuren und den sǫguligir (»erzählenswerten«) Auseinandersetzungen einer hochstehenden sozialen Schicht. Die Sagas erzählen nur dann von den Konflikten ›kleiner Leute‹, wenn einflussreiche Figuren eingreifen und somit die Machtverhältnisse dramatisch ändern. Wollte man an Heuslers Zahlen anschließend den Quellenwert der Isländersagas auf soziale Praxis hin untersuchten, müsste dies stets bedacht werden: Es ist anzunehmen, dass die unerzählten Geschichten der Eigentumsdelikte innerhalb einer niedrigeren sozialen Klasse völlig andere Verteilungen der Lösungsstrategien hervorbringen würden.

66 Zu Egills anderen Eigentumsproblematiken siehe Kap. 2.1.2 und Kap. 8.2, zur Auseinandersetzung mit dem norwegischen König siehe Kap. 7.4.1.



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Hinzu kommt, dass die Position einer Figur innerhalb der narrativen Hierarchie schwerer wiegt als ihr tatsächlicher sozialer Status. Vielschichtige und prächtige Protagonisten werden hier meist flachen Nebenfiguren gegenübergestellt, wobei deren genaue Position im gesellschaftlichen Gefüge ebenso in den Hintergrund tritt, wie Recht und Gesetz. Der Bolla þáttr etwa dreht sich im Kern nicht um die Frage, ob Helgi rechtlich befugt ist, Bolli wegen Diebstahls vorzuladen, sondern um die Dreistigkeit eines kleinen und törichten Mannes im Gegensatz zur Exzellenz des Protagonisten. Die Nebenfigur Otkell der Njáls saga ist ihrem Helden Gunnarr weniger sozial unterlegen, als vielmehr narrativ. Er muss verlieren, da sogar hochstehende Figuren wie Geirr oder Gizurr den Konflikt mit Gunnarr scheuen, obwohl dieser ihnen eigentlich weit unterlegen sein müsste. Egill, der Protagonist mit der höchstmöglichen sozialen und narrativen Stellung, verbalisiert die hierarchische Ordnung der Sagagesellschaft direkt: Ein Mann seiner Abstammung wird immer wissen, wie man mit Angriffen und Begehrlichkeiten von Nebenfiguren umzugehen hat, egal wie hoch deren sozialer Status sein mag. In den Eigentumsdelikten der Mǫðruvallabók existiert weder eine Gleichheit vor dem Gesetz, noch vor der Erzählung. Die vorhandenen Hierarchien werden von den Figuren angesprochen und sind stets deutlich sichtbar. Die Sagagesellschaft wird keineswegs als homogen gezeichnet, und ist durch die zusätzliche Unterscheidung zwischen Protagonisten und Nebenfiguren innerhalb der einzelnen Erzählung sogar noch hierarchischer gegliedert, als das dargestellte soziale Gefüge dies ohnehin erwarten ließe.67 Diese anhand der Sagas der Mǫðruvallabók gewonnene Erkenntnis trifft auch auf andere Vertreter der Gattung zu, was anhand zweier Beispiele demonstriert werden soll. 7.1.2.1 Raub als Reminiszenz in der Fljótsdœla saga Versteht man die Sagas der Mǫðruvallabók als Zentrum der Gattung, müsste man die Fljótsdœla saga an ihrer Peripherie verorten. Dies liegt vor allem an ihrer Datierung; lange Zeit wurde sie als die jüngste aller Isländersagas angesehen.68 Auch, wenn die Datierung der Saga mittlerweile in Frage gestellt wurde,69 kann man wohl festhalten, dass sie viele Motive aus anderen Isländersagas aufnimmt und es sich deshalb um einen eher späten Vertreter der Gattung handeln muss. Sayers kommt in seiner Analyse der Figuren der Fljótsdœla saga zum Schluss: »The author’s most

67 Zur Gesellschaftsstruktur der dargestellten Welt vgl. ausführlich Kap. 2.1. 68 Sie wurde sogar bis ins frühe 16. Jahrhundert datiert, vgl. Jónas Kristjánsson 1988, S. 254–255. 69 Die späte Datierung wurzelt insbesondere in einem scheinbaren Anachronismus, da eine Figur über einer fornsögu sitzt, also selbst eine Saga lesen soll. Stefán Karlsson 1994 (insb. S. 747–748) argumentiert dagegen, dass dieser Begriff wahrscheinlich eine geschnitzte Bildergeschichte bezeichne, weshalb die Saga durchaus älter sein könne, als bisher angenommen.

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influential reading seems to have been in the collection of family sagas preserved in Mǫðruvallabók.«70 Diese aus Figurenanalysen gewonnene Einsicht kann durch die Analyse der sozialen Hierarchien bestätigt werden. Auch hier orientiert sich das Wertesystem der Fljótsdœla saga an dem der Mǫðruvallabók. Die Saga beginnt an der Spitze der sozialen Ordnung mit den Nachkommen von Hrafnkell Freysgoði, einer der berühmtesten Figuren aller Isländersagas. Am Ende des Kapitels wird ein unbedeutender Bauer namens Ölviðr eingeführt, heimskr ok illgjarn ok í öllu ójafnaðarmaðr.71 Dieser Ölviðr ist an einem Gletscher unterwegs, als ihm seine Pferde entlaufen. In diesem Moment sieht er die Pferde von Ásbjörn Hrafnkelsson und weist seine Knechte an, stattdessen diese zu beladen. Den Männern erscheint die Idee von Anfang an schlecht; schließlich wisse man, dass es schon im Umgang mit Ásbjörns Vater unklug gewesen sei, ein Pferd unerlaubt zu reiten.72 Ölviðr beschließt jedoch, er werde sich nicht in Gefahr bringen, nur um das Eigentum anderer Männer zu schonen. Nach erfolgreichem Heimritt schickt er die Pferde verschmutzt zurück ins Hochland. Als Ásbjörn von diesem Vorgang erfährt, reitet er zu Ölviðr und macht ihm besonnene Angebote. Ölviðr beharrt aber auf seinem Standpunkt, sodass ihn Ásbjörn auf dem nächsten Thing wegen hrossamálit73 vorlädt. Offenbar lautete die Anklage auf Diebstahl, denn Ölviðr wird umgehend geächtet und im direkten Anschluss von Ásbjörn getötet: Ásbjörn kvaðst svó leiða skyldu smámönnum at veita bóndum ágang.74 Nicht nur erinnert die Passage in ihrer Zurschaustellung der sozialen Hierarchie an die Egils saga, auch teilt der Bauer Ölviðr einige Merkmale mit dem törichten Helgi des Bolla þáttr. Zusätzlich zum sicherlich richtigen Befund, die Fljótsdœla saga sei stark von den Sagas der Mǫðruvallabók beeinflusst,75 steht die Erzählung nicht nur die 70 Sayers 1996, S. 57. 71 Fljó 1, S.  216; »töricht und bösartig, und in allen Dingen ein Unruhestifter.« Zum Konzept des ójafnaðarmaðr vgl. Kap. 6. 72 In der Hrafnkels saga Freysgoða schwört Hrafnkell, jeden Mann zu töten, der sein Pferd Freyfaxi ohne Erlaubnis reitet. Als das Tier eines Tages verschwitzt nach Hause kommt und sich herausstellt, dass der Knecht Einarr es ohne böse Absicht geritten hat, tötet Hrafnkell ihn widerwillig, um seinen Eid zu erfüllen. 73 Fljó 2, S. 218; »der Pferdesache«. 74 Fljó 2, S. 218; »Ásbjörn sagte, auf diese Weise sollten den kleinen Leute Angriffe auf die Bauern verleidet werden.« 75 Die Fljótsdœla saga versammelt einige aus anderen Sagas bekannte Figuren und Motive. Unter anderem taucht die Protagonistin der Laxdœla saga, Guðrún Ósvífrsdóttir, in einer Episode auf und wird so augenfällig als weithin bekannt vorausgesetzt, dass man von einem Cameoauftritt sprechen möchte. Diese Art des Erzählens hat heute einen schlechten Ruf als Fan-Fiction, der den modernen Vorstellungen von geistigem Eigentum und Urheberrecht geschuldet ist. Den zeitgenössischen Rezipienten wird sie aber keineswegs aufgestoßen sein: Das Wiedererzählen bekannter Stoffe und die Einbindung bekannter fiktiver oder historischer Persönlichkeiten war im Gegenteil weit verbreitet und beliebt, vgl. Schulz 2015, S. 124–127. Zur erzähltheoretischen Sicht auf ›transtextuelle‹ Figuren, die in mehreren literarischen Werken auftreten, vgl. Richardson 2010.



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Genealogie ihrer Figuren betreffend in der Nachfolge der Hrafnkels saga F ­ reysgoða. Der Streit, der aus Hrafnkells Erschlagung des Knechts Einarr hervorgeht, dreht sich durchgängig um die unterschiedliche soziale Stellung der Kontrahenten. Als Einarrs Verwandte Hrafnkell schließlich vor Gericht laden, bezeichnet Hrafnkell dies als hlœgilegt.76 Als sich auf dem Thing Hrafnkells Niederlage abzeichnet, ruft er seine Männer zum Kampf. Hafði hann þat í hug sér at leiða smámǫnnum at sœkja mál á hendr honum.77 Es handelt sich bei Ásbjörns Ausspruch um eine deutliche Reminiszenz an seinen Vorfahren Hrafnkell, übertragen auf eine sehr ähnliche Situation, einen unerlaubten Ritt. Für beide Sagas lässt sich die gleiche hierarchische Struktur feststellen, die auch die Erzählungen der Mǫðruvallabók prägt: Der angesehene, mächtige Bauer gerät in Rage, wenn ein unbedeutender Kleinbauer sein Eigentumsrecht in Frage stellt, und das Machtgefüge der erzählten Welt wird an solchen Bruchstellen besonders sichtbar. 7.1.2.2 Widerwilliger Raub in der Hœnsa-Þóris saga In wenigen Sagas sind die verschiedenen sozialen Schichten der Sagagesellschaft so augenfällig, wie in der Hœnsa-Þóris saga. Sämtliche am Eigentumskonflikt beteiligten Figuren werden bei ihrer Einführung präzise innerhalb des sozialen und narrativen Spektrums der erzählten Welt positioniert. Tungu-Oddr wird mit einer fünf Generationen zurückblickenden Genealogie, seiner Wohnstätte, seiner Frau und den Namen seiner vier Kinder vorgestellt. So wird erkenntlich, dass es sich um einen in der Gesellschaft etablierten Mann handelt, auch wenn er keinen guten Ruf genießt: [E]ngi var hann kallaðr jafnaðarmaðr.78 Mit einer kürzeren Genealogie müssen Arngrímr goði (»der Gode«) und sein Sohn Helgi auskommen, deren hohe Stellung aber bereits durch das Godenamt offensichtlich ist. Blund-Ketill, der später gezwungenermaßen einen Raub begehen wird, wird zunächst als Protagonist der Saga angelegt. Verortet wird er innerhalb der Gesellschaft mit Hilfe einer zweigliedrigen Genealogie und einer genauen Beschreibung seiner Vermögensverhältnisse. Wie bei Tungu-Oddr wird von seinem Ruf berichtet, er aber ist inn vinsælasti maðr í heraðinu.79 Zudem erhält er den ungewöhnlichen Erzählerkommentar, er sei bezt at sér í fornum síð. 80

76 Hrk 3, S. 109; »lächerlich«. 77 Hrk 4, S. 117; »Er hatte im Sinn, es den kleinen Bauern zu verleiden, Klagen gegen ihn anzustrengen.« Vgl. auch Heusler 1911, S. 101. 78 Hœns 1, S. 3–4; »man bezeichnete ihn nicht als gerechten Menschen.« 79 Hœns 1, S. 5; »der beliebteste Mann im Bezirk.« 80 Hœns 1, S. 5; »der Vortrefflichste zur Zeit des heidnischen Glaubens.« Von einer neutralen Erzählhaltung kann in dieser Saga insgesamt keine Rede sein, wie auch Andersson 1967, S. 116 bemerkt: »The notion that the sagas characterize objectively has no place in Hœnsa-Þóris saga, where the chiaroscuro is extreme.«

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Hœnsa-Þórir (»Hühner«-Þórir),81 die titelgebende Figur der Saga und der spätere Bestohlene, ist dagegen die einzige Figur, die völlig ohne Genealogie oder familiäre Anbindung in der Erzählung auftaucht: Þórir hét maðr; hann var snauðr at fé ok eigi mjǫk vinsæll af alþýðu manna. Hann lagði þat í vanda sinn, at hann fór með sumarkaup sitt héraða í milli ok seldi þat í ǫðru, er hann keypti í ǫðru, ok grœddisk honum brátt fé af kaupum sínum. […] En þó at honum grœddisk fé mikit, þá héldusk þó óvinsældir hans, því at varla var til óþokkasælli maðr en Hœnsa-Þórir var.82

Hœnsa-Þórir trägt alle Kennzeichen einer unbedeutenden Nebenfigur: Er hat keine verwandtschaftlichen Verbindungen auf Island, keinen ererbten oder verliehenen Hof, und zieht umher, wie es einfache Krämer und Bettler tun. Klassischerweise müsste er bald wieder aus der Saga verschwinden, und könnte vorher beispielsweise Nachrichten von einem Hof zum anderen tragen, wie es der Figurenanlage entspräche. Stattdessen steigt er zu einem wohlhabenden Bauern auf, dem aber trotz seines ehrlich erworbenen Vermögens eine enorme Ablehnung entgegenschlägt, die in der Diegese nicht begründet wird. Jahrhunderte vor der Erfindung des amerikanischen Traums erhält Þórir weder vom Erzähler noch von den Figuren jene Sympathie, die ein modernes Publikum einem Selfmademan entgegenbringen könnte.83 Weiß man von einem Eigentumsdelikt in dieser Saga, wäre der geldgierige und unbeliebte Hœnsa-Þórir der Hauptverdächtige, gefolgt vom ójafnaðarmaðr TunguOddr. Stattdessen ist es Blund-Ketill, der Vortrefflichste der heidnischen Zeit, den die Umstände dazu zwingen, einen Raub zu begehen. Nach der Figureneinführung folgt eine Exposition, die beide Kontrahenten weiter im sozialen Gefüge positioniert: Þórir bringt mit großem finanziellem Einsatz den Goden Arngrímr dazu, ihm seinen Sohn Helgi als Ziehkind anzuvertrauen, und im Gegenzug für die Erziehung des Kindes seine Unterstützung zu versprechen. Blund-Ketill gerät derweil in Schwierigkeiten mit Tungu-Oddr. Ein sehr trockener Sommer ruft eine Heuknappheit hervor, die ausführlich beschrieben wird. Blund-Ketill unternimmt mehrere vorausschauende Schritte, um seine Gefolgsleute vor katastrophalen Folgen zu bewahren. Seine Ratschläge werden nicht ausreichend befolgt, sodass er wider besseres Wissen mehreren Leuten

81 Hühner gehören zu den Handelswaren, die Þórir als umherziehender Händler am Anfang seiner Karriere feilbietet. Zum lokalen Handel Islands zur Sagazeit und der Darstellung in der Hœnsa-Þóris saga vgl. Jón Viðar Sigurðsson 2013. 82 Hœns 1, S.  6; »Ein Mann hieß Þórir. Er war arm an Vermögen und nicht besonders beliebt bei allen Leuten. Er machte es sich zur Angewohnheit, mit seinem Sommereinkauf zwischen den Bezirken umherzuziehen und in einem Bezirk zu verkaufen, was er im anderen Bezirk erworben hatte, und mit seinen Verkäufen verdiente er sich rasch ein Vermögen […]. Doch obwohl er sich ein großes Vermögen angehäuft hatte, blieb seine Unbeliebtheit bestehen, da es kaum einen verhassteren Menschen gab, als Hœnsa-Þórir einer war.« 83 Zur Figurenzeichnung Þórirs und der fehlenden Verortung im gesellschaftlichen Gefüge siehe auch Würth 1999b, S. 240.



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Heu überlässt und seine eigenen Vorräte schwinden (Hœns 4). Schließlich hat nur noch Hœnsa-Þórir einen nennenswert gefüllten Heuschober, und Ketill macht sich auf den Weg zu ihm. Bei Þórir angekommen schickt er den jungen Helgi, um seinen Ziehvater zu holen. Dieser reagiert sofort abwehrend, er habe nichts mit Blund-Ketill zu besprechen. Blund-Ketill macht großzügige Angebote, verspricht hohe Preise und zusätzliche Geschenke, doch will sich Hœnsa-Þórir nicht erweichen lassen. Er gibt vor, das Heu für sein eigenes Vieh zu benötigen, was sorgsam von Blund-Ketill nachgerechnet und verneint wird: Selbst, wenn er bis zum Sommer alle seine Tiere mit dem Heu füttern müsste, würde noch ausreichend übrigbleiben. Þórir kommt an diesem Punkt auf den Machtunterschied zwischen ihnen zu sprechen: ›[E]n veit ek, at er sá ríkismunr okkar, at þú munt taka mega hey af mér, ef þú vill.‹84 Blund-Ketill erwidert  – ähnlich wie Gunnarr in der Njáls saga –, dass er so nicht vorgehen wolle: ›Eigi er þann veg upp at taka; þat veiztu, at silfr gengr í allar skuldir hér á landi, ok gef ek þér þat við.‹85 Wie Gunnarr bietet Blund-Ketill allerlei Alternativen zum Tausch und zur Bezahlung der Schuld, doch will sich Þórir auf keinen Handel einlassen. Allerdings endet die Szene anders als in der Njáls saga, indem Blund-Ketill sich das Heu nimmt: ›Þá mun fara verr, ok munu vér allt at einu hafa heyit, þó at þú bannir, en leggja verð í staðinn ok njóta þess, at vér erum fleiri.‹86 Es wird angefügt, dass man für Þórirs Vieh ausreichend Futter zurückgelassen habe. Þórir reist im Anschluss mit Helgi zu dessen Vater Arngrímr, und antwortet auf dessen Frage nach Neuigkeiten: ›Ekki hefi ek nú nýligra spurt en ránit.‹87 Auf Nachfrage fügt er an: ›Blund-Ketill hefir rænt mik ǫllum heyjum, svá at eigi ætlak forkast eptir nautum í kǫldu veðri.‹88 Arngrímr verdächtigt Þórir umgehend der Lüge und befragt seinen Sohn, der die Sache wahrheitsgemäß darstellt. Der Gode verweigert darauf dem Ziehvater seines Sohnes die Hilfe. Þórir zieht weiter und gelangt an den Hof von Tungu-Oddr. Auch dort wird er nach Neuigkeiten gefragt und antwortet: ›Ekki hefi ek nýligra frétt en ránit‹,89 und behauptet erneut, er könne sein Vieh nicht versorgen. Abermals wird die Erzähllogik der Figureneinführung durchkreuzt: Selbst der ójafnaðarmaðr Tungu-Oddr lässt sich von Helgi die wahre Geschichte berichten, und

84 Hœns 5, S. 15; »›Aber ich weiß, dass der Unterschied an Macht zwischen uns so ist, dass du von mir Heu nehmen kannst, wenn du es willst.‹« 85 Hœns 5, S. 15–16; »›Diesen Weg werde ich nicht einschlagen. Du weißt, dass Silber alle Schulden hier im Land begleicht, und das werde ich dir geben.‹« 86 Hœns 5, S.  16; »›Dann wird es umso schlimmer enden, und wir werden uns das Heu trotzdem nehmen, auch wenn du es verbietest, und den Gegenwert an seine Stelle legen, und ausnutzen, dass wir in der Überzahl sind.‹« 87 Hœns 6, S. 17; »›Ich habe nichts Neues zu berichten, abgesehen vom Raub.‹« 88 Hœns 6, S. 17; »›Blund-Ketill hat mich meines gesamten Heus beraubt, sodass für die Rinder bei kaltem Wetter kein Futter übrig ist.‹« 89 Hœns 6, S. 18; »›Ich habe nichts Neues zu berichten, abgesehen vom Raub.‹«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

versagt daraufhin Þórir seine Unterstützung. Im Gegenteil betont er, er hätte in dieser Situation genauso gehandelt, wie es Blund-Ketill getan habe. Schließlich kann er sich dem Fall aber nicht ganz entziehen, da Þórir in TunguOddrs Sohn Þorvaldr einen Unterstützer findet, der seine Klage übernimmt. Die dritte Variation seiner Antwort auf die Frage nach Neuem lautet: ›Raun var þetta, er BlundKetill rænti mik.‹90 Þorvaldr kann nicht verstehen, wieso die mächtigen Männer im Bezirk diese Schmach nicht vergelten wollen. Þórirs Angebot, ihm die Hälfte seines Vermögens zu überlassen, überzeugt den jungen Mann zudem mehr, als die Warnung Arngrímrs, sich nicht mit Þórir einzulassen. Schon am nächsten Morgen reitet Þorvaldr mit großem Gefolge zu Blund-Ketill, der ihn freundlich aufnehmen möchte. Þorvaldr drängt aber: ›[E]k vil vita, hverju þú vill svara fyrir mál þat, er þú tókt upp hey Þóris.‹91 Wieder bietet Blund-Ketill an, jeden Preis für das Heu zu zahlen und bietet Þorvaldr sowohl Geschenke an als auch jede erdenkliche Ehrerweisung. Das Angebot verlockt Þorvaldr, doch hetzt Þórir ihn weiter auf und drängt darauf, keinen Vergleich einzugehen. Þorvaldr kapituliert: ›Svá lízk mér sem engi sé annarr á gǫrr en at stefna.‹92 Er lädt Blund-Ketill um rán93 vor Gericht, und hefir þau orð ok umkvæði, sem hann fekk frekust haft.94 Als Blund-Ketill zu seinem Hof zurückkehrt, trifft er seinen norwegischen Gast Ǫrn. Diesem erklärt er seine aufgebrachte Verfassung: ›Eigi em ek sárr, en eigi er þetta betra; þau orð eru tǫluð við mik, sem aldri hafa áðr tǫluð verit, ek em kallaðr þjófr ok ránsmaðr.‹95 Die synonyme, akkumulierende Verwendung der beiden Begriffe þjófr und ránsmaðr unterstreicht den Verleumdungscharakter ebenso wie Ketills aufgebrachte Verfassung. Ǫrn handelt blitzschnell, ergreift einen Pfeil, dreht sich um, und schießt auf die gerade aufsattelnde Menschenmenge rund um Þórir und Þorvaldr. Der Pfeil tötet ausgerechnet den schuldlosen Helgi Arngrímsson. Die Erzählung legt hier Wert auf die genaue Abfolge der Ereignisse: Þórir drängt sich als erster zu Helgi: Hann laut at Helga niðr, ok var hann þá dauðr. Þórir mælti: ›Talaði sveinninn við mik; sagði hann tysvar it sama, þetta hérna: ›Brenni, brenni Blund-Ketil inni.‹96 Þórirs Aussage wird durch die Anmerkung, Helgi sei bereits tot, für den Rezipienten eindeutig als Lüge erkenntlich. Die Figuren können dies allerdings nicht mit Bestimmtheit feststellen. Helgis Vater

90 Hœns 7, S. 20; »›Tatsächlich hat Blund-Ketill mich beraubt.‹« 91 Hœns 8, S. 21–22; »›Ich will wissen, was du auf den Vorwurf antwortest, dass du Þórirs Heu genommen haben sollst.‹« 92 Hœns 8, S. 22; »›Es scheint mir, als gäbe es keine andere Möglichkeit, als dich vorzuladen.‹« 93 Hœns 8, S. 22; »wegen Raubes«. 94 Hœns 8, S. 23; »benutzt Worte und Redewendungen, wie er sie mit größter Strenge findet.« 95 Hœns 8, S. 23; »›Ich bin nicht verwundet, aber dies ist nicht besser: Mit mir wurden Worte gesprochen, wie sie nie an mich gerichtet wurden; ich werde Dieb und Räuber genannt.‹« 96 Hœns 8, S. 23; »Er kniete sich zu Helgi nieder, und dieser war tot. Þórir sprach: ›Der Junge hat mit mir gesprochen, er sagte zweimal dasselbe, und zwar: ›Verbrennt Blund-Ketill, verbrennt ihn drinnen‹.‹«



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

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Arngrímr weiß nun, dass Schlimmes folgen wird, da er den Tod seines Sohnes nicht ungerächt lassen kann. Wieder wird umgehend gehandelt und innerhalb weniger Worte die brenna (der »Mordbrand«) an Blund-Ketill und seinem Gefolge vollzogen. Ketills Sohn Hersteinn ist währenddessen bei seinem Ziehvater und sieht in einem Traum seinen Vater brennen. Die beiden suchen Tungu-Oddr auf und bitten ihn um Unterstützung. Gemeinsam reiten sie zum Ort des Mordbrands, wo sich Tungu-Oddrs wahre Natur offenbart: Er reißt ein brennendes Holzstück aus dem Haus, rennt damit um das Haus und verkündet: ›Hér nem ek mér land, fyrir því at hér sé ek nú eigi byggðan bólstað; heyri þat váttar, þeir er hjá váru.‹97 Der Ziehvater des so des soeben seines Erbes beraubten Hersteinns reagiert umgehend, und lässt alle Vorräte und das Vieh aus dem Nebenhaus abtransportieren (Hœns 9). Diese Expedition beobachtet der Nachbar Þorkell trefill und bietet freigiebig an, das Vieh bei sich weiden zu lassen. Þorkell trefill und Hersteinns Ziehvater gelingt es mit listenreichen Manövern, stattliche Unterstützung für den jungen Hersteinn zu organisieren (Hœns 10–12). Die folgenden Konflikte drehen sich um die brenna, der Raub Ketills spielt keine Rolle mehr. Nach einigen Wirrungen tötet Hersteinn Hœnsa-Þórir (Hœns 15). Auch über die widerrechtliche Aneignung des Landes durch Tungu-Oddr wird zunächst kein Wort verloren: Hersteinn betrachtet das Land weiterhin als sein Eigentum, als er diese Wohnstätte mit seinem Verwandten Gunnarr tauscht. Dieser Gunnarr baut einen neuen Hof, und erst im Anschluss an alle Verhandlungen möchte Tungu-Oddr etwas von dessen Land abhaben, ›þar er aðrir menn hafa sezk á eigur mínar at rǫngu.‹98 Oddr schickt seinen Sohn vor und reitet selbst etwas später mit großem Gefolge zu Gunnarrs Hof (der früher Blund-Ketill gehörte), um das Gehöft erneut anzuzünden. Inzwischen hat sein Sohn aber sein eigenes Vorhaben verfolgt und Gunnarr die Verlobung mit seiner schönen Tochter abgerungen. Als Tungu-Oddr an den Hof kommt, findet er seinen Sohn und seinen Feind versöhnt vor, und findet sich widerwillig mit seiner Niederlage ab (Hœns 17). In der Hœnsa-Þóris saga werden sowohl soziale und narrative Hierarchien als auch die Mechanismen der Fehde schonungslos offengelegt. Dies geschieht so stark, dass eine bewusste Überzeichnung denkbar ist, wie sie Stefanie Würth in ihrer Lesung der Saga als Parodie annimmt. Blund-Ketill und Hœnsa-Þórir werden scheinbar als Kontrastpaar etabliert, die »Polarisierung der beiden Personen stimmt jedoch nur, wenn man die subversive Kraft der Komik außer Acht lässt.«99 Blund-Ketills extrem positive Figurenzeichnung wird immer wieder durch das Handeln seines Umfelds

97 Hœns 9, S. 25; »›Hier nehme ich Land, da ich hier nun keinen bewohnten Hof sehe. Dies sollen die Zeugen hören, die hier anwesend sind.‹« Die Ironie dieser Szene im Kontext von Landnahmeriten, Intertextualität, magischer Verkehrung und der sarkastischen Äußerung bespricht Würth 1999b, S. 251–252. 98 Hœns 17, S. 25; »›wo andere Männer sich widerrechtlich mein Eigentum angeeignet haben.‹« 99 Würth 1999b, S. 242.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

konterkariert,100 sodass man ihn entweder als Karikatur lesen kann, oder als edelsten und ehrenhaftesten aller Sagaprotagonisten, wie dies Andersson tut: In the final phase of the conflict Blund-Ketill’s patient rehearsal of his offers to Þorvaldr and his silent acceptance of the roughly worded summons show a Njáll-like long-suffering. The famous non sequitur with which Þorvaldr responds to the final, irrefutable concession (›It looks to me as though there is no choice but to summon.‹) simply shows that Blund-Ketill is not vulnerable on a rational level and can only be reached when all norms of social and legal communication are abandoned.101

Þórir auf der Gegenseite wird ebenso stark überzeichnet; es handelt sich um eine augenscheinlich rein negative Figur, deren einziges Streben darauf gerichtet ist, Unheil zu stiften und den eigenen Profit zu mehren  – trotzdem ist sie juristisch betrachtet im Recht und innerhalb des Konflikts das Opfer eines Raubüberfalls. Mit Hœnsa-Þórir steigt eine Figur in die höchsten Kreise der Sagagesellschaft auf, die die Mechanismen der Ehre zwar kennt, ihnen aber nicht unterworfen ist. Es gelingt ihm mehrfach, sich die Regeln dieser Gesellschaftsschicht zu Nutze zu machen, indem er Blund-Ketill zu einem Raub zwingt, den dieser nie begehen wollte, und danach einen Mordbrand provoziert, den außer ihm niemand durchführen wollte: »Þórir erpreßt die Leute […] zu ehrenhaftem und sagakonformem Handeln.«102 Zum einen pocht er ohne jede Mäßigung, die den Protagonisten normalerweise auszeichnet, auf die strikte Befolgung des Rachegebotes und zum anderen lässt er durch sein schnelles Vorgehen nie Zeit für Gespräche und Kompromisse. So gelingt es ihm, seine Kontrahenten zu vorschnellen, aber vermeintlich ehrenhaften Handlungen zu verleiten. Die Normen und Hierarchien der Sagagesellschaft treten in der Konfrontation der Figuren Þórir und Blund-Ketill besonders deutlich hervor. Seit Konrad Maurer 1871 darauf aufmerksam machte, dass die Heuraubepisode der Hœnsa-Þóris saga von den juristischen Bestimmungen der Jónsbók beeinflusst sein müsse,103 wurde dieser Zusammenhang immer wieder in der Forschung diskutiert.104 Das ab 1281 in Island eingeführte Gesetzbuch sah vor, dass Heuvorräte

100 Vgl. Würth 1999b, S. 241. So wird sein Rat nicht befolgt, und auch seine extreme Milde könnte immer wieder als Dummheit gelesen werden: »Die Saga geht dabei sehr geschickt vor, indem sie nun Blund-Ketill nicht explizit als dummen oder schwachen Menschen charakterisiert, sondern indem sie nur die Möglichkeit eröffnet, seine Eigenschaften auch von einer anderen Seite zu betrachten« (Würth 1999b, S. 242). 101 Andersson 1967, S. 117. 102 Würth 1999b, S. 244. 103 Vgl. Maurer 1871. 104 Wie viele Kommentatoren nach ihm (vgl. Berger 1976), verknüpft Maurer diese Feststellung mit dem möglichen Entstehungszeitpunkt der Saga, vgl. Maurer 1871, S. 195: »Es ist nicht nur rein undenkbar, dass der Heuraub Blundketils von unserer Sage in so harmloser Weise, wie dies geschehen ist behandelt worden wäre, wenn dieselbe erst zu einer Zeit aufgezeichnet worden wäre, da jene heftigen Verhandlungen noch im Gange, oder doch noch in frischer Erinnerung waren, sondern auch kaum



7.1 Vertikale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub am Schwächeren 

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während einer Hungersnot auf ähnliche Weise für die Allgemeinheit beschlagnahmt werden dürften, wie Blund-Ketill es in der Saga unternimmt.105 Maurer weist in seinen Ausführungen darauf hin, dass gerade diese Vorschrift dem älteren Recht stark zuwiderlaufe, und auf dem Allthing 1281 heftig umstritten war.106 Es liegt daher nahe, die Saga als Kommentar zur geänderten Rechtslage zu lesen. Dies bereitet aufgrund ihrer Erzähltechnik jedoch einige Schwierigkeiten. Uwe Ebel untersucht, welche narrativen Konsequenzen die Umdeutung der aus anderen Sagas bekannten Heuraubepisode in der Hœnsa-Þóris saga nach sich ziehe. Vor allem habe sich die Fragestellung verschoben, indem die »Opposition Legalität versus Illegalität in die von Legitimität versus Illegitimität überführt«107 sei. Ebel verwehrt sich trotzdem dagegen, die Saga als ein Propagandastück für die neuen Bestimmungen der Jónsbók zu lesen, vielmehr seien lediglich Wendungen der Jónsbók in die Saga eingeflossen108 und dort ebenso literarisch verarbeitet worden, wie viele andere Einflüsse.109 Ungeachtet der Datierungsfrage und einiger anderer Kontroversen in der Forschungsdiskussion,110 sei hier Ebels Gedanke der Neubewertung aufgegriffen. Insbesondere, wenn man die oben skizzierte Möglichkeit der Parodie mitdenkt, ist das Thema der Saga weit weniger, wer juristisch betrachtet im Recht ist, oder es sein sollte.111 Vielmehr werden die Gesetzmäßigkeiten der Sagawelt hinterfragt, und dabei in Frage gestellt, was rechtens ist, und welche Auswirkungen die Ehrvorstellungen der dargestellten Gesellschaft mit sich bringen. Hœnsa-Þórir ist der einzige soziale Außenseiter der Gattung, dem es gelingt, über einen ehrenhaften Großbauern zu triumphieren.112 Obwohl scheinbar als Nebenfigur konzipiert, wird ihm ein hohes Maß an Schläue und taktischem Kalkül zugeschrieben, welches die angesehenen Figuren

wahrscheinlich, dass ein Ueberarbeiter derselben, der unter solchen Eindrücken geschrieben hätte, in keinem Worte eine Spur der Stimmung seiner Zeit hinterlassen haben sollte. Die Ueberarbeitung unserer Quelle […], wird hiernach entweder noch vor das Jahr 1280 oder aber erst in das 14.  Jahrhundert zu setzen sein.« 105 Vgl. Jón § VII;12, S. 139–40. 106 Dies wird in der Árna saga biskups geschildert. Dort heißt es: [A]llir menn sé frjálsir i þessu landi sínu góðzi at ráða. […] hverr vill ráða heyjum sínum ok annarri eign (Árna 62, S. 92; »Jedem Mann in diesem Land steht es frei, über seinen Besitz zu bestimmen […] jeder will über sein Heu und sein weiteres Eigentum bestimmen«). Diese Vorstellung steht den Vorstellungen der Grágás nahe und zeigt die Anpassungschwierigkeiten an das neue Gesetz. 107 Ebel 1982, S. 33 (Hervorhebungen im Original). 108 Vgl. Ebel 1982, S. 43. 109 Vgl. Ebel 1982, S. 50–51. 110 Ebels hier vorgestellte Lesart wurde von Baumgartner 1987 angegriffen, worauf Ebel 1989 ausführlich antwortete, und seine Argumentation untermauerte. Dieser mit harschen Worten geführte Forschungsstreit soll hier nicht weiter vertieft werden. 111 Verteidigt und als Opfer der Geschehnisse betrachtet wurde Þórir zuerst von Mundt 1973, auch Baumgartner 1987, S. 85 interpretiert ihn als »Sündenbock«. 112 Vgl. auch Andersson 1967, S. 116; »The humilation of a wealthy landowner obliged to bargain with a rootless upstart, who insults him at every turn, is unique in the sagas and in saga ethic, […].«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

herausfordert. Deren Ehrkodex treibt sie in Konflikte, die sie nie austragen wollten, und die sie nicht ohne große persönliche Verluste bereinigen können. In der HœnsaÞóris saga werden die bekannten Hierarchien der Gattung in Frage gestellt, was sie gleichsam zur Diskussion stellt. Nicht nur kann Þórir, der narrativ wie sozial auf der untersten Hierarchiestufe beginnt, die Leiter im Laufe der Erzählung erklimmen und sogar eine ihm weit überlegene Figur wie Blund-Ketill übertrumpfen, auch das Verhalten der hochgestellten Figuren wird in Frage gestellt. Deren Wertvorstellungen scheinen überkommen und bieten keine angemessene Reaktion auf einen Emporkömmling wie Þórir an. Das Gefüge der dargestellten Welt ist ins Wanken gekommen, ein Hühnerhändler sticht einen Goden aus, eine Nebenfigur diktiert den Protagonisten ihr Handeln. Nur anzunehmen, dass die Saga die Bestimmungen der Jónsbók kommentiere, trägt diesem Umstand ebenso wenig Rechnung, wie den vielen Mehrdeutigkeiten in der Narration, die verschiedene Lesarten der Saga evozieren. Die Hœnsa-Þóris saga kann zwar als Kommentar zu den Wertvorstellungen der Sagawelt gelesen werden,113 liefert aber keine klaren Antworten, sondern eine Problembeschreibung. Dies regt tatsächlich dazu an, über ihren historischen Entstehungskontext nachzudenken, nicht nur im Bezug auf die Bestimmungen der Jónsbók, sondern auch auf das Ende des isländischen Freistaats: »In Blund-Ketill the saga-writer created the ideal of the traditional socio-economic system at a time when this system was collapsing.«114 Die Saga reflektiert nicht nur neue juristische Bestimmungen zum Umgang mit Heu in Krisensituationen, sondern die Krisensituation als solche, in der Macht, Besitz und Ehre neu verhandelt werden müssen. Sie ist weniger als Parodie im Sinne einer spöttisch-komischen Nachahmung zu verstehen, denn im Sinne einer Überzeichnung, die die Eigenschaften der Isländersagas und ihrer Figuren karikiert. Wertvorstellungen und Figurentypen werden in einer Extremform dargestellt, die der Gattung normalerweise fremd ist. Schaubildartig stellt sie damit die Probleme der dargestellten Gesellschaft zur Diskussion.

7.2 Horizontale Eigentumsdelikte: Diebstahl und Raub innerhalb der eigenen sozialen Schicht Kommt es innerhalb derselben sozialen Schicht zu Eigentumsdelikten, sind diese fast immer als Kraftproben funktionalisiert, bei denen Figuren von ähnlichem sozialem und narrativem Status gegeneinander antreten. Der mögliche Ehrgewinn ist in horizontalen Konflikten weit größer, da es viel schwieriger ist, eine gleichrangige Figur zu berauben, als einen niedrigstehenden Knecht um sein Eigentum zu bringen. Inner-

113 Wie etwa von Durrenberger, Durrenberger u. Ástráður Eysteinsson 1986–89. 114 Durrenberger, Durrenberger u. Ástráður Eysteinsson 1986–89, S. 160.



7.2 Horizontale Eigentumsdelikte 

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halb der höheren Gesellschaftsschichten kommt es in fast allen Fällen zu Raub, Diebstahl wird nur selten und sehr spezifisch eingesetzt.115 Während ein Diebstahl einer Sagafigur immer auf die ein oder andere Weise schadet, kann ein offener Raub durchaus positive Folgen nach sich ziehen. Das Wesen dieses Verbrechens liegt in der offenen und weithin sichtbaren Machtdemonstration, die durchaus ehrenhaft erfolgen kann. In manchen Episoden zeigt sich diese Natur des Verbrechens sehr deutlich, diese werden im Folgenden eingehend besprochen. Andere Episoden thematisieren die ehrenhafte Konnotation des Verbrechens nicht, sodass eine Figur für ein Verbrechen geradezu belohnt zu werden scheint. Das Handeln der Figuren erscheint unzureichend motiviert, und wird erst nachvollziehbar, wenn die Lektüre die Implikationen eines Raubes miteinbezieht – auch dies soll hier exemplarisch geschehen. Nur selten wird von Eigentumsdelikten innerhalb einer niedrigen sozialen Schicht berichtet, da diese für die Isländersagas nur von geringem Interesse ist. Sind Nebenfiguren involviert, handelt es sich eher um heimliche Diebstähle als um offenen Raub, und schon bald wird der Fall an höherstehende Figuren weitergereicht, die den Konflikt insgesamt auf eine neue soziale Ebene heben. Einen Sonderfall stellen die vielen Berichte über Walraub dar, der als Motiv sehr flexibel eingesetzt werden kann und den Handlungsfortgang beschleunigt.

7.2.1 Rán, Macht und Ehre Wie Figuren durch einen Raub ihr Ansehen steigern können, zeigt sich beispielsweise in der Víga-Glúms saga. Hier wirbt Þorgrímr Þórisson um Þórdís, eine Tochter von Gizurr. Diese Werbung wird abgelehnt, obwohl die beiden nach allgemeiner Meinung (ǫllum þotti)116 eine ebenbürtige Verbindung eingehen könnten. Glúmrs Vetter Arnórr kommt daraufhin von seinen Reisen zurück und bittet Glúmr, ihn bei der Werbung um Þórdís Gizurardóttir zu unterstützen. Glúmr sagt zu, obwohl ihm die daraus folgenden Schwierigkeiten bewusst sind. Auch der Brautvater ahnt, dass ihn die Entscheidung in Schwierigkeiten bringen wird, trotzdem willigt er ein, um Glúmrs Freundschaft zu gewinnen. Eines Tages hat Arnórr Malz vor der Türe liegen. Der abgelehnte Bräutigam Þorgrímr kommt vorbei und schlägt vor, dieses zu nehmen: ›Missum eigi maltanna, ef vér skulum þó missa konunnar.‹117 Arnórr erkennt, dass die anderen überlegen sind und flieht, während Þorgrímrs Männer das Malz mitnehmen. Schließlich kommt es zu einem Vergleich, bei dem Glúmr die Rolle des Schlichters einnimmt. Er wirbt für Þorgrímr um eine ebenbürtige Braut und wählt Herþrúðr, die Schwester von Þórdís,

115 Vgl. etwa die weiblichen Diebe in Kap. 5.3. 116 VíGl 10, S. 36; »alle fanden«. 117 VíGl 11, S. 38; »›Es wird uns nicht an Malz fehlen, wenn es uns schon an der Frau fehlen soll.‹«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

für ihn aus.118 Während der neue Schwiegersohn vor einem Kampf flieht, stellt der abgewiesene Brautwerber durch den Raub seine Durchsetzungskraft unter Beweis. Sowohl Glúmr als auch der Brautvater erkennen dessen gesteigerte Ehre an, indem sie ihm nun eine der beiden Schwestern zur Ehefrau geben. Der Malzraub stellt ein eher unbedeutendes Verbrechen dar, das nur dazu dient, Þorgrímrs Überlegenheit über den zweiten Brautwerber Arnórr darzustellen, und dem Vater vor Augen zu führen, dass er ein falsches Urteil gefällt hat. Natürlich schmälert der Vorfall im Gegenzug auch Arnórrs Ehre, was hier durch Glúmrs Schlichtung keine weiteren Konsequenzen entfaltet, normalerweise aber ebenso einen Konflikt auslösen kann. Wird ein Raub öffentlich und damit zum Gegenstand des allgemeinen Geredes, müssen Sagafiguren dies unterbinden, um ihr Ansehen zu bewahren. So ergeht es etwa Þorsteinn Ingimundarson und seinem Bruder Jǫkull, die in der Vatnsdœla saga in einen Konflikt mit ihrem Verwandten Már geraten. Dieser hat eine besonders fruchtbare Wiese in Besitz genommen, die sowohl an sein Land als auch an das der Ingimundarsöhne angrenzt. Sie kommen zum Entschluss, man dürfe nicht zulassen, beraubt zu werden, und machen Már und seinen Verbündeten, den Zauberer Þorgrímr, als Schuldige aus.119 Als die Brüder Þorgrímr aufsuchen wollen, ist dieser bereits zu Már geflüchtet. Jǫkull schlägt vor, man solle wenigstens ein wenig Schaden anrichten, doch Þorsteinn will sich dies nicht vorwerfen lassen: ›[N]enni ek eigi, at þat sé mælt, at vér takim upp fé hans, en fáim eigi veitt hann sjálfan‹.120 Als es zur Konfrontation kommt, räumt Þorsteinn seinem Verwandten noch Gelegenheit ein, die Wiese zurückzugeben, dieser beharrt aber auf seiner Meinung. Es gelingt nicht, Már und Þorgrímr zu fassen, da Þorgrímrs Zauberkunst beide immer wieder schützt. Inzwischen gibt es im ganzen Bezirk Getuschel über den Streit der Verwandten. Schließlich wollen die Ingimundarsöhne das Gerede beenden und greifen mit großer Mannschaft an – es fallen mehrere Männer, bis Már einsieht, dass er unterlegen ist, und Þorgrímrs Rat annimmt, Þorsteinn das Selbsturteil zu überlassen. Man verabredet, dass Þorsteinn das Urteil auf dem nächsten Thing verkünden soll. Sein Urteil widmet sich zunächst den Totschlägen, kommt aber auch auf die umstrittene Wiese zu sprechen: ›Már skal eiga Hjallaland, því at ór hans landi at eins má upp ganga, en gjalda oss brœðrum hundrað silfrs.‹121 Da das Selbsturteil auf dem Thing verkündet wurde, ist auch die Bußzahlung öffentlich bekannt. Auf diese Weise können die Ingimundarsöhne ihrem Verwandten das umstrittene Land über-

118 Nun heiraten beide Paare und bekommen etwa zeitlich je einen Sohn. Diese Cousins, Steinólfr Arnórsson und Arngrímr Þorgrímsson, gehen später eine innige Freundschaft ein, deren Scheitern den zentralen Konflikt der Saga bildet und Glúmr in Bedrängnis bringen wird. 119 Vgl. Kap. 3.1. 120 Vtn 29, S. 77; »›Ich möchte nicht, dass danach gesagt wird, wir hätten uns nur an seinem Vermögen vergriffen, und hätten ihn selbst nicht zu fassen bekommen.‹« 121 Vtn 29, S. 81; »›Már soll Hjallaland besitzen, weil man es nur von seinem Land aus betreten kann, und uns Brüder dafür mit einhundert Silber entschädigen.‹«



7.2 Horizontale Eigentumsdelikte 

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lassen – seine Aneignung einfach auf sich beruhen zu lassen, wäre trotz ihrer Verwandtschaft nicht möglich gewesen, ohne selbst an Ehre zu verlieren. 7.2.1.1 Rán als Machtdemonstration Der zentrale Konflikt der Bjarnar saga Hítdœlakappa spielt sich zwischen den beiden konkurrierenden Skalden Bjǫrn und Þórðr ab. Ihre Streitigkeiten wurzeln in ihrer beider Liebe zu Oddný, die mit Bjǫrn verlobt war, bis Þórðr sie durch eine Intrige für sich gewinnen und heiraten konnte.122 Einige Zeit später gelingt es Bjǫrn, seinen Rivalen in einem Versteck aufzuspüren. Der durchgängig als großmütig und offen gezeichnete Bjǫrn entschließt sich, Þórðr am Leben zu lassen, beschämt ihn aber schwer: Er raubt ihm und seinen Männern ihr Vermögen ebenso wie ein Handelsschiff – en af þeim tók hann fé ok svá knǫrrinn; síðan fló hann Þórð af gripunum, ok gerði hann sem hrakligast ráð hans allt.123 Þórðr reist darauf zum König, um sich bei diesem über den Raub zu beklagen. Auch Bjǫrn reist zum König, um ihm selbst vom Raub zu berichten und so seinem Zorn zu entgehen. König Óláfr will Bjǫrn zunächst verhaften lassen: Konungr kvað víkingum auðfengnar sakar við kaupmenn, er þeir girnask fé þeira.124 Darauf erhält Bjǫrn aber Gelegenheit, von den vorhergegangenen Streitigkeiten zu berichten. Der König schlichtet zwischen den Skalden, indem er Þórðr die umkämpfte Frau und deren Mitgift zuspricht, Bjǫrn aber eine vergleichbare Summe für Mitgift und Erbe der Braut aus der Beute behalten darf. Die beiden Kränkungen Raub der Frau und Raub des Vermögens (fjárreyta ok konutak125) sollen einander aufwiegen. Bjǫrn bekommt zusätzlich einen Ring und ein Gewand als Ersatz für den Ring, den er Þórðr für Oddný mitgegeben hatte, und wird vom König aufgenommen. Selten zeigt sich die Verwendung von Ehre als alternative Währung so deutlich wie in dieser Episode: Durch den Angriff auf Þórðr gelingt es Bjǫrn, ehrenvoll beim König empfangen zu werden, der zuvor mit seinem Rivalen sympathisiert hatte. Zwar kann er Oddný nicht mehr zurückerhalten, darf aber so viel von seiner Beute behalten, dass der finanzielle Verlust der Mitgift und des zu erwartenden Erbes kompensiert ist. Sogar der Ring, den er Oddný schenken wollte, wird durch einen anderen Ring und ein Königsgewand ersetzt. Rán erweist sich hier als Möglichkeit, sowohl finanziellen Verlust als auch eine Ehrkränkung auszugleichen. Vom Erfolg seines Vorgehens ermutigt, bedient sich Bjǫrn auch auf Island der Möglichkeit zur Machtdemonstration durch einen Raub. Þórðr hat Geächtete bei sich aufgenommen und plant, sie außer Landes zu schaffen. Bjǫrn besticht nun einen

122 Zur Bjarnar saga Hítdœlakappa vgl. auch Kap. 4.1.1. 123 BjH 7, S. 129–130; »und er nahm ihnen ihr Vermögen und ihr Handelsschiff ab; danach beraubte er Þórðr all seiner Kostbarkeiten, und brachte ihn in eine sehr schmähliche Lage.« 124 BjH 8, S. 131; »Der König sagte, Wikinger hätten leichtes Spiel bei Kaufleuten, wenn sie deren Vermögen begehren.« 125 BjH 8, S. 131; »Geldraub und Frauenraub«.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Mann, um ihm zu verraten, wann die Männer auf ein Schiff gehen wollen. Er findet sie, tötet die Gesetzlosen und verscharrt sie. Auch nimmt er ihnen ihr Hab und Gut und ebenso einige Pferde, die Þórðr gehören. Darauf reitet Bjǫrn zu Þórðr, um ihm vom Totschlag zu berichten, und lässt die Pferde frei, ok kemr enn sá orðrómr á, at Þórði hafi þetta eigi orðit til virðingar; þykkir honum þungt veita.126 Þórðrs Verlust wiegt doppelt schwer, da er sowohl an Ehre als auch Vermögen verloren hat. Das Verbrechen Raub kann als Motiv auch anderweitig eingesetzt werden, um den Zusammenhang von Macht und Ehre innerhalb einer Erzählung zu verhandeln. Ehre liegt auch darin, verantwortungsvoll mit Macht umzugehen, und seine Untergebenen zu schützen. In der kurzen und unvollständig überlieferten Þorsteins saga Síðu-Hallssonar muss beispielsweise Þorsteinn, der Protagonist der Saga, zu einer Auslandsreise aufbrechen, und entschließt sich, sein Godentum währenddessen von Þórhaddr verwalten zu lassen (ÞSH 1). Während seiner Abwesenheit gerät Þórhaddr mit seinem Schwiegersohn Haukr in Streit. Haukr besitzt einen prächtigen Kessel, der bei Þórhaddr Begehrlichkeiten weckt. Haukr will den Kessel nicht aufgeben, sodass sein Schwiegervater erbost davonreitet. Þórhaddrs Tochter rät Haukr, ihrem Vater nachzureiten und ihm den Kessel zu überlassen. Diesen will Þórhaddr nun nicht mehr annehmen. Im nächsten Herbst lässt Þórhaddr fünf Ochsen und 30 Schafe aus Haukrs Besitz schlachten und lässt Haukr mitteilen, dass sie nur einen Bruchteil des Kesselwertes ausmachten. Haukr fühlt sich geschmäht, seine Frau rät ihm aber, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Im zweiten Herbst verfährt Þórhaddr genauso. Haukr sagt, er verstehe nicht, was es mit diesem rán127 auf sich habe. Seinen Freund Þorsteinn vermisst er inzwischen schmerzlich. Im dritten Herbst lässt Þórhaddr sogar 100 Schafe und zehn Ochsen von Haukr herabtreiben und schlachten. Noch immer rät Haukrs Frau, auf Þorsteinn zu warten (ÞSH 2). Raub dient dem Schwiegervater hier dazu, seine sowohl durch seine Stellung innerhalb der Familie als auch durch das Godentum verliehene Macht zu demonstrieren. Als Þorsteinn zurückkommt, ist er mit Þórhaddrs Verwaltung des Godentums zufrieden, mit Ausnahme der Geschichte um Haukr. Þórhaddr beschwichtigt Þorsteinn vorläufig, er werde sich schon selbst mit seinem Schwiegersohn auseinandersetzen. Als Þorsteinn sein Godentum zurückfordert, möchte Þórhaddr die Rückgabe verzögen. Dies weiß Þorsteinn zu verhindern und stellt sich ihm kampfbereit entgegen. Er verkündet, er könne nicht zulassen, at bœndr væri ræntir, en hǫfðingjar svívirðir.128 Schließlich nimmt sich Þorsteinn sein Godentum zurück. Er verkündet nun, dass Þórhaddr wegen seines Raubes an Haukr seinen Hof verlieren und aus dem Bezirk ziehen müsse. Þorsteinn zwingt Þórhaddr danach gewaltvoll zur Aufgabe des

126 BjH 22, S. 174; »und da kam Gerede auf, das Þórðr aus der Sache keinen Ruhm gewonnen habe; das schien ihm schwer zu ertragen.« 127 ÞSH 2, S. 304; »Raub«. 128 ÞSH 3, S. 305; »dass Bauern beraubt werden, und Häuptlinge beschämt«.



7.2 Horizontale Eigentumsdelikte 

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Hofes (ÞSH 3), zwischen den beiden entspinnt sich eine Fehde, die Þorsteinn am Ende der Saga für sich entscheidet. Þorsteinn wird hier im Gegensatz zu Þórhaddr als wahrhaftig ehrenhafte Figur gezeichnet. Er empfindet es als seine Pflicht, seine Bauern gegen Raubüberfälle zu schützen. Auch seinem persönlichen Ansehen wäre es abträglich, die helgi seiner Untergegebenen nicht schützen zu können. Während die eine Figur zur Machtdemonstration einen Raub verübt, gewinnt die andere Figur an noch größerem Ansehen, indem sie ihre Machtposition nutzt, um einen Raub zu verhindern. 7.2.1.2 Rán und Ehre in der Laxdœla saga Ein besonders erfolgreicher Fall von Raub zum Gewinn von Ansehen und Ehre findet sich in der Laxdœla saga. Die Episode stellt den Höhepunkt eines Konfliktes dar, der durch eine frühere Heirat ausgelöst wurde. Unnrs Enkelin Þorgerðr entschließt sich nach dem Tod ihres Ehemanns Dalla-Kollr, erneut zu heiraten. Þorgerðrs Sohn Hǫskuldr hatte das Erbe seines Vaters übernommen und ermöglicht seiner Mutter eine Überfahrt nach Norwegen. Dort heiratet sie Herjólfr, mit dem sie einen Sohn namens Hrútr bekommt. Nach dem Tod ihres zweiten Ehemanns kehrt Þorgerðr zu Hǫskuldr nach Island zurück, wo sie nach einigen Jahren stirbt. Über die daraus folgenden Erbansprüche heißt es explizit: Hǫskuldr tók fé allt, en Hrútr, bróðir hans, átti hálft.129 Auch später herrscht kein Zweifel an den Rechtsverhältnissen, als es über den inzwischen wohlhabenden Hǫskuldr heißt: Hann varðveitti mikit fé, er átti Hrútr Herjólfsson, bróðir hans. Margir menn mæltu þat, at nǫkkut myndi ganga skorbíldar í fé Hǫskulds, ef hann skyldi vandliga út gjalda móðurarf hans.130 Hrútr ist inzwischen in Norwegen zu einem angesehenen Mann geworden, und entschließt sich, nach Island zu fahren, um sein Muttererbe einzufordern. Hǫskuldr weigert sich, Hrútr das Erbe auszuzahlen, da seine Mutter bereits bei der Überfahrt nach Norwegen Vermögen mit auf den Weg bekommen habe. Hrútr fordert darauf auf mehreren Thingversammlungen sein Vermögen ein und kǫlluðu þat flestir, at Hrútr hefði rétt at mæla.131 Als Hǫskuldr eines Tages seinen Hof verlässt, nutzt sein Halbbruder die Gelegenheit: Þetta spyrr Hrútr ok reið hann á Hǫskuldsstaði við tólfta mann. Hann rak á brott naut tuttugu; jafnmǫrg lét hann eptir; siðan sendi hann mann til Hǫskulds ok bað segja, hvert eptir fé var at leita.132

129 Lax 8, S. 16; »Hǫskuldr nahm das gesamte Vermögen, aber sein Bruder Hrútr, besaß die Hälfte.« 130 Lax 19, S. 44; »Er verwaltete das große Vermögen, das seinem Bruder Hrútr Herjólfsson gehörte. Viele Leute sagten, dass es Hǫskuldrs Vermögen sehr schmälern würde, wenn er sein Muttererbe ganz auszahlen müsste.« 131 Lax 19, S. 45; »die meisten fanden, Hrútr sei mit seiner Forderung im Recht.« 132 Lax 19, S. 45; »Hrútr erfuhr davon und ritt mit zwölf Mann nach Hǫskuldsstaðir. Er trieb 20 Rinder fort, genauso viele ließ er zurück; danach schickte er einen Mann zu Hǫskuldr und ließ ihm sagen, wo er sein Vieh finden könne.«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Als der Verlust bekannt wird, wird Hrútr von 15 Männern verfolgt. Er stellt sich dem Kampf und ist seinen Angreifern weit überlegen: Vier Männer Hǫskuldrs sterben, alle anderen werden verwundet. Hrútrs Umgang mit der Beute zeigt, dass es sich um eine rein symbolische Tat handelte, und er nicht an den Tieren interessiert war, um sein Vermögen dauerhaft zu vergrößern: Síðan lét Hrútr af hǫggva fét.133 Als Hǫskuldr von der Angelegenheit erfährt, sammelt er Männer, um Hrútr anzugreifen. Seiner Frau Jórunn gelingt es, ihn mit klugen Worten davon abzubringen. In ihrer Ansprache beurteilt sie die Tat wie folgt: ›[H]efir hann þat nú sýnt, at han vill eigi vera hornungr lengr þess, er hann átti, eptir því sem hann átti kyn til‹.134 Daraufhin vergleichen sich die Halbbrüder und schließen Frieden. Als Hǫskuldr älter wird, rückt zunehmend sein Sohn Þorleikr in den Blickpunkt der Saga. Über ihn heißt es, er sei ein streitbarer Mensch und habe ein schlechtes Verhältnis zu seinem Onkel Hrútr. Der erste Streit der beiden dreht sich um ein Stück Land, auf dem Hrútr einen freigelassenen Knecht angesiedelt hatte, unwissend, dass das Land seinem Neffen gehört. Þorleikr geht, ohne mit seinem Onkel zu sprechen, auf das Land und erschlägt den Freigelassenen. Als sich Hrútr nach der Gesetzeslage erkundigt und feststellt, dass Þorleikr das Recht auf seiner Seite hatte, unternimmt er nichts, obwohl ihm dies widerstrebt. Einige Zeit später gelangt Þorleikr über seine Verbindung zum zwielichtigem Kotkell in den Besitz von vier wertvollen Zuchtpferden. Als Eldgrímr ihm diese während des Things abkaufen möchte, schlägt Þorleikr den Handel aus. Nach dem Thing wieder auf dem Hof angekommen, hört Hrútr von einem Knecht, dass ein Mann sich an Þorleikrs Pferden zu schaffen mache. Er reitet umgehend auf Eldgrímr zu und fragt, was er mit den Pferden im Sinn habe. Eldgrímr betont: ›Ekki skal þik því leyna […] en svá em ek eptir hrossunum kominn, […].‹135 Hrútr sieht sich in der Pflicht, dies zu verhindern: ›[E]n eigi mun ek láta ræna Þorleik, ef ek hefi fǫng á því, þótt eigi sé mart í frændsemi okkarri‹.136 Er bietet ihm andere Pferde im Tausch an, Eldgrímr versucht stattdessen, fortzureiten. Als Hrútr dies sieht, greift er Eldgrímr an und tötet ihn durch einen Hieb mit der Streitaxt. Hrútrs Verhinderung dieses Verbrechens wird in der Erzählung völlig gegensätzlich beurteilt. Während es allgemein heißt, Hrútrs Ansehen sei durch die Tat gestiegen, da er beim Totschlag bereits 80 Jahre alt gewesen sei, fühlt sich Þorleikr schlecht behandelt, da Hrútr ihm die Gelegenheit genommen habe, sich selbst mit Eldgrímr zu messen und Ruhm zu erwerben. Þorleikr bittet seine Pächter Gríma und Kotkell, Hrútr eine Schmach zuzufügen. Durch den von ihnen veranstalteten Schadenszauber

133 Lax 19, S. 46; »Danach ließ Hrútr das Vieh schlachten.« 134 Lax 19, S. 47; »›Nun hat er gezeigt, dass er nicht länger wie ein Bastard ersuchen will, was ihm zusteht, sondern so handelt, wie es seine Herkunft nahelegt.‹« 135 Lax 37, S. 104; ›»Ich werde dir dies nicht verheimlichen, […] ich bin gekommen um die Pferde zu holen, […]‹« 136 Lax 37, S. 104; »›Doch ich werde nicht zulassen, dass Þorleikr beraubt wird, wenn ich es verhindern kann, auch wenn es um unser verwandtschaftliches Verhältnis nicht gut steht.‹«



7.2 Horizontale Eigentumsdelikte 

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kommt Hrútrs Sohn Kári ums Leben. Nur durch die Vermittlung Óláfr páis kann eine Eskalation des Konfliktes verhindert werden; Þorleikr verlässt auf dessen Anraten schließlich Island und verschwindet damit aus der Saga. Schon vor dem Raub der Rinder wird in mehreren Passagen erläutert, dass Hrútr einen begründeten Anspruch auf einen Teil des Vermögens seines Bruders hat. Somit stellt die Saga den Vorgang von Beginn an als rechtmäßig dar, was sich im völligen Ausbleiben jeglicher negativen Rechtsterminologie wiederspiegelt. Hrútrs Aneignung der Tiere wird als schlichtes Wegtreiben geschildert, die Tat wird nicht als Verbrechen angesprochen. Dass es sich insbesondere nicht um unehrenhaften þjófnaðr handelt, erschließt sich aus Hrútrs unmittelbar folgender Handlung: Er schickt einen seiner Männer zu Hǫskuldr, um ihm mitzuteilen, wo die Tiere nun zu suchen seien. An keiner Stelle wird angedeutet, dass Hrútrs Handeln rechtliche Schritte nach sich ziehen könnte, Hǫskuldrs erster Impuls ist es im Gegenteil, eigenmächtig und gewaltvoll gegen seinen Halbbruder vorzugehen. Jórunns Einlenken führt schließlich zu einer Deeskalation des Konfliktes, wodurch Hrútr nicht nur nicht bestraft wird, sondern zu seinem Recht kommt. Sein soziales Ansehen steigt durch die Tat, in Jórunns Bewertung zeichnet es ihn sogar als Mann von hoher Abkunft aus, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, anstatt wie ein hornungr (»Bastard«) zu handeln. Hrútrs Selbstjustiz markiert an dieser Stelle seine soziale Stellung. Der Streit um das Land steht zwischen den beiden Raubepisoden und verstärkt den Eindruck, Hrútr sei ein besonders gesetzestreuer und ehrenhafter Mann, da er sich auch dann dem geltendem Recht beugt, wenn dies Nachteile für ihn mit sich bringt. Gleichzeitig zeigt sich in diesem Rechtsstreit, dass Þorleikr zur Selbstjustiz greift, ohne sich über eine rechtliche Grundlage zu informieren, was ihn stark mit Hrútr kontrastiert. Ihren Höhepunkt erreicht die Feindschaft zwischen Onkel und Neffe durch einen weiteren Raub, als Eldgrímr sich die Zuchtpferde Þorleikrs aneignen möchte. Hier handelt es sich eindeutig um einen Fall von rán. Dies zeigt sich zunächst in Eldgrímrs Wortwahl, bei der auf die Offenheit des Verbrechens Wert gelegt wird: ›Ekki skal þik því leyna‹.137 Auch Hrútr greift zum Vokabular des rán, als er die Tat verhindern will (›eigi mun ek láta ræna Þorleik‹).138 Doch auch der gesetzestreue Hrútr macht keine Anstalten, den Pferderäuber vor das Thing zu laden und auf skóggangr (»Gesetzlosigkeit«) zu klagen, stattdessen tötet er Eldgrímr mit einem Hieb seiner Streitaxt. Was Eldgrímrs sozialen Status betrifft, lässt sich annehmen, dass er aus der Mitte der Sagagesellschaft stammt. Als er am Thing in Þorleikrs Bude tritt, hat dieser bereits von ihm gehört: ›Heyrt hefi ek þín getit at því,

137 Lax 37, S. 104; ›»Ich werde dir dies nicht verheimlichen, […]‹«. 138 Lax 37, S. 104; »›Doch ich werde nicht zulassen, dass Þorleikr beraubt wird, […].‹« Miller 1986b, S. 44 bemerkt, dass Eldgrímrs Tat allerdings geschieht, während der Bestohlene schläft, was seine Tat in die Nähe einer heimlichen Aneignung rücke. Zudem reise Eldgrímr alleine, was ebenfalls gegen ein ehrenhaftes Vorhaben spreche.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

at þú sér ekki lítilmenni‹.139 Auch die Tatsache, dass Þorleikr seinem Onkel den Ruhm neidet, den es einbrachte, Eldgrímr zu töten, spricht dafür, dass es sich bei ihm nicht um eine Außenseiterfigur handelt, die zu besiegen als wenig ehrenhaft gegolten hätte. Conroy und Langen betonen die Wichtigkeit der Episode, in der Hrútrs Raub der Rinder geschildert wird, da bereits hier das Verhältnis von Brüdern, Halbbrüdern und Ziehbrüdern behandelt werde, das für die Laxdœla saga von höchster Bedeutung bleiben wird.140 Sie sehen Hrútr als Gegenentwurf zu Hǫskuldr, da dieser an den Werten der Familie festhalte, anstatt sie wie Hǫskuldr seinem eigenen Vorteil unterzuordnen.141 Anschließend an die zuvor dargestellte Episode um den Erwerb des Hofes Hjarðarholt142 betrifft die Erbstreitigkeit nun den Haupthandlungsstrang der Saga und wird entsprechend ausführlich behandelt. Die beiden narrativen Elemente können im Sinne Hellers als Paar betrachtet werden.143 Auch nach dieser ersten Konfrontation wird Hrútr stets als gesetzestreue und moralisch korrekt handelnde Figur gezeichnet. Besonders betont wird dies durch die Episode, in der Hrútr zwar der Meinung ist, er sei, was die Ansiedelung des freigelassenen Knechts betrifft, im Recht gewesen, sich aber zuerst über die Gesetzeslage erkundigt und sich dieser beugt.144 Im selben Licht zeigt ihn die Verhinderung des zweiten Raubes: Obwohl das Verhältnis zu seinem Neffen schlecht ist, tritt er Eldgrímr entgegen, was sowohl als Zeichen seines allgemeinen Rechtsverständnisses als auch als Ausdruck seiner Loyalität zur Familie gesehen werden kann.145 Beide Verbrechen stehen an der Spitze eines über längere Zeit schwelenden Konfliktes. Während allerdings Hrútrs Tat die Beziehung der Brüder ins Gleichgewicht bringt, löst Eldgrímrs Raub eine Ereigniskette aus, die zum endgültigen Bruch zwischen den Familiensträngen führt, durch den Hrútr einen Sohn verliert und Þorleikr das Land verlassen muss.

7.2.2 Diebstahl unter sozial niedriggestellten Nebenfiguren Eigentumsdelikte unter sozial niedriggestellten Figuren werden in den Sagas kaum je erwähnt. Deren Zwistigkeiten sind nur dann von Interesse, wenn die Protagonisten der Saga auf die ein oder andere Weise von ihnen betroffen sind, indem sie beispielsweise 139 Lax 37, S. 102; »›Ich habe von dir sprechen hören, dass du kein unbedeutender Mann bist.‹« 140 Vgl. Conroy u. Langen 1988, S. 124. 141 Vgl. Conroy u. Langen 1988, S. 125. 142 Vgl. Kap. 8.1. 143 Vgl. Kap. 8.1 sowie Heller 1960, S. 146. 144 Vgl. Beck 1974, S. 392–393. 145 Letzteres sehen Conroy u. Langen 1988, S. 125 als Motivation für sein Eingreifen. Ebenso ver­ste­ hen sie den von Þorleikr initiierten Angriff auf Hrútrs Familie in diesem Sinn: Da Hrútr für die Be­wah­ rung der Familienideale stehe und Þorleikr sein Gegenspieler sei, sei es natürlich, dass sich Þorleikr nicht gegen das Individuum Hrútr richtet, sondern gegen Hrútr als Familienmensch, vgl. Conroy u. Langen 1988, S. 127.



7.2 Horizontale Eigentumsdelikte 

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die Klage übernehmen.146 Einen seltenen Fall findet man in der Flóamanna saga, als ein gewisser Örn 60 Hammel vermisst. Dies geschieht direkt, nachdem Örn als Figur in die Saga eingeführt wurde, weshalb wenig über ihn bekannt ist. Beschrieben wird er nur über seine Frau Þorgerðr, bei der immerhin ihr Vater und Bruder genannt werden. Die mangelnde genealogische Anbindung deutet an, dass er keinen besonders hohen Stand in der Sagagesellschaft innehat. Er hat sofort einen Verdacht, wer die Schafe gestohlen habe: […] hefir eigi góðan róm á Böðvari ok berr á brýnn honum, at hann muni tekit hafa.147 Dieser Böðvarr wurde kurz zuvor vorgestellt, als leysingi Özurar.148 Er war also bis vor kurzem noch ein Unfreier und hat damit seine soziale Stellung betreffend gerade erst die zweitniedrigste Stufe der Leiter erklommen. Böðvarr nimmt die Anschuldigung hin, da er sich unter dem Schutz der einflussreichen Verwandten seines früheren Dienstherren Özurr sicher fühlt. Es kommt zur Klage um stuld,149 und Böðvarr versichert sich der Hilfe seines mächtigen Bezirksnachbarn Atli. Wieder zeigt sich, dass es in Diebstahlsprozessen weniger um die tatsächliche rechtliche Beurteilung der Situation geht, als um Qualität und Quantität der Unterstützer. Atli tritt auf dem Thing mit großem Gefolge auf und fordert ohne nähere Begründung, Örn solle die Klage fallenlassen, da er sie sonst zunichtemachen werde. Örn antwortet noch, at eigi mundi ónýtt verða nema með ófríki,150 und dass es schwer sei, víð jarlborna menn151 einen Rechtsstreit zu führen. Trotzdem setzt sich Atli durch, ohne dass die Art und Weise genauer erklärt wird. Kurz darauf stirbt Böðvarr (ein Zusammenhang wird nicht hergestellt), sodass ein Waldstück, das er genutzt hatte, wieder an seinen früheren Herrn, Özurr, zurückfällt. Atli ist der Meinung, dass das Landstück aber zu seinem Besitz gehören sollte und nimmt es in Beschlag. Während Atli also zuvor noch den Klagegrund eines sozial niedrigstehenden Nachbarn übernommen hatte, tritt er nun in eigenem Interesse als Özurrs Gegner auf. Dessen Recht versucht ein gewisser Hrafn durchzusetzen, der nun mit sieben Begleitern loszieht, um Atli daran zu hindern, Holz zu schlagen. Als Atli ihm vorwirft, er wolle mit Übermacht angreifen, rechtfertig Hrafn dies mit den Worten: ›Þat skal fyrirfurða um burðamuni, […].‹152 Dies tut es; Hrafn kann Atli tödlich verwunden. Das hier vorgefundene Muster entspricht jenem der Mǫðruvallabók. Die Konflikte kleiner Leute dienen nur als Anlass, über ihre mächtigen Unterstützer zu berichten.

146 Vgl. Andersson u. Miller 1989, S. 6. 147 Flóa 6, S. 243; »äußerte sich abfällig über Böðvarr, und warf ihm vor, sie genommen zu haben.« 148 Flóa 6, S. 242; »Freigelassener Özurrs«. 149 Flóa 6, S. 243; »wegen Diebstahls«. 150 Flóa 6, S. 243; »dass sie nicht zunichte gemacht werden könne, außer mit Gewalt«. 151 Flóa 6, S. 243; »mit aus einem Jarlsgeschlecht stammenden [d.  h. hochgeborenen] Männern«. 152 Flóa 7, S. 244; »›das soll den Unterschied in unserer Herkunft ausgleichen‹«.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Selbst als der Streit in offenbar mächtigere Hände übergeben wurde  – immerhin vermag es Hrafn, eine größere Gruppe um sich zu scharen, auch wenn sonst wenig über ihn bekannt ist –, wird immer noch der unterschiedliche Stand der Kontrahenten thematisiert. Der Verweis auf ihre burðamuni (»unterschiedliche Abstammung«) bringt klar zum Ausdruck, dass sich auch die Figuren innerhalb der erzählten Welt der unterschiedlichen Stellung im sozialen Gefüge bewusst sind.

7.2.3 Exkurs: Walraub Wird in den Isländersagas von einem gestrandeten Wal berichtet, ist eine Auseinandersetzung über die Besitzverhältnisse unvermeidlich.153 Häufig werden Walraubepisoden im Zusammenhang mit Hungersnöten oder Missernten geschildert, und man muss sich die schiere Größe eines Wales vor Augen führen, um den Wert seines Fleisches für eine hungernde Region erahnen zu können: A stranded blue whale could supply two hundred tons of resources to a district and several whales or a pod could provide even more. Even if blubber was rendered, meat dried and bones processed, a district could be unable to use so much material. The massive size of some cetacean quarry would have necessitated some legal response that ensured reasonable and responsible division. Whales were communal resources, so whale division became one of the preeminent concerns in sagas and laws.154

Entsprechend detallierte Bestimmungen finden sich in skandinavischen Rechtsquellen.155 Ist ein isländischer Strandabschnitt nicht eindeutig einem Besitzer zugeordnet, nennt man diesen almenning – der dort gestrandete Wal ist Gemeingut und jeder darf so viel Fleisch aus dem Wal herausschneiden, wie er selbst tragen kann. Lässt jemand bereits zerteiltes Fleisch zurück, dürfen andere Männer dieses übernehmen. In der literarischen Ausgestaltung sind damit viele Möglichkeiten zum Konflikt zwischen mehreren Figuren gegeben. Beispielsweise in der Grettis saga Ásmundar­ sonar bringt ein gestrandeter Wal einen schwelenden Konflikt zum Ausbruch. Grettirs Vorfahr Ǫnundr hatte von Eiríkr Land auf Island bekommen. Nach dem Tod der beiden Väter geraten ihre Söhne, Ófeigr Grettir Ǫnundsson, Þorgrímr Ǫnundsson und Flosi Eiríksson, in Streitereien um das Land. Als auf Island eine große Hungersnot herrscht, findet der Bauer Þorsteinn einen großen gestrandeten Wal bei Rifsker und schickt nach Flosi. Auch ein Pächter von Þorgrímr und Ófeigr macht sich sofort auf 153 Auch Szabo 2008, S. 212 stellt in ihrer breit angelegten Studie zum Walfang im mittelalterlichen Nord­atlantik für die Sagas fest: »Whales preeminently served in the sagas as catalysts for human action, provoking conflict, feud, violence or legal resolution.« 154 Szabo 2008, S. 230. 155 Eine Übersicht zur mittelalterlichen Rechtslage der skandinavischen Länder bietet Szabo 2008, S. 243–254.



7.2 Horizontale Eigentumsdelikte 

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den Weg. Schnell verbreitet sich die Kunde, sodass sich auch weitere Gruppen auf den Weg machen. Zuerst trifft der von Þorsteinn informierte Flosi ein, das Zerteilen des Wals beginnt. Als Þorgrímr zum Strand kommt, erhebt er Anspruch auf den Wal und versucht, das Zerteilen unterbinden zu lassen. Immer mehr Leute kommen hinzu, darunter auch Þorgrímrs Freund Svanr, der den Konflikt zusätzlich anheizt, indem er seinem Freund rät, er solle eigi láta ræna sik.156 Ein großer Kampf bricht aus, bei dem die Kontrahenten alles als Waffe benutzen, was ihnen in die Hände kommt. Anfangs ist Ǫnundrs Familie noch im Vorteil, dann bekommt Flosi aber Unterstützung durch weitere Ankömmlinge. Ǫnundrs Söhne müssen sich zurückziehen und Ófeigr Grettir wird tödlich verwundet. Danach kommt es zu einem Waffenstillstand, Flosi wird auf dem folgenden Allthing des Totschlags schuldig gesprochen. Der Gesetzessprecher sieht sich durch diesen Kampf veranlasst, die Besitzverhältnisse am Strand neu zu ordnen und teilt das Land, sodass jeder an seinem Abschnitt das Strandrecht erhält. Man versöhnt sich formell und Flosi verlässt die Gegend. Eine ähnliche Ausgangslage findet sich in der Hávarðar saga Ísfirðings. Auch hier läuft der Konflikt zwischen dem Protagonisten Hávarðr und seinem Gegner Þorbjǫrn schon eine ganze Weile,157 als ein Wal an einer Stelle angetrieben wird, auf deren Strandgut beide Parteien Anspruch erheben. Eine nicht näher bezeichnete Öffentlichkeit sieht Hávarðr im Recht: Var sú sǫgn þegar, at Hávarðr myndi eiga.158 Die Kon­ tra­hen­ten und viele weitere Leute kommen zusammen, um das Urteil des Gesetzessprechers einzuholen. Erneut wird betont, dass sich alle sicher seien, dass Hávarðr im Recht sei. Der Gesetzessprecher aber wird von Þorbjǫrn mit gezücktem Schwert gefragt, wem der Wal zustehe, und dieser antwortet mit eingezogenem Kopf: ›Þér, þér, víst‹.159 Alle Umstehenden sind von dieser Ungerechtigkeit stark betroffen, trotzdem fügt sich Hávarðr schließlich in sein Schicksal und verlegt seinen Hof.160 Streitigkeiten um einen gestrandeten Wal sind meist an unklare Eigentumsverhältnisse in Küstenbereichen gebunden. Der Konflikt wird normalerweise zwischen mindestens zwei Gruppen ausgetragen, sodass vor Ort eine Öffentlichkeit entsteht, die den ganzen Vorgang als offenes rán markiert. Die Episoden verlaufen ähnlich, häufig wird das Gesetz entweder von den Kontrahenten als Referenz herangezogen,

156 Gts 12, S. 30; »sich nicht berauben lassen.« 157 Vgl. Kap. 5.2.3. 158 Háva 3, S. 300; »Es hieß aber gleich, dass ihn Hávarðr besitzen müsse.« 159 Háva 3, S. 300; »›Dir, dir, natürlich.‹« 160 Da Szabo 2008, S. 228–241 einen guten Überblick der Streitigkeiten um Wale in Isländersagas gibt, werden hier nicht alle Fälle wiederholt, die bereits in anderem Zusammenhang besprochen wur­ den. Zum Walraub in der Fóstbrœðra saga vgl. Kap. 6.2.1. Auch in der von vielen Diebstählen durchzogenen Reykdœla saga wird um einen Wal gestritten, vgl. Kap. 5.2.1. Eine ähnliche Situation findet sich auch in der Eyrbyggja saga, vgl. Kap. 6.2.3. Sogar in der Bárðar saga Snæfellsáss kämpft der nichtmenschliche Protagonist mit einem Zauberer um einen Wal, allerdings werden hier keine Gesetze oder Eigentumsansprüche erwähnt (Bár 4).

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

oder wie in der Hávarðar saga ein Urteil eingeholt. Betrachtet man den Walraub als literarisches Motiv, ist seine Funktion eindeutig und Vicki Szabo zuzustimmen: The sagas’ authors chose to depict stranded whales in order to create a fictional scene which was ripe for legal ambiguity. These scenes are too formulaic to be construed as actual report, and while similar events surrounding stranded whales no doubt actually occurred, the inclusion of these scenes within the sagas simply provides the saga authors with the perfect excuse to write about Norse literary favorites; namly great men, feuds, and laws.161

Dieser Sonderfall des Raubes ist damit ein besonders flexibel einsetzbares Motiv, das sowohl die Handlung beschleunigen kann als auch mehrere Figuren und ihr Verhältnis zu Gesetz und Ehre gleichzeitig charakterisieren kann. Es bietet dabei auch Gelegenheit, Figuren mehrerer sozialer Schichten aufeinandertreffen zu lassen, da der Wal meist von Knechten entdeckt wird, deren Dienstherrn sich zeitverzögert am Strand einfinden, da es sich um ihr Eigentum handelt oder handeln könnte.

7.3 Sonderfall: Diebstahl und Raub im Ausland Die oben geschilderten Mechanismen gelten nur innerhalb der sozialen Ordnung Islands. Auf Auslandsfahrten begegnen die Isländer dagegen Jarlen und Königen und damit einer offen hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Die Herrscherfigur verkörpert in diesen Episoden das Recht und wird meistens persönlich involviert. Dies ist besonders problematisch, wenn sie nicht nur als Richter auftritt, sondern selbst in das Eigentumsdelikt verwickelt ist. Im Þorleifs þáttr jarlsskálds etwa begegnet der Protagonist dem Ladejarl Hákon, der als böser, quasi-dämonischer Herrscher beschrieben wird. Nachdem Þorleifr in Zauberei unterwiesen wurde, möchte er in Norwegen mit dem Jarl handeln. Der Handel scheitert, und Þorleifr verkauft seine Waren anderweitig. Darauf wird der Jarl wütend, lässt Þorleifs gesamte Besatzung festnehmen und beschlagnahmt die Waren. Er lässt Þorleifrs Schiff verbrennen und seine Fahrtgenossen aufhängen (ÞorlJ 3). Jarl Hákon nimmt alle Waren an sich und verteilt sie unter seinen Gefolgsleuten. Þorleifr geht zunächst auf Reisen, kommt aber zur Rache zurück nach Lade.162 Er verkleidet sich als Bettler und trägt Spottstrophen auf den Jarl vor, die eine übernatürliche Wirkung haben und ein übles Jucken am Gesäß des Jarls verursachen. Der Jarl erkennt, dass Þorleifr hinter der Sache steckt und dies die Rache für den Raub ist (ÞorlJ 5). Schließlich unterliegt Þorleifr aber doch, und der Jarl führt seinen Tod mit Hilfe von Zauberei herbei (ÞorlJ 7). Der Raub des Jarls wird durch seine gesellschaftliche Position zur Beschlagnahmung umgedeutet und fungiert als Machtdemonstration. Die Spottstrophen sowie ihre beschämende Wirkung markieren 161 Szabo 2008, S. 240. 162 Lade (an. Hlaðir) war während der Wikingerzeit der Sitz der mächtigen Ladejarle, und bezeichnet heute einen Stadtteil von Trondheim.



7.3 Sonderfall: Diebstahl und Raub im Ausland 

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eindeutig, wem die Sympathie der Rezipienten gelten sollte und zeigen den Isländer trotz allem in überlegener Position. Einen etwas positiveren Eindruck von Ladejarl Hákon vermittelt die Flóamanna saga. Deren Protagonist Þorgils möchte sich seinen norwegischen Besitz zurückholen, den der Jarl beschlagnahmt hat. Er wird von seinem Freund gewarnt, der Jarl sei mjög fégjarn163 und werde den Besitz nicht leicht aus den Händen geben. Als er Þorgils kennenlernt, ist er von ihm beeindruckt, schickt ihn aber zunächst auf die Hebriden, um dort Steuern für ihn einzutreiben und sich zu beweisen (Flóa 15). Auf den Hebriden stellt Þorgils die Bewohner vor die Wahl, entweder die Steuern zu zahlen oder hernað ok manndráp164 zu ertragen und kommt siegreich zurück nach Norwegen, wo er seine Güter zurückerhält. Im Dienst des Herrschers betreibt Þorgils einen legitimierten Raubzug, was ihm Ehre und Ansehen am Hof des Jarls einbringt. Raubzüge können nicht nur eingesetzt werden, um das eigene Ansehen zu mehren und einen Fürsten mit Geschenken zu erfreuen, sie können auch gezielt gegen einen Herrscher eingesetzt werden, wie dies Jarl Hákon im Þorleifs þáttr jarlsskálds erfahren muss. Nach Þorleifrs Tod wollen ihn seine Brüder rächen, schaffen es aber nicht, Jarl Hákon zu töten. Stattdessen brenndu þeir mǫrg hof fyrir jarlinum ok gerðu honum margan fjárskaða í ránum ok hervirki, […].165 Sie fügen ihm so nicht nur materiellen Schaden zu; es schadet dem Ansehen des Jarls ebenso, sein Land nicht gegen Plünderer verteidigen zu können. Die ausführlichste Schilderung dieses Vorgehens findet sich in der Egils saga Skalla-Grímssonar, nachdem Egills Onkel Þórólfr mit seinem einstigen Dienstherren König Haraldr gebrochen hat, und versucht, ihm durch Wikingerfahrten Schaden zuzufügen. Zuerst macht er in Dänemark und im Osten eher schlechte Beute, danach raubt er in den Gebieten des Königs. Sein Vorgehen ist hier weniger offen, als auf Kriegszügen üblich ist. Mehrere Hinweise deuten eher in Richtung heimlichen Diebstahls: Er macht sich nicht bemerkbar (gerði ekki vart við sik),166 und segelt bei Nacht (þá lágu þeir þar ok biðu nætr; en er myrkt var, […]).167 Er raubt zuerst ein mit Lebensmitteln beladenes Schiff des Königs und setzt den Schiffsführer auf einer Insel aus. Danach greifen sie nachts den Hof eines Gefolgsmann des Königs an, und brennen dessen Gehöft nieder. Ein weiteres Schiff des Königs ergibt sich ihnen freiwillig. Über ihre weitere Fahrt heißt es, sie námu nesnám, […] en þar sem þeir kómu við land, þá ræntu þeir.168 Der König kann Þórólfrs Provokationen auch deshalb nicht hinnehmen, da ihn seine Gefolgsleute immer wieder daran erinnern: Þeir minntu konung opt á þat

163 Flóa 14, S. 257; »sehr habgierig«. 164 Flóa 16, S. 261; »Plünderung und Totschlag«. 165 ÞorlJ 8, S. 229; »verbrannten sie viele Tempel des Jarls, und fügten ihm großen finanziellen Schaden durch Raub und Plünderungszüge zu, […].« 166 Eg 19, S. 47; »[sie] machten sich nicht bemerkbar«. 167 Eg 19, S. 47; »Dort warteten sie die Nacht ab, und als es dunkel war, […].« 168 Eg 19, S. 48; »verübten Strandraub, […] und dort wo sie an Land gingen, raubten sie.«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

ok svá þat með, at Þórólfr hafði rænt konung ok þegna hans ok farit með hernaði þar innan lands.169 König Haraldr bleibt schließlich keine andere Wahl mehr, als dem Drängen seiner Leute zuzustimmen, seinen früheren Freund zu verfolgen und ihn später zu töten.170 Diese Fälle von Raub erhalten durch den norwegischen König eine neue Dimension. Diebstahl jedoch wird im Ausland ebenso geächtet, wie auf Island, wenngleich die juristische Instanz eine andere ist.171 In der kurzen Erzählung Gull-Ásu-Þórðar þáttr172 trifft der mittellose, begabte Isländer Þórðr in Norwegen auf Ása, eine ältere Dame, die aufgrund ihres Reichtums Gull-Ása (»Gold-Ása«) genannt wird. Die beiden gehen eine Liebesbeziehung ein, in der Ása ihren jungen Gefährten zunächst mit Geld für Handelsfahrten austattet und ihm anschließend zur Unterstützung ihres Verwandten Víðkunn verhilft. Die straff komponierte Erzählung setzt Geschenke und Diebstahl ein, um die Mechanismen sozialer Verpflichtung in Gang zu bringen, und zeigt dann in dreifacher Steigerung, wie diese zu immer weitreichender Eskalation führen können. Dabei ist es Ása, die die Konflikte ahnt und zu diesem Zweck das Bündnis anregt – entsprechend korrespondieren die beiden Szenen des Gütertransfers, indem zunächst Geschenke das Bündnis der beiden ungleichen Männer besiegeln,173 und ein Diebstahl es auf die Probe stellt. Dieser ereignet sich am Hafen, als Þórðr von einer Handelsfahrt zurückkehrt. In der Stadt halten sich gerade König Eysteinn und sein Gefolge auf, zu dem Víðkunn ebenso gehört wie die mächtigen Männer Sigurðr Hranason und Ingimarr von Ask. Þórðr legt neben Ingimarr an und schon bald darauf bemerkt er, dass auf seinem Schiff ein Zelt fehlt. Auf Ingimarrs Schiff findet er einen jungen Mann, der dieses Zelt zusammengerollt bei sich trägt. Er packt den Jungen und bringt ihn und das Diebesgut zu sich nach Hause. Als Ingimarr davon erfährt, bricht er wütend zu Þórðr auf und will den Jungen zurückfordern. Þórðr will den Dieb nicht herausgeben und Ingimarr droht: ›Ekki muntu, Gull-Ásu-Þórðr, lengi halda mínum mǫnnum eða gera þá at þjófum. Má ek þá ok varla lendr maðr heita, ef ek læt gǫngumann þinn draga mann af mér.‹174

169 Eg 20, S. 50; »Sie erinnerten den König oft daran, und auch daran, dass Þórólfr den König und seine Gefolgsleute beraubt habe, und innerhalb des Landes geheert habe.« 170 Vgl. Kap. 8.2. 171 Dass im Ausland andere Strafen für Diebstahl drohen, muss auch Veglágr in der Fóstbrœðra saga erfahren. Auf Island noch dem Tode entronnen, wird er in Schottland für seine Diebstähle gehängt, vgl. Kap. 6.1.2. 172 Dieser þáttr ist sowohl unabhängig (AM 518 4to) als auch innerhalb von Sammelhandschriften (Morkinskinna, Hrokkinskinna und AM 66 fol) überliefert. Die den Diebstahl betreffenden Passagen weichen kaum voneinander ab, sodass hier dem unabhängig überlieferten Text gefolgt wird und auf nennenswerte Abweichungen hingewiesen wird. 173 Þórðr komponiert eine drápa für Víðkunn und bekommt als Dichterlohn einen goldenen Armreif, weitere Geschenke und die Zusicherung seiner Freundschaft. 174 GuÁ, S. 343; »›Du, Gold-Ásas Þórðr, wirst meine Männer nicht lange festhalten oder als Diebe bezeichnen. Ich will auch nicht länger als Lehnsmann bezeichnet werden, wenn ich mir von einem



7.3 Sonderfall: Diebstahl und Raub im Ausland 

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Ása rät Þórðr nun, nach Víðkunn zu rufen. Dieser hilft ihm und beschließt, es sei an der Zeit, die Sache vor ein Gericht zu bringen: ›[O]k hefir Þórðr þat at gǫrt, er han átti, er hann batt þann, er stolit hafði, ella var hann sekr.‹175 Víðkunn wiederum versichert sich nun der Unterstützung seines Freundes Sigurðr Hranasons, der noch in seiner Schuld steht. Ingimarr möchte die Sache immer noch persönlich regeln und den Dieb aus Þórðrs Haus befreien. Sigurðr erinnert ihn, dass es ein mikill óréttr (»großes Unrecht«) wäre, mit Gewalt ins Haus zu dringen und den Dieb zu rauben (rænir), der nun als konungs fanga (»Gefangener des Königs«) bezeichnet wird.176 Interessant ist der folgende Verweis auf die öffentliche Meinung und den Status Ingimarrs: ›Munu menn ætla at hafa rétt af þér, þótt þú sér kappi mikill.‹177 Ingimarr, der nun bereits gegen zwei andere Gefolgsleute des Königs antritt, zieht sich zurück und droht, ein drittes Mal zurückzukommen. Nun bitten die Verbündeten den König um Hilfe. Dieser kommt mit seinem Gefolge rechtzeitig an, bevor Ingimarr mit 400 Männern anrückt. Nun verweist auch der König auf die persönliche Ehre Ingimars: ›Ekki sómir þér, Ingimarr, […].‹178 Nachdem Ingimarr sich zurückgezogen hat, beruft der König ein Thing ein. Der Dieb wird dort vorgeführt und trägt das Zelt auf dem Rücken. Er wird für schuldig befunden und gehängt. Þá mælti konungr: ›Hvat ætlar þú nú, Ingimarr, hvat þjófrinn mun hafa?‹ ›Þat vil ek ætla,‹ segir Ingimarr, ›at þessi muni gott hafa maðrinn, er drepinn var fyrir litlar sakir.‹ ›Nei,‹ segir konungr, ›hann [mun] hafa helvíti.‹179

Ingimarr widerspricht erneut und sagt dem König, er habe hier falsch gehandelt und beleidigt ihn, indem er behauptet, der König habe seinen Vater nie gerächt, der nun in der Hölle schmore. Er verlässt das Land und tötet noch drei Männer des Königs. Þórðr und Ása heiraten und werden glücklich.

Landstreicher wie dir einen Mann enführen lasse.‹« In den unselbstständig überlieferten Versionen des þáttr läuft die Episode zwar ebenso ab, Ingimar spricht aber das drohende Urteil anstelle der Tat an: [A]t hann landi myndi eiga dœma menn hans til dauða (»Dass er nicht zulassen werde, dass seine Männer zum Tode verurteilt werden«). 175 GuÁ, S. 345; »›Þórðr hat getan, was er tun musste, als er denjenigen festhielt, der gestohlen hatte, sonst wäre er selbst straffällig geworden.‹« 176 GuÁ, S. 346. 177 GuÁ, S. 346; »›Die Leute werden erwarten, Recht von dir zu erhalten, da sie dich für einen großen Krieger halten.‹« 178 GuÁ, S. 346; »›Es ehrt dich nicht, Ingimarr […]‹« 179 GuÁ, S. 348; »Da sprach der König: ›Was glaubst du nun, Ingimarr, wie es dem Dieb ergehen wird?‹ ›Ich glaube,‹ sagt Ingimarr, ›dass es dieser Mann gut haben wird, da er wegen einer kleinen Sa­ che getötet wurde.‹ ›Nein,‹ sagt der König, ›er wird in die Hölle kommen.‹« Dieser Dialog findet in den un­selb­ststän­dig überlieferten Versionen stark gekürzt statt. Auf die Frage, was mit dem Dieb passieren wird, folgt nur: ›Gott‹, segir Ingimarr, ›Nei,‹ segir konungr, ›beint helvíti‹ (»›Gutes‹, sagt Ingimarr. ›Nein,‹ sagt der König, ›geradewegs zur Hölle [wird er fahren]‹«).

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Im Sneglu-Halla þáttr180 unterscheiden sich Zeit und Ort der Handlung von den meisten Isländersagas; die Erzählung spielt in Norwegen zur Regierungszeit von Haraldr harðráði, zum Ende der Wikingerzeit. Über Einarr, einen Gefolgsmann des Königs, erzählt man sich am Hof, er zahle grundsätzlich keine Bußgelder. Halli, der Protagonist der Erzählung, wettet, er könne Einarr sicher dazu bringen, ihm eine Buße zu zahlen. Gleich darauf stellt sich heraus, dass Einarr Hallis Bruder erschlagen hat. Auf Umwegen gelingt es Halli tatsächlich, eine Buße für seinen Bruder zu erhalten. Einarr schickt Halli nun zu seinem Schatzmeister, um sich dort drei Mark Silber abzuholen. Halli folgt den Anweisungen getreulich, obwohl in der Börse vier Mark gewesen wären. Einarr vermutet später, Halli hätte sich alles geben lassen: ›Nei,‹ sagði Halli, ›ǫðruvís skaltu ná lífi mínu en ek verða þjófr af fé þínu, ok sá ek, at þú hafði þat ætlat mér.‹ Ok svá var, at Einarr hafði þat ætlat Halla, at hann myndi þat, er í var sjóðnum, hafa, ok þótti honum þat nóg banasǫk.181

Als sich die Sache aufklärt, gibt Halli zu, nicht im Geringsten mit dem erschlagenen Mann verwandt zu sein.

7.4 Enteignungen: Der König als Räuber Viele Isländersagas beginnen ihre Erzählung mit einer »norwegischen Vor­ ge­ schichte«182 und schildern die Vorkommnisse, die zur Emigration nach Island führen. Dabei sind es in erster Linie Streitigkeiten mit dem aufstrebenden norwegischen Monarchen Haraldr hárfagri, die die Großbauern bewegen, Norwegen zu verlassen und somit zur Landnahme auf Island führen. Dieser Zwist mit dem neuen König äußert sich nicht selten in Eigentumsstreitigkeiten, im Laufe derer der König Grundbesitz einzieht, besetzt, oder rechtmäßiges Erbe vorenthält. Die narrative Funktion dieser Episoden ist dabei differenzierter zu betrachten, als dies beispielsweise bei Vesteinn Ólason geschieht: »Wenn diese Einführung irgendwelche Gefechte in Nor180 In der Flateyjarbók findet sich eine längere Version dieses þáttrs, der gekürzt auch in der Haralds saga harðráða der Handschriften Morkinskinna und Hulda-Hrokkinskinna überliefert ist, vgl. Tommy Danielsson 1993. 181 SnH 7, S. 287; »›Nein,‹ sagte Halli, ›sonst könntest du nun über mein Leben verfügen, und ich wäre zum Dieb an deinem Vermögen geworden. Und ich wusste bereits, dass du das mit mir vorhattest.‹ Und es war so, dass Einarr das mit Halli im Sinn hatte, dass Halli den ganzen Betrag genommen hätte, der im Beutel war. Dafür hätte er die Todesstrafe für ihn fordern können.« Hier nach der Flateyjarbók zitiert. In der kürzeren Version heißt es: ›Eigi var þat,‹ segir Halli; ›annan veg muntu verða at fá mér ­banasǫkina en ek gørumk þjófr á fé þínu, ok sá ek bragð þitt þetta, ok munu vit nú skilja.‹ (»›So ist es nicht,‹ sagt Halli, ›sonst hättest du die Todesstrafe für mich fordern können, weil ich zum Dieb an deinem Vermögen geworden bin. Und das habe ich kommen sehen, und so werden wir uns nun trennen.‹«) 182 Kreutzer 1994, S. 448.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

 263

wegen enthält, dienen sie dazu, die Tapferkeit der Vorfahren herauszuheben und die Hintergründe zu erläutern, […].«183 Aus Sicht der Protagonisten handelt es sich bei Haraldrs Übergriffen um Raub. Aus der Perspektive des Königs ist er seinen Untertanen jedoch nicht gleichgestellt, seine Machtübernahme hat die Verhältnisse neu strukturiert. Innerhalb der neu erschaffenen gesellschaftlichen Hierarchie handelt es sich bei den Übergriffen des Königs auf das Privateigentum seiner Untertanen um ›Enteignungen‹.184 Zudem kann im Fall neu errungener Königsherrschaft und während des Prozesses der Etablierung eines neuen Reiches nicht klar zwischen ›privatem‹ und ›staatlichem‹ Eigentum differenziert werden.185 Sämtliche Belegstellen für die unter Haraldr hárfagri erfolgten Enteignungen stellen die Person des Königs als Aggressor ins Zentrum. An keiner Stelle wird der Gedanke vermittelt, der König führe Privateigentum ›der Allgemeinheit zu‹, oder enteigne ›in öffentlichem Interesse‹, sodass diese Fälle dem Berauben einer Person durch eine andere in den Isländersagas näherstehen, als dies bei Enteignungen durch einen anonymen Staatsapparat der Fall wäre. Ob diese Vorgänge als rechtmäßige Enteignungen oder als Raub zu bewerten sind, ist damit eine Frage der Perspektive: Versucht man, die Sichtweise des aufstrebenden Monarchen einzunehmen, ist die Enteignung der Großbauern ein notwendiger Schritt, um die Reichseinigung voranzutreiben und ein Lehenswesen zu etablieren. Nimmt man dagegen die Perspektive der Großbauern ein, die in den Isländersagas als Protagonisten im Zentrum stehen, handelt es sich um ungerechtfertigten Raub, verübt von einem Usurpator, der sich über geltendes Recht hinwegsetzt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Sichtweise vielen Isländersagas zugrunde liegt und untersucht werden, welche Strategien dabei verwendet werden, um Haraldrs Übergriff mit den folgenden Ereignissen innerhalb des Erzähltextes zu verknüpfen. Patricia Pires Boulhosa betrachtet in ihrer Untersuchung Icelanders and the Kings of Norway186 sämtliche Beschreibungen Haraldr inn hárfagris in Isländersagas und stellt fest, dass der Verlust von óðal eine zentrale Komponente des Konflikts zwischen König und späteren Auswanderern darstellt.187 Die isländischen Quellen bezeichnen mit óðal die »Stammgüter der Vornehmen«188 in Norwegen, für Land auf Island spielt der Begriff während der Freistaatszeit keine Rolle. Gemeint ist immer Land, auf das

183 Vésteinn Ólason 2011, S. 89. 184 Auf eine moderne juristische Definition des deutschen Begriffs ›Enteignung‹ wird hier bewusst verzichtet, da sie den Gegebenheiten der untersuchten Texte nicht gerecht werden könnte. Verwendet wird der Begriff im Sinne des allgemeinen deutschen Sprachgebrauchs: »1. jemandem Eigentum durch legalen staatlichen Eingriff für öffentliche, dem Allgemeinwohl dienende Zwecke entziehen, 2. von Privateigentum in staatliches Eigentum überführen«, Duden-Online 2016a, s.  v. ›enteignen‹. 185 Zum Krieg als Auslöser der Staatenbildung im ersten Jahrtausend n. Chr. siehe Steuer 2003. 186 Vgl. Boulhosa 2005, insb. Appendix 3. 187 Vgl. Boulhosa 2005, S. 172–173. 188 Ebel 2002, S. 535.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

ein Erbanspruch besteht, in norwegischen Rechtstexten variiert die Anzahl der Generationen, die den Grund besessen haben müssen, bevor er zum Odal wird.189 Diese spezielle Art von Grundbesitz kennzeichnet den sog. hǫlðr, den privilegierten, freien Bauern in Norwegen. Auch Meulengracht Sørensen bezieht sich in seiner Schilderung der Unterschiede zwischen allen früheren Königen und Haraldr hárfagri auf seinen Umgang mit Odal; erst dieser behalte sich das Recht vor, über Odal zu entscheiden und greift damit die uneingeschränkte Verfügungsmacht der Bauern ebenso an, wie die damit verbundene Kontrolle über ihren sozialen Status.190 Die Enteignung wird entweder passiv, also durch die Aktion der Bauern, die ihre Erbgüter verlassen, beschrieben (flýja óðul sín),191 oder auf den König bezogen aktiv durch das Verb eignask (»sich etw. aneignen; etw. zu eigen bekommen«),192 mit der Konstruktion taka e-t undir sik (»sich etw. aneignen; sich in den Besitz einer Sache setzen, etw. unter seine Verfügungsgewalt nehmen«),193 oder in ähnlichem Sinn umschrieben, wie in der Víglundar saga: [K]astaði konungr þá sinni eign á allt þat, er þeir áttu eptir, […].194 Auch nach der Emigration scheint der Status der Bauern als hǫlðr von Gewicht zu sein, da Isländer auf Handelsfahrt in Norwegen weiterhin hǫlðsréttr genießen, während andere Reisende lediglich bóndaréttr in Anspruch nehmen können.195 Die Exposition vieler Isländersagas beginnt damit nicht mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft nach der Landnahme, sondern mit einer Verlusterzählung: Mächtige norwegische Grundbesitzer verlieren ihre Souveränität, ihr Erbrecht und ihren Grundbesitz an einen aufstrebenden König und beschließen, dessen Übergriffe nicht hinnehmen zu wollen.196 Der Zusammenhang von Eigentum, Macht und Ehre wird dadurch schon in den ersten Kapiteln umfangreicher Sagas (wie etwa der Egils saga Skalla-Grímssonar, der Laxdœla saga oder der Eyrbyggja saga) thematisiert. Gleichzeitig tragen diese Episoden zur Konstruktion des Selbstverständnisses mächtiger Familien in der Erzählung bei: Übergriffe auf ihren Besitz und ihre Selbstbestimmtheit

189 Vgl. Ebel 2002, S. 535–537. 190 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 137. 191 Vgl. Eyr 1, Flóa 4, Gts 3, Sva 11. 192 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 103 sowie Fritzner (Hrsg.) 1886, S. 300; »tillæge sig Formue«. 193 Vgl. Baetke (Hrsg.) 2008, S. 644 sowie Cleasby (Hrsg.) 1874, S. 622 (»to take under oneself, subject; to take charge of«). 194 VíKet 1, S. 63; »Dann beschlagnahmte der König all das, was sie besessen hatten, […].« 195 Vgl. Boulhosa 2005, S. 194: »To the thirteenth- and fourteenth-century Icelanders, the existence of an eleventh-century law stating that Icelanders in Norway had the rights of a hǫlðr might have meant the recognition or conformation of their ancestors’ high-born status, or, most importantly, of their status as people who were born with óðal rights.« 196 In den Sagas wird dies immer als selbstbestimmte Entscheidung dargestellt, weshalb hier Poilvez 2012 widersprochen werden soll, die diesen Schritt als ›outlawry‹ bezeichnen möchte (»The ›outlawry‹ from Norway is at the origin of the new Icelandic society«, S. 118).



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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werden unter keinen Umständen geduldet.197 Unabhängig von der sozialen Stellung des Aggressors gilt es, Vermögen und Freiheit, fé ok frelsi, zu verteidigen.198

7.4.1 fé ok frelsi – Die Erzähltradition um Haraldr hárfagris Reichseinigung Die Tyrannei Haraldr hárfagris als Beweggrund für die Auswanderung nach Island anzugeben, kann als weithin etablierte Erzähltradition innerhalb der Isländersagas bezeichnet werden.199 Derselbe König wird in anderen Texten wesentlich positiver dargestellt. Besonders innerhalb der Königssagas wird er als Gründungsvater des norwegischen Königreiches gezeichnet.200 Da auch manche Isländersagas ein besseres Licht auf ihn werfen (so etwa die Vatnsdœla saga), ist davon auszugehen, dass diese Episoden nicht allein als Ausdruck des im kulturellen Gedächtnis201 verhafteten Bildes des Königs erklärt werden können. Die Art der Darstellung und der Grad der Einbindung in die einzelne Saga sollte vielmehr als bewusste Entscheidung verstanden werden, die in Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf der Erzählung gebracht werden kann, wie auch Boulhosa feststellt: »[W]hen the narrative chooses to follow a particular tradition, it consistently expresses a specific range of ideas throughout the text.«202

197 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 138–139, der hierzu am Beispiel der Egils saga auf die Grenzen dessen eingeht, was »en fri mand i den gamle sociale orden kan acceptere« (»ein freier Mann in der alten sozialen Ordnung akzeptieren kann«, S. 138). 198 Die Verbindung fé ok frelsi erscheint auch im Kontext der Wikingerfahrten. Als der Wikinger Sigurðr in der Harðar saga ok Hólmverja sich einer anderen Gruppe geschlagen geben muss, fällt der Satz: ›Þat munu vér heldr kjósa at verja fé várt ok frelsi ok falla heldr með sæmd‹ (Har 17, S. 46; »›Da werden wir uns lieber entscheiden, unser Vermögen und unsere Freiheit zu verteidigen, und lieber mit Ehre fallen‹«). Er wird gefangengenommen, kann aber durch eine List entkommen und die Wikinger später mit Hilfe des Protagonisten Hörðr besiegen. 199 Vgl. Ármann Jakobsson 2002b, S. 149 und Kreutzer 1994. 200 Haraldrs Darstellung in Königs- und Isländersagas und seine diachrone Entwicklung vergleicht beispielsweise Ármann Jakobsson 2002, S. 149. Zu Haraldrs Bild in der altnordischen Literatur allgemein siehe Kreutzer 1994. Kreutzer stellt u.  a. fest, dass Haraldr in der Íslendingabók nicht als Auslöser der Auswanderungswelle genannt wird, während die Landnámabók differenzierte Gründe je nach Siedler nennt, die allerdings häufig auf Haraldr zurückzuführen sind (zur Landnámabók insb. S. 445–448). 201 Dieser Begriff wird hier im Sinne Assmanns verwendet: »Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte aus der Vergangenheit […]. Vergangenheit gerinnt hier […] zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet. Die Vätergeschichten, Exodus, Wüstenwanderung, Landnahme, Exil sind etwa solche Erinnerungsfiguren, wie sie in Festen liturgisch begangen werden und wie sie jeweilige Gegenwartssituationen beleuchten« (Assmann 2013, S. 52). Neben dem ›kulturellen Gedächtnis‹ spricht Assmann vom ›kommunikativen Gedächtnis‹, das Erinnerungen an die rezente Vergangenheit umfasst, die mündlich von einer Person zur nächsten weitergegeben werden (S. 50–51). 202 Boulhosa 2005, S. 205.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Die folgenden Beispiele zeigen, dass die expositorische Ausgestaltung des Motivs ›Enteignung durch den König‹ für den Handlungsverlauf entscheidende Themen etabliert und für die weitere Erzählung kennzeichnende Merkmale anlegt, was etwa die Charakterisierung der Figuren betrifft. Wird dabei die Enteignung wie unrechtmäßiger Raub geschildert, ist anzunehmen, dass das Verhältnis der Figuren zu Macht und Besitz bestimmend für die Haupthandlung bleibt. Hierzu wird zunächst der Þorsteins þáttr tjaldstæðings untersucht, um einzelne Komponenten des Motivs herauszuarbeiten. Diese werden im Vergleich weiterer Isländersagas erprobt und erweitert, sodass ein möglichst nuanciertes Bild der Gestaltungsmöglichkeiten und Funktionsweisen des Motiveinsatzes entstehen kann. Der Þorsteins þáttr tjaldstæðings behandelt das Motiv in kondensierter Form, weshalb das zugrundeliegende Schema besonders deutlich zu erkennen ist. Ásgrímr ist der Sohn des Hersen Úlfr, dessen Erbe er übernimmt, er wird als inn mesti mannsóma­maðr203 eingeführt. König Haraldr hárfagri herrscht über Norwegen, schon bei seiner Einführung wird auf den finanziellen Aspekt seiner Regentschaft hingewiesen: [O]k hafði mjǫk lagt land allt undir sik at skǫttum.204 Er schickt seinen Verwandten Þórormr zu Ásgrímr, um dort Steuern einzutreiben. Dieser ist überzeugt, dass er für seine Besitztümer keine Steuern entrichten muss, und schickt Þórormr zurück. Der König reagiert ungehalten: ›Vér munum eignask land hans ok lausafé en ætla honum lengð af jǫrðu‹.205 Ásgrímr berät sich mit seinen Bauern und beschließt, dem König an Stelle von Steuern Geschenke zukommen zu lassen. Seine Sendboten richten dem König aus, Ásgrímr wolle keine Steuern zahlen, sende aber vingjafar;206 ein Pferd und eine große Menge an Silber. Der König schickt die Gaben zurück: ›Ek skal konungr í þessu landi ok setja lǫg ok rétt en eigi hann.‹207 Wieder bespricht sich Ásgrímr mit seinen Bauern, die gemeinschaftlich zum Entschluss kommen, dem König auf keinen Fall Steuern entrichten zu wollen. Þórormr wartet das Ergebnis der Besprechung ab, und schickt direkt danach einen Sklaven, um Ásgrímr zu töten – dieser wird sofort im Anschluss an die Tat von den Bauern getötet. Währenddessen befand sich Ásgrímrs Sohn Þorsteinn auf Beutezug. Bei seiner Rückkehr beschließt er, nicht gegen König Haraldr kämpfen zu wollen und sammelt das väterliche Vermögen ein. Über die generelle Situation in Norwegen heißt es: En þá var fǫr mikil til Íslands ór Noregi eptir þau stórvirki er menn ráku harma sinna.208 Þorsteinn lässt die Tötung seines Vaters 203 Tjal 1, S. 426; »der ehrenvollste Mann«. 204 Tjal 1, S. 426 (eigene Hervorhebung); »und er hatte nahezu das ganze Land ihm steuerpflichtig gemacht«. 205 Tjal 1, S. 427; »›Wir werden ihn seines Landes und seiner beweglichen Habe enteignen, aber ihm einen Erdstreifen zugestehen, [evtl: als Platz für sein Grab]‹«. 206 Tjal 1, S. 427; »Freundesgaben«. 207 Tjal 1, S. 427; »›Ich werde König in diesem Land sein und festlegen, was Gesetz und Recht ist, und nicht er‹«. 208 Tjal 2, S. 429; »Und damals gab es viele Fahrten von Norwegen nach Island, nach den Großtaten, mit denen die Menschen die ihnen zugefügten Kränkungen gerächt hatten«.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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aber nicht auf sich beruhen und fährt auf dem Weg nach Island zu Þórormr. Sie legen Feuer an seinem Hof, sodass er zusammen mit allen Bewohnern dort verbrennt. Am nächsten Tag schlachten sie sein Vieh und nehmen die Beute mit nach Island.209 Dort werden sie von den führenden Männern des Bezirks bereitwillig aufgenommen, die auf ihren Bericht antworten, so ergehe es in Norwegen Männern sem ekki vilja láta yfir drífask.210 Durch die Kürze des þáttrs und die damit verbundene reduzierte Darstellung des Konflikts lässt sich sein Kern deutlicher erkennen, als dies bei komplizierten Verflechtungen zwischen Protagonisten und Königsfamilie in anderen Texten der Fall ist. Die Herrschaft Haraldr hárfagris zeichnet sich hier vor allem durch die aus seinem Machtanspruch gewonnenen Steuerforderungen aus, wodurch der Zusammenhang von Autorität und Vermögen schon vor Beginn des Konflikts thematisiert wird. Auf seiner Seite stehen mit dem skrupellosen Þórormr und dem gewaltbereiten Sklaven zwei negativ gezeichnete Figuren, während für Ásgrímr an zwei Stellen betont wird, dass er seine Entscheidungen erst nach Rücksprache mit seinen Bauern trifft, also im Sinne einer größeren Gemeinschaft handelt. Die kollektive Rache der Bauern an dem Sklaven, der ihren Herren tötete, unterstreicht die großflächige Ablehnung gegen die Pläne des Königs, ebenso der Hinweis auf die generelle Auswanderungswelle. Die Figur des Þorsteinn veranschaulicht das Selbstverständnis dieser Männer weiter. Er kommt selbst von einem Beutezug und rächt den Tod seines Vaters, indem er Þórormrs Hof anzündet und sein Vieh raubt – er zeigt sich damit als souveräner Herse, der die gleichen Rechte wie der König für sich beansprucht. Ebenso ist Ásgrímrs Angebot zu verstehen, dem König ›Freundesgaben‹ anstelle von Steuern zukommen lassen zu wollen. Auch dieser Schritt zeigt, dass man den König als einen mächtigen Herrscher anerkennen würde, sich ihm aber nicht unterordnen will. Auch der norwegische König deutet die Geschenke in diesem Sinn: ›Ek skal konungr í þessu landi ok setja lǫg ok rétt en eigi hann.‹211 Die aus dem Þorsteins þáttr tjaldstæðings ersichtlichen Komponenten des Erzählmusters sind – die Betonung der Macht und der sozialen Stellung des Bauern, – die frühe Thematisierung des Zusammenhangs von Macht und Vermögen,

209 Vgl. auch die kurze Darstellung der Vorkommnisse in der Sturlubók Redaktion der Landnámabók (S 356, S. 358–362), bei der für den Überfall auf Þórormr das Verb ræna verwendet wird: Nǫkkuru síðar kom Þorsteinn ór hernaði ok lagði til Þrumu ok brenndi Þórorm inni ok hjú hans ǫll, en hjó búit ok rænti ǫllu lausafé, (S. 360 (eigene Hervorhebung); »Etwas später kam Þorsteinn von seinem Raubzug nach Þruma und verbrannte Þórormr und alle Hofbewohner im Haus, und erschlug alle Übrigen und raubte alle lose Habe.«) – in der wesentlich ausführlicheren Version der Hauksbók fehlt der Raub, es wird nur auf die brenna verwiesen (H 314, S. 361). 210 Tjal 2, S. 430; »die sich nicht bedrängen lassen wollen«. 211 Tjal 1, S. 427; »›Ich werde König in diesem Land sein und festlegen, was Gesetz und Recht ist, und nicht er‹«.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

– die Darstellung des Konflikts als Aggression eines negativ besetzten Einzelnen gegen eine große, positiv konnotierte Gemeinschaft – sowie die im Selbstverständnis verhaftete Ebenbürtigkeit mit dem König. – Hinzu kommt der Verweis auf einen Raubzug eines Protagonisten, in dessen Natur die Komponenten Autonomie sowie Macht und Vermögen vereint sind. Die Laxdœla saga hat eine ähnliche Exposition. Zunächst wird von Ketill flatnefr berichtet, einem mächtigen Hersen im norwegischen Romsdal. Das erste Kapitel widmet sich vollständig seinen Familienverhältnissen und seinen einflussreichen Nachfahren. Das zweite Kapitel wendet sich im Anschluss der Situation in Norwegen zu: Á ofanverðum dǫgum Ketils hófsk ríki Haralds konungs ins hárfagra, svá at engi fylkiskonungr þreifsk í landinu né annat stórmenni, nema hann réði einn nafnbótum þeira.212 Auch Ketill trifft seine Entscheidung nicht alleine, sondern ruft seine Angehörigen zusammen, um das Problem mit ihnen zu erörtern. Sein Sohn Bjǫrn verkündet: ›[Þ]ykkjumk ek ekki af því vaxa, þótt ek bíða heiman þræla Haralds konungs, ok elti þeir oss af eignum várum eða þiggja af þeim dauða með ǫllu.‹ At þessu var gǫrr góðr rómr, ok þótti þetta drengiliga talat.213 Während seine Söhne nach Island gehen, möchte Ketill mit seiner Tochter Unnr in den Westen, den er von seinen Raubzügen gut kennt. Sie halten sich zunächst in Schottland auf, nach Ketills Tod reist Unnr über die Orkneys und Färöer weiter nach Island. Das gleiche Personal findet sich in einer ähnlichen Situation in der Eyrbyggja saga wieder, allerdings werden die Motivationen dort anders wiedergegeben: Wieder wird zu Beginn Ketill flatnefrs Familie eingeführt, dies geschieht mit umfassender Genealogie und dem Einführungssatz: Ketill flatnefr hét einn ágætr hersir í Nóregi.214 Anschließend heißt es zur Situation in Norwegen: Þetta var í þann tíma, er Haraldr konungr inn hárfagri gekk til ríkis í Nóregi. Fyrir þeim ófriði flýðu margir gǫfgir menn óðul sín af Noregi.215 Raubüberfälle von den Orkneys und den Hebriden plagen das Land, und so schickt König Haraldr Ketill dorthin, um für Frieden zu sorgen. Widerwillig reist Ketill in den Westen und unterwirft die Hebriden, wo er sich selbst als Herrscher ausruft. Er schickt Haraldrs Kämpfer zurück zu ihrem König, der ungehalten auf Ketills Anmaßung reagiert. In der Eyrbyggja saga ist somit Ketills eigenmächtiges Handeln der Grund, aus dem Haraldr dessen gesamten norwegischen Grundbesitz einzieht. Ketills Sohn Bjǫrn kommt auch hier eine wichtige Rolle zu, da er sich den 212 Lax 2, S. 4; »In den letzten Tagen von Ketills Leben verstärkte sich die Herrschaft König Haraldr hárfagris derart, dass kein Bezirkskönig oder anderer mächtiger Mann im Land vorankommen konnte, sofern er ihm nicht eine Erhöhung im Rang gewähre«. 213 Lax 2, S. 4; »›Es scheint mir nichts daraus zu erwachsen, zu Hause die Sklaven König Haraldrs zu erwarten, die uns von unserem Eigentum verjagen oder uns allen den Tod bringen.‹ Dem wurde Beifall gezollt und man hielt dies für mannhaft gesprochen.« 214 Eyr 1, S. 3; »Ketill flatnefr hieß ein berühmter Herse in Norwegen«. 215 Eyr 1, S. 3; »Das war zu der Zeit, als König Haraldr hárfagri in Norwegen an die Macht kam. Wegen diesem Unfrieden flohen viele vornehme Männer von ihren Erbgütern [óðal] in Norwegen«.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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väterlichen Besitz zurückholt und den Verwalter des Königs vertreibt. König Haraldr beruft ein Thing ein, auf dem Bjǫrn in Norwegen geächtet wird, anschließend schickt der König Männer aus, um ihn zu töten. Bjǫrn flieht mit seinem Haushalt und aller beweglichen Habe, der König beschlagnahmt den Grundbesitz erneut. Bjǫrn kommt schließlich über die Orkneys nach Island und lässt sich dort nieder. Vergleicht man die beiden Episoden, folgen sie zunächst dem gleichen Muster. Der erste Abschnitt widmet sich einer ausführlichen Beschreibung der Verhältnisse Ketill flatnefrs, der durch umfassende Genealogien als Oberhaupt einer mächtigen und angesehenen Familie etabliert wird. Im direkten Anschluss berichten beide Sagas von der durch König Haraldr geschaffenen Situation in Norwegen und verweisen auf die Auswanderungswelle. Somit wird früh deutlich, dass Ketills Familie kein Einzelfall ist, da eine größere Gruppe von Großbauern in ihrer Stellung bedroht ist. Danach weicht der Fortgang der Erzählung aber in interessanten Punkten voneinander ab. Die Laxdœla saga folgt dem Schema des Þorsteins þáttr tjaldstæðings, indem der Zusammenhang des Machtverlustes mit finanziellen Aspekten hergestellt wird (at hafa frændr óbœtta, en gǫrr þó at leigumanni sjálfr216) und eine Beratung mit einer größeren Gruppe von Verwandten folgt. Es fehlt ein Hinweis auf eine gedachte Ebenbürtigkeit mit dem König, doch wird auf die Raubzüge Ketills verwiesen (Váru honum þar víða lǫnd kunnig, því at hann hafði þar víða herjat217). Nach einem großen Fest stechen alle Beteiligten in See, die Söhne Bjǫrn und Helgi nehmen auf Island Land, während ihr Vater Ketill nach Schottland reist. Als schließlich auch Ketills Tochter Unnr auf Island angekommen ist, und ihr Enkel Hǫskuldr geboren wird (Lax 5), setzt die Haupthandlung auf Island ein. In der Beschreibung Unnrs werden weitere für den späteren Handlungsverlauf relevante Themen angelegt. So findet etwa der Hinweis, sie lasse í skógi á laun218 ihr Schiff vorbereiten und Schätze an Deck bringen, eine Parallele in Guðrúns späterem heimlichen Umgang mit Kostbarkeiten.219 Auch das Verhalten der beiden Brüder Helgi und Bjǫrn, die mit unterschiedlicher Großzügigkeit auf Unnrs Ankunft reagieren, weist auf den späteren Umgang mit Pracht und Wohlstand innerhalb der Familie hin.220 Wesentlich verworrenere Pfade führen die in der Eyrbyggja saga dargestellte Familie an diesen Punkt. Auf die Erwähnung der Auswanderungswelle folgt der Bericht, dass viele der Emigranten Raubzüge nach Norwegen unternehmen und die Bauern König Haraldr um Hilfe bitten. Schon hier wird der König weit positiver dargestellt, als dies in den beiden anderen Texten der Fall ist, indem er in seiner Rolle als

216 Lax 2, S. 4; »Verwandte ungebüßt zu wissen, und selbst zu einem abgabepflichtigen Mann [leigumaðr (von leiga, f.; Miete, Pacht, Lohn)] zu werden«. 217 Lax 2, S. 5; »Ihm waren diese Gegenden weithin bekannt, da er dort ausgedehnte Kriegszüge unternommen hatte«. 218 Lax 4, S. 7; »im Wald im Verborgenen«. 219 Vgl. Kap. 5.3.4. 220 Vgl. Kap. 4.2.1.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Beschützer des Volkes gezeigt wird. Als Ketill die Hebriden unterworfen hat und sich anschließend zum Herrscher ausrufen lässt, berichtet Haraldrs Heer seinem König davon; en eigi sǫgðusk þeir vita, at hann drœgi Haraldi konungi ríki fyrir vestan haf.221 Erst mit dieser Legitimation zieht Haraldr den Besitz Ketills ein, wodurch der Vorgang nicht negativ belastet ist, sondern als gerechte Reaktion erscheint. Ketills Sohn Bjǫrn ist noch immer in Norwegen und erobert nach der Heirat mit einer Jarlstochter den Besitz seines Vaters zurück. Wieder reagiert Haraldr keineswegs despotisch, sondern beruft zunächst ein Thing ein. Dadurch steht das ›Kollektiv‹ in dieser Erzählung zum zweiten Mal auf der Seite des Königs, nachdem sich bereits die hilfesuchenden Bauern an ihn gewandt haben. Bjǫrn wird geächtet und flieht zu Þórólfr Mostrarskegg, worauf sein Eigentum erneut vom König beschlagnahmt wird. Während Bjǫrn zunächst seine Geschwister auf den Hebriden aufsucht und feststellt, at þau hǫfðu annan átrúnað, ok þótti honum þat lítilmannligt, er þau hǫfðu hafnat fornum sið, þeim er frændr þeira hǫfðu haft,222 hält Þórólfr ein großes Opfer ab, und bittet Þórr um Rat, ob er nach Island segeln solle. Schließlich nehmen Þórólfr und Bjǫrn auf Island Land, nachdem Bjǫrn bei seinen Geschwistern im Westen nicht die erhoffte Aufnahme fand. Während die Laxdœla saga also in ihrer Charakterzeichnung einseitig ist und den König in einem negativen Licht darstellt, der einer Gruppe positiver und selbstbestimmter Großbauern gegenübersteht, ist die Eyrbyggja saga wesentlich differenzierter in ihrem Urteil. Die Entscheidungen des Königs sind hier fortwährend nachvollziehbar motiviert und werden mit einem Kollektiv verknüpft.223 Ketills Familie wird zwar als mächtig dargestellt, die einzelnen zugehörigen Figuren werden aber eigenständiger gezeichnet und tragen sowohl positive als auch negative Merkmale. Dies steht der einseitigen Darstellung der Laxdœla saga gegenüber, in deren Figurenensemble eindeutig positiv charakterisierte Familienmitglieder einem despotischen Herrscher gegenüberstehen. Auch werden in beiden Sagas unterschiedliche Themen angelegt, was sich anhand einer Analyse der semantischen Isotopien der ersten Kapitel aufzeigen lässt.224 In der

221 Eyr 1, S. 4; »doch sie sagten, sie wüssten nichts davon, dass er dort im westlichen Meer König Haraldrs Herrschaft vermehre«. 222 Eyr 5, S. 10; »dass sie einem anderen Glauben hätten, und es erschien ihm nicht anständig, dass sie die alte Sitte abgelegt hatten, die ihre Verwandten gehabt hatten«. 223 Vgl. hierzu Kreutzer 1994, S. 456–457, der beim Vergleich der beiden Sagas weniger Unterschiede sieht; die Eyrbyggja saga sei »fast ebenso negativ gegenüber Harald, wenn Ketill auch selbst nicht ganz schuldlos an der Entwicklung und Harald möglicherweise zur Versöhnung bereit scheint« (S. 456). 224 Die hierbei verwendete Methodik der Isotopieuntersuchung wird an diesem Vergleich exemplarisch vorgeführt. Sie geht auf Greimas 1971 (S. 60–92) zurück und wird insbesondere in der Textlinguistik, aber in der Erzähltext- und Lyrikanalyse verwendet. Mehrfach auftretende Lexeme eines Textes werden in semantische Klassen eingeteilt, wodurch verschiedene Isotopieebenen identifiziert werden können, die aufzeigen, welche Wort- und Themenfelder in einem Abschnitt dominieren. Auch im Folgenden wurde sie für die Bestimmung der Thematik verwendet, aber nur in kürzerer Form schriftlich ausgebreitet.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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Exposition der Laxdœla saga wird der Zusammenhang von Macht, Familie und Eigentum ebenso zentral betont, wie Verwandtschaft, Schicksalsglaube und ein Interesse an Schätzen und Reichtum als Themen angelegt werden. Die Bestimmung dieser Themen ergibt sich aus einer Analyse der ersten fünf Kapitel, die mit der Geburt Hǫskuldrs auf Island enden. Macht und Abstammung hängen schon im ersten Kapitel bei der Beschreibung Ketills zusammen (hersir ríkr […] ok kynstórr225). In Lax 2 werden Macht und Verwandtschaft (hófsk ríki Haralds; né annat stórmenni; at hafa frændr óbœtta; sem frændr mínir; frænda minna ok vina; dœmun gǫfugra manna)226 als Themen mit Vermögen und Reichtum zusammengeführt (elti þeir oss af eignum várum,227 þar landskosti góða, ok þurfti ekki fé at kaupa228), auch Raubzüge werden zum ersten Mal genannt (hann hafði þar víða herjat).229 Lax 3 hat weiter die Verwandtschaft zum zentralen Thema, durch die Nennung zweier Töchter und margir aðrir frændr.230 Hinzu kommt das Schicksal als Thema (Þar fann Bjǫrn ǫndvegissúlur sínar […], þótti þeim þá á vísat um bústaðinn231). Die bisher etablierten Themen werden in Lax 4 fortgesetzt (hann var frægr maðr ok stórættaðr232), auch dass Raubzüge zum Selbstverständnis der Familie gehören, erscheint erneut: Ketill staðfestisk þar ok annat frændlið hans, nema Þorsteinn, dóttursonr hans, hann lagðisk þegar í hernað ok herjaði víða um Skotland.233 Wie bereits besprochen, werden im Folgenden durch die Geschwister Unnr, Bjǫrn und Helgi die Themen ›selbstbestimmte Frau‹, ›Kostbarkeiten‹, und ›Großzügigkeit‹ angelegt. Bei Unnrs Landnahme folgt ein weiterer Hinweis auf den für die Laxdœla saga charakteristischen Schicksalsglauben: [V]áru þar reknar á land ǫndvegissúlur hennar; þótti henni þá auðvitat, hvar hon skyldi bústað taka.234 Bei der Analyse der Exposition der Eyrbyggja saga fallen ebenso Macht und Abstammung zuerst ins Auge, allerding mit feinen Unterschieden zur Laxdœla saga: Ketill wird als ágætr hersir235 eingeführt, Bjǫrn wächst bei einem Jarl auf, der als vitr 225 Lax 1, S. 3 (eigene Hervorhebung); »ein reicher Herse aus angesehenem Geschlecht«. 226 Lax 2, S. 4 (eigene Hervorhebung); »verstärkte sich Haraldrs Herrschaft«; »noch andere angesehene Männer«; »Verwandte ungebüßt zu wissen«; »wie meine Verwandten«; »meine Verwandten und Freunde«; »Beispiel vornehmer Männer«. 227 Lax 2, S. 4 (eigene Hervorhebung); »verjagen sie uns von unserem Eigentum«. 228 Lax 2, S. 5 (eigene Hervorhebung); »dort gäbe es gute Ländereien, und man bräuchte es nicht mit Geld zu kaufen«. 229 Lax 2, S. 5 (eigene Hervorhebung); »er hatte dort ausgedehnte Raubzüge unternommen«. 230 Lax 3, S. 5 (eigene Hervorhebung); »viele andere Verwandte«. 231 Lax 3, S. 6 (eigene Hervorhebung); »Dort fand Bjǫrn seine Hochsitzpfeiler […], die Wohnstätte erschien ihnen damit zugewiesen.« 232 Lax 4, S. 6 (eigene Hervorhebung); »er war ein berühmter Mann und aus vornehmem Geschlecht.« 233 Lax 4, S. 7 (eigene Hervorhebung); »Ketill wurde dort sesshaft, und seine Verwandten ebenso, außer Þorsteinn, dem Sohn seiner Tochter. Er ging sofort auf Raubzug und plünderte an vielen Stellen Schottlands.« 234 Lax 5, S. 9 (eigene Hervorhebung); »Dort waren ihre Hochsitzpfeiler an Land getrieben; es erschien ihr offenbar, wo sie ihren Wohnsitz errichten sollte.« 235 Eyr 1, S. 3 (eigene Hervorhebung); »berühmter Herse«.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

maðr ok ágætr236 beschrieben wird. Berühmtheit und Weisheit als Attribute spielen in der Laxdœla saga keine Rolle, die bereits ausgewanderten Männer werden aber gleichermaßen als gǫfgir237 bezeichnet. Anstelle der Verwandten und Nachkommen der Protagonisten wird die Herkunft mehrerer Figuren in den Mittelpunkt gerückt, und beispielsweise auf Ragnarr loðbrók und den Irenkönig Kjarvalr zurückgeführt. Während Raubzüge in der Laxdœla saga zum Betätigungsfeld der Protagonistenfamilie zählen, werden sie hier als Übel präsentiert, dem der König als Beschützer seines Volkes entgegentritt: Bœndr kærðu þetta fyrir konungi ok báðu hann frelsa sik af þessum ófriði.238 Ketills Machtanmaßung (Hann lagði under sik Suðreyjar ok gerðisk hǫfðingi yfir239) wird nicht legitimiert, sondern im Gegenteil durch die darauffolgende Enteignung durch den König negativ beurteilt. Bei der Ächtung Bjǫrns spielt das Thema Vermögen naturgemäß eine wichtige Rolle (ok tók undir sik eignir þær, er faðir hans hafði átt, með […] lausafé240). Dominierte in der Laxdœla saga der Begriff frændi (»Verwandte«), wird in der Eyrbyggja saga Freundschaft als Thema eingeführt – vinir Bjarnar241 warnen ihn vor den Kriegern des Königs, und es ist sein Freund Þórólfr Mostrarskegg, bei dem er sowohl nach der Verbannung als auch auf Island Unterstützung findet. Die Kapitel 4 und 5 werden vollständig vom Thema Religion dominiert, zuerst von Þórólfrs Glauben an Þórr, danach vom christlichen Glauben der Geschwister. Die Eyrbyggja saga legt also im direkten Vergleich der verwendeten semantischen Isotopien andere Themenstränge an: Berühmtheit, Herkunft, Machtanmaßung, Freundschaft und Religion bestimmen ihre ersten Kapitel. Dieser Vergleich zeigt zum einen, dass die Erzähltradition um Haraldrs Reichseinigung und die Enteignung der Großbauern in ihren Ausgestaltungen sehr flexibel verwendet wird. Selbst wenn es sich um die gleiche – historisch gut verbürgte242 – Familie handelt, kann der Handlungsverlauf weit voneinander abweichen und völlig andere Motivationen und Figurencharakterisierungen hervorbringen. Dies spricht für eine bewusste literarische Motivverwendung und gegen ein dem kollektiven Gedächtnis verpflichtetes Erzählen historischen Wissens. Zum anderen zeigt sich, wie produktiv diese Episoden in den beiden Sagas zur Entwicklung verschiedener Themen ein-

236 Eyr 1, S. 3 (eigene Hervorhebung); »kluger und berühmter Mann«. 237 Eyr 1, S. 3 (eigene Hervorhebung); »angesehen«. 238 Eyr 1, S. 4 (eigene Hervorhebung); »Die Bauern brachten die Klage beim König vor und baten ihn, sie vor diesen Angriffen zu beschützen.« 239 Eyr 1, S. 4 (eigene Hervorhebung); »Er unterwarf sich die Hebriden und machte sich zum Oberhaupt darüber.« 240 Eyr 2, S. 5 (eigene Hervorhebung); »und nahm die Güter in Besitz, die sein Vater besessen hatte, mit […] dem beweglichen Besitz«. 241 Eyr 2, S. 5; »Bjǫrns Freunde«. 242 Vgl. Landnámabók (S 84, H 72, S. 122); En er Ketill helt skǫttum fyrir Haraldi konungi enum hárfagra, þá rak konungr Bjǫrn son hans af eignum sínum ok tók undir sik (»Aber als Ketill König Haraldr hárfagri die Steuern vorenthielt, da verbannte der König dessen Sohn Bjǫrn von seinem Landbesitz und eignete ihn sich an«).



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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gesetzt werden, die für den weiteren Erzählverlauf bestimmend bleiben. Macht, Besitz und Prachtliebe bleiben die bestimmenden Themen der Laxdœla saga, ebenso, wie rechtmäßige Herrschaft, Anmaßung und Religion zweifellos zu den Leitthemen der Eyrbyggja saga gehören. Dies trifft auch auf die Art der Figurencharakterisierung zu: Man denke hierbei an die eher eindimensional charakterisierten männlichen Figuren der Laxdœla saga (wie etwa Óláfr pái und besonders Kjartan Óláfsson) im Vergleich zu den nuanciert gezeichneten Protagonisten der Eyrbyggja saga (besonders den ambivalenten Snorri goði, aber auch den facettenreichen Þórólfr bægifótr).243 Andere Sagas haben zwar andere Figuren im Blickpunkt, variieren das Thema aber ebenso zugunsten ihrer späteren Handlungsführung. Im ersten Kapitel der Grettis saga Ásmundarsonar wird von den Wikingerfahrten Ǫnundr Ófeigssons berichtet, der aus einer großen Familie stammt und in seiner Genealogie sogar mit Óláfr dem Heiligen verbunden wird. Auf seinen Fahrten trifft er auf König Kjarvalr von den Barreyjar, den er im Kampf besiegen und dessen Schiffe und Besitz er nach dessen Flucht an sich nimmt. Im zweiten Kapitel wechselt der Schauplatz nach Norwegen, wo ebenfalls ein Kleinkönig (hann var áðr konungr á Upplǫndum244) kämpft, allerdings wesentlich erfolgreicher: Haraldr unterwirft sich Norwegen nach und nach, und Ǫnundr und seine Gefährten werden um Hilfe gebeten. Sie schließen sich dem Kampf gegen Haraldr an und nehmen an der Schlacht im Hafrsfjord teil, bei der Haraldr siegt und Ǫnundr ein Bein verliert. Diese beiden Anfangsepisoden zeigen den raubenden Wikinger Ǫnundr in positivem Licht und eröffnen zusätzlich eine interessante Parallele, indem sie zuerst seinen erfolgreichen Kampf gegen den Kleinkönig Kjarvalr darstellen, und Haraldr erst als zweiter Herrscher auftaucht, gegen den sich die Wikinger aber schließlich geschlagen geben müssen. Erst danach folgt die Einbindung des Motivs ›Enteignung durch den König‹: Þá váru fyrir vestan haf margir ágætir menn, þeir sem flýit hǫfðu óðul sin ór Nóregi fyrir Haraldi konungi, því at hann gerði alla útlæga, þá sem í móti honum hǫfðu barizk, ok tók undir sik eignir þeira.245

Ǫnundr sucht sich Hilfe bei Geirmundr heljarskinn, dem mächtigsten Wikinger in der Gegend. Dieser antwortet aber eigi nenna at gerask konungsþræll ok biðja þess, er hann átti áðr sjálfr,246 und möchte sich lieber neuen Grund suchen. Es wird von weiteren Männern berichtet, die in Norwegen durch Haraldr Landbesitz verloren hatten, und 243 Zur Laxdœla saga siehe Kap 4.2.1, Kap. 5.3.3, Kap. 5.3.4 und Kap. 7.2.2.2. Zur Eyrbyggja saga siehe Kap. 6.1.2, Kap. 6.2.3 und Kap. 5.2.3. 244 Gts 2, S. 4.; »Er war zuvor König in den Upplǫnd.« 245 Gts 3, S. 6; »Damals waren im Westen über dem Meer viele vornehme Männer, jene, die von ihren Erbgütern [óðal] vor König Haraldr geflohen waren; denn er ächtete alle, die gegen ihn gekämpft hatten, und eignete sich ihren Besitz an.« 246 Gts 3, S. 7; »er ertrage es nicht, sich zum Sklaven des Königs zu machen, und das zu erbitten, das er früher selbst besessen hatte.«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Ǫnundr verbringt eine längere Zeit auf den Hebriden, wo er sich schließlich verlobt. Als Ǫnundr mit seinem Freund Þrándr zurück nach Norwegen kommt, um dessen Erbe zu verteidigen, wiederholt sich der Freiheitsgedanke durch den Begriff der Königssklaven:247 ›Lízk mér betr komit, frændi, at þú erfir fǫður þinn en konungsþrælar.‹248 Als es daraufhin um Ǫnundrs Erbgüter geht, folgt die bereits aus dem Þorsteins þáttr tjaldstæðings und der Eyrbyggja saga bekannte Episode um die Rache am Verwalter des Königs: Hann spurði, at Haraldr konungr hafði tekit undir sik eignir hans ok skipat þeim manni, er Hárekr hét; hann var ármaðr konungs. Ǫnundr fór til hans um nótt ok tók hús á honum; var Hárekr til hǫggs leiddr. Ǫnundr tók þar allt lausafé, þat er þeir náðu, en brenndu bœinn.249

Es folgt eine weitere brenna am Hof des königstreuen Grímr, daraufhin wandert Ǫnundr mit seiner Familie nach Island aus. In der Grettis saga Ásmundarsonar wird durch die anfänglichen Genealogien und die ausführliche Schilderung der Raubzüge also zunächst ebenfalls der Zusammenhang von Macht, Stellung und Vermögen thematisiert, wobei durch die vielen Raubzüge die Autonomie der Protagonisten besonders stark hervortritt. Interessant ist hierbei vor allem die Parallele zum zuvor noch besiegten Kleinkönig Kjarvalr. Auch die Motivkomponente ›einzelner Aggressor gegen positiv konnotierte Gruppe‹ wird außergewöhnlich breit auserzählt, indem von mehreren Schicksalen berichtet wird und die margir ágætir menn (»vielen vornehmen Männer«), die vor dem neuen König fliehen, somit keine gesichtslose Gruppe bleiben. Die gedachte Ebenbürtigkeit mit dem König wird durch den Ausspruch Geirmundr heljarskinns deutlich, auch die folgende Episode um die Rache am Königsverwalter Hárekr steht dem Þorsteins þáttr tjaldstæðings auffallend nahe.250 Die Grettis saga enthält damit, ebenso wie die Laxdœla saga, alle zuvor ausgearbeiteten Motivkomponenten, setzt aber neue Schwerpunkte, die für diese Saga charakteristisch bleiben: Sie rückt die Themen Autonomie und Raubzüge in den Vordergrund, was für diese Saga, die die vielen Jahre Grettirs in der Verbannung zum Schwerpunkt hat, äußerst planvoll erscheint. Während seine 247 Vgl. auch Kreutzer 1994, S. 458—459. 248 Gts 6, S. 16; »›Es erscheint mir besser, Verwandter, dass du deinen Vater beerbst, anstelle der Sklaven des Königs.‹« 249 Gts 7, S. 17; »Er erfuhr, dass König Haraldr sein Eigentum beschlagnahmt und jenem Mann gegeben hatte, der Hárekr hieß, der war ein Verwalter des Königs. Ǫnundr ging bei Nacht zu ihm und überfiel seinen Hof; Hárekr wurde enthauptet. Ǫnundr nahm da alle bewegliche Habe, die sie finden konnten, und sie verbrannten das Gehöft.« 250 Ein Verwalter oder Vogt mit zweifelhaftem Charakter tritt auch ganz unabhängig von der Erzähltradition um Haraldr hárfagri in mehreren Sagas als Nebenfigur auf, unter anderen auch im Rauðúlfs þáttr, einer kurzen Erzählung über den Heiligen Óláfr. Der Verwalter unterstellt den Söhnen des Titelhelden einen Viehdiebstahl. Diese werden von König Óláfr für unschuldig gehalten, was sich am Ende des þáttrs bewahrheitet: Der Verwalter selbst hat das Vieh gestohlen. Die Diebstahlsgeschichte dient hier als Rahmenerzählung für Óláfrs Erlebnisse und seinem Traum im Haus Rauðúlfrs.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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Verwandten durch die Auswanderung nach Island eine Möglichkeit finden, ihre Ächtung (hann gerði alla útlæga)251 in ein positives Schicksal zu wandeln, ist ihrem gesetzlosen Nachfahren Grettir die Flucht ins Ausland verwehrt: Als Gesetzloser ist er óferjandi – er darf nicht mit einem Schiff befördert werden und kann die Insel Island nicht verlassen, wodurch sich hier die Kehrseite der Autonomie zeigt: Grettir muss in Einsamkeit und Vereinzelung leben. Zusätzlich wird der raubende Ǫnundr in dieser Anfangsepisode in so positivem Licht geschildert, dass dies die Sympathie, mit der auch der geächtete Grettir begleitet wird, vorwegnimmt. Nicht alle Ächtersagas gehen intensiv auf das Motiv ein. Die Gísla saga erwähnt den Konflikt mit Haraldr als Grund für die Auswanderungswelle nur in ihrer längeren Fassung und nennt keine einzelnen Vorkommnisse, wie etwa Enteignungen.252 Die Harðar saga ok Hólmverja beginnt mit wenigen, aber eindeutig negativen Worten zu Haraldrs Herrschaft und den auswandernden Großbauern: [O]k vildu þeir heldr flýja eignir sínar en þola ágang ok ójafnað, eigi heldr konungi en öðrum manni.253 Zwar wird kurz das Eigentum erwähnt, Enteignungen werden aber nicht weiter thematisiert. Eine ebenso kurze Nennung taucht in der Flóamanna saga auf. Hallsteinn verlasse das Land, sem þá gerðu margir gildir menn, at þeir flýðu óðul sin fyrir ofríki Haralds konungs ok unnu áðr stórvirki nökkur,254 ohne konkret zu werden, was zwischen dem König und den Auswanderern vorgefallen sei. Das Verhältnis zwischen dem isländischen Protagonisten und einem ausländischen König wird in keiner Isländersaga stärker thematisiert als in der Egils saga Skalla-Grímssonar.255 Die einleitenden Kapitel behandeln den Konflikt zwischen Egills Großvater Kveld-Úlfr und Haraldr hárfagri: »Denne inledning udstikker den sociale scene for hovedhandlingen om Egill Skalla-Grímsson, der – sagt med en generalisering, som sagaens inledning lægger opp til – repræsenterer de islandske stormænds ideologi i kontrast til kongedømmets.«256 Die Figurenbeschreibung Kveld-Úlfrs gibt Aufschluss über die Zusammensetzung seiner sozialen Stellung: Úlfr var maðr auðigr, bæði at lǫndum ok lausum aurum; hann

251 Gts 3, S. 6; »er ächtete alle«. 252 Auf dem Weg nach Island wird allerdings auch in der Gísla saga das Motiv des Raubzugs erwähnt, da Gísli Þorkelsson aus Rache den Hof seiner Widersacher verbrennt und von dort reiche Beute mit nach Island nimmt (Gís 3). 253 Har 1, S. 3; »Und sie wollten lieber von ihrem Besitz fliehen, als Angriff und Ungerechtigkeit zu dulden, weder vom König, noch von einem anderen Mann.« Vgl. auch Kreutzer 1994, S. 458. 254 Flóa 4, S. 238; »wie es damals viele angesehene Männer taten, die von ihrem Erbbesitz vor der Gewaltherrschaft König Haraldrs flohen, nachdem sie zuvor noch Großtaten vollbracht hatten.« Vgl. auch Kreutzer 1994, S. 459 zur Abhängigkeit der Flóamanna saga von der Landnámabók. 255 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 129–147 für eine Diskussion der Facetten dieses Spannungsverhältnisses, ausgehend von verschiedenen Konzepten von ære (»Ehre«). 256 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 129; »Diese Einleitung legt die soziale Szenerie für die Haupthandlung um Egil Skalla-Grímsson an, der – mit einer Verallgemeinerung gesprochen, die von der Einleitung der Saga nahegelegt wird – die isländische Ideologie der Großbauern repräsentiert, im Kontrast zu der des Königtums.«

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

tók lends manns rétt, svá sem haft hǫfðu langfeðgar hans, ok gerðisk maðr ríkr.257 Die drei Komponenten seiner Macht sind sein Grundbesitz, sein bewegliches Vermögen und seine ererbte Stellung als lendr maðr.258 Die von König Haraldr ausgehende Bedrohung wird von Sǫlvi klofi zusammengefasst, der König Arnviðr um Unterstützung bittet, da auch dieser bald fé […] ok frelsi259 gegen Haraldr verteidigen müsse. Hier zeigt die alliterierende Paarung der beiden Begriffe den unauflöslichen Konnex von Vermögen und Freiheit. Beides würde man an Haraldr verlieren, unterstellte man sich dem neuen König als leigumaðr.260 In seiner Beschreibung des Vorgangs benutzt Sǫlvi den häufig verwendeten Begriff der ›Sklaven Haraldrs‹: [A]t ganga með sjálfvilja í ánauð ok gerask þrælar Haralds.261 Innerhalb der Familie Kveld-Úlfrs werden zwei Möglichkeiten präsentiert, auf das neue norwegische System unter Haraldrs Herrschaft zu reagieren.262 Während KveldÚlfr und sein Sohn Skalla-Grímr sich verweigern, wird Þórólfr Kveld-Úlfsson von der Macht des Königs und der Aussicht auf Ruhm und Reichtum angezogen: ›Er mér svá frá sagt konungi, at hann sé inn mildasti af fégjǫfum við menn sína.‹263 Þórólfr schließt sich dem König an und wird so ein lendr maðr, vor Haraldrs Herrschaft hätte er dies allein durch den Erbanspruch seines Vaters erreichen können. Insgesamt steht er dem neuen Machtanspruch wesentlich offener gegenüber als seine Verwandten. Zunächst gewinnt Þórólfr am Königshof Ehre und Vermögen, schlussendlich möchte aber auch Þórólfr sich Haraldr nicht völlig unterwerfen und bietet dem König stattdessen – wie 257 Eg 1, S. 4; »Úlfr war ein vermögender Mann, sowohl an Land als auch an losem Besitz. Er bekam den Rang eines lendr maðr, so wie ihn auch seine Vorfahren gehabt hatten, und wurde ein reicher Mann.« 258 Vgl. Boulhosa 2005, S.  161, die seine ererbte Stellung als lendr maðr als ausschlaggebend für seine Machtposition erachtet, während sie sein Vermögen als »pre-requisite« bezeichnet. In ihren Augen ist sein Vermögen also nicht in gleichem Maße für seine Stellung von Bedeutung. Der Begriff lendr maðr ist nicht unproblematisch: Er bezeichnet einen mit Land ausgestatteten Mann und kann daher weitestgehend mit »Lehnsmann« übersetzt werden (vgl. Krag 2001). Wie der Begriff im Kontext der Umbruchszeit der Reichseinigung zu verstehen ist und in der Egils saga mit den Odalsrechten in Verbindung steht, ist nicht eindeutig zu bestimmen. 259 Eg 3, S. 8; »Vermögen und Freiheit«. 260 Vgl. auch Boulhosa 2005, S. 163: »At any rate, the saga emphasizes the idea that those men who consent to submit to King Haraldr’s new quasi-feudal rules – and therefore surrender their power of self-determination – are equivalent to slaves (þrælar).« Meulengracht Sørensen 1993 betont, dass durch den Verlust der Freiheit auch die Ehre der Protagonisten verloren sei, mit Verweis auf Sǫlvis Ansprache kommt er zum Schluss: »For en mand af ære er den personlige frihed vigtigere end livet« (S. 138; »Für einen Mann von Ehre ist die persönliche Freiheit wichtiger als das Leben«). 261 Eg 3, S. 8; »[Sich] aus eigenem Willen in Knechtschaft begeben und zu Haraldrs Sklaven werden«. 262 Kreutzer 1994, S. 448–449 zeigt, dass die Egils saga sogar fünf Möglichkeiten durchspielt, der neuen Herrschaft zu begegnen: »1. Auswandern, 2. aktiven Widerstand leisten, 3. passiven Widerstand leisten (auf seinem Besitz bleiben und den König weder unterstützen noch aktiv bekämpfen), 4. auf seinem Hof als Lehnsmann bleiben, 5. in den Hofdienst eintreten«. 263 Eg 6, S. 15; »›Mir wurde über den König gesagt, dass er seinen Männern gegenüber überaus freigiebig mit Geschenken sei‹«.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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zuvor Kveld-Úlfr – seine Freundschaft an.264 Dies genügt dem neuen König nicht, und Þórólfr zieht schließlich den Neid des Königs und der Hofgemeinschaft auf sich, die letztlich zu seiner Ermordung führen.265 Die Exposition der Egils saga ist sehr eng mit dem weiteren Verlauf der Saga verwoben, in der anhand unterschiedlicher Könige und Nachfahren Kveld-Úlfrs die Themen Macht, persönliche Freiheit und Selbstbestimmtheit immer wieder verhandelt werden, häufig verknüpft mit Eigentumsdelikten.266 Boulhosa sieht den Versuch Þórólfrs, am Hof des Königs zurückzuerlangen, was ihm als Geburtsrecht zugestanden hätte, als symptomatisch für das spätere Verhältnis von Isländern zum norwegischen König. Während der Wunsch, ihre Ehre zu bewahren, die Siedler einerseits bewegt, Norwegen zu verlassen, werden sie andererseits auch zukünftig vom norwegischen Hof angezogen, durch die Hoffnung, dort ihr Ansehen und ihre Macht zu mehren. Das isländische Selbstverständnis definiere sich damit stets in Relation zum norwegischen System.267 Diese attestiert auch Meulengracht Sørensen, der die Egils saga für modellbildend hält: I de fleste islændinesagaer er relationen til Norge og kongen en del af baggrunden for skild­ ringen af det særligt islandske, og skal man stille én saga som indgang til det samlede korpus af islændinesagaer for at tydeliggøre denne baggrund, så må det blive Egils saga […]. Kongen er i sagaernes verden en af de muligheder, en fri mand har for at vinde sig ære; men forudsætningen for friheden er uafhængighed af kongen, og i det tvetydige forhold til kongemagten kan det derfor gøres klart, hvad frihed er.268

Sämtliche Stränge der Erzähltradition werden in der Víglundar saga ok Ketilríðar zusammengeführt.269 Die Saga beginnt mit einer geradezu hymnischen Beschreibung Haraldrs als allra manna vitrastr,270 und berichtet von den tapferen und ruhmreichen 264 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993a, S. 142–143. 265 Vgl. Kreutzer 1994, S. 450–451. Kreutzer erachtet hier das Motiv der hamingja bzw. gæfa des Königs, gegen das nicht anzukommen ist, für ausschlaggebend: »Daraus ergibt sich eine vom Schicksal vorgegebene, nicht beeinflussbare, sozusagen ›natürliche‹ Rangordnung in (mindestens) drei Stufen, bei der dem König eine unanfechtbare Herrscherposition eingeräumt wird«, S. 451. Zu Þórólfrs Schicksal vgl. auch Kap. 6.1.2. 266 Vgl. Kap. 7.1.1.3 und Kap. 8.2. 267 Vgl. Boulhosa 2005, S. 171–172. 268 Meulengracht Sørensen 1993a, S. 146; »In den meisten Isländersagas ist die Beziehung zu Norwegen und dem König ein Teil des Hintergrunds, vor dem das speziell Isländische geschildert wird, und wenn man eine Saga als Einstieg zum gesammelten Korpus der Isländersagas wählen möchte, um diesen Hintergrund deutlich zu machen, muss es die Egils saga sein […]. In der Welt der Sagas ist der König eine der Möglichkeiten, wie sich ein freier Mann Ehre erwerben kann; doch die Voraussetzung für Freiheit ist die Unabhängigkeit vom König – in diesem zwiespältigen Verhältnis zur Königsmacht kann deshalb verhandelt werden, was Freiheit ist.« 269 Vgl. auch Kreutzer 1994, S. 460, der das Bild Haraldrs in dieser Saga als »merkwürdig widerspruchsvoll« sieht. 270 VíKet 1, S. 63; »der klügste aller Männer«.

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 7 Diebstahl, Raub und Macht: Soziale und narrative Hierarchien

Männern, die sich ihm angeschlossen haben. Diesen ergehe es besser als anderen Leuten im Land, því at konungr sparði hvárki við þá fé né fullting, ef þeir kunnu til at gæta.271 Wie er seinen Unterstützern gegenüber großzügig ist, trifft seine Widersacher seine ganze Härte: [S]umir urðu landflæmdir, en sumir drepnir; kastaði konungr þá sinni eign á allt þat, er þeir áttu eptir, en margir mikils háttar menn flýðu ór Nóregi ok þoldu eigi álögur konungs, þeir sem váru af stórum ættum, ok vildu heldr fyrirláta óðul sín ok frændr ok vini en liggja undir þrælkan ok ánauðaroki konungs, ok leituðu mjök til ýmissa landa. Um hans daga byggðist mjök Ísland, því at þangat leituðu margir þeir, sem eigi þoldu ríki Haralds konungs.272

In beiden Fällen ist die Herrschaft des Königs hier mit monetären Aspekten verknüpft: Genannt wird die finanzielle Unterstützung des Königs ebenso wie Enteignungen und die Weigerung einiger, Abgaben zu entrichten. Letzteres wird gleichgesetzt mit einem Leben undir þrælkan.273 Dass trotz des Lobes für König Haraldr, der auch im Folgenden eine positive Figur bleibt, auch Sympathie und Verständnis für die Emigranten vorhanden ist, zeigt eine Figurenrede des Bauern Ketill, der mit König Haraldr freundschaftlich verbunden ist. Als Haraldr ihm einen Titel anbietet, lehnt Ketill ab, denn heldr vildu vera einfaldr bóndi ok halda sik til jafns við þá, sem meiri nafnbætr hefði.274 Hier wird ein sonst nur unterschwellig auftauchender Gedanke von einer Figur realisiert: Angesehene Bauern benötigen nach ihrem Selbstverständnis keine Titel, um sich anderen – auch höherstehenden – ebenbürtig zu fühlen. In diesem Sinn entwickelt sich auch die Saga: Während der König in den ersten Kapiteln sehr präsent ist und sowohl Ketill als auch Þorgrímr mit Ehren ausstattet, spielen die Beziehungen zum König nach dem Brautraub275 plötzlich keine Rolle mehr, die beiden rivalisierenden Familien leben in Island und Norwegen weiter, am Ende der Saga kommt es zum versöhnlichen Ausgleich. Die Erzähltradition der Enteignung wird hier zwar integriert, dient aber lediglich zur Figurencharakterisierung: Das Motiv ›Enteignung durch den König‹ wird nicht ausgebaut, und zugunsten der Liebe als bestimmendem Thema der Saga fallengelassen. Damit hat es hier nur den Stellenwert anderer bekannter

271 VíKet 1, S. 63; »da der König weder an Vermögen noch an Unterstützung sparte, wenn sie diese zu wahren wussten«. 272 VíKet 1, S. 63; »Manche wurden aus dem Land verbannt, und manche getötet; dann beschlagnahmte der König all das, was sie besessen hatten, und viele bedeutende Menschen flohen aus Norwegen und nahmen die Auflagen des Königs nicht hin. Diejenigen, die aus bedeutenden Familien stammten, und wollten auch eher ihren Erbbesitz [óðal] und Verwandte und Freunde zurücklassen, als unter der Versklavung und Unterdrückung des Königs zu leben, und so zogen viele in verschiedene Länder. In König Haraldrs Tagen wurde Island stark besiedelt, weil dorthin viele kamen, die sich seiner Herrschaft nicht beugen wollten.« 273 VíKet 1, S. 63; »in Versklavung«. 274 VíKet 3, S. 66; »lieber möchte er ein einfacher Bauer sein und sich nicht mit denen gleichstellen, die einen höheren Rang hätten«. 275 Vgl. Kap. 6.4.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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Motive aus dem Bereich der Isländer- und Rittersagas,276 was zwar für seine flexible Nutzbarkeit spricht, aber ebenso verdeutlicht, dass eine stringente Etablierung und Verwendung von Motiven und Themen nicht für alle Isländersagas gleichermaßen angenommen werden darf. Diese Feststellung lässt sich ebenso für die Bárðar saga Snæfellsáss treffen. Bárðr, der schöne Sohn eines Riesen und einer übermenschlichen Frau, ist nur schwerlich mit anderen Helden der Isländersagas zu vergleichen. In seiner Saga versammeln sich so viele übernatürliche Aspekte, dass man sogar die Gattungszugehörigkeit in Frage stellen könnte. Trotzdem wurde das Motiv der Enteignung durch König Haraldr in verkürzter Form integriert, um Bárðrs Auswanderung nach Island zu motivieren. Es heißt, Haraldr verlange von allen Bewohnern Norwegens Steuern, und Bárðr könne diesen ebenso wenig entgehen, wie alle anderen; vildi hann þá heldr láta frændr ok fóstrjarðir en lifa undir slíku ánauðaroki […].277

7.4.2 Zur Entstehung und Chronologie des Motivs Die unterschiedliche Ausgestaltung des Motivs lädt die Forschung zur Frage nach einer möglichen Chronologie ein. Ármann Jakobsson kommt dabei zur Einschätzung, die meisten Isländersagas »appear to take their cue from Egils saga and depict King Haraldr as a ruler on a grand scale, who permits no opposition and drives kings, earls and magnates from his realm.«278 Er zählt dabei die Laxdœla saga, Eyrbyggja saga und Gísla saga zu den wahrscheinlich von der Egils saga beeinflussten Werken, ohne aber auf die oben aufgezeigten Unterschiede einzugehen, im Gegenteil: Diese Sagas gäben die »same version of history«279 wieder, mit dem einzigen Unterschied, dass die Laxdœla saga ihren Schwerpunkt nicht auf die »harshness« des Königs lege, sondern vielmehr auf seinen Alleinherrschaftsanspruch, der auch die Kontrolle aller »honours« umfasse. In jüngeren Sagas (genannt werden Svarfdœla saga, Harðar saga, Bárðar saga und Grettis saga) werde der Mythos aufrechterhalten.280 Zwar bezieht Ármann Jakobsson sich hier auf Kreutzer, unterschlägt aber dessen differenzierte Analyse der Egils saga, die zu dem Schluss kommt:

276 Vgl. Nedoma 2003, S. 157: »Mit Werkstruktur und Erzählverfahren, mit erzählter Welt und literarischen Figuren evoziert der Verfasser der Víglundar saga den Traditionshorizont der Isländersagas; den Text konstruiert und organisiert er mit Hilfe von unmarkierten Schema- und Motivzitaten bzw. Textentlehnungen.« 277 Bár 2, S.  107; »er wollte lieber Verwandte und Heimatland verlassen, als unter einer solchen Unterwerfung zu leben […].« 278 Ármnn Jakobsson 2002, S. 149. 279 Ármann Jakobsson 2002, S. 149. 280 Vgl. Ármann Jakobsson 2002, S. 149.

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Daß die Familie Kveldúlfs, besonders Egill, Probleme mit der Anerkennung der Autorität des norwegischen Königs haben, wird andererseits durchaus nicht ohne Verständnis geschildet. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlich positiven Einstellung der Egils saga zur Institution des Königtums, […].281

Auch Kreutzer behandelt die Isländersagas in zeitlichen Blöcken, beginnend mit Sagas, die zwischen 1200 und 1230 entstanden seien.282 Dort fehle entweder eine norwegische Vorgeschichte, oder es zeige sich ein positives Bild Haraldrs. Es folgen die bereits zitierte Einschätzung zur Egils saga und Abschnitte zur Heimskringla und Snorri Sturluson. Als Kreutzer sich wieder den Sagas zuwendet (Entstehungszeit ca. 1230– 1280), zeigt er, dass der Großteil der Erzählungen in Island einsetzt, mit Ausnahme der Gísla saga, Laxdœla saga und Eyrbyggja saga, »und zwar mit einem einheitlichen, gegen Harald gerichteten Tenor.«283 Wie zuvor argumentiert, lassen sich hier jedoch durchaus Unterschiede feststellen. In diese Gruppe fällt auch die Vatnsdœla saga, für die Kreutzer feststellt, Haraldr werde in »höchst positiver Weise«284 dargestellt. Die nächste Gruppe (1270–1290) kenne erneut keine auserzählten norwegischen Vorgeschichten, bei den Sagas um 1300 sind es die Harðar saga, Grettis saga und ­Flóamanna saga, die sich eindeutig negativ positionieren. In der letzten Gruppe (Sagas des 14. Jahrhunderts) werde Haraldr entweder nicht explizit genannt ­(Finnboga saga ramma, Þórðar saga hreðu), oder widersprüchlich beurteilt (Víglundar saga). Folgt man Kreutzers Chronologie, kann man außerdem anmerken, dass die einzige späte Saga, die das Motiv aufgreift, die Víglundar saga ok Ketilríðar, das Motiv völlig von seinen in älteren Sagas angeschlossenen Themen losgelöst verwendet und sich im Gegenteil auf die gleiche eklektische Weise daran bedient wie am Motivschatz der Rittersagas. Kreutzer kommt in seiner Auswertung zum Ergebnis, man treffe in der altnordischen Literatur auf alle denkbaren Positionen Haraldr gegenüber, und es sei die Landnámabók, die die ersten Argumente für eine negative Haltung liefere, die danach häufig aufgegriffen werde: Allmählich wird der historisch so nicht gerechtfertigte, mit zunehmender Schärfe formulierte Gedanke ›die besten Norweger verließen das Land wegen Haralds Tyrannei‹ zu einem nationalen Mythos und – in einer weiteren Stufe – zu einem bequemen literarischen Klischee.285

Es gibt hier also weder eine Veranlassung, davon auszugehen, dass die meisten spä­te­ren Sagas von der Darstellung der Egils saga abhängig seien, noch, von einer 281 Kreutzer 1994, S. 451. 282 Da Kreutzers Einteilung der von Schier 1970 (S. 50–59) vorgenommenen Gruppierung folgt, wird hier auf eine Aufzählung der einzelnen Sagas verzichtet. 283 Kreutzer 1994, S. 456. 284 Kreutzer 1994, S. 457. 285 Kreutzer 1994, S. 461.



7.4 Enteignungen: Der König als Räuber 

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schlichten Wiederholung des Mythos auszugehen. Kreutzers Einbeziehung der ­Landnámabók, in der bereits Ansatzpunkte für sämtliche später entwickelte Ausgestaltungen des Motivs vorhanden sind,286 erscheint überzeugender. Wie alle auf Datierungen basierenden Annahmen muss auch die Chronologie des Motiveinsatzes mit Vorsicht behandelt werden. Zwar wird man kaum anzweifeln wollen, dass beispielsweise die Víglundar saga ok Ketilríðar bedeutend jünger sein muss als die Egils saga, doch schon in der nächsten von Kreutzer vorgenommenen Gruppierung sorgt die Vatnsdœla saga für Irritationen. Die zahlreichen Sagas, die völlig auf den Einsatz des Motivs verzichten, zeigen ebenso wie die Einzelfälle durchweg positiver Darstellung, dass es sich bei Haraldrs ›Tyrannei‹ als Grund für die Auswanderung nicht um eine Darstellungskonvention handelt, die als erforderlicher Teil der Exposition einer Isländersaga angesehen wurde. Vielmehr ist die jeweilige Entscheidung, ob und wie das Motiv eingebunden wird, als eine erzählerische zu betrachten, der in der Interpretation der einzelnen Saga Gewicht beigemessen werden sollte.287 Beginnt eine Saga mit einer ausführlichen Verlusterzählung, in der das Motiv ›Enteignung durch den König‹ voll ausgestaltet wird, werden dadurch die Themen Eigentum, Macht und Ehre für den weiteren Sagaverlauf akzentuiert. Ebenso wird durch die norwegische Vorgeschichte der Konstruktion des familiären Selbstverständnisses viel Platz in der Erzählung eingeräumt, sodass spätere Konflikte und Entscheidungen stärker motiviert sind. Die Unterschiede in der konkreten Realisation des Motivs sind dabei von besonderer Bedeutung: Während die ›Familiensaga‹ von den Leuten aus dem Laxárdalr Themen wie Verwandtschaft, Prachtliebe und Schicksalsglaube einzuflechten vermag, werden in der Eyrbyggja saga bereits in den Anfangskapiteln die Themen Freundschaft, Ruhm und Religion stark gewichtet. Die Grettis saga, die sich später wie keine zweite Isländersaga auf das abgesonderte Leben eines Einzelnen fokussieren wird, setzt den Schwerpunkt bei der Ausgestaltung auf das Thema Autonomie und legt dabei Sympathien an, die später für ihren Protagonisten reaktiviert werden können. Der Egils saga, die während ihres gesamten Verlaufs das Verhältnis von isländischem Großbauern und diversen Königen verhandeln wird, gelingt es bereits in der Ausgestaltung dieser Erzähltradition, mehrere Sichtweisen anzudeuten und einen differenzieren Blick auf das isländische Verhältnis zum Königtum zu ermöglichen. Die Beispiele aus jenen Sagas, in denen das Motiv nur kurz angerissen wird, zeigen dagegen ebenso wie die unkritische Motivverwendung der Víglundar saga ok Ketilríðar, dass es sich bei den zuvor diskutierten einleitenden Kapiteln um bedeutsame erzählerische Akzentuierungen handelt, da die Erzähltradition um Haraldrs Reichseinigung weder notwendigerweise zur Exposition einer Isländersaga gehört haben kann, noch fixiert genug war, um eine bloße Perpetuierung anzunehmen. 286 Vgl. Kreutzer 1994, S. 448: »Die Landnámabók bietet ein breites Spektrum ihrer Verhaltensweisen in Reaktion auf die veränderte Lage und von Motiven für die Auswanderung.« 287 Auch Boulhosa 2005, S. 171 (Fn. 50) spricht sich gegen eine chronologische und damit lineare Vorstellung der Entwicklung des Motivs aus.

8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe Sage nicht, du kennst einen Menschen, bevor du nicht ein Erbe mit ihm geteilt hast. Johann Casper Lavater (1741–1801)

Zwar sind die Isländersagas weit älter als Lavaters sprichwörtlich gewordener Ausspruch,1 doch wird schon in dieser Gattung selten ein Erbe geteilt, ohne dass dies Konflikte nach sich zieht. Erbstreitigkeiten tragen viele Züge der bisher besprochenen Eigentumsdelikte  – besonders dann, wenn einer der Erben sich das gesamte Vermögen aneignet, oder die Erbberechtigung einiger Familienmitglieder in Zweifel gezogen wird. Problematische Erbfälle sind zu zahlreich, um sie in diesem Rahmen systematisch untersuchen zu können. Stellvertretend sollen hier zwei Varianten aus zwei besonders prominenten Sagas besprochen werden, die zeigen sollen, dass diese Thematik viele interessante Aspekte berührt, die bisher wenig Beachtung fanden und auch für vertraute Texte neue Interpretationen hervorbringen können. Hier wird die Erbthematik auf ihre Einsatzmöglichkeit in der Semantisierung von Orten und in der Figurenzeichnung betrachtet, man könnte aber ebenso nach der Bedeutung vererbter Gegenstände fragen, oder nach der strukturellen Bedeutung des Erbes und der Erben in dieser von Genealogien und familiären Beziehungen geprägten Gattung. Zunächst wird anhand des Hofes Hjarðarholt in der Laxdœla saga gezeigt, dass ein erschlichenes Erbe ebenso wie ein Diebstahl als Motiv eingesetzt werden kann, um ein ›Ding‹  – in diesem Fall ein Grundstück  – narrativ mit Bedeutung aufzuladen.2 Analog zu stark semantisierten Gegenständen kann die Vorgeschichte eines Grundstücks zur Erwartungslenkung eingesetzt werden, indem sich die kommenden Geschehnisse bildlich gesprochen auf ›vergiftetem Boden‹ entfalten. Erbstreitigkeiten können genauso wie Diebstähle oder Enteignungen verwendet werden, um am Beginn einer Saga oder einer Episode größeres Unglück zu antizipieren. Anschließend wird anhand der Egils saga Skalla-Grímssonar besprochen, wie Erbstreitigkeiten als Teil eines größeren Eigentumsdiskurses eingesetzt werden können. Dieser dominiert die Erzählung außerordentlich stark und wird durch Motivwieder-

1 Dieses Zitat wird durchgängig Lavater zugeschrieben, stammt aber (meines Wissens) nicht aus seinem umfangreichen schriftlichen Nachlass. Johann Casper Lavater war ein Theologe und Philosoph, der heute insbesondere für seine einflussreichen physiognomischen Schriften bekannt ist. Auch zum Dieb und seiner Gestalt äußerte sich Lavater, allerdings könne jeder Mensch zum Dieb werden: »Es ist kein Mensch so gut, dass er nicht unter gewissen Umständen ein Dieb werden könnte. Wenigstens ist keine physische Unmöglichkeit da, es zu werden. […] Die Möglichkeit zur Diebesmiene muss also da sein, wie die Möglichkeit der Dieberei.« (Lavater 1778, S. 110). Zu Lavater und der Physiognomik des 18. bis 20. Jahrhunderts vgl. Schneider 2018, S. 29. Zum Zusammenspiel von äußeren Merkmalen und diebischer Gesinnung in den Isländersagas siehe Kap. 5.1.1. 2 Vgl. Kap. 4.2. https://doi.org/10.1515/9783110699265-008

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 8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe

holungen, Korrespondenzen und Kontraste von verschiedenen Seiten beleuchtet. Wie in Lavaters Ausspruch werden in der Egils saga die Figuren durch verschiedene Erbangelegenheiten konturiert. Hat ein Mitglied dieser Familie ein Erbe zu teilen, werden seine besten wie schlechtesten Charakterzüge sowohl den Figuren als auch dem Rezipienten offenbar. Haben sie allerdings selbst einen großen Schatz erworben, bewachen sie ihn mit solchem Geiz, dass sie ihn lieber zerstören, als ihn zu vererben.

8.1 Der Hof Hjarðarholt in der Laxdœla saga Bevor es in der Laxdœla saga zum ersten Diebstahl im engeren Sinn kommt, wird durch eine Erbstreitigkeit das Thema der unrechtmäßigen Aneignung fremden Besitzes eingeführt. Noch spielt sich der Konflikt außerhalb der Protagonistenfamilie ab, diese wird aber bald mit ihm in Kontakt kommen. Ein gewisser Þorsteinn surtr ertrinkt mit einem Großteil seiner Nachkommen. Þorkell trefill will über seine Frau Guðríðr einen Anspruch auf das Erbe geltend machen. Dazu schließt er einen Handel mit dem einzigen Überlebenden des Unglücks ab, damit dieser die Abfolge der Tode so berichtet, dass Þorkells Frau die rechtmäßige Erbin des Vermögens sei. Als an der Geschichte des Zeugen Zweifel laut werden, entschließt man sich zu einer Reinigungsprobe. Auch diese wird von Þorkell manipuliert und zu einem ›glücklichen‹ Ende geführt, worauf er den Besitz seines Schwiegervaters, darunter die Ländereien des Unruhestifters Hrappr, an sich bringen kann (Lax 18). Erst wesentlich später kreuzt sich dieser Handlungsstrang mit der Haupthandlung der Saga, als Unnrs Enkel Óláfr die verödeten Ländereien Hrapprs erwerben will, um dort einen neuen Hof zu errichten. Diese sind über die oben beschriebenen Umstände unrechtmäßig in Þorkell trefills Besitz übergegangen. Der vereinbarte Kaufpreis beträgt þrjár merkr silfrs,3 was explizit als ekki jafnaðarkaup4 bezeichnet wird, da das Land ertragreiche Ländereien umfasse. Zum gleichen Preis wird Óláfrs Mutter Melkorka an Óláfrs Vater verkauft (Lax 12). Bei dieser Transaktion wird erklärt, dass es sich um den dreifachen Preis einer normalen Sklavin handle. Dies setzt die Preise zum einen in Relation: Ein so ertragreiches Grundstück für den Preis von drei Sklavinnen zu erhalten, ist sicherlich ein exzellentes Geschäft. Zum anderen ist die Summe interpretatorisch bedeutsam, da Óláfr den exakt gleichen Betrag ausgibt, den sein Vater auf dem Sklavenmarkt gezahlt hat. Während Hǫskuldr eine Sklavin kauft, die sich als Königstochter erweist,5 kauft Óláfr verödete Ländereien, die durch seine Familie zu einem florierenden Gut gedeihen. Beide Investitionen werden in Silber getätigt, bringen ihre Rendite aber in der alternativen Währung des Ehrgewinns. Óláfr errichtet auf diesem Grundstück seinen Hof Hjarðarholt, auf dem er mit seiner Frau Þorgerðr leben wird. 3 Lax 24, S. 67; »drei Mark Silber«. 4 Lax 24, S. 67; »kein für beide Partner gerechter Handel«. 5 Vgl. Kap. 6.4.



8.1 Der Hof Hjarðarholt in der Laxdœla saga 

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Die rechtliche Bewertung dieser Episode gestaltet sich schwierig, da die Art, wie Þorkell trefill in den Besitz des Landes kommt, innerhalb der Saga nicht als Eigentumsdelikt bezeichnet wird. Dass der Gütertransfer trotzdem nicht als rechtmäßig zu beurteilen ist, wird durch die beiden Manipulationen markiert, die Þorkell zunächst am Unglücksbericht und später an der Reinigungsprobe vornimmt. Ebenso wäre es zu weit gegriffen, den Käufer Óláfr als þjófsnautr (»Diebesgeselle«) zu bezeichnen, der sich in gleicher Weise schuldig macht wie der Dieb selbst. Dass aber auch die Weiterveräußerung des Landes nicht als unproblematisch zu bewerten ist, wird durch den Hinweis deutlich, es handle sich nicht um einen angemessenen Kaufpreis. Neben der Verbindung zur Melkorka-Episode bietet sich auch der folgende Erbstreit der Brüder Hrútr und Hǫskuldr als Korrespondenz an.6 Während das Erbe von Þorsteinn surtr in die Hände des korrupten Þorkell fällt, gelingt es den Protagonisten der Saga, den Streit um ihr Muttererbe beizulegen. Nacheinander werden zwei Alternativen erzählt, wodurch die Folgen eines negativen Ausgangs mit jenen einer gütlichen Einigung kontrastiert werden.7 Conroy und Langen, die Episoden wie jene um Þorsteinns Erbe als wenig handlungsrelevant einstufen, werten sie immerhin als Mittel zum »establishment of mood, the providing of a thematic climate.«8 Tatsächlich beinhaltet diese Episode viele Elemente, die für die weitere Erzählung bedeutsam bleiben: Der Erwerb des Hofes führt das Thema unrechtmäßiger Besitzaneignung in die Laxdœla saga ein, ohne rechtliche Konsequenzen nach sich zu ziehen. Auch die entscheidenden Diebstähle der Saga werden nie rechtlich verfolgt: Weder beim Kopftuch, noch bei den Schwertern Fótbítr und Konungsnautr interessiert sich die Erzählung für die juristische Einordnung des Geschehens, stattdessen werden alle drei Gegenstände zu Kristallisationspunkten der Handlungsstränge.9 Hjarðarholt dagegen wird zum Ausgangspunkt des zentralen Konflikts der Saga: Dort werden die Ziehbrüder Kjartan und Bolli ihre gemeinsame Kindheit verbringen.10 Somit wachsen die Protagonisten der Saga auf einem Grund heran, der erst durch ein unrechtmäßig erworbenes Erbe veräußert werden konnte und zu einem entsprechend niedrigen Preis in die Familie gelangte, was das Land unheilvoll semantisiert. Die

6 Vgl. Kap. 7.2.2.2. 7 Zur Funktionalität ›blinder Motive‹ als erzähltechnisches Reflexionsmoment in mittelalterlichen Texten siehe Schulz 2015, S. 348–353. 8 Conroy u. Langen 1988, S. 121. 9 Vgl. ausführlich Kap. 4.2.1. 10 Kjartan ist auch dort geboren, interessanterweise wird aber auch Bolli auf einem Hof mit schwieriger Vergangenheit geboren: Im direkten Anschluss an Óláfrs Sieg über den Wiedergänger Hrappr auf Hjarðarholt beginnt ein Konflikt zwischen Óláfrs Bruder Þorleikr und seinem Onkel Hrútr. Dessen Land grenzt an das Land Hǫskuldrs, des Vaters von Þorleikr. Deshalb siedelt Hrútr versehentlich einen Freigelassenen auf Hǫskuldrs Ländereien an, im Glauben, das Grundstück gehöre noch ihm. Þorleikr tötet den Freigelassenen und Hrútr fügt sich widerwillig dem Urteil der Rechtsgelehrten, wonach Þorleikr im Recht sei. Þorleikr errichtet daraufhin seinen Hof Kambsnes an der Grenze zwischen den Ländereien seines Vaters und Hrútrs, dort wird sein Sohn Bolli geboren.

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 8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe

Geschichte seines Erwerbes deutet damit ebenso auf ein drohendes Unheil hin wie der auf dem Hof wiedergehende Hrappr, dessen sich Óláfr erst entledigen muss, bevor er das Land in Frieden bewirtschaften kann. Der Vorgeschichte Hjarðarholts funktioniert in der Erzählung als erster Hinweis auf das drohende Unheil. Im Laufe der Erzählung häufen sich die Vorzeichen, etwa durch Gestrs Prophezeiungen, unheilvolle Träume und Ahnungen, mehrere Diebstähle und einen Fluch. All diese Komponenten motivieren den Höhepunkt der Saga: Die Ermordung Kjartans durch Bolli. Der früh erzählte Erbstreit vereint in seinem Wesen die Komponenten Eigentum und Familie, die im späteren Verlauf immer wieder durchgespielt werden. Die vielen Eigentumsstreitigkeiten dieser Saga sind entweder mit familiären Konflikten oder enttäuschter Liebe verbunden, deren Gemeinsamkeit die Frage nach dem rechtmäßigen Anspruch auf etwas oder jemanden darstellt.

8.2 Macht, Besitz und Erbe: Die Egils saga Skalla-Grímssonar Auch zu Beginn der Egils saga Skalla-Grímssonar zeigt sich, dass Erbstreitigkeiten sehr nah mit den Verbrechen Diebstahl und Raub verwandt sind und diese antizipieren können. Keine andere Saga beschäftigt sich so eingehend und facettenreich mit den Themen Eigentum und helgi, beinahe jeder Konflikt dieser mehrere Generationen umspannenden Saga partizipiert an diesem Diskurs. Die Saga beginnt mit den Wikingerfahrten Kveld-Úlfrs, der als selbstbestimmter und mächtiger norwegischer Herse dargestellt wird, der seinen Reichtum durch Raubzüge vergrößert. Danach beginnen seine Konflikte mit König Haraldr hárfagri, die in der Enteignung der Familie und deren Auswanderung nach Island münden.11 Gegen die ausdrückliche Warnung seines Vaters Kveld-Úlfr schließt sich der junge Þórólfr, Onkel des Titelhelden Egill, dem Gefolge des Königs an, da ihn dessen Macht und Freigiebigkeit locken (Eg 6). Während Kveld-Úlfr also noch selbst auf einträgliche Beutefahrten geht, schließt sich sein Sohn Þórólfr als Vertreter der folgenden Generation dem neuen König an, nicht zuletzt in der Hoffnung, aus dessen Hand Reichtümer zu erhalten. Zunächst ohne Verbindung zum Haupthandlungsstrang beginnt die Episode um die lausabrullaup12 des alten Witwers Bjǫrgólfr. Er zeugt mit der ebenso jungen wie mittellosen Hildiríðr zwei Söhne. Seinem ehelichen Sohn Brynjólfr gefällt dies ebenso wenig wie seinem Enkel Bárðr. In dieser Familie liegt das Recht zur Besteue-

11 Vgl. Kap. 7.4. 12 Eg 7, S. 17; »lose Hochzeit«. Die Verbindung erfüllt also nicht alle Bedingungen einer Vertragsehe. Diese Art des Zusammenlebens wurde in der Forschung lange als Sonderform des Eherechts behandelt und als ›Friedelehe‹ bezeichnet. Else Ebel kommt aber zum Ergebnis, dass es sich bei allen vergleichbaren Verhältnissen in der altnordischen Literatur um Konkubinate handelt, bei denen sich ein Mann eine frilla (etwa »Nebenfrau«) nimmt, und nicht um eine ›freiere‹ Form der Ehe. Vgl. Ebel 1995 und ausführlich Ebel 1993.



8.2 Macht, Besitz und Erbe: Die Egils saga Skalla-Grímssonar 

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rung der Finnmark.13 Als Bjǫrgólfr stirbt, bekommen die aus dieser losen Hochzeit hervorgegangen Hildiríðssöhne nichts vom Erbe ihres Vaters: Lítils virði Brynjólfr þá ok lét þá ekki hafa af fǫðurarfi þeira.14 Bárðr kommt an den Hof des Königs und lernt dort Þórólfr kennen, mit dem er sich eng befreundet. Kurz darauf heiratet Bárðr, fast zeitgleich stirbt sein Vater Brynjólfr. Bárðr ist damit der einzige eheliche Nachkomme Bjǫrgólfrs (Eg 8). Es folgt die Schlacht am Hafrsfjord, in der der junge Bárðr im Dienst des Königs tödlich verwundet wird. Der Sterbende überlässt sein ganzes Erbe, inklusive seiner Frau, seinem Freund Þórólfr.15 Die Erbproblematik geht damit in die Familie der Protagonisten über. Þórólfr heiratet Bárðrs Witwe Sigríðr, kurz darauf stirbt auch deren Vater. Þórólfr hat nun sowohl Bárðrs Erbe erhalten als auch den Besitz seines neuen Schwiegervaters. Trotzdem will er den Söhnen der Hildiríðr nichts vom Erbe ihres Vaters zugestehen, da sie frillus[ynir]16 seien. Diese sind unzufrieden, sich nun mit Þórólfr auseinandersetzen zu müssen: ›En nú er arfr þessi kominn undir óskylda menn okkr, ok megu vit nú eigi með ǫllu þegja yfir missu okkarri; en vera kann, at enn sé sem fyrr sá ríkismunr, at vit fáim eigi rétt af þessu máli fyrir þér, ef þú vill engi vitni heyra, þau er vit hǫfum fram at flytja, at vit sém menn aðalbornir.‹17

Þórólfr antwortet wenig beeindruckt: ›Því síðr ætla ek ykkr arfborna, at mér er sagt móðir ykkur væri með valdi tekin ok hernumin heim hǫfð.‹18 Þórólfr ist durch das Erbe nicht nur zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen, er hat nun auch das Recht inne, in der Finnmark zu handeln und Steuern einzutreiben. Er nimmt die dreifache Anzahl der üblichen Männer mit auf seine erste Finnenfahrt, die sehr ertragreich verläuft. Während der Beschreibung der Fahrt tritt ein neuer Aspekt der Eigentumsthematik auf, indem eine rivalisierende Gruppe ebenfalls versucht, an das Geld der

13 Dieses Recht auf die finnferð (Eg 7, S.  18) wird von König Haraldr hárfagri übertragen und beinhaltet sowohl die Erlaubnis zum Handel mit den ›Finnen‹ als auch die Besteuerung des Gebietes. Als ›Finnmark‹ wird in den Isländersagas der an Hálogaland angrenzende, nördlichste Teil der skandinavischen Halbinsel mit seiner finno-ugrischen Bevölkerung verstanden, zur geographischen Verortung siehe Beck 1995. 14 Eg 7, S. 17; »Brynjólfr schätzte sie wenig und ließ sie nichts vom Vatererbe haben.« 15 Es wird eigens betont, dass dieses Geschenk mit der Zustimmung des Königs gemacht worden sei (Eg 9). 16 Eg 9, S. 26; »Söhne einer frilla (in etwa: ›Konkubine‹).« 17 Eg 9, S. 26–27; »›Doch nun ist das Erbe an Leute gekommen, die nicht mit uns verwandt sind, und nun dürfen wir keinesfalls mehr über unseren Verlust schweigen. Doch kann es sein, dass der Machtunterschied zwischen uns dafür sorgt, dass wir bei dir nicht zu unserem Recht in dieser Sache kommen, wenn du die Beweise nicht hören willst, die wir vorzubringen haben, dass wir rechtmäßig geborene Männer sind.‹« 18 Eg 9, S. 27; »›Umso weniger halte ich euch für von erbberechtigter Abstammung, da mir gesagt wurde, dass eure Mutter mit Gewalt genommen wurde und als Gefangene heimgebracht wurde.‹« Þórólfr ist der erste, der den Vorwurf des Frauenraubes in den Raum stellt. Zu dieser Sonderform siehe Kap. 6.4.

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 8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe

Bewohner der Finnmark zu kommen. Diese fóru þar at finnkaupum, en sumstaðar með ránum.19 Þórólfr und seine Männer können die Räuber besiegen und verteidigen so das ererbte Recht erfolgreich. Inzwischen ist Þórólfr so reich und mächtig geworden, dass der König über sein prunkvolles Auftreten verärgert ist. Noch kann ihn Þórólfr durch ein wertvolles Schiff als Geschenk besänftigen (Eg 11). Die Hildiríðssöhne erfahren vom Unmut des Königs und nutzen ihre Chance: Sie überzeugen König Haraldr, dass Þórólfrs Macht ihm gefährlich werden könnte und diese zu brechen wäre, indem man ihm den Finnenhandel entzieht – sie selbst könnten diesen ausüben, wie ihr Vater vor ihnen (Eg 12). Derweil fährt Þórólfr erneut in die Finnmark und setzt sein Recht mit Waffengewalt durch. Er teilt seine reiche Beute getreulich mit König Haraldr (Eg 14). Trotzdem gelingt es den Hildiríðssöhnen, dem König weiszumachen, Þórólfr habe einen zu großen Anteil der Beute für sich behalten (Eg 15). Als Þórólfr an den Hof des Königs kommt, bringt er ihm Abgaben und Geschenke, worauf Haraldr ihn einlädt, bei seinem Gefolge zu bleiben. Dies scheitert daran, dass Þórólfr sein großes Gefolge nicht entlassen will. Þórólfr reist ab, und der König entzieht ihm das Erbe: En er hann var í brott farinn, þá fekk konungr í hǫnd Hildiríðarsonum sýslu þá á Hálogalandi, er áðr hafði Þórólfr haft, ok svá finnferð; konungr kastaði eigu sinni á bú í Torgum ok allar þær eignir, er Brynjólfr hafði átt; fekk þat allt til varðveizlu Hildiríðarsonum.20

Verwendet wird hier das Vokabular der Enteignung, das auch Gebrauch findet, wenn der König seine mächtigen Untertanen enteignet und so nach Island treibt.21 Nach Þórólfrs Abreise nutzen die Hildiríðssöhne zum ersten Mal das Recht zu Finnenfahrt und kommen mit wesentlich geringeren Abgaben zurück, als sie Þórólfrs Fahrten eingebracht haben. Auf diese Weise zeigt sich, dass sie nicht im gleichen Maße befähigt sind, das Erbe anzutreten, wie Þórólfr.22 Dieser kann dem König noch einigen Schaden zufügen, wird aber schließlich von ihm getötet. Haraldr verbietet seinem Gefolge, Þórólfrs Besitztümer zu plündern, und beansprucht dessen gesamte Habe für sich: ›[E]n ekki skal hér ræna, því at þetta er allt mitt fé.‹23 Der König übergibt Þórólfrs Besitz

19 Eg 10, S. 27; »diese betrieben dort Finnenhandel, doch an manchen Orten raubten sie auch.« 20 Eg 16, S. 40; »Und als er abgereist war, da gab der König den Hildiríðssöhnen eine Vogtei in Hálogaland, die Þórólfr besessen hatte, und ebenso den Finnenhandel. Der König nahm den Hof in Torgar in Beschlag, ebenso wie alles, das Brynjólfr besessen hatte; das alles gab er den Hildiríðssöhnen zur Verwaltung.« 21 Vgl. Kap. 7.4. 22 Anknüpfend and die vorherige Beschlagnahmung des Erbes wird jetzt auch dieser Strang des Eigentumsdiskurses fortgesetzt: Der König lässt Þórólfrs Schiffe beschlagnahmen – dieser will sich trotzdem nicht einschränken und beleiht Ländereien, um sein großes Gefolge weiterhin unterhalten zu können (Eg 18). Wenig eingeschüchtert geht er danach auf eine Wikingerfahrt und raubt sogar die Schiffe des Königs (Eg 19). 23 Eg 22, S. 54; »›Und hier darf keiner rauben, denn dies ist alles mein Besitz.‹«



8.2 Macht, Besitz und Erbe: Die Egils saga Skalla-Grímssonar 

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ebenso wie die schon einmal ›weitergereichte‹ Witwe Sigríðr einem anderen Gefolgsmann. Auch den Hildiríðssöhnen ist kein langes Leben mehr beschieden, sie werden beim nächsten Kampf der Saga von Þórólfrs Freund Ketill hœngr getötet, bevor dieser nach Island auswandert (Eg 23).24 Nach der Auswanderung rückt mit Þórólfrs Bruder Skalla-Grímr und dessen Sohn Egill eine neue Generation in den Fokus der Saga. Der Erbkonflikt wiederholt sich mit neuem Personal, aber sehr ähnlichen Strukturen. Wieder setzt ein neuer Erzählstrang ein, der zunächst nicht mit der Haupthandlung verbunden ist: Bjǫrn Brynjólfsson, ein junger Mann aus einer mächtigen norwegischen Familie, verliebt sich in die schöne Þóra hlaðhǫnd, für deren Verheiratung ihr Bruder Þórir zuständig ist. Ihr Bruder lehnt Bjǫrns Gesuch ab, worauf dieser Mannschaft sammelt und das Mädchen ohne Zustimmung ihres Vormunds mit sich nimmt. Auch Bjǫrns Vater Brynjólfr verbietet die Hochzeit, da er mit Þóras Familie keinen Streit möchte. Der junge Mann setzt sich allerdings über alle Verwandten hinweg, nimmt seine Geliebte mit sich, heiratet sie und fährt mit ihr nach Island (Eg 32). Skalla-Grímr nimmt die beiden herzlich auf, da er mit Þórir, dem Bruder der Braut, aufgewachsen ist, und nicht ahnt, dass seine Ziehschwester gegen den Willen ihrer Familie geheiratet hat (Eg 33). Als er schließlich von den Umständen der Heirat erfährt, ist Skalla-Grímr sehr wütend, lässt sich aber von seinem Sohn Þórólfr beruhigen (Eg 34). Þóra und Bjǫrn bekommen eine Tochter namens Ásgerðr, worauf sich Bjǫrn mit seinem Schwager Þórir versöhnt. Um diese Versöhnung zu bekräftigen, fährt der junge Vater nach Norwegen und lässt Ásgerðr als Ziehkind bei Skalla-Grímr (Eg 35). Auch nach der Versöhnung der Familien bleibt Ásgerðrs Status fragwürdig, da ihre Eltern zum Zeitpunkt ihrer Geburt nicht rechtmäßig verheiratet waren. Wieder findet die Problematik Eingang in den zentralen Handlungskreis, indem Ásgerðr mit Þórólfr Skalla-Grímrs Sohn verheiratet wird (Eg 42).25

24 Auch Þórólfrs Familie beschließt nun, Norwegen zu verlassen. Es gelingt ihnen noch, Þórólfrs Schiff von den Männern des Königs zu erbeuten (Eg 26–27). Auf der Überfahrt stirbt Þórólfrs Vater Kveld-Úlfr, sodass nur sein Bruder Skalla-Grímr auf Island Land nimmt, und den Hof Borg errichtet (Eg 27). 25 Ebenso wie die Frage nach der rechtmäßigen Geburt findet auch der Konflikt der Protagonistenfamilie mit dem norwegischen König eine Parallele im zweiten Teil der Saga. Nun sucht Skalla-Grímrs Sohn Þórólfr die Freundschaft von Eiríkr blóðøx, Haraldrs ältestem Sohn (Eg 36). Der Eigentumsdiskurs der Saga wird an dieser Stelle um den Aspekt des Geschenkes erweitert. Auf Bjǫrns Rat hin schenkt Þórólfr dem Königssohn ein Schiff, weshalb dieser bei seinem Vater für Þórólfr eintritt. Der inzwischen zum König aufgestiegene Eiríkr blóðøx gibt Þórólfr eine Axt als Geschenk für seinen Vater mit. Als Skalla-Grímr das Geschenk bekommt, bleibt er zunächst still. Er testet die Axt, die ihm nicht standhält und bricht. Darauf wirft er sie auf den Türbalken und dichtet eine Strophe über die brüchige Axt. Er gibt seinem Sohn das Königsgeschenk zurück (Eg 38), dieser lässt die Axt verschwinden, indem er sie ins Meer wirft (Eg 40). Zurück bei König Eiríkr behauptet Þórólfr, sein Vater habe das Geschenk dankbar angenommen, und gibt ihm ein Segel als angebliche Gegengabe Skalla-Grímrs (Eg 41).

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 8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe

Einige Jahre und Wikingerzüge später nehmen Þórólfr und sein jüngerer Bruder Egill an der Schlacht von Brunanburh (an. Vínheiði við Vínuskóga) teil, in der Þórólfr sein Leben lässt. Schon hier zeigt sich, dass Egill einen weniger freigiebigen Umgang mit seinem Vermögen pflegen wird, als sein großzügiger Bruder Þórólfr. Der englische König gibt Egill zusätzlich zur Beute und Bruderbuße zwei Kisten voller Silber als Sohnesbuße für seinen Vater Skalla-Grímr mit auf den Weg (Eg 55). Zurück auf Island will sich Egill nicht von diesen Kisten trennen: [E]n ekki er þess getit, at Egill skipti silfri því, er Aðalsteinn konungr hafði fengit honum í hendr, hvárki víð Skalla-Grímr né aðra menn.26 Dass es sich um eine unrechtmäßige Aneignung der Bußzahlung handelt, lässt sich auch daraus schließen, dass Egill die Kisten fortan immer bei sich trägt. Wie zuvor Sigríðr wird nun die junge Witwe Ásgerðr weiterverheiratet, wenn auch Egills Skaldenstrophen ungleich romantischere Gefühle für die Witwe seines Bruders nahelegen, als dies im ersten Teil der Saga der Fall war. Ásgerðr und ihr unsicheres Erbe werden somit zum persönlichen Anliegen des ebenso schwierigen wie geizigen Titelhelden Egill. Ásgerðrs Vater Bjǫrn hat nach dem Tod ihrer Mutter neu geheiratet und mit seiner zweiten Frau eine Tochter namens Gunnhildr gezeugt, die mit einem gewissen Berg-Ǫnundr verheiratet wurde. Þóra hlaðhǫnd

Þórólfr ⚭1 Egill ⚭2

⚭1 Ásgerðr

Bjǫrn

⚭2

Álof

Gunnhildr ⚭ Berg-Ǫnundr

Abb. 7: Das Verhältnis zwischen Egill und Berg-Ǫnundr (eigene Darstellung).

Nach Bjǫrns Tod nimmt sein Schwiegersohn Berg-Ǫnundr mit Unterstützung des norwegischen Königspaars das gesamte Erbe an sich. Das Verhältnis zwischen Egill, König Eírikr und insbesondere seiner Gemahlin ist zu diesem Zeitpunkt bereits zerrüttet. Trotzdem will Egill den Erbanspruch seiner Frau unbedingt durchsetzen, und lässt sich auch von seinem engen Freund Arinbjǫrn nicht von diesem Vorhaben abbringen. Zunächst spricht er Berg-Ǫnundr direkt auf die Teilung des Erbes an, dieser behauptet aber, dass þat er kunnigt alþýðu, at hon er þýborin at móðerni.27 Da Berg-Ǫnundr sich nicht einigen will, lädt Egill ihn vor das Gulathing. Er trägt in seiner Anklage vor, seine Frau Ásgerðr sei von allen Abstammungslinien her frei geboren, weshalb ihr die Hälfte

26 Eg 56, S.  151; »doch wird nichts davon berichtet, dass Egill das Silber geteilt hätte, das König Aðalsteinn ihm gegeben hatte, weder mit Skalla-Grímr, noch mit anderen Leuten.« Die Kisten verschwinden für eine Weile aus der Erzählung, bis Skalla-Grímr sehr alt ist und sein Tod unmittelbar bevorsteht. Nun fordert er die Kisten von Egill, der sie widerwillig herausgibt. Skalla-Grímr wirft beide Kisten ins Moor und gönnt sie seinem Sohn ebenso wenig wie dieser ihm (Eg 58). 27 Eg 56, S. 153; »dies allgemein bekannt sei, dass sie mütterlicherseits von unfreier Herkunft ist.«



8.2 Macht, Besitz und Erbe: Die Egils saga Skalla-Grímssonar 

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des gesamten Vatererbes zustehe. Berg-Ǫnundr kommt in seiner Verteidigung auf Bjǫrns Brautraub zu sprechen: ›[V]ar móðir hennar hernumin, en síðan tekin frillutaki, ok ekki at frændaráði, ok flutt land af landi.‹28 Arinbjǫrn, der mit Ásgerðr verwandt ist und außerdem nicht nur mit Egill, sondern auch mit dem König befreundet ist, macht sich zum Zeugen der Anklage und beschwört, dass bei der Versöhnung zwischen Bjǫrn und Ásgerðrs Großvater bestimmt wurde, dass Ásgerðr erbberechtigt sein solle. Zwölf weitere Männer beschwören diese Abmachung, doch kann die Königin verhindern, dass die Richter zu Egills Gunsten urteilen. Dieser fordert nun Berg-Ǫnundr zum Holmgang. Der König reagiert ungehalten auf dieses Verhalten, und Arinbjǫrn kann Egill gerade noch zum Umkehren bewegen. In einer Skaldenstrophe bezeichnet Egill den Vorfall als Raub und wird anschließend vom König angegriffen. Dieser lässt sein Handelsschiff plündern, worauf Egill wieder eine Strophe spricht; die Götter sollen den Raub vergelten: Svá skyldi goð gjalda, gram reki bǫnd af lǫndum, reið sé rǫgn ok Óðinn, rǭn míns féar hǭnum; folkmýgi lát flýja, Freyr ok Njǫrðr, af jǫrðum, leiðisk lofða stríði landǭss, þanns vé grandar.29

Den Raub meines Gutes soll’n ihm vergelten die Götter: den König aus dem Land mögen treiben die Bindenden, es treffe ihn der Zorn Odins und der Lenkenden; Frey und Njörd, von seinem Grunde macht fliehen des Volks Unterdrücker; der Landase hasse den Menschenfeind, der heilige Stätte verletzt.

Nachdem seine friedlichen Versuche, den Konflikt auszutragen, gescheitert sind, ist Egills Geduld überstrapaziert. Er greift Berg-Ǫnundr auf dessen Gehöft an und tötet sowohl ihn als auch einige seiner Gefolgsleute brutal. Darauf hält er für eine weitere Skaldenstrophe inne, in der er feststellt, er habe Ǫnundrs Übergriff zu lange geduldet und seinen Besitz früher besser verteidigt. Er weist seine Männer an, zum Gegenschlag auszuholen: ›Vér skulum nú snúa aptr til bœjarins ok fara hermannliga, drepa menn þá alla, er vér nám, en taka fé allt, þat er vér megum með komask.‹30 So gehen sie zuerst auf Berg-Ǫnundrs Gehöft vor, und anschließend bei seinem Verbündeten Þórir. Zweimal heißt es sie ræntu þar ǫllu fé,31 bevor Egill vorläufig zufrieden ist und nach Island zurückkehrt. Etwas später wird der Handlungsstrang um das Erbe wieder aufgenommen. Egill ist gerade bei König Aðalsteinn in England, als er erfährt, dass sich der König in einen weiteren Erbfall aus Ásgerðrs Familie eingemischt habe. Nun will er abreisen, um sich

28 Eg 56, S. 155; »›Ihre Mutter wurde mit Gewalt genommen, und danach als Konkubine genommen, und dies nicht mit der Zustimmung ihrer Verwandten, und von einem Land ins andere gebracht.‹« 29 Eg 56, S. 163; Übersetzung der Skaldenstrophe durch Schier (Übers.) 1996, S. 141. 30 Eg 57, S. 169; »›Wir werden nun zum Hof zurückkehren und kriegerisch vorgehen, alle Männer töten, die wir finden, und so viel Besitz nehmen, wie wir mitnehmen können.‹« 31 Eg 57, S. 169 und 171; »raubten dort den ganzen Besitz.«

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 8 Ausblick: Vorenthaltenes und geraubtes Erbe

um seinen Besitz zu kümmern, ›er Eírikr konungr rænti mik ok þeir Berg-Ǫnundr‹,32 den nun Berg-Ǫnundrs Bruder Atli verwaltet. Über Norwegen herrscht inzwischen Aðalsteinns Ziehsohn Hákon. Dieser gibt Ásgerðrs Verwandtem ihr Erbe zurück, möchte sich in Egills Erbfall aber lieber nicht einmischen. Er rät ihm stattdessen, nach Island zu ziehen, da er in Norwegen zu viele Feinde habe, um Frieden zu finden (Eg 63). Erneut kann Egill die Sache nicht auf sich beruhen lassen und konfrontiert Atli. Dieser reagiert abwehrend auf Egills Gesuch, schließlich habe dieser bei seinem letzten Besuch sowohl seinen Bruder getötet als auch den Hof der Familie ausgeraubt. Egill lädt Atli vor das Gulathing und beharrt, Berg-Ǫnundr sei bußlos gefallen, ›því at þeir hǫfðu áðr rænt mik lǫgum ok landsrétti ok tekit fé mitt at herfangi.‹33 Wieder bringt die Verhandlung keine Lösung, sodass ein Holmgang verabredet wird, zu dessen Vorbereitung ein Opferstier herbeigeführt wird. Im Zweikampf verweigert Egills Waffe ihm den Dienst – er aber ist in eine solche Kampfeswut verfallen, dass er nicht nur Atli mit bloßen Händen zu Boden ringt und ihm die Kehle durchbeißt, sondern daraufhin auch noch dem Ochsen das Genick bricht. Síðan eignaðisk Egill jarðir þær allar, er hann hafði til deilt ok hann kallaði, at Ásgerðr kona hans hefði átt at taka eptir fǫður sinn.34 Endlich kehrt er als außerordentlich reicher und angesehener Mann nach Island zurück, wo er mit Ásgerðr einen stattlichen Hof unterhält und viele Kinder bekommt. Auch auf Island ist Egill mit einer größeren Eigentumsstreitigkeit konfrontiert,35 die Themen Eigentum und helgi bleiben bis zum Ende der Saga präsent. Am Ende seines langen Lebens ist Egill über 80 und inzwischen vollständig erblindet. Trotzdem bittet er den Mann seiner Nichte, ihn zum Thing begleiten zu dürfen. Es stellt sich heraus, dass der alte Mann einen Plan hat: Er will die beiden Silberkisten, die ihm König Aðalsteinn einst zur Bruderbuße übergeben hat, auf den Gesetzesfelsen tragen, um sie dort während der Versammlung auszukippen. Er erhofft sich einen großen Kampf, bei dem schließlich alle auf dem Allthing versammelten Männer miteinander um das Silber ringen sollen. Dies lässt seine Familie nicht zu, sodass er während des Things grimmiger Laune zuhause sitzt. Eines Abends ruft er zwei Sklaven zu sich und reitet mit ihnen und den beiden Silbertruhen davon. Am nächsten Tag kommt Egill allein zurück und es werden viele Vermutungen angestellt, wo sich das Silber nun befinden könnte. Er selbst behauptet, er habe die Sklaven getötet und die Kisten versteckt, en þat sagði hann engum manni, hvar hann hefði fólgit.36 Im nächsten Satz wird von Egills Tod berichtet.

32 Eg 62, S. 196; »›den mir König Eírikr und Berg-Ǫnundr und seine Leute raubten.‹« 33 Eg 65, S. 207; »›denn sie beraubten mich zuvor meiner Rechte und Landrechte und nahmen meinen Besitz mit Gewalt.‹« 34 Eg 65, S. 210–211; »Dann nahm Egill alle Ländereien in Besitz, um die er gekämpft hatte, und für die er beanspruchte, dass sie seiner Frau Ásgerðr als Erbe ihres Vaters zustehen.« 35 Vgl. Kap. 7.1.1.3. 36 Eg 85, S. 298; »doch dies verriet er keinem Menschen, wo er sie versteckt hatte.«



8.2 Macht, Besitz und Erbe: Die Egils saga Skalla-Grímssonar 

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Wie sein Vater vor ihm, zerstört Egill am Ende seines Lebens enorme Vermögenswerte, anstatt sie seiner Familie als Erbe zu überlassen. In seinen letzten Taten kulminieren viele der in der Figurenzeichnung angelegten Eigenschaften dieses eigenwilligen Protagonisten: Sein Geiz, seine Lust am Kampf und sein Bestreben, sein Besitzrecht gegen alle Konkurrenten zu wahren. Möchte man der Episode etwas Positives abringen, könnte man sie als Versuch deuten, seinen Nachkommen jene Erbstreitigkeiten zu ersparen, die sein eigenes Leben geprägt haben. Um verschwundenes Silber lässt sich nicht streiten. Die Egils saga beinhaltet einen innerhalb der Gattung beispiellosen Facettenreichtum von Eigentumsdiskursen: Wikingerfahrten, rivalisierende Gruppen, die mit oder ohne Legitimation des Königs rauben, Enteignungen, Vasallentum und die Unterscheidung zwischen Diebstahl und Raub auf Plünderfahrten werden verhandelt. All diese Aspekte werden von der Frage des Erb- und Geburtsrechts überschattet, die stetig wiederkehrt und in der die Familie der Protagonisten verschiedene Positionen einnimmt. War es zuerst noch Þórólfr, der den Hildiríðssöhnen ihre Erbberechtigung absprach, findet sich Egill in der nächsten Generation auf der gegenüberliegenden Seite der Situation. Während zu Beginn der Saga Kveld-Úlfr und seine Nachkommen vom aufsteigenden norwegischen König um das ererbte Recht auf ihren Grundbesitz betrogen werden, nimmt Egill später die gegenüberliegende Position des Lehnsherren ein und spricht einem seiner Bauern das Recht auf sein Land ab, da er dieses von Skalla-Grímr erhalten habe.37 Auf diese Weise wird ein äußert nuanciertes Bild des Zusammenhangs von Macht, Besitz und helgi gezeichnet, das durch die Positionswechsel der Familie kontinuierlich neu perspektiviert wird. Wie in der Laxdœla saga funktioniert das Thema Erbe als Kristallisationspunkt der Fragen nach Anspruch, Herkunft und Rechtmäßigkeit. Während diese dort fortwährend mit den Komplexen Familie und Liebe verwoben werden, liegt der Fokus der Egils saga weit mehr auf der sozialen Stellung der Familie und dem Verhältnis des Isländers zum norwegischen Königtum.38

37 Vgl. Kap. 7.1.1.3. 38 Sucht man nach Gründen für diesen Themenschwerpunkt, bieten sich intra- und extratextuell einige Interpretationsansätze an. Man könnte diesen Diskurs sowohl in Verbindung zur Biographie des immer wieder als Autor der Egils saga angenommenen Snorri Sturluson lesen (vgl. Perkins 1986, S.  470–471), als auch als allgemeine Reflexion über norwegische und isländische Macht- und Besitzverhältnisse. Sogar über eine mögliche Verbindung zu den vielen Hinweisen auf die besondere Verbindung Egills zum Gott Óðinn könnte man nachdenken, der als Gott der Gehängten sowie als Räuber des Skaldenmets einige Anknüpfungspunkte für Thematiken wie Besitz, Macht und Dichtung bereithält (für diese Anregung danke ich Andreas Schmidt, eine Zusammenfassung der möglichen Óðinnsbezüge in der Egils saga findet sich in Schmidt 2015, S. 52–66).

9 Fazit Viele der hier genannten Textstellen betreffen Figuren, die zu den Sympathieträgern der Isländersagas zählen: Hrútr Herjólfsson, Guðrún Ósvifrsdóttir, Blund-Ketill Örnólfsson – sie alle würde man als ehrenhaft bezeichnen, und doch geraten sie in Situationen, die sie zu Dieben oder Räubern werden lassen. Literarische Diebe führen einem vor Augen, dass man nicht nur jederzeit zum Opfer ihrer Verbrechen werden könnte: Die Faszination des Diebstahls speist sich gleichermaßen aus dem vagen Bewusstsein, dass man auch zum Täter werden kann.1 Die Eigentumsdelikte der Isländersagas weisen eine ebenso große Diversität auf wie ihre Delinquenten, deren Beweggründe von simpler Habgier bis zu vermeintlicher Rechtschaffenheit reichen. Hier wurden die Verbrechen aus zwei Blickwinkeln betrachtet, die den beiden Ebenen literarischer Texte entsprechen, der Erzählebene und der Handlungsebene. Beide sind gleichermaßen von der semantischen Aufladung der Verbrechen durchdrungen. Die Semantik des Diebstahls wird von seiner Heimlichkeit dominiert. Die fehlende Sichtbarkeit definiert gleichermaßen das Verbrechen wie das Wesen des Diebes als Täter. Die Heimlichkeit ist es, die andere Assoziationen aufruft und Kombinationen mit anderen Freveltaten ermöglicht, die sich im ›Schatten der Nacht‹ abspielen. Hierin liegt die Verbindung des Diebstahls zur Zauberei ebenso begründet wie zum Komplex ergi. Die semantische Nähe des Verbrechens zur nonkonformen Sexualität, zur Unmännlichkeit und zur Feigheit ergibt sich aus der fehlenden Offenkundigkeit des Diebstahls. Diese wiederum zeichnet den ehrenhaften, gut sichtbaren Raub aus. Die verschiedenen Auswüchse der Heimlichkeit sind literarisch frei kombinierbar. Sie stellen einen Motivfundus dar, aus dem sich die Erzähler der Isländersagas bedienen können, um ihre Bösewichte mit schändlichen Eigenschaften auszustatten. Werden in einer Saga mehrere verschiedene Motivkombinationen nacheinander eingesetzt, können die Protagonisten zeigen, dass sie die öffentliche Ordnung gegen jede Art von Störung schützen können. Der Diebstahl ist dabei als Spielart der allgemeinen Bedrohung zu verstehen, die von allem Heimlichen ausgeht. Diese grundlegende Heimlichkeit ist für die Erzählweise ebenso ausschlaggebend wie für die Handlungsebene. Die in Diebstahlsepisoden mehrfach aufzufindende Korrelation von inhaltlichem Schwerpunkt und narrativer Ausgestaltung stellt eine Besonderheit in der Erzähltechnik der Isländersagas dar. Heimliche Taten werden häufig von erzählerischen Verschleierungstechniken begleitet, insbesondere durch 1 Diebstahl und Raub sind Verbrechen, die der moderne Rezipient unter gewissen Umständen nicht nur verzeihen, sondern sogar gutheißen kann. Niemand würde heute ausschließen wollen, in größter Not für sich oder seine Familie zu stehlen. Dies ist heute der entscheidende Unterschied zum Töten, das für viele Menschen in jeder Situation auszuschließen ist. Wie in Kap. 2.1.1. ausgeführt wurde, sollte moderne Moral jedoch nicht an die Isländersagas herangetragen werden, in deren Vorstellungswelt eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen völlig deplatziert wäre. https://doi.org/10.1515/9783110699265-009

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 9 Fazit

Zeitmanipulationen und dem Spiel mit Fokalisierungsinstanzen. Auslassungen, Perspektivenwechsel und Mehrdeutigkeiten in der Narration kommen besonders häufig zum Einsatz, wenn auf der Handlungsebene Lügen verbreitet, Ränke geschmiedet oder Diebstähle verübt werden. Die obskure Natur der Handlungselemente wird von einer destabilisierten narrativen Ausgestaltung reflektiert. Analog zu Heimlichkeit und Verschleierung funktioniert auch die erzählte und erzählende Offenheit. Zeitdehnungen, Dialoge und detaillierte Beschreibungen korrespondieren hier mit besonders aufrichtigen Handlungsweisen – oder solchen, die man dafür halten soll. Diese Techniken narrativer Offenlegung richten sich an das Publikum der Saga, das als zweite Instanz neben die erzählte Öffentlichkeit tritt, der das Geschehen zur Bewertung vorgelegt wird. Besonders interessant sind jene Fälle, in denen die Rezipienten über Vorgänge besser Bescheid wissen als die Figuren auf der Handlungsebene. So können Unzulänglichkeiten der geschilderten öffentlichen Meinung ebenso offenbart wie Urteile hinterfragt werden. Eine zweite erzähltechnische Besonderheit stellt die ›eigene Bestimmtheit‹ des Diebesguts dar. Seine Präsenz in der Erzählung trägt zur Lenkung der Rezipientenerwartung ebenso bei wie die vielen Träume, Vorzeichen und Prophezeiungen der Isländersagas. Episoden um Diebstahl und Raub können als Kristallisationspunkte der Handlung verstanden werden, da sich nicht nur mehrere Figuren und Erzählstränge in ihnen treffen, sondern diese hier notwendigerweise kollidieren. Dem gestohlenen Ding kann im Anschluss eine Markierungsfunktion zukommen, indem es sowohl immer wieder an das Verbrechen erinnert als auch an die notwendige reziproke Vergeltung. Die entsprechenden Episoden sind damit für die Komposition der Saga bedeutsam, indem sie zusätzliche oder sogar alternative Motivierungen anbieten. In wenigen Fällen kann sogar eine eigene Handlungsmacht des Dings entdeckt werden: Fótbítr und Grásíða hätten auch in den Händen anderer Figuren zu familieninternen Totschlägen führen müssen. Skǫfnungr ist aus sich heraus gefährlich, ohne, dass vorher ein Diebstahl oder Fluch dies heraufbeschworen hätte. Eine eigene Bestimmtheit kann vor allem jenen Dingen bescheinigt werden, die einer anderen Welt entstammen, da sie aus einem Grab geraubt wurden. Obwohl es sich nicht um ein Eigentumsdelikt im eigentlichen Sinn handelt, hat das haugbrot erzähltechnisch betrachtet große Ähnlichkeit mit dem Diebstahl. Wird auf der Handlungsebene ein Grabhügel aufgebrochen, öffnet dies häufig auch auf der Narrationsebene ein Einfallstor, durch das Irrationales in den ›realistischen‹ Erzählstil dringt. Obwohl das Interesse der Isländersagas an übernatürlichen oder sogar magischen Gegenständen geringer ist, als dies beispielsweise in der benachbarten Gattung der Vorzeitsagas der Fall ist, kann ein auf Dinge gerichteter Blick hier neue Lesarten hervorbringen: Die Interaktion der Figuren mit den Gegenständen gewährt tiefere Einblicke in ihre Konzeption und deckt abgewiesene Handlungsalternativen auf. Manchmal kann der Blick auf das Ding sogar eine ansonsten rätselhafte und untermotivierte Handlung erklären. Nicht zuletzt tragen die Dinge entscheidend zur Erwartungslenkung bei. Durch das zugrundeliegende Konzept der Reziprozität weiß der Rezipient

9 Fazit 

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auch ohne wortreiche Hinweise, dass eine Reaktion auf die Entwendung unumgänglich ist. Diese kann auf das gestohlene Ding ausgelagert werden, wodurch es zum Unheilsbringer wird. Zur Motivierung des Geschehens trägt nicht nur besonderes Diebesgut bei. Auch die Verbrechen selbst können eingesetzt werden, um das Geschehen kompositorisch oder kausal zu motivieren. Beim kompositorischen Einsatz der Verbrechen kommt den Anfangskapiteln eine besondere Bedeutung zu. Hier werden Themen, Motive und Erzählstrategien etabliert, die das gesamte narrative Gefüge der Erzählung prägen. Im Hauptteil können diese nicht nur wieder aufgegriffen, sondern auch verhandelt, ausdifferenziert oder invertiert werden. Selten geschieht dies so deutlich wie mit Hallgerðrs Diebesaugen in der Njáls saga, die schon im ersten Kapitel den späteren Diebstahl und seine Folgen vorwegnehmen. Häufiger wird die an die Verbrechen geknüpfte Dichotomie von Heimlichkeit und Offenheit ausgebaut, die nicht nur den Eigentumsdelikten innewohnt, sondern sich auch in anderen Handlungen zeigen kann. Die häufigste narrative Funktion von Diebstahl und Raub ist ihr kausal motivierender, handlungstreibender Charakter. Die Gebote der Ehre fordern ebenso eine Reaktion auf diese Verbrechen wie die Regeln der Reziprozität. Werden die Motive in einer Saga mehrfach verwendet, gibt dies dem Publikum sowohl die Gelegenheit, über unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten der bestohlenen Seite zu reflektieren als auch über die ansteigende oder abfallende Bedrohung durch die Täter. Die Frage, ob tatsächlich etwas entwendet wurde, tritt dabei in den Hintergrund. Eine unberechtigte Verleumdung ist ein ebenso schwerwiegendes Verbrechen wie ein tatsächlicher Raub oder Diebstahl und erfüllt die gleichen narrativen Funktionen. Nur selten wird eine solche Ehrkränkung akzeptiert, eine Duldung kann aber auch außergewöhnliche Besonnenheit demonstrieren und funktioniert damit als Mittel zur Figurencharakterisierung. Allerdings handelt es sich um gefährliches Terrain, da die Grenzen zwischen bewundernswerter Besonnenheit und inakzeptabler Konfliktscheu fließend sind, und der Vorwurf der Feigheit jederzeit drohen kann. Diesem finden sich männliche Sagafiguren immer wieder ausgesetzt, wodurch sie unbedingt zur Handlung gezwungen werden, um ihre Ehre zu verteidigen. Das Motiv der ritualisierten Hetzrede, der hvǫt, stellt eine Sonderform kausaler Motivierung in den Isländersagas dar und teilt entscheidende Motivkomponenten mit heimlichem Diebstahl, der analog eingesetzt werden kann. Die Ausführenden der hvǫt sind meist Frauen, deren Betätigungsfeld größtenteils im nicht-öffentlichen Bereich zu finden ist. Hier ergibt sich die Schnittstelle zur Semantik des Diebstahls. Zwar beginnen die von Frauen durchgeführten Diebstähle im Verborgenen, müssen aber zum richtigen Zeitpunkt ans Licht gebracht werden, um ihre Wirkmacht zu entfalten. Weibliche Sagafiguren können auf diese Weise in die Fehden ihrer männlichen Familienmitglieder eingreifen und diese nach ihrem Willen vorantreiben. Die aktive Selbstermächtigung ist in diesen Fällen sogar noch stärker als bei der verbalen Aufhetzung: Entweder zwingt die Frau den Mann in einen Konflikt, den er nie führen wollte, oder sie greift sogar selbst nach einem Schwert um ihren früheren Geliebten zu demütigen.

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 9 Fazit

Diese Ergebnisse zur Erzähltechnik der Isländersagas könnten als Prototypen für das eingangs besprochene »Spezialwerkzeug«2 zur Interpretation dieser Erzählungen Verwendung finden. Auch für andere Themen und Motive könnte man fragen, ob sie mehrfach von bestimmten erzählerischen Besonderheiten begleitet werden, und ob man diese semantisch mit dem Kern der Handlung in Verbindung bringen kann. Auch die hier erarbeiteten Ansätze zum Einsatz von Gegenständen könnten ausgeweitet werden: Sämtliche ›wandernde Dinge‹3 hätten das Potential, ähnliche Funktionen zu erfüllen. Insbesondere Objekte, deren Biographie Bezugspunkte zu einer anderen Welt – ob überirdisch oder fremdländisch – enthält, könnten bedeutsame Semantisierungen in sich tragen und mit sich bringen. Die Motivierungsstrategien der Isländersagas wurden bisher nur in wenigen Studien gestreift. Sie könnten neue Einblicke in die Strukturen der Isländersagas geben, abseits von an Fehdestrukturen angelehnten Schemata. Die Untersuchung finaler und kompositorischer Motivierung kann nicht nur neue Erkenntnisse über narrative Strategien erbringen, sie könnte auch zugrundeliegende Denkmuster offenbaren, wie zyklische und lineare Zeitvorstellungen oder religiös beeinflusste Weltvorstellungen, in denen sich die Verhältnisse nach göttlichem Plan entwickeln.4 Die Handlungsebene betreffend wurde in der vorliegenden Studie nach den Einsatzmöglichkeiten und Funktionsweisen von Eigentumsdelikten gefragt. Diebstahlsund Raubepisoden stellen immer Kreuzungspunkte dar, an denen sich verschiedene Figuren und Handlungsstränge begegnen. Da mit Eigentum und Ehre zwei entscheidende Werte der Sagagesellschaft angegriffen werden, können diese Episoden als Bruchstellen verstanden werden, die die Vorstellungswelt ihrer Texte besonders deutlich hervortreten lassen. Sie tragen damit nicht nur entscheidend zur Charakterisierung der beteiligten Figuren bei, sondern fordern auch eine Neubewertung der Position der Akteure innerhalb der dargestellten Gesellschaft. In der Vorstellungswelt der Isländersagas ist für den Dieb als bewundernswerte, schelmenhafte Figur wenig Platz. Es handelt sich um eine Literatur der sozialen Oberschicht, die weder an der Umverteilung von Reichtum noch am Triumph des Einzelnen über die gesellschaftliche Ordnung interessiert ist. Diebe und Räuber werden daher fast ausnahmslos als typenhafte Antagonisten skizziert, die es zu überwinden gilt. Sie bieten den Helden Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Hierzu werden meist verschiedene Ausprägungen des Räubers verwendet. Dieser ist schon aufgrund seines offenen Vorgehens besser geeignet, Kraftproben mit den Protagonisten einzugehen, als der Dieb, der idealerweise unbemerkt bleibt. Die meisten Räuberfiguren sind flache, typenhafte Charaktere, die lediglich als groß, stark und 2 Vésteinn Ólason 2011, S. 232. Vgl. Kap. 1.4. 3 Das Buch der wandernden Dinge von Niehaus 2009 versammelt allerhand Gegenstände, die in der Literatur von Figur zu Figur wandern und könnte hier als Ideengeber wertvoll sein. 4 Finale Motivierung tritt in mittelalterlichen Texten beispielsweise häufig als Ausdruck einer heilsgeschichtlichen Weltanschauung auf, vgl. Schulz 2015, S. 162–164 sowie S. 322–324.

9 Fazit 

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übergriffig beschrieben werden. Ihre grundsätzliche Austauschbarkeit offenbart sich in ihrer Bezeichnung, die bei ein und derselben Figur zwischen ›Räuber‹, ›Wikinger‹ und ›Berserker‹ wechseln kann. Im Kampf mit ihnen kann der Protagonist sowohl seine Tapferkeit unter Beweis stellen als auch sein kämpferisches Talent. Häufig werden sie als Kontrast- und Korrespondenzfiguren eingesetzt, indem sie den Helden zwar Größe und Stärke betreffend ähneln, aber andere Werte verkörpern. Auch gesetzlose Nebenfiguren können diese Rolle erfüllen. Speziell in den Ächtersagas, deren Helden selbst außerhalb der Gesellschaft leben, übernehmen sie wichtige Funktionen, da die Wildnis ansonsten wenige Möglichkeiten zur Interaktion mit anderen Figuren bietet. Diebe tauchen insgesamt zu selten auf, um von einem Figurentypus sprechen zu können. Meist handelt es sich um soziale Außenseiter, die als Gehilfen mächtiger Figuren eingesetzt werden und keine Individualisierung erfahren. Speziell Sklaven werden dabei so schwach gezeichnet, dass sie kaum als Akteure bezeichnet werden können. Sie treten meist im Kollektiv auf, tragen keine Namen und verschwinden beinahe hinter den Protagonisten, deren Handlanger sie sind. Anstelle der Figur des Diebes als Stereotyp wurde das Motiv des Diebstahls als Erzählschablone vorgeschlagen. Diebstahlsepisoden laufen meist ähnlich ab und stellen ein flexibel einsetzbares Motiv dar, das Konflikte auslösen oder befördern kann und zur kausalen Motivierung beiträgt. Manche Figuren wie Sklaven, Fremde und Emporkömmlinge sind durch ihre Figurenanlage leicht um den Aspekt der Übergriffigkeit erweiterbar und tauchen häufig im Erzählschema auf. Die einzigen Protagonisten der Isländersagas, die sich regelmäßig am Eigentum anderer vergreifen, sind Geächtete. Hier zeigt sich die flexible Einsetzbarkeit des Motivs, das verwendet werden kann, um gänzlich verschiedene Aspekte der Figurenanlage hervorzubringen. Dabei dient es in der Fóstbrœðra saga dazu, den Wandel der Protagonisten zu illustrieren, indem sie im Laufe der Erzählung verschiedene Positionen in Raubepisoden einnehmen. Schritt für Schritt wird insbesondere Þorgeirr zu jener Art von Gewalttäter, die er anfangs bekämpft hat. Auch Grettir Ásmundarson, der berühmteste Gesetzlose der Isländersagas, ist keine von Grund auf negativ konzipierte Figur. Sein unausgeglichener Charakter und sein Schicksal treiben ihn in die Gesetzlosigkeit, die ihn wiederum zum Raub zwingt, um überleben zu können. Grettirs Eigentumsdelikte werden mehrfach zugunsten seiner außergewöhnlichen Charakterzeichnung verharmlost. Trotz seiner Diebstähle wird diese mit viel Sympathie betrieben. Im Vordergrund stehen seine Stärke, seine Wortgewandtheit und sein hoher gesellschaftlicher Stand  – diese Faktoren erheben ihn in der Narration nicht nur über gewöhnliche Räuber, sondern auch über seine Opfer. Dies trifft auch auf den Gesetzlosen Jǫkull in der Vatnsdœla saga zu, der zusätzlich mit höfischen Sitten und außergewöhnlicher Schönheit ausgestattet ist und dazu einlädt, ihn als Vertreter des Motivs des ›edlen Räubers‹ in Skandinavien zu interpretieren. Im Gesamtkontext der Saga wird diese besondere Figur nicht nur verwendet, um die Protagonistenfamilie genealogisch an ein Jarlsgeschlecht und zwei exzeptionelle Räuberfiguren anzubinden, sondern auch zur Erzeugung einer erzäh-

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 9 Fazit

lerischen Fallhöhe. Ihre Antagonisten betreffend lässt sich in der Saga insgesamt eine Degeneration feststellen, wodurch der Rezipient auch die Exzellenz der Helden kritisch hinterfragen muss. Da dem offen vorgehenden Verbrecher eine größere Menschenmenge nicht schaden kann, finden sich auch einige Räuberbanden in den Isländersagas. Narrativ betrachtet funktionieren sie analog zu den Einzelfiguren, nur stellen sie keine Herausforderung für einen Protagonisten dar, sondern für das Kollektiv der Sagagesellschaft. Ihre Darstellung variiert je nachdem, ob der Protagonist der Saga Teil der Verbrechergemeinschaft ist, wie in der Harðar saga ok Hólmverja, oder die Perspektive bei ihren Gegnern liegt, wie in der Eyrbyggja saga. In beiden Fällen triumphiert schließlich die Gemeinschaft der Bauern und kann die soziale Ordnung wiederherstellen. Als zweiter großer Bereich der Handlungsebene wurde die Position der Diebe und Räuber innerhalb der Hierarchie der dargestellten Gesellschaft untersucht. Diese lässt sich nicht immer über die tatsächliche Stellung der Figur im gesellschaftlichen Gefüge begründen, sondern hängt auch mit ihrer narrativen Bedeutung zusammen, die hier in gesellschaftlich vertikale und horizontale Konflikte eingeteilt wurde. Die Isländersagas unterscheiden nicht nur zwischen Knechten und Großbauern, sondern auch zwischen unbedeutenden Nebenfiguren und hervorragenden Protagonisten. Um beurteilen zu können, ob dies eine Besonderheit der Eigentumsdelikte ist, oder allen Straftaten der Isländersagas zu eigen ist, wurde das Korpus zunächst auf die Diebstahlsfälle der Handschrift Mǫðruvallabók begrenzt. Dort zeigte sich, dass sämtliche Fälle, die außergerichtlich gelöst werden, von machtvollen Protagonisten verfolgt werden. Werden diese mit Figuren von geringer sozialer oder narrativer Bedeutung konfrontiert, stehen ihnen sämtliche Konfliktlösungsmöglichkeiten zur Verfügung. Nebenfiguren müssen dagegen nicht nur auf die Gerechtigkeit der Justiz hoffen, sondern mächtige Unterstützer gewinnen, um eine Chance zu haben, ihre Interessen zu wahren. Daher wird bei Eigentumsdelikten überproportional häufig ein Gerichtsverfahren angestrebt, das dem Ruf eines angesehenen Bauern umso mehr schaden kann, je niedriger der Stand seines Anklägers ist. Auch über die Sagas der Mǫðruvallabók hinaus konnte dieses Muster verfolgt werden, das sich gleichermaßen durch die soziale wie durch die erzählerische Logik der Isländersagas begründet. Diese sind an den außerordentlichen Taten ihrer hochstehenden Hauptfiguren interessiert, nicht am Schicksal einzelner Kleinbauern. Innerhalb einer hohen sozialen Schicht funktioniert der Raub als öffentliche Machtdemonstration, die eine Figur als gleichermaßen tatkräftig wie ehrenvoll auszeichnen kann. Durch einen Raub ist nicht nur Vermögen, sondern auch Ansehen zu gewinnen, sofern er eine Kraftprobe mit einem mindestens gleichwertigen Gegner darstellt. Eigentumsdelikte innerhalb einer niedrigen sozialen Schicht werden selten erzählt und sind erst dann von Belang, wenn wichtigere Figuren eingreifen und die Machtverhältnisse im Konflikt dadurch verschoben werden. Dies ist häufig beim Walraub der Fall, der ein sehr flexibles Motiv darstellt, das eine große Gruppe von Figuren involvieren kann und damit zur Charakterzeichnung ebenso beiträgt, wie zur

9 Fazit 

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Beschleunigung der Handlung. Spielen sich Raub und Diebstahl außerhalb Islands ab, sind die Figuren nicht nur mit anderen Bestrafungen wie der Hinrichtung konfrontiert, sondern auch mit anderen Machtverhältnissen. Könige und Jarle verkörpern hier einerseits das Recht, sind andererseits sehr häufig selbst in die Konflikte verstrickt, was zu einem noch größeren Machtgefälle führt als auf Island. Nirgendwo ist die Frage nach der sozialen Macht der beteiligten Figuren von so entscheidender Bedeutung, wie in den Episoden um die Machtübernahme Haraldr hárfagris in Norwegen und die daraus resultierende Besiedelung Islands. Zeigt eine Isländersaga ihre Protagonistenfamilie zunächst als mächtige Großbauern in Norwegen und beginnt mit der Enteignung durch König Haraldr, gibt dies verschiedene Variationen des Themenkomplexes ›Macht, Besitz und Ehre‹ für die gesamte Erzählung vor. An den Landbesitz der norwegischen Hersen ist ihre Souveränität und Autonomie gebunden, weshalb sie die Bestrebungen Haraldrs, ein Lehenssystem zu installieren, nicht hinnehmen können. Mit Hilfe einer Isotopieuntersuchung wurde gezeigt, dass einzelne Sagas trotz einer gut etablierten Erzähltradition in der Lage sind, bei der Einbindung des Motivs thematische und erzählerische Schwerpunkte zu setzen, die die späteren Ereignisse auf Island antizipieren. Für die gesamte Gattung und besonders für ihre umfangreichen, Generationen umspannenden Vertreter ist der Themenkomplex des Erbes von Bedeutung. Dieser teilt viele Merkmale des Raubs oder Diebstahls, beinhaltet aber außerdem den wichtigen Aspekt der Familie. Fast alle Sagas und þættir sind von Genealogien durchzogen und beschäftigen sich auf die ein oder andere Weise mit Vererbung, Abstammung und familiären Beziehungen.5 Es ist anzunehmen, dass diese Thematik sowohl die Erzähltechnik als auch die Konzeption von vererbbaren Dingen oder Grundstücken durchzieht und ähnlich vielschichtige Ergebnisse hervorbringen könnte wie der Fokus auf Eigentumsdelikte. Hier wurde anhand zweier längerer Sagas die Funktionsweise von gestörten Erbverhältnissen betrachtet, einmal als Semantisierungsstrategie für einen Ort, einmal als Beitrag zur Figurenzeichnung. In der Laxdœla saga korrespondieren die Schwierigkeiten einer Erbteilung mit den späteren familiären Konflikten auf diesem Grundstück. Hier kommen ähnliche narrative Strategien zum Einsatz wie bei der Konzeption von wirkmächtigen Gegenständen. In der Egils saga Skalla-Grímssonar ist die Erbthematik einerseits Teil des Eigentumsdiskurses, der die gesamte Handlung dominiert. Andererseits korrespondiert sie auch mit der Figurenzeichnung, die ebenso großen Wert auf Abstammung und Gemeinsamkeiten innerhalb einer Familie legt, wie sich an den Korrespondenzpaaren Þórólfr Kveld-Úlfsson und Þórólfr Skalla-Grímsson sowie Skalla-Grímr und Egill zeigt. Herkunft, Anspruch und Rechtmäßigkeit werden in beiden Sagas über das Thema des Erbes installiert, jedoch unterschiedlich ausgestaltet – entweder mit Bezug zu Autonomie und sozialer Stellung oder zu Liebe und Familie.

5 Zur Bedeutung familiärer Beziehungen in den Isländersagas siehe Jakob 2016.

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 9 Fazit

Die Analyse facettenreicher Themen und Motive kann insgesamt neue Perspektiven auf die Isländersagas eröffnen, sowohl in Bezug auf ihre Vorstellungswelt als auch auf ihre Strukturen und Erzählstrategien. Jüngst stellte dies auch Ármann Jakobsson fest: One may wonder if the way forward could possibly be paved by a closer look at the themes of each saga. In 1977, Heinrich Beck drew attention to some narrative elements in Laxdœla saga that tended to be independent of the diverse characters on stage. […] Beck’s examination of themes and his focus on narrative time highlights the fact probably noted by every serious critic of the sagas: that a theme is often present in a saga long before the protagonists arrive on the stage and the sagas thus bear witness to a thematic and artistic thinking along with the more historical and genealogical concerns.6

Über 40 Jahre nach Becks strukturalistisch geprägter Studie7 könnten narratologische Methoden den Fokus auf einzelne Themen wiederaufgreifen, um so die Erzähltechnik und insbesondere die Kohärenzbildung der Isländersagas besser zu verstehen. Wie sich anhand der vielen Einsatzmöglichkeiten der Verbrechen Diebstahl und Raub gezeigt hat, werden Ereignisse nicht nur durch Träume, Prophezeiungen und Vorahnungen miteinander verknüpft. Erzähl- und Handlungsebene sind stattdessen eng miteinander verwoben. Vorausschauen und Rückblenden werden weniger durch den Erzähler direkt vorgenommen, als durch Nebenstränge, die Themen vorverhandeln, bevor sie für die Protagonisten relevant werden. Nicht nur werden so Aufgaben der Erzählebene auf die Figurenebene ausgelagert, die Handlung hat gleichermaßen Einfluss auf die Art der Darstellung, wie etwa die destabilisierte Erzählweise heimlicher Vorgänge zeigt. Das Korpus der Isländersagas beinhaltet höchst unterschiedliche Erzählungen. Die Erzähltextanalyse als Methode ist zwar in der Lage, all diese Texte zu beschreiben und zu befragen, kann aber lediglich eine Grundlage für hermeneutische Überlegungen liefern.8 Sowohl die großen inhaltlichen und erzählerischen Unterschiede als auch die unsicheren und große Zeitspannen umfassenden Datierungen der Texte erschweren eine gattungsübergreifende Interpretation. Natürlich drängt sich die Frage auf, wieso die Themen ›Macht, Besitz und Ehre‹ gepaart mit der Frage nach Offenkundigkeit für die Isländer der Schreibezeit von so zentraler Bedeutung waren. Eine naheliegende historisch-interessierte Deutung wäre es, die Sturlungenzeit und das Ende des isländischen Freistaats zur Erklärung heranzuziehen: Zum Ende des 13. Jahrhunderts lag die ursprünglich auf viele Goden verteilte Macht in den Händen einiger weniger Familien, deren Konflikte zuerst bürgerkriegsähnliche Zustände hervorbrachten und schließlich im Zusammenbruch des isländischen Freistaats münde-

6 Ármann Jakobsson 2017, S. 130. 7 Vgl. Beck 1974. 8 Vgl. Lahn u. Meister 2016, S. xi sowie Kap. 1.4.2.

9 Fazit 

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ten.9 Sowohl diese Umbruchsjahre als auch die ersten Jahre unter der neuen norwegischen Herrschaft könnten ein Interesse an Machtmechanismen ebenso rechtfertigen wie an unrechtmäßigen Aneignungen wie Diebstahl, Raub und Enteignung. So einleuchtend dieser Zeithorizont wäre, lässt er sich doch nicht für alle hier besprochenen Texte heranziehen. Zu groß ist die Kluft zwischen der wohl zwischen 1210 und 1230 entstandenen Egils saga und der ins 15. oder gar 16. Jahrhundert datierten Fljótsdœla saga.10 Eine an textexternen Diskursen interessierte Interpretation sollte daher eher einzelne Texte oder kleinere Gruppen zur Grundlage nehmen. Auch Stil und Erzählkunst betreffend lässt sich nicht für jeden Text dieser Gattung die gleiche Tiefe annehmen: Nicht alle Erzählungen dieser Gattung sind erzählerisch so dicht verwoben, dass sie die Interpretation einer jeden Wortwahl rechtfertigen. Bei vielen Isländersagas handelt es sich jedoch um bemerkenswerte Zeugnisse mittelalterlicher Erzählkunst, die schon für sich genommen so facettenreich sind, dass man gerne bei ihnen verharrt, ohne textfremde Fragestellungen an sie heranzutragen. Geschehen darin Diebstähle oder Raubüberfälle, öffnen sich Einfallstore, die tiefere Einblicke in das Wesen der Texte und ihrer Vorstellungswelt gewähren. Diese ist fremdartig und unzugänglich, von strikten Ehrvorstellungen und unbarmherziger Blutrache durchzogen, beherbergt aber doch lebensnahe Figuren. Erzählt wird in einem geradezu minimalistischen Stil – oft lakonisch, scheinbar modern und vertraut. Die Isländersagas sind damit so zweigesichtig und faszinierend wie der Dieb, der ebenso bedrohlich wie geheimnisvoll ist.

9 Zur Geschichte Islands im 13. Jahrhundert vgl. etwa Fechner-Smarsly 1996 (insb. S. 19–28), der einige Isländersagas als »Krisenliteratur« interpretiert. 10 Zur Datierung des Egils saga siehe Perkins 1986, S. 473. Zur Datierung der Fljótsdœla saga siehe Jónas Kristjánsson 1988, S. 254–255.

Bibliographie Siglenverzeichnis Arn Árna Band Bár BjH Bol Drop Eg EgSH Eir Eyr Fbr Fin Fljó Flóa Fær Gís Grá Grœn GrœnÞ Gts GuÁ Gun Hal Har Háva Hœns HrGu Hrk Hró Hróa Hvs Jón Jök Kjal Kor Krók Kuml Lax Ljós Nj Reyk SnH StGB

Arnórs þáttr jarlaskálds Árnar saga biskups Bandamanna saga Bárðar saga Snæfellsáss Bjarnar saga Hítdœlakappa Bolla þáttr Bollasonar Droplaugarsona saga Egils saga Skalla-Grímssonar Egils þáttr Síðu-Hallssonar Eiríks saga rauða Eyrbyggja saga Fóstbrœðra saga Finnboga saga ramma Fljótsdœla saga Flóamanna saga Færeyinga saga Gísla saga Súrssonar Grágás Grœnlendinga saga Grœnlendinga þáttr Grettis saga Ásmundarsonar Gull-Ásu-Þórðar þáttr Gunnlaugs saga ormstungu Hallfreðar saga vandræðaskálds Harðar saga ok Hólmverja Hávarðar saga Ísfirðings Hœnsa-Þóris saga Hrafns þáttr Guðrúnarsonar Hrafnkels saga Freysgoða Hrómundar þáttr halta Hróa þáttr heimska Heiðarvíga saga Jónsbók Jökuls þáttr Búasonar Kjalnesinga saga Kormáks saga Króka-Refs saga Kumlbúa þáttr Laxdœla saga Ljósvetninga saga Brennu-Njáls saga Reykdœla saga ok Víga-Skútu Sneglu-Halla þáttr Strafgesetzbuch

https://doi.org/10.1515/9783110699265-010

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Stj Sva Þórð ÞorlJ Þorsk ÞSH ÞUxaf Tjal VíGl VíKet Vpn Vtn

 Bibliographie

Stjǫrnu-Odda draumr Svarfdœla saga Þórðar saga hreðu Þorleifs þáttr jarlsskálds Þorskfirðinga saga Þorsteins saga Síðu-Hallssonar Þorsteins þáttr uxafóts Þorsteins þáttr tjaldstæðings Víga-Glúms saga Víglundar saga ok Ketilríðar Vápnfirðinga saga Vatnsdœla saga

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Vápnfirðinga saga. In: Jón Jóhannesson (Hrsg.) (1950): Austfirðinga sǫgur. Þorsteins saga hvíta, Vápnfirðinga saga, Þorsteins þáttr stangarhǫggs, Ǫlkofra þáttr, Hrafnkels saga Freysgoða, Droplaugarsona saga, Brandkrossa þáttr, Gunnars þáttr Þiðrandabana, Fljótsdœla saga, Þorsteins saga Síðu-Hallssonar, Þorsteins þáttr Síðu-Hallssonar, Draumr Þorsteins Síðu-Hallssonar, Þorsteins þáttr Austfírðings, Þorsteins þáttr sǫgufróða, Gull-Ásu-Þórðar þáttr (Íslenzk Fornrit 11), S. 23–65. Reykjavík. Vatnsdœla saga. In: Einar Ól. Sveinsson (Hrsg.) (1939): Vatnsdœla saga. Hallfreðar saga, Kormáks saga, Hrómundar þáttr halta, Hrafns þáttr Guðrúnarsonar (Íslenzk Fornrit 8), S. 1–131. Reykjavík. Víga-Glúms saga. In: Jónas Kristjánsson (Hrsg.) (1956): Eyfirðinga sǫgur. Víga-Glúms saga, Ǫgmundar þáttr dytts, Þorvalds þáttr tasalda, Svarfdœla saga, Þorleifs þáttr jarlaskálds, VallaLjóts saga, Sneglu-Halla þáttr, Þorgríms þáttr Hallasonar (Íslenzk Fornrit 9), S. 1–98. Reykjavík. Víglundar saga ok Ketilríðar. In: Jóhannes Halldórsson (Hrsg.) (1959): Kjalnesinga saga. Jökuls þáttr Búasonar, Víglundar saga, Króka-Refs saga, Þórðar saga hreðu, Finnboga saga, Gunnars þáttr Keldugnúpsfífls (Íslenzk Fornrit 14), S. 61–116. Reykjavík.

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Register der besprochenen Isländersagas und -þættir Ævi Snorra goða 6 Auðunar þáttr vestfirzka 6 Bandamanna saga 72–74, 117, 224 Bárðar saga Snæfellsáss 59, 110  f., 218, 257, 279 Bergbúa þáttr 6 Bjarnar saga Hítdœlakappa 67, 69–71, 74, 91, 249  f. Bolla þáttr Bollasonar 219, 225, 227–229, 234, 237  f. Brandkrossa þáttr 6 Brands þáttr ǫrva 6 Brennu-Njáls saga 8  f., 12, 14, 19, 31, 33, 36, 48, 58, 67  f., 108, 115–121, 134–136, 142  f., 147–149, 151–154, 158, 163, 167, 177  f., 218, 222, 225, 231–234, 237, 297 Draumr Þorsteins Síðu-Hallssonar 6 Droplaugarsona saga 36, 46, 212  f., 225  f. Egils saga Skalla-Grímssonar 2, 8  f., 14, 31, 36, 38, 48, 68, 189, 202, 209, 213, 218, 224–226, 234  f., 259  f., 264  f., 275–277, 279–281, 283  f., 286–293, 301, 303 Egils þáttr Síðu-Hallssonar 37, 209 Eiríks saga rauða 126 Eyrbyggja saga 14, 58, 60, 67, 100  f., 140  f., 191  f., 203, 211, 264, 268–274, 279–281, 300 Færeyinga saga 9, 25, 59, 68, 75–78, 115, 150, 201, 213 Finnboga saga ramma 6, 280 Fljótsdœla saga 174, 220, 237  f. Flóamanna saga 35, 101, 192, 202, 210, 218, 255, 259, 264, 275, 280 Fóstbrœðra saga 168, 173  f., 179–183, 224, 257, 260, 299 Gísla saga Súrssonar 61, 82, 96–98, 111, 218, 275, 279  f. Gísls þáttr Illugasonar 6 Grettis saga Ásmundarsonar 14, 36  f., 60  f., 101, 111, 170, 182–188, 202, 218, 256  f., 264, 273–275, 279–281 Grœnlendinga saga 126 https://doi.org/10.1515/9783110699265-011

Grœnlendinga þáttr 69 Gull-Ásu-Þórðar þáttr 260  f. Gull-Þóris saga → Þorskfirðinga saga Gunnars saga Keldugnúpsfífls 6 Gunnars þáttr Þiðrandabana 6 Gunnlaugs saga ormstungu 18, 171 Halldórs þáttr Snorrasonar I 6 Halldórs þáttr Snorrasonar II 6 Hallfreðar saga vandræðaskálds 37, 81, 170 Harðar saga ok Hólmverja 39, 106–111, 169  f., 188–190, 192  f., 265, 275, 279  f., 300 Hávarðar saga Ísfirðings 138, 193, 195, 216  f., 257  f. Heiðarvíga saga 126  f., 141, 143–147, 156 Hœnsa-Þóris saga 220, 231, 234, 239–246 Hrafnkels saga Freysgoða 6, 238  f. Hrafns þáttr Guðrúnarsonar 6, 174 Hreiðars þáttr heimska 6, 89 Hrómundar þáttr halta 39  f. Jökuls þáttr Búasonar 202 Kjalnesinga saga 213  f. Kormáks saga 117, 138, 214 Króka-Refs saga 234  f. Kumlbúa þáttr 103  f. Laxdœla saga 8, 14, 53, 58  f., 66, 77, 82–91, 93–96, 99, 111, 113, 117, 142, 147, 154–163, 185, 212, 219, 222, 224–227, 229  f., 234, 238, 251–254, 264, 268–274, 279  f., 283–286, 293, 301 Ljósvetninga saga 216  f., 221 Odds þáttr Ófeigssonar 6 Ófeigs þáttr 6 Ǫgmundar þáttr dytts 6 Ǫlkofra þáttr 6, 9 Orms þáttr Stórólfssonar 6 Reykdœla saga ok Víga-Skútu 58, 101  f., 114, 122–134, 200, 216  f., 257 Sneglu-Halla þáttr 262 Sǫrla þáttr Brodd-Helgasonar 6 Stjǫrnu-Odda draumr 172

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 Register der besprochenen Isländersagas und -þættir

Stúfs þáttr 6 Svarfdœla saga 36, 218, 221, 264, 279 Þórarins þáttr Nefjulfssonar 6 Þórarins þáttr ofsa 6 Þórðar saga hreðu 36, 95, 173, 280 Þorgríms þáttr Hallasonar 6 Þorleifs þáttr jarlsskálds 258  f. Þormóðar þáttr 6 Þorskfirðinga saga 59, 104–106, 193  f., 235 Þorsteins draumr Síðu-Hallssonar 6 Þorsteins saga hvíta 6 Þorsteins saga Síðu-Hallssonar 250  f. Þorsteins þáttr Austfírðings 6 Þorsteins þáttr forvitna 6 Þorsteins þáttr Síðu-Hallssonar 6

Þorsteins þáttr sǫgufróða 6 Þorsteins þáttr stangarhǫggs 6 Þorsteins þáttr tjaldstæðings 266  f., 269, 274 Þorsteins þáttr uxafóts 103, 208  f. Þorvalds þáttr tasalda 6 Þorvarðar þáttr krákunefs 6 Valla-Ljóts saga 6 Vápnfirðinga saga 59, 170  f., 175  f. Vatnsdœla saga 54–58, 134, 168, 188, 194–207, 248, 265, 280  f., 299 Víga-Glúms saga 91, 139, 176  f., 225  f., 247 Víglundar saga ok Ketilríðar 58  f., 67, 137, 214–216, 277–281 Vǫðu-Brands þáttr 6