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German Pages 261 [265] Year 2019
Die Zählung der Welt Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert Herausgegeben von Stefan Haas, Michael C. Schneider und Nicolas Bilo
Geschichte Franz Steiner Verlag
Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte – 32
Haas / Schneider / Bilo Die Zählung der Welt
studien zur alltags- und kulturgeschichte Herausgegeben von Stefan Haas (Federführung), Antje Flüchter, Armin Owzar, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann.
band 32
Die Zählung der Welt Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert Herausgegeben von Stefan Haas, Michael C. Schneider und Nicolas Bilo
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Heinrich Silbergleit, Verteilung und Besetzung von Gewerbe, Industrie und Handel in Berlin und den Vororten. Aus: Werner Hegemann: Der Städtebau, nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin. Bd. 1. Berlin 1911, Abb. 60 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12117-0 (Print) ISBN 978-3-515-12118-7 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort der Reihenherausgeber ....................................................................... 7 Nicolas Bilo / Stefan Haas / Michael C. Schneider Grundbegriffe und Konturen einer Kulturgeschichte der Statistik Einleitung .......................................................................................................... 9 Axel C. Hüntelmann Konstruktion und Etablierung der Medizinalstatistik in Deutschland ca. 1850–1900 ................................................................................................ 23 Christa Kamleithner Kategorisierung und Zonierung Der Entwurf der modernen Stadt im Statistischen Bureau (1860–1910) ....... 51 Franziska Hupfer Regenmesser für den Staat Niederschlagsstatistik und Anwendungserwartungen in der Schweiz (1860–1920) .................................................................................................... 73 Wolfgang Göderle Volkszählung und moderner Staat Die Praxis des Zensus im späten Habsburgerreich am Beispiel der Zählung des Jahres 1869 ........................................................................... 99 Christina Rothen / Thomas Ruoss Wachstum und Redimensionierung. Von der Dynamik amtlicher Schulstatistiken im 19. und frühen 20. Jahrhundert ................................................................ 123 Lukas Boser / Michèle Hofmann Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. Die Konstruktion ‚des Schulkindes‘ durch die Statistik in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert................................................... 137
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Inhaltsverzeichnis
Theresa Wobbe Der internationale Wandel statistischer Repräsentationen der Arbeitswelt Vom nationalen Zensus um 1900 zur internationalen Vergleichbarkeit in der International Labour Organization (ILO) 1882–1938 ........................ 153 Hajo Frölich Leere Fragebögen, vollständige Balkendiagramme Bildungsstatistik und State Effect im spätkaiserlichen China 1905–1911 ... 173 Martin Bemmann Internationale und Weltwirtschaftsstatistik Beobachtungen, Überlegungen und Thesen zur Genese internationaler Wirtschaftsstatistik in den 1920er und 1930er Jahren .......... 195 Andrea Bréard 400 Millionen Globale Wirkungen einer mächtigen Zahl .................................................... 219 Heinrich Hartmann Gezähltes Verhalten Behavioralismus als statistisches Paradigma der Modernisierung zwischen den 1950er und 1970er Jahren ...................................................... 235 Autorinnen und Autoren ............................................................................... 257
VORWORT DER REIHENHERAUSGEBER Als die Alltagsgeschichte in den 1980er Jahren ihren Durchbruch erlebte, war sie weit mehr als die Entdeckung eines neuen Forschungsgegenstandes. Dass das Alltägliche überhaupt von Bedeutung sein sollte für eine Geschichtswissenschaft, die sich mit einflussreichen Ereignissen oder wirklichkeitsbedingenden Strukturen beschäftigte, war allein schon ein Skandal. Was sollte wichtig sein an all den kleinen Routinen des Alltäglichen, am immer wiederkehrenden Normalen und Durchschnittlichen, an Themen wie Wohnen oder Ernährung? Dass man sich gleichwohl in den 1980er Jahren zunehmend dafür zu interessieren begann, lag nicht zuletzt an den sich wandelnden Verhältnissen in der eigenen Gegenwart: Ölkrise und Umweltzerstörung lenkten den Blick auf die negativen Folgen einer Modernisierung als Industrialisierung, traditionelle Lebensformen in Ehe und Gemeinschaften lösten sich auf und wurden pluralisiert, klassische Dichotomien von Arm und Reich, Oben und Unten, Mann und Frau, Alt und Jung, Nord und Süd, Ost und West, Modern und Unmodern verloren ihren angestammten Platz als primärer Definitionsraum von sozialen Formationen. Die Welt war in Bewegung und das nicht primär auf der Ebene der großen Ideen und der Staats- und Wirtschaftsverfassungen, sondern auf jener des Alltäglichen. Die Buchreihe „Studien zur Geschichte des Alltags“ widmet sich diesem Themenkomplex seit 1983, als der erste Band unter dem Titel „Ehe, Liebe, Tod“ erschien. Hans Jürgen Teuteberg und Peter Borscheid begründeten die Reihe, deren Themenspektrum Alltag später von Clemens Wischermann und Stefan Haas immer wieder erweitert und ausgebaut wurde. Diese Weiterentwicklung geschah in einem wissenschaftlichen Umfeld, das sich insgesamt von der Alltagsgeschichte weg zu einer Neuen Kulturgeschichte entwickelte. Wurde der Alltagsgeschichte noch besonders von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft vorgeworfen, sie sei syntheseunfähig und theoriefeindlich, so war es gerade diese Ausweitung der Alltagsgeschichte zu einer Kulturgeschichte, die diese vermeintlichen Lücken schloss. Heute ist die Kulturgeschichte theorieaffiner als es die Strukturgeschichte jemals gewesen ist. Und ihr Blickwinkel ist weiter und bringt damit viel mehr zusammen, als es in der auf Max Weber basierenden Engführung der Bielefelder Schule jemals denkbar war. Vieles, was unter der Chiffre Alltagsgeschichte entwickelt wurde, findet sich in der Neuen Kulturgeschichte wieder: die Orientierung an ethnologischen und kulturanthropologischen Blickweisen und Fragestellungen, die damit verbundene Reflexion theoretischer und methodischer Zugriffsweisen, die Suche nach Synthese und umfassender Betrachtungsweise in begrenzten, vermeintlich ‚kleinen‘ Themen- und Gegenstandsfeldern, die Rückkehr der Subjekte. Anderes ist mit der Kulturgeschichte hinzugekommen oder hat sich weiterentwickelt: die Globalisierung
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Clemens Wischermann / Stefan Haas
der Betrachtungsweisen, die Beachtung von Transfer und Vergleich in transnationalen und transkontinentalen Kontexten, die breite Transdisziplinarität, die Pluralisierung von Narrativen und Erklärungsmustern. Dieser Weiterentwicklung von einer Alltags- zu einer umfassenderen Kulturgeschichte, den die Reihe inhaltlich längst vollzogen hat, wird nun Rechnung getragen durch eine Erweiterung der Herausgeber- und Herausgeberinnengruppe und des Reihentitels: Antje Flüchter (Bielefeld), Armin Owzar (Paris) und Aline Steinbrecher (Zürich) werden Mitherausgeberinnen und Mitherausgeber der Reihe. Aus den „Studien zur Geschichte des Alltags“ werden die „Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte“. Diese Erweiterung entspricht den allgemeinen Entwicklungen der Geschichtswissenschaft der vergangenen fast drei Jahrzehnte und auch der thematischen Entwicklung, die die Bände der Reihe durchlaufen haben. Die Reihe will aber nicht nur ein weiterer Ort zur Publikation von kulturhistorischen Studien sein. Sehr bewusst bleibt der Alltag im Reihentitel erhalten, denn nach wie vor gilt, dass eine Geschichtswissenschaft, die sich dem Alltäglichen nicht widmet und nur das Besondere thematisiert, wesentliche Aspekte menschlicher Lebenswirklichkeit aus dem Blick verliert. Auch Politik hat etwas Alltägliches, was gerade heute sichtbar wird, wo die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sich nicht nur auf große Entscheidungen richtet, sondern auf den kulturellen Rahmen bis hin zu Bekleidung und Verhaltensritualen und damit den Alltag, in dem Entscheidungen allererst entwickelt und vollzogen werden. Und auch Wirtschaft lässt sich nicht umfassend thematisieren, wenn nur Produktionszahlen, neue Absatzstrategien und Produktinnovationen thematisiert werden. Vielmehr muss der Alltag, in dem diese Entwicklungen stattfinden, in seiner Einflussnahme und in seiner Rahmung dieser Faktoren mit in den Blick kommen. Am Ende bleibt die Reihe damit bei aller Nähe zu postmoderner Theoriebildung auf das fokussiert, was Geschichte im Kern ausmacht: die sich immer wieder historisch wandelnden Versuche der Menschen, ihr Leben auch in schwierigen Situationen und unter widrigen Bedingungen zu meistern. Was Menschen tun, um dies zu erreichen, ist der Kern dessen, was in den „Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte“ verhandelt wird.
Konstanz/Göttingen im Sept. 2018
Clemens Wischermann/Stefan Haas
GRUNDBEGRIFFE UND KONTUREN EINER KULTURGESCHICHTE DER STATISTIK EINLEITUNG Nicolas Bilo / Stefan Haas / Michael C. Schneider Statistiken gehören zu den wirkmächtigsten Steuerungsinstrumenten in der modernen Welt. Sie bieten dem politisch-administrativen System wie der Wirtschaft eine vermeintlich verlässliche Datenbasis zur Beobachtung von Wirklichkeit und zur Generierung von Entscheidungen. So bedeutend ihre Funktion ist, so breit gestreut ist die Kritik, die ihnen entgegenschlägt. Zum einen gelten Statistiken als Ultima Ratio der Argumentation: Ob über Arbeitsmarktpolitik, Sinnhaftigkeit wirtschaftlicher Unternehmen oder gesellschaftliche Tendenzen berichtet wird – stets wird die Richtigkeit von Schlussfolgerungen mit Zahlen belegt. Zum anderen wird wenigen Aspekten moderner Vernunft derart skeptisch begegnet wie einer statistischen Beweisführung, gelten sie doch als manipulierbar, schwer zu durchschauen und abstrakt. Bisher sind Statistiken im Wesentlichen als sozialpolitisches oder sozioökonomisches Phänomen, in historischer Perspektive als Datengrundlage der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte thematisiert worden. Der vorliegende Band, der auf einer Tagung an der Georg-August-Universität Göttingen beruht, möchte diesen Blick um eine kulturhistorische Perspektive erweitern.1 Statistiken bilden eine (historische) Wirklichkeit nicht nur rational ab, sie tragen vielmehr durch Kategorisierung und Taxonomie von Daten zu einer spezifischen Konstruktion von Realität bei, ja mehr noch: Die Erhebung der Daten selbst basiert bereits auf vorgängigen Entscheidungen über die Realitätskonstruktion, die nicht immer offengelegt werden. Damit
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Solche Ansätze finden sich zunehmend auch in der neueren Literatur. Für das Habsburgerreich: Wolfgang Göderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016 sowie seinen Beitrag in diesem Band; für die Schweiz Hans Urlich Jost: Von Zahlen, Politik und Macht. Geschichte der schweizerischen Statistik, Zürich 2016; für Großbritannien Kerstin Brückweh: Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin 2015; für Preußen Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a. M. 2013. Explizit vorbereitet findet sich eine Kulturgeschichte der Statistik in: J. Adam Tooze: Die Vermessung der Welt. Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Wirtschaftsstatistik. In: Hartmut Berghoff und Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a. M. 2004, S. 325–351.
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Nicolas Bilo / Stefan Haas / Michael C. Schneider
schließt der Band an Konzepte an, die Statistiken als eine Kommunikationsstrategie definieren, die Vertrauen schafft und Expertise symbolisch codiert.2 Der Band verfolgt zwei Ziele: Erstens will er Statistiken als Medium moderner Politik und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse historisieren. Durch die Verortung im Kontext der Erfindung der Nationalstaaten und im transnationalen Vergleich soll untersucht werden, welche historischen Bedingungen für die Entwicklung und den Einsatz von Statistik Bedeutung hatte. Zweitens soll gefragt werden, wie Statistiken Realität repräsentieren und wie sie dadurch eine kulturelle Wirklichkeit erzeugen, die dann geschichtswirksam wird. Dazu umfasst der Band einen Zeitraum von der Einführung von Statistiken im 19. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Räumlich und kulturell will er sich nicht auf eine westliche Binnenperspektive verengen, sondern auch Platz für transkulturelle und transnationale Vergleiche anbieten. Schließlich gehen einige Aufsätze der Frage nach dem wachsenden Einfluss der Mathematisierung auf die verschiedenen Agenturen der Datenerhebung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und das Verschmelzen mathematisch-probabilistischer Methoden mit den herkömmlichen Praktiken der Datenauswertung nach. Kulturgeschichte ist ein Konzept, das nach einer Durchsetzungsphase in den 1990er Jahren mittlerweile breit etabliert ist. Es thematisiert die Praktiken und Strukturen der Generierung von Sinn und umfasst mittlerweile Ansätze zur Untesuchung materieller Gegebenheiten ebenso wie diskursiv medialer Formulierung von Bedeutungsstrukturen.3 In dieser Sichtweise wird Wissen immer auch als ein kulturelles Produkt angesehen, das durch spezifische Diskurs- und Handlungspraktiken menschliche Lebenswelt generiert. Statistiken werden insofern in diesem Band nicht als ein Abbild außerhalb menschlicher Wahrnehmung und medialer Verständigung stehender Fakten angesehen, sondern als Praktiken des Kategorisierens, Einordnens, Ausschließens etc. Insofern sind sie eine Repräsentanz von Welt, die immer auch bereits Interpretationen dieser Welt mit inkludieren. Statistiken machen Phänomene vergleichbar und voneinander abtrennbar. Sie setzen aber so viel Beziehung zwischen den jeweils behandelten Phänomenen voraus, dass sie „überhaupt als vergleichbar eingestuft werden“ können.4 Unter ‚Kulturgeschichte der
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Theodore M. Porter: Trust in Numbers. The pursuit of objectivity in science and public life. Princeton, N. J. 1995, bes. S. 33–37. Systemtheoretiksch überzeugend weiterentwickelt wird dieser Ansatz bei Bettina Heintz: Zahlen, Wissen, Objektivität. Wissenschaftssoziologische Perspektiven. In: Andrea Mennicken und Hendrik Vollmer (Hg.): Zahlenwerk. Kalkulation, Organisation und Gesellschaft. Wiesbaden 2007, S. 65–85. Aus gegenwärtiger Perspektive: Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017. Zusammengefasst bei Stefan Haas: Theory Turn. Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft. In: ders./Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 2015, S. 11–44. Bettina Heintz: Numerische Differenz. Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs. In: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 162–181, S. 164.
Grundbegriffe und Konturen einer Kulturgeschichte der Statistik
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Statistik‘ wird daher hier ein Konzept verstanden, das Statistiken als eine spezifische Wissenspraxis fasst, die Phänomene ordnet und kategorisiert, um damit Vergleiche sowie Ein- und Ausgrenzungen zu ermöglichen. Dadurch wiederum sind Statistiken Bestandteile komplexer Entscheidungsfindungs- und Kommunikationsprozesse. Die dazu nötigen Praktiken: Beziehungen herstellen, Relationen durch Kategorien abbilden und mittels Statistiken erstellte Vergleiche zu objektivieren, sind ein historisch vergleichsweise junges Phänomen.5 Daher ist es nicht verwunderlich, dass die moderne Statistik mit der Entstehung der modernen Verwaltungen parallel verläuft. Seit der Aufklärung verdichtete sich Verwaltung in Westeuropa und Nordamerika. Statistiken wurden zum unabdingbaren Werkzeug für den modernen Staat, dessen Effizienz von einer möglichst genauen Erfassung seiner Elemente abhing. Diese Tendenz lässt sich spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, verstärkt dann im 19. Jahrhundert nachweisen.6 Inwiefern diese Entwicklung auch im außereuropäischen Kontext eine Rolle spielte, wurde bisher kaum erforscht, ebenso wie die tatsächliche Rezeption der rasch wachsenden Datensammlungen durch die verschiedenen Verwaltungszweige noch ein Desiderat darstellt. Aber nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch in einer bürgerlichen Öffentlichkeit wurden gesellschaftspolitische Debatten zunehmend in statistischen Bahnen gedacht. Die Bedeutung, die die Statistik für die bürgerliche Gesellschaft hatte, zeigt sich nicht nur in der Entstehung von Vereinen seit Mitte des 19. Jahrhundert; sondern auch in der öffentlichen Aushandlung politisierter Felder wie beispielsweise Tarifkonflikten oder Maßnahmen zur Gesundheitspolitik. Der Einfluss der Statistik reicht über die Aushandlung von Politikfeldern hinaus. Statistik hat stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter. „Arbeitslosigkeit“ etwa ist eine soziale Kategorie, die erst durch die Einführung der Arbeitslosenstatistik als solche entstanden ist. Während es den Zustand des NichtArbeitens natürlich bereits vorher gab, zeichnet sich „Arbeitslosigkeit“ als statistisches Konstrukt z.B. zusätzlich durch eine Bestimmung der „Arbeitsfähigkeit“ aus und prägt damit sozialpolitische Debatten bis heute.7 Der Erfolg, den Statistik als Denkweise hat, lässt sich nur im Kontext eines Erfolges der rationalen Logik verstehen. Seit der Aufklärung hat sich die Vorstellung durchgesetzt, die Wirklichkeit sei in Statistiken vollständig abbildbar. Dieser Glaube geht zuweilen so weit, Statistik nicht nur als Abbild der Wirklichkeit, an sich schon eine starke Vermutung, sondern als Schlüssel zur Erfassung einer Wahr-
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Luhmann sah darin eine spezifisch moderne Praktik: vgl. zu dieser Diskussion Heintz, Numerische Differenz, S. 165–167. Lars Behrisch: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime, Ostfildern 2016. Bénédicte Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie, Frankfurt a. M. 2006. Zur Herausbildung der Kategorie der „Erwerbstätigkeit“ und den Versuchen ihrer internationalen Vereinheitlichung vgl. den Beitrag von Wobbe im vorliegenden Band.
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Nicolas Bilo / Stefan Haas / Michael C. Schneider
heit zu begreifen. Statistik ist damit mehr als eine Ausdrucksform, sie ist eine kulturelle Praxis, deren Bedeutung sich ideengeschichtlich und philosophisch untersuchen lässt. STAATLICHE STATISTIK In Deutschland sowie in den meisten europäischen Ländern und Nordamerika erfolgte der Bedeutungszuwachs der Statistik parallel zur und bedingt durch die Transformation der Staaten zu modernen Nationalstaaten und dem damit einhergehenden veränderten Verhältnis zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft.8 Statistische Erhebungen stellten dabei ein zentrales Moment der Wissensgenerierung über gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustände dar: Durch die Praxis des Quantifizierens vormals rein qualitativ gedachter Aspekte wurden flächendeckend spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts (manchmal schon vorher) soziale Tatbestände in zahlenmäßigen Verhältnissen beschrieben und dabei teilweise überhaupt erst als solche begriffen. Die staatliche Statistik fußte dabei auf den Statistiken, die bereits in kleineren Verwaltungseinheiten, Städten, Regionen und Gemeinden geführt wurden. Bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert finden sich vereinzelt Erhebungen, die sich als beschreibende Statistik verstehen lassen. Mit der Herausbildung von Nationalstaaten wurden diese ersten Statistiken erweitert und zentralisiert. So entstanden vor allem im 19. Jahrhundert staatliche Statistische Bureaus.9 Immer mehr Bereiche wurden von diesen statistisch erfasst. Zu den Kernaspekten der Erhebung gehören dabei die Bevölkerungsstatistiken. Geburtenrate, Mortalität und Eheschließungen gaben den erfassenden Behörden Auskunft über die Struktur der verwalteten Bevölkerung. Der amtlichen Statistik lag zunächst die Idee zu Grunde, Wissen über die Bevölkerung zu akkumulieren und diese dadurch zu verwalten. Der moderne Staat musste mehr denn je um die Beschaffenheit seiner Bevölkerung wissen. Handel, später auch Sozialsysteme und Wahlen bedingten eine detaillierte Kenntnis der sie betreffenden Bevölkerung. Die Statistik bot die Möglichkeit, diesem Erfordernis nachzukommen. Der zweite große Bereich staatlicher Erfassung ist der Handel. Gewerbe- und Landwirtschaftsstatistiken sowie Erhebungen über Steuer-, Verkehrsund Zollverwaltungsfragen wurden von den zentralisierten Behörden erfasst, vereinheitlicht und nach gemeinsamen Kriterien ausgewertet. Mit der Zunahme der Menge an Zahlen ging auch eine Zunahme der Personengruppen, die sich für diese interessierten, einher. Wie Lars Behrisch ausführt, verfolgte der Staat nicht nur das Interesse der Erfassung und Verwaltung seiner Bevölkerung. Ausgehend von ökonomischen Denkweisen begann er im 18. und 19., teils schon im ausgehenden 17. Jahrhundert, wirtschaftliche und demographische Daten zu erheben und in Zusammenhang zu bringen. Das Ziel war dabei zunächst nur die Erfassung. Im Laufe des 18. Jahrhunderts, 8 9
Vgl. Behrisch, Berechnung der Glückseligkeit, S. 32f. Vgl. für Preußen Schneider, Wissensproduktion.
Grundbegriffe und Konturen einer Kulturgeschichte der Statistik
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gewann aber auch die Idee der Steuerung zunehmend an Bedeutung: Die „Statistik begann, das Denken und Handeln der politischen Akteure zu beeinflussen“.10 Über die Statistik waren ökonomische Denkweisen in die Sphäre des Staates vorgedrungen. Und nicht zuletzt seine eigene Aktivität begann der Staat zunehmend aus einem statistischen Blickwinkel und den entsprechenden Werkzeugen wahrzunehmen.11 ZIVILE WISSENSPRODUKTION DURCH ZAHLEN Ein in der historischen Forschung etwas unterbelichteter Bereich ist der der zivilen statistischen Wissensproduktion. Denn neben der staatlichen Wissensproduktion in Zahlen gab es bereits früh, seit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, private Vereine und Organisationen, die sich statistischer Methoden bedienten. Zwar blieben die Diskurse in diesen Vereinen auf einen kleinen Kreis von Experten beschränkt, sie bildeten jedoch in methodologischer Hinsicht die Grundlage für die spätere staatliche Statistik und liefen, auch als die staatliche Anwendung der Statistik längst zur Norm geworden war, parallel zu ihr weiter.12 Im deutschsprachigen Raum gründeten sich private statistische Gesellschaften im 19. Jahrhundert oder gingen aus bereits bestehenden Vereinen hervor. Die Grenzen zu geographischen Gesellschafften waren dabei fließend.13 So benannte sich etwa der Geographische Verein zu Frankfurt am Main 1854 in Verein für Geographie und Statistik zu Frankfurt am Main um.14 Auch in anderen Städten und Regionen lassen sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts Vereinsgründungen beobachten. Nicht zufällig sind dabei vor allem Städte wie Lübeck oder auch Stettin (mit dem Verein für pommersche Statistik) vertreten. Die Hansestädte sammelten Daten zu Schifffahrt und Güterverkehr.15 Diese Vereine zeichnen sich dadurch aus, dass sie Material zu speziellen geographischen oder wirtschaftlichen Bereichen zusammentrugen und in eigenen Monographien veröffentlichten. Dabei stützen sie sich in der Regel auf bereits veröffentliche Sammlungen städtischer Bureaus, staatlicher Stellen oder auch von Zünften und Handelskammern. Umgekehrt gibt es auch Fälle, in denen Vereine Vorläufer staatlicher Institutionen waren. So gründete sich 1831 der Statistische Verein für das Königreich Sachsen, dessen erklärtes Ziel es war, „nicht allein den Forderungen 10 11 12 13
Behrisch, Berechnung der Glückseligkeit, S. 18. Vgl. dazu in diesem Band für eine spätere Epoche den Beitrag von Ruoss/Rothen. Vgl. auch Behrisch, Berechnung der Glückseligkeit, S. 21. Vgl. dazu auch Theodore Porter: The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton 1986, S. 25. 14 Und firmiert heute unter dem Namen ‚Frankfurter Geographische Gesellschaft e. V.‘; http://www.uni-frankfurt.de/45416557/FGG? (abgerufen zuletzt am 15. Sept. 2017). 15 Vgl. grundlegend Wolfram Fischer/Andreas Kunz (Hg.): Grundlagen der historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele, Opladen 1991. Zur Seestatistik Andreas Kunz: Quellen zur Statistik der deutschen Seeschiffahrt im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ebd., S. 223–238.
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Nicolas Bilo / Stefan Haas / Michael C. Schneider
der Wissenschaft der Statistik in ihrem weiteren Umfange zu entsprechen, sondern auch jedem Freunde der Vaterlandskunde die Mittel in die Hände zu geben, das Leben und Wirken im Staate beachten zu können“.16 Das fast zwanzig Jahre später gegründete Statistische Bureau des Ministeriums des Innern, dessen erster Leiter Ernst Engel war, führte die Arbeit dieses Vereins weiter.17 Ein Interesse an der Statistik als Grundlage für gesellschaftliche Fragestellung lässt sich durch vereinzelte Publikationen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts belegen. Dabei sind es vor allem Fragen der Bevölkerungswissenschaft im weitesten Sinne, für die sich entsprechende Publikationen finden. Im Bereich der jüdischen Statistik ist etwa die frühe Abhandlung Alfred Nossigs zu nennen, die siebzehn Jahre vor der insitutionellen Etablierung einer organisierten jüdischen Statistik stand.18 Im Wesentlichen verebbte das Interesse, das sich in den geographischen Gesellschaften gezeigt hatte, aber zunächst wieder. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts belebte sich auch die akademische Debatte. 1911 gründete sich die Deutsche Statistische Gesellschaft (DSG), die sich explizit nicht nur der Datensammlung und -aufbereitung, sondern auch der Weiterentwicklung statistischer Methoden verschrieb.19 Die Grenzen zur staatlichen Statistik sind freilich fließend: Der erste Vorsitzende der Gesellschaft, Georg von Mayr (1841– 1915) war zugleich Professor für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Statistik in München und Leiter des Königlichen Bayerischen Statistischen Landesamtes. Die DSG übernahm (und publiziert bis heute) das von von Mayr schon 1890 gegründete Allgemeine Statistische Archiv. Zusätzlich erschien in den Jahren zwischen 1914 und 1944 das Deutsche Statistische Zentralblatt, mit dem Ziel, in dieser zweiten Publikationsreihe breite Gesellschaftsschichten über Neuerungen auf dem Gebiet der Statistik zu informieren.20 Bis allerdings in den Wirtschaftswissenschaften statistische Methoden auf breiter Front vordrangen, dauerte es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.21 Seit dem 20. Jahrhundert bedienten sich auch Unternehmen statistischer Methoden und auch einer statistischen Sicht auf die Welt. Kerstin Brückweh hat diesen Übergang anhand der britischen Marktforschung thematisiert.22 Heute sind es vor
16 Mittheilungen des statistischen Vereins für das Königreich Sachsen. Erste Lieferung. Leipzig 1831, S. III. 17 Danny Weber: Die sächsische Landesstatistik im 19. Jahrhundert. Institutionalisierung und Professionalisierung, Stuttgart 2003. 18 Alfred Nossig: Materialien zur Statistik des jüdischen Stammes. Wien 1887. 19 Vgl. Almut Steger: Wie alles begann, in: Heinz Grohmann/Walter Krämer/Almut Steger (Hg.): Statistik in Deutschland. 100 Jahre Statistische Gesellschaft, Berlin 2011, S. 3–18. 20 Ebd., S. 17. 21 Vgl. Jan-Otmar Hesse: Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2010, S. 27–56; Philipp Lepenies: Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts, Berlin 2013; Daniel Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013. 22 Kerstin Brückweh: Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin/Boston 2015.
Grundbegriffe und Konturen einer Kulturgeschichte der Statistik
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allem große Unternehmen wie Google, Amazon oder Apple, deren Geschäftsmodelle sich zu einem erheblichen Teil auf das Vorhandensein von Massendaten stützen. Insofern Statistik immer auch Simplifizierung der Gesellschaft bedeutet, nutzen Unternehmen diese Simplifizierung nicht anders als Staaten – mit einem Unterschied: „for capitalists, simplification must pay“.23 SOZIALES/BEVÖLKERUNG Die statistische Erfassung der Bevölkerung gehörte überall dort, wo Staaten überhaupt auf Zahlen basierende Statistik betrieben, zu den frühesten Kernaufgaben der statistischen Ämter.24 Auch in dem in diesem Band vorgestellten Panorama statistischer Tätigkeit nimmt die Bevölkerungsstatistik in verschiedenen Ausprägungen nicht zufällig einen zentralen Raum ein. Diese fundamentale Bedeutung der Bevölkerungsstatistik hat mehrere Gründe: Zunächst bot die Erfassung der Bevölkerungsstärke eines Staates einen belastbaren Anhaltspunkt für die Einschätzung des Steueraufkommens sowie auch des militärischen Potentials. Sodann lassen sich Menschen – bei oberflächlicher Betrachtung – relativ einfach zählen. Und schließlich begann sich die entstehende Politische Ökonomie/Arithmetik als Wissenschaft früh für die Bevölkerungsentwicklung zu interessieren und aus den Befunden ökonomische Gesetzmäßigkeiten abzuleiten – Thomas Malthus und seine Theorie der Bevölkerungsentwicklung ist nur der bekannteste Name.25 Die ersten beiden Aspekte finden sich schon früh in verschiedenen Staatswesen, in China etwa schon im 14. Jahrhundert, in Japan dann Anfang des 18. Jahrhunderts.26 Wenn man unter „Statistik“ freilich nicht nur die listenmäßige Erfassung von Bevölkerungen für bestimmte Zwecke (z.B. für die Steuererhebung) versteht, sondern darüber hinausgehend die Vorstellung darunter fasst, dass ein Staat seine Bevölkerung, seine Wirtschaft und vieles mehr auf zahlenmäßiger Grundlage erfasst, um auf dieser Basis ein „statistisches“ Gesamtbild seiner selbst zu gewinnen, so greift diese Vorstellung erst seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Raum. Die vielen Steuerlisten, Kirchenbücher und weitere Register, die jeweils speziellen Zwecken der Staats- und Kirchenverwaltung dienten, waren in diesem Sinne noch keine „Statistik“.27 Einmal in der Welt, bot die Bevölkerungsstatistik zudem eine Reihe von Anknüpfungspunkten für ihre stetige, dynamische Differenzierung: Die Erfassung einer Grundgesamtheit von Menschen ermöglicht und erfordert zunächst einmal basale Klassifizierungen: Eine Sortierung in Geschlecht und Alter ist die am nächsten 23 James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven/London 1998, S. 8. 24 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 57–62. 25 Vgl. z.B. Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1998, S. 292–296. 26 Vgl. Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 58. Vgl. zu China im vorliegenden Band die Beiträge von Bréard und Frölich. 27 Vgl. Behrisch, Berechnung der Glückseligkeit, S. 27.
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liegende. Dann aber kommen prinzipiell (und kamen historisch) rasch weitere Klassifizierungsmöglichkeiten hinzu: Etwa die Konfession28, Bildungsabschlüsse29 oder der Beruf – beides wiederum Kategorien, die in sich nahezu unendlich ausdifferenzierbar waren und sind. Diese Dynamik einer stetigen Ausdifferenzierung der Bevölkerungsstatistik setzte ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts ein.30 Ob sich dieser Prozess systemtheoretisch als „Autopoiesis“ fassen lässt, sei hier dahingestellt.31 Unstrittig ist aber, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest in Europa sich diese Erfassung in Verbindung mit immer weitergehender Klassifizierung mit der Hoffnung verband, grundlegende Probleme der sich industrialisierenden Gesellschaften zunächst mit Hilfe der Statistik zu identifizieren, die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und sie dann auch zu bewältigen – insbesondere die „soziale Frage“ oder, eng damit verbunden, Probleme der öffentlichen Gesundheit.32 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewann diese Entwicklung dann an Fahrt, nicht zuletzt aufgrund der Gründung einer Reihe von statistischen Ämtern in verschiedenen Staaten, die immer mehr Daten zur Verfügung stellten. Die Kontexte waren dabei ganz unterschiedlich: Während in den deutschen Staaten der Zollverein eine wichtige Rolle spielte, da die Zolleinnahmen nach Maßgabe der Bevölkerungsstärke verteilt wurden, war in Großbritannien die öffentliche Gesundheit ein wichtiges Movens, um aus den seit 1801 regelmäßig alle zehn Jahre abgehaltenen Zensusdaten Aufschlüsse über Fragen wie Lebenserwartung und Sterblichkeit zu gewinnen.33 Generell die Verbreitung von Krankheiten und ihren Ursachen mit bevölkerungsstatistischen Methoden in den Griff zu bekommen, war ein zentrales Interesse jedes Staates; daher verwundert es nicht, dass mit der allmählichen Etablierung von Bevölkerungsstatistiken häufig auch medizinalstatistische Daten in unterschiedlicher Intensität erhoben wurden.34 Dabei interessierten sich nicht nur Staaten, sondern auch große Städte seit dem frühen 19. Jahrhundert für ähnliche Fragen.35 Über die konkreten gesundheitspolitischen Fragen hinaus beförderte dieses Vorgehen auch die Vorstellung von einer Gesellschaft als ganzer, die einen bestimmten Gesundheitszustand aufwies. Aber nicht nur von staatlicher Seite wurde die statistische Erfassung der Bevölkerung vorangetrieben; zumindest zeitweise wurden die europäischen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 28 Michael C. Schneider: Zahlen und Bekenntnisse – die preußische Konfessionsstatistik vor dem „Kulturkampf“, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35 (2007), S. 25–44. 29 Vgl. zur Schulstatistik den Beitrag von Rothen/Ruoss sowie jenen von Boser/Hofmann im vorliegenden Band. 30 Behrisch, Berechnung der Glückselighkeit, S. 28. 31 Schneider, Wissensproduktion. 32 Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg/New York 2005; Simon Szreter: Fertility, Class and Gender in Britain 1860– 1940, Cambridge 1996; Porter, Rise of statistical thinking, S. 18–70. 33 Vgl. Szreter, Fertility; Brückweh, Menschen zählen. 34 Dazu ausführlich der Beitrag von Hüntelmann im vorliegenden Band; der Beitrag von Boser/Hofmann zeigt zugleich, wie sich verschiedene statistische Felder – in ihrem Fall die Schulstatistik – mit der Medizinalstatistik verbinden konnten. 35 Vgl. zum Berliner Beispiel den Beitrag von Kamleithner in diesem Band.
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nachgerade von einem „statistischen Enthusiasmus“ erfasst, der sich in der Gründung von Fachgesellschaften und Erhebungsunternehmen niederschlug.36 Wenn die Statistik immer mehr Eigenschaften der Individuen zu erfassenswerten Merkmalen erhob, dann waren einerseits all diese zusätzlichen Kategorien zweifellos Repräsentationen von wirklichen Eigenschaften der Menschen, andererseits aber konstruierten sie zugleich neue Entitäten in ihrer quantitativen Dimension. So konnte erst durch die Erhebung von „Beruf“ und „Konfession“ ein Bild von den Anteilen der Konfessionsangehörigen an verschiedenen Berufsgruppen entstehen, und erst so konnte im späten Kaiserreich der Eindruck entstehen, dass z.B. Juden in akademischen Berufen stärker vertreten waren als es ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Und erst auf diese Weise trug die Statistik dazu bei, ein „Problem“ zu formulieren, das dann vom politischen Prozess aufgegriffen werden konnte.37 Somit gewann die Statistik auf der Grundlage ihrer Kategorienbildung eine eigenständige Wirkungsmacht und konnte politische Entscheidungen zumindest vorprägen.38 Vielleicht kam sogar die Vorstellung, Teilbereiche der Gesellschaft müssten in jeder Hinsicht der Merkmalsverteilung in der Gesamtgesellschaft entsprechen, überhaupt erst mit der Statistik in die Welt. War die Statistik einmal etabliert und auf wiederholte Zählungen ausgerichtet, kam eine dynamische Komponente hinzu und prägte die Problemwahrnehmungen der Gesellschaft: Veränderungen der schieren Bevölkerungsgröße wurden sichtbar, dann auch Veränderungen in ihrer Zusammensetzung, sei es mit Blick auf das Alter oder die Geschlechterverteilung, sei es mit Blick auf Kategorien wie die Berufe, die Sprachen (und damit indirekt die ethnische Zusammensetzung einer Bevölkerung) oder die Konfessionen. Diese Dynamiken konnten sowohl als förderungswürdige, aber auch als bedrohliche Trends interpretiert werden. Dies insbesondere auch dann, wenn eine international vergleichende Perspektive hinzukam: Denn natürlich beobachteten die statistischen Beobachter auch einander genau, das heisst, sie nahmen natürlich die Ergebnisse der statistischen Ämter anderer Staaten wahr, sei es durch den Austausch von Publikationen, sei es durch die Teilnahme an den Internationalen Statistischen Kongressen.39 Diese dynamische Komponente, wonach sich das zu Messende stark veränderte, stellte jede Statistik vor ein prinzipielles Dilemma: Die Kategorien mussten einerseits stabil bleiben, um die Veränderungen überhaupt intertemporal sichtbar werden zu lassen. Bei Berufszählungen in einer sich dynamisch zu einer Industriegesellschaft hin entwickelnden Gesellschaft wie der deutschen beispielsweise, in der laufend Berufe verschwanden und andere neu hinzukamen, hatte dies aber zur Folge, dass die Messinstrumente (hier die Kategorien) immer ungenauer wurden, und mit ihnen auch die Zählungen. Dies war ein methodisches Problem, das die 36 37 38 39
Desrosieres, Politik der großen Zahlen, S. 194 f. Schneider, Wissensproduktion, S. 377–383. Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 62. Nico Randeraad: States and Statistics in the Nineteenth Century. Europe by Numbers, Manchester/New York 2010; ders: The International Statistical Congress (1853–1876). Knowledge Transfers and their Limits, in: European History Quaterly 41 (2011), S. 50–65.
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Statistik zunächst einmal erkennen und dem sie sich auf die eine oder andere Weise stellen musste.40 Zugleich war die Statistik immer auch ein Experimentierfeld für neue Methoden: War das im 19. Jahrhundert z.B. das eigenständige Ausfüllen der Fragebögen durch die Befragten selbst und nicht mehr durch die Zähler, so ermöglichten es seit der Wende zum 20. Jahrhundert neue elektromechanische Maschinen (HollerithMaschinen), vielfältige Korrelationen von verschiedenen Merkmalen eines Merkmalsträgers herzustellen und Massendaten hierzu auszuwerten.41 Seither werden in immer größerer Intensität Auswertungen von immer umfassenderen Datenbeständen möglich und praktiziert, während die Folgen für moderne Gesellschaften sich erst allmählich abzeichnen.42 Und schließlich zeigt Heinrich Hartmann, wie sich die Bevölkerungsstatistik mit Wissenschaften wie der Verhaltenspsychologie verbinden konnte, um neue Steuerungspotentiale der Statistik zu erschließen.43 WIRTSCHAFT Eng verwandt mit der Bevölkerungsstatistik ist die Wirtschaftsstatistik, was schon aus ihrem Entstehungskontext heraus einleuchtet: Insofern die Bevölkerungszählungen spätestens seit dem 18. Jahrhundert primär dazu dienten, die Ressourcen eines Herrschaftsgebietes genauer auszumessen, so liegt hier ein unmittelbarer Bezugspunkt zu jenem Bereich der Statistik, der sich später als „Wirtschaftsstatistik“ ausdifferenzierte. Lars Behrisch hat zuletzt überzeugend herausgearbeitet, worin die Spezifik dieser Art von Bevölkerungs- und Wirtschaftsstatistik bestand: Am frühesten im England des späten 17. Jahrhunderts manifestiert, entwickelte sich ein Interesse an Statistik, das über den jeweiligen Einzelfall einer Erhebung hinausreicht und die in verschiedenen Entstehungskontexten erhobenen Daten z.B. zur Außenhandelsstatistik oder zur Geburtenstatistik neu kombinierte, um auf einer höheren Aggregatebene zu Erkenntnissen zu gelangen, die den einzelnen Listen oder Zusammenstellungen nicht zu entnehmen waren.44 Die Wirtschaftsstatistik bemühte sich, sowohl die Ressourcen (Menschen, Boden, Einrichtungen) als auch die wirtschaftlichen Tätigkeiten und ihre Ergebnisse zu erfassen. Mehr noch: Diese Bemühungen richteten sich letztlich darauf, die Wirtschaft eines Staates als ein zu steuerndes Ganzes aufzufassen. Mit den nötigen Kenntnissen versehen, würde der Staat in der Lage sein, die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen, so die Hoffnung z.B. im Frankreich des späten Ancien Régime. Im 18. Jahrhundert war diese Vorstellung noch nicht mit dem Gedanken wirtschaftlichen Wachstums verbunden, 40 Dies ist auch im 20. Jahrhundert ein ernstes Problem, wie Kerstin Brückweh anhand des Zensus für Großbritannien gezeigt hat: Brückweh, Menschen zählen, S. 277–318. 41 Nach den USA auf dem europäischen Kontinent erstmals verwendet in der Habsburgermonarchie, vgl. Göderle, Zensus; sowie Margo J. Anderson: The American Census. A Social History, New Haven/London 1988. 42 Mau, Das metrische Wir. 43 Vgl. den Beitrag von Hartmann in diesem Band. 44 Behrisch, Berechnung der Glückseligkeit, S. 37.
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sondern richtete sich primär darauf, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen und so – im Sinne des Merkantilismus – die Macht des Staates zu stärken.45 Parallel hierzu hat eine Vielzahl von Staaten und Hafenstädten schon früh damit begonnen, den überseeischen Handel in unterschiedlich ausgeprägter Detailtreue zu erfassen.46 Die Geschichte der Wirtschaftsstatistik des 19. Jahrhunderts ist zwar noch nicht so gut erforscht wie die des 20. Jahrhunderts; immerhin lassen neuere Forschungsergebnisse für Preußen erkennen, dass die Erfassung eines komplexen Gebildes wie der „Wirtschaft“ mit erheblichen Problemen konfrontiert war, was die Verläßlichkeit der Zahlen anging – vor 1870 sind Hoffmann zufolge mindestens zwei Drittel der berufsstatistischen Daten in Preußen für heutige Untersuchungen praktisch unbrauchbar.47 Daher liegt eine noch offene und vielleicht wichtigere Frage darin, was die interessierten Behörden oder auch die interessierte Öffentlichkeit letztlich mit den produzierten Zahlen anfingen, wie überhaupt die Frage nach dem Einsickern des statistischen Denkens in gesellschaftliche Argumentationsprozesse erst in Ansätzen gestellt ist. Und obwohl manche Protagonisten der historischen Schule der Nationalökonomie wie insbesondere Gustav Schmoller auch Berührungspunkte zur amtlichen Statistik aufwiesen (während seiner Ausbildung hatte er im Württembergischen Statistischen Büro gearbeitet)48, so dauerte es in Deutschland doch bis nach dem Ersten Weltkrieg, dass sich die Wirtschaftsstatistik und die ökonomische Theoriebildung aufeinander zubewegten. Denn in diesen Jahren nach 1918 wurde vor dem Hintergrund von Krieg, Inflation und dann insbesondere der Weltwirtschaftskrise deutlich, dass eine Wirtschaftsstatistik mehr leisten können mußte als eine bloße Erfassung von Daten: In Deutschland beispielsweise versuchte der Direktor des Statistischen Reichsamts, Ernst Wagemann, auch eine umfassende Theorie der wirtschaftlichen Abläufe anzubieten.49 Auf dem Feld der Wirtschaftsstatistik berühren sich mithin die Dimensionen der datenproduzierenden staatlichen Verwaltung und der Wissenschaften, die auf der Grundlage dieser Daten versuchten, ein kohärentes Bild von den ökonomischen Zuständen und Prozessen zu erzeugen – bis hin zur Reduktion dieser Prozesse auf die Kennziffer des Bruttoinlandsprodukts.50 Zunehmend gerät für das Feld der Wirtschaftsstatistik jetzt auch die globale Dimension in den Blick. Hier erweitert sich die reine Wirtschaftsstatistik-Geschichte zu einer Wissensgeschichte der Wirtschaftsstatistik, insofern Historiker wie Speich-Chassé nach den Berührungspunkten von Zahlenproduktion und wissenschaftlichen Konzepten fragen, die ihrerseits 45 Behrisch, Berechnung der Glückseligkeit. 46 Vgl. Loïc Charles/Guillaume Daudin (Hg.): Eighteenth–Century International Trade Statistics. Sources and Methods (Revue de l’OFCE 140), Paris 2015. 47 Frank Hoffmann: „Ein den thatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild nicht zu gewinnen“. Quellenkritische Untersuchungen zur preußischen Gewerbestatistik zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung, Stuttgart 2012. 48 Knut Borchardt: „Schmoller, Gustav von“ in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 260– 262. 49 J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The making of modern economic knowledge, Cambridge [u.a.] 2007. 50 Lepenies, Macht der einen Zahl.
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wieder politische Prozesse nachhaltig prägten und dann auch Konzepte wie „globale Ungleichheit“ überhaupt erst zu formulieren ermöglichten.51 Freilich setzen die Bestrebungen, eine „Weltwirtschaftsstatistik“ zu entwickeln nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, sondern schon in der Zwischenkriegszeit, wie Martin Bemmann zeigen kann.52 Aber auch Messvorgänge, die sich zunächst auf die außerwirtschaftliche Welt bezogen, konnten eine ökonomische Dimension annehmen, wie der Beitrag von Hupfer anhand der landwirtschaftlichen Implikationen der schweizerischen Niederschlagsmessungen zeigt.53 Hier wird deutlich, dass eine Wissensgeschichte der Statistik die Kategorien der „Wissenschaft“ und der „Ökonomie“ in ihrem Zusammenhang untersuchen muss, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. STATISTIK ALS NORMIERENDES WERKZEUG Wenn wir heute von Statistik sprechen, meinen wir ein gleichermaßen mathematisches wie soziologisches Instrument. Ganz selbstverständlich ziehen wir zwei Aspekte zusammen, die keineswegs immer zusammengehörten. Vielmehr fließen, wie etwa Desrosières belegt, unterschiedliche Traditionsstränge in der modernen Statistik zusammen. In dieser Herleitung steckt ein wesentliches Argument, dass zum Verständnis der Funktionsweise der Statistik beiträgt. Statistik ist in zweierlei Hinsicht vereinfachend: Als Betrachtungsweise ist sie notwendig vergröbernd, als mathematische Methode per se einer abstrahierenden Logik unterworfen. Die ersten Ansätze einer Statistik lassen sich in Deutschland finden. Hier ist es vor allem Gottfried Achenwall (1719–1772), der sich um die Verwissenschaftlichung einer beschreibenden Disziplin bemühte. Statistik in diesem Sinne war zunächst die Beschreibung des States anhand definierter Merkmale. Diese Beschreibung fand nicht zwingend in Zahlen statt. Die ersten Kreuztabellen bestanden teilweise aus Wörtern. Pro Zeile werden in solch einer Tabelle möglichst umfassend die Eigenheiten eines Staates aufgeführt. Das konnten die auch heute noch geläufigen Rahmendaten wie Bevölkerungszahlen, Mortalitätsziffern oder auch Klimadaten sein. Prinzipiell erlaubt die Darstellung aber die Erfassung jedes Merkmals. Die Ausprägung eines gegebenen Merkmals kann durch ein Adjektiv (Klima: sonnig) oder durch eine Zahl (Bevölkerung: 80 Millionen) dargestellt werden. Für ein und dasselbe Merkmal sind auch beide Varianten denkbar (Klima: 15° C Durchschnittstemperatur; Bevölkerung: Viele). Durch das Übereinanderschreiben verschiedener Staaten entstehen Spalten. Die entstandene Tabelle lässt sich dann zeilenweise lesen oder spaltenweise vergleichen, wobei beide Betrachtungsweise sinnvoll sind.54 51 Daniel Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013. Die konkrete Produktion der Daten in den statistischen Ämtern behandelt Speich Chassé allerdings ebensowenig wie Lepenies. 52 Vgl. den Beitrag von Martin Bemmann in diesem Band. 53 Vgl. den Beitrag von Franziska Hupfer ebd. 54 Vgl. Desrosiers, Politik der großen Zahlen, S. 26.
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Erst Achenwalls Nachfolger auf dem Göttinger Lehrstuhl, August Ludwig von Schlözer (1735–1809) propagierte die Verwendung der Zahl statt verbalisierender Merkmalsausprägungen. Mit der Leserichtung der Tabelle korrespondieren zwei Grade der Abstraktion und Normierung. In der zeilenweisen Betrachtung wird vom konkreten Staat zugunsten einer, in endlich vielen Merkmalen beschriebenen, Repräsentation abstrahiert. Dies ist das eine Merkmal der Normierung, das auch für eine mathematische Statistik noch Relevanz hat. Das zweite Merkmal wird im spaltenweisen Lesen der Tabelle deutlich. Anstatt einen Staat anhand der Merkmale zu beschreiben, wird ein Merkmal für verschiedene Staaten beschrieben. Dadurch entsteht notwendig ein Vergleich zwischen den Staaten. Die Merkmalsausprägung als Zahl erleichtert diesen Vergleich.55 In einem nächsten Schritt bringt die Mathematik eine spezifische Ordnung der bezeichnenden Symbole, also der Zahlen mit: der Kalkül. Gemeinsam mit dem sich herausbildenden Ideal der Vernunft entstand im 17. Jahrhundert der Kalkül als höchste Form der Axiomatisierung. Bereits die Verwendung der Zahl als von dem zu zählenden Gegenstand abstrahierendes Medium entspricht einer spezifischen Kulturtechnik.56 Das spezifische Merkmal der Konzeption moderner Mathematik ist eine weitere Realabstraktion. Nicht nur die Zahl wird vom zu Zählenden abstrahiert, auch die formallogischen Operationen, folgen einem abstrakt definierten Symbolenkalkül und nicht der Logik der Signifikate. Sybille Krämer bezeichnet dies als Akzentverschiebung, „die so charakterisiert werden kann, daß nicht mehr die Dinge den Zeichen ihre Bedeutung verleihen, vielmehr die Zeichen die Dinge als epistemische Gegenstände erst konstituieren“.57 Der operative Symbolgebrauch, die Kalkülisierung mathematischer Logik bedeutet nicht nur Formalisierung der Ausdrucksweise, sondern insbesondere eine Neuinterpretation der Möglichkeit von Sprache. „Der Kunstgriff des operativen Symbolismus besteht darin, Sprachen nicht einfach als Darstellungs-, sondern als Operationsmittel, d.h. als Technik zu gebrauchen.“58 Auch wenn es Ausnahmen gibt und die ersten Ansätze und Versuche der Fehlerberechnung bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen:59 Es sollte, vor allem im deutschsprachigen Raum, bis in das zwanzigste Jahrhundert dauern, bis die mathematische Statistik und die Statistik als Staatsbeschreibung auf breiter Basis zuei-
55 Ebd. 56 Vgl. dazu die Ausführungen Coys zur Entstehung der Zahl als abstrahierendes Element: Wolfgang Coy: Rechnen als Kulturtechnik, in: Jochen Brüning/ Eberhard Knobloch (Hg.): Die mathematischen Wurzeln der Kultur. Mathematische Innovationen und ihre Folgen, München 2005. S. 43–64. 57 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 1991, S. 5. 58 Ebd., S. 93; im Original kursiv. 59 Lorenz Krüger/Lorraine J. Daston/Michael Heidelberger (Hg.): The Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas in History, Cambridge, Mass./London 1987; Lorenz Krüger/Gerd Gigerenzer/Mary S. Morgan (Hg.): The Probabilistic Revolution Bd. 2: Ideas in the Sciences, Cambridge, Mass./London 1987.
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nander fanden. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts, teilweise schon früher, entwickelte die Mathematik Methoden der komplexen Berechnung von Wahrscheinlichkeit. Doch es sollte bis in die späten 1920er Jahre dauern, bis die Wahrscheinlichkeitsrechnung in der gleichen Art systematisiert wurde wie die anderen Bereiche der Mathematik.60 Und auch dann wurde die Verbindung mathematischer und staatswissenschaftlicher Sichtweise keineswegs von allen Seiten gern gesehen. Noch 1922 verwahrte sich Georg von Mayr gegen ein Referat mit dem Titel „Mathematik und Statistik“.61 Erst in dieser Zeit, also den 1920er und 1930er verband sich die deskriptive mit der mathematischen Statistik. Diese Verbindung lässt sich auch interpretieren als die Verbindung von deutscher und britischer Tradition. Im Königreich war schon viel früher Statistik auch Wahrscheinlichkeitsrechnung. Vor allem in der Versicherungsmathematik und der Berechnung von Spielchancen wurde das Risiko mit probabilistischen Modellen berechnet.62 Viel weniger als in Deutschland war die Statistik hier Nationalökonomie. Sprechen wir von Statistik im 18. und 19. Jahrhundert, vor allem im deutschsprachigen Raum, so ist damit fast ausschließlich die deskriptive Statistik gemeint. In diesem Sinne ist Statistik zweierlei: Normierendes Instrument der Verwaltung und Beschreibung und Strategie im politischen Diskurs. Nur in Ansätzen ist sie einer weiteren Form der Normierung unterworfen: Der mathematischen Logik. Im zwanzigsten Jahrhundert ändert sich dies: Statistik beschrieb nicht mehr nur, sondern folgerte von den erhobenen Daten auf Zusammenhänge und Umstände, die jenseits der Daten lagen. Der Band will daher mit seiner thematischen Vielfalt zeigen, wie sich im Verlauf vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur die Gegenstandsbereiche der amtlichen und privaten Statistik veränderten und ausweiteten, sondern auch, wie sich der Umgang mit Massendaten veränderte und auf die Gesellschaft zurückwirkte.
60 Zentral hierfür war das der Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung des russischen Mathematikers Kolmogorow: Andrei Nikolajewitsch Kolmogorov: Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Berlin 1933. 61 Jürgen Winkler: Die Deutsche Statistische Gesellschaft in der Weimarer Republik und während der Nazidiktatur. In: Grohmann u.a. (Hg.): Statistik in Deutschland. S. 19–39. 62 Vgl. Lorraine Daston: Rational Individuals versus Laws of Society. From Probability to Statistics, in: Daston u. a. (Hg.): Probabilistic Revolution (Bd. 1). S. 295–304.
KONSTRUKTION UND ETABLIERUNG DER MEDIZINALSTATISTIK IN DEUTSCHLAND CA. 1850–1900 Axel C. Hüntelmann Der Beitrag diskutiert die Bemühungen zur Etablierung der Medizinalstatistik in Deutschland zwischen 1850 und 1900. Von einer Medizinalstatistik versprach sich die Ärzteschaft Informationen, um Aufschluss über die Ursache und Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu gewinnen. Überdies wurde Herrschaftswissen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung eines Territoriums generiert, das die Grundlage biopolitischer Entscheidungen bildete. Beim Aufbau der Medizinalstatistik traten zahlreiche Schwierigkeiten auf, die in dem Beitrag analysiert werden. Die Aufgabe von Prinzipien einer vollständigen Erfassung zugunsten eines pragmatischen Vorgehens und die Bildung einer institutionellen Infrastruktur bildeten die Voraussetzung zur Etablierung einer reichsweiten Medizinalstatistik. The article discusses the efforts to establish medical statistics in Germany between 1850 and 1900. The medical profession expected of medical statistics to obtain information about the causes and the spread of contagious diseases. Moreover, statistics produced governmental knowledge about the state of health of the population of a territory that provided the basis for biopolitical decisions. Yet establishing medical statistics ran into numerous difficulties that are analyzed. As a precondition for the successful establishment of a nationwide medical statistics it is argued that the endeavour of a complete collection of data had been given up in favour of a pragmatic approach, and that an institutional infrastructure had been established. Resigniert gab Friedrich Wilhelm Beneke1 im November 1869 die Auflösung des „Vereins für gemeinschaftliche Arbeiten zur Förderung der wissenschaftlichen
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Friedrich Wilhelm Beneke (1824–1882), war u.a. Professor für pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie in Marburg und publizierte vor allem auf dem Gebiet der öffentlichen Hygiene, siehe den Eintrag in der Allgemeinen Deutschen Biographie, Bd. 46, S. 355.
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Heilkunde“ bekannt.2 Was als hoffnungsvolles Unternehmen 17 Jahre zuvor begonnen hatte3, endete enttäuschend; der Verein konnte den Erwartungen nicht entsprechen. Eine Aufgabe, die sich die Mitglieder des Vereins vorgenommen hatten, war die Erstellung einer medizinischen Statistik gewesen, mittels derer Informationen über die Verbreitung von Krankheiten, die Lebensdauer der Bewohner an verschiedenen Orten gesammelt werden sollten, um die ursächlichen Momente für die auftretenden Krankheitsformen zu ermitteln.4 Einen ähnlichen Eindruck über den desolaten Zustand der medizinischen Statistik in Deutschland konnte man Anfang der 1870er Jahre gewinnen, wenn man die vom Reichskanzleramt angeforderten Berichte der Regierungen der Einzelstaaten über bestehende medizinalstatistische Einrichtungen auf ihrem Staatsgebiet las5: Während kleine Staaten überhaupt keine medizinalstatistischen Daten erhoben, konnte nur das Großherzogtum Baden auf längere Erfahrungen bei der Erstellung einer umfassenden Medizinalstatistik zurückblicken.6 Einige Bundesstaaten hatten zwar punktuell für einzelne Jahre eine medizinische Statistik erstellt, diese jedoch nicht kontinuierlich über einen längeren Zeitraum fortgesetzt oder es wurden medizinische Daten über eine längere Dauer nur zu einzelnen Krankheiten oder zu eingegrenzten räumlichen oder fachlichen Gebieten erhoben.7
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Vgl. Friedrich Wilhelm Beneke: Zur Geschichte der Associationsbestrebungen auf dem Gebiete der wissenschaftlichen und praktischen Heilkunde, Marburg 1870, S. 3. Vgl. ders.: Mittheilungen und Vorschläge betreffend die Anbahnung einer wissenschaftlich brauchbaren Morbilitäts- und Mortalitäts-Statistik für Deutschland als eines Mittels zur wissenschaftlichen Begründung der Aetiologie der Krankheiten, Oldenburg 1857. Vgl. Beneke, Geschichte, S. 41. Vgl. die zwischen August und November 1873 eingereichten Berichte der Einzelstaaten im Bundesarchiv Berlin (fortan BAB), R 1401/1021–1023. Vgl. den Bericht Badens im BAB, R 1401/1022. Die vom badischen Innenministerium herausgegebenen „Beiträge zur Statistik der inneren Verwaltung des Großherzogthums Baden“ umfassten unter anderem die Bevölkerungsbewegung und die Medizinische Statistik der Jahre 1852–1855 (Heft 2) und 1856–1863 (Heft 18) sowie eine Statistik der Heil- und Pflegeanstalt Illenau nebst Anhang. Eine separate Publikation stellte die 1871 veröffentlichte Statistik über den Zustand des Medizinalwesens im Großherzogtum Baden im Jahre 1869 dar. Beispielsweise hatte Preußen 1851 Erhebungen über einzelne Krankheiten angestellt, jedoch kam die Anzeigenpflicht seit einer Reihe von Jahren nicht mehr zur Anwendung. 1869 hatte man erstmals eine Krankenhausstatistik erstellt. In seinem Bericht listete das preußische Kultusministerium 1873 folgende Statistiken auf: 1. einen regelmäßigen summarischen und namentlichen Nachweis der Medizinalpersonen; 2. einen summarischen Nachweis der in den öffentlichen und privaten Irren- und Pflegeanstalten behandelten Patienten und Patientinnen; 3. eine Statistik der Blinden und Taubstummen; 4. eine Schutzpocken-Statistik; 5. eine Statistik der Selbstmorde; 6. eine Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik für Cholera und Pocken; 7. eine Krankenhaus-Statistik; und 8. eine allgemeine Mortalitätsstatistik für Berlin, vgl. den Bericht des MGUMA, BAB, R 1401/1023. Zudem wurden im Rahmen der Bevölkerungsstatistik medizinische Daten erhoben, die teilweise ausgewertet und in den 1870er Jahren als gesonderte Bände der Preußischen Statistik veröffentlicht wurden. Zur Geschichte des Preußischen Statistischen Bureaus siehe Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a. M. 2013.
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Beneke veröffentlichte seine „Geschichte der Associationsbestrebungen“ jedoch nicht, um das Scheitern der Vereinsarbeit zu beklagen oder um „den Mitgliedern des Vereins einen letzten Rechenschaftsbericht“ zu geben, sondern „wesentlich in dem Wunsche, dass die Erfahrungen“ und Fehler der Vergangenheit von „Nachfolgern vermieden“ und Hindernisse in der Zukunft frühzeitig erkannt werden würden.8 Und in der Tat schöpfte Beneke schon wenige Monate später Hoffnung, dass medizinische Reformen eingeleitet und seine Arbeiten fortgesetzt und in der „Geschichte der Hygiene Deutschlands“ ihren „Werth behalten“ würden. In einem Nachtrag am Ende des Bandes berichtete Beneke von einer an den Reichstag des Norddeutschen Bundes gerichteten Petition zur Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege in Deutschland, in der die Bildung von lokalen Gesundheitsausschüssen und die Gründung einer Zentralbehörde gefordert wurde, deren Hauptaufgabe die „Erhebung einer fortlaufenden Statistik der Gesundheits- und Sterblichkeitsverhältnisse“ sein solle und die Erstellung ausführlicher Berichte über den Gesundheitszustand der Bevölkerung.9 Man könnte die Erzählung mit der Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes 1876 als der obersten zentralen Medizinalbehörde des Deutschen Reiches, wie sie in der Petition gefordert wurde, fortsetzen und den anschließenden Aufbau einer reichsweiten Medizinalstatistik als eine Erfolgsgeschichte der medizinischen Statistik in Deutschland schreiben. Allerdings stellt sich die Frage, warum Beneke die Unternehmung des Vereins als gescheitert erklärte, oder warum es keine überregionale oder über einen längeren Zeitraum fortgeführte Medizinalstatistik in Deutschland gab? Dies führt zu den Fragen, welchen wissenschaftlichen Stand die medizinische Statistik am Ausgangspunkt der Untersuchung hatte, wie sich die medizinische Statistik im Verlauf des Untersuchungszeitraumes entwickelt hat, welche Hoffnungen Beneke und andere Mediziner mit einer medizinischen Reform und dem Aufbau einer Medizinalstatistik verbanden, und was eine medizinische Statistik leisten sollte? Nachfolgend wird der historische Forschungsstand zur Medizinalstatistik mit den wesentlichen Argumenten kurz referiert. Daraufhin werden der Stand und die Ausgangslage der Medizinalstatistik bis 1870 kurz umrissen und in einem weiteren Abschnitt erörtert, was man überhaupt unter einer Medizinalstatistik verstand: Welchen Zweck sollte die Medizinalstatistik erfüllen, welche Informationen sollte sie enthalten und welche Erwartungen wurden an die Medizinalstatistik geknüpft? Anschließend wird in getrennten Abschnitten diskutiert, warum die Bemühungen Benekes und seiner Mitstreiter zunächst gescheitert sind und wie die Medizinalstatistik vorbereitet wurde. Dem folgt ein Abschnitt, in dem die Etablierung der Medizinalstatistik in Deutschland bis zum Jahrzehnt nach 1900 dargestellt wird. Abschließend wird resümiert, welche Gründe für eine erfolgreiche Etablierung der Medizinalstatistik ausschlaggebend waren.
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Vgl. Beneke, Geschichte, S. 3f. Vgl. ebd., Nachtrag, S. 59f.
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FORSCHUNGSSTAND ZUR GESCHICHTE DER MEDIZINALSTATISTIK Zur Geschichte der Medizinalstatistik gibt es bislang kaum Literatur.10 Weitet man die Perspektive auf eine Geschichte der Bevölkerungsstatistik oder der Statistik in der Medizin aus, erhöht sich die Anzahl der relevanten Publikationen. Bis Ende der 1970er Jahre erschienen historische Untersuchungen zur Geschichte der Medizinalstatistik allenfalls einleitend in Handbüchern zur Medizinalstatistik als „Vorgeschichte“, um die Entwicklung und den Erfolg der Medizinalstatistik darzustellen – und den Stand der eigenen Arbeit als vorläufigen Höhepunkt zu präsentieren. Historische Überblicke wurden als kurze Beiträge in Festschriften, zu Jahrestagen oder in Nekrologen veröffentlicht, um die Arbeit der Statistiker und ihrem Anteil am wissenschaftlichen Fortschritt zu würdigen.11 Seit Ende der 1970er Jahre widmeten sich erstmals Wissenschaftssoziologen und -historiker der Geschichte der Statistik, die sich im Kontext der Wissensproduktion und der Knowledge Society damit befassen, wie Statistiken und das daraus gewonnene statistische Wissen konstruiert wurde, welche Wirkungen die Zahlen entfaltet haben bzw. inwieweit Statistik überhaupt durch gesellschaftliche und kulturelle Faktoren und Fragestellungen beeinflusst wurde.12 Weitere Arbeiten beschäftigen sich ideengeschichtlich mit der Durchsetzung der mathematischen Methode und des statistischen Denkens als dominierendes Denkmuster zur Verarbeitung von Beobachtungen und die Transformation dieser Beobachtungen in Zahlen. Die exakt bezifferbaren Werte gelten als objektiver und wahrhaftiger Gradmesser zur Beurteilung eines Sachverhaltes. Die Quantifizierung von Einzelbeobachtungen ermöglicht überhaupt erst den Vergleich unterschiedlicher Beobachtungen, die Korrelation, die Objektivierung oder die Beurteilung einer Vielzahl von Informationen, die aus der (wissenschaftlichen) Beobachtung gewonnen wurden. Dies gilt nicht nur für die „Berechnung der Glückseligkeit“ (Behrisch), sondern auch für die Medizin, in der Krankheitserscheinungen
10 Siehe z. B. Dietrich Tutzke: Zur Entwicklung der allgemeinen Krankheitsstatistik, in: NTM. Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 5 (1968), S. 83– 100; Michael C. Schneider: Medizinalstatistik im Spannungsfeld divergierender Interessen. Kooperationsformen zwischen statistischen Ämtern und dem Kaiserlichen Gesundheitsamt/Reichsgesundheitsamt, in: Axel C. Hüntelmann u. a. (Hg.), Gesundheit und Staat. Studien zur Geschichte der Gesundheitsämter in Deutschland, 1870–1950, Husum 2006, S. 49–62; Robert W. Lee/Michael C. Schneider: Die Medizinalstatistik in Deutschland von ca. 1800 bis 1874, in: Jörg Vögele u. a. (Hg.), Geschichte der Medizin – Geschichte in der Medizin. Forschungsthemen und Perspektiven, Münster 2006, S. 55–62. Axel C. Hüntelmann: Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876–1933, Göttingen 2008, Kap. 5.3. 11 Siehe z. B. Ernst Meier: Friedrich Prinzing, der Enzyklopädist der medizinischen Statistik. Zu seinem hundertsten Geburtstag, in: Bundesgesundheitsblatt 2 (1959), S. 101 f. 12 Vgl. bsp. Donald A. MacKenzie: Statistics in Britain 1865–1930. The Social Construction of Scientific Knowledge, Edinburgh 1981; später z. B. Daniel Schmidt: Staat und Statistik. Über Statistische Bureaus und statistisches Wissen im neunzehnten Jahrhundert, am Beispiel des Königreichs Sachsen, Dr. rer. pol. Leipzig 2003.
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erst einmal quantifiziert werden müssen, bevor ein Zustand oder dessen Verbesserung bzw. Verschlechterung ‚objektiv‘ bewertet werden kann.13 Seit Ende der 1980er Jahre wurde die Geschichte der Statistik vor dem Hintergrund der Arbeiten Michel Foucaults kritisch diskutiert. Medizinische Statistik bzw. Statistiken, in denen Daten über Menschen und die Bevölkerung gesammelt, verarbeitet und verwertet wurden, galten als Herrschaftsinstrumente, um Regierungswissen zu generieren und Macht über die Bevölkerung auszuüben. Statistiken waren Teil eines Diskurses über Normalisierung und Sicherheit, auf Grundlage medizinischer Statistiken ließ sich ‚normal‘ von ‚deviant‘, ‚gesund‘ von ‚krank‘ unterscheiden und ließen sich (Regierungs-)Risiken abwägen.14 In diesem Kontext sind auch Arbeiten entstanden, die das Verhältnis der (medizinischen) Statistik zum Staat untersuchen.15 An die Ergebnisse vor allem der letztgenannten Studien anknüpfend wird nachfolgend untersucht, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen medizinisches Wissen generiert, Informationen gesammelt, verdatet, verdichtet und wiederum in medizinisches Wissen transformiert werden, wobei medizinisches Wissen gleichzeitig Regierungswissen ist. Überdies soll gezeigt werden, wie aufwendig und langwierig dieser Prozess war, welche Anstrengungen unternommen und Schwierigkeiten überwunden werden mussten, bevor eine Medizinalstatistik überhaupt etabliert werden konnte und warum dies am Ende gelungen ist. Die Schwierigkeiten bei der Etablierung der Medizinalstatistik machen deutlich, dass die „Biomacht“ keine homogene, geschlossene, die Bevölkerung übermächtigende Instanz ist, wie sie gelegentlich in die Arbeiten zur Biopolitik Michel Foucaults interpretiert wird, sondern dass die die Biomacht verkörpernden Akteure und Instanzen unterschiedliche Interessen verfolgen und selbst von den fachlichen und institutionellen Problemen übermächtigt werden.16
13 Vgl. James H. Cassedy: American Medicine and Statistical Thinking, 1800–1860, Cambridge, 1984; Theodore M. Porter: The Rise of Statistical Thinking 1820–1900, Princeton 1986; Alan Desroisières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Heidelberg 2005; Lars Behrisch (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006; ders.: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime, Ostfildern 2016. 14 Aus der vielzähligen Literatur sei hier nur hervorgehoben Ian Hacking: Biopower and the Avalanche of Printed Numbers, in: Humanities in Society 5 (1984), S. 279–295; und ders.: The Taming of Chance, Cambridge 1990. 15 Eine Auswahl: Ian Hacking: Prussian Numbers 1860–1882, in: Lorenz Krüger u. a. (Hg.), The Probabilistic Revolution. Bd. 1: Ideas in History, Cambridge 1987, S. 377–393; Adam J. Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001; Jean-Guy Prévost/Jean-Pierre Beaud: Statistics, Public Debate and the State, 1800–1945. A Social Political and Intellectual History of Numbers, London 2012; Schneider: Wissensproduktion; und Behrisch: Berechnung. 16 Siehe auch Hüntelmann, Hygiene, Kap. 5.3.
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DIE AUSGANGSLAGE: MEDIZINISCHE STATISTIK BIS 1870 Benekes Klagen über das gescheiterte Projekt einer umfassenden medizinischen Statistik erstaunt vor dem Hintergrund, dass die Erhebung von Daten über Bevölkerung, Bevölkerungswachstum und die wirtschaftlichen Ressourcen eines Territoriums – und der Mensch als Teil dieser Ressourcen – um 1870 eine lange Tradition hatte.17 Wie Justus Nipperdey zeigt, gab es bereits im 15. und 16. Jahrhundert Diskussionen zur Bevölkerungspolitik und quantitative Erhebungen über die Bevölkerung eines Territoriums, wobei es sich eher um unsystematische tabellarische Datenerhebungen zur Verzeichnung staatlicher Ressourcen in der Tradition von „Landesbeschreibungen“ handelte.18 Dabei sollte die begrifflich vom Staat abgeleitete Statistik den Staat beschreiben und so Wissen über den Staat produziert werden – und diese Staatsbeschreibung erfolgte vornehmlich in Textform.19 Die „Konzeption der Statistik“ als Abstraktion der Wirklichkeit, als abstrakt-rationale Denkschemata und Methode zur Generierung von Wissen, so Lars Behrisch, vollzog sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.20 Und im 18. Jahrhundert avancierte die „Praxis des Vermessens und Zählens“ zunehmend „zum Maßstab politischen Handelns“.21 So gründeten die Überlegungen Johann Peter Süßmilchs zur Vermehrung der Bevölkerung auf umfangreichen quantitativen Daten. Beginnend mit dem Zensus in Nordamerika Ende des 18. Jahrhunderts wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Staaten regelmäßig Volkszählungen durchgeführt.22 Auf eine ähnlich lange Tradition konnten Erhebungslisten für das Militär als Grundlage für die Rekrutierung dienstpflichtiger Soldaten und die Rekrutierungsstatistik zurückblicken. Die quantitativen Erhebungen beschränkten sich vor 1870 jedoch nicht allein auf die Bevölkerung. Friedrich Prinzing datiert die Anfänge der medizinischen Statistik auf die Mitte des 17. Jahrhunderts, als John Graunt die Sterbefälle in London
17 Die Einschätzung Benekes teilte auch Friedrich Prinzing: Handbuch der medizinischen Statistik, Jena 1906, S. 1, der urteilte, dass die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts für die „medizinische Statistik unfruchtbar“ gewesen sei. 18 Vgl. Justus Nipperdey: Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012, insbesondere S. 140–151. 19 Vgl. Behrisch, Berechnung, S. 24–32. 20 Vgl. Lars Behrisch: Alteuropa, Statistik und Moderne, in: Christian Jaser u. a. (Hg.): Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200– 1800), Berlin 2012, S. 203–224, hier S. 204 f.; Lars Behrisch: Vermessen, Zählen, Berechnen des Raums im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006, S. 7–25, hier S. 8. 21 Vgl. Behrisch, Vermessen, S. 8. 22 Vgl. zu den zahlreichen Publikationen die Übersicht in Axel C. Hüntelmann: Statistics, nationhood, and the state, in: Twentieth Century population thinking. A critical reader of primary sources, hg. vom Population Knowledge Network, London 2015, S. 11–36, die Einführung S. 11–19; sowie Alexander Pinwinkler: Amtliche Statistik, Bevölkerung und staatliche Politik in Westeuropa, ca. 1850–1950, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden 2004, S. 195–215.
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statistisch ausgewertet hat.23 Ende des 17. Jahrhunderts diente die Erhebung quantitativer Daten aus Kirchen- und Gemeinderegistern zur Sterblichkeit der Bevölkerung als Grundlage für die Berechnung der Lebenserwartung von Versicherten in der Versicherungswirtschaft.24 Im 18. Jahrhundert fand die Verwendung statistischer Methoden zunehmend Eingang in die Medizin: beispielsweise, um Erkenntnisse über das gehäufte Auftreten einer Krankheit oder die Ursachen krankheitsbedingter Sterblichkeit in einer Region zu erhalten oder um die Auswirkungen von Therapeutika wie der Chinarinde oder des Pockenimpfstoffes zu bemessen oder zu vergleichen.25 Ziel statistischer Erhebungen war, um den Buchtitel von Ulrich Tröhler zu zitieren, „to improve the evidence of medicine“. Die Sammlung und Auswertung experimentell gewonnener bzw. empirischer Daten diente als Bestandteil der Beweisführung und/oder der Veranschaulichung der Versuchsergebnisse zur Beantwortung medizinischer Fragestellungen. Weiterhin erhoben Krankenanstalten seit dem 18. Jahrhundert Daten, die tabellarisch aufbereitet und ausgewertet wurden, beispielsweise über die Anzahl der behandelten Patienten.26 Beneke selbst hatte 1857 in seinen „Vorschläge[n] betreffend die Anbahnung einer wissenschaftlich brauchbaren Morbilitäts- und Mortalitäts-Statistik für Deutschland“ die bestehenden Statistiken, Tabellen und Verzeichnisse im deutschsprachigen Raum zusammengetragen27 und Friedrich Oesterlen konstatierte in seinem „Handbuch der medicinischen Statistik“, dass sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts die „Statistik im Gebiet der Medicin und Krankheitslehre“, die „numerische Methode […] des genaueren Beobachtens und Zählens“ durchgesetzt hatte.28 Aufgrund der Fülle des Materials sah sich Oesterlen 1865 veranlasst, „das in tausend Bruchstücken zerstreut umherliegende Material […] und überhaupt die Statistik in der Medicin würdig als Ganzes“ zu präsentieren. Er habe, erklärt Oesterlen im Vorwort, insbeson-
23 Vgl. Prinzing: Handbuch, S. 12f. 24 Vgl. Geoffrey Clark: Betting on Lifes. The Culture of Life Insurance in England, 1695–1775, Manchester 1999. 25 Vgl. Jonas Graetzer: Daniel Gohl und Christian Kundmann. Zur Geschichte der MedicinalStatistik, Breslau 1884; J. Rosser Matthews: Quantification and the Quest for Medical Certainty, Princeton 1995; Ulrich Tröhler: „To Improve the Evidence of Medicine“. The 18th Century British Origins of a Critical Approach, Edinburgh 2000; Andrea Rusnock: Vital Accounts. Quantifying Health and Population in Eigthteenth-Century England and France, Cambridge 2002; dies.: „The Merchant’s Logick“: Numerical Debates over Smallpox Inoculation in Eigthteenth-Century England, in: Eileen Magnello/Anne Hardy (Hg.), The Road to Medical Statistics, Amsterdam 2002, S. 37–54. 26 Vgl. Tutzke, Entwicklung. 27 Vgl. Kapitel I: „Was geschieht und ist bisher in Deutschland für die Mortalitäts- und Morbilitäts-Statistik, so wie für meteorologische Beobachtungen geschehen?“ Friedrich Wilhelm Beneke: Mittheilungen und Vorschläge betreffend die Anbahnung einer wissenschaftlich brauchbaren Morbilitäts- und Mortalitäts-Statistik für Deutschland als eines Mittels zur wissenschaftlichen Begründung der Aetiologie der Krankheiten, Oldenburg 1857, S. 20–61. 28 Friedrich Oesterlen: Handbuch der medicinischen Statistik, Tübingen 1865, S. III. Zur Durchsetzung der medizinischen Statistik im frühen 19. Jahrhundert siehe Matthews, Quantification; Tröhler, To Improve the Evidence; Rusnock, Vital Accounts.
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dere bei der „Krankheits-Statistik“ auf die Bemühungen von Ärzten und die „officiellen Erhebungen der Todesursachen in verschiedenen Ländern und Orten“ zurückgreifen können.29 An dieser Stelle ist zu differenzieren, was Friedrich Oesterlen, Beneke und später Friedrich Prinzing unter medizinischer Statistik überhaupt verstanden. AUFGABEN UND ZIELE DER MEDIZINISCHEN STATISTIK Auf mehr als 950 Seiten wertete Friedrich Oesterlen30 im „Handbuch der medicinischen Statistik“ unterschiedlichste Datenerhebungen der vergangenen Jahrzehnte aus: offizielle Geburten- und Todesstatistiken in europäischen sowie außereuropäischen Ländern und Kolonien, Geburten- und Todesregister verschiedener Städte, Daten aus Anstalten wie Krankenhäusern und Gefängnissen, meteorologische Messungen, geographische und geologische Daten. Oesterlen setzte die verschiedenen statistischen Erhebungen in Bezug zueinander oder er extrahierte ihm wichtig erscheinende Daten. Auf eine allgemeine Einleitung über statistische Methoden folgte die Präsentation dessen, was er als medizinische Statistik bezeichnete: Im ersten Abschnitt beschrieb er die statistischen Verhältnisse der Bevölkerung insgesamt, d. h. der Geburtenverhältnisse und der Erhebung von Daten zur Anzahl der Kinder und daraus abgeleitet zur Fruchtbarkeit, Daten zur Zu- und Abnahme („Bewegung“) der Bevölkerung, zum Verhältnis der Geschlechter in der Bevölkerung sowie zur Sterblichkeit differenziert nach Alter, Familienstand, Beruf und sozialer Klasse sowie Wohnort (Stadt, Land, Anstalten). Ferner unterschied Oesterlen Natalität und Mortalität nach Tageszeiten, Klimata und „Raçen“. Am Ende setzte er die Sterblichkeit in Beziehung zu „privater und öffentlicher Prosperität und Wohlfahrt“.31 Im zweiten Abschnitt behandelt Oesterlen die „Statistik der einzelnen Krankheiten und anderer Ursachen des Todes“, untergliedert in allgemeine Krankheiten;32 örtlich lokalisierbare Krankheiten;33 in nicht krankhafte Todesursachen34 und schließlich unbestimmte Todesursachen.35 Der dritte Abschnitt erörtert die „Statistik der Morbilität oder des Krankseins überhaupt als Ganzes“ und enthält 29 Oesterlen, Handbuch, S. III. 30 Friedrich Oesterlen (1812–1877) war ein deutscher Mediziner, der mit dem „Handbuch der Heilmittellehre“ (1844), dem „Handbuch der Hygieine“ (1850) und dem „Handbuch der medicinischen Statistik“ (1865) umfassende und in mehreren Auflagen erschienene Grundlagenwerke auf dem sich formierenden Gebiet der Hygiene veröffentlichte, siehe Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 24, S. 511f. 31 Vgl. Oesterlen, Handbuch, S. 75–355. 32 Unterteilt in chronische Krankheiten wie Tuberkulose, Krebs, Skorbut, Wassersucht; und akute Erkrankungen wie Typhus, Wechselfieber, Scharlach, Pocken und Masern. 33 Z. B. Krankheiten des Nervensystems (wie Apoplexie, Tetanus, Tollwut); sowie Krankheiten der Zirkulations-, Atmungs-, Verdauungs-, Bewegungs- und Geschlechtsorgane; und Krankheiten der Haut. 34 Z. B. Altersschwäche, äußere Gewalteinwirkung oder mangelhafte Entwicklung (wie Frühgeburt, angeborene Lebensschwäche). 35 Vgl. Oesterlen, Handbuch, S. 356–774.
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tabellarische Auswertungen, die man später als Morbiditätsstatistik bezeichnen sollte. Ähnlich wie die obigen Erörterungen zur Todesursachenstatistik setzte Oesterlen das Auftreten von Erkrankungen in Bezug zu Geschlecht, Alter, Wohnort, Beruf und sozialer Klasse, zur Witterung, dem geographischen Klima, zu verschiedenen Rassen und Nationalitäten sowie allgemein zur Prosperität und Wohlfahrt eines gesellschaftlichen Verbandes, um Auskunft darüber zu erhalten, ob in einer bestimmten Stadt oder Region die Sterblichkeit höher lag als die durchschnittliche Sterberate und daher als besonders gesund/ungesund anzusehen sei, oder ob eine bestimmte Todesursache bei einem Berufszweig gehäuft auftrat oder inwieweit Witterungsverhältnisse die Mortalität beeinflussten.36 Eine besondere Bedeutung besaß bei Oesterlen die Bevölkerungsstatistik. Die „statistischen Bevölkerungsverhältnisse“ stünden in „innigstem Zusammenhang“ mit den „Fragen der medicinischen Statistik“: Kenntnisse über die „Verhältnisse der Bevölkerung als Ganzes“ seien unerlässlich für das Verständnis ihrer Erkrankungsverhältnisse. Ergo sei die Bevölkerungsstatistik eine medizinische Statistik im weiteren und die „Statistik der Krankheiten und Todesursachen“ die medizinische Statistik im engeren Sinne.37 Auch Prinzing definierte vierzig Jahre später die medizinische Statistik als eigene Wissenschaft, die sich aus der Bevölkerungsstatistik abzweige.38 Und nach Adolf Gottstein39 hatte sich die Bevölkerungsstatistik mit dem Zustand und den gesellschaftlichen und biologischen Veränderungen einer Bevölkerung zu beschäftigen. „Die biologischen Vorgänge zerfallen in solche des normalen und pathologischen Lebensablaufs; zur medizinischen Statistik im engeren Sinne gehören also eigentlich nur Krankheit und Krankheitstod. Wie aber die Pathologie auf die Physiologie zurückgreifen muss, so kann auch die medizinische Statistik als Teil der Bevölkerungsstatistik nur im Zusammenhang mit den normalen Vorgängen dargestellt werden.“40 Bevor die Probleme bei der Einführung der Medizinalstatistik dargestellt werden, sollen deren Aufgaben und Ziele zusammengefasst und das, was unter dem Begriffspaar „medizinische Statistik“ firmierte, differenziert werden. Erstens sollte die Medizinalstatistik die Zahl der Geburten (Geburtenstatistik) und zweitens der Todesfälle (Sterblichkeitsstatistik) erfassen und nach bestimmten Kriterien (geographische Verteilung, Alter, Beruf, Geschlecht etc.) gliedern und in Beziehung
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Vgl. Oesterlen, Handbuch, S. 775–952. Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Prinzing, Handbuch, S. 1. Adolf Gottstein (1857–1941) war einer der führenden Sozialhygieniker im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik und 1905 Mitbegründer der „Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik“. Von 1919 bis 1924 war er Ministerialrat im preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt, siehe den Eintrag von Wilhelm Katner in der Neuen Deutschen Biographie, Bd. 6, S. 688 f.; Adolf Gottstein: Erlebnisse und Erkenntnisse. Nachlass 1939/1940, hg. von Ulrich Koppitz, Berlin 1999. 40 Adolf Gottstein: Die medizinische Statistik, in: Franz Gebhardt, Otto Martineck und Adolf Gottstein: Die Sozialversicherung. Das Reichsversorgungswesen. Die medizinische Statistik (Handbücherei für Staatsmedizin XIV/XV), Berlin 1928, S. 206–267, hier S. 206.
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zueinander setzen. Drittens sollten alle pathogenen und die „Entwicklung des Menschen beeinflussenden pathologischen Erscheinungen“ erfasst und nach ähnlichen Kriterien unterteilt und aufeinander bezogen werden (Morbiditäts- oder Morbilitätsstatistik). Bei den die Krankheit beeinflussenden Faktoren konnte es sich durchaus auch um die Anzahl von Ärzten, Apothekern oder medizinischen Heilanstalten handeln und ihrer Verteilung in Beziehung zur Einwohnerzahl oder zur Fläche.41 Viertens zählten die Autoren die Bevölkerungsstatistik im weiteren Sinne zur Medizinalstatistik. Die Autoren verwiesen zwar auf die Beziehung zwischen Bevölkerungsstatistik und einer „Statistik der Krankheiten und Todesursachen“, doch im engeren Sinne befasste sich die Medizinalstatistik nur mit den Todesursachen und pathologischen Erscheinungen der Bevölkerung, denn um 1870 gab es bereits in zahlreichen europäischen und deutschen Staaten mit den auf den Volkszählungen basierenden Daten Geburten- und Bevölkerungsstatistiken, die in statistischen Ämtern von Statistikern und Staatswissenschaftlern erhoben, erstellt und publiziert wurden.42 Als Allheilmittel erachtet, sollte die Medizinalstatistik vielfältige Zwecke erfüllen. Die Statistik sollte zuvörderst, ganz im ursprünglichen Sinne des Wortes als Staatsbeschreibung, die Regierung über den gesundheitlichen Zustand eines Staates und seiner Bevölkerung informieren. Darüber hinaus sollte eine umfassende Medizinalstatistik, die Todesursachen oder gemeldete Erkrankungen räumlich zu verorten in der Lage war, medizinalpolizeilich Auskunft geben, wo gehäuft Erkrankungen auftraten und sich der Ausbruch einer Epidemie abzeichnete. Ferner sollte sie eine Prognose über den wahrscheinlichen Verlauf erlauben, so dass man geeignete sanitätspolizeiliche Maßnahmen einleiten konnte.43 Weiterhin ließ sich über die Meldung der Anzahl der an einer bestimmten Erkrankung Leidenden oder Gestorbenen im dichten chronologischen Verlauf und den aus den Daten konstruierten Statistiken beobachten, ob eine Epidemie im Abklingen war oder ob ergriffene Maßnahmen erfolgreich waren. In diesem Sinne sollte die Medizinalstatistik Kontingenz bzw. kontingente Ereignisse wie das Auftreten einer Seuche bewältigen helfen. Ganz allgemein konnte über die Veränderungen in der Medizinalstatistik die Wirkung getroffener Maßnahmen auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege kontrolliert werden.44 Ein weiteres Ziel der Medizinalstatistik lag in der Erforschung der Krankheitsursachen. Zu diesem Zweck sollten zahlreiche für notwendig erachtete Informationen zur Ernährung, zur Wohn-, Arbeits- und Lebenssituation der gemeldeten
41 Vgl. Prinzing, Handbuch, S. 2f. 42 Siehe für Preußen Schneider, Wissensproduktion. 43 Prägnant formulierte dieses Ziel in den 1920er Jahren der Präsident des Reichsgesundheitsamtes, um den Arbeitsaufwand für die Erstellung der Statistik zu rechtfertigen: Die Medizinalstatistik soll „für die Reichsmedizinalverwaltung fortlaufend zur Erkennung bringen […], wo Anlass zu weiteren Abwehr- und Bekämpfungsmassnahmen gegen totbringende Krankheiten gegeben ist.“ Präsident des Reichsgesundheitsamtes an den Reichsminister des Innern, 10.3.1923, BAB, R 1501/111653. Hervorhebungen im Original. 44 Vgl. Prinzing: Handbuch, S. 2f.
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Kranken gesammelt werden: Erkrankten Menschen häufiger an Lungenschwindsucht in feuchten Niederungen oder im Gebirge? Wie krankheitsgefährdend waren bestimmte Berufszweige? In welcher Jahreszeit brach eine Seuche aus? Durch die (Kor-)Relation verschiedener Parameter sollten ursächliche Zusammenhänge hergestellt und die Wahrscheinlichkeit der Verursachung statistisch belegt werden.45 Überdies versprach man sich von der „medizinischen Statistik“ einen wesentlichen Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Medizin. Das „Bedürfnis [nach] einer exacten medicinischen Statistik“ – in Anlehnung an die „exakten Naturwissenschaften“46 – ergab sich in der Medizin aus der Notwendigkeit, in Versuchen generierte oder in umfangreichen Erhebungen gewonnene große Datenmengen adäquat zu verarbeiten, um angenommene Zusammenhänge ‚objektiv‘ und wissenschaftlich nachvollziehbar zu belegen. An dieser Stelle ist die Medizinalstatistik von der „medizinischen Statistik“ abzugrenzen, wenn letztere die Anwendung der numerischen bzw. quantitativen Methode und andere kalkulative Praktiken in der Medizin meint. In seiner „Geschichte der Associationsbestrebungen“ blickte Beneke nicht nur kritisch zurück, sondern er erwähnte auch Erfolge der letzten Jahre: So habe man bei Gründung des Vereins zur Förderung der wissenschaftlichen Heilkunde kaum Kenntnisse über „die quantitativen Verhältnisse der in 24 Stunden vom gesunden Menschen ausgeschiedenen wesentlichsten Harnbestandtheile“ gehabt oder darüber, welche Abweichungen von der Norm einen krankhaften Zustand beschreiben.47 Die durch die quantitative Methode gewonnenen Kenntnisse der letzten Jahre über die „Statik des Stoffwechsels“48 verweisen nicht allein auf die Ergebnisse experimenteller Arbeiten zum Metabolismus in der physiologischen Forschung, sondern auf die Durchsetzung statistischer Methoden in der wissenschaftlichen Medizin. Die experimentell gewonnenen und in objektive Zahlen transformierten Beobachtungen und statistisch aufbereiteten Versuchsergebnisse hatten sich als wissenschaftliche Methode in der Medizin etabliert.49
45 Prägnant bringt dieses Ziel der Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in einem Schreiben an den Staatssekretär des Innern am 3.11.1904 auf den Punkt: Die Erfahrung habe gelehrt, dass „die verschiedenartigsten Einflüsse dabei ins Auge zu fassen sind, wie u. a. die Wasserversorgung, die Ernährung, die Beseitigung der Abfallstoffe, die Wohnungen, die Dichtigkeit des Zusammenwohnens, der Beruf, weil gerade die wichtigsten Krankheiten mehr oder weniger durch soziale Mißstände bedingt werden. Die unentbehrliche Grundlage der epidemiologischen Krankheitserforschung bildet der möglichst eingehende statistische Nachweis, wo die Krankheiten sich finden und in welcher Häufigkeit sie an den verschiedenen Stellen auftreten.“ Zit. in Schneider, Medizinalstatistik, S. 54. 46 Das Zitat Theodor Chalybäus: Ueber Morbilitätsstatistik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Öffentliche Gesundheitspflege (fortan DVÖG) 4 (1872), S. 381–386, hier S. 381. 47 Vgl. Beneke, Geschichte, S. 7. In Beneke, Mittheilungen, S. 6 ruft der Autor noch dazu auf, „den thierischen Stoffwechsel in gesundem und krankem Zustande“ zu studieren. 48 Beneke, Geschichte, S. 7; ähnlich schon ders., Mittheilungen, S. 6 f. 49 Dies gilt besonders für die Physiologie. Ein wesentlicher Vorteil der numerischen Methode war die bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Zur Durchsetzung des Fiebermessens als messendes und quantifizierendes Verfahren siehe Volker Hess: Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850–1900), Frankfurt a.M. 2000; sowie die Beiträge in
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Mit dem Verweis auf die quantitative Methode in der Medizin beschreibt Beneke weniger das, was später als Medizinalstatistik firmieren sollte, sondern vielmehr die Durchsetzung mathematischer Methoden in der Medizin, die Julius Hirschberg als medizinische Statistik titulierte.50 Es handelte sich folglich um Statistik in der Medizin: Statistik in der Medizin als Methode der Erkenntnisgewinnung ist zu unterscheiden von der medizinischen Statistik als Medizinalstatistik. Nachfolgend werde ich mich auf die Errichtung und Etablierung der Medizinalstatistik im engeren Sinne, also die Mortalitäts- und die Morbiditätsstatistik und die bei der Etablierung auftretenden Probleme konzentrieren. Die Medizinalstatistik basiert auf den gleichen mathematischen Grundlagen, wie sie Hirschberg allgemein für die experimentelle Medizin beschrieb. Doch das Objekt der Medizinalstatistik war, analog zur Bevölkerungsstatistik, die Beobachtung von Krankheit und Gesundheit größerer Populationen eines Staates über einen längeren Zeitraum. Nach Adolf Gottstein verfuhr der Statistiker wie der „Forscher im Laboratorium, indem er große Versuchsreihen unter Kontrolle anstellt“.51 Im Labor sind die Versuchsbedingungen jedoch modellier- und beherrschbar, während die Vielzahl der Einflussfaktoren und die Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Medizinalstatistik betreibenden Wissenschaftlern größte Schwierigkeiten bereitete. GESCHEITERTE VERSUCHE UND PRAKTISCHE PROBLEME BEI DER EINFÜHRUNG EINER UMFASSENDEN MEDIZINALSTATISTIK Das 950 Seiten umfassende Handbuch von Friedrich Oesterlen mutet geradezu enzyklopädisch an.52 Oesterlen hatte alle verfügbaren Daten und unterschiedlichste Statistiken zusammengetragen, um den Stand der „medicinischen Statistik“ zu dokumentieren. Beneke ging es jedoch darum, neue Daten zu erheben. Die Bemühungen Benekes und seiner Mitstreiter zielten darauf ab, alle Krankheit verursachenden Einflussfaktoren zu erfassen, um Kenntnisse über die „Gesundheit und Krankheit bedingenden Momente“ zu erlangen. Denn der „Mensch, ein Theil des Naturganzen, steht in jedem Augenblicke seines Lebens in directester Abhängigkeit von den ihn umgebenden äussern Verhältnissen, von der atmosphärischen Luft, dem Boden, Gérard Jorland u. a. (Hg.): Body Counts. Medical Quantification in Historical and Sociological Perspective, Montreal 2005. 50 Siehe Julius Hirschberg: Die mathematischen Grundlagen der medizinischen Statistik elementar dargestellt, Leipzig 1874. Hirschberg führt Mediziner in die Wahrscheinlichkeitsrechnung ein, um Massenbeobachtungen auszuwerten, wobei es sich hier sowohl um den Verlauf von Krankheiten, die Wirksamkeit eines Heilmittels oder die Auswertung erhobener Daten eines Experimentes handeln konnte, siehe S. VIII. 51 Die Statistik als Methode für wissenschaftliche Untersuchungen, vgl. Gottstein: Statistik 1928, S. 256. Gottstein sieht allerdings die Methode der Laborwissenschaft in Abhängigkeit zur Statistik. 52 Friedrich Prinzing wird später auch als „Enzyklopädist der medizinischen Statistik“ bezeichnet, siehe Meier, Friedrich Prinzing.
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seinen Quellen, der Nahrung […]“ und der individuellen Konstitution und Lebensbedingung.53 Zur Beschaffung der erforderlichen Informationen seien vier Aufgaben zu erfüllen: erstens „die genaue Beobachtung der täglich variierenden atmosphärischen Verhältnisse“; zweitens die Gewinnung detaillierter Kenntnisse über die Orts- und Lebensverhältnisse der Bewohner; sowie die genaue Feststellung der Mortalitäts- und „Morbilitäts-Verhältnisse“.54 Kenntnisse über die tellurischen und atmosphärischen Verhältnisse erhalte man über meteorologische Beobachtungen. Hierzu könne man auf die regelmäßigen Veröffentlichungen meteorologischer Beobachtungsstationen zurückgreifen.55 Anders verhalte es sich mit der „Erforschung der stabilen Orts- und Lebensverhältnisse der Bewohner“. Über jeden Ort benötige man detaillierte Angaben über die geographische Lage, die Beschaffenheit des Bodens, des Trinkwassers und Angaben über die Versorgung mit und Güte der Nahrungsmittel. Überdies müsse man Informationen über den allgemeinen Wohlstand und die Kleidung der Bevölkerung, etwaige gesundheitsschädliche Vergnügungen, den Missbrauch von Tabak und Alkohol und auftretende endemische Krankheiten sammeln.56 Für diesen Zweck konnten beispielsweise die Darstellungen der „Gemeinden des Großherzogthums Badens, deren Bestandtheile und Bevölkerung“ und die „Geologischen Beschreibungen“ zahlreicher badischer Städte und Gegenden herangezogen werden, die als einzelne Bände der „Beiträge zur Statistik der inneren Verwaltung des Großherzogthums Badens“ zwischen 1855 und 1873 publiziert wurden.57 Darüber hinaus boten sich auch Daten aus wirtschaftsstatistischen Erhebungen bzw. aus den Volkszählungen an. Eine Mortalitätsstatistik sei nur dann sinnvoll und aussagekräftig, wenn möglichst alle Todesfälle einer Stadt, einer Region oder eines Landes erfasst würden. Ärzte könnten allerdings nur Angaben über Todesfälle in ihrer Praxis machen, nicht aber über den ganzen Ort. Und auch die vorhandenen Mortalitätsstatistiken mit Angaben zu den Todesursachen, die einige Städte zur Verfügung gestellt hätten, reichten in ihrer Vereinzelung nicht aus. Beneke resümierte, dass eine Mortalitätsstatistik nur mit „Beihülfe der Regierungen“ erstellt werden könne.58 Indes sei man bei den Daten für die Morbilitäts-Statistik auf die Mitarbeit der lokalen praktizierenden Ärzte angewiesen. Beneke schlug vor, freiwillig tätige Ärzte und Vereinsmitglieder sollten in monatlichen Abständen von ihm entwickelte „Morbilitäts-Tabellen“ an 53 Vgl. Beneke, Mittheilungen, S. 7. 54 Vgl. ebd., S. 63. 55 Vgl. für Großbritannien Jan Golinski: British Weather and the Climate of Enlightment, Chicago 2007; für die Schweiz Franziska Hupfer: Das Wetter in Tabellen. Christian Brügger und die Institutionalisierung der Meteorologie, in: Patrick Kupper/Bernhard C. Schär (Hg.), Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt, 1800–2015, Baden 2015, S. 51–67. 56 Vgl. Beneke, Mittheilungen, S. 9–11, 64–68. 57 Vgl. die vom badischen Innen- und Handelsministerium herausgegebene Reihe „Beiträge zur Statistik der inneren Verwaltung des Großherzogthums Badens“, Bd. 1 (1855) bis 45 [46] (1885 [1904]). 58 Vgl. Beneke, Mittheilungen, S. 12, 68 f.
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eine zentrale Stelle (in diesem Fall an Beneke als Sekretär des Vereins) senden. Die Tabellen sollten Angaben über die Patienten (Alter, Geschlecht), die Erkrankung und den Verlauf der Krankheit (Dauer bzw. vormonatige Erfassung, Komplikationen, Tod) enthalten. Zur Vereinheitlichung hatte Beneke eine Liste mit „Krankheitsspecies“ beigefügt.59 Doch wie beschrieben war der Rücklauf der Erfassungsbögen enttäuschend und die wenigen Tabellen schienen für eine Auswertung ungeeignet. Auf der 44. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte 1871 in Rostock regte der Geheime Medizinalrat Hermann Eulenberg an, die Diskussion zur Organisation einer Medizinalstatistik erneut aufzunehmen.60 Die Anregung aufgreifend wurden ein Jahr später im vierten Band der „Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege“ von verschiedenen Autoren die Gründe für das Scheitern privater oder einzelstaatlicher Initiativen diskutiert und die notwendigen Voraussetzungen für eine Erfolg versprechende reichsweite Organisation analysiert. Ähnliche Schlussfolgerungen hatte bereits Friedrich Beneke gezogen. Die Implementierung einer bundes- bzw. reichsweiten Medizinalstatistik war erstens an der Vereinzelung der Beobachtungsorte und weiterhin an der durch die Freiwilligkeit der Angabe hervorgerufenen Unregelmäßigkeit und Lückenhaftigkeit gescheitert.61 In diesem Sinne unterstellten die eingangs zitierten, von den Bundesregierungen verfassten Berichte über den Stand der medizinalstatistischen Erhebungen, dass die Mitarbeit der Ärzte oft aus „Bequemlichkeit, Scheu und Hartnäckigkeit“ unterbleibe.62 Außerdem wurde kritisiert, dass sich die in den bestehenden Statistiken erhobenen Daten nur schwer vergleichen ließen.63 Dies lag einerseits am uneinheitlichen Aufbau der Statistiken,64 andererseits an den Ärzten, die die Daten zu erheben hatten und von denen nicht wenige die Herausgabe der Daten verweigerten. Theodor Chalybäus meinte daher Ärzte beschwichtigen zu müssen, die sich durch eine Morbilitätsstatistik kontrolliert fühlten oder moralische Skrupel ihren Patienten gegenüber geltend machten. Man dürfe durch eine medizinische Statistik nicht „in die Discretion der Aerzte ihren Kranken gegenüber oder in die Geschäftsgeheimnisse der ärztlichen Praxis verlangen“.65 Beneke verwies zudem auf das Hindernis, dass in ländlichen Gegenden viele Menschen ohne vorherige ärztliche Behandlung starben – der Eintritt des Todes vom Arzt unbemerkt bleibe und statistisch 59 Vgl. Beneke, Mittheilungen, S. 13–18, 73–82. 60 Der Hinweis auf die Anregung Eulenbergs in Hermann Wasserfuhr: Zur Organisation der Sterblichkeitsstatistik, in: DVÖG 4 (1872), S. 185–199, S. 185. 61 Vgl. Beneke, Geschichte, S. 20, 30. 62 Vgl. den Bericht aus Sachsen-Gotha, betreffend die Herstellung einer reichsweiten Medizinalstatistik, 27.10.1873, BAB, R 1401/1023. 63 Vgl. Wasserfuhr: Organisation, S. 186, 194. Dies beklagten ebenso die Berichte der Bundesregierungen bezüglich der Herstellung einer reichweiten Statistik, BAB, R 1401/1023. 64 Zahlreiche Beispiele in Beneke: Mittheilungen; sowie ders.: Vorlagen zur Organisation der Mortalitäts-Statistik in Deutschland, Marburg 1875. Jedes Bundesland habe seine eigene Statistik beklagt ders.: Zur Frage der Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege in Deutschland. Ein zweiter Beitrag zur Förderung derselben, Marburg 1872, S. 12. 65 Vgl. Chalybäus, Morbilitätsstatistik, S. 382.
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daher nicht erfasst werden könne.66 Schließlich zweifelte er an der Fähigkeit mancher Ärzte, die richtige Diagnose zu treffen, wodurch wiederum die statistischen Daten verfälscht würden.67 Erschwerend kam hinzu, dass die Todesursachen nicht nur unterschiedlich differenziert unterteilt waren bzw. überhaupt eine einheitliche Nomenklatur fehlte, sondern dass die den Tod verursachenden Krankheiten auch Veränderungen durch den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess unterlagen. Mit Entdeckung des Tuberkulose-Erregers konnten zum Beispiel Lungenschwindsucht, Knochenschwund und Skrofulose zu einer Krankheit – Tuberkulose – zusammengefasst werden. Andererseits wurden unterschiedliche so genannte syphilitische Erkrankungen als Sammelbegriff für Geschlechtskrankheiten mit Entdeckung der spezifischen Erreger in unterschiedliche Erkrankungen wie Syphilis, Gonorrhö oder Ulcus molle aufgeteilt. Die Autoren verkannten freilich, dass durch die Vielzahl der zu erhebenden Daten die beklagten Fehler geradezu vorprogrammiert waren. Beneke legte eine Auswahl anzuzeigender „Krankheitsspecies“ fest und er forderte die Einsendung detaillierter Daten, deren Erfassung genaue Kenntnisse des Arztes über die Familien-, Orts- und Lebensverhältnisse des Patienten voraussetzte und dem subjektiven Ermessen großzügigen Spielraum ließ.68 Als Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung einer bundes- oder reichsweiten Medizinalstatistik nannten die Autoren die obligatorische Leichenschau durch Mediziner, um die Todesursache valide feststellen zu können, und die Ausstellung eines Totenscheins durch kommunale Standesbeamte auf Basis eines Zivilstandsregisters. „Für den modernen Staat“ sei die „Civilstandsführung“ durch „Staatsverwaltungs- beziehungsweise Gemeindebeamte“ unablässig. Diese Prämisse war seit dem 1. Januar 1876 mit dem Gesetz über die obligatorische Zivilehe gegeben.69 Weiterhin herrschte Konsens, dass die Mortalitäts- von der Morbiditätsstatistik zu trennen sei. Außerdem schien Beneke und seinen Mitstreitern Anfang 66 Vgl. Beneke, Mittheilungen, S. 12 f. 67 Zur Unsicherheit der Diagnose Chalybäus: Mortalitätsstatistik, S. 383. Der Bericht aus Sachsen-Gotha betreffend die Herstellung einer reichsweiten Medizinalstatistik vom 27.10.1873 bemängelte, dass die Ärzte nicht hinreichend statistisch ausgebildet seien, BAB, R 1401/ 1023. Die Probleme der medizinischen Statistik wurden rückblickend erörtert in: Das Kaiserliche Gesundheitsamt. Rückblick auf den Ursprung sowie auf die Entwicklung und Thätigkeit des Amtes in den ersten zehn Jahren seines Bestehens, hg. vom Kaiserlichen Gesundheitsamt, Berlin 1886, S. 22–24; noch Jahrzehnte nach Etablierung der Medizinalstatistik wurde auf das nach wie vor aktuelle Problem hingewiesen, siehe Gottstein, Statistik, S. 212–214. 68 Vgl. Beneke: Mittheilungen, S. 10–16. Hermann Wasserfuhr: Organisation, forderte zum Beispiel Angaben über die „Wohlhabenheit oder Dürftigkeit“ des Patienten und die Wohnverhältnisse, und bei verstorbenen Kindern Angaben über die Ernährung. Siehe auch den Bericht der oldenburgischen Regierung vom 27.11.1873, die ätiologische Momente wie terrestrische und atmosphärische Verhältnisse, Salubrität, bauliche Beschaffenheit, und die Beschaffenheit und Lage der Begräbnisplätze berücksichtigt wissen wollten, BAB, R 1401/1023. 69 Vgl. zum Beispiel in den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1. LP, Session 1870, 36. Sitzung vom 6.4.1870, die Forderung des Abgeordneten Dr. Löwe, die „Civilstandsregister“ von der Kirche an eine „Civil-Autorität, d.
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der 1870er Jahre aufgrund der früheren Schwierigkeiten alleine eine zentrale staatliche Gesundheitsbehörde in der Lage, die Daten einheitlich zu erheben und zu verarbeiten. Mit Erleichterung stellte einer der Autoren, der sich an der Diskussion zur Organisation einer Medizinalstatistik in der „Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege“ beteiligt hatte, fest: „Die Nothwendigkeit einer staatlichen Organisation der Mortalitätsstatistik ist jetzt in den weitesten Kreisen zur Anerkennung gelangt.“70 VORBEREITUNG EINER REICHSWEITEN MEDIZINALSTATISTIK Parallel zu Mitgliedern des „Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“ hatten auch „Dr. Zülzer und Genossen“ eine Petition an den Deutschen Reichstag gerichtet, in der sie die Gründung eines Zentralinstituts für öffentliche Gesundheitspflege bzw. für „medicinische Statistik“ forderten. Die Petitionen wurden unterstützt und flankiert von zahlreichen weiteren Eingaben an den Bundes- bzw. Reichskanzler und das preußische Kultusministerium von Vereinen der öffentlichen Gesundheitspflege und der organisierten Ärzteschaft.71 Eine der Aufgaben, die das zu errichtende Zentralinstitut erfüllen sollte, war die Etablierung einer Medizinalstatistik, die alle deutschen Bundesstaaten umfassen sollte. Im November 1871 beschloss der Deutsche Reichstag und im Juni 1873 bestätigte der Bundesrat die Gründung einer medizinalpolizeilichen Zentralbehörde für das Deutsche Reich. Darüber hinaus wurde beschlossen, dass die Regierungen der Einzelstaaten zur „Vorbereitung einer medizinischen Statistik“ über die auf ihrem Gebiet existierenden Statistiken und den Umfang der Erhebungen berichten sollten.72 Die Errichtung des geforderten Zentralinstituts – des späteren Kaiserlichen Gesundheitsamtes – zog sich zwar mehrere Jahre hin, doch mehrere Faktoren ließen die Realisierung einer solchen Behörde umso notwendiger erscheinen: Zum einen offenbarten die eingangs erwähnten Berichte der Bundesregierungen den ungenügenden Zustand h. den Gemeinde-Beamten“ zu übertragen; desgl. Beneke: Frage, S. 49 f.; Wasserfuhr: Organisation, S. 187–189; zur Gleichmäßigkeit Chalybäus: Morbilitätsstatistik, S. 386. Zivilstandsregister als notwendige Voraussetzung nannten auch die Berichte der Einzelregierungen betreffend die Erstellung einer reichsweiten Statistik, BAB, R 1401/1022 f. Im 1871 gegründeten Deutschen Reich hatten bis 1875 die Kirchen das Monopol zur Personenstandsbeurkundung, d. h. zur Beurkundung von Geburt, Heirat und Tod. Im Kontext des Kulturkampfes ging dieses Recht auf den Staat über. Mit dem Personenstandsgesetz wurde die obligatorische Zivilehe eingeführt und der Standesbeamte führte fortan auch das Personenregister, siehe Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1998, S. 375. Damit erlangte der Staat auch das Monopol über die Geburts- und Todesdaten. 70 Wasserfuhr, Organisation, S. 185; zu diesem Abschnitt ausführlich Hüntelmann, Hygiene, Kap. 5.3.1. 71 Siehe hierzu auch die Akten in BAB, R 1401/953. 72 Siehe hierzu das Protokoll der 43. Sitzung des Bundesrates vom 30.6.1873, Nr. 115 Drucksachen des Bundesrats, § 474, enthalten in BAB, R 1401/953. Zur Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes ausführlich Hüntelmann, Hygiene, Kap. 1.
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der auf ihrem Gebiet bestehenden medizinalstatistischen Einrichtungen.73 Zum zweiten hatten Reichstag und Regierung zur Bekämpfung der infolge des DeutschFranzösischen Krieges ausgebrochenen Pocken-Epidemie ein Gesetz zur obligatorischen Schutzimpfung gegen Pocken verabschiedet, gegen das sich so genannte Impfgegner organisierten. Die Wirksamkeit der Schutzimpfung, aber auch die Nebenwirkungen, sollten durch eine vergleichbare, auf ‚objektiven‘ und unanfechtbaren Daten basierende Medizinalstatistik dokumentiert werden.74 Seit Oktober 1874 berieten Abgeordnete des Reichstags, Beamte des Reichskanzleramtes und einzelstaatlicher Ministerien des Innern, des preußischen Kriegsministeriums (Militär-Medizinalwesen) sowie der statistischen Behörden des Reiches und der Einzelstaaten über die Organisation einer reichsweiten Medizinalstatistik. Diese sollte neben einer reichsweiten Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik weiterhin eine Statistik des Heilpersonals, der Heilanstalten und des Apothekerwesens beinhalten. In den Beratungen und dem Bericht der Kommission wurden für die unterschiedlichen Statistiken einzelne Fragebögen, ein Erhebungsformular und ein „Zusammenstellungsformular für die Uebersicht der Todesursachen der nach Geschlecht und Alter unterschiedenen Gestorbenen in den großen Städten von 20.000 und mehr Einwohnern“ entwickelt.75 Der Staat, hier zusammenfassend verstanden als das komplexe und interessengeleitete Interagieren und Kommunizieren einer Vielzahl von Akteuren in Politik, Militär, Rechtsprechung, den Instanzen der öffentlichen Verwaltung und Rechtsdurchsetzung wie beispielsweise der Polizei oder andere die öffentliche Ordnung stabilisierenden Sicherheitsdispositive, und hier vor allem die Akteure auf der Ebene des neu gegründeten Reiches hatten ein kaum zu unterschätzendes Interesse an der Durchsetzung einer reichsweiten Medizinalstatistik. Mit den zugesandten Daten erhielten die Medizinalbeamten des Reiches einen Überblick über die Krankheitsverhältnisse im Reich und der Gesundheitsverhältnisse der Bevölkerung sowie Informationen über sich ausbreitende Epidemien, die Vorhersagen über wahrscheinliche Ausbreitungsszenarien ermöglichten; und auf Basis dieser Prognose konnte die Regierung geeignet erscheinende Maßnahmen treffen und/ oder rechtfertigen. Mit der Gründung einer medizinalpolizeilichen Zentralbehörde und einer reichsweiten Statistik verlagerten sich weitere Aufgabengebiete von den Einzelstaaten an Instanzen des Reiches. Überdies machte die Zuführung gesundheitspoli-
73 Die Berichte der deutschen Bundesstaaten in BAB, R 1401/1021–1023; zur preußischen Statistik ausführlich Schneider, Wissensproduktion. 74 Zur Kontroverse um die Pockenschutz-Impfung vgl. Eberhard Wolff: Der „willkommene Würgeengel“. Verstehende Innenperspektive und ‚genaue’ Quelleninterpretation – am Beispiel des erwünschten Kindstods in den Anfängen der Pockenschutzimpfung, in: Martin Dinges/Thomas Schlich (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte, Stuttgart 1995, S. 105–141; zum Vertrauen in objektive Zahlen siehe Theodore M. Porter: Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1995. 75 Protokolle der Kommission zur Vorbereitung einer Reichs-Medizinalstatistik in BAB, R 1401/1021; sowie Bericht der Commission zur Vorbereitung einer Reichs-Medicinalstatistik, Berlin 1874; siehe ferner ausführlich Lee/Schneider, Medizinalstatistik.
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tischer Daten wie die Meldung von Erkrankungen und Todesursachen an eine zentrale Behörde das Reich unabhängiger von den Bundesstaaten. Nicht zuletzt konnte man mit einer reichsweiten Medizinalstatistik, die meist graphisch als Landkarten, Graphen und Kurven veranschaulicht wurden, das Reich abbilden und nationale Identität stiften.76 EINFÜHRUNG UND ETABLIERUNG DER MEDIZINALSTATISTIK IM DEUTSCHEN REICH Die „Uebersicht der Todesursachen“ bildete den Nukleus der Mortalitätsstatistik des Kaiserlichen Gesundheitsamtes. Zwar sollten zwischen der Erstellung des Kommissions-Berichts und der Publikation erster Auswertungen noch zwei Jahre vergehen, doch 1875 war man vornehmlich mit der institutionellen Gründung der Behörde und der Besetzung der Stellen beschäftigt. Erst Mitte 1876 waren die Mitarbeiter des Kaiserlichen Gesundheitsamtes arbeitsfähig und Anfang 1877 erschien in der neu gegründeten Zeitschrift „Veröffentlichungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte“ die erste „Statistische Nachweisung“ der „Sterblichkeits-Vorgänge in den Städten von 15.000 und mehr Einwohnern“, untergliedert nach Alter und Todesursachen und ergänzt um die Einwohnerzahl der Städte.77 Zwar gab es in den ersten Ausgaben noch Leerstellen bei Städten, die vermutlich keine Zahlen geliefert hatten. Und offensichtlich waren auch nicht für alle Todesfälle entsprechende Todesursachen angegeben worden, doch im Laufe der nächsten Monate wurde die Sterblichkeitsstatistik zunehmend vollständiger. Die Klassifizierung und Nomenklatur der Todesursachen war in der Kommission zur Vorbereitung der Reichs-Medicinalstatistik diskutiert und anschließend „mit den in den verschiedenen Abtheilungen der Charité gebräuchlichen Bezeichnungen“ abgeglichen worden.78 Fortan erschien die „Statistische Nachweisung“ der „Sterblichkeits-Vorgänge“ wöchentlich. Ferner wurden in dem Periodikum ergänzend weitere Statistiken zu den Geburten, den Sterblichkeits- oder Gesundheits-Verhältnissen einzelner Städte oder Regionen oder zu meteorologischen Werten veröffentlicht.79 Die gesammelten Daten sollten in erster Linie die Medizinalverwaltung informieren, ob und wo gehäuft
76 Vgl. Sybilla Nikolow/Christina Brecht: Displaying the Invisible. Volkskrankheiten on Exhibition in Imperial Germany†, in: Pergamon 31 (2000), S. 511–530; Sybilla Nikolow: Der statistische Blick auf Krankheit und Gesundheit. „Kurvenlandschaften“ in Gesundheitsausstellungen am Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, in: Ute Gerhard u. a. (Hg.), Infographiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartographie politisch-sozialer Landschaften, Heidelberg 2001, S. 223–241. 77 Vgl. die erste Ausgabe der „Veröffentlichungen aus dem Kaiserlich Deutschen Gesundheitsamte“ (fortan VKGA) vom 6.1.1877. Erhebungsgrundlage waren 149 Städte (1882: 173; 1886: 193). 78 Heinrich Struck, Direktor des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, an Rudolf Virchow, BAB R 86/919. 79 Vgl. zu diesem Abschnitt ausführlich Hüntelmann, Hygiene, Kap. 2.1 und 5.3.
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ansteckende Krankheiten auftraten und inwieweit medizinalpolizeiliche Maßnahmen veranlasst werden mussten.80 Darüber hinaus sollten die statistischen Daten der (medizinischen) Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. In den ersten Jahren seines Bestehens hatte das Kaiserliche Gesundheitsamt mit mannigfachen institutionellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zudem konzentrierte sich ein Teil der Arbeiten auf wissenschaftliche Grundlagenforschung in der Bakteriologie und der (Nahrungsmittel-)Hygiene. Erst seit 1886 wurden größere Kompilationen statistischer Daten in der behördeneigenen Zeitschrift „Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte“ veröffentlicht: „Die Ergebnisse des Impfgeschäfts“ sowie eine „Statistik der Pockentodesfälle“, die „Ergebnisse der Morbiditätsstatistik in den Heilanstalten“, zur „Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich“81 sowie zu den „Bevölkerungsvorgänge[n] in deutschen Städten“. Letztere ließen sich aus den wöchentlichen Auswertungen generieren und Sterblichkeitskennziffern als Verhältnis von Geburten zu Todesfällen für die einzelnen Städte, Regionen oder Bundesstaaten errechnen.82 Eine reichsweit vergleichende jährliche Mortalitätsstatistik, kategorisiert nach Alter, Geschlecht, Ort und Todesursachen, wurde jedoch erst ab 1895 in einer eigens für statistische Kompilationen gegründeten Zeitschrift, den „Medizinal-statistischen Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt“, publiziert.83 Die Titulierung „Todesursachen-Statistik im Deutschen Reich“ war jedoch irreführend, denn in der Todesursachen-Statistik waren nicht alle, sondern nur neun Bundesstaaten – wenngleich die bevölkerungsreichsten – sowie das Reichsland Elsass-Lothringen mit 93,8 % der Reichsbevölkerung beteiligt. Die fortan jährlich erscheinende Statistik wurde territorial sukzessive komplettiert.84 Die Zusammenstellung der Statistik war durch die uneinheitliche Bezeichnung und Anzahl der Todesursachen in den Einzelstaaten erschwert worden. Erst nach-
80 Siehe das oben zitierte Zitat des Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes, Franz Bumm, an den Reichsminister des Innern, 10.3.1923, BAB R 15/111653. 81 Die Besonderheit der Statistik der Säuglings- und Kindersterblichkeit lag in der Berücksichtigung von Kinderkrankheiten, der Rubrizierung von Lebend- und Totgeburten sowie in der Differenzierung des Alters der Verstorbenen – mit Schwerpunkt auf die ersten Lebenstage, -wochen und -monate, vgl. Kaiserliches Gesundheitsamt: Rückblick, S. 20 f.; Arthur Würzburg: Die Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche während der Jahre 1875 bis 1877, in: Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte (fortan AKGA) 2 (1887), S. 208–222, 343– 446; ders.: Die Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche während der Jahre 1875 bis 1877, in: AKGA 4 (1888), S. 28–108. 82 Zur Methodik kurz Gottstein, Statistik, S. 221. 83 In den „Medizinal-statistischen Mittheilungen“ (fortan MSM) wurden auch die obenstehenden Statistiken veröffentlicht. 84 Bis 1905 hatten sich weitere 15 Bundesstaaten angeschlossen, so dass 99,83 % der Gesamtbevölkerung statistisch erfasst wurden. Erst seit 1924 umfasste die Statistik das gesamte Reichsgebiet, vgl. Karl Rahts: Ergebnisse der Todesursachenstatistik. Die Sterbefälle im Deutschen Reiche während des Jahres 1905, in: MSM 11 (1908), S. 103–134, Tabelle S. 1–177, hier S. 103.; und Das Reichsgesundheitsamt 1876–1926, hg. vom Reichsgesundheitsamt, Berlin 1926, S. 150f.
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dem das Kaiserliche Gesundheitsamt „mit Rücksicht auf die Beschlüsse internationaler statistischer Kongresse“ ein einheitliches Erfassungsformular mit einem „möglichst genau und erschöpfend“ festgestellten Begriff der Todesursachen konzipiert hatte, konnte eine umfassende Statistik erstellt werden.85 Die Nomenklatur der Krankheiten und Todesursachen wurde mehrfach aktualisiert, sachlich erweitert und in den 1920er Jahren an das internationale Todesursachenverzeichnis angepasst.86 In der ersten Spalte der Mortalitätsstatistik wurde die Gesamtzahl der Bevölkerung ausgewiesen, in den nächsten Spalten die Zahl der Lebend- und Totgeborenen sowie die Zahl der Gestorbenen, untergliedert in sechs Altersstufen. Die Todesursachen wurden anfangs in 23 unterschiedliche Ursachen klassifiziert und jeweils nach Alter untergliedert. Die Statistik wurde, unterteilt nach Geschlecht, zusammenfassend für das Deutsche Reich, die einzelnen Länder, die jeweiligen Regierungsbezirke und die Kommunen erstellt. Über die Jahre wurde die Mortalitätsstatistik mit den hinzukommenden Städten und Bundesstaaten und den 1905 überarbeiteten Todesursachen immer umfangreicher (und arbeitsaufwendiger). Die textliche Erörterung der Statistik von 1912 umfasste allein 148 Seiten, der tabellarische Anhang weitere 490 Seiten.87 Die detaillierte Aufschlüsselung der wöchentlich erfassten Daten in kleinste kommunale Einheiten sollte Aufschluss über das gehäufte Auftreten von Todesfällen in der definierten geographischen Einheit geben. Es galt, die Epidemien zu lokalisieren und einzugrenzen, um sie gezielt bekämpfen zu können. Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes erinnerte in einem Schreiben an den Reichsminister des Innern im März 1923 daran, dass die Medizinalstatistik nicht um ihrer selbst willen oder allein aus wissenschaftlichem Interesse erstellt wurde, sondern dass der Hauptzweck der Medizinalstatistik darin bestehe, die Regierung über die Gefahr auftretender Epidemien und die Bedrohung der öffentlichen Ordnung zu informieren, um gegebenenfalls rasch medizinalpolizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung einer Seuche einleiten zu können.88 Statistisch vermehrt registrierte Todesfälle oder Erkrankungen in einem Gebiet konnte gravierende gesellschaftliche Konsequenzen vor Ort haben: Die kontroversen Bekämpfungsmaßnahmen waren von den Organen der Bundesstaaten und der Kommunen umzusetzen und reichten über die Medikalisierung, Hospitalisierung und Isolierung von Infizierten; der Desinfektion von Mobiliar, Wohnungen, Gebäuden oder Eisenbahnwagons; der Assanierung des Bodens; der Schließung öffentlicher Gebäude; Quarantäne-Maßnahmen; der Einschränkung oder dem Verbot von Märkten, Messen oder
85 Vgl. Arthur Würzburg: Todesursachen-Statistik im Deutschen Reiche während des Jahres 1892, in: MSM 2 (1895), S. 217–451, hier S. 217. 86 Siehe den Schriftwechsel in BAB, R 1501/111653. Das internationale Todesursachenverzeichnis wurde alle zehn Jahre überarbeitet und an den Stand der Medizin angepasst. 87 Vgl. Emil Roesle: Ergebnisse der Todesursachenstatistik im Deutschen Reiche für das Jahr 1912, in: MSM 18 (1915), S. 1–638. 88 Franz Bumm, Präsident des Reichsgesundheitsamtes, an den Reichsminister des Innern, 10.3.1923, BAB R 15/111653.
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anderen öffentlichen Veranstaltungen. Anhand der Medizinalstatistik konnte wiederum die Wirkung getroffener Maßnahmen (zentral von einer Reichsinstanz) geprüft werden.89 Die Etablierung einer Morbiditätsstatistik gestaltete sich weitaus problematischer. Einer 1880 begonnenen „Statistik der Erkrankungen an ansteckenden und gemeingefährlichen Krankheiten“ traten „nicht zu überwindende Schwierigkeiten entgegen“. Die Schwierigkeiten – zweifelhafte Diagnose, Systematisierung und Schematisierung, Unvollständigkeit der Angaben und die aufzubringenden Kosten90 – einer sehr weit gespannten Statistik konnten erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte überwunden werden. Weiterhin wurden Statistiken zu einzelnen Erkrankungen und „Gebrechen“ erstellt.91 Ein klar umrissenes Untersuchungsfeld und abgrenzbares Zählobjekt zur statistischen Erfassung stellten Blinde und Taubstumme dar. Bei der Volkszählung am 1. Dezember 1900 sollten erstmalig Blinde und Taubstumme separat erfasst werden. Dadurch ließe sich „ein vollständiges und eingehendes Bild von der Verbreitung der Taubstummheit in dem gesamten Reichsgebiete“ gewinnen.92 Bei der Volkszählung wurden in 18.165 Gemeinden insgesamt 48.750 Taubstumme identifiziert, die in verschiedenen Tabellen auf 173 Seiten unter den Kategorien Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit, geographische Herkunft, Familienstand, Entstehung der Taubstummheit, Konfession, Stellung der Taubstummen in der Familie und Berufsart rubriziert wurden.93 Im Unterschied zu anderen Krankheiten stellten Blindheit oder Taubstummheit klar definierte und auch für Laien fassbare Kategorien dar – obzwar der Bearbeiter der Statistik klagte, dass erfassungsbedingt die Angaben einen Anspruch auf „unbedingte Genauigkeit“ vermissen lassen würden. Zudem waren viele Blinde und Taubstumme in entsprechenden „Taubstummen-“ und „Blindenanstalten“ untergebracht. Die dortige Unterbringung ermöglichte die differenzierte Analyse eines eingegrenzten Personenkreises, um genauere Kenntnisse über die Ursachen der Taubstummheit zu erlangen und „namentlich den Einfluß erkennen zu lassen, welchen
89 Zu möglichen Maßnahmen, z. B. zur Bekämpfung der Cholera 1892 in Hamburg siehe AKGA Bd. 10 (1896), Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek 1990; Hüntelmann: Hygiene, S. 111–114. 90 Vgl. Kaiserliches Gesundheitsamt, Rückblick, S. 22–24. 91 Zu ausgewählten Krankheiten Karl Rahts: Zur Erkrankungsstatistik der Jahre 1888 und 1889. Die Verbreitung des Typhus, der Diphtherie, der Masern, des Scharlach und des Kindbettfiebers in einigen Verwaltungsstellen des Deutschen Reiches, in: AKGA 6 (1890), S. 209–233; ferner Statistiken in den Sonderbänden der AKGA (Cholera, Pest, Typhus etc.) Mit Verabschiedung des Reichsseuchengesetzes wurde die Anzeige von bestimmten Infektionskrankheiten verpflichtend. Auf diese Aufstellungen konnte man nach 1900 ebenfalls zurückgreifen. 92 Dr. Engelmann: Die Taubstummen im Deutschen Reiche nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900, in: MSM 9 (1905), S. 8–31, Tabelle S. 71–244, hier S. 9; ders.: Die Blinden im Deutschen Reiche nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1900, in: MSM 9 (1905), S. 156–183, Tabelle S. 245–419. 93 Vgl. Engelmann, Taubstummen, S. 14. Das Tabellenwerk befindet sich im Anhang der MSM 9 (1905). Analog wurde diese Statistik auch für die Blinden erstellt.
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Vererbung, Blutsverwandtschaft, wirtschaftliche Verhältnisse oder vorausgegangene Erkrankungen auf die Entstehung des Gebrechens vermutlich ausüben“.94 Die Anstalt wurde zu einem medizinalstatistischen Laboratorium, in dem das Untersuchungsobjekt dem Zugriff der Medizinalstatistiker ausgeliefert war. Eine weitere Besonderheit stellten die Statistiken zur Pockenerkrankung dar. Nach Einführung der gesetzlich verankerten obligatorischen Pockenschutzimpfung 1874 wurde die in Gründung befindliche Behörde mit der technischen Überwachung des Impfgeschäftes beauftragt, um den nach Meinung der Medizinalverwaltung haltlosen Behauptungen der „Impfkritiker“ durch empirisch belegte Zahlen Paroli bieten zu können. Die technische Überwachung des Impfgeschäftes umfasste die Kontrolle der staatlichen Impfstoffhersteller, die statistische Erfassung angezeigter Pocken-Infektionen sowie die Erfassung der ausgeführten Impfungen und etwaig aufgetretener Nebenwirkungen, Erkrankungen und Todesfälle, die mittelbar oder unmittelbar nach einer Impfung aufgetreten waren und die man berechtigt oder unberechtigt mit der Vakzination in Verbindung brachte.95 Bereits in der ersten Ausgabe der „Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte“ wurden die Ergebnisse des Impfgeschäftes im Deutschen Reich veröffentlicht und erschienen fortan jährlich. Flankiert wurden die Statistiken durch Veröffentlichungen, die Verbesserungen des Impfverfahrens diskutierten. Die Pockentodesfallstatistik erschien seit 1905 bezeichnender Weise nur noch als Pockenstatistik.96 Die vom Kaiserlichen Gesundheitsamt herausgegebenen Statistiken speisten sich aus unterschiedlichen Quellen. Auch wenn die personellen und finanziellen Ressourcen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes seit Mitte der 1880er Jahre kontinuierlich anstiegen, so waren nur wenige Mitarbeiter für die Erstellung der Medizinalstatistik abgestellt; die Behörde war auf die Zuarbeit von kommunalen und einzelstaatlichen Behörden und anderen Einrichtungen angewiesen.97 Die Umsetzung medizinalpolizeilicher Bekämpfungsmaßnahmen, die sich aus der Medizinalstatistik ergeben konnten, lagen gänzlich in der Hand der Einzelstaaten und der Kommunen. Die Daten für die wöchentliche Sterblichkeitsstatistik erhielt die Behörde als ausgefüllte Formulare im Postkartenformat von den kommunalen Standesämtern zugesandt. Und aus den wöchentlichen Übersichten wurden wiederum
94 Dr. Engelmann: Die Ergebnisse der fortlaufenden Statistik der Taubstummen während der Jahre 1902 bis 1905, in: MSM 12 (1909), S. 1–26, Tabelle S. 1–241, hier S. 1. Es wurden insgesamt 7.487 Fragebögen ausgewertet. 95 Vgl. Blattern und Schutzpockenimpfung. Denkschrift zur Beurtheilung des Nutzens des Impfgesetzes vom 8. April 1974 und zur Würdigung der dagegen gerichteten Angriffe, hg. vom Kaiserlichen Gesundheitsamt, 2. Aufl., Berlin 1896. 96 Im zehnten Band der MSM erschienen die Ergebnisse von 1904 noch als Pockentodesfallstatistik, während die Ergebnisse von 1905 in demselben Band als Pockenstatistik publiziert wurden. Die „Ergebnisse einer Statistik der Pockentodesfälle für das Deutsche Reich“ erschienen für 1886 in den AKGA 2 (1887); die Tätigkeitsberichte der staatlichen Anstalten zur Herstellung von Tierlymphe erschienen erstmals in den AKGA 5 (1889). 97 Zur Kooperation zwischen dem Kaiserlichen Gesundheitsamt und dem Preußischen Statistischen Bureau Schneider: Wissensproduktion; und vor allem Schneider, Medizinalstatistik.
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monatliche und jährliche Statistiken zur Bevölkerungsbewegung generiert. Die Lieferanten für die Morbiditätsstatistik waren vielfältiger. Theodor Chalybäus hatte in seinem Vorschlag zur Organisation einer Morbiditätsstatistik darauf hingewiesen, dass bereits vergleichbare statistische Aufzeichnungen bei öffentlichen Institutionen bestünden. Als solche Institutionen führte er Versorgungsanstalten, Krankenund Waisenhäuser, das Militär, Schulen, Krankenkassenvereine und halbstaatliche öffentliche Einrichtungen wie die Eisenbahn, die Post oder die Polizei an.98 Bei der Erstellung einer Morbiditätsstatistik nahm das Gesundheitsamt den Vorschlag von Chalybäus auf und kooperierte mit dem Verein deutscher Eisenbahn-Verwaltungen, der bereits Statistiken über Erkrankungen des Eisenbahnpersonals erstellt hatte.99 Bei der Statistik über die Heilanstalten im Deutschen Reich griff auf man auf das Material der Krankenanstalten zurück.100 Für die Statistik der Blinden und Taubstummen im Deutschen Reich bildete der Zensus von 1900 die Datengrundlage. Hier wurde seitens der statistischen Landesbehörden Amtshilfe geleistet und das bei der Volkszählung generierte Datenmaterial an das Gesundheitsamt überwiesen. Die Statistik einzelner Krankheiten beschränkte sich vorwiegend auf so genannte Volksseuchen und anzeigepflichtige gemeingefährliche Krankheiten, wie sie ab 1900 im Reichsseuchengesetz definiert waren, und die über den Kreisphysikus bzw. später den Kreisarzt dem Gesundheitsamt gemeldet werden mussten. Diese an das Gesundheitsamt weitergeleiteten Anzeigen bildeten die Grundlage für einige Morbiditätsstatistiken.101 In der Regel waren die Beamten des Kaiserlichen Gesundheitsamtes also nicht mit der Beschaffung
98 Vgl. Chalybäus, Morbilitätsstatistik, S. 384. 99 Vgl. die „Verhandlungen des Reichsgesundheitsamts behufs Einführung einer gleichmässigen Erkrankungsstatistik des deutschen Eisenbahnpersonals“ in der DVÖG 10 (1878); sowie Kaiserliches Gesundheitsamt, Rückblick, S. 31–33. 100 Kaiserliches Gesundheitsamt, Rückblick, S. 27–31. Auf die Heilanstalten als Basis für Statistiken und die erforderliche Einbeziehung der Anstaltsärzte bei der Konzeption der Erfassungslisten wies der Vorstand des Vereins deutscher Irrenärzte in einem Brief an das Reichskanzleramt im Dezember 1873 hin, siehe BAB, R 86/919. Krankenhäuser erstellten bereits für staatliche Behörden und Träger Statistiken über die Anzahl der Betten, der Patientenzu- und Abgänge u.ä. Die den Heilstätten zugrunde liegenden Statistiken waren ein wichtiger Bestandteil der Medizinalstatistik, vgl. Kaiserliches Gesundheitsamt (Hg.): Ergebnisse der Morbiditäts-Statistik in den Heilanstalten des Deutschen Reiches für das Jahr 1882, nebst einer vergleichenden Zusammenstellung der Hauptergebnisse für die Jahre 1877 bis 1881, in: AKGA 1 (1886), S. 222–375; Karl Rahts: Die Heilanstalten des Deutschen Reiches nach den gemäß Bundesrathsbeschluß vom 24. Oktober 1875 stattgehabten Erhebungen der Jahre 1883, 1884 und 1885, in: AKGA 5 (1888), S. 224–370; ders.: Die Zahl der Geisteskranken in den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches, verglichen mit den Ergebnissen der letzten Volkszählung, in: AKGA 5 (1889), S. 423–437; nach 1893 erscheinen die Statistiken in den MSM. 101 Die Termine für die Abgabe der Meldepostkarten an das Reichsgesundheitsamt am 10. eines jeden Monates waren im „Kalender für Medizinalbemate“ im Terminkalender fest eingetragen. Durchsicht des Kalenders von 1 (1902) bis 12 (1913). Zu den Schwierigkeiten bei der Einführung der regelmäßig abzuleistenden Meldungen siehe die Mahnungen der Regierungspräsidenten an die Landräte zur Meldung von Diphtherieerkrankungen in GStA PK, 1. HA, Rep. 76 VIII B, Nr. 3762.
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der Informationen betraut, sondern sie übertrugen die Informationen nur in Summenlisten, aggregierten, verarbeiteten und transformierten die erhobenen Daten in eine Statistik. Der Zugriff auf bestehendes Quellenmaterial war für die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Segen und Fluch zugleich. Einerseits konnten so mit wenig Personal die Statistiken regelmäßig erstellt werden. Andererseits gab es durch die eingebundenen Akteure und die Vielzahl der Zulieferer immer wieder Schwierigkeiten bei der Vereinheitlichung und Klassifizierung von Krankheiten, Unsicherheiten bei der Diagnosestellung oder mit unvollständigen oder falschen Angaben – Probleme, die bereits seit den 1850er Jahren immer wieder auftraten und die Geschichte der Medizinalstatistik (bis heute) begleiteten.102 Rasch nach Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes wurde in einem eigenen Periodikum eine „Uebersicht der Todes-Ursachen“ publiziert. Zwar waren die statistischen Daten anfangs nicht vollständig, aber die wöchentlich erscheinenden Daten erlaubten erste Rückschlüsse über das gehäufte Auftreten von Krankheiten. Die wöchentlichen statistischen Erhebungen in den „Veröffentlichungen des Kaiserlich Deutschen Gesundheitsamtes“ wurden von der medizinischen Publizistik dankbar aufgenommen. Die Taxonomie der Tabellen änderte sich in den folgenden Jahrzehnten nur wenig. Sie wurde sukzessive um anzeigenpflichtige Krankheiten und um neue Städte ergänzt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Krankheiten nach einem „Internationalen Todesursachen-Verzeichnis“ angeordnet. Die wöchentlichen Statistiken wurden monatlich und jährlich in den „Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte“ und ab 1893 in den „Medizinal-statistischen Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte“ als Mortalitätsstatistik für das Deutsche Reich zusammengefasst und um Statistiken zur Säuglingssterblichkeit, zu den Heilanstalten oder den Apotheken im Deutschen Reich oder zu einzelnen Erkrankungen wie Pocken, Cholera, Diphtherie oder Tuberkulose ergänzt. Adolf Gottstein bezeichnete ein halbes Jahrhundert nach ihrem erstmaligen Erscheinen die „wöchentlichen Veröffentlichungen des Reichsgesundheitsamtes, welche regelmäßige Zusammenstellungen über die Bevölkerungszahl, die Geburten, die Eheschließungen, die Sterblichkeit nach Krankheiten geordnet, und das Auftreten der meldepflichtigen Krankheiten“ enthält als das wichtigste amtliche Quellenwerk im Deutschen Reich und die Darstellung im europäischen Vergleich als „mustergültig“.103 GRÜNDE FÜR DIE ERFOLGREICHE ETABLIERUNG DER MEDIZINALSTATISTIK DURCH DAS KAISERLICHE GESUNDHEITSAMT Die von Friedrich Wilhelm Beneke gehegte Hoffnung, dass seine Arbeit nicht vergebens war und fortgeführt werden würde,104 könnte mit der Etablierung der Medi-
102 Ausführlich Hüntelmann, Hygiene, Kap. 5.3. 103 Die Zitate in Gottstein, Statistik, S. 211, 219. 104 Vgl. Beneke, Geschichte, Nachtrag, S. 59 f.
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zinalstatistik erfüllt worden sein. Die Realisierung einer das ganze Reichsgebiet abdeckenden Medizinalstatistik, d. h. eine regelmäßige Mortalitätsstatistik und Morbiditätsstatistiken für einzelne Krankheiten, Heilanstalten oder Heilpersonal, dauerte indes Jahrzehnte und es mussten mannigfache Schwierigkeiten überwunden werden. Nicht alle Städte und Bundesländer beteiligten sich in gleichem Maße, die Klassifizierung von Krankheiten und die ungenügende Diagnose-Stellung oder auch falsch ausgefüllte Erfassungsbögen stellten die die Tabellenwerke erstellenden Mitarbeiter des Kaiserlichen Gesundheitsamtes auch viele Jahre nach Einführung der Medizinalstatistik vor große Probleme. Der Ausbruch der Cholera 1892 in Hamburg wird der Behörde Anlass gegeben haben, die Notwendigkeit einer reichsweiten Erfassung von Cholera-Erkrankungen und weiterer Infektionskrankheiten hervorzuheben. Warum nun ist es dem Kaiserlichen Gesundheitsamt im Unterschied zu früheren erfolglosen Anstrengungen gelungen, eine Medizinalstatistik zu etablieren?105 Aus vier Gründen war das Gesundheitsamt erfolgreich. Erstens hatte sich die Infrastruktur der Datenerhebung so verändert, dass die Informationen überhaupt gesammelt und ausgewertet werden konnten. So wurde durch das Personenstandsgesetz 1875 eine die zentrale Erhebung der Geburts- und Sterbedaten erst ermöglichende infrastrukturelle Voraussetzung geschaffen. Diese Infrastruktur wurde später durch die Implementierung des Kreisarztes und die Gründung kommunaler Gesundheitsämter weiter ausgebaut. Weiterhin war die Abgabe der Daten nicht vom Gutdünken der freiwillig beteiligten Ärzte abhängig, sondern die Anzeige bestimmter Krankheiten wurde beispielsweise mit der Einführung des Reichsimpfgesetzes seit 1874 (Pocken) oder des Reichsseuchengesetzes seit 1900 (Cholera, Pest, „gemeingefährliche Krankheiten“) verpflichtend.106 Eine Vernachlässigung der Anzeigepflicht konnte vor Gericht geahndet und mit Entzug der Approbation bestraft werden.107 Schließlich war durch den Umstand, dass es mit dem Kaiserlichen Gesundheitsamt eine zentrale medizinalpolizeiliche Behörde gab, wie sie Beneke und seine Zeitgenossen gefordert hatten, eine wesentliche Voraussetzung erfüllt, um die langdauernden Bemühungen zur Errichtung der Statistik fortzusetzen und die kontinuierliche Erhebung und Auswertung statistischer Daten und die Etablierung einer Medizinalstatistik zu ermöglichen. Zweitens waren die ersten Statistiken des Kaiserlichen Gesundheitsamtes nicht auf die Erfassung aller wünschenswerten Daten mit enzyklopädischem Ausmaß angelegt, sondern auf die Erfassung aller möglichen Daten.108 Man beschränkte sich 105 Vgl. zu den Begründungen auch Hüntelmann, Hygiene, Kap. 5.3. 106 Der Hinweis, dass nur durch ein Gesetz die Pflicht der Ärzte zur Mitarbeit konstituiert werden kann in Kaiserliches Gesundheitsamt: Rückblick, S. 4, 24. 107 Durch die Verschleppung der Typhusepidemie im Regierungsbezirk Zabern musste sich der Arzt Dr. Georg Karl Lewit 1900/1901 vor Gericht verantworten. Die ausführliche Darstellung der „Lewit-Affäre“ bei J. Andrew Mendelsohn: Cultures of Bacteriology. Formation and Transformation of a Science in France and Germany, 1870–1914, Diss. Phil. Princeton, 1996, S. 579–588, 601–604. 108 Bereits die Kommission zur Vorbereitung der Statistik hatte „zur Vermeidung späterer Enttäuschungen“ in ihrem Bericht vorangestellt, dass man bei der Konzipierung der Statistik „den
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nach anfänglichen Schwierigkeiten auf eine relativ einfach konzipierte Statistik der Sterblichkeit und Bevölkerungsbewegung, ergänzte diese um eine Mortalitätsstatistik und griff bei der Morbiditätsstatistik auf Auswertungen bestehender Daten zurück oder konzentrierte sich auf die statistische Darstellung einzelner „Volkskrankheiten“. Bei späteren statistischen Erhebungen nahm man Ungenauigkeiten en détail in Kauf, da der Aussagewert im Ganzen nicht beeinträchtigt wurde. Ebenso pragmatisch wurde bei der Erstellung einer reichsweiten Todesursachenstatistik verfahren. Sachlich beschränkte sich diese auf die bekanntesten Erkrankungen. Darüber hinaus war die „reichsweite“ Mortalitätsstatistik in den ersten Jahren territorial nur auf einen Teil des Reiches reduziert und wurde sukzessive erweitert. Durch dieses Prinzip der kleinen Schritte konnte die Behörde einerseits selbst beständig Erfolge und Fortschritte produzieren. Andererseits entwickelte die Publikation der Ergebnisse eine gewisse Eigendynamik. Die Staaten, deren Daten nicht in der Statistik enthalten waren, wurden meist explizit genannt, was indirekt einer öffentlichen Rüge gleichkam und das Unvermögen der jeweiligen Staaten bloßstellte.109 Mit dieser Beschränkung auf das Machbare folgten die Medizinalbeamten den Ratschlägen Benekes, der hoffte, dass die „Fehler der Vergangenheit“ von den „Nachfolgern vermieden“ werden sollten. Drittens profitierte das neu gegründete Kaiserliche Gesundheitsamt von der Medizinalstatistik bzw. war der Erfolg der Behörde wesentlich an die Erstellung einer Medizinalstatistik gebunden. Von der deutschen Ärzteschaft und den Initiatoren des Gesundheitsamtes wurde an die Medizinalstatistik der Wunsch herangetragen, Aufschluss über die Ätiologie und die Epidemiologie von Krankheiten zu gewinnen – generell sollte die Medizinalstatistik die Vielzahl möglicher Ursachen, empirischer Ergebnisse, Krankheitsverläufe und die sozialen und ökologischen Begleitumstände systematisieren helfen, sie in Beziehung zueinander setzen, sie beherrschbar machen. Noch vor Gründung des Amtes trat eine andere Bedeutung der Medizinalstatistik in den Vordergrund. Sie sollte nicht nur wissenschaftliche Erklärungsmodelle liefern, sondern in strittigen politischen Debatten, wie der reichsweiten obligatorischen Pockenschutzimpfung, den Argumenten der Regierung – oder allgemein der sie instrumentalisierenden Partei – durch ihre objektiven und wissenschaftlichen Aussagen Legitimität verschaffen. Die Medizinalstatistik legitimierte nicht nur politische Entscheidungen der vorgesetzten Behörde oder rivalisierender Parteien im Reichstag, schon bald nach
Bedürfnissen der Verwaltung in erster Linie, denen der Wissenschaft erst in zweiter Linie“ gerecht zu werden versuche, vgl. Bericht der Commission 1874. 109 Vgl. beispielsweise die positive Hervorhebung der beteiligten Staaten in der Todesursachenstatistik von 1892 in Würzburg: Todesursachen-Statistik, S. 217; für die Todesursachenstatistik von 1894 konnte Karl Rahts: Ergebnisse der Todesursachenstatistik. Die Sterbefälle im Deutschen Reiche während des Jahres 1894, in: MSM 4 (1897), S. 35–78, hier S. 35 verkünden, dass sich Braunschweig den beteiligten Staaten angeschlossen habe. Eine indirekte Bloßstellung über Staaten, deren Angaben fehlen, in Karl Rahts: Ergebnisse der Todesursachenstatistik. Die Sterbefälle im Deutschen Reiche während des Jahres 1902, in: MSM 9 (1905), S. 1–7; sowie ders., Ergebnisse 1908, S. 1.
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Gründung des Gesundheitsamtes bot sich mit den statistischen Erhebungen die Gelegenheit, kurzfristig Arbeitsergebnisse zu präsentieren, die sich in Zahlenkolonnen, Tabellen und Kurvenlandschaften manifestierten und der Gesundheitsbehörde selbst eine materielle Grundlage für ihre Daseinsberechtigung verschafften. Die Medizinalstatistik konnte viertens auch deshalb realisiert werden, weil dies im Interesse des Reiches lag und die Reichsregierung die Erstellung einer Medizinalstatistik unterstützte. Zum einen stellte die Medizinalstatistik, indem sie den Gesundheitszustand der Bevölkerung dokumentierte und Informationen über gehäuft auftretende Erkrankungen lieferte, Herrschaftswissen dar. Aufgrund der aus der Medizinalstatistik gewonnenen Prognosen konnten Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemien eingeleitet und legitimiert werden. Überdies machte die reichsweit erhobene Statistik das Reich von den Bundesstaaten unabhängiger. Und im Sinne der ursprünglichen Bedeutung der Statistik als Staatsbeschreibung ließ sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung des Staates beschreiben. Die Veränderungen der medizinalstatistischen Erhebungen und die daraus verdichteten Kurvenlandschaften drückten wie eine Fieberkurve das Befinden des „Volkskörpers“ aus. Schließlich wirkte die Medizinalstatistik für das Deutsche Reich auch deshalb identitätsstiftend, weil man über die aus der Statistik generierten graphischen Landkarten ein einheitliches, abgegrenztes nationales Staatsgebilde darstellen konnte.
KATEGORISIERUNG UND ZONIERUNG DER ENTWURF DER MODERNEN STADT IM STATISTISCHEN BUREAU (1860–1910) Christa Kamleithner Städtische Statistik und Hygiene- wie Städtebaureform sind eng miteinander verknüpft. Die Anfänge der Hygienebewegung in Frankreich und Großbritannien waren Teil einer Statistik-Euphorie, ebenso die Städtebaudiskussion, die im rasch wachsenden Berlin der 1860er und 70er Jahre einen Ausgangspunkt hatte. Das 1862 gegründete Statistische Bureau der Stadt Berlin lieferte dieser Diskussion Zündstoff, insbesondere, wenn es die Entwicklung Berlins in den Vergleich mit anderen Städten stellte. Sterblichkeitsziffern und Bevölkerungsdichte wurden dabei verglichen, ebenso Wanderungsbewegungen, Verkehrsströme, Neuverteilungen von Gewerbe und Industrie wie der sozialen Klassen. Der Beitrag versucht zu zeigen, wie durch diese Arbeit, zu der auch die Kategorisierung zählt, neue Stadt- und Planungsvorstellungen entstanden. Ebenso geht es um den offensiven Einsatz des neuartigen Wissens in der Reformdebatte. Denn tatsächlich kann ein Mitarbeiter des Büros als Vordenker der Zonenplanung gelten, einem der wichtigsten Instrumentarien moderner Stadtplanung. Urban statistics, sanitary reform and the town planning movement are intimately connected with each other. The beginnings of the sanitary movement in France and Great Britain were part of a boom in statistics, and the same is true for the discussions on new forms of planning, rooted in the fast growing Berlin of the 1860s and 70s. The Statistical Bureau of Berlin, founded 1862, contributed material that fuelled the debate, especially when it compared the development of Berlin with that of other cities. This comparison concerned mortality rates and population density, migration movements, traffic flows and the spatial redistribution of commerce and industry as well as that of social classes. The article tries to show that this work, which includes categorisation, led to new images of the city and a new notion of planning. It also points to the active use of this new kind of knowledge. In fact, one member of the bureau in this period can be considered an ancestor of zoning, one of the most important instruments of modern urban planning. Blickt man in die ersten Fachbücher, die als Gründungsdokumente einer modernen Stadtplanung gelten, wird man darin auf Bezüge zur Statistik stoßen. Für den Ingenieur Reinhard Baumeister etwa, der 1876 ein praxisorientiertes Handbuch für Stadt-Erweiterungen publizierte, sind statistische Erhebungen die erste Pflicht
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kommunaler Verwaltungen, da sie Aufschluss über „die künftige Entwicklung der Stadt“ geben und der Stadterweiterung eine „rechnungsmäßige Grundlage“ verschaffen.1 Ildefonso Cerdá, auf den der Stadterweiterungsplan für Barcelona zurückgeht, befasste sich sogar selbst mit Statistik und legte 1867 eine städtebauliche Theorie vor, die „eine exakte Wissenschaft“ sein und sich auf „Fakten“ stützen wollte.2 Um 1910, als sich die Stadtplanung als Disziplin formierte, große Stadterweiterungsplanungen im Gange waren und sich die internationale Vernetzung auf Städtebauausstellungen und -konferenzen intensivierte, wurden statistische Karten publikumswirksam neben Stadtplänen präsentiert.3 Offensiv wurde der Konnex zwischen thematischer Kartographie und Stadtplanung auf dem vierten Congrès International d’Architecture Moderne von 1933 hergestellt, auf dem Begriff und Konzept der „funktionalen Stadt“ geprägt wurden. Das Treffen der wichtigsten Protagonisten des Neuen Bauens drehte sich ausschließlich um Karten, die die soziale und funktionale Gliederung großer Städte dokumentieren.4 Um all dies wird es im Folgenden aber nicht oder nur am Rande gehen. Kein bekannter Stadtplaner steht hier im Fokus, sondern das 1862 gegründete Statistische Bureau der Stadt Berlin. Denn lange bevor sich die Stadtplanung als Disziplin formierte und Ingenieure und Architekten den Diskurs prägten, setzten sich Statistiker, Hygieniker und Ökonomen mit dem Gefüge der wachsenden Städte und seiner Veränderung auseinander. Tatsächlich hob dieser vordisziplinäre Reformdiskurs zu einem Zeitpunkt an, als die Statistik einen merklichen Aufschwung nahm. STATISTIK UND STÄDTISCHER RAUM In den Jahrzehnten zwischen 1820 und 1850 entstand in Frankreich und Großbritannien eine Hygienebewegung, die mit Statistiken argumentierte. Es sind jene Jahrzehnte, in denen Statistik euphorisch betrieben wurde und sich, wie es Ian Hacking formuliert hat, eine „Lawine gedruckter Zahlen“ in Bewegung setzte; auch die thematische Kartographie erfuhr eine auffällige Konjunktur. Die ‚soziale Frage‘ brach in eben dieser Zeit auf, und mit ihr vermehrten sich die Themen der Statistiker und Kartographen.5 Ein neuer Blick auf Gesellschaft, die nun erst an Form gewann, 1 2 3 4 5
Reinhard Baumeister: Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirthschaftlicher Beziehung, Berlin 1876, S. 54f., 49. So Cerdá 1875 in seinem Tagebuch – vgl. Cerdá: The Five Bases of the General Theory of Urbanization, hg. v. Arturo Soria y Puig, Madrid 1999, S. 65f. Enrico Chapel: L’œil raisonné. L’invention de l’urbanisme par la carte, Genf 2010, S. 15–30. Kees Somer: The Functional City. The CIAM and Cornelis von Eesteren, 1928–1960, Rotterdam 2007; Evelien van Es u.a. (Hg.): Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Comparative Urban Analysis, Bussum/Zürich 2014. Vgl. Ian Hacking: Biopower and the Avalanche of Printed Numbers, in: Humanities in Society 5 (1982), S. 279–295; Arthur Howard Robinson: Early Thematic Mapping in the History of Cartography, Chicago 1982; Eileen J. Yeo: Social Surveys in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.), The Cambridge History of Science. Bd. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 83–99; Philipp Felsch: Wie August Peter-
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Abb. 1: Robert Baker, Sanitary Map der Stadt Leeds, 1842. Aus: Report to Her Majesty’s Principal Secretary of State for the Home Department, from the Poor Law Commissioners, on an Inquiry into the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain, London 1842. Wellcome Collection. CC BY.
bildete sich so heraus: Tabellen und Karten zu Bevölkerungsdichte und Krankheit, Armut und Schmutz, Verbrechen und Analphabetismus wurden erstellt, die die Konturen eines neuartigen „socialen Körpers“ sichtbar machten, der beweglich war und ein Eigenleben führte. Damit veränderte sich die Statistik selbst, die nunmehr als „Physik und Physiologie der Gesellschaft“ verstanden wurde,6 während die ältere Statistik einen statisch verstandenen Staat im Blick hatte und vor allem militärischen und fiskalischen Zwecken diente.7 Neben Verteilungen innerhalb des staatlichen Territoriums wurde nun auch der städtische aum näher untersucht. Die soziale Frage drängte sich in den Städten mit besonderer Vehemenz auf; vor allem die Choleraepidemie von 1831/32 machte klar, dass Pauperismus und mangelnde Hygiene Probleme sind, die für die Angehörigen aller Klassen Konsequenzen haben. In Folge boomte die wissenschaftliche wie populäre Literatur zur Cholera und eine Vielzahl an Karten entstand, die die Verbreitung der Krankheit darstellen. Sie
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mann den Nordpol erfand. Umwege der thematischen Kartografie, in: Steffen Siegel/Petra Weigel (Hg.): Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung, München 2011, S. 109–121. So Ernst Engel, Quetelet folgend, in: Das statistische Seminar und das Studium der Statistik überhaupt, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus 11 (1871), S. 181– 211, S. 188, 193. Die Zitate stammen aus einem älteren Text von 1851. Karl H. Metz: Paupers and Numbers: The Statistical Argument for Social Reform in Britain during the Period of Industrialization, in: Lorenz Krüger/Lorraine J. Daston/Michael Heidelberger (Hg.), The Probabilistic Revolution. Bd. 1: Ideas in History, Cambridge Mass./London 1987, S. 337–350.
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zeigen die inneren Differenzen des städtischen Raumes in einer zuvor unbekannten Schärfe. Das wohl wichtigste Dokument der in dieser Zeit entstehenden Hygienebewegung, das auch städtebauliche Folgerungen zieht, ist Edwin Chadwicks Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain von 1842. Der Bericht kompiliert die Beobachtungen von Ärzten und Armenbeauftragten in Großbritannien, und er enthält Karten, wie jene vom Armenarzt Robert Baker erstellte Karte von Leeds, die den Zusammenhang von sozialer Klasse, Wohnort und Krankheit in prägnanter Weise visualisiert (Abb. 1).8 Mit farbigen Punkten sind jene Häuser markiert, in denen ansteckende Krankheiten aufgetreten waren, Schraffuren zeigen die soziale Lage an und verschiedene Brauntöne den Verschmutzungsgrad der Häuser und Straßen. Ergänzt mit Zahlen zur Bevölkerungsdichte sowie Geburtsund Todesraten vermittelt die Karte eine klare Botschaft: Die Quartiere der Arbeiterklasse sind nicht nur die am dichtest bebauten und schmutzigsten der Stadt, in ihnen sammeln sich auch die Krankheitsfälle und diese greifen über die Grenzen dieser Quartiere hinaus. Die Karte bündelt so die Verteilung von Armut, Krankheit, Schmutz und Bevölkerungsdichte und weist dunkle Flecken aus, die eine beunruhigende Form der Verdichtung anzeigen. Chadwicks Bericht, der die soziale Frage zu einer Frage der Hygiene machte,9 schlug entsprechende Gegenmaßnahmen vor, die auf Durchfluss und Entdichtung zielten und den Kern künftiger Hygiene- und Städtebaureformen bildeten. Zu ihnen gehörten die Drainage des Bodens, der Bau von Trinkwasserleitungen und Schwemmkanälen ebenso wie die Errichtung aufgelockerter Wohnsiedlungen am Rand der Städte. Der Bericht wurde im deutschsprachigen Raum zeitnah von einzelnen Experten rezipiert; eine umfassende Hygienediskussion setzte hier jedoch erst mit dem rasch ansteigenden Städtewachstum der 1860er Jahre ein.10 In eben dieser Zeit, in der die Statistik eine zunehmende Professionalisierung erfuhr,11 wurden im deutschsprachigen Raum – neben dem schon seit 1805 existierenden Königlich Preußischen Statistischen Bureau und den anderen staatlich organisierten Büros – zahlreiche kommunale Büros gegründet.12 Zu den ersten zählt das Statistische Bureau der Stadt Berlin.
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Report to Her Majesty’s Principal Secretary of State for the Home Department, from the Poor Law Commissioners, on an Inquiry Into the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain, London 1842. Zur Herkunft der Karte vgl. Robinson: Early Thematic Mapping, S. 172, 186. 9 Christopher Hamlin: Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick. Britain, 1800– 1854, Cambridge 1998. 10 Anne I. Hardy: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York 2005, S. 97f. 11 Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M./New York 2013. 12 Verband Deutscher Städtestatistiker (Hg.): Städtestatistik und Stadtforschung. 100 Jahre Verband Deutscher Städtestatistiker, Hamburg 1979, S. 11.
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DAS STATISTISCHE BUREAU DER STADT BERLIN UND DIE GESUNDHEITSPFLEGE 1862 – in jenem Jahr, in dem die Arbeit am neuen Bebauungsplan zum Abschluss kam, der mit einem Bevölkerungswachstum in Millionenhöhe rechnete – beschloss der Berliner Magistrat, ein kommunales Statistisches Bureau einzurichten. Treibende Kräfte waren unter anderem die Ärzte und Stadtverordneten Salomon Neumann und Rudolf Virchow,13 die zu den Hygienikern der ersten Stunde zählen. Neumann wie Virchow hatten sich im Revolutionsjahr 1848/49 für eine Medizinalreform eingesetzt, der es um die Verbesserung der öffentlichen Gesundheitspflege ging und die dazu in der Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung ein wesentliches Mittel sah.14 Ihr Reformprogramm war eine dezidierte Kritik der alten Medizinalpolizei, die für Virchow lediglich eine „Papier-Bürokratie“ war, die alles überwachen wolle, aber dennoch nicht in der Lage sei, die Gesundheit der Bürger zu garantieren.15 Vor allem Neumann war seit damals um eine bessere medizinische Statistik bemüht; und als Teilnehmer am Congrès International de Bienfaisance 1856 in Brüssel war er auch mit der englischen Hygienebewegung vertraut, von der er begeistert berichtete.16 Der 1848er-Revolutionär hatte ein besonderes Interesse an einem kommunalen statistischen Büro; denn auch wenn es seit 1853 ein statistisches Büro in Berlin gab, befand sich dieses im Königlichen Polizei-Präsidium, einer staatlichen Institution, eingerichtet vom Polizeipräsidenten Carl von Hinckeldey,17 mit dem Neumann ein feindliches Verhältnis pflegte.18 Stattdessen sollte es nun ein kommunales Büro geben, das die Daten so auswertet oder auch schon erhebt, dass die kommunale Verwaltung davon profitiert. Deshalb war Neumann auch an einer Beteiligung der Kommune an der Volkszählung interessiert. Diese wurde auf sein Betreiben hin 1861 in Berlin neu organisiert: Hatte sie zuvor unter der Obhut der Polizei gestanden, gingen nun ehrenamtliche Zähler von Haus zu Haus, die 13 Heinrich Silbergleit: Das Statistische Amt der Stadt Berlin 1862–1912, Berlin 1912, S. 1–6; Statistisches Landesamt Berlin (Hg.): 100 Jahre Berliner Statistik. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Berliner Statistischen Amtes, Berlin-Schöneberg 1962, S. 25f. 14 Erwin H. Ackerknecht: Rudolf Virchow. Arzt – Politiker – Anthropologe. Stuttgart 1957, S. 118–125; vgl. auch Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner – Anthropologe – Politiker. Köln/Weimar/Wien 2002. 15 Zu dieser Auffassung gelangte Virchow angesichts seiner Untersuchung der Typhus-Epidemie in Oberschlesien. Vgl. Rudolf Virchow: Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie (1848), in: ders., Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 214–334, S. 314f., 321f. 16 Salomon Neumann: Der Brüsseler Wohltätigkeits-Congreß und die öffentliche Gesundheitspflege, in: Monatsblatt für medicinische Statistik und öffentliche Gesundheitspflege 8 (1856), S. 59–60. Neumann war in den 1850er Jahren Mitherausgeber dieser Beilage zur Deutschen Klinik. 17 Stephan M. Eibich: Polizei, ‚Gemeinwohl’ und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berliner Polizeipräsident von 1848 bis 1856, Berlin 2004, S. 195f. 18 Günter Regneri: Salomon Neumann. Sozialmediziner – Statistiker – Stadtverordneter, Berlin 2011, S. 15, 20f.
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Abb. 2: Hermann Schwabe, Bevölkerungsdichte in den Bezirken Berlins nach der Volkszählung von 1867, 1869. Aus: Hermann Schwabe: Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867, Berlin 1869, Anhang.
Formulare austeilten, die von den Haushaltsvorständen selbst ausgefüllt wurden.19 Ebenso wurden nun die Wohnverhältnisse genau erhoben; die Anliegen der Gesundheitspfleger wurden also in die Zählung integriert. Die so genannten „Urlisten“ fragten nach Namen, Stand, Gewerbe, Alter und Religion aller Personen eines Haushalts, der mit der Wohnung gleichgesetzt wurde; und auf dieser Basis füllte der Revisor dann die „Grundstücks-Controllliste“ aus, mit der die Haushalte in zur Familie gehörige Personen, Dienstboten, Chambregarnisten und Schlafleute aufgeschlüsselt wurden. Er notierte die Lage der Wohnung, ob sie im Vorder- oder Hinterhaus und in welchem Stockwerk sie gelegen war, und erfasste, über wie viele Zimmer sie verfügte und ob sie auch als Gewerbebetrieb genutzt wurde.20 So gab die Volkszählung Aufschluss darüber, wie viele Fremde zusätzlich zur eigentlichen Familie in den Wohnungen lebten und wie dicht belegt die Räume waren, womit sie zu einer regelmäßig stattfindenden Wohnungsenquete 19 Statistisches Landesamt Berlin: 100 Jahre Berliner Statistik, S. 19f. Ernst Engel propagierte die „Selbstzählung“ für Preußen insgesamt, wo sie ab 1867 zur Anwendung kam. Vgl. Schneider: Wissensproduktion im Staat, S. 18. 20 Statistisches Landesamt Berlin: 100 Jahre Berliner Statistik, S. 22f. Derartig genaue Daten wurden etwa in Großbritannien erst ab 1891 – auf Anraten von Charles Booth, der gerade seine groß angelegte Kartierung der Armut in London begonnen hatte – erhoben. Vgl. Harold W. Pfautz: Charles Booth: Sociologist of the City, in: Charles Booth. On the City: Physical Pattern and Social Structure. Selected Writings, hg. v. Harold W. Pfautz, Chicago/London 1967, S. 1– 170, S. 32.
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wurde, die die Hygieniker und Wohnreformer mit Zündstoff versorgte. Die Verteilung der Bevölkerung in den Häusern und Stadtbezirken war auch ein zentrales Thema der Berliner Berichte zu den Volkszählungen, die ab 1867 von Hermann Schwabe, dem Leiter des Statistischen Bureaus der Stadt Berlin, erstellt wurden. Eine beachtete Neuerung, die Schwabe einführte, war die Visualisierung der Daten durch Balkendiagramme. Ebenso fügte er seinem Bericht eine Karte bei, die die Bevölkerungsdichte in den einzelnen Stadtbezirken zeigt (Abb. 2). Diese lässt einige besonders bevölkerte Quartiere hervortreten, die nicht wie die anderen punktiert oder schraffiert, sondern schlicht schwarz sind.21 Zusammenballungen dieser Art, insgesamt die Kategorie der Bevölkerungsdichte, bilden einen auffallenden Fokus der Städtestatistik – genauso wie der Hygiene-, Wohn- und Städtebaureform. Die Zahlen, die das Statistische Bureau vorlegte, heizten die Reformdebatte an, und sie führten auch zu Entscheidungen, wie etwa in der Diskussion um die Einführung einer Schwemmkanalisation in Berlin. Virchow wurde 1873 beauftragt, den schon ein Jahrzehnt andauernden Streit mit einem Gutachten zu beenden; und um dafür ein numerisches Argument in der Hand zu haben, ließ er sich von Schwabe Sterblichkeitsdaten zusammenstellen.22 Nicht nur setzte er sich für die englische Technik ein, er führte auch eine englische Kenngröße ins Feld, an der er die Berliner Verhältnisse maß: die Sterblichkeitsziffer von „23 Menschen von 1000“, die seit dem Public Health Act von 1848 – dem Ergebnis von Chadwicks Report – jene Obergrenze markierte, bei deren Überschreitung die britischen Städte gesetzlich gezwungen waren, sanitäre Maßnahmen zu ergreifen. Virchow ging davon aus, dass diese Zahl in ganz Europa als „Normal-Maximum“ angesehen wurde, und damit sah er angesichts der Berliner Zahlen Handlungsbedarf, wurde dieses Maß hier doch seit 1860 überschritten, vor allem dort, wo sich die Bevölkerung am dichtesten drängte.23 Der Reformdiskurs hatte sich längst internationalisiert: Schon seit der Jahrhundertmitte tauschten sich Hygieniker, Statistiker und Sozialreformer auf internationalen Kongressen aus,24 und seit damals entstanden Normvorstellungen vom städtischen Raum und seiner Bevölkerung.
21 Hermann Schwabe: Die Resultate der Berliner Volkszählung vom 3. December 1867, Berlin 1869. 22 Susanne Hauser: „Reinlichkeit, Ordnung und Schönheit“ – zur Diskussion über Kanalisation im 19. Jahrhundert, in: Die alte Stadt 19 (1992), S. 292–312. 23 Rudolf Virchow: General-Bericht über die Arbeiten der städtischen gemischten Deputation für die Untersuchung der auf die Kanalisation und Abfuhr bezüglichen Fragen, Berlin 1873, S. 52– 57, 66–76. 24 Chris Leonards/Nico Randeraad: Building a Transnational Network of Social Reform in the Nineteenth Century, in: Davide Rodogno/Bernhard Struck/Jakob Vogel (Hg.), Shaping the Transnational Sphere. Experts, Networks, and Issues from the 1840s to the 1930s, New York/Oxford 2014, S. 111–130.
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SOZIALE TATSACHEN Wie Alain Desrosières festgestellt hat, schafft die Statistik mit ihren Kategorien und Kennwerten Bezugsgrößen der öffentlichen Diskussion. Sie wirkt an der Bestimmung gemeinsamer Themen und verbindlicher Normen mit, ebenso wie sie für die Teilungen des sozialen Raumes mitverantwortlich ist, insofern sie Berufe klassifiziert und soziale Klassen voneinander abgrenzt.25 Für Desrosières bildet diese Klassifizierungs- und Kategorisierungsarbeit das Kerngeschäft der Statistik, und eben darin sieht er ihre Produktivität. Denn da das, was klassifiziert werden soll, erst im Entstehen begriffen ist, bilden die statistischen Kategorien und Nomenklaturen nicht einfach ab: Sie sind vielmehr produktiv und an der Hervorbringung neuer sozialer Entitäten beteiligt. In einer Umdeutung Durkheims, der davon gesprochen hat, dass die „sozialen Tatsachen“ so behandelt werden müssen, als ob sie „Dinge“ wären, spricht Desrosières davon, dass es eben die Sozialwissenschaften sind, die „dauerhafte Dinge“ machen: dass sie also aus diffusen, schwer zu fassenden Gemengelagen Einheiten herstellen, die benennbar sind, Grenzen haben, die quantifiziert und als stabile Objekte behandelt werden können.26 Auch am Statistischen Bureau der Stadt Berlin lässt sich dies zeigen, und Schwabe war sich der Aufgabe der Kategorisierung wohl bewusst. So kritisierte er in seinem Bericht zur Berliner Zählung von 1871 die Einteilung der Berufsklassen, deren Bezeichnungen er angesichts der neuen Hierarchie von „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ als veraltet ansah. Ebenso bemerkte er die sich verändernde Sozialtopographie Berlins, die für ihn Anlass war, größere Verwaltungsbezirke, die sehr verschiedenartige „sociale Gruppen“ umfassten, zu zerlegen. Dabei war die „Wohlhabenheit“ anleitend, eine Kategorie, die er nicht nur nach der Steuerleistung, sondern auch nach der Zahl der Dienstboten und der „Dichtigkeit der Bewohnung“ bestimmte.27 Dies ist bemerkenswert, denn offenbar wurde hier die Wohnweise, die sich in der Kategorie der Bevölkerungsdichte niederschlug, zum Ausweis der sozialen Position, die nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem Stand gesichert war. Zudem wurde die Stadt in Bezirke geteilt, die als sozialräumliche Einheiten begriffen wurden, so wie dies die Chicagoer Schule der Stadtsoziologie dann Anfang des 20. Jahrhunderts tun wird, wenn sie von natural areas spricht. Die Stadt wurde damit als ein Raum vorstellbar, der in sozial homogene Bezirke zerlegbar ist – was zu diesem Zeitpunkt in Berlin jedoch keineswegs zutraf, denn noch überwog hier die vertikale Segregation im Haus, nicht die horizontale Segregation im städtischen Raum, die sich eben erst auszubilden begann. 25 Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg/New York 2005 (1993), S. 3, 276. 26 Ebd., S. 1–4, 10–14; vgl. auch ders.: How to Make Things Which Hold Together: Social Science, Statistics and the State, in: Peter Wagner/Björn Wittrock/Richard Whitley (Hg.), Discourses on Society. The Shaping of the Social Science Disciplines, Dordrecht/Boston/London 1991, S. 195–218. 27 Hermann Schwabe: Die Königliche Haupt- und Residenzstadt Berlin in ihren Bevölkerungs-, Berufs- und Wohnungsverhältnissen. Resultate der Volkszählung und Volksbeschreibung vom 1. December 1871, Berlin 1874, S. 62f, 1f.
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Die städtische Statistik formt mit ihren Kategorien und Klassifikationen das Bild, das sich Experten und öffentliche Meinung von der Stadt machen. Sie zeigt Entwicklungen auf, kehrt sie hervor, bestätigt und normalisiert sie oder macht sie zum Problem. Eine Kategorie letzterer Art, die mit den Anliegen der Hygiene- und Wohnreformer eng verknüpft war, ist die „Behausungsziffer“. Für Richard Böckh, Schwabes Nachfolger, war diese Zahl „eine andere Form der Dichtigkeit der Bevölkerung“, und tatsächlich wurde sie von den Reformern immer wieder als Maß dafür ins Feld geführt. Jedoch gibt sie nicht das Verhältnis der Bewohner zur Fläche an, sondern die durchschnittliche Zahl der Bewohner eines Hauses. Das heißt auch, dass durch sie nicht gefasst wird, wie viel Wohnraum pro Person zur Verfügung steht, sondern wie groß die Häuser sind. Damit ist sie in erster Linie ein Maß für das Voranschreiten der „Mietskaserne“ – und der Abweichung von dem, was Böckh als „natürliches Socialleben“ ansah: nämlich die Identität von Familie und Haus, was für bürgerliche Reformer das Wohnideal schlechthin darstellte. Davon war Berlin weit entfernt, betrug die Behausungsziffer hier doch 57,9, während sie in London, wo die meisten Einwohner in Einfamilienhäusern lebten, bei 7,9 lag.28 Zahlen wie diese schufen einen Vergleichsraum, in dem ganz unterschiedliche kulturelle Traditionen verhandelbar wurden und sich so gemeinsame Standards ausbildeten, sowohl was sanitäre Infrastrukturen und Wohnformen als auch das städtische Gefüge betrifft.29 EIN STATISTIKER ALS STADTPLANER Das Statistische Bureau der Stadt Berlin war mit seiner laufenden Zahlenproduktion in die Reformdebatte involviert – Schwabe und sein Mitarbeiter Ernst Bruch bezogen aber auch mit eigenen Texten Stellung. Eine Plattform dafür war das vom Büro herausgegebene statistische Jahrbuch, das in der Anfangszeit nicht nur aus einer Berlin-Statistik bestand, die Daten zu Bevölkerung und Wohnverhältnissen, Handel und Industrie, Verkehr, Preisen und Konsum, Armenwesen und anderem mehr versammelte und kommentierte, sondern auch aus Essays, in denen verschiedene Autoren oder die Herausgeber selbst zu Wort kamen.30 Noch wurde das statistische Geschäft euphorisch betrieben, und die Statistiker waren sich der Neuartigkeit ihres Wissens bewusst. Dies vermitteln vor allem die Texte Bruchs, der als Kritiker des 28 Richard Böckh: Die Bevölkerungs-, Gewerbe- und Wohnungs-Aufnahme vom 1. December 1875 in der Stadt Berlin, Berlin 1878, S. 86–90. 29 Zur Verknüpfung von Hygiene- und Wohnreform vgl. Nicholas Bullock/James Read: The Movement for Housing Reform in Germany and France 1840–1914, Cambridge 1985; Clemens Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Die Reformbewegung in Deutschland 1845–1914, Göttingen 1991. 30 Das Jahrbuch erschien unter folgenden Titeln: Berliner Stadt- und Gemeindekalender und städtisches Jahrbuch für Berlin (1867), Berlin und seine Entwickelung. Gemeinde-Kalender und städtisches Jahrbuch für Berlin (1868), Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik (1869–73), Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik (1874–77); ab 1878: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin.
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Berliner Bebauungsplans von 1862 auftrat, gegen den er sein Wissen um die Berliner Stadtentwicklung in Stellung brachte.31 Dieser vom Ingenieur James Hobrecht im Auftrag des Berliner Polizeipräsidiums erarbeitete Plan wurde in Folge zu einem zentralen Feindbild moderner Planer. Von Bruch angefangen lief diese Kritik darauf hinaus, diesen Plan für die dichter werdende Mietshausbebauung verantwortlich zu machen – und nicht allein die Grundstücksspekulation, die Bodenpreise und Bebauungen, vor allem in den Jahren um die Reichsgründung, in die Höhe trieb.32 Der Grund wurde vielmehr in einer Planung gesehen, die im gesamten Stadtgebiet breite teure Straßen vorsah und damit, so die Auffassung, verhinderte, dass unterschiedliche Bauformen zum Einsatz kamen. Gegen dieses gleichförmige Berlin stellte Bruch das Bild einer sich differenzierenden Stadt, womit er zu einem der ersten Protagonisten der Städtebaureformdebatte wurde, die sich im deutschsprachigen Raum um 1870 aus der Hygiene- und Wohnreformbewegung heraus entwickelte.33 Bruchs erster planungsrelevanter Aufsatz beschäftigte sich mit dem Berliner Verkehr. Er bezog sich darin auf Verkehrszählungen einzelner Straßen und kartierte Orte, die Verkehr hervorrufen, wie Bahnhöfe, Hotels oder Wochenmärkte. Dabei stellte er fest, dass die noch mittelalterlich geprägten zentralen Stadtteile den Verkehrsströmen, die aus dem übergeordneten Verkehr entstanden waren, kaum noch standhielten: „Das altmodische Kleid“, so Bruch, sei „dem großgewordenen Kinde zu eng geworden.“34 Das Kleid solle daher neu angepasst werden, weshalb er eine größere Zahl an Straßendurchbrüchen und neuen Brücken vorschlug – eine Forderung, die er in seiner Kritik des Bebauungsplans wiederholte, der es versäumt habe, das alte Gassenwerk, dieses „die freie Bewegung hemmende Geschwür aufzustechen, um wieder ein normalmässiges Pulsiren der Lebensquellen hervorzurufen“.35 31 Ernst Bruch: Berlin‘s bauliche Zukunft und der Bebauungsplan, Berlin 1870. Verschiedene Aufsätze Bruchs im statistischen Jahrbuch in den folgenden Anmerkungen. 32 Eine Zusammenfassung und Zuspitzung dieser Kritik findet sich bei Werner Hegemann: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt. 4. Aufl., Braunschweig/Wiesbaden 1988 (1930), S. 207–220. Zur Entstehungsgeschichte des Plans vgl. Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1740–1862, München 1980, S. 481–505; Jutta Lubowitzki: Der ‚Hobrechtplan‘. Probleme der Berliner Stadtentwicklung um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Berlin-Forschungen V, Berlin 1990, S. 11–130. 33 Bruchs Kritik des Berliner Bebauungsplans ist eine zentrale Quelle des zu Beginn erwähnten Handbuchs Baumeister: Stadt-Erweiterungen, vgl. insb. 75, mit dem Bruchs Auffassung verstetigt wird, ohne dass er als Person weiterhin präsent wäre. In der ersten Historiographie des frühen Planungsdiskurses nimmt er jedoch eine wichtige Rolle ein, vgl. Werner Hegemann: Der Städtebau, nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin, Bd. 1, Berlin 1911, insb. S. 14, 26, 39, 41; und heute ist er sogar in Übersichten unter international bekannten Größen zu finden, vgl. Gerd Albers: Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen, Braunschweig/Wiesbaden 1997, S. 348. 34 Ernst Bruch: Der Straßenverkehr in Berlin, in: Berlin und seine Entwickelung. Gemeinde-Kalender und städtisches Jahrbuch 2 (1868), S. 65–121, S. 105. 35 Bruch, Berlin‘s bauliche Zukunft, S. 94. Langfristig gesehen ist Bruchs Plan aufgegangen – vgl. Benedikt Goebel: Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum, Berlin 2003, S. 8, 121.
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Abb. 3: Ernst Bruchs Planungsvorschlag für die Erweiterung Berlins, 1870. Aus: Ernst Bruch: Berlin‘s bauliche Zukunft und der Bebauungsplan, Berlin 1870, Anhang.
Bruch verstand die Statistik als ein Instrument, das einen ‚sozialen Körper‘ sichtbar macht, der zu den etablierten Strukturen im Gegensatz stehen kann. Diesen Gegensatz machte er in Bezug auf die alte Stadt wie in Bezug auf den Erweiterungsplan auf, den er als „Zwangsjacke“ ansah.36 Auch dieser Plan führe zu einem Kleid, das die aktuelle Stadtentwicklung unberücksichtigt lasse, denn, dies warf Bruch Hobrecht vor, er berücksichtige weder den expandierenden Eisenbahnbau noch eigne sich sein Raster für Villenquartiere, die um 1870 gerade einen Boom erlebten. Sie waren für Bruch ein erstes Anzeichen dafür, dass sich „eine lokale Arbeitstheilung [...] entwickelt, die aber auf die äussere Physiognomie der Strassen und Stadttheile nur wenig eingewirkt hat.“ Dafür sei der besagte Plan verantwortlich, der zu einer „Nivellirung“ der „äusseren Erscheinung“ geführt habe. An ihre Stelle solle eine „Harmonie“ von „Erscheinung“ und „Zwecken“ treten, deren spezifische räumliche Verteilung für das „kundige Auge“ sichtbar sei. Und so war Bruchs Ziel die Auflösung der „einheitliche[n] Masse“ und die Schaffung einer dezentralisierten Großstadtlandschaft mit funktional und baulich spezifizierten Quartieren.37 Folgende Einheiten sollte die anvisierte neue Stadt umfassen: Gebiete für die „Indust-
36 Bruch, Berlin‘s bauliche Zukunft, S. 3, 24. 37 Ebd., S. 15f., 2, 54.
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rie“, die verkehrsgünstig am Rand der Stadt liegen, eine zentral situierte „Geschäftsstadt“, darum herum „Wohnquartiere“ aus kleinen Baublöcken, die kleine Häuser ermöglichen, und „Luxusquartiere“ in der Nähe von Parks oder Promenaden.38 Für ein statistisch informiertes Auge waren Ansätze einer sozialen und funktionalen Separierung in Berlin erkennbar. Bruch hatte darüber einige Klarheit, setzte er sich doch in verschiedenen Aufsätzen im statistischen Jahrbuch mit der „Vertheilung von Reichthum und Armuth“ auseinander.39 Ebenso war er mit den Veränderungen der inneren Stadt vertraut, wo die Volkszählungen eine Abnahme der Bevölkerung und eine Konzentration des Handels verbuchten. Dennoch war Berlin Anfang der 1870er Jahre eine verhältnismäßig gemischte Stadt. Dass aus ersten Neuverteilungen zukunftsweisende Tendenzen wurden, dazu bedurfte es eines Vergleichs mit anderen Städten: Eher als die demographischen Bewegungen, die das statistische Büro in Berlin verzeichnete, waren es die aus Paris und vor allem London bekannten Entwicklungen, aus denen Bruch seine Vorstellung einer zonierten Stadt gewann.40 Auch Schwabe machte aus der Londoner Entwicklung eine allgemeine Norm: „In demselben Masse als Wohnung und Geschäft sich trennen, in demselben Masse als das Centrum der Stadt sich vorherrschend aus Läden, Comtoirs, Speichern, Bureaus und andern Geschäftslokalen zusammensetzt, wo des Tages blos gearbeitet und des Nachts nur gewacht wird“, schrieb er, „in demselben Masse beginnt die normale Entwicklung der Grossstadt. Ihr Zielpunkt ist, in der eigentlichen Centralstadt nur zu arbeiten, und im Ring der Stadt, in guter Luft zu wohnen.“41 Eine solche Entwicklung setzte sich in Berlin in den 1890er Jahren durch, nachdem der Verkehr ausgebaut worden war – um 1870 war sie noch Mutmaßung. Bruchs Modell einer in Zonen gegliederten Stadt ist Produkt einer Hochrechnung, die bestimmte, als Modernisierung verstandene Veränderungen isoliert und, mit sozialpolitischen und ökonomischen Argumenten überformt, als Norm setzt. Beobachtbare Tendenzen, die als nuancierte Neuverteilungen erkennbar sind,
38 Ebd., S. 31f.; vgl. Baumeister, Stadt-Erweiterungen, S. 80–83. 39 Vgl. Ernst Bruch: Zur Organisation der Wohlthätigkeits-Armenpflege in Berlin. Die Vertheilung von Reichthum und Armuth in den Stadtbezirken, in: Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 3 (1869), S. 107–154; ders.: Politische Topographie Berlins, in: Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 5 (1871), S. 96–112. 40 Ernst Bruch: Wohnungsnoth und Hülfe, in: Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 6 (1872), S. 14–85, S. 50f., 56. 41 Schwabe, Die Königliche Haupt- und Residenzstadt Berlin, S. 172f.; vgl. auch Ernst Bruch: Ueber Princip und Resultat der letzten Volkszählung vom 1. December 1871, in: Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik 6 (1872), S. 1–14, S. 11.
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Abb. 4: Bebauungsplan von Frankfurt a. M. 1891. Aus: Juan Rodriguez-Lores, Gerhard Fehl (Hg.): Städtebaureform 1865-1900. Von Licht, Luft und Ordnung in der Stadt der Gründerzeit. Teil 2, Hamburg 1985, S. 317.
werden dabei in Einheiten überführt, die funktional wie sozial homogenisiert und kategorial voneinander geschieden sind. Diese Einheiten verstand Bruch als Ergebnis eines selbstläufigen Prozesses, und daher zielte der Planungsansatz, den er in seiner Kritik des Berliner Bebauungsplans vorlegte, auch nicht auf zusätzliche Verordnungen – er schlug vielmehr vor, den bestehenden Plan zurückzunehmen und nur die wichtigsten Verkehrsverbindungen zu bestimmen (Abb. 3).42 Die Gestaltung der Flächen dazwischen sollte „der Privatunternehmung“ überlassen bleiben, denn von ihr erwartete sich Bruch eine „Individualisirung“ der Stadtteile, die er im Berliner Städtebau vermisste.43 Diese Auffassung verbreitete sich, nachdem sie der zu Beginn erwähnte Ingenieur Reinhard Baumeister in sein Städtebau-Handbuch aufnahm. Da sich die gewünschte Differenzierung der Bebauung aber nicht von selbst einstellte und Villenquartiere immer wieder vom Eindringen von Industriebetrieben und Mietskasernen
42 Im Originalplan sind die vorgesehenen neuen Straßen und Straßendurchbrüche rot eingetragen, die zu erhaltenden Straßen im Erweiterungsgebiet sind rot strichliert. Im Hintergrund ist, schwarz strichliert, der kritisierte Bebauungsplan von 1862 zu sehen. 43 Bruch, Berlin‘s bauliche Zukunft, S. 97, 75, 106; vgl. Baumeister, Stadt-Erweiterungen, S. 91.
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Abb. 5: Heinrich Silbergleit, Wohnungsaufnahme 1905 in Berlin, 1911. Aus: Werner Hegemann: Der Städtebau, nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin. Bd. 1, Berlin 1911, Abb. 5.
bedroht waren, übernahmen in den 1890er Jahren Zonenbauordnungen diese Aufgabe. Nachdem bereits zuvor in verschiedenen Städten einzelne Straßen oder Quartiere für Villen ausgewiesen worden waren, trat in Frankfurt am Main 1891 eine Bauordnung in Kraft, die als erste Baudichte und -höhe im gesamten Stadtraum abstufte und „Innenstadt“, „Wohnviertel“, „Fabrikviertel“ und „gemischte Viertel“ unterschied, wobei „Wohnviertel“ in erster Linie „Villenquartier“ meinte (Abb. 4). Argumentiert wurde die soziale und funktionale Segregation vorrangig mit hygienischen Maßgaben. Dem 1873 gegründeten Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege, der sich für Zonenbauordnungen einsetzte, war klar, dass eine weiträumige Bebauung für alle kaum durchzusetzen war, und so wurde die Ausweisung von Villenquartieren zum Mittel einer Auflockerung des städtischen Raumes, die, so die Auffassung, allen zugute käme.44 44 Vgl. dazu Juan Rodríguez-Lores: Stadthygiene und Städtebau: Zur Dialektik von Ordnung und Unordnung in den Auseinandersetzungen des Deutschen Vereins für Öffentliche Gesundheitspflege 1868–1901, in: ders./Gerhard Fehl (Hg.), Städtebaureform 1865–1900. Von Licht, Luft und Ordnung in der Stadt der Gründerzeit, Teil 1, Hamburg 1985, S. 19–58; Andreas Weiland: Die Frankfurter Zonenbauordnung von 1891 – eine ‚fortschrittliche‘ Bauordnung? In: Juan Rodríguez-Lores/Gerhard Fehl (Hg.), Städtebaureform 1865–1900. Von Licht, Luft und Ordnung in der Stadt der Gründerzeit, Teil 2, Hamburg 1985, S. 343–388.
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Abb. 6: Heinrich Silbergleit, Verteilung und Besetzung von Gewerbe, Industrie und Handel in Berlin und den Vororten, 1911. Aus: Hegemann: Der Städtebau, Bd. 1, Abb. 60.
STANDARDISIERUNG UND POPULARISIERUNG Auch weiterhin unterstützte das Statistische Bureau der Stadt Berlin die Reformbewegung. Dass ein Statistiker selbst als Städtebauexperte auftritt, das war aber schon Ende der 1870er Jahre schwer vorstellbar. Denn so wie sich die Reformdiskurse spezialisierten und voneinander trennten, bildete sich die Statistik als eigenes Wissensfeld heraus, in dem es um die Herstellung von Daten ging, nicht aber um deren Interpretation. Entsprechend gestalteten Schwabes Nachfolger das Jahrbuch um, aus dem die Texte sukzessive verschwanden. Schon 1875, nach Schwabes Tod, entfielen die Abhandlungen; übrig blieb der mit Kommentaren durchsetzte statistische Teil, dessen Themen sich vervielfältigten. Sein Nachfolger Richard Böckh standardisierte das Jahrbuch dann weitgehend und bemühte sich um Neutralität, was freilich nicht verhinderte, dass sich in den Kategorien selbst, wie in der erwähnten „Behausungsziffer“, Themen und Auffassungen der Reformdebatte manifestierten. Heinrich Silbergleit, der Anfang des 20. Jahrhunderts das Amt über-
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nahm, trennte Text und Tabellen endgültig, um schließlich den Text ganz wegzulassen. Die Statistik wurde zum reinen Tabellenwerk.45 Dass die „moderne Tatsache“ durch Trennung von numerischen Daten und Interpretation entsteht, wie es Mary Poovey beschrieben hat,46 kann anhand der Entwicklung des Berliner Jahrbuchs gut nachvollzogen werden. Der reformerische Geist ging dabei nicht verloren. Ab den 1880er Jahren beteiligte sich das Statistische Amt der Stadt Berlin, wie es nunmehr hieß, an verschiedenen Hygiene-Ausstellungen und 1910 an der planungshistorisch so wichtigen Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin.47 Anders als in der Anfangszeit fungierte das Büro hier jedoch lediglich als Zulieferer – es unterstützte die Reformbewegung mit Zahlen- und Bildmaterial, überließ es aber anderen, daraus Rückschlüsse zu ziehen. Mit den Ausstellungsbeteiligungen vermehrte sich die Produktion von Karten und Diagrammen, die sich nun an das allgemeine Publikum richteten. Die Statistik wurde also nicht nur standardisiert, sie erfuhr gleichzeitig eine Popularisierung. Ab Mitte der 1920er Jahre bildete sich damit ein eigener Zweig aus, die „Bildstatistik“, die sich um die Vermittlung der Daten bemühte. Sowohl die statistischen Ämter selbst engagierten sich auf diesem Feld,48 wie externe Fachleute, die sich, von den Statistikern mit Argwohn bedacht, auf die Popularisierung der Graphiken spezialisierten.49 Verglichen mit diesen späteren Darstellungen, die bestimmte Botschaften oft plakativ ins Bild setzten, erscheinen die Karten und Diagramme der 1910er Jahre wenig populär.
45 Vgl. dazu Statistisches Landesamt Berlin, 100 Jahre Berliner Statistik, S. 45–84, das diese ‚Reinigungsarbeit’ natürlich als Erfolgsgeschichte beschreibt. 46 Mary Poovey: A History of the Modern Fact. Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago/London 1998, vgl. insb. das Vorwort. 47 Vgl. dazu die Übersicht in Silbergleit, Das Statistische Amt der Stadt Berlin, S. 74–81. 48 Im Statistischem Amt der Stadt Berlin wurde in den 1920er Jahren eine graphische Abteilung eingerichtet, die sich um Popularisierung bemühte – vgl. Statistisches Landesamt Berlin, 100 Jahre Berliner Statistik, S. 110. 49 Sybilla Nikolow: Imaginäre Gemeinschaften. Statistische Bilder der Bevölkerung, in: Martina Heßler (Hg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der frühen Neuzeit, München 2006, S. 263–277, S. 269–271.
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Abb. 7: Gustav Kemmann, Vergleich der täglichen Fahrten in Berlin und London, 1911. Aus: Hegemann: Der Städtebau, Bd. 1, Abb. 46/47.
DIE ALLGEMEINE STÄDTEBAU-AUSSTELLUNG IN BERLIN 1910 Dass Statistik dennoch ein Massenpublikum begeistern konnte, zeigte die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden, die über fünf Millionen Besucher und Besucherinnen anzog. Sie erhielt dort sogar einen eigenen Raum, der das „Herz“ der Ausstellung bildete. Über 4000 statistische Graphiken waren insgesamt zu sehen, die Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliches Problem darstellten.50 So populär war die Allgemeine Städtebau-Ausstellung, die im Mai 1910 eröffnet wurde, nicht. Immerhin sahen sie 65 000 Besucher; zudem wurde sie im selben Jahr in Düsseldorf und, in einer Auswahl, bei der International Town Planning Conference in London gezeigt. Für die internationale Fachwelt war sie jedenfalls ein Ereignis – mit ihm formierte sich der Städtebau, oder die Planung, wie es auch im deutschsprachigen Raum bereits vereinzelt hieß,51 als Disziplin. Anlass der Ausstellung war der Wettbewerb Groß-Berlin, dessen Ergebnisse auf der Ausstellung
50 Ebd., S. 265–267. 51 Rudolph Eberstadt/Bruno Möhring/Richard Petersen: Groß-Berlin: ein Programm für die Planung der neuzeitlichen Großstadt, Berlin 1910.
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präsentiert wurden, die in der Hochschule für die bildenden Künste in Charlottenburg stattfand.52 Die Stadt Charlottenburg war Teil der Berliner Agglomeration, die 1910 noch keine Planungs- und Verwaltungseinheit bildete – aber dies zu ändern, war Ziel des Wettbewerbs. Erste Schritte dazu hatte das Statistische Amt der Stadt Berlin bereits unternommen, das schon länger Daten aus den Berliner Vororten aggregierte und Anfang des Jahres 1910 damit begann, gemeinsam mit den statistischen Ämtern der Nachbargemeinden statistische Berichte zu Groß-Berlin herauszugeben.53 Ergebnisse dieser Bemühungen waren auf der Ausstellung zu sehen. Die Statistik erhielt hier keinen separaten Raum – sowohl im Führer wie im Katalog, den Werner Hegemann, der Generalsekretär der Ausstellung, herausgab, war sie aber äußerst präsent. Hegemanns Bände sind von einer Vielzahl statistischer Karten und Diagramme durchsetzt, und im kleinen handlichen Führer springt eine Tabelle ins Auge, die die Besucher darauf aufmerksam machte, wie groß der Teil des Einkommens war, den sie für die Miete ausgeben.54 In der Ausstellung wurde die Abteilung „Gartenstädte“ eben damit kontrastiert; ebenso war dort ein Diagramm zu sehen, das den nach wie vor hohen Anteil an dicht belegten Einzimmerwohnungen zeigte (Abb. 5),55 deren Elend die berühmten Fotos der Ortskrankenkassen ins Bild setzten.56 Eine gebündelte Kritik der Mietskaserne gab es nicht;57 suggestive Bildstatistiken und Fotomontagen, die kranke Kinder in dunklen Höfen nebst Statistiken zeigten, wurden erst später eingesetzt.58 Bemerkenswert ist jedoch
52 Vgl. Harald Bodenschatz u.a. (Hg.): Stadtvisionen 1910/2010, in: dies. (Hg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin, Paris, London, Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin, Berlin 2010, S. 16–27; Christoph Bernhardt/Harald Bodenschatz: Berlin 1910 – Kulminationspunkt einer internationalen Städtebau-Bewegung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1/2010, S. 5–13. Zur Rolle des deutschsprachigen Raumes für die internationale Städtebaubewegung insgesamt vgl. Anthony Sutcliffe: Towards the Planned City. Germany, Britain, the United States and France 1780–1914, Oxford 1981. 53 Statistisches Landesamt Berlin, 100 Jahre Berliner Statistik, S. 75–79. 54 Führer durch die Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin 1910, Berlin 1910; Werner Hegemann: Der Städtebau, nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin, 2 Bde., Berlin 1911/13. 55 Links zeigt das Diagramm die Belegungsdichte der Wohnungen nach Wohnungsgröße gestaffelt, rechts die Zusammensetzung der Bewohner und damit den Anteil an Familienfremden in der Wohnung. Das Spektrum reicht dabei von Einzimmerwohnungen (unten) bis zu Wohnungen mit 10 bis 17 Zimmern (oben). 56 Auf den Fotos sind vor allem Tuberkulosekranke zu sehen, wobei der Zusammenhang zwischen Wohnung und Krankheit oft der ist, dass arbeitslos gewordene Kranke sich meist nur die schlechtesten Wohnungen leisten können. Vgl. Hans-Jürgen Teuteberg/Clemens Wischermann: Wohnalltag in Deutschland 1850–1914, Münster 1985, S. 99. 57 Vgl. Caroline Flick: Werner Hegemann (1881–1936). Stadtplanung, Architektur, Politik. Ein Arbeitsleben in Europa und den USA, Bd. 1, München 2005, S. 150–155. 58 Prototypisch dafür ist die Ausstellung 1935 im Stedelijk Museum in Amsterdam, die die Ergebnisse des vierten Congrès International d’Architecture Moderne von 1933 präsentierte – vgl. van Es u.a., Atlas of the Functional City, 445–458. Als Vorläufer dieser Ikonografie kann das Plakat von Käthe Kollwitz für die erste Versammlung des von Hegemann initiierten Propaganda-Ausschusses für Groß-Berlin von 1912 gelten. Vgl. dazu Flick, Werner Hegemann, S. 297–315.
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Abb. 8: Heinrich Silbergleit, Verteilung der Industrie- und Handelsunternehmen in Berlin, 1912. Aus: Werner Hegemann: Der Städtebau, nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin. Bd. 2. Berlin 1912, Abb. 246.
gerade, dass die Ausstellung Statistiken in lapidarer Form präsentierte: nicht als Schockmittel, sondern als selbstverständliches Planungswerkzeug. So bestand die Abteilung „Verkehrs- und Transportsysteme“ zu einem großen Teil aus Karten und Diagrammen, die Verkehrsflüsse darstellten, wie aus Graphiken etwa zum Wachstum der Berliner Agglomeration oder der Verteilung von Gewerbe, Industrie und Handel (Abb. 6–8). Diese Darstellungen kamen den Planern entgehen, denen es um Themen ging, die in herkömmlichen Bebauungsplänen nicht behandelt wurden: Verkehrsentwicklung, Bauklassen- und Grünflächenverteilung und die Regulierung der Bevölkerungsdichte. Die Preisträger des Wettbewerbs Groß-Berlin setzten sich detailliert mit der Frage von Industriestandorten und Zonenbauordnungen auseinander, die Bauhöhen und damit Bevölkerungsdichte vom Zentrum zur Peripherie hin abstuften (Abb. 9). Verkehrsnetze und Grünzüge wurden entworfen, mit denen
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Abb. 9: Joseph Brix und Felix Genzmer, Vorschlag für die Bauklassen- und Freiflächenverteilung, Wettbewerb Groß-Berlin 1910, Architekturmuseum TU Berlin, Inv. Nr. 20124.
die Einheit des neuen „Stadt-Organismus“ hergestellt werden sollte.59 Auch Architekturentwürfe und monumentale Stadtkronen waren Bestandteil der Beiträge, doch viele der eingereichten Pläne arbeiteten mit neuen Figurationen, mit farbigen Netzen und Zonen, die in abstrakter Form Zirkulation, Nutzung und Dichte regulierten und sich in nichts von thematischen Karten unterschieden.60 Darstellungen dieser Art fanden sich auch in den Beiträgen anderer Städte. Wien und München etwa zeigten Zonenbauordnungen neben herkömmlichen Bebauungsplänen und Architekturdarstellungen; und aus Paris waren Verkehrs- und Grünraumpläne zu sehen, die in der in Frankreich besonders ausgeprägten Tradition thematischer Kartographie standen.61 Über den Fall Berlin hinaus lässt sich feststellen, dass die Tabellen, Karten und Diagramme, die Bevölkerungsdichte und soziale
59 Markus Tubbesing: Der Wettbewerb Groß-Berlin: Die Suche nach der Einheit im GroßstadtChaos, in: Harald Bodenschatz u.a. (Hg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin, Paris, London, Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin, Berlin 2010, S. 64–69. 60 Vgl. Wettbewerb Groß-Berlin 1910. Die preisgekrönten Entwürfe mit Erläuterungsberichten, Berlin 1911. 61 1919 wurden die Erweiterungsplanungen für Paris mit einer Ausstellung eingeleitet, die das seit den 1880er Jahren produzierte Kartenmaterial zu Paris versammelte. In Bezug darauf wie
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Klassen, Gewerbe und Industrie, Verkehrsströme und Wanderungsbewegungen in ihrer räumlichen Verteilung erfassten, zu neuen Stadt- und Planungsvorstellungen führten. In ihnen trat die städtische Bevölkerung als eine Figur in Erscheinung, die selbständig und dynamisch, doch zugleich steuerbar schien, wenn nur genügend Kenntnisse über sie vorlagen. Damit entstand ein neues städtebauliches Denken, das die Stadt als einen Raum von Stauungen und Ballungen, Flüssen und Zirkulationen begreift – als einen Raum, der sich ständig verändert und dennoch mehr oder weniger stabile Zonen ausbildet. Auch hier geht es um Grenzziehung: Durch statistische Kategorisierungsarbeit wurde der städtische Raum in neue Einheiten segmentiert und in Zonen gegliedert – Zonen, die auf bestehenden Vorstellungen basierten, diese jedoch absicherten und in Form brachten und letztlich auch zu rechtlichen Festsetzungen führten.
mit einem Seitenblick auf die Städtebau-Ausstellung in Berlin, spricht Enrico Chapel in Chapel: L’œil raisonné daher, so der Untertitel, von der Erfindung der modernen Stadtplanung aus dem Geist der statistischen Karte.
REGENMESSER FÜR DEN STAAT: NIEDERSCHLAGSSTATISTIK UND ANWENDUNGSERWARTUNGEN IN DER SCHWEIZ (1860–1920) Franziska Hupfer Der Beitrag beleuchtet die Rolle der Niederschlagsstatistik als nationalstaatliches Modernisierungsinstrument. Er argumentiert, dass der von Wissenschaftlern hergestellte Nexus zwischen Datenerhebung und praktischem Nutzen für die Institutionalisierung der Meteorologie entscheidend war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten Meteorologen in der Schweiz nicht nur, ihr Feld als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, sondern auch zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Anbauplanung beizutragen. Zudem arbeiteten sie darauf hin, Niederschlagsstatistiken für den Hochwasserschutz und die Wasserkraftnutzung anwendbar zu machen. So erlangte die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt eine starke Position innerhalb der Bundesverwaltung. This paper deals with the history of precipitation measurements and their role as a modernizing tool of the Nation State. It argues that the connection scientists made between data collection and practical benefits was essential for the institutionalization of meteorology as a state science. In the second half of the 19th century, meteorologists in Switzerland not only tried to establish their field as a scientific discipline, they also intended to use their knowledge to improve agricultural productivity. In addition, they attempted to make precipitation statistics applicable to flood prevention and the exploitation of hydropower resources. As a consequence, the Swiss Meteorological Institute gained a strong position within the state administration. Das Wetter ist als Gegenstand des Wissens prekär, weil es sich ständig verändert. Dennoch halten Wissenschaftler es seit dem 18. Jahrhundert mithilfe von Instrumenten in Momentaufnahmen fest und leiten daraus eine abstrakte Größe ab: das Klima. Eines der zentralen Elemente ist dabei der Niederschlag. Als Regen oder Schnee gefallen, wird er in einen numerischen Wert übersetzt, der angibt, wie viele Liter Wasser auf einen Quadratmeter Fläche gefallen sind. Wenn Naturwirklichkeit in Tabellen, Grafen oder Diagramme transformiert wird, vollzieht sich nach Bruno
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Latour ein komplexer Konstruktionsprozess und nicht etwa ein Akt simpler Repräsentation.1 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den situativen Kontexten solcher Abläufe der Wissensproduktion. Er beleuchtet unter kulturgeschichtlicher Perspektive, in welchem institutionellen Beziehungsgefüge die Niederschlagsstatistik als neue Wissensform entstanden ist. Heute scheint es selbstverständlich, dass Niederschlagsmessungen und andere umweltbezogene Datenerhebungen nationalstaatliche Aufgaben sind. Ganz anders im 19. Jahrhundert: Vom damaligen Blickpunkt aus war die Kooperation von Naturwissenschaft und Nationalstaat eine neue Entwicklung. Hier setzt der vorliegende Beitrag an und untersucht die Entstehungsbedingungen der symbiotischen Beziehung. Dafür wird der Blick auf die Jahrzehnte ab Mitte des 19. Jahrhunderts gerichtet – auf die Zeit also, in der die meisten europäischen Nationalstaaten meteorologische Stellen schufen, die je nachdem als Bureau, Institut, Zentralanstalt oder Zentralobservatorium bezeichnet wurden.2 Deren Aufgabe war es, Beobachtungen aus dem gesamten Territorium zu sammeln, womit nationale Grenzen zum dominierenden Strukturprinzip für die meteorologische Datenerfassung wurden. Die daraus resultierenden Statistiken vermittelten wie andere wissenschaftliche Erhebungen den Eindruck eines natürlich zusammengehörenden Raumes.3 Somit unterstützten sie die ideologische Konstruktion der Nation und stärkten das Staatsbewusstsein. Während sich die Wetterbeobachtung und -forschung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts staatlich institutionalisierte, kennzeichnete sich die moderne Statistik bereits seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert durch eine Nähe zur staatlichen Macht. Im Fokus standen zahlenmäßig messbare wirtschaftliche Aktivitäten und die Bevölkerungszusammensetzung. Später wurde auch die Natur – inklusive des Wetters – zu einem Gegenstand statistischer Analyse. Naturwissenschaftler des 1 2
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Siehe das Kapitel „Zirkulierende Referenz“ in Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 36–95. Eine Ausnahme bildete das Deutsche Reich, wo keine zentrale Einrichtung entstand. Siehe Klaus Wege: Die Entwicklung der meteorologischen Dienste in Deutschland, Offenbach 2002. Zu Einrichtungen weiterer Staaten siehe: James Rodger Fleming: Meteorology in America, 1800–1870, Baltimore/London 1990; Katharine Anderson: Predicting the Weather. Victorians and the Science of Meteorology, Chicago 2005; Simon Naylor: Nationalizing provincial weather. Meteorology in nineteenth-century Cornwall, in: The British Journal for the History of Science 39, 3 (2006), S. 407–433; Fabien Locher: Le savant et la tempête. Étudier l’atmosphère et prévoir le temps au XIXe siècle, Rennes 2008; Deborah R. Coen: Climate and Circulation in Imperial Austria, in: The Journal of Modern History 82 (2010), S. 839–875; Jeremy Vetter: Lay Observers, Telegraph Lines, and Kansas Weather. The Field Network as a Mode of Knowledge Production, in: Science in Context 24, 2 (2011), S. 259–280. Die Schreibweise der schweizerischen Institution war nicht einheitlich; hier wird durchgängig „Meteorologische Zentralanstalt“ verwendet. Zur Rolle von Naturwissenschaften in Nationalisierungsprozessen siehe: Ralph Jessen/Jakob Vogel (Hg.): Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a. M. 2002; Carol E. Harrison/Ann Johnson (Hg.): National Identity. The Role of Science and Technology, Chicago 2009; Mitchell G. Ash/Jan Surman (Hg.): The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918, Basingstoke/New York 2012.
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19. Jahrhunderts integrierten Methoden der Statistik in ihre induktiven Verfahren, in der Hoffnung, so bisher verborgene Zusammenhänge zu erkennen. In welcher Form die dafür nötigen Datenerhebungen organisiert werden sollten, war eine offene Frage. Vielen Wissenschaftlern schien es zweckdienlich, die Sammlung meteorologischer Beobachtungen bereits bestehenden statistischen Ämtern zu übertragen. 1847 wurde beispielsweise eine meteorologische Abteilung im Preußischen Statistischen Bureau eingerichtet.4 Auch in der Schweiz hatte die nationale Naturforschende Gesellschaft, als sie 1863 ein Wetterbeobachtungsnetz einrichtete, das Eidgenössische Statistische Bureau als Sammelstelle vorgesehen.5 Aber dessen begrenzte Mittel machten dies unmöglich, sodass eine separate Einrichtung geschaffen wurde. Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt und ihre Pendants in anderen Ländern agierten im Überschneidungsbereich zwischen staatlicher Verwaltung und akademischem Milieu. Um ihre Entwicklungen zu beschreiben, befriedigt weder die Annahme einer autonomen Wissenschaft noch das gegenteilige Bild einer staatlichen Steuerung. Statt Wissenschaft und Politik als strikt getrennte Bereiche zu betrachten, möchte der vorliegende Beitrag in Anlehnung an den Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash die Interaktionen in den Vordergrund rücken.6 Zudem kann an die Überlegungen des Soziologen David Kaldewey angeknüpft werden. Er zeigt in seiner 2013 erschienen Monografie mit dem Titel „Wahrheit und Nützlichkeit“, dass die Spannung zwischen Autonomie- und Praxisdiskursen konstitutiv für die Dynamik der modernen Wissenschaft ist.7 Das Ökonomische begreift Kaldewey als ein wichtiges Strukturmoment der wissenschaftlichen Selbstreflexion.8 Auf den hier untersuchten Fall übertragen, lässt sich die These formulieren, dass sich die Meteorologie nicht nur aufgrund eines entsprechenden Außendrucks an praktischen Bedürfnissen orientierte, sondern Nützlichkeit in ihrem Selbstverständnis einen hohen Stellenwert hatte. Die vorliegende Untersuchung nutzt die Geschichte der Niederschlagsstatistik, um zu analysieren, wie Anwendungsmöglichkeiten meteorologischen Wissens verhandelt wurden. Beobachtet wird dies anhand der Entwicklungen in der Schweiz in den Jahrzehnten zwischen 1860 und 1920.
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Siehe zum Preußischen Statistischen Bureau Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a. M. 2013. Siehe Albert Mousson: Bericht der meteorologischen Kommission über die Organisation eines Systems gemeinsamer meteorologischer Beobachtungen durch die ganze Schweiz, in: Bundesblatt 2, 26 (1862), S. 486–500, S. 495–496. Siehe zum Eidgenössischen Statistischen Bureau: Hans Ulrich Jost: Von Zahlen, Politik und Macht. Geschichte der schweizerischen Statistik, Zürich 2016. Siehe Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51, insb. S. 33. David Kaldewey: Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz, Bielefeld 2013. Ebd., S. 417–427.
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Im Zentrum stehen folgende Fragen: Welche Anwendungserwartungen trieben inwiefern die nationalstaatliche Institutionalisierung der Niederschlagsstatistik voran? Wie veränderte sich die Gewichtung praktischer Nützlichkeit innerhalb der Meteorologie? Und in welchem Zusammenhang standen die Argumentationen der beteiligten Akteure und ihre jeweilige institutionelle Stellung im Prozess der Wissensproduktion? Um diese Fragen zu beantworten, werden drei Anwendungsfelder beleuchtet: die Landwirtschaft, der Hochwasserschutz und die Wasserkraftnutzung. DATENSAMMELN UND MODERNISIERUNGSPOLITIK: DIE KONSTRUKTION LANDWIRTSCHAFTLICHER RELEVANZ Im Jahr 1860 lancierte die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft ein Projekt, das eine landesweite systematische Erhebung von Wetterdaten vorsah. Bald entstand ein meteorologisches Beobachtungsnetz mit 88 Stationen und einer Zentralstelle, die der Bundesstaat finanzierte. Dass sich der Bundesstaat in die meteorologische Wissensproduktion einschaltete, hing mit seinem Streben nach mehr Verwaltungskompetenz zusammen. Der Politikwissenschaftler James C. Scott hat in seiner vielzitierten Studie „Seeing Like a State“ analysiert, wie Staaten versuchten, Gesellschaft und Natur rationell zu verwalten, indem sie systematisch Informationen sammelten. Seine These lautet, dass sich das Projekt der Moderne gerade darin manifestiere, Gesellschaft und Natur „lesbar“ zu machen.9 Betrachtet man meteorologische Beobachtungsnetze mithilfe Scotts Lesbarkeitsbegriffs, so lassen sie sich als potenzielle Werkzeuge einer staatlichen Modernisierungspolitik beschreiben. Diese basierte auf der Prämisse, dass verschiedene Wirtschaftszweige von staatlich bereitgestellten Statistiken über die natürlichen Rahmenbedingungen profitieren würden. Auch der 1848 gegründete schweizerische Bundesstaat positionierte sich als Dienstleister, der die Grundlagen für eine prosperierende Volkswirtschaft schaffen sollte.
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Siehe James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998. Zur angestrebten Lesbarkeit, wofür die Landesvermessung eine Grundvoraussetzung war, siehe auch: David Gugerli: Kartographie und Bundesstaat. Zur Lesbarkeit der Nation im 19. Jahrhundert, in: Andreas M. Ernst/Albert Tanner/Matthias Weishaupt (Hg.), Revolution und Innovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848, Zürich 1998, S. 199–215.
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Abb. 1: Ein Beobachter präsentiert seinen Regenmesser. Auch nachdem die Meteorologische Zentralanstalt 1881 zu einer bundesstaatlichen Einrichtung geworden war, wurden die Messstationen vorwiegend von Freiwilligen geführt. Unbekannter Fotograf, „Niederschlagsmesser“, undatiert, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Hs_1458-GK-B000-GLAZ-71.
Eine bundesstaatliche Hoheit über Niederschlagsmessungen entwickelte sich erst allmählich. Ab den 1870er Jahren entstanden neben dem bestehenden Netz der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt zahlreiche Stationen, die Niederschlagsmengen erfassten. Sie wurden von Privaten, Gemeinden oder Kantonen finanziert. Im Kanton Thurgau beispielsweise organisierte ein Gymnasiallehrer, unterstützt von der Thurgauischen Naturforschenden Gesellschaft und der Kantonsregierung, 25 Regenmessstationen.10 Diese waren von der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt unabhängig, auch nach deren Statuswechsel zu einem offiziellen Bundesinstitut im Jahr 1881. Die Zentralanstalt forderte aber Kantone mit keinen oder nur wenigen Regenmessstationen dazu auf, ebenfalls finanzielle
10 Siehe Meteorologische Beobachtungen im Canton Thurgau, in: Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie 16 (1881), S. 345–346. Eine historische Analyse bietet: Michael Bürgi: Hinlänglich gebildet und republikanisch gesinnt. Meteorologie im bürgerlichen Verein, in: Ders./Daniel Speich (Hg.), Lokale Naturen. 150 Jahre Thurgauische Naturforschende Gesellschaft, 1854–2004, Weinfelden 2004, S. 37–62.
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Hilfe zu leisten.11 Sie selbst konnte wegen ihres knappen Etats nur beschränkt neue Stationen gründen. So schrieb ihr Direktor 1881, dass Kenntnisse über die Niederschlagsverhältnisse des Landes nur gewonnen werden könnten, „wenn Private, Kantone und das eidgen[össische] Institut“ zusammenwirkten.12 20 Jahre später kam die Kooperation von Kantonen und Bund zu einem Ende, indem alle Regenmessstationen der Zentralanstalt direkt unterstellt wurden.13 Ein Gesetz schrieb den Unterhalt eines Niederschlagsmessnetzes als bundesstaatliche Aufgabe fest.14 Jedoch ging die Wissensproduktion nicht vollständig an die Bundesverwaltung über, denn einen Großteil der Daten erhoben nach wie vor ehrenamtliche oder nur bescheiden entlohnte Beobachter. Der Erfolg der amtlichen Niederschlagsstatistik war auch das Verdienst dieser Freiwilligen.15 Die schweizerische Regierung legitimierte die Ausgaben für die Wetterbeobachtung damit, dass diese ökonomisch relevant sei. Bundesrat Giovanni Battista Pioda, der sich in den 1860er Jahren für eine systematische Datenerhebung einsetzte, stellte einen großen Nutzen für die Landwirtschaft in Aussicht.16 Von wissenschaftlicher Seite wurden diese Erwartungen genährt. Meteorologen argumentierten, genaue Kenntnisse über die Niederschläge würden es möglich machen, den landwirtschaftlichen Anbau zu optimieren.17 Die wissenschaftlich-statistische Bearbeitung der Frage, wie landwirtschaftliche Erträge vom Klima abhingen, war als Alternative zu tradiertem Erfahrungswissen konzipiert.18 Neu war auch die Politisierung landwirtschaftlich nutzbaren Wissens auf nationaler Ebene. Das Bestreben, 11 Siehe Robert Billwiller: Bericht & Antrag betreffend die Errichtung einer grössern Anzahl von Regenmessstationen, November 1881 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 131); ders.: Bericht über die Entwicklung des Regenmess-Stations-Netzes, 16.5.1883 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 149). 12 Robert Billwiller: Die Messung der atmosphärischen Niederschläge, in: Schweizerische landwirthschaftliche Zeitschrift 9 (1881), S. 432–438, S. 438. 13 Bürgi, Hinlänglich gebildet, S. 60. 14 Bundesgesetz über die schweizerische meteorologische Centralanstalt. (Vom 27. Juni 1901.), in: Bundesblatt 3, 27 (1901), S. 895–898. 15 Zu Freiwilligen in der Datenerhebung siehe: Jeremy Vetter: Introduction. Lay Participation in the History of Scientific Observation, in: Science in Context 24, 2 (2011), S. 127–141; Katherine Pandora: Amateurs, in: Bernard V. Lightman (Hg.), A Companion to the History of Science, Chichester 2016, S. 139–152. Siehe auch die Fallstudien: Vetter: Lay Observers; Franziska Hupfer: Das Wetter in Tabellen. Christian Gregor Brügger und die Institutionalisierung der Meteorologie, in: Patrick Kupper/Bernhard Schär (Hg.), Die Naturforschenden. Auf der Suche nach Wissen über die Schweiz und die Welt, 1800–2015, Baden 2015, S. 51–67. 16 Giovanni Battista Pioda: Kreisschreiben des eidg. Departements des Innern an sämmtliche eidg. Stände (Basel-Landschaft und Appenzell I. Rh. ausgenommen), betreffend die Organisation eines Systems gemeinsamer meteorologischer Beobachtungen durch die ganze Schweiz (Vom 14. Mai 1862.), in: Bundesblatt 2, 26 (1862), S. 481–483. 17 Siehe als Beispiel für Verweise auf eine landwirtschaftliche Nützlichkeit: Mousson, Bericht 1862, S. 498. 18 Zum Umgang mit Wetter und Klima in der Geschichte der modernen Landwirtschaft siehe: Frank Uekötter: Klima als Wille und Vorstellung. Perspektiven einer Klimageschichte der Landwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 58, 1 (2010), S. 70–89.
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neue Kenntnisse zugunsten der Landwirtschaft zu erwerben, ließ sich an eine nationalstaatliche Agrarpolitik koppeln. Meteorologische Statistik bot dem jungen schweizerischen Bundesstaat die Möglichkeit, im landwirtschaftlichen Bereich als modernisierende Instanz aufzutreten. Robert Billwiller, ab 1881 Direktor der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt, teilte die bundesstaatlichen Modernisierungsziele.19 Er behauptete, weitere Fortschritte könnten in der Agrarproduktion nur erreicht werden, wenn sich diese an neuen Kenntnissen orientiere.20 Billwillers Programm, mit Klimadaten die Anbauplanung zu optimieren, fand bei der Eidgenössischen Samenkontrollanstalt Anklang. Der Leiter dieser ersten landwirtschaftlichen Institution auf Bundesebene sah in den meteorologischen Beobachtungen ein großes Anwendungspotenzial für die Landwirtschaft. Insbesondere zeigte er sich daran interessiert, welche klimatischen Bedingungen für welche Pflanzen am erfolgversprechendsten waren.21 Um die Eignung einer Region für eine bestimmte Anbaukultur zu beurteilen, waren Extremwertstatistiken zu Niederschlägen wichtig. Doch die Regenmengen waren zeitlich sehr variabel, was längere Beobachtungsperioden nötig machte, um den Streubereich bestimmen zu können. Wer eine Pflanze außerhalb ihrer Herkunftsregion anbauen wollte, konnte Verlusten vorbeugen, indem er die Niederschlagsstatistiken konsultierte. Insbesondere Kolonialstaaten, die immer wieder daran scheiterten, neue Pflanzen in den von ihnen beherrschten Gebieten einzuführen, zeigten ein starkes Interesse an diesem statistischen Wissen.22 Tatsächlich eingesetzt wurden Klimadaten für die Anbauplanung allerdings noch kaum. Auch die Statistiken, die von der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt erarbeitet wurden, fanden wenig Berücksichtigung. 1880 räumte die Meteorologische Zentralanstalt ein: „Es ist wahr, daß speziell unsere Landwirthschaft von klimatischen Daten noch wenig Notiz genommen hat“.23 Robert Billwiller, der die Meteorologische Zentralanstalt leitete, versuchte mittels Vorträgen und Zeitschriftenartikeln, den Landwirten die Bedeutung von Niederschlagsmessungen nahezubringen und unter ihnen neue Beobachter zu gewinnen.24 Er nahm auch mit 19 Siehe Billwiller: Die Messung der atmosphärischen Niederschläge. Einen Überblick zur Geschichte der angewandten Klimatologie bietet Stanley A. Changnon: Applied Climatology. A Glorious Past, an Uncertain Future, in: James Rodger Fleming (Hg.), Historical Essays on Meteorology, 1919–1995. The Diamond Anniversary History Volume of the American Meteorological Society, Boston, MA 1996, S. 379–393. 20 Billwiller, Messung der atmosphärischen Niederschläge, S. 432. 21 Friedrich G. Stebler: Die Nutzbarmachung der meteorologischen Beobachtungen für die Bodenkultur, in: Schweizerische landwirthschaftliche Zeitschrift 9 (1881), S. 527–529. 22 Der Meteorologe Gustav Hellmann publizierte 1908 eine Abhandlung zu Niederschlagsschwankungen mit dem Hinweis, Kolonialstaaten hätten wegen fehlender Kenntnisse darüber „schlimme Erfahrungen“ bei Anbauversuchen gemacht. Siehe Gustav Hellmann: Über die extremen Schwankungen des Regenfalls, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 9 (1908), S. 605–613, S. 605. 23 Rudolf Wolf/Robert Billwiller: Bericht über die bisherige Thätigkeit und künftige Aufgabe der schweiz. meteorologischen Centralanstalt (vom 24. Juli 1880.), in: Bundesblatt 4, 50 (1880), S. 395–414, S. 400. 24 Siehe insb. Billwiller, Messung der atmosphärischen Niederschläge.
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dem Präsidenten des Schweizerischen Landwirtschaftlichen Vereins Kontakt auf und schlug vor, gemeinsam zu überlegen, was die Meteorologische Zentralanstalt für „die praktischen Zwecke“ der Landwirtschaft leisten könnte.25 Von der ausbleibenden Resonanz ließ sich Billwiller nicht entmutigen und reiste im September 1880 nach Wien, wo eine internationale Konferenz für land- und forstwirtschaftliche Meteorologie stattfand. Die teilnehmenden Meteorologen diskutierten, wie sie der Land- und Forstwirtschaft nützliche Kenntnisse bereitstellen könnten.26 Unter anderem verabschiedeten sie eine Resolution, die mehr Niederschlagsdaten forderte.27 Für die meteorologischen Institute war dies eine Empfehlung und nicht eine bindende Verpflichtung, weil die Teilnehmer der internationalen Zusammenkunft keine offiziellen Regierungsdelegierten waren. Dennoch konnte Billwiller die Resolution dazu nutzen, Ende 1881 bei der Meteorologischen Kommission, von der die Zentralanstalt beaufsichtigt wurde, die Bewilligung für die Organisation von Regenmessstationen zu erhalten.28 Praktische Nützlichkeit hatte für die Meteorologische Zentralanstalt seit ihrer Verstaatlichung einen höheren Stellenwert. Sie war nun offiziell dazu verpflichtet, wissenschaftlich und praktisch verwertbare Daten bereitzustellen.29 Gegenüber der neu aufgestellten Meteorologischen Kommission gelang es Robert Billwiller besser, Nützlichkeitsargumente geltend zu machen, als gegenüber dem früheren Aufsichtsgremium, das von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft besetzt worden war. Deren Vertreter hatten sich teilweise dagegen gewehrt, den Praxisbezug der Meteorologie zu vergrößern.30 Damit repräsentierten sie keineswegs eine Minderheit. Viele Meteorologen standen der Forderung nach einer direkteren Nutzbarmachung der Wetterbeobachtungen kritisch gegenüber. So auch der einflussreiche Wiener Meteorologe Julius Hann, der davor warnte, das Beobachtungsprogramm auf mutmaßliche Bedürfnisse der Landwirtschaft auszurichten. Nähmen meteorologische Institute zusätzliche Aufgaben in Angriff, drohte seiner Meinung
25 Schreiben Billwiller an Bonaventur Baumgartner, 24.3.1880 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 162). 26 Siehe die Einladung vom 6.3.1880 sowie das Konferenzprogramm (beide in Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 162). 27 Siehe die Protokolle (Schweizerisches Bundesarchiv, E 16 1000/40, 599) und Billwillers Bericht (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 162). 28 Siehe Billwiller, Bericht & Antrag 1881. 29 Bundesbeschluß betreffend die Errichtung einer schweiz. meteorologischen Centralanstalt (Vom 23. Christmonat 1880.), in: Bundesblatt 1, 1 (1881), S. 21–23. Siehe auch Artikel 7 des Reglements von 1904, der festlegte, die Zentralanstalt solle Arbeiten ausführen, die „im Interesse der Wissenschaft, der Landwirtschaft und des praktischen Lebens“ stünden: Reglement für die schweizerische meteorologische Zentralanstalt (Vom 13. Januar 1903.), in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft 19 (1904), S. 380–385. 30 Laut Billwiller verhielt die Meteorologische Kommission „den praktischen Fragen gegenüber sich sehr kühl oder eigentlich ablehnend“. Siehe Schreiben Billwiller an Handels- und Landwirtschaftsdepartement, 19.3.1880 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 162).
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nach eine Vernachlässigung der eigentlichen Arbeit.31 Hann sah sogar die wissenschaftliche Grundlage der meteorologischen Institute in Gefahr. Er betonte, deren Hauptaufgabe müsse weiterhin darin bestehen, Naturgesetze zu erforschen.32 Um Fragen nach den Ursachen und Gesetzmäßigkeiten der Wetterabläufe statistisch angehen zu können, verlangten Hann und andere Wissenschaftler, die Instrumente und Verfahren international zu standardisieren, was ihnen schrittweise auch gelang. Die ab 1873 stattfindenden internationalen meteorologischen Kongresse legten Beobachtungszeiten für die Messung der Niederschlagshöhen fest und empfahlen eine einheitliche Konstruktionsweise für die Auffanggefäße und Sammelflaschen.33 Dennoch war die Qualität der Regendaten umstritten. Wladimir Köppen von der Deutschen Seewarte in Hamburg vertrat die Ansicht, die meisten Niederschlagsmessungen seien für wissenschaftliche Arbeiten ungeeignet.34 Er bezweifelte, dass Regenmessnetze „einen wesentlichen Beitrag zum meteorologischen Lehrgebäude“ lieferten. Einzig durch wissenschaftliche Präzisionsarbeit werde man hinter das „Geheimniss der Regenbildung“ kommen. Anders als Wladimir Köppen sah Robert Billwiller in den Niederschlagsdaten durchaus ein Potenzial für analytische Verallgemeinerungen. Er versuchte herauszufinden, wie das topografische Relief die Regenmengen beeinflusste.35 Allerdings sollte es ihm – wie auch seinen Fachkollegen – nicht gelingen, die Häufigkeit und Intensität der Niederschläge „unter ein Gesetz zu bringen“.36 Für Robert Billwiller waren die Regenmessungen sowohl „Material zum Aufbau der Wissenschaft“ als auch praktisch nutzbare Daten.37 Als Direktor der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt bemühte er sich gleichzeitig um eine streng wissenschaftliche Konstituierung seines Faches und um eine ökonomische Verwertbarkeit des Wissensbestands. Damit kombinierte er Deutungshorizonte und Erwartungen unterschiedlicher Akteure, deren Unterstützung er so sichern konnte. Zudem konzentrierte sich Billwiller bei den Anwendungsmöglichkeiten nicht einzig auf die Landwirtschaft. Seiner Vorstellung nach sollten Niederschlagsdaten breiter in der Praxis zum Einsatz gelangen. In seinen Fokus rückten neben den Landwirten besonders die Wasserbauingenieure.
31 Julius Hann: Einige Bemerkungen zur Frage über eine directere Nutzbarmachung der meteorologischen Beobachtungen für die Bodencultur, in: Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie 16 (1881), S. 461–468, S. 462. 32 Ebd. 33 Bericht über die Verhandlungen des internationalen Meteorologen-Congresses zu Wien, 2.–16. September 1873. Protokolle und Beilagen, Wien 1873, S. 22. 34 Wladimir Köppen: Prinzipien der Verteilung meteorologischer Stationen, in: Meteorologische Zeitschrift 1 (1884), S. 437–443, S. 440. 35 Siehe Robert Billwiller: Ergebnisse der Niederschlagsmessungen im Jahre 1881, in: Schweizerische landwirthschaftliche Zeitschrift 10 (1882), S. 387–389, S. 388. 36 Zu den Erklärungsschwierigkeiten siehe: Robert Billwiller: Organisation eines Netzes von Regenmessstationen in der Schweiz, in: Wetterbericht der Schweizerischen Meteorologischen Anstalt, Nr. 210 (1882). 37 Billwiller, Messung der atmosphärischen Niederschläge, S. 435.
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REGENMENGEN ALS PRÄVENTIONSWISSEN: ABFLUSSMODELLIERUNG MIT NIEDERSCHLAGSDATEN Die meteorologische Station in Winterthur verzeichnete 1876 einen Rekord, der verheerende Folgen mit sich brachte. In den drei Tagen vom 10. bis 12. Juni fielen 305 Liter Wasser pro Quadratmeter.38 Dieser Wert ist in der mittlerweile über 150jährigen Messreihe unübertroffen geblieben.39 Nicht nur Winterthur, sondern weite Teile der Nordostschweiz waren von den extremen Niederschlagsmengen betroffen.40 Diese lösten Hochwasser aus, die zu großen Schäden führten. Nach der Katastrophe entstand ein Handlungsdruck: Bessere Präventionsmaßnahmen schienen nötig, um zukünftige Überschwemmungen zu vermeiden oder zumindest deren Auswirkungen abzuschwächen.41 Die Regierungen der betroffenen Kantone beschlossen zusätzliche Korrektionen an Flüssen und Seen. Dabei mussten sie glaubhaft machen, dass die neuen Projekte einen größeren Schutz bieten würden als die bisherigen Verbauungen. Das Hochwasserereignis von 1876 hatte nämlich gezeigt, dass die Investitionen, die in den Jahrzehnten zuvor in den Wasserbau geflossen waren, die Überschwemmungsgefahr nicht gebannt hatten.42 Deshalb sollte der Hochwasserschutz nun auf eine solidere Grundlage gestellt werden. Neben Pegelmessungen und Flussprofilen waren Niederschlagsdaten gefragt, um die Kenntnisse über den Wasserhaushalt zu verbessern. Damit eröffnete sich ab den 1870er Jahren zusätzlich zur Landwirtschaft ein neues Anwendungsfeld: der Hochwasserschutz. In der Folge wurde das Hydrometrische Bureau des eidgenössischen Oberbauinspektorats zu einem wichtigen Akteur für die Niederschlagsstatistik. 38 Robert Billwiller: Die Niederschläge im Juni 1876 in der Schweiz, in: Schweizerische Meteorologische Beobachtungen 11 (1874), S. VII–XII. 39 Simon Scherrer et al.: Historische Hochwasser. Weshalb der Blick zurück ein Fortschritt bei Hochwasserabschätzungen ist, in: Wasser Energie Luft 103, 1 (2011), S. 7–13, S. 9. 40 Die Überschwemmungen von 1876 hat der Klimahistoriker Christian Pfister als das größte sommerliche Hochwasser in der Schweiz eingestuft. Siehe Christian Pfister/Jürg Luterbacher/Daniel Brändli: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496–1995), Bern 1999, S. 227–228. Siehe auch: Reto Müller: „Das wild gewordene Element“. Gesellschaftliche Reaktionen auf die beiden Hochwasser im Schweizer Mittelland von 1852 und 1876, Nordhausen 2004, S. 95–138; Stephanie Summermatter: Die Prävention von Überschwemmungen durch das politische System der Schweiz von 1848 bis 1991, Dissertation Universität Bern, 2012, S. 250–255. 41 Zu Reaktionen auf Naturkatastrophen siehe Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000, Bern 2002; Monika Gisler/Katja Hürlimann/Agnes Nienhaus: „Naturkatastrophen“. Einleitung, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte, 3 (2003), S. 7–20; Reto Müller/Matthias Fässler/Martin Grünig: Die Not als Lehrmeisterin. Auswirkungen von Naturkatastrophen auf staatliches Handeln am Beispiel von sechs ausgewählten Krisensituationen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 55, 3 (2005), S. 257–284; Christof Mauch/Christian Pfister (Hg.): Natural disasters, cultural responses. Case studies toward a global environmental history, Lanham 2009; Nicolai Hannig: Die Suche nach Prävention. Naturgefahren im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 300 (2015), S. 33–65. 42 Siehe Daniel Vischer: Die Geschichte des Hochwasserschutzes in der Schweiz. Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Bern 2003; Summermatter, Prävention.
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Nach den Überschwemmungen im Sommer 1876 richtete das Statistische Bureau des Kantons Zürich noch im selben Jahr ein Regenmessnetz ein. Dieses sollte die Beobachtungen der zwei meteorologischen Stationen ergänzen, die sich auf dem Kantonsgebiet befanden.43 Der Leiter des Statistischen Bureaus verfasste einen Aufruf, sich als freiwillige Beobachter zu melden.44 Er erreichte, dass der Kanton, einige Gemeinden und Privatpersonen die nötigen Instrumente finanzierten.45 So entstand 1876 innert weniger Monate ein Netz mit 36 Stationen, die täglich die Niederschlagsmengen registrierten.46 Beraten und unterstützt wurde das zürcherische Statistische Bureau von Robert Billwiller.47 Die damit gesicherte Verbindung zur Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt verlieh dem Projekt mehr Bedeutung. Offiziell von der bundesstaatlichen Einrichtung übernommen wurden die Stationen aber erst Ende der 1890er Jahre. Das Bedürfnis nach Präventionsmaßnahmen führte dazu, dass Niederschlag nicht nur im Kanton Zürich vermehrt gemessen wurde. Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt sorgte ab den 1880er Jahren dafür, dass in der ganzen Schweiz zusätzlich zum bestehenden Beobachtungsnetz Regenmessstationen entstanden. Um dafür Ressourcen zu beschaffen, argumentierte die Zentralanstalt, es bestehe ein großes Wissensdefizit, das man aber beheben könne.48 Den Erfolg präventiven Handelns machte sie also abhängig von einer soliden Datenbasis, die erst noch geschaffen werden musste. Sie bekräftigte die Erwartung, dass damit ein systematischeres Vorgehen bei der Gewässerkorrektion möglich wäre. Diese Ansicht teilte das Eidgenössische Oberbauinspektorat, das dafür zuständig war, Subventionsgesuche für wasserbauliche Projekte zu prüfen und schweizweite Pegelmessungen zu sammeln.49 Die Amtsstelle unterstützte die Meteorologische Zentralanstalt gegenüber den bundesstaatlichen Entscheidungsträgern darin, mehr Mittel zu erhalten.50
43 1863 waren im Kanton drei Stationen eingerichtet worden. Diejenige auf dem Üetliberg hatte aber nur kurz Bestand. Siehe Julius Maurer/Robert Billwiller/Clemens Hess: Das Klima der Schweiz. Auf Grundlage der 37jährigen Beobachtungsperiode 1864–1900, Erster Band, Frauenfeld 1909, S. 11–17. 44 Siehe dazu: Robert Billwiller: Resultate der Niederschlagsmessungen an den zürcherischen Regenstationen im Jahre 1877, in: Caspar Karl Müller (Hg.), Joh. Heinrich Waser, der zürcherische Volkswirthschafter des 18. Jahrhunderts. Seine Bestrebungen und Schicksale und sein statistischer Nachlass, fortgeführt bis zur Gegenwart, Zürich 1878, S. 84–87. 45 Siehe Robert Billwiller: Die Niederschläge vom 3. Juni 1878 in der Nordostschweiz, in: Schweizerische Meteorologische Beobachtungen 13 (1876), S. XXV–XXXVIII, S. XXV. 46 Siehe die von Billwiller zusammengestellten Messergebnisse: Billwiller, Resultate 1877. 47 Siehe dazu Billwiller, Bericht & Antrag. 48 Billwiller sprach von einer bisherigen „Unterlassungssünde“. Siehe Robert Billwiller: Ergebnisse der Niederschlagsmessungen auf den Regenmessstationen im Jahre 1883, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt 20 (1883), Anhang Nr. 1, S. 1. 49 Das Oberbauinspektorat hatte 1871 das fünf Jahre zuvor geschaffene Hydrometrische Bureau (auch „Zentralbureau“) von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft übernommen. 50 Siehe Bericht des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1881, in: Bundesblatt 22, 16 (1882), S. 76.
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Dank vergrößertem Budget konnte die Meteorologische Zentralanstalt das Regenmessnetz ausbauen. Sie richtete auf eigene Rechnung neue Stationen ein, wenn sich Kantone weigerten, Regenmessungen auf ihrem Gebiet selbst zu finanzieren. Ende der 1880er Jahre gehörten dem Netz bereits über 150 Standorte an. Kurz vor der Jahrhundertwende konnte die Zentralanstalt die Zahl der Regenmessstationen nochmals deutlich erhöhen, weil das Oberbauinspektorat die Kosten für 90 neue
Abb. 2: Das Oberbauinspektorat, das auf Bundesebene für Hochwasserprävention zuständig war, unterstützte die Meteorologische Zentralanstalt darin, die Messungen der Regenstationen zu publizieren. Schweizerische Meteorologische Centralanstalt (Hg.). Monatliche Uebersicht der in der Schweiz gemessenen Niederschlagsmengen, 1 (1888), Zürich.
Stationen übernahm.51 Es bezahlte zudem die Publikation der Niederschlagsdaten, die in einem monatlichen Bulletin erschienen.52 Daran war insbesondere das Hydrometrische Bureau, das dem Oberbauinspektorat angegliedert war, interessiert. Geholfen hatte beim Ausbau des Netzes auch, dass die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft ein offizielles Gesuch an den Bundesrat gestellt hatte, um eine Ausweitung der Niederschlagsmessungen zu erwirken.53 Die Initiative dafür war 51 Siehe Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1898, in: Bundesblatt 1, 10 (1899), S. 534. 52 Siehe Monatliche Uebersicht der in der Schweiz gemessenen Niederschlagsmengen (1888– 1900) und Ergebnisse der Täglichen Niederschlagsmessungen auf den Meteorologischen- und Regenmess-Stationen (ab 1901). Zur Finanzierung siehe: Protokoll der Sitzung der eidgenössischen meteorologischen Commission, 12.1.1889 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 96). 53 Siehe dazu Schreiben Eduard Brückner, Albert Heim und Louis Duparc namens der Flusskommission an das Central-Comité der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, 3.3.1898 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 135); ders.: Bericht der Flusskommission für das Jahr 1897/98, in: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 81 (1898), S. 233–236.
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von einer ihrer Kommissionen gekommen. Diese hatte die Aufgabe übernommen, die Bodenerosion durch Wasser zu untersuchen, wofür Niederschlagsangaben wichtig waren.54 Die erfolgreiche Verdichtung des Messnetzes, das 1920 fast 300 Stationen umfasste, lässt sich also daraus erklären, dass ihm eine Bedeutung sowohl für Forschungsarbeiten als auch für wasserbauliche Korrektionsprojekte zugeschrieben wurde.55 Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft betonte immer wieder, wie wichtig es sei, hydrometrische und meteorologische Beobachtungen zu kombinieren.56 Sie hatte beide Einrichtungen, sowohl das Hydrometrische Bureau als auch die Meteorologische Zentralanstalt, initiiert und bis zu ihrer Übergabe an die Bundesverwaltung im Jahr 1871 respektive 1881 geleitet. Die Meteorologische Zentralanstalt kümmerte sich um die Niederschlagsbeobachtungen, während das Hydrometrische Bureau für Pegelmessungen an verschiedenen Gewässern sorgte. Der Wasserkreislauf wurde damit von zwei verschiedenen Dienstzweigen erfasst. Dies war keine Selbstverständlichkeit, wie das Beispiel Österreich-Ungarns, genauer seiner cisleithanischen Reichshälfte, zeigt, wo die Zuständigkeit anders war: Die Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus in Wien übergab ihr Regenmessnetz 1894 an das neu gegründete Hydrographische Zentralbureau.57 Gegenüber Pegelmessungen hatten Niederschlagsmessungen den Vorteil, dass sie mit weniger Aufwand verbunden waren. Zwar war die Menge der Niederschlagsdaten in den 1870er und 1880er Jahren bescheiden, aber noch weniger war über die Wasserstände bekannt. Deshalb griff der erste Leiter des Hydrometrischen Bureaus, Robert Lauterburg, auf Regenmessungen zurück, um Abflussmengen zu berechnen. Regenstationen übten eine Art Ersatzfunktion aus, wo noch keine hydrometrischen Beobachtungen vorhanden waren.58 Lauterburg entwickelte eine Schätzformel, die auf topografischen Eigenschaften und Niederschlagshöhen beruhte. Damit konnte er die durchschnittlichen wie auch minimalen und maximalen Abflussmengen für das gesamte Gebiet der Schweiz modellieren.59 Die Gewässer-
54 Siehe Eduard Brückner: Bericht der Flusskommission über ihre Thätigkeit während des Jahres 1894/95, in: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 78 (1895), S. 110–114. 55 Siehe z.B. Robert Billwiller: Einleitung, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt 35 (1898), S. V. 56 Siehe z.B. Robert Lauterburg: Jahresbericht der hydrometrischen Commission pro 31. Dezember 1866, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Bern (1867), S. 132–184, S. 153. 57 Christa Hammerl/Wolfgang Lenhardt/Reinhold Steinacker/Peter Steinhauser (Hg.): Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik 1851–2001. 150 Jahre Meteorologie und Geophysik in Österreich, Graz 2001, S. 77. 58 Siehe dazu Lauterburg, Jahresbericht 1866, S. 173–174. 59 Siehe die erste Präsentation des Modells an der Jahresversammlung 1871 der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft: Aus den Vorträgen des Herrn Ingenieur Lauterburg, in: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 54 (1871), S. 137–155. Seine Untersuchung publizierte Lauterburg 1876: Robert Lauterburg: Versuch zur Aufstellung einer allgemeinen Uebersicht der aus der Größe und Beschaffenheit der Flußgebiete abgeleiteten
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landschaft erschien so als vernetztes Fluss- und Seensystem, das man mit wasserbaulichen Maßnahmen regulieren konnte.60 Wie groß die Flussbette sein mussten, um auch bei extremen Niederschlägen nicht über die Ufer zu treten, ließ sich nun besser abschätzen. Die Planungsmöglichkeiten der Wasserbauer erweiterten sich durch die von Lauterburg 1876 publizierten Abflussmengen beträchtlich. Auch nachdem das Pegelmessnetz in den 1880er Jahren ausgebaut wurde, blieben Schätzungen mithilfe von Niederschlagsdaten wichtig, weil nach wie vor an vielen Fließgewässern – insbesondere den kleineren – die Abflüsse nicht direkt gemessen wurden. Mit dem Einbezug von Niederschlagsstatistiken in die wasserbauliche Planung bildete sich ein neuer, relativ klar definierter Benutzerkreis heraus. Dieser bestand vor allem aus Ingenieuren, die im Auftrag von Kantonen Flusskorrektionen und Wildbachverbauungen durchführten.61 Für sie wurde die Meteorologische Zentralanstalt zu einer Auskunftstelle für die Niederschlagsverhältnisse aller Landesteile. In ihren Berichten führte es die Zentralanstalt als ihre „praktische Leistung“ auf, dass sie zahlreiche Anfragen von Wasserbautechnikern beantwortete.62 Ihnen bot sie direkte Messergebnisse, aber auch statistische Angaben wie Mittel-, Häufigkeits- und Extremwerte. Damit diese als gültiges Wissen anerkannt wurden, brauchte es Vertrauen in die Verfahren.63 Die Zentralanstalt bemühte sich deshalb sehr darum, dass die Beobachter an den Stationen die Vorschriften einhielten, stieß dabei aber auf große Schwierigkeiten. Zum einen gab es Probleme, weil manche Beobachter die morgens gemessenen Summen in die Rubrik des aktuellen statt des
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Schweizerischen Stromabflußmengen, gestützt auf die meteorologischen und hydrometrischen Beobachtungen der Schweiz, nebst Anleitung zur Behandlung dieser Aufgabe im Stromabflussmengen, Bern 1876. Zum Berechnungsverfahren siehe Daniel Vischer: 125 Jahre Hydrometrie auf Bundesebene. Die Rolle des Ingenieurs Robert Laufenburg, in: Schweizer Ingenieur und Architekt 106, 43 (1988), S. 1184–1191. Zur Konzeption eines vernetzten Gewässersystems siehe David Gugerli: Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz, 1880–1914, Zürich 1996, S. 142–146; David Gugerli: Die wissenschaftlich-technische Landschaft des jungen Bundesstaates, in: Alexander Ruch (Hg.), 1848/1998 – 150 Jahre Schweizerischer Bundesstaat. Referate der Veranstaltung vom 5. November 1998, Zürich 1999, S. 21–40. Zu den Zusammenhängen von wasserbaulichen Operationen, Landschaftstransformationen und gesellschaftlichen Entwicklungen siehe: David Blackbourn: The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, London 2006. Siehe die Beschreibungen der Anwendungsmöglichkeiten in Robert Billwiller: Vorwort, in: Ergebnisse der Täglichen Niederschlagsmessungen auf den Meteorologischen- und Regenmess-Stationen in der Schweiz 1 (1901), S. III; Julius Maurer: Regenkarte der Schweiz (basierend auf 40jährigen Mittelwerten 1864–1903), in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt 45 (1908), Anhang Nr. 6, S. 1. Robert Billwiller: Bericht über die Thätigkeit der meteorologischen Centralanstalt und der ihr unterstellten meteorologischen Stationen im Jahre 1884, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt 21 (1884), S. V–VIII. Zur historischen Entwicklung des Konzepts der Objektivität siehe: Lorraine Daston/Peter Galison: Objectivity, New York 2007.
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Abb. 3: Vom Punkt zur Fläche. Die 1908 publizierte Niederschlagskarte schloss die Informationslücken zwischen den Beobachtungsstationen. Ausgehend von rund 400 Messreihen wurden mittlere Jahressummen für das gesamte Territorium berechnet – allerdings ohne die Gebirgsregionen. Maurer, J. 1908. Regenkarte der Schweiz (basierend auf 40jährigen Mittelwerten 1864-1903), in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt, 45, Anhang Nr. 6.
vorhergehenden Tages einschrieben.64 Zum anderen vernachlässigten gewisse Beobachter ihre Aufgabe, wenn nur wenig Regen fiel. Das führte dazu, dass Standorte mit zuverlässigen Beobachtern meistens mehr Niederschlagstage verzeichneten.65 Indem die Zentralanstalt 1888 einen Schwellenwert einführte, der überschritten werden musste, damit ein Tag als Niederschlagstag galt, wurde die Häufigkeitsstatistik repräsentativer.66 Ab den 1880er Jahren publizierte die Meteorologische Zentralanstalt gesamtschweizerische Karten, auf denen Kurven gleicher Jahresniederschlagsmengen ge-
64 Siehe das Rundschreiben vom 29.12.1908 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 3180–01 2005/90, 276). 65 Siehe die Bemerkungen in: Billwiller: Resultate 1877, S. 87; Robert Billwiller: Instruktionen für die Beobachter der meteorologischen Stationen der Schweiz, Zürich 1893, S. 21. Andere Beobachtungsnetze hatten dasselbe Problem, siehe z.B.: Gustav Hellmann: Ein alter und neuer Vorschlag an das internationale meteorologische Comité, in: Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie 20 (1885), S. 312–314. 66 Robert Billwiller: Ergebnisse der Niederschlagsmessungen auf den Regenstationen im Jahre 1888, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt 25 (1888), Anhang Nr. 1, S. 1.
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zogen waren. 1908 erschien dann die erste Regenkarte mit farblich skalierten Flächenmittelwerten.67 Dafür hatte die Zentralanstalt die punktuellen Werte der rund 400 berücksichtigten Stationen auf die sie umgebenden Gebiete ausgeweitet. Nun war die Verteilung der Niederschläge zwar flächendeckend abgebildet, aber die Darstellung blieb eine ungenaue, weil Niederschläge auf kleinem Raum stark variieren konnten. Julius Maurer, der 1905 die Nachfolge von Robert Billwiller als Direktor angetreten hatte, bezeichnete die Karte lediglich als eine „Annäherung an die Wahrheit“.68 Dennoch fand er, die Qualität der kartografisch vermittelten Daten genüge für Überschlagsrechnungen zu praktischen Zwecken. Die Regenkarten der Meteorologischen Zentralanstalt richteten sich denn auch explizit an Wasserbauingenieure.69 Berufsspezifische Zeitschriften wie der Schweizer Ingenieur-Kalender sorgten für eine weite Verbreitung, indem sie die Karten als Beilage abdruckten.70 Neben Summen und Mittelwerten interessierten sich Ingenieure vor allem für Extremwerte von Starkniederschlägen. Diese Angaben informierten über die größten Regenmengen, die am betreffenden Ort innerhalb eines einzigen Tages gefallen waren.71 Daraus ließen sich Rückschlüsse auf die zu erwartenden Hochwasserstände ziehen. Doch weil die Niederschlagsmengen nicht nur eine große räumliche, sondern auch eine große zeitliche Variabilität aufwiesen, rückte die Frage nach der minimalen Länge von Messreihen ins Zentrum. Wie lange musste man beobachten, um statistisch abgesicherte Extremwerte und repräsentative Mittelwerte zu erhalten? Dafür gab es im Spannungsfeld zwischen größtmöglicher Aussagekraft und dem Bedürfnis, bereits nach wenigen Beobachtungsreihen Mittelwerte präsentieren zu können, keine klare Antwort. Die erste, 1870 publizierte Regenkarte der Schweiz mit Jahresmittelwerten basierte auf einer nur sechsjährigen Periode.72 Die oben erwähnte 1908 veröffentlichte Karte berücksichtigte dagegen 40 Beobachtungsjahrgänge. Erst im 20. Jahrhundert bildete sich ein Konsens darüber heraus, dass sich meteorologische Mittelwerte auf 30-jährige Zeiträume beziehen sollten.73 Davor galt der einfache Grundsatz: je länger die Periode, desto besser. Deshalb wurden die Regenkarten der Schweiz in regelmäßigen Abständen überarbeitet, um die berücksichtigte Zeitspanne sukzessive auszuweiten. Dabei tauchte das Problem auf, dass viele Messreihen nicht durchgän-
67 Maurer, Regenkarte. 68 Ebd., S. 2. 69 Siehe Julius Maurer: Einleitung, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen ZentralAnstalt 47 (1910), S. IV. 70 Siehe dazu Maurer, Einleitung 1910, S. IV; Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1910, in: Bundesblatt 2, 14 (1911), S. 225–228. 71 Siehe z.B. die Tabelle zu Maximalniederschlägen pro 24 Stunden in: Maurer/Billwiller/Hess, Klima der Schweiz, S. 123. 72 Siehe Albert Benteli: Die atmosphärischen Niederschläge in den 7 Hauptflussgebieten der Schweiz, in: Schweizerische Meteorologische Beobachtungen 7 (1870), S. VII–XXIX. 73 Siehe Matthias Heymann: Klimakonstruktionen. Von der klassischen Klimatologie zur Klimaforschung, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17, 2 (2009), S. 171–197, S. 172.
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gig waren. Die Zentralanstalt rechnete deshalb die Resultate der Stationen mit kürzeren Laufzeiten auf die jeweils gewählte Referenzperiode um.74 Dieses Verfahren beruhte auf der Beobachtung, dass sich die Jahressummen nahe gelegener Stationen relativ konstant zueinander verhielten. Aus einer kurzen gleichzeitigen Messperiode wurde daher eine Proportion ermittelt, mit der sich fehlende Einzelwerte oder ganze Jahresmengen der unvollständigen Reihen errechnen ließen.75 Die aus den Ergebnissen abgeleiteten Mittel für die gesamte Periode wurden als Normalwerte betrachtet. Sie stellten ein Werkzeug dar, um Niederschlagsereignisse auf einer Skala von „normal“ bis „extrem“ einordnen zu können und ihre Wiederkehrwahrscheinlichkeit zu bestimmen.76 Damit ließen sich Präventionsmaßnahmen ableiten, die eine etwas größere Kontrolle über die letztlich unberechenbar bleibende Natur ermöglichten.77 DIENSTLEISTUNGEN FÜR DIE WASSERWIRTSCHAFT: POSITIONIERUNGSSTRATEGIEN DER METEOROLOGIE Die quantitative Registrierung des Wasserkreislaufs entwickelte sich nicht nur bei der Überschwemmungsprävention, sondern auch im Bereich der Wasserkraftnutzung zu einem zentralen Verfahren: Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Strom mittels Wasserkraft produziert wurde, erlangten Niederschlagsmessungen eine neue ökonomische Bedeutung. In Kombination mit anderen Daten sollten sie darüber informieren, an welchen Gewässern ein Potenzial zur Wasserkraftnutzung bestand. In der kohlearmen Schweiz rückte die Wasserkraft als vielversprechende, aber noch weitgehend brachliegende Ressource in den Fokus. Der Basler Meteorologe Albert Riggenbach beispielsweise beklagte anfangs der 1890er Jahre, dass viele Wasserläufe „noch ungenützt“, nichts weiter als „Schutt und Gerölle“ wälzend, die Täler hinabflossen.78 Damit sich dies änderte, forderte er genaue Untersuchungen zu den Wasserverhältnissen, die auch meteorologische Beobachtungen miteinschließen würden. Auch die schweizerischen Bundesbehörden maßen
74 Siehe Maurer, Regenkarte. 75 Siehe dazu Julius Hann: Ueber die Reduktion kürzerer Reihen von Niederschlagsmessungen auf die langjährige Reihe einer Nachbarstation, in: Meteorologische Zeitschrift 15 (1898), S. 121–133; Robert Billwiller: Die geographische und jahreszeitliche Verteilung der Regenmengen in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 48, 6 (1897), S. 217– 225, S. 220. 76 So wurden Aussagen wie „In Zürich fiel nur 64 % der normalen Jahresmenge“ möglich. Siehe Julius Maurer: Einleitung, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Zentral-Anstalt 48 (1911), S. IV. 77 Zur Spannung zwischen dem Nützlichkeitspostulat und der Unmöglichkeit, Ereignisse zu verhindern oder vorauszusagen siehe z.B.: Robert Billwiller jun.: Ergebnisse der Niederschlagsmessungen auf den meteor. Stationen I.–III. Ordnung im Jahre 1910, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Zentral-Anstalt 47 (1910), Anhang Nr. 1, S. 13. 78 Albert Riggenbach: Die Geschichte der meteorologischen Beobachtungen in Basel, Basel 1892, S. 36.
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dem Wissen über die Ressource Wasser eine zunehmende Relevanz zu.79 Den Wasserkreislauf zahlenmäßig zu erfassen und – um mit James C. Scott zu sprechen – lesbar zu machen, schien sowohl mehr Profit als auch mehr Nachhaltigkeit zu versprechen.80 Bereits seit dem 18. Jahrhundert war die Natur zunehmend ökonomisch konzipiert und dementsprechend inventarisiert worden.81 Im ausgehenden 19. Jahrhundert versuchten nun Nationalstaaten, sowohl die Wissensproduktion über natürliche Ressourcen als auch deren Nutzung zu koordinieren. Der schweizerische Bundesstaat legitimierte sein Eingreifen in die Wasserkraftnutzung mit dem allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesse. Doch er konnte bei Konzessionen für Wasserkraftwerke nur dann mitsprechen, wenn die betroffenen Gewässer davor mit seiner Finanzierungshilfe korrigiert worden waren.82 Ab den 1890er Jahren mehrten sich die Forderungen nach einer stärkeren Kontrolle der Wasserressourcen – bis hin zu Initiativen für eine bundesstaatliche Monopolisierung aller Wasserkräfte. Eine mehrjährige wirtschaftspolitische Auseinandersetzung mündete 1916 in ein Gesetz, das die Nutzbarmachung der Wasserkräfte unter Oberaufsicht des Bundes stellte.83 Im Folgenden wird die Rolle der Niederschlagsstatistik in diesem Aushandlungsprozess beleuchtet und aufgezeigt, wie sich ein neues Anwendungsfeld ausgestaltete. Als ab den 1880er Jahren Niederschlagsdaten für Wasserkräftestatistiken verwendet wurden, fokussierte die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt ihre Bemühungen um praktische Relevanz zunehmend auf diesen Bereich. Bereits im Jahr 1888 schlug Robert Lauterburg, der seit seinem Rücktritt als Leiter des Hydrometrischen Bureaus als freiberuflicher Wasserbauingenieur arbeitete, vor, die Einschätzung des Wasserkraftpotenzials zu einer bundesstaatlichen Aufgabe zu machen.84 Er arbeitete an einer Statistik zu diesem Thema, die er aus eigener Initiative in Angriff genommen hatte. In seiner 1890 publizierten „Übersicht der schweizerischen Wasserkräfte“ bestimmte Lauterburg den industriell nutzbaren Abfluss für fast 400 Abschnitte des Gewässernetzes.85 Die Berechnung 79 Siehe z.B. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Untersuchung der Wasserverhältnisse der Schweiz. (Vom 4. Juni 1895.), in: Bundesblatt 3, 25 (1895), S. 237– 257, S. 245. 80 Siehe zum Lesbarkeitsbegriff Scott, Seeing Like a State. Siehe zu ökonomischen Zielen der Quantifizierung Sabine Höhler/Rafael Ziegler: Nature’s Accountability. Stocks and Stories, in: Science as Culture 19, 4 (2010), S. 417–430. 81 Siehe Lea Haller/Sabine Höhler/Andrea Westermann: Einleitung. Rechnen mit der Natur: Ökonomische Kalküle um Ressourcen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37, 1 (2014), S. 8– 19. 82 Siehe Gugerli, Redeströme, S. 257. 83 Zum Bundesgesetz über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte, das im Dezember 1916 verabschiedet wurde, siehe Gugerli, Redeströme, S. 288–300. 84 Robert Lauterburg: Die schweizerischen Wasserkräfte. Motivirte Anregung zur Aufnahme u. Registrirung der schweiz. Wasserkräfte, als eine Aufgabe der eidg. Bundesverwaltung, an die Herren Mitglieder der zuständigen hoh. Bundesbehörden vom Verfasser, Bern 1888. 85 Robert Lauterburg: Übersicht der schweizerischen Wasserkräfte innerhalb dem voraussichtlichen Entwicklungsgebiet der inländischen Industrietätigkeit, berechnet nach den Wassermengen des durchschnittlichen Stadiums der Mittel- u. Kleinwasserstände, Bern 1890. Lauterburg
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basierte auf einer Modellierung der Abflussmengen mittels Niederschlagshöhen und anderen Gebietsparametern, der Methode also, die er seit vielen Jahren verwendete.86 Lauterburgs Statistik zum Wasserkraftpotenzial erreichte politische Aktualität, als 1891 eine Petition an die Bundesbehörden eingereicht wurde, die eine Verstaatlichung der Wasserkräfte forderte.87 Nach einer breiten öffentlichen Debatte lehnten National- und Ständerat dies zwar ab, beschlossen aber eine Untersuchung der Wasserverhältnisse in der Schweiz.88 Damit war das, was Lauterburg 1888 gefordert hatte, umgesetzt: Der Bund war nun verantwortlich dafür, eine aktuelle Statistik über die noch nutzbaren Wasserkräfte zu führen. Viele Wissenschaftler begrüßten diese neue bundesstaatliche Aufgabe.89 Andere kritisierten, dass der Staat privatwirtschaftlichen Akteuren kostenlos Daten zur Verfügung stellte.90 Allerdings waren die dargebotenen Informationen nicht nur für die Abwägung von Investitionsrisiken nützlich, sondern auch für die Beurteilung, wie sich die Abflüsse unterhalb geplanter Wasserwerke verändern würden. Damit konnten mögliche Interessenskonflikte benannt werden, was den politischen Konsens über eine bundesstaatliche Regulierung der Wasserentnahme beförderte. Wie David Gugerli in seiner Studie zur Elektrifizierung der Schweiz zeigt, war zudem die wirtschaftspolitische Diskussion, die dem Gesetz zur Oberaufsicht von 1916 voranging, durch eine nationalistisch gefärbte Rede von den Wasserkräften geprägt.91 1895 übertrug die schweizerische Regierung den Auftrag, eine Wasserkräftestatistik zu erstellen, dem Oberbauinspektorat, respektive dessen Hydrometrischem Bureau. Dieses begann die Arbeit an einer jahrzehntelangen Untersuchung aller großen Flussgebiete, die weit detaillierter als Lauterburgs Arbeiten ausfiel.92
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veröffentlichte die Resultate seiner Statistik auch noch als: Robert Lauterburg: Die schweizerischen Wasserkräfte, eingetheilt in grössere und kleinere Stromsektionen und berechnet nach der Wassermenge der ordentlichen Klein-Wasserstände mit gleichzeitiger Angabe auch der kleinsten Wassermengen, Bern 1891. Siehe dazu Gugerli, Redeströme, S. 254; Daniel Vischer: Nationales Gewässersystem und Wasserkraftstatistik. Die hydrometrische Modellierung von Landschaft, in: David Gugerli (Hg.), Vermessene Landschaften. Kulturgeschichte und technische Praxis im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1999, S. 89–104. Lauterburg, Die schweizerischen Wasserkräfte, S. 5. Zur Petition siehe Gugerli, Redeströme, S. 248–258. Botschaft des Bundesrates 1895. Siehe die Thematisierung an der Jahresversammlung 1896 der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft: Schweizerische Naturforschende Gesellschaft: Sektion für Ingenieurwissenschaften, in: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 79 (1896), S. 198–208. So z.B. der Wirtschaftswissenschaftler Johann Friedrich Schär, der Präsident des Zentralvorstands von Frei-Land. Siehe den zusammenfassenden Rückblick seines Sohnes: Oskar Schär: Die Verstaatlichung der schweizerischen Wasserkräfte, Basel 1905, S. 1–41. Siehe zudem Gugerli, Redeströme, S. 248–250. Ebd., S. 258. Die Ergebnisse wurden ab 1896 in der Reihe „Wasserverhältnisse der Schweiz“ publiziert. Zum Hydrometrischen Bureau, das 1908 zur selbstständigen, vom Oberbauinspektorat unabhängigen Abteilung für Landeshydrographie, 1914 zur Abteilung für Wasserwirtschaft und 1919 zum Amt für Wasserwirtschaft wurde, siehe: Josef Epper: Die Entwicklung der Hydrometrie
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Wo keine direkten Pegelmessungen vorlagen, nahm das Bureau – wie zuvor schon Lauterburg – die Niederschlagshöhen als Ausgangswert, um die Minimalwassermengen abzuschätzen.93 Hier konnte sich die Meteorologische Zentralanstalt in den Problemkreis der Wasserkräftestatistik einklinken, indem sie brauchbare Niederschlagsdaten lieferte. Die Zentralanstalt konzipierte die Energiewirtschaft als neuen und zentralen Anwendungsbereich meteorologischen Wissens.94 Sie rechtfertigte nun die Kosten für Regenmessungen mit der Bedeutung, welche diese für die Wasserkraftnutzung hätten.95 Insbesondere Julius Maurer, der von 1905 bis 1934 Direktor der Zentralanstalt war, versuchte, sich eine Position auf dem Feld der Wasserwirtschaft zu erarbeiten. Zum Beispiel war er Mitglied des Komitees „Wasserwirtschaft“, das an der Landesausstellung 1914 dieses Tätigkeitsgebiet präsentierte.96 Im Begleitbuch, welches das Komitee herausgab, publizierte Maurer einen Text zur „Entwicklung unseres meteorologischen Landesdienstes und seiner Beziehungen zur schweizerischen Wasserwirtschaft“.97 In diesem Beitrag konzentrierte sich Maurer auf die Auswirkungen regenreicher wie auch regenarmer Jahre. Er formulierte die Vermutung, dass die aktuelle feuchte Periode noch einige Jahre lang andauern würde und die Wasserkraftwerke dank dementsprechend großen Abflussmengen viel Energie produzieren könnten.98 Anfangs der 1890er Jahre dagegen hatten unterdurchschnittliche Regenmengen Besorgnis darüber hervorgerufen, ob es auch in Zukunft genügend Wasser für hydroelektrische Anlagen geben würde.99 Die Unsicherheit über
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in der Schweiz, Bern 1907; Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Organisation des eidgenössischen Departements des Innern. (Vom 7. Februar 1908.), in: Bundesblatt 1, 10 (1908), S. 399–407; Otto Lütschg: Die Entwicklung des hydrographischen Dienstes in der Schweiz, in: Komitee der Gruppe 34: „Wasserwirtschaft“ der Schweiz. Landesausstellung in Bern im Jahre 1914 (Hg.), Die Wasserwirtschaft in der Schweiz, Bern 1914; 125 Jahre Hydrometrie in der Schweiz. Symposium vom 6. Mai 1988 in Bern, Bern 1988. Der Bundesrat verwies in seiner Botschaft zur Untersuchung der Wasserverhältnisse auf den Zusammenhang zwischen Abflussmenge und Niederschlagshöhe. Siehe Botschaft des Bundesrates 1895, S. 246. Siehe z.B. Billwiller, Vorwort 1901, S. III; Maurer, Regenkarte, S. 1. Siehe Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Revision des Bundesbeschlusses vom 23. Dezember 1891 über die Erhöhung des jährlichen Gesamtkredites für die schweizerische meteorologische Centralanstalt. (Vom 27. November 1900.), in: Bundesblatt 4, 48 (1900), S. 716–729, S. 724; Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1902, in: Bundesblatt 1, 10 (1903), S. 708. Siehe Léon W. Collet: Vorwort, in: Komitee der Gruppe 34 (Hg.), Die Wasserwirtschaft, S. V– IX. Julius Maurer: Die Entwicklung unseres meteorologischen Landesdienstes und seine Beziehungen zur schweizerischen Wasserwirtschaft, in: Komitee der Gruppe 34 (Hg.), Die Wasserwirtschaft, S. 3–26. Maurer, Entwicklung, S. 10. Siehe dazu: Bericht der Direction der meteorolog. Centralanstalt, seit 3. Juni 1893 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 99). Zu den Diskussionen über Klimaschwankungen siehe: Philipp N. Lehmann: Whither Climatology? Brückner’s Climate Oscillations, Data Debates, and Dynamic Climatology, in: History of Meteorology 7 (2015), S. 49–70.
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die Verfügbarkeit der Ressource Wasser verlieh meteorologischen und hydrometrischen Beobachtungen politische Legitimität. Sie waren mit der Erwartung verknüpft, Abflussschwankungen besser beurteilen oder sogar voraussagen zu können. In der Schweiz spielte die vorläufige Speicherung des Niederschlags als Schnee oder Eis eine zentrale Rolle im Wasserkreislauf. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft hatte deshalb schon ab den 1860er Jahren nach mehr Niederschlagsmessungen im Gebirge verlangt.100 Ihre Gletscherkommission bemühte sich insbesondere um eine Station am Fuß des Rhonegletschers, dessen Längenänderung sie jährlich vermass.101 Ende der 1890er Jahre versuchte die Kommission sogar, direkt auf dem Gletscher Niederschlag zu messen.102 Die vierjährigen Ergebnisse beurteilte sie allerdings selbst als wenig zuverlässig. Die Meteorologische Zentralanstalt, die sich am Versuch finanziell beteiligt hatte, suchte angestrengt nach einem anderen Weg, Niederschlagsdaten aus dem Gebirge zu erhalten. Davon hing nämlich ihr Anspruch ab, bei der Planung von Wasserkraftwerken Hand bieten zu können, denn viele hydroelektrisch interessante Gewässer hatten vergletscherte Einzugsgebiete.103 Auf den Niederschlagskarten der Schweiz waren die Hochgebirgsregionen weiße Flecken, die besonders bei der 1908 verwendeten Flächenmittelwertmethode ins Auge sprangen. Für das nationalstaatliche Bestreben nach vollständiger Lesbarkeit war es ein Moment des Scheiterns, dass der alpine Raum nicht komplett erschlossen war. Daten aus dem Gebirge fehlten, weil dort ganzjährige Beobachter schwierig zu finden und zudem die Messbedingungen herausfordernd waren.104 Der Störeffekt des Windes war so groß, dass die meistens in Form von Schnee gefallene Niederschlagsmenge kaum zuverlässig bestimmt werden konnte. Zwar konnte die Meteorologische Zentralanstalt das Problem mit einem eigens konstruierten Windschutz etwas entschärfen und einige zusätzliche Stationen – unter anderem in Kooperation mit der Jungfraubahn – in Betrieb nehmen.105 Aber die „gewaltigen Lücken“ waren damit nicht getilgt.106 100 Siehe Robert Lauterburg: Jahresbericht der hydrometrischen Commission pro 31. Dezember 1866, in: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern (1867), S. 132–184, S. 168. 101 Siehe Protokoll über die Sitzung der eidgenössischen meteorologischen Kommission, 3.6.1893 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 88 1000/1167, 96); Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1903, in: Bundesblatt 2, 12 (1904), S. 79– 81. 102 Siehe dazu: Protokoll über die Sitzung der eidgen. meteorologische Kommission, 12.3.1898 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 3001–01 2004/492, 278); Eduard Hagenbach-Bischoff: Vermessungen am Rhone-Gletscher während 25 Jahren. Vortrag gehalten auf dem VII. internationalen Geographen-Kongress in Berlin im Jahr 1899, Berlin 1900, S. 275. 103 Siehe Julius Maurer: Einige Ergebnisse unserer höchsten Niederschlagssammler im Firngebiet, in: Meteorologische Zeitschrift 32 (1915), S. 16–20. 104 Siehe ders.: Die neue Niederschlagskarte der Schweiz (1864–1903), in: Meteorologische Zeitschrift 26 (1909), S. 222–224. 105 Ders.: Einige Ergebnisse aus Schneemessungen in den Schweizer Hochalpen und ihre Beziehung zu den Schwankungen der Firnlinie, in: Meteorologische Zeitschrift 27 (1910), S. 289– 301, S. 289–290. 106 Ders., Die neue Niederschlagskarte, S. 223.
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1913 fand die Meteorologische Zentralanstalt endlich eine gangbare Lösung: Sie stellte mehrere große Zinkblechgefäße in bis zu 3500 Metern Höhe über dem Meeresspiegel auf. Weil diese die Niederschlagsmenge eines ganzen Jahres fassen konnten, wurden sie als „Totalisatoren“ bezeichnet. Das beigegebene Chlorkalzium sollte das Einfrieren des Inhalts verhindern und eine Schicht Vaselinöl vor Verdunstung schützen.107 Mit einem Windschutzschirm ergänzt, wurden die Niederschlagssammler, die ursprünglich ein französischer Forstinspektor entwickelt hatte, auch für die Datenerfassung im Hochgebirge einsatzfähig.108 Unterstützung erhielt die Meteorologische Zentralanstalt von der Nachfolgeinstitution des Hydrometrischen Bureaus, der Abteilung für Landeshydrographie. Diese ließ ebenfalls einige Niederschlagssammler anfertigen und installieren.109 Beide bundesstaatlichen Verwaltungszweige argumentierten mit dem Interesse der Wasserwirtschaft.110 Tatsächlich erhielt die Meteorologische Zentralanstalt mehrere Gesuche vom
107 Siehe Ders.: Einleitung, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Zentral-Anstalt 50 (1913), S. IV–V. 108 Siehe Protokoll über die Sitzung der eidgen. meteorologischen Kommission, 18.7.1914 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 3001–01 2004/492, 267). 109 Siehe Maurer, Einleitung 1913, S. V; ders.: Einleitung, in: Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Zentral-Anstalt 51 (1914), S. IV; Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1914, in: Bundesblatt 1, 15 (1915), S. 600– 603; Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1915, in: Bundesblatt 1, 12 (1916), S. 480–482. 110 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1913, in: Bundesblatt 2, 15 (1914), S. 635–638; Lütschg: Die Entwicklung, S. 40.
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Abb. 4: Ab 1913 wurden Niederschlagssammler im Hochgebirge aufgestellt, hier am sogenannten Konkordiaplatz, wo sich mehrere Firnströme zum Großen Aletschgletscher vereinen. Unbekannter Fotograf, „Aletschgletscher, Konkordiaplatz, Aufstellung des neuen Mougin“, undatiert, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Dia 280-088.
Schweizerischen Wasserwirtschaftsverband, der zusätzliche Aufstellungsorte vorschlug.111 Den Verweis auf den volkswirtschaftlichen Nutzen ihrer Niederschlagssammler im Hochgebirge kombinierte die Meteorologische Zentralanstalt mit dem Hinweis, die Messungen würden sich auch für wissenschaftliche Zwecke als wertvoll erweisen.112 Der Physikalischen Gesellschaft Zürich stellte sie kostenlos einen Niederschlagsammler zur Verfügung, um direkt im Nährgebiet eines Gletschers messen zu können. Auf diese Weise versuchten die beteiligten Forscher, der „Wahrheit näherzukommen“, was das Vor- und Zurückgehen der Gletscherzungen betraf.113 Solche wissenschaftlichen Ziele verband die Meteorologische Zentralanstalt geschickt mit dem Anspruch praktischer Nützlichkeit: Aus den Ergebnissen der Gletscherforschung sollten später die Betreiber von Wasserkraftwerken einen Nutzen
111 Siehe Bericht Geschäftsführung 1914, S. 601; Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1917, in: Bundesblatt 2, 15 (1918), S. 77–80. 112 Das Departement des Innern übernahm diese Argumentation. Siehe das Protokoll zur Sitzung des Schweizerischen Bundesrates vom 12.9.1910 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 1004.1). 113 A. de Quervain: Die Bestimmung des jährlichen Firnniederschlages durch Schneefärbung und Wägung, in: Meteorologische Zeitschrift 34 (1917), S. 76–82, S. 76.
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ziehen können.114 Damit profilierte sich die Meteorologische Zentralanstalt als eine für wissenschaftliche und wirtschaftliche Belange wichtige Institution. Der Blick auf die drei Felder Landwirtschaft, Hochwasserschutz und Wasserkraft zeigt, wie die meteorologische Wissensproduktion sowohl an eine als interesselos konzipierte Erkenntnissuche als auch an Nützlichkeitspostulate anschloss. Von Anwendungserwartungen ging eine starke Dynamik aus, weil die Aussicht, Probleme der Umwelt zu lösen, einen Anschluss an nationalstaatliche Politik ermöglichte. Genau dies beförderte die erfolgreiche Institutionalisierung der Meteorologie innerhalb der Bundesverwaltung. Ihrem Selbstverständnis nach war die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt gleichzeitig eine Statistikinstitution und eine Forschungseinrichtung. Ihre Direktoren bemühten sich nicht nur um eine maßgebliche Stellung innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft, sondern auch innerhalb der Bundesverwaltung. Um in beiden Bereichen ihr Gewicht zu vergrößern, erweiterte die Zentralanstalt nach und nach das Tätigkeitsfeld. Beim Ausbau der Niederschlagsstatistik überlagerten sich gleich mehrere Nützlichkeitsziele, die alle mit Plänen des Bundesstaats kompatibel waren: Erstens die Rationalisierung der Landwirtschaft, zweitens der bessere Schutz vor Naturgefahren und drittens das Bestreben, Wasserkraft volkswirtschaftlich effizient zu nutzen. Erweitern ließe sich die Analyse um den Bereich der Wetterprognostik, wo aus dem bisherigen bekannten Verlauf auf die Zukunft geschlossen wurde.115 Zum Erfolg der bundesstaatlich institutionalisierten Niederschlagsstatistik trug neben einer breiten Anwendungspalette auch die Rede von einem zukünftigen Nutzen bei. Zwar beanspruchte die Meteorologische Zentralanstalt, dass ihre Regenmessungen bereits in der Gegenwart „reiche Früchte“ trugen, versprach aber eine noch größere Nützlichkeit in der Zukunft.116 Julius Maurer schrieb 1914: „Unsern Nachfolgern wird es erst vorenthalten bleiben, aus jenen kostbaren Beobachtungsreihen, wenn sie einmal Hunderte von Jahren ununterbrochen weitergeführt worden sind, für die Allgemeinheit und die Volkswirtschaft insbesondere den wahren Nutzen zu ziehen.“117
Damit dehnte er die meteorologische Datenerhebung in eine Zukunft aus, in der sich die gegenwärtigen Anstrengungen vollständig bezahlt machen würden.118 Die Fortführung des Beobachtungsprogramms und entsprechend seiner Finanzierung schien damit unabdingbar. Die Datenerhebung der Meteorologischen Zentralanstalt wurde auch in Phasen des Spardrucks – wie in den Jahren während und kurz nach
114 Maurer: Die Entwicklung, S. 14. Maurer selbst untersuchte die Wirkung der Sonnenstrahlung auf den Gletscherhaushalt. Siehe ders.: Über Gletscherschwund und Sonnenstrahlung, in: Meteorologische Zeitschrift 31 (1914), S. 23–27. 115 Siehe dazu meine 2017 abgeschlossene Dissertation „Das Wetter der Nation. Meteorologie, Klimatologie und der schweizerische Bundesstaat 1860-1914“ (Publikation in Vorbereitung). 116 Siehe den Jahresbericht 1919, den der Bundesrat in die Darlegung seiner Geschäftsführung integrierte: Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1919, in: Bundesblatt 1, 14 (1920), S. 709. 117 Maurer, Entwicklung, S. 26. 118 Zur zeitlichen Ausdehnung von Datenerhebungen siehe: Lorraine Daston: The Sciences of the Archive, in: Osiris 27, 1 (2012), S. 156–187.
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dem Ersten Weltkrieg – nicht grundsätzlich in Frage gestellt.119 Die ab den 1860er Jahren verfolgte Niederschlagsstatistik war spätestens um 1920 als selbstverständliche Aufgabe des Bundesstaats akzeptiert.
119 Zum Spardruck siehe: Protokoll der Sitzung der schweizerischen meteorologischen Kommission, 17.7.1915 (Schweizerisches Bundesarchiv, E 3001–01 2004/492, 267).
VOLKSZÄHLUNG UND MODERNER STAAT: DIE PRAXIS DES ZENSUS IM SPÄTEN HABSBURGERREICH AM BEISPIEL DER ZÄHLUNG DES JAHRES 1869 Wolfgang Göderle Der Beitrag analysiert anhand der Volkszählung des Jahres 1869 im Habsburgerreich, wie der Zensus als zentrale administrative und wissenschaftliche Operation zu einer fundamentalen Praxis der Wissenserzeugung im modernen Staat wurde. Er trug nicht nur dazu bei, eine Bevölkerung herzustellen, und die Umrisse moderner Gesellschaften zu skizzieren, sondern zwang auch unterschiedliche Instanzen der staatlichen Verwaltung zur Kooperation und leistete so einen Beitrag zum Selbstbild und Selbstverständnis des modernen Staates. Der Artikel konzentriert sich dabei auf eine Wissensgeschichte und fokussiert insbesondere auf Praktiken, die in der Erzeugung von Daten und im Aufbau einer enormen Wissensbasis zum Einsatz kamen. Er geht auf Fragen nach der Finanzierung von Zensusoperationen ein, leuchtet aus, wie eine solche Unternehmung tatsächlich ablief und befasst sich mit den Herausforderungen, mit denen im Verlauf des Vorhabens gerechnet werden musste. Der Beitrag bedient sich jüngerer methodischer und theoretischer Anleihen besonders aus dem Bereich der science studies und zeigt, wie der Zensus nicht nur zu einem zentralen staatlichen Machtinstrument wurde, sondern auch verschiedenen Gruppen in der Bevölkerung eine Gelegenheit zur bürgerlichen Emanzipation bot. The article analyzes the 1869 census in the Habsburg Empire as an eminent administrative and scientific operation, which provided knowledge that could be used in different contexts. The census not only produced a population and drafted the outlines of a modern society, it forced different parts of state administration to work together and was a major step toward a self-understanding of the modern state. The article focusses on the practices that were put to use in the production of data and in the construction of a vast knowledge base. It puts up questions on how such an operation could be financed, how it was executed and which challenges had to be tackled in the course of the operation. It integrates recent theoretical approaches from science studies and shows how census was not only a major state operation, but also an opportunity to different groups for civil emancipation.
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Nach wie vor gelten Volkszählungen als Musterbeispiel für serielle Quellen.1 Die von ihnen erzeugten Daten werden gewissermaßen als Bohrkerne herangezogen, die Rückschlüsse auf tiefere und vielfach überlagerte Schichten gegenwärtiger Gesellschaften zulassen. Gerade in Forschungsfeldern, die stark auf quantifizierende analytische Verfahren zurückgreifen, werden Fragen, die räumliche und inhaltliche Kontinuität der durch die Zählung hervorgebrachten Daten betreffend, naturgemäß häufig nur am Rande behandelt.2 Im ungünstigsten Fall wird entweder die Repräsentativität des Quellenmaterials überschätzt oder aber es wird seriellen Quellen eine Kontinuität zugeschrieben, die diese nicht einzulösen vermögen.3 Dem stehen die Ergebnisse jüngerer wissenschaftshistorischer Studien gegenüber, die insbesondere in Arbeiten, die sich mit Fallbeispielen aus dem 20. Jahrhundert befassen, explizit machen, dass die Praktiken der Hervorbringung statistischer Daten besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.4 Im Zusammenhang mit der Erforschung von Volkszählungen konzentrierte sich das Interesse zuletzt insbesondere auf die Institutionen, die in das Prozedere eingebunden waren.5 Der eigentliche Prozess der Datenerhebung und Auswertung hat im Vergleich bislang noch weniger Interesse gefunden, was nicht zuletzt auch einer schwierigen Quellen- und Datenlage geschuldet ist, teilweise aber auch rechtlichen Normen.6 Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, wie Volkszählungen in Zentraleuropa im Feld abgelaufen sind, wie die Daten in der Folge ausgewertet und zusammengestellt wurden, und wie sich diese Abläufe und Verfahren im Laufe eines halben Jahrhunderts veränderten. Ich greife dabei auf den Zensus in der österreichischen Hälfte des Habsburgerreiches zurück, und konzentriere mich auf die Volkszählung des Jahres 1869. Am Fallbeispiel werden strukturelle Merkmale 1 2 3
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Zur Kritik daran Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M./New York, NY 2013, S. 201. Für einen Überblick siehe etwa Josef Ehmer: Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004. Siehe dazu die Bemerkungen zur chronischen Unterschätzung der Schattenwirtschaft bei Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016, S. 346–355. Ein ähnlicher Befund lässt sich auch für Teile der Migrationsforschung und andere Bereiche, in denen Zensusquellen quantitativ verwertet werden, treffen. Als Standardwerk hat sich dabei etabliert Alain Desrosières : La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 2010 (1993). Siehe weiters insbesondere die vielrezipierten Arbeiten von Porter Theodore Porter : The Rise of Statistical Thinking 1820–1900, Princeton, NJ 1986; ders.: Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton, NJ 1995. Siehe Jason D. Hansen: Mapping the Germans. Statistical Science, Cartography, and the Visualization of the German Nation, 1848–1914, Oxford 2015; Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2011; Schneider, Wissensproduktion; Libby Schweber: Disciplining Statistics. Demography and Vital Statistics in France and England, 1830–1885, Durham, NC/London 2006; Kerstin Brückweh: Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin/Boston, MA 2015. Zu den dabei auftretenden Schwierigkeiten Schneider, Wissensproduktion, S. 24f. Etwas stärkere Berücksichtigung findet dieser Aspekt bei Brückweh, Menschen.
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hervortreten, die über das habsburgische Zentraleuropa hinaus in weiten Teilen Europas zu beobachten sind. Diesem Aspekt soll am Rande des Beitrages kurz nachgegangen werden, unter Heranziehung des Begriffes der „Transimperialität“.7 Eine solche Untersuchung kreist auch immer um die Frage, wie der Zensus als großangelegte Operation der Wissenserzeugung zur Konstruktion und Konstitution von Staatlichkeit beitrug, und wie er einen solchen Prozess in einem konkreten Rahmen ansiedelte. Nicht zuletzt korrelieren die Zeitpunkte, zu denen sich Staaten als modern darzustellen beginnen, in vielen Fällen mit der ersten Abhaltung einer Volkszählung, die bestimmten Maßstäben und Qualitätskriterien unterliegt.8 Das wirft Fragen nach Staatlichkeit auf. In einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Habsburgerreich, die einen Zeitraum von über vierzig Jahren in den Blick nimmt, muss den Rahmenbedingungen und den untersuchten Strukturen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Denn diese erfahren im Untersuchungszeitraum enorme Verschiebungen, der neoabsolutistische Zentralstaat nimmt nach dem Ausgleich 1867 eine Ausprägung ein, die große Herausforderungen hinsichtlich der zur Verfügung stehenden analytischen Modelle, Konzepte und Werkzeuge bereithält.9 Zwar könnte man Österreich-Ungarn als Empire im Sinne der rezenten Debatten beschreiben, dabei würde aber unterschlagen, dass sich die ungarische Hälfte des Habsburgerreiches nach 1867 als Nationalstaat verstand und auch darstellte.10 Seitens der Administration und auch der politischen Führung wurde in der österreichischen Reichshälfte lange eine Positionierung als (moderner) Vielvölkerstaat verfolgt. Die Volkszählung mediatisierte und katalysierte den ein knappes halbes Jahrhundert andauernden staatlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, in dessen Verlauf sie kontinuierlichen Veränderungen und Anpassungen unterworfen war. Theoretisch und methodisch nimmt der vorliegende Beitrag Anleihen bei mehreren rezenten Forschungsfeldern. Die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte hat in den letzten drei Jahrzehnten ein umfangreiches Instrumentarium erarbeitet, das 7
Zum Begriff der Transimperialität Bernhard Schär: Tropenliebe, Frankfurt a.M./New York, NJ 2015, S. 20–21. 8 Benedict Anderson: Nationalism, Identity, and the Logic of Seriality, in: ders., The Spectre of Comparisons. Nationalism, Southeast Asia and the World, London/New York, NJ 1998, S. 29– 45; James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven, CT/London 1998; Michael Mann: The sources of social power. Volume II. The rise of classes and nation-states, 1760–1914, Cambridge 1993. 9 Siehe dazu John Deak: Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford, CA 2015; sowie Thomas Winkelbauer (Hg.): Geschichte Österreichs, Stuttgart 2015. Die Frage, ob das Habsburgerreich für die Zeit des Neoabsolutismus als Zentralstaat beschrieben werden kann, wird kontrovers diskutiert. 10 Siehe Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2011 (2009). Es zeichnet sich zunehmend ab, dass die Dichotomisierung Empire-Nationalstaat trotz ihres unbestreitbaren analytischen Mehrwerts in vielen Kontexten zu scharf zugespitzt ist. Vgl. auch Benno Gammerl: Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 18671918; sowie Stefan Nellen/Thomas Stockinger: Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert, in: Administory 2 (2017), S. 3–33.
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es erlaubt, den Fokus auf Praktiken der Wissenserzeugung zu legen, und dabei insbesondere auf Momente der Umformung zu achten.11 Eine solche Perspektive erweist sich auch dann als hilfreich, wenn es darum geht, eine Untersuchung an einer Schnittstelle von Wissenschaft und Verwaltung durchzuführen. Letztlich stellt auch eine Volkszählung einen vereinheitlichten kollektiven Beobachtungsprozess dar, der idealerweise nach strengen Vorschriften und Regeln ablaufen sollte, und so Wahrnehmungen normieren soll. Ganz analoge Ziele verfolgten auch naturwissenschaftliche Untersuchungen im gewählten Zeitraum.12 Die Herstellung eines Wissens von einer Gesamtbevölkerung erzwang im nächsten Schritt starke Eingriffe in die Komplexität des sozialen Lebens, um die Repräsentation von Wissen überhaupt zu ermöglichen. Diese Reduktion von komplexen Beziehungen erfolgte auf einer visuellen Ebene: Listen und Tabellen, und deren iterative Verwendung erlaubten eine stetige Erhöhung des Komplexitätsgrades der Darstellung. Auch dieses Moment der Medialität und Visualität wurde zuletzt eingehender untersucht.13 Und schließlich hat sich in den letzten gut zehn Jahren ein starkes Interesse an globalhistorischen Entwicklungen manifestiert, was sich in einem umfassenden Zuwachs an einschlägigen Untersuchungen und Analysen manifestiert hat. Der Kern dieses Forschungstrends ist darin auszumachen, dass auch viele vermeintlich lokal, regional oder national determinierte Ereignisse, Prozesse und Entwicklungen auf einen größeren, nicht zwangsläufig globalen, aber zumeist den herkömmlichen Bezugsrahmen sprengenden Kontext referieren.14 In einem hohen Maß trifft das auch auf den Zensus zu. Diese drei hier angedeuteten Perspektiven werden im vorliegenden Beitrag nicht durchgängig beibehalten, vielmehr soll, je nach Konstellation, Quellenlage und Akzentuierung der Forschungsfrage einmal das eine, einmal das andere Moment stärker in den Vordergrund rücken. Zugleich stecken diese drei Aussichten ein analytisches Feld ab, das die von HistorikerInnen üblicherweise an Volkszählungen gerichteten Fragen um einige weitere Kontexte anreichern soll.
11 Bruno Latour: Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: ders., Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M. 2002, S. 36–95. 12 Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität, Frankfurt 2007. Zum Habsburgerreich siehe Deborah R. Coen: Vienna in the Age of Uncertainty: Science, Liberalism, and Private Life, Chicago, IL 2007. 13 Siehe grundlegend Jack Goody: The domestication of the savage mind, Cambridge 1977, S. 52-111; zum Visuellen siehe auch Daston/Galison, Objektivität. Siehe weiter Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003 (1995, 1985). Als Beispiele für jüngere Arbeiten aus diesem Feld Thomas Stockinger: Bezirke als neue Räume der Verwaltung. Die Einrichtung der staatlichen Bezirksverwaltung in den Kernländern der Habsburgermonarchie nach 1848. Ein Problemaufriss, in: Administory 2 (2017), S. 256–284. 14 Exemplarisch für die Verbindung eines solchen Zugangs mit starker empirischer Evidenz sei hier Schär, Tropenliebe angeführt. Für den wissensgeschichtlichen Kontext Harald FischerTiné: Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus, Zürich/Berlin 2013. Grundlegend waren in den letzten Jahren Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World 1780–1914, Malden, MA 2004; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
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VOLKSZÄHLUNGEN UND MODERNE STAATLICHKEIT Als die Volkszählung des Jahres 1869 ausgewertet war und die zentralen Ergebnisse in Druck gingen, war das Jahr 1871 bereits deutlich fortgeschritten. Die Veröffentlichung eines vorläufigen abschließenden Berichts zur Zählungsvornahme, der sogenannten Erläuterungen zu den Bevölkerungs-Ergebnissen, sollte nicht vor 1872 erfolgen. Dieser zeitliche Verzug, der genau genommen einen Verstoß gegen das Zählungsgesetz begründete, reflektiert den Grad der Anstrengung, der staatlicherseits zur erfolgreichen Volkszählung notwendig war.15 Der Zensus war eine der größten Operationen der Verwaltung zur Wissensgewinnung überhaupt, in Zentraleuropa in dieser Hinsicht nur mit den Landesaufnahmen vergleichbar.16 Er erzeugte bereits 1869 ein normiertes Wissen über 20,2 Millionen in der österreichischen Reichshälfte des Habsburgerreiches lebende Personen und beanspruchte die staatlichen Ressourcen bis an deren Grenzen. Das durch die Volkszählung erzeugte Wissen wurde durch die Behörden als dementsprechend wertvoll klassifiziert. Es verschaffte den politischen Verantwortlichen und der Verwaltung ein einzigartiges und komplexes Gesamtbild von der Bevölkerung des Staates, genau genommen wurde die Entität der Bevölkerung durch diese Maßnahme überhaupt erst hervorgebracht. Die Art und Weise, in der die erzeugten Daten am Ende vorlagen, prägte und bestimmte das Denken von Beamten und Politikern über die Menschen der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder nachhaltig, und es strukturierte ihre Vorstellungen davon, wie man diese verwalten bzw. regieren konnte.17 Sie schuf einen kontingenten Handlungsrahmen, der auch politische und administrative Handlungsräume skizzierte und die Möglichkeit zur Projektion bot. Dabei war die Volkszählung keine Materie, über die ein Staat alleine entscheiden konnte: Internationale Anerkennung war eine harte Währung, und wie insbesondere das Habsburgerreich gut veranschaulicht, entwickelten sich transimperial
15 Vgl. Schneider, Wissensproduktion, S. 102f. 16 Dazu nach wie vor grundlegend David Gugerli/Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. Für das Habsburgerreich siehe Wolfgang Göderle: Modernisierung durch Vermessung? Das Wissen des modernen Staats in Zentraleuropa, circa 1760-1890, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 155– 186. 17 Die Benennung des späten Habsburgerreiches stellt ein in der Literatur breit bearbeitetes Feld dar, und sollte analytisch mitgedacht werden, da solche Fragen den Staat konzeptuell mitformten. Bis zum Ausgleich 1867 hieß das Habsburgerreich offiziell Kaiserthum Oesterreich. Nach dem Ausgleich nannte es sich Österreichisch-Ungarische Monarchie, bestehend aus den Ländern der Heiligen Ungarischen Stephanskrone und den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern. Für den vorliegenden Beitrag wird für die Gesamtmonarchie der Ausdruck Habsburgermonarchie Verwendung finden, für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder wird synonym der Begriff der österreichischen Reichshälfte bzw. Cisleithanien gewählt.
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verbindliche Sets von Normen und Vorgaben, die es unbedingt einzuhalten galt, wollte man nicht Gefahr laufen, am Selbstbild als moderner Staat zu kratzen.18 Innenpolitisch trafen in der Zählung komplexe Interessenslagen und teils auch abenteuerliche Vorstellungen aufeinander: Militärische Überlegungen, Elektoratsbestimmung im Rahmen politischer Partizipation, repräsentative Notwendigkeiten, der zeitgenössische Modernisierungsimperativ, Gouvernementalitätsphantasien und technokratisches Wunschdenken mussten im Vorfeld der Zählung ausverhandelt werden. Die Volkszählung beeindruckte und blendete durch die schiere Masse an erzeugten und verarbeiteten Informationen, im Übrigen nicht nur die Verwaltung und die politischen Verantwortlichen, sondern auch viele StaatsbürgerInnen, die sich mit den mehrbändigen monumentalen Werken auseinandersetzten, und dadurch Vorstellungen von einem konkreten staatlichen Kontext erhielten, in dem sie sich bewegten und in dem sie ihr Handeln auszurichten suchten.19 Diese Auseinandersetzung mit Orts- und Bezirksnamen, Kronländern und Landeshauptstädten leistete einen entscheidenden Beitrag dazu, den durch die Volkszählung skizzierten staatlichen Rahmen mitzukonstituieren, indem dessen Begriffe und Konzepte in die gelebte soziale Praxis übertragen wurden, und dort kollektive Vorstellungen von imagined communities stifteten.20 Es spricht also vieles, nicht nur im Lichte jüngerer Forschungen und Theorien, dafür, Volkszählungen nicht primär als verordneten Gewaltakt staatlicher Behörden zu verstehen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch als Dialog. Gesichtspunkte, die eine solche Interpretation zulassen, finden sich im für diesen Beitrag untersuchten Quellenmaterial zu Genüge. Dabei soll auch eine Scheidelinie im Auge behalten werden, die sich durch die Forschungsliteratur prägnant hindurchzieht: Während die angloamerikanische sozialwissenschaftliche und historische Zensusforschung Volkszählungen sehr stark unter dem Gesichtspunkt staatsbürgerlicher Emanzipation analysiert hat, haben sich in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung Positionen durchgesetzt, die den Zensus tendenziell stärker als Akt staatlicher Gewalt interpretieren.21 Diese beiden Perspektiven, und auch das sollte im Folgenden deutlich werden, schließen sich trotz ihrer Widersprüchlichkeit nicht aus und lassen sich beide im Material 18 Zur Entwicklung dieser Normen und Vorgaben siehe Nico Randeraad: States and Statistics in the Nineteenth Century. Europe by Numbers, Manchester 2011; ders.: The International Statistical Congress (1853–1876). Knowledge Transfers and their Limits, in: European History Quarterly 41 (2011), S. 50–65. 19 Siehe zur Popularisierung von Wissensformationen über Bevölkerung Wolfgang Göderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016, S. 258ff. Siehe auch Hansen, Germans. 20 Das Konzept der Seriality bietet sich hier zur Analyse an: Anderson, Nationalism. 21 Vgl. William Alonso/Paul Starr: The Politics of Numbers, New York, NJ 1986; Paul Starr: Social Categories and Claims in the Liberal State, in: Social Research 59 (1992), S. 263–295; bzw. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M./New York 2005; Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981 (1969).
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prominent nachweisen. Wenngleich diesem Aspekt im vorliegenden Beitrag kein ausführlicher Raum gewidmet werden wird, sollte er im Weiteren im Hintergrund mitzudenken sein. DIE ADMINISTRATIVE INFRASTRUKTUR Wer war für die Planung und Durchführung der Volkszählung verantwortlich, und wer hatte sicherzustellen, dass die „Referenzkette“ zwischen Bürgerinnen und Bürgern auch hergestellt werden konnte?22 In dieser Beziehung etablierte sich nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 ein Unterschied zwischen Ungarn und Cisleithanien: In Ungarn war das Innenministerium alleinverantwortlich, in der österreichischen Reichshälfte waren die Kompetenzen zwischen verschiedenen Behörden aufgeteilt. Prinzipiell war die Volkszählung auch dort eine Angelegenheit des Innenministeriums, viele Aufgaben im Rahmen der Durchführung und Administration wurden aber einer Institution übertragen, die eigentlich dem Handelsministerium (und ab 1870 dem Ministerium für Unterricht und Kultus) unterstellt war, der statistischen Central-Commission.23 Diese war erst 1863 als Kollegialorgan gegründet worden, d.h., dass in ihr Angehörige sämtlicher Ministerien als ordentliche Mitglieder vertreten waren, darüber hinaus gab es außerordentliche Mitglieder, bei denen es sich um Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft handelte.24 Ab 1870 erhielt die Statistische Central-Commission zusätzlich das Recht, korrespondierende Mitglieder zu ernennen.25 Insgesamt hatte diese Zentralkommission einen konzeptionellen Auftrag; sämtliche exekutiven Agenden wurden durch die ihr unterstellte Direction der administrativen Statistik übernommen, die eine ältere Einrichtung war, und einen operativen Auftrag innehatte.26 Im Rahmen der Volkszählung hatte die Zentralkommission eine beratende Funktion bei der Vorbereitung wahrzunehmen, im Zuge der Durchführung hatte sie die Erstellung der Summare auf Landes- und Reichsebene zu besorgen, und diese in der Folge für administrative und wissenschaftliche Zwecke auszuwerten.27 22 Zur Referenzkette Latour, Referenz. 23 Die interessante Frage nach dem Ort, an dem die Zentralkommission saß und an dem die Volkszählung am Ende durchgeführt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten: Die Zentralkommission dürfte über keine eigenen Räumlichkeiten verfügt haben, ihr Präsident und dessen Mitarbeiter verfügten über Büroräume. Wahrscheinlich waren diese an die Direction der administrativen Statistik angegliedert, die ursprünglich im Klein-Mariazellerhof in der Annagasse 5 in Wien angesiedelt war. Recherchen dazu sind im Laufen. 24 Siehe die Statuten der k.k. statistischen Central-Commission aus dem OeStA/FHKA Präs FM Akten 2438, 1107/FM, /863. 25 Wilhelm Zeller: Geschichte der zentralen amtlichen Statistik in Österreich, in: Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829–1979. Festschrift aus Anlaß des 150jährigen Bestehens der zentralen amtlichen Statistik in Österreich, Wien 1979, S. 13– 240, S. 43. 26 Zeller, Geschichte, S. 45. 27 Ebd., S. 47.
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In der Praxis führte das dazu, dass sämtliche Fäden vor, während und nach der eigentlichen Zählungsdurchführung beim Präsidenten der Statistischen CentralCommission und in der ihm unterstellten Direction der administrativen Statistik zusammenliefen. Dort wurde die Operation koordiniert und gesteuert, nach den Vorgaben des Innenministeriums, das sich auf eine Durchführungsverordnung berief, die die Umsetzung des die Volkszählung vorschreibenden Gesetzes vom 29. März 1869 regelte. Besagte Durchführungsverordnung wurde allerdings von der statistischen Central-Commission entworfen.28 Für die Volkszählung des Jahres 1869 wurde sie am 15. August erlassen. Sie regelte in sehr detaillierter Form das genaue Vorgehen, legte die Verantwortlichkeiten fest und bestimmte, wie die Formulare genau auszusehen hatten. Die statistische Central-Commission erhielt damit eine interessante und durchaus machtvolle Position im institutionellen Gefüge: Bei ihrer Gründung 1863 wurde sie dem Präsidenten der Obersten Rechnungs-Controls-Behörde unterstellt, in der Folge wurde sie 1869 dem Handelsministerium zugeordnet, und 1870 dem Ministerium für Kultus und Unterricht zugeschlagen.29 Sie sollte als Schnittstelle zwischen den Zentralstellen fungieren, und hatte sich, statutengemäß, an jedem ersten Freitag im Monat zu einer Sitzung zusammenzufinden. Solcherart sollte ein strukturierter Informationsaustausch gewährleistet werden. Die Struktur der Zentralkommission bestand damit aus Präsident, Protokollführer und Sekretär, alle übrigen Mitglieder der Kommission nahmen nur an Sitzungen teil und hatten darüber hinaus andere Aufgabenbereiche in anderen Ressorts zu betreuen. Dass diese drei Personen damit eine als wichtig erkannte Schlüsselstelle bekleideten, wird aus dem Umstand deutlich, dass der Präsident durch den Kaiser selbst ernannt wurde.30 Die Zentralkommission selbst verfügte, wie bereits kurz dargestellt, über kein eigenes operatives Personal, die ihr unterstellte Direction für administrative Statistik war personell stärker, nach einer Liste aus den mittleren 1860ern (1864 oder
28 Siehe den Brief mit Entwurf von Inama aus dem Jahr 1900 an das Ministerium: OeStA/AVA Inneres MdI Allgemein Teil 2 A 2352, 23849. Durch den Justizpalastbrand des Jahres 1927 wurden erhebliche Teile der Archivbestände insbesondere aus den 1860–80er Jahren zerstört bzw. beschädigt. Zahlreiche Akten zu den Volkszählungen wurden zudem im 20. Jahrhundert „skartiert“, also als nicht erhaltungswürdig klassifiziert und zerstört. Diese Perforation der Quellenlage hat die vorliegende Untersuchung in erheblichem Ausmaß erschwert, inwiefern das Vorgehen zur Volkszählung 1900 ein Novum war oder nicht lässt sich allenfalls aus dem Kontext und aus indirekten Angaben beurteilen, insbesondere aus o.V., Denkschrift der k.k. statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913. Die vorhandene Evidenz legt aber nahe, dass 1900 eine bewährte und seit den späten 1860ern unveränderte Praxis geübt wurde, siehe etwa eine einschlägige Bemerkung in o.V., Bevölkerung und Viehstand der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. Nach der Zählung vom 31. December 1869, V. Heft, Wien 1872, S. V. Dort wird eingangs Adolf Ficker als eigentlicher Urheber der Zählungsformulare bezeichnet. 29 Weitere Wechsel in der Zuordnung zwischen der Gründung im Januar 1863 und 1869 können zumindest nicht ausgeschlossen werden, finden aber in der einschlägigen Sekundärliteratur keine Erwähnung. 30 Siehe Statuten: §8.
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1865, die Archivalie ist nicht datiert) verfügte sie zu dieser Zeit über zwei Rechnungsräte, 15 Revidenten, sechs Assistenten, vier Praktikanten, drei Diurnisten und fünf Diener, insgesamt also 35 Personen, die großteils sehr gut qualifiziert waren.31 Allerdings war dieses Personal durch eine reguläre Agenda gebunden, und konnte nur in sehr eingeschränktem Umfang zu anderen Maßnahmen herangezogen werden. Die im Rahmen der Volkszählung durch die Zentralkommission und die ihr unterstellte Direktion der administrativen Statistik zu bewältigenden Aufgaben sind also vor dem Hintergrund sehr geringer personeller Ressourcen zu betrachten. Dessen ungeachtet engagierte sich die Zentralkommission sehr stark in der Zählungsvor– und –nachbereitung sowie in der Durchführung derselben. Ganz offensichtlich wurden dabei die Begrenzungen, die die in jeder Hinsicht unzulänglichen Ressourcen darstellten, bereitwillig überschritten, aus der noch vorhandenen Dokumentation lässt sich nachvollziehen, dass sich die Zentralkommission sogar noch zu zusätzlichen Verpflichtungen hinreißen ließ.32 AKTEURE ZWISCHEN VERWALTUNG UND WISSENSCHAFT Bevor auf die Strategien und Herangehensweisen eingegangen wird, die es der k.k. statistischen Central-Commission am Ende erlaubten, mit dieser Herausforderung umzugehen, soll noch kurz auf die Hintergründe dieses, im Verwaltungskontext doch eher ungewöhnlichen Handelns eingegangen werden. Michael Schneider baut seine umfassende und in vielen Hinsichten neue Maßstäbe setzende Studie sehr stark auf einen systemtheoretischen Ansatz auf, und interessiert sich insbesondere für die Autopoiesis, die sich im administrativen Handeln beobachten lässt.33 Dieses Moment lässt sich auch im Habsburgerreich beobachten. Das betraf weniger die Zentralkommission, die ja keine Behörde im eigentlichen Sinn war, sondern primär eine regelmäßig tagende Gruppe von Spitzenfunktionären. Aber sowohl ihr Präsident, als auch das ihm unterstellte Organ der Direction für administrative Statistik entwickelten Strategien, die auf eine Ausweitung und Totalisierung des ihnen übertragenen Aufgabenfeldes abzielen. Zugleich wiesen die maßgeblichen Akteure, im Verlauf der Volkszählung des Jahres 1869 waren das hauptsächlich Gustav Adolph Schimmer und Adolf Ficker, einige interessante Merkmale im Hinblick auf ihr berufliches Selbstverständnis auf. Das im Zensus in verantwortlichen Positionen tätige Personal operierte an einer Schnittstelle von Verwaltung und Wissenschaft. Diese beiden Tätigkeitsfelder wiesen an mehreren Berührungspunkten Konfliktpotentiale auf, die auch regelmäßig eskalierten.34 Anstatt hier die Frage aufzuwerfen, welcher Seite sich die Akteure 31 Siehe Personal und Salarialstand des Rechnungs-Personals und des untergeordneten Personals der k.k. Direktion für administrative Statistik, OeStA/FHKA Präs FM Akten 2438, nicht nummerierte und nicht paginierte Beilage im Bestand. 32 Siehe o.V., Bevölkerung, VII–VIII. 33 Schneider, Wissensproduktion, S. 14f. 34 Sehr gut dokumentiert ist das für den Konflikt zwischen Engel und diversen Vorgesetzten, darunter Bismarck: Siehe Ebd., S. 159ff.
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stärker verpflichtet fühlten, soll an dieser Stelle vielmehr nach den Strategien gefragt werden, die die handelnden Personen entwickelten, um mit verschiedenen belastenden Situationen und Konstellationen umzugehen. Sowohl Schimmer als auch Ficker suchten keinen Konflikt mit ihren (wechselnden) Vorgesetzten, zumal sie noch in den späten 1860ern insofern gute Arbeitsbedingungen vorfanden, als keine starken inhaltlichen Einschränkungen ihrer Tätigkeit dokumentiert sind.35 Innerhalb der Verwaltung präsentierten sie sich als funktionaler und funktionierender Teil dieser. Gegenüber Fachkollegen, und diese waren in aller Regel Administrativstatistiker, aber auch in der Öffentlichkeit argumentierten sie und präsentierten sich als Wissenschaftler.36 Diese beiden Positionen standen nicht zwangsläufig im Widerspruch zueinander. Die frühen Internationalen statistischen Congresse etwa fanden unter reger Beteiligung von hochrangigen Angehörigen der Administration statt, die offensichtlich nicht gegen das, in diesem Rahmen doch deutlich andere und selbstbewusstere Auftreten ihrer Untergebenen intervenierten.37 In manchen Fällen scheinen Statistiker sogar Unterstützung von Vorgesetzten für ihre Selbstinszenierung erhalten zu haben, zumal die unter hohem Erfolgsdruck stehende Administration davon profitierte, dass Ficker für einige Jahre die hochangesehene Spitzenposition im Internationalen statistischen Congress einnahm. Dies ist insbesondere im Kontext der Unsicherheit zu interpretieren, in den das Habsburgerreich zwischen 1859 und 1873 hineinlavierte. Die militärische Niederlage des österreichischen Kaisertums im Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieg, und eine schwere fiskalische Krise beendeten den Neoabsolutismus, der durch seine starke zentralstaatliche Administration geprägt war. Im Zuge eines neu einsetzenden Konstitutionalismus wurde zunächst die Aristokratie wieder in den politischen Prozess integriert. Nach der Niederlage bei Königgrätz 1866 kam es zum Ende des Kaisertums und damit des Zentralstaats.38 Mit dem Ausgleich 1867 wurde die Doppelmonarchie installiert, deren analytische Beschreibung insofern eine Herausforderung darstellt, als dass sie einen Vielvölkerstaat und das sich zunehmend als Nationalstaat verstehende Ungarn in einer imperialen Konstruktion zusammenführt.39 Vor diesem Hintergrund einer langanhaltenden Krise und fortgesetzter Unsicherheit gilt es, die Bedeutung, die eine langfristige Sanierung des internationalen Ansehens des Staates für die Administration hatte, zu interpretieren. Sie ist kaum zu überschätzen. Die Positionierung und Anerkennung der vormaligen 35 Durch die mehrfach wechselnde Zuständigkeit für die Zentralkommission dürften insbesondere in den Jahren um 1870 Eingriffe in deren Arbeit tatsächlich nicht häufig gewesen sein. Vgl. auch hierzu die Situation von Engel in Schneider, Wissensproduktion, S. 114ff. 36 Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 19–37. 37 Vgl. Randeraad, States, S. 60ff 38 Deak, State, S. 139ff. 39 Vgl. Jane Burbank/Frederick Cooper: Imperien der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute, Frankfurt a.M./New York 2012; Pieter Judson: The Habsburg Empire. A New History, Cambridge, MA/London 2016.
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Großmacht als moderner Staat hatte in der Verwaltung wie auch in der politischen Führung höchste Priorität, und die Administrativstatistik eröffnete dabei Perspektiven.40 An der Statistik als Schnittstelle zwischen Administration und Wissenschaft prallten einige zentrale Handlungsfelder aneinander, die allesamt wichtige Rollen in der Ausprägung moderner Staatlichkeit innehatten. Einerseits galt es für die Administration, sich die Statistik als Machttechnik zu erhalten und auszubauen, andererseits wurde das aber in dem Maße schwieriger, in dem sich diese als Wissenschaft etablierte und hohe, häufig zu hohe Anforderungen an Unabhängigkeit, Neutralität und Autonomie der handelnden Beamten stellte. Im Lichte des oben skizzierten Modernisierungsimperativs war die Administrativstatistik für die strategische Neuausrichtung des Staates aber unverzichtbar. Zudem hatte gerade die wachsende und für den Staat immens wichtige soziale Gruppe des Bürgertums großes Interesse an wissenschaftlichem Wissen über die Gesellschaft, nicht zuletzt auch, weil es um Repräsentation und politische Partizipation ging.41 Nicht nur preußische, auch habsburgische Administrativstatistiker sympathisierten mit diesem Interesse, wenngleich in den 1860ern und frühen 1870ern es in Wien niemand wagte, so weit zu gehen wie Ernst Engel in Berlin.42 Im Umgang mit der Öffentlichkeit legte man große Zurückhaltung an den Tag. Und nicht zuletzt teilten sich die Verwaltung und ihre Administrativstatistiker eine Erwartungshaltung im Hinblick auf ein besseres Verständnis der Gesellschaft und auf das Erfassen sozialer Wirkungsbeziehungen. Angetrieben durch den schnellen Fortschritt, den statistische Verfahren auf technischer, mathematischer und administrativ-organisatorischer Ebene zuletzt erzielt hatten, war ein hoher Erwartungsdruck entstanden, der der Ausbreitung einer modernisierungsfreundlichen und szientistischen Weltsicht in Teilen der Verwaltung und der Gesellschaft Vorschub leistete.43 DER ABLAUF BEI DER ZÄHLUNG: 1869 Die Vornahme der Volkszählung vom 31. Dezember 1869 konnte nicht vor dem 1. Januar 1870 beginnen: Es war festgelegt, dass wer vor Mitternacht geboren wurde noch mitzuzählen war, wer am 31. verstarb aber nicht mehr.44 Der Bevölkerungsstand ließ sich also erst am Folgetag erheben. Inwiefern diese Bestimmung einge-
40 Natürlich beschränkten sich die getroffenen Maßnahmen nicht auf die Statistik, unter anderem kam auch der Weltausstellung des Jahres 1873 dabei große Bedeutung zu. 41 Wolfgang Göderle: Administration, Science, and the State. The 1869 Population Census in Austria-Hungary, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), S. 61–88. 42 Schneider, Wissensproduktion, S. 159f. 43 Scott, State, S. 3ff. 44 Adolf Ficker: Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich. Gehalten in dem vierten und sechsten Turnus der statistisch-administrativen Vorlesungen, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17/2 (1870), 1–124, S. 71.
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halten wurde ließ sich, wie so vieles im Rahmen der Volkszählung, durch die durchführende Behörde nicht überprüfen. Dass die Anordnung Probleme machte, lässt sich allenfalls aus der Aufmerksamkeit ablesen, die diesem Aspekt bereits in der Vorbereitung gewidmet wurde. Bei der Zensusdurchführung 1869 baute man grundlegend auf dem Erfahrungswissen auf, das im Rahmen der Durchführung der Volkszählung des Jahres 1857 gesammelt worden war. Zwar war diese in der Praxis gescheitert, da anstelle der vor Ort anwesenden Bevölkerung jene Personen gezählt wurden, die gemäß ihres Heimatrechts in einem Ort hätten sein sollen. Dieser (teure) Lapsus schmerzte die Administration auch zwölf Jahre später noch, wie sich aus den einschlägigen Anmerkungen herauslesen lässt.45 Auf der praktischen Seite lieferte die Zählung des Jahres 1857 nahezu das gesamte verfügbare Know-how zur Durchführung einer solchen Operation. Auch die Vorgehensweise blieb weitestgehend gleich, abgesehen davon, dass die Bezirkshauptmannschaften inzwischen die gemischten Bezirksämter ersetzt und deren Aufgaben übernommen hatten. Im Prinzip bauten Volkszählungen der Mitte des 19. Jahrhunderts in den meisten Staaten auf der Mitwirkung von sogenannten Zählungs-Commissären auf, im Fall der Habsburgermonarchie war das in großen Mengen zur Zählungsrohdatenaufnahme angestelltes Hilfspersonal. Dieses hatte sogenannte Aufnahmsbogen zu vervollständigen. Die Auswahl und temporäre Einstellung dieses Personals lag in der Zuständigkeit der Gemeinden und damit außerhalb der Einflusssphäre der Zentralkommission, was bereits 1869 für Diskussionen sorgte. In Städten stieß diese Vorgehensweise an logistische Grenzen, weshalb dort das Prinzip der Selbstzählung eingeführt wurde: Die HausbesitzerInnen wurden verpflichtet, sogenannte Anzeigezettel für die in ihren Häusern lebenden Personen auszufüllen. Während die Zählungs-Commissäre durch die Gemeinden aufgestellt werden mussten, bzw. die Städte dafür Sorge zu tragen hatten, dass die Anzeigezettel an die HausbesitzerInnen ausgegeben wurden, lag die übrige Logistik in der praktischen Durchführung hauptsächlich bei der Direktion der administrativen Statistik. Zusätzlich war noch das Innenministerium beteiligt, das aber viele Aufgaben und entsprechende Verantwortung an die Zentralkommission (und mit ihr die Direktion) abtrat. Der archivalische Befund zeigt an dieser Stelle für die Jahre 1890, 1900 und 1910, dass zwar die den Zensus vorbereitende Korrespondenz über das Innenministerium lief, die Steuerung und Koordination der Kommunikation oblag aber der Zentralkommission, die die Aussendungen durch das Ministerium bewilligen und expedieren ließ.46 Für 1869 ist belegt, dass die Zentralkommission jedenfalls schon im Vorfeld auf einer informellen Ebene stark involviert war.47 45 Ficker, Vorträge, S. 28. 46 Weder für 1869 noch für 1880 sind diesbezügliche Akten in nennenswertem Umfang erhalten, es kann aber auf der Grundlage der vorhandenen Belege davon ausgegangen werden, dass es sich weitestgehend analog verhielt. In der ungarischen Reichshälfte oblag die gesamte Operation dem Innenministerium. 47 O.V., Bevölkerung, V.
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Ende März wurde das neue Volkszählungsgesetz erlassen, Mitte August lag die Durchführungsverordnung vor. Bereits im Mai bereitete das Innenministerium über ein Schreiben die Chefs der Länderstellen auf den Zensus vor, und forderte sie zur Auseinandersetzung mit dem Gesetz auf. Außerdem wurden sie angewiesen, die Hausnummerierung und den Personalstand im Auge zu behalten, letzteres, um für den Winter ausreichende Ressourcen bereitzuhalten. Auch die Abschätzung des Drucksortenbedarfs und der voraussichtlichen Kosten wurde im selben Zug in Auftrag gegeben. In der Folge wurde durch die Länderstellen unter Einbeziehung der Bezirksvorstände abgewogen, ob die jeweiligen Bezirke zur Übernahme der ihnen zugedachten Aufgaben in der Lage waren: Hierbei führten die subjectiven Anschauungen zu den verschiedensten Ergebnissen, indem von einzelnen Vorständen alle, von anderen gar keine Gemeinden im Bezirke zur Besorgung der Zählungs-Agenden befähigt erklärt wurden. Aus diesem Grunde, und weil viele Gemeinden, welche sich zur Uebernahme der Volkszählungsarbeiten bereit erklärt hatten, nachträglich selbst erkannten, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und insbesondere die Verfassung der Orts- und Gemeinde-Uebersichten den politischen Behörden überliessen, kann die Zahl der Gemeinden, welche das Geschäft ganz oder theilweise selbst besorgten, auch nicht annähernd festgestellt werden.48
Auch die Zentralkommission konnte im Rückblick nicht abschätzen, wie die Rohdatenaufnahme letztlich verlaufen war, und wer dafür verantwortlich zeichnete. Gustav Schimmer, der Verfasser des Endberichtes, aus dem hier zitiert wird, gibt an, dass die Erhebung in jenen größeren Gemeinden, die über eigene Beamte verfügten, wohl zumeist durch diese, unterstützt durch zusätzliches Hilfspersonal, die Zählungs-Commissäre, erledigt wurde. In den Landgemeinden, so vermutet er, fiel die Unterstützung durch zentralstaatliche Organe, also die Bezirksbehörden, wesentlich umfassender aus.49 Die Auswahl von Hilfspersonal blieb insgesamt völlig den Gemeinden überlassen, was durch die Zentralkommission auch kritisiert wurde. Letztere unternahm beträchtliche Anstrengungen, um die ausgewählten Kandidaten auf ein einheitliches Wissensniveau hinsichtlich des Zensus zu bringen, unter anderem über einen in Wien abgehaltenen practischen Curs für Zählungs-Commissäre, und über umfassendes gedrucktes Lehr- und Anschauungsmaterial. Diese Maßnahmen wurden jedoch, zumindest für die Zentralkommission, primär in den als zentral angesehenen Räumen des Habsburgerreiches eingeführt. Die als peripher betrachteten Gebiete wie Galizien, Dalmatien und Bukowina wurden als dementsprechend problematisch erachtet.50
48 O.V., Bevölkerung, V. 49 Ebd. 50 Ebd. Die Ausinterpretation dieses Umstandes im Rahmen eines postkolonialen Zugangs hat zuletzt eine lebhafte Diskussion hervorgebracht: Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck 2003; Klemens Kaps/Jan Surman (Hg.): Historyka 2012. Postcolonial Galicia. Prospects and Possibilities, Krakau 2012; Zu Galizien siehe auch Börries Kuzmany: Galizische Kultur und
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Ab Oktober 1869 begann die Auslieferung der Drucksorten für die Zählung an die Länderstellen, insgesamt wurden 1.284.780 Anzeigezettel für den Zensus benötigt, und 3.432.800 Aufnahmsbogen. Dazu kamen noch jeweils mehrere hunderttausend Sammelbogen, Verzeichnisse und Summare, sowie insgesamt 450.540 Belehrungen. Weder 1869 noch in den Zählungsjahren darauf gelang es, den Drucksortenbedarf im Vorfeld gut abzuschätzen. Es mussten während der Zählung laufend Drucksorten nachbestellt werden, die Zentralkommission, die faktisch die Kontrolle über die Operation hatte, musste dabei in jedem einzelnen Fall über das Innenministerium gehen.51 Nur indirekt, also etwa über die Dokumentation der Nachbestellungen, können bestimmte Rückschlüsse auf den tatsächlichen Ablauf der Zählung gewonnen werden, und diese geben starke Hinweise darauf, dass die Rollen, die die Zentralkommission und die Direktion für administrative Statistik innehatten, wesentlich größer waren, als offiziell dokumentiert.52 Das führt zu zwei Spannungsfeldern hin, denen an dieser Stelle kurz nachgegangen werden sollte. Zum ersten die Rolle der statistischen Zentralkommission und der ihr unterstellten Direktion für administrative Statistik. Die maßgeblichen Akteure dieser beiden Einrichtungen brachten sich sehr aktiv und offensiv für die im Rahmen der Zählung anfallenden Arbeiten in Stellung, und zwar auch für Arbeiten, die nicht in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen Aufgabenprofilen ihrer Institutionen standen. Die statistische Central-Commission hat erkannt, dass ihre Wirksamkeit zur Durchführung der Volkszählungs-Arbeiten, wenn das Operat ein wirklich entsprechendes sein soll, nicht auf die ihr gesetzlich übertragene Verfassung der Summare aus den Bezirks-Uebersichten allein beschränkt bleiben könne, sondern sie auf die Primitiv-Erhebungen fördernden Einfluss üben müsse, wie schon die Feststellung der Formulare mit ihrer vorzugsweisen Betheiligung geschah.53
Vieles würde darauf hinweisen, dass dies zumindest teilweise in einem Kontext administrativer Autopoiesis auszudeuten ist. Es dürfte aber ein zweiter Aspekt zum Tragen kommen, der zumindest gleich hoch zu gewichten ist: Maßgebliche Akteure wie Adolf Ficker oder Gustav Adolf Schimmer positionierten sich im Nahbereich des Zensus sehr stark als Wissenschaftler, und sie übernahmen im Kontext dieser Selbstpositionierung auch die zentralen Distinktionsmerkmale wissenschaftlicher Arbeit, wie ein Objektivitätsideal.54 Nicht zuletzt aus diesem Gesichtspunkt heraus
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Identität – Kulturen und Identitäten in Galizien, in: Andreas Gottsmann (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. X: Kultur und Gesellschaft. Sinnstiftung und Lebensordnungen, Wien 2016 (im Druck). Ich danke Börries Kuzmany für die Gelegenheit, das Manuskript zu lesen. Siehe dazu vereinzelte, nicht paginierte und nummerierte Nachbestellungsbelege in den AVABeständen. Siehe auch kleinere Bemerkungen in o.V., Bevölkerung, VIII. Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 5. März 1870, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 18/1 (1871), 17–25, S. 24. Das dabei angestrebte Ideal nähert sich der in Daston/Galison, Objektivität beschriebenen Naturwahrheit an. Siehe auch Göderle, Zensus, 137ff.
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war es für sie wichtig, möglichst viel Kontrolle über den Gesamtprozess zu gewinnen. Dass dies in erstaunlichem Umfang gelang, lag wiederum an der Administration, die den beiden Genannten und den von ihnen vertretenen Institutionen diesen Spielraum auch zugestand. Ficker und Schimmer agierten also im Rahmen der Volkszählung wie Wissenschaftler. Zugleich, und das ist der zweite Aspekt an dieser Stelle, wussten sie, wann sie sich als Beamte zu verhalten hatten. Das wird insbesondere in der Kostendebatte deutlich. Die hohen Kosten, die der Zensus mit sich brachte, konfligierten mit den chronisch angespannten Staatsfinanzen, weshalb die Zentralverwaltung viel unternahm, um die Belastungen so gering wie möglich zu halten. Unter anderem wurde das erreicht, indem die Gemeinden an den Lasten mitbeteiligt wurden. In Summe wurden vor der Einbeziehung der Druckkosten für die Formulare und Belehrungen nur 15% der Zählungskosten vom Staat übernommen, während 85% von den Gemeinden getragen werden mussten. Deren Beschaffung übernahm der Staat, der damit letztlich 28% der Gesamtkosten trug.55 Die Kosten für die Anschaffung der Drucksorten stellten damit jenen Teil der Gesamtkosten dar, über die die Zentralverwaltung am stärksten auf die letztlich durch den Staat zu übernehmenden Ausgaben einwirken konnte, was auch diesbezüglichen Debatten im Vorfeld erklärt: So wurde durch das Innenministerium mehrfach am Drucksortenbedarf mehrerer Länder gezweifelt, was offensichtlich mit für Nachbestellungen, Verzögerungen und höhere Kosten verantwortlich war. Ficker und Schimmer waren in dieser Hinsicht in einer sehr schwierigen Lage: Aus einer wissenschaftlichen Perspektive gab es gerade bei den Belehrungen kein Einsparpotential, als Vertreter der Administration waren sie dazu angehalten, bei den Drucksorten höchste Sparsamkeit an den Tag zu legen. Dementsprechend gestaltete sich ihre Darlegung des Sachverhalts in der Kostenbegründung, in der Schimmer einerseits auf die äußerst niedrigen Kosten der Zählung pro Einwohner verwies, und andererseits den Qualitätsaspekt, der den Druck der großen Zahl von Belehrungen notwendig gemacht hätte, in den Vordergrund rückte. NACH DER ZÄHLUNG: DIE AUFSUMMIERUNG Der Umstand, dass die Abläufe während der Zählung ebenso wie die Bedingungen, unter denen die Rohdaten zustande kamen, sowohl für die Zentralverwaltung als auch die Zentralkommission und die Direktion der administrativen Statistik weitestgehend nicht nachvollziehbar blieben, stellte von 1869 an bis 1910 ein grundlegendes Problem dar, allerdings fast ausschließlich für den wissenschaftlichen Aspekt der Zählung. Für die Administration stellten Falschangaben eine Herausforderung dar, die als (große Anzahl) Einzelfälle zu behandelt werden hatte. Ficker, Schimmer und die ihnen nachfolgenden Wissenschaftler jedoch bemängelten ein System, das nicht ausreichend kontrolliert werden konnte, für sie lag ein systematischer Messfehler vor, für die Administration ein absoluter. Eine Veränderung der 55 Siehe auch kleinere Bemerkungen in o.V., Bevölkerung, XIV.
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gesetzlichen Zählungsgrundlage blieb bis ins Jahr 1910 ein Tabu, was die Statistiker dazu zwang, sich über Umwege zu behelfen. 1869, aber auch noch in den Folgejahren kam es bei der Volkszählung zu einem sogenannten dezentralen Depouillement: Die Zusammenstellung der Ergebnisse erfolgte auf Gemeindeebene in den Gemeinden und auf Bezirksebene in den Bezirken, erst die darüberliegenden Summare wurden durch die statistischen Behörden in Wien erstellt.56 Diese schienen auf die Aufgabe gut vorbereitet: Über den durch den gesetzlichen Rahmen festgelegten Arbeitsauftrag hinaus erstellten Zentralkommission und Direktion der administrativen Statistik einen sogenannten Zählungskataster, in den jede Ortsgemeinde mit allen erhobenen Daten eingetragen werden sollte. Dieser Zählungskataster ist auch aus einer medialen Perspektive interessant: In Form einer Liste der Ortsgemeinden Cisleithaniens stellte der leere Kataster gewissermaßen ein Negativabbild des zu vermessenden Staates dar. Erst der vollständige Abschluss der Zählungsoperation und die vollständige Übertragung der erhobenen Daten in den Kataster komplettierte diese Repräsentation des Staatswesens, die andernfalls, mit ausständigen Daten nur einer einzigen Ortsgemeinde, defizitär bleiben musste, was für das damit befasste Personal auf den ersten Blick sichtbar war. Der leere Kataster kann auch als Schattenbild des modernen Staates gesehen werden, dessen administrative und topographische Strukturen erst durch die Volkszählung und die damit einhergehende Befüllung der augenscheinlichen Leerstellen operationalisiert werden konnte.57 Erneut zeigte sich der Gestaltungswille der beiden statistischen Institutionen, die starke Initiative im Hinblick auf die Auslegung des Zählungsgesetzes an den Tag legten. Dabei scheint insbesondere die Direction der administrativen Statistik federführend gewesen zu sein. Sowohl der Zählungskataster als auch ein Ortsrepertorium waren durch die gesetzliche Grundlage nicht vorgesehen, fanden aber letztlich die Zustimmung der vorgesetzten Stellen, insbesondere des Handelsministeriums. Dabei offenbart sich eine interessante Vorgehensweise: Zunächst ist festzustellen, dass die Volkszählung in den monatlichen Besprechungen der Zentralkommission sehr wenig Raum einnahm. Sowohl 1869 als auch 1870, sogar in der Phase der Zählungsdurchführung selbst, war der Zensus in den zu dieser Zeit sehr ausführlichen Protokollen der Kommissionssitzungen nur selten ein Gegenstand der Debatte, obwohl der Zentralkommission in der Volkszählung eine wichtige Rolle zukam.58 Ficker und Schimmer wussten die Zentralkommission aber offensichtlich zu nutzen, wenn es darum ging, konkrete Ziele umzusetzen. Erstmals war dies in der Sitzung vom 5. März 1870 der Fall, zu einer Zeit, als noch die Erstellung der Gemeinde- und Bezirksübersichten im Gange war, dort berichtete Ficker als Direktor der Direction der administrativen Statistik von den vorsorglich getroffenen Maßnahmen derselbigen zur Erleichterung des Zählungsablaufes, konkret meinte 56 Gesetz über die Volkszählung vom 29. März 1869. 57 Vgl. Latour, Referenz, S. 47ff. 58 Vgl. etwa das Protokoll der Sitzung vom 9. April 1870, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 18/1 (1871), S. 25–36.
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er damit die Schulungsmaßnahmen für Beamte und Zählungskommissäre, die er gemeinsam mit Schimmer durchführen hatte lassen. Seine Initiative wurde, offenbar erwartungsgemäß, gefällig quittiert.59 Der Vorschlag zur Erweiterung der Datenauswertung durch ein Ortsrepertorium und einen Zählungskataster, der mit Kosten verbunden war, wurde in der Kommissionssitzung vom 7. Mai 1870 vorgelegt, allerdings wurde die Zentralkommission dabei quasi vor vollendete Tatsachen gestellt, denn die verantwortlichen Ministerien, vor allem das Innenministerium, hatten bereits im Vorfeld eingewilligt.60 Es liegt die Vermutung nahe, dass Ficker bereits frühzeitig und wahrscheinlich über den Vertreter des Innenministeriums in der Zentralkommission diesen reibungslosen Ablauf vorweggenommen hatte. Sowohl die Besprechungsprotokolle als auch die übrigen zur Verfügung stehenden Quellen zum Zählungsablauf zeichnen ein Bild der verantwortlichen Akteure Adolf Ficker und Gustav Adolf Schimmer, das diese als sehr geschickt und elegant in den administrativen und wissenschaftlichen Kontexten ihrer diversen Tätigkeitsfelder agierend hervortreten lässt. Insbesondere Ficker entwickelte ein hohes Durchsetzungsvermögen, er nutzte sowohl die Kontakte, die ihm die Zentralkommission zu den Ministerien bot, als auch die Autorität der Zentralkommission selbst. In der Volkszählung des Jahres 1869 traten vor allem er und Schimmer hervor, die zentralen Entscheidungen die konkrete Zählungsausgestaltung betreffend gingen, wo sie sich zurückverfolgen lassen, in aller Regel auf sie zurück. In der Volkszählung wurde nicht nur die rechnerische Kontrolle der durch die Bezirke übermittelten Aufstellungen der Gemeinde- und Bezirksübersichten bei deren Einlangen in der Direction der administrativen Statistik angeordnet, auch eine inhaltliche Kontrolle der Plausibilität der ermittelten Zahlen durch Vergleich mit den Ergebnissen des Jahres 1857 wurde durchgeführt. Zu diesem Zweck wurde zusätzliches Personal verpflichtet: Ab Anfang Mai 1870, dem Zeitpunkt, zu dem mit dem Einlangen der ersten Summare gerechnet wurde, wurden zwei sogenannte Diurnisten eingestellt, bis Anfang Juli erhöhte sich der Personalstand auf letztlich 10 Diurnisten. Rekrutiert wurden diese unter jenen Zählungskommissären, mit deren Arbeit sich Ficker und Schimmer besonders zufrieden gezeigt hatten. Die Diurnisten übernahmen die Kontrollen und die Einarbeitung der Daten in den Zählungskataster, und wurden ihrerseits durch die Beamten der Direction der administrativen Statistik kontrolliert. Zu den Diurnisten – also auf Tagesbasis angestellten und entlohnten Hilfsbeamten – sind keine weiteren Details bekannt, sie erhielten ein Taggeld von einem Gulden und wurden in der Kalkulation mit 30 (für ganztägige Beschäftigung) bzw. 20 (Beschäftigung nur am Nachmittag) Gulden/Monat geführt. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie verhältnismäßig gut qualifiziert waren, sie mussten, um ihren Aufgaben gerecht zu werden, Lesen, Schreiben und
59 Vgl. Protokoll 5. März 1870, S. 25. 60 Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 7. Mai 1870, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 18/1 (1871), 36–46, S. 38.
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Rechnen auf einem akzeptablen Niveau beherrschen und prinzipiell auch zur Führung von Korrespondenz befähigt sein.61 Ihre Bezahlung fiel im Kontext der Zeit durchschnittlich aus und lag auf dem Niveau der Assistenten der Direktion.62 Das Auftreten von Fehlern in den Summaren führte zu einer Korrespondenz mit den Länder- und Bezirksbehörden. Auch dabei erlaubten sich Ficker und Schimmer, in das vorgesehene Prozedere einzugreifen, indem sie, anders als durch das Gesetz bestimmt, nicht nur die Bezirks- sondern auch die Orts-Übersichten nach Wien überstellen ließen. Begründet wurde das damit, dass man so die Korrespondenz mit den Unterbehörden auf ein notwendiges Minimum beschränken könne.63 Diese Maßnahme verursachte allerdings erhebliche Versand- und Transportkosten von 300 Gulden.64 Im Großen und Ganzen zeigte sich Schimmer mit den Summaren zufrieden, er bemängelte zwar häufige Rechenfehler, stellte aber fest, dass nur sechs Bezirke (von insgesamt 354) völlig unzureichende Arbeiten geliefert hatten. Angesichts der geschilderten Abläufe sollte hier die Frage aufgeworfen werden, wie die beschriebenen Vorgänge insgesamt einzuordnen sind. Die k.k. statistische Central-Commission war eine Behörde der Administration, die den Auftrag hatte, die Volkszählungsabhaltung zu unterstützen und die wissenschaftliche Auswertung der Ergebnisse in vollem Umfang zu ermöglichen. In der Volkszählung selbst wurde die Zentralkommission aber nur am Rande sichtbar, zumeist war die Direction der administrativen Statistik aktiv, die der Zentralkommission unterstellte operative Statistikbehörde der Verwaltung. Die Direktion griff in für die Administration unüblicher Weise in das Prozedere ein und ließ von den Gemeindeübersichten aufwärts sämtliche erstellten Summare nach Wien bringen, wo ein kleiner, wenngleich personell um zehn Bearbeiter verstärkter Apparat in einem Zeitraum von weniger als einem Jahr, zwischen Mai 1870 und dem Frühjahr 1871, sämtliche Gemeindesummare und Bezirkssummare erneut prüfte und auswertete. Die beschriebenen Prozesse widersprechen den Prinzipien einer streng hierarchisch geordneten Verwaltung, die 1869/70 auch noch stark von den personellen Kontinuitäten zum Neoabsolutismus geprägt war. Akteure der Direction der administrativen Statistik überschritten wiederholt ihre Zuständigkeitsbereiche, sie missachteten 61 In der Staatsverwaltung war es zu dieser Zeit üblich, dass junge Kandidaten mit Interesse an einer Beamtenlaufbahn zunächst unentgeltlich als Praktikanten tätig wurden, mitunter viele Jahre lang. Das schloss jene Bewerber von vornherein von einer solchen Karriere aus, die die finanziellen Mittel nicht hatten, um sich in dieser Zeit zu erhalten. Jedenfalls gab es einen großen Pool gut ausgebildeter Fachkräfte, aus dem der Staat zu jeder Zeit für Positionen in der Administration schöpfen konnte, und es wäre naheliegend, dass auch die besser qualifizierten Zählungskommissäre aus diesen Reihen stammten. Die Vermutung liegt nahe, dass sich dieses Arbeitskräftereservoir nicht gleichmäßig über die Monarchie verteilte, sondern sich insbesondere auf den Zentralraum konzentrierte. Vgl. Deak, State: S. 118–131. 62 Siehe zum Vergleich Personal und Salarialstand des Rechnungs-Personals und des untergeordneten Personals der k.k. Direktion für administrative Statistik, OeStA/FHKA Präs FM Akten 2438, nicht nummerierte und nicht paginierte Beilage im Bestand. 63 Siehe o.V., Bevölkerung, IX. 64 Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 8. Oktober 1870, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 18/1 (1871), S. 59–66, S. 64.
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Dienstwege und hierarchische Gliederungen. Zugleich scheinen sie dafür nicht sanktioniert worden zu sein, zumal sie sich im Rahmen ihres Bezugssystems offensichtlich nichtsdestoweniger korrekt verhielten. Ficker und Schimmer argumentieren die von ihnen vorgeschlagenen Abänderungen in den vorgesehenen Abläufen mit Zweckmäßigkeit und verbesserter Ergebnisgenauigkeit. Zwischen den Zeilen deuten sie an, dass ihre Vorschläge indirekt auch zu niedrigeren Zählungskosten beigetragen hätten, aber dieses Argument wird sehr subtil vorgebracht. Ihre Argumentationslinien beziehen sich auf das Repertoire von Beamten der Administration, Wissenschaftlichkeit oder gar „Objektivität“ spielen in der Legitimation ihrer Änderungswünsche keine Rolle. Zugleich lassen sich aber die Resultate der von ihnen vorgenommenen Feinjustierungen in hohem Ausmaß mit den Idealen der Beobachtung im Sinne der Naturwahrheit in Übereinstimmung bringen.65 Ficker und Schimmer zielten darauf ab, den beobachteten Gegenstand – die durch die Beobachtung zugleich hervorgebrachte Bevölkerung – unter die vollständige Kontrolle der Direktion zu bringen. Zwar gelang es ihnen nicht annähernd, die Rohdatenerzeugung in ihre direkte Einflusssphäre zu ziehen – ein im Übrigen vielfach beklagter Umstand – aber ab den Ortsübersichten lagen die ermittelten Daten in den Amtsräumen der Direktion vor. Als zentrale Beobachtung möchte ich an dieser Stelle anführen, dass in den gut zwei Jahren der Zensusdurchführung zwischen dem ausgehenden Jahr 1869 und dem Jahr 1872 sichtbar wird, wie sich Handlungsfelder bürgerlicher Akteure in der Zentralverwaltung verschieben. Dass gerade im späten Habsburgerreich hohe Beamte neben ihrer Amtstätigkeit künstlerisch und wissenschaftlich tätig waren, entspricht einem gut belegten Befund.66 In den frühen 1870ern schien aber zumindest in der Administrativstatistik die private Neigung auch in das amtliche Geschäft zu diffundieren, ein neues bürgerliches Weltbild und dessen Handlungslogiken drangen subtil in einen Bereich ein, der noch wenige Jahre zuvor ausschließlich der Pragmatik des neoabsolutistischen Machterhalts vorbehalten war. Es lässt sich schließlich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen, warum die Zentralverwaltung den Administrativstatistikern so viel Raum zur Umsetzung ihrer Vorstellungen ließ. Es lassen sich aber zweifelsfrei einige Faktoren identifizieren: Das Know-how von Personen wie Ficker und Schimmer wurde für den reibungslosen Ablauf der Operation dringendst benötigt, die Struktur der k.k. statistischen Central-Commission könnte zudem den Statistikern genützt haben, die sich unter den fachlich ihnen unterlegenen Vertretern der Ministerien jene aussuchen und gezielt ansprechen konnten, die ihnen am gewogensten erschienen. Dass Ficker zudem als administrativstatistische Koryphäe galt, und 1870 den Zenit seiner Laufbahn erreichte, dürfte seiner Autorität nicht geschadet haben, zumal das Habsburgerreich in seiner geschwächten Position stark auf ein neues Außenbild als moderner Staat angewiesen war, der im Hinblick auf eine Operation wie den Zensus höchsten wissenschaftlichen Standards zu genügen hatte. 65 Vgl. Daston/Galison, Objektivität, S. 59ff. 66 Siehe Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Wien/Köln/Graz 1990, S. 290ff.
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DIE WEITERE BEARBEITUNG DER ERGEBNISSE Die fertiggestellten Bezirkssummare wurden über die Sommermonate des Jahres 1870 weiterbearbeitet. Parallel wurde an der Drucklegung der ersten Ergebnisse gearbeitet, die am 6. Oktober 1870 durch das Ministerium für Cultus und Unterricht genehmigt wurde, dem zwischenzeitlich die Zentralkommission und damit auch die Direktion unterstellt worden waren. Im Oktober 1870 waren für Österreich ober und unter der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnten und Krain die Landessummare abgeschlossen, Tirol, Schlesien und Bukowina waren in der Fertigstellung inbegriffen, Küstenland und Böhmen waren beinahe fertig, es lagen damit ausreichend Daten für den Beginn der Drucklegung vor.67 Schwierigkeiten traten im Kronland Dalmatien auf, sowie im Bezirk Capo d‘Istria (Küstenland). Zudem fehlten noch Mähren und Galizien.68 Zugleich wurde eine Diskussion über die Dissemination der aus dem Zensus entstandenen Daten geführt. Die Zentralstellen der Administration, also die Ministerien, schätzten ihren Bedarf auf 445 Exemplare des Gesamtwerkes, die Länder verlangten nochmals über 2.000 Separatdrucke der einzelnen Länder. Die Zentralkommission schlug daher eine Auflage des Gesamtwerkes von 600 Exemplaren vor, für die einzelnen Länder sollten je nach Größe zwischen 400 und 800 Separatdrucke angefertigt werden. Die Nachfrage nach den Zensusdaten war damit recht hoch, was die Bedeutung dieses Wissens im internen administrativen Handeln widerspiegelt.69 Ab Juli 1871 wurden die summarischen Zählungsergebnisse für die ersten Kronländer publiziert, zu dieser Zeit waren von den Bezirken, in denen es Probleme gegeben hatte, zum Teil noch keine vollständigen Summare vorhanden. Die weiteren Ergebnisse wurden sukzessive in Druck gebracht, abschließend wurden die analytisch bearbeiteten Resultate durch die Administrativstatistik publiziert. Auch die Ortsrepertorien für die einzelnen Kronländer wurden ab 1871 veröffentlicht, für die meisten Kronländer fanden sich Buchhändler, die bereit waren, die Drucklegung auf eigenes unternehmerisches Risiko zu übernehmen, was als Hinweis dafür gelesen werden kann, dass man offensichtlich mit einem gewissen Markt für dieses Wissen rechnete.70 Den Abschluss der Volkszählung bildete eine umfangreiche kritische Auswertung der während der Operation angefallenen Korrespondenz im Hinblick auf Verbesserungsnotwendigkeiten und –potentiale. Diesem Teil der Arbeit wurde ein erheblicher Aufwand gewidmet, was die Art und Weise veranschaulicht, in der mit Erfahrungs- und Handlungswissen in der staatlichen Bürokratie des Habsburgerreiches in den frühen 1870ern umgegangen wurde. Durch die Verpflichtung der un67 Siehe Protokoll 8. Oktober 1870, S. 64. 68 Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 3. Dezember 1870, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 18/1 (1871), S. 71–78, S. 76. 69 Siehe Protokoll 8. Oktober 1870, S. 65. 70 Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 14. Oktober 1871, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 19/2 (1872), S. 49–64, S. 57–58.
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tergeordneten behördlichen Instanzen zur Berichterstattung enthielten Verwaltungsapparate eingebaute Feedback-Schleifen, zumindest für die Volkszählung lässt sich belegen, dass diese Routinen auch sehr stark genutzt wurden. Drei Aspekte scheinen dabei besonders in den Vordergrund gerückt zu sein: Zunächst eine Qualitätskontrolle, die auch den wissenschaftlichen Anspruch der Zählung repräsentierte. Die Landesbehörden hatten die Zuverlässigkeit der durch sie zusammengestellten Daten zu beurteilen, sie äußerten sich zur Qualifikation des von den Gemeinden gestellten Personals und sie übermittelten ihre Einschätzungen zur Tauglichkeit der unterschiedlichen Teile der Erhebungen. Dann evaluierten sie das Prozedere und hielten fest, wo es in den Abläufen verbesserungsbedürftige Schwierigkeiten gab. Und schließlich teilten sie mit, was in den Vorschriften und Vorgaben nicht berücksichtigt worden war, aber einer Berücksichtigung bedürfte, so etwa Unklarheiten bei den Hausnummern, unleserliche Ortstafeln und dergleichen. Insgesamt vermittelt der Endbericht das Bild einer sehr kritischen und umfassenden Revision des Gesamtprozederes.71 Das mutet insofern etwas überraschend an, als es sich bei dem Bericht um ein öffentlich zugängliches Dokument handelte, und es knüpft damit auch an die Debatte bei Schneider an.72 CONCLUSIO Welches Bild von der Volkszählung ergibt sich, wenn man die Perspektive etwas verschiebt und versucht, diese administrative Großoperation aus einer Gesamtschau in den Blick zu nehmen? Zunächst ist klargeworden, dass die Zentralstellen der Verwaltung, also die Ministerien, in überraschend geringem Umfang aktiv wurden. Die Organisation, Durchführung und Abwicklung der Zählung lag weitestgehend in den Händen der Verantwortlichen in der Direction der administrativen Statistik, wenngleich diese sich bemühten, die Verantwortung für ihre Entscheidungen im Dienstweg (über die k.k. statistische Central-Commission) legitimieren zu lassen. Das führte dazu, dass die sogenannten Administrativstatistiker viele ihrer zentralen Interessenslagen in der Volkszählung durchsetzen konnten, und das Zählungsprozedere selbst in dem Ausmaß an zeitgenössische Vorstellungen epistemischer Tugend anpassen konnten, indem sie Auslegungsspielräume des Volkszählungsgesetzes für sich nutzen konnten. Deutlich wurde das etwa an dem kostspieligen und aufwändigen Beschluss, sämtliche Übersichten – anstatt nur der Orts-Übersichten – nach Wien bringen zu lassen. Den Wissenschaftlern Ficker und Schimmer verschaffte das einen Zugewinn an Kontrolle über den Prozess der Datengewinnung, aus einer zeitgenössischen Verwaltungsperspektive lässt sich diese Verfahrensänderung nicht rechtfertigen, im Gegenteil, sie steht eigentlich im Widerspruch mit deren Effizienzziel.
71 Siehe o.V., Bevölkerung, XIII–XV. 72 Siehe Schneider, Wissensproduktion, S. 139ff.
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Die Rolle, die die Verwaltung im Zensus spielte, lag darin, dass sie auf der Ebene der Gemeinden, der Bezirke und der Kronländer maßgeblich für die Gewinnung und Weiterverarbeitung des zu erzeugenden Wissens verantwortlich war. Die Direction der administrativen Statistik war insbesondere der Kooperationsbereitschaft der Bezirks- und Landesbehörden vollkommen ausgeliefert. Aus den Quellen geht hervor, dass sowohl die Landes- als auch die Bezirksstellen gegebenenfalls dazu herangezogen wurden, entweder Bezirks- oder Gemeindebehörden zu disziplinieren, bzw. dazu, Druck auf diese auszuüben. Das scheint jedoch die Ultima Ratio gewesen zu sein, die teils in Istrien und Dalmatien zur Anwendung kam – in diesen beiden Kronländern traten im Zensus 1869 die größten Schwierigkeiten auf. Sowohl Ficker als auch Schimmer wussten, wie stark sie auf die Kooperationsbereitschaft der jeweiligen lokalen Behörden angewiesen waren, und gingen davon aus, dass übermäßiger Zwang kontraproduktiv wäre. Auf der Gemeindeebene, im Bereich der sogenannten Primitiv-Erhebung, wurden die größten Probleme konstatiert, konkret stellte die Unmöglichkeit der Standardisierung der Datenaufnahme ein unlösbares Problem dar. Aber auch die starke Einbindung von Beamten der Gemeinde- und Bezirksbehörden war für die Administrativstatistiker nicht optimal, wie sich, sehr subtil ausgedrückt, im Bericht nachlesen lässt. Tatsächlich gelang es, in den Volkszählungen ab 1890 durch den Einsatz von Zählmaschinen die Ebenen der Orts-, Bezirk- und Landesbehörden sukzessive aus der Zensusdurchführung zurückzudrängen. Am Hauptproblem, das die – zu dieser Zeit bereits mechanische – Objektivität bedrohte, am System der Zählungskommissäre, konnte man jedoch wenig verbessern. Am Ende zeigte sich auch sehr deutlich, dass die Administrativstatistiker Wissen nicht ausschließlich für die Verwaltung produzierten. Anders als in der Studie von Schneider lassen sich aus der Untersuchung des Zensus keine Festlegungen durch höhere Beamte oder Verantwortliche im Ministerium herausarbeiten, so dass nicht genau klar wird, ob die Direction der administrativen Statistik mit der breit angelegten Publikation der Ergebnisse auf allen Ebenen auf Widerstand stieß, ob dies im Sinne der Verwaltung war, oder ob diese der Maßnahme gleichgültig gegenüberstand. Letztlich wurde mehr und detaillierteres Wissen veröffentlicht, als ursprünglich geplant, sowohl auf der Ebene des Gesamtstaates als auch auf der Ebene der einzelnen Kronländer. Und dieses Wissen scheint einerseits stark nachgefragt gewesen zu sein, auch außerhalb der Administration, andererseits spielte es auch eine zentrale Rolle für die Verwaltung, die die Einrichtung einer „Bevölkerungsevidenz“ plante: Die Zensusresultate sollten in geringfügig reduzierter Form – nicht alle in der Zählung erhobenen Merkmale waren darin enthalten – als Zählungsbücher in den Bezirksbehörden aufliegen und dort aktuell gehalten werden. Damit wäre ein machtvolles Verwaltungsdispositiv entstanden. Was genau aus den Zählungsbüchern wurde ist unklar. Im Zuge der Recherchen konnte noch ein solches Buch aufgefunden werden, in dem die einzelnen StaatsbürgerInnen mit Wohnadressen, Geburtsjahr und weiteren Informationen erfasst waren. Flächendeckend scheint die gesetzliche Vorlage nicht umgesetzt worden zu sein. Die Administrativstatistiker gingen auf die Bevölkerungsbücher nicht ein.
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Die Volkszählung 1869 in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie könnte man als wissenschaftliche Operation charakterisieren, die aber in ihren fundamentalen Aspekten durch Verwaltungsbeamte und Staatsbürger durchgeführt wurde, die mit den grundlegenden Zielen und Modi wissenschaftlichen Arbeitens im zeitgenössischen Kontext weitestgehend nicht vertraut waren. Die Administrativstatistiker versuchten der sich daraus entwickelnden Problematik entgegenzuwirken, indem sie die verwendeten Formulare als Messinstrumente entwarfen, die quasi selbsterklärend waren, und durch ihre Gestaltung bereits weitestgehend versuchten, Missverständnisse und Fehleingaben auszuschließen.73 Insgesamt lässt sich daran etwas beobachten, was Mitchell Ash sehr eindrücklich beschrieben hat: Verwaltung und Wissenschaft agierten im Rahmen der Volkszählung als „Ressourcen für einander“, sie gingen eine Symbiose ein, die beiden Seiten Nutzen brachte.74 Das lässt die Frage offen, wer eigentlich hinter den Begriffen „Verwaltung“ und „Wissenschaft“ stand: Im konkreten Beispiel wurde die Seite der Wissenschaft durch zwei verdiente Beamte repräsentiert, die stellvertretend für eine wachsende und sich zunehmender gesellschaftlicher Partizipation erfreuende Gruppe eines sehr breit gedachten Bürgertums standen. Um 1870 waren das im öffentlichen Dienst (und Leben) hauptsächlich Männer, die primär über eine gute Ausbildung und ein bestimmtes soziales Netz verfügten, in aller Regel waren sie auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen. Die Seite der Verwaltung trat im genannten Beispiel indirekt durch Spitzenbeamte und politische Akteure auf. Hierarchisch standen sie im gebrachten Beispiel höher. Sie konnten sich in der Regel auf einen anderen Hintergrund berufen, häufig handelte es sich bei diesen Personen um Aristokraten, die über entsprechendes soziales aber auch materielles Kapital verfügten, und einer Bevölkerungsgruppe angehörten, die in den Jahrzehnten davor stark unter Druck gekommen war. Administration und Wissenschaft als Ressourcen für einander beschreibt hier also auch die Neuverhandlung des Verhältnisses zwischen Aristokratie und Bürgertum. Dass eine dieser Gruppen unter starkem außen- und innenpolitischen Druck stand, um ihre Position zu verteidigen, und die andere Gruppe nicht nur im Aufstieg inbegriffen war, sondern in zunehmendem Ausmaß eine Mobilisierung von innen, über einen Expertenstatus, der sie zur Leitung des ‚modernen Staates‘ unentbehrlich machte, und von außen, über eine internationale scientific community, die transimperial Normen setzte und mitbeeinflusste, leisten konnte, zeigt den größeren Rahmen dieser an der Oberfläche sehr zivilisiert und geordnet ablaufenden Debatte an. Es gilt im Auge zu behalten, dass sich die beiden skizzierten Gruppierungen nicht scharf gegeneinander abgrenzen lassen: Vielmehr verflossen die Ränder zwischen ihnen, und viele Akteure waren im Verlauf langer Berufskarrieren ein oder
73 Siehe Wolfgang Göderle: Vom Ort der Dinge. Bruno Latours „räumliche Inskriptionen“ am Beispiel des Zensus der späten Habsburgermonarchie, in: Manfred Pfaffenthaler u.a. (Hg.), Räume und Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2014, S. 299–322, S. 305– 310. 74 Ash, Wissenschaftswandlungen.
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sogar mehrere Male veranlasst, subtil Seiten und Positionen zu wechseln. Insbesondere an der Person Adolf Fickers lässt sich das gut nachverfolgen.75 Für die Volkszählungen der Jahre 1880 bis 1910 sollte sich das Bild, das an dieser Stelle rekonstruiert wurde, stark verschieben: Wenngleich sich die Ordnungslinie Wissenschaft-Administration fortsetzte, verschoben sich die Akteurskollektive, die sich dahinter versammelten, in beträchtlichem Ausmaß. Nicht nur die Motivationslagen, auch die diskursiven Achsen waren davon betroffen.
75 Siehe Göderle, Administration, S. 66f.
WACHSTUM UND REDIMENSIONIERUNG VON DER DYNAMIK AMTLICHER SCHULSTATISTIK IM 19. UND FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT Christina Rothen / Thomas Ruoss Wie lässt sich die kaum zu bremsende Anziehungskraft statistischer Datenproduktion seit dem 19. Jahrhundert erklären? Dieser Frage geht der Artikel am Beispiel der Schulstatistik im schweizerischen Mehrebenensystem nach. An Hand des Vergleiches schulstatistischer Praktiken in Bern und in Zürich wird gezeigt, dass sich der Aufstieg von Statistik in der Schulverwaltung neben Kontinuitäten auch durch Brüche auszeichnet, die nur in Relation zu lokal unterschiedlichen Kulturen des politischen Vertrauens und der administrativen Kontrolle verstanden werden können. Das Narrativ einer linearen Entwicklung von Statistik als Vertrauenstechnologie muss dabei relativiert werden. Statistisches Wissen stellt nicht einfach ein eindirektionales Machtinstrument von oben nach unten dar, sondern reagiert sensibel auf Veränderungen der politischen Kontexte und nimmt dabei abhängig von der involvierten politischen Ebene und der Aufsichtskultur unterschiedliche Funktionen war. How can we explain the hardly declining attractiveness of statistical data production since the 19th century? This question is investigated by the example of the history of school statistics in the Swiss multi-level system. Using the comparison of school-based practices in Berne and Zurich, it is shown that the rise of statistics in the school administration is characterized not only by continuities, but also by fractions. Especially local cultures of political control and trust must be taken into consideration. Accordingly, we argue for a relativized historiography: Statistical knowledge as technology of trust is not only a unidirectional instrument of topdown power but interacts with changes of political contexts on different levels. The fuction and power of statistics is dependent on the political levels involved and on local culture of administrative practises. Wie lässt sich die kaum zu bremsende Anziehungskraft der statistischen Datenproduktion erklären? Und inwiefern wirkt – wie dies Theodore Porter für den Aufstieg quantifizierender Ingenieurs- und Sozialwissenschaften zeigt1 – unpersönliche, 1
Zur Vertrauenstechnologie, welche sich auf objektivierende Zahlen stützt, siehe: Theodore M. Porter: Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1995.
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quantifizierende und formalisierende Kommunikationstechnologie vertrauensstiftend? Dynamiken der statistischen Datenpublikation, so unsere Prämisse, müssen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexten verortet werden, wenn das Narrativ einer linearen Entwicklung von Statistik als Vertrauenstechnologie nicht generalisiert werden soll. Diese Entwicklung zeichnet sich neben Kontinuitäten auch durch Brüche und Kontingenzen aus, die nur in Relation zu lokal unterschiedlichen Kulturen des politischen Vertrauens und der administrativen Kontrolle verstanden werden können. An historischen Beispielen lassen sich zwar durchaus die stetige Ausweitung und Differenzierung der statistischen Wissensproduktion im Sinne einer autopoietischen institutionellen Eigenlogik nachweisen.2 Historische Studien zur Bildungsstatistik zeigen, wie großes Vertrauen in den Nutzen statistischen Wissens und damit verbunden ein Wachstum der Statistikproduktion mit gleichzeitigem Misstrauen in die Aussagekraft von Daten verbunden sein konnte.3 Das in zeitlichen Schüben sich vollziehende Wachstum der Produktion von Datenmengen ist, so zeigt Caruso4, nicht an das Vertrauen in die Objektivität, Reliabilität und Validität dieser Daten, sondern im Gegenteil an ein Misstrauen in die Daten produzierenden Akteure gekoppelt. Rechtfertigungszwänge betreffend die legitime Zuständigkeit in spezifischen politischen Feldern führen in seiner Lesart zu einer Schlaufe von Produktion, De-Legitimation und erneuter Produktion von Daten. Als Folge des Datenwachstums stehen bei Caruso implizit Momente der Redimensionierung gegenüber, ohne dass diese explizit gemacht würden. Die Anziehungskraft der statistischen Datenproduktion resultiert entsprechend nicht immer in einem eigendynamischen Wachstum, viel eher scheint die Dynamik abhängig vom jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontext und der politischen Kontrollund Vertrauenskultur. Am Beispiel der Bildungsverwaltung im schweizerischen Mehrebenensystem – in welchem die Kantone die Bildungshoheit besitzen und die lokale Ebene der Gemeinden für die Infrastruktur der Volksschule, sowie deren lokale Kontrolle zuständig sind – werden wir die Dynamik statistischer Datenverwendung historisch vergleichend untersuchen. Dabei stellt sich die Frage, welche Machtkonstellationen und politischen sowie kulturellen Kontexte zu einem Wachstum statistisch informierter Kommunikationspraktiken führen; und welche eine Redimensionierung dieser Form der Kommunikation zur Folge haben. Wir fragen nach dem Wachstum statistischer Datenpublikation in amtlichen Berichten, seiner 2
3 4
Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M. 2013. Die autopoetische Eigenlogik erklärt sich in der Tatsache, dass die Herstellung jedes neuen quantitativen Wissens wiederum neue statistisch zu bearbeitende Leerstellen erzeugt und damit in einer Selbsterhaltungsschlaufe mündet. Lawn spricht für den Bereich der Bildungsstatistik zugespitzt ebenfalls von einem „viralen“ „selbstgenerierenden“ Prozess der Datenproduktion zwischen lokalen und zentralen Behörden: Martin Lawn (Hg.): The Rise of Data in Education Systems. Collection, visualization and use, Oxford 2013. Joakim Landahl/Christian Lundahl: (Mis-) Trust in Numbers: shape, shifting and directions in the modern history of data in Swedish educational reform, in: Lawn, Rise of Data, S. 57–78. Marcelo Caruso: Policing Validity and Reliability. Expertise, data accumulation and data parallelisation in Bavaria, 1873–1919, in: Lawn, Rise of Data, S. 27–39.
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inhaltlichen Diversifizierung und seiner methodischen Erweiterung, sowie den Motiven, welche diesen Prozess in Gang gesetzt haben. Dabei wird gleichzeitig nach den Bedingungen für eine Redimensionierung statistisch-tabellarischer Kommunikationsformen gefragt. In Anlehnung an Benedikt Köhlers5 Beschreibung von Sichtbarkeit und Verfügbarkeit als den beiden Grundfunktionen moderner Statistik legen wir den Fokus nicht primär auf Formen der Quantifizierung als Wissenstechnik, sondern als politische Technologie zur Rationalisierung und Legitimation politischer Kontrolle. Das vergleichende Zählen und die Kontrolle politischer Prozesse durch die statistische Herstellung eines „certain style of ‚fake precisionism‘“, die bereits vor der methodisch elaborierten Kalkulation von Indikatoren einsetzt, sind eng miteinander verflochten.6 Praktiken der Quantifizierung als administrative Technologie in einem demokratischen Kontext zu untersuchen legt es nahe, Konzepte von Kontrolle und Vertrauen speziell zu berücksichtigen. Tom Crook7 zeigt dabei am Beispiel der Etablierung statistischer Instrumente im viktorianischen England, wie sich diese nicht einzig als ein Instrument staatlicher Herrschaft, sondern gleichzeitig als ein Mittel zur Kontrolle staatlichen Handelns – als ein Mittel des Misstrauens – durchsetzen konnten. Statistik wirke damit nicht nur von oben nach unten, sondern auch in die umgekehrte Richtung. Vertrauen oszilliere zwischen persönlicher, hierarchischer Interaktion und der Autorität anonymisierter Expertentechnologien, wobei gerade die Möglichkeit, Misstrauen gegenüber politischen Autoritäten auszudrücken, wiederum das Vertrauen in Statistik als eine solche Möglichkeit stärkt.8 Statistik als politische Technologie kann folglich nicht ausserhalb des Kontextes der jeweils lokalen (demokratischen) politischen Kultur gedacht werden. Die Forschung zur Verwaltungsgeschichte fokussiert seit ihrer praxeologischen Wende bewusst die „selbstreflexive Kommunikation und Methoden der Selbstbeobachtung“ von Verwaltung.9 Die Verflechtungen der Durchsetzung einer rationalen Verwaltung als Kennzeichen des ‚modernen Staates‘ mit der Etablierung statistischer Tabellen als Instrumente zur Reduktion von Kontingenz des zu verwaltenden Phänomens ist inzwischen hinreichend diskutiert worden.10 Dieser Beitrag fragt 5
Benedikt Köhler: Amtliche Statistik, Sichtbarkeit und die Herstellung von Verfügbarkeit, in: Berliner Journal für Soziologie 18 (2008), S. 73–98. 6 Michael Power: Counting, control and calculation. Reflections on measuring and management, in: Human Relations 57/6 (2004), S. 765–783. 7 Tom Crook: Suspect Figures. Statistics and Public Trust in Victorian England, in: ders./Glen O’Hara (Hg.): Statistics and the Public Sphere. Numbers and the People in Modern Britain, c. 1800–2000, New York 2011, S. 165–184. Ausdrücklich für den Bildungsbereich wurde dieses Verhältnis von „panoptical“ und „synoptical power“ in Ansätzen durch Landahl & Lundahl, (Mis-) Trust in Numbers, S. 67 beschrieben. Quantifizierung bewirke nicht einfach einen Macht- und Legitimationsgewinn, sondern beinhalte eine potenzielle Gefährdung der behördlichen Machtstellung durch die „synoptische Gegenmacht der Massen“. 8 Crook lehnt sich hier an den Soziologen Piotr Sztompka an. 9 Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800– 1848, Frankfurt a. M. 2005, S. 263. 10 Mit Bezug auf die Entwicklung der „modernen“ Schweiz, in welcher die nachfolgende Untersuchung anzusiedeln ist, siehe: André Holenstein: Reform und Rationalität. Die Enquêten in
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danach, wie die Verwaltung ihre eigene Tätigkeit statistisch repräsentiert. Nicht primär die inhaltlichen Ergebnisse von Verwaltungshandeln, sondern deren tabellarische, administrativ-statistische Darstellung – Tabellen über abgehaltene Sitzungen, erledigte Geschäfte, durchgeführte Kontrollen etc. – stehen im Zentrum dieses Artikels. Dabei ist die Verwaltung von und durch Statistik in jüngster Zeit zu einem Thema mit starker historiografischer Aufmerksamkeit geworden,11 ohne dass die statistische Selbstdarstellung der Behördentätigkeit bislang systematisch untersucht worden ist. Dieses spezifische Desiderat soll mit dem hier vorliegenden Beitrag in ersten Ansätzen bearbeitet werden. Der Artikel untersucht die statistische Datenproduktion am Beispiel der Bildungsverwaltungen in den zwei Schweizer Kantonen Bern und Zürich über einen Zeitraum von rund 60 Jahren von der Mitte des 19. bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die Bildungsverwaltung eignet sich, mit ihrer föderal-subsidiären Kompetenzverteilung und der weitgehenden Abwesenheit professioneller amtlicher Statistiker außerordentlich gut, um die Dynamiken zwischen verschiedenen Akteuren nachzuvollziehen. Als Quellen kamen öffentliche Berichte und punktuell interne Protokolle aller Instanzen auf Kantons- und Gemeindeebene in Betracht. Die Selbstdarstellung von Verwaltungstätigkeit zeigt sich in den hier beschriebenen Fallbeispielen insbesondere an den gesetzlich vorgeschriebenen Schulbesuchen der Schulbehörden, deren Sitzungen und Sitzungsabsenzen sowie der erledigten Geschäfte. Die Verwaltung und die Kontrolle der Schulangelegenheiten fand sowohl in Zürich als auch in Bern vor Ort und grundsätzlich durch Volkswahl bestellte Laienbehörden statt.12 Auf kantonaler Ebene wurde die Bildungsverwaltung in Bern durch eine Direktion und professionalisierte Schulinspektoren wahrgenommen. In Zürich bestand neben der kantonalen Erziehungsdirektion ein gewählter Erziehungsrat als Edukative und zwischen Gemeinden und Kanton die gewählten Bezirksschulpflegen als Laien-Aufsichtsgremien. Auf allen Ebenen war die Behör-
der Wissens- und Verwaltungsgeschichte der Helvetischen Republik, in: Daniel Tröhler (Hg.): Volksschule um 1800. Studien zum Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799, Bad Heilbrunn 2014, S. 13–32. Mit Blick für die konfliktbeladene Durchsetzung der „Tabellenknechte“ im Kontext staatstheoretischer Debatten des frühen 19. Jahrhunderts siehe: Marcus Twellmann: Das Nicht-Wissen der Statistik. Von den Leuchtwürmern im Normalbaum, in: Michael Bies/Michael Gamper (Hg.): Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730– 1930, Zürich 2012, S. 197–215. 11 Jüngst für Preußen Schneider, Wissensproduktion im Staat; für das Habsburgerreich Wolfgang Göderle, Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; für die Schweiz Hans Urlich Jost: Von Zahlen, Politik und Macht. Geschichte der schweizerischen Statistik, Zürich 2016; für Großbritannien Kerstin Brückweh: Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter, Berlin 2015. 12 Auf der untersten kommunalen Ebene in Zürich durch einen vollamtlichen Schulvorstand (inklusive einer Schulkanzlei), ein „Schulparlament“ (Zentralschulpflege) und die lokalen Kreisschulpflegen; und in Bern ebenfalls durch gewählte Schulkommissionen, die ab 1888 unter dem Vorsitz einer nebenamtlichen Schuldirektion (inkl. Sekretariat) standen.
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denstruktur in Zürich im Vergleich zu Bern geprägt durch vielschichtigere, teilweise sich überlappende Ebenen und Kompetenzen, die stark direkt-demokratisch und nicht fachlich legitimiert waren. TABELLARISCHE REPRÄSENTATION VON VERWALTUNGSTÄTIGKEIT IM FALLBEISPIEL ZÜRICH Wie sich Statistik als kommunikatives Instrument der Behörden im bildungsföderalistischen Mehrebenensystem zwischen den Polen von Kontrolle und Legitimation manifestierte, zeigt das Zürcher Fallbeispiel.13 Neben Fragen der Zuständigkeiten, der Form und der Taktung der Berichterstattung über die Instanzenzüge wurden in den kantonalen Schulgesetzen und Verordnungen die normativen Grundlagen für die Tätigkeit der Schulbehörden definiert. So wurde die jährliche Periodizität der Berichterstattung sowohl der Gemeinde- als auch der Bezirksschulbehörden an die jeweilige Oberbehörde in tabellarischer Form nach Vorlage des Erziehungsrates gesetzlich definiert.14 Diese Form der Berichterstattung verpflichtete wiederum die lokalen Behörden ein Verzeichnis über alle eingehenden Geschäfte und die Art und den Zeitpunkt ihrer Erledigung zu führen.15 Numerische gesetzliche Minima bestanden darüber hinaus für die Anzahl der jährlichen Schulbesuche von Bezirks- und Gemeindeschulpflegen.16 Gerade die kommunalen Schulbehörden besuchten die ihnen unterstellten Schulen nach „einer von ihnen selbst zu bestimmenden Kehrordnung“.17 Damit ist angezeigt, dass sowohl die Organisation als auch die Häufigkeit von Schulbesuchen zwischen den schulpolitischen Räumen stark variieren konnte. Während in Landgemeinden eine Besuchspflicht von zwei kantonal vorgeschriebenen Schulbesuchen pro Jahr üblich war, variierten diese in der Stadt
13 Zur Entwicklung der Zürcher Schulaufsicht und Schulverwaltung liegen inzwischen einige Untersuchungen vor. Die Etablierung der hier beschriebenen „modernen“ Schulverwaltung als einen Wandel der politischen Kultur von „pastoraler Inspektion“ zu „behördlicher Administration“ beschrieben haben: Andrea De Vincenti/Norbert Grube: Schulaufsicht zwischen pastoraler Inspektion und behördlicher Administration: Strukturen, Planungen und Praktiken 1771– 1840, in: Michael Geiss/Andrea De Vincenti (Hg.): Verwaltete Schule. Geschichte und Gegenwart, Wiesbaden 2012, S. 19–38. Für die Bedeutung statistischer Erhebungen für die Entwicklung der Schulverwaltung am Beispiel Zürichs siehe: Thomas Ruoss: Mit Sicherheit nicht vorauszubestimmen. Die Prognose als Planungsinstrument in der Schulverwaltung, in: IJHE: Bildungsgeschichte 1 (2016), S. 39–56; Thomas Ruoss: Education statistics, school reform, and the development of administration bodies: The example of Zurich around 1900. In: Thomas Lenz/Daniel Tröhler (Hg.): Trajectories in the Development of Modern School Systems: Between the National and the Global, New York 2015, S. 85–97. 14 Gesetz über das gesamte Unterrichtswesen des Kantons Zürich, 23.12.1859, § 24. 15 Organisation und Geschäftsordnung der Schulpflege der Stadt Zürich, 12. April 1883, § 5. 16 Gesetz über das gesamte Unterrichtswesen des Kantons Zürich, 23.12.1859, § 20. 17 Ebd., § 40.
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Zürich zwischen 8 und 54 Besuchen, je nach Schulkreis und Schultyp.18 Entsprechende Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung dieser Besuchspflichten waren kantonal grundsätzlich möglich und wurden lokal auch angewandt. In der Stadt Zürich wurden säumige Schulbehördenmitglieder in einem ersten Schritt intern dokumentiert, danach öffentlich denunziert und schließlich via Kreisschreiben und mit Bargeldzahlung sanktioniert.19 Betreffend Form und Periodizität waren demnach einige Aspekte normativ geregelt. Die Berichterstattung mittels umfangreicher statistischer Tabellen wurde damit jedoch noch nicht impliziert. Die statistische Erschließung des Verwaltungshandelns ging zudem formal und inhaltlich weit über die minimalen gesetzlichen Normen hinaus. Die Verwaltungseinheiten handelten in ihrer statistischen Repräsentation zwar im Rahmen eines vorgeschriebenen zeitlichen und formalen Modus. Inhaltlich und in der Form der Darstellung spielten andere Motive eine weit grössere Rolle. In den Rechenschaftsberichten der Zürcher Kantonsregierung zuhanden des Parlaments finden sich ab 1849 regelmäßig umfangreiche quantitativ-tabellarische Übersichten der Tätigkeiten der Gemeinde- und der Bezirksschulbehörden. Während vorerst die lokalen Behörden nicht statistisch repräsentiert wurden, veränderten sich sowohl der Detailgrad als auch die Form der methodischen Bearbeitung dieser Daten in den späten 1850er-Jahren. Neben der Summe der Schulbesuche wurden die minimalen, maximalen und durchschnittlichen Tätigkeiten pro Behördenmitglied errechnet und vergleichend dargestellt. Ein in der Regel äußerst seltener legitimatorischer Exkurs innerhalb des Verwaltungsberichts zur Funktion dieses Ausbaus der Schulstatistik, weist auf ein Unbehagen der unteren Behörden betreffend dieses Tätigkeitsausbaus des Kantons hin: „Diese Schulstatistik ist in den letzten Jahren mehr ausgebildet worden, aber nicht, wie einzelne untere Schulbehörden gemeint haben, um ein unfruchtbares Schablonenwesen zu erhöhter Geltung zu bringen, sondern zum Zwecke gründlicherer Berichterstattung, zur Ansammlung soliden Materials für die künftige Gestaltung einer Schulgeschichte und zur Ermöglichung richtiger Beurtheilung einer Reihe von Schulzuständen, welche ohne die Herbeiziehung des nöthigen statistischen Materials unaufgeklärt im Gebiete blosser Voraussetzungen und unbegründeter Behauptungen bleiben.“20
Aus beidem, der detaillierteren Verwaltungsstatistik sowie dieser Aussage des Verwaltungsberichts, spricht der konfliktbehaftete Wunsch der kantonalen Verwaltung nach einer komprimierten, vergleichbaren und daher quantifizierbaren Schulbeurteilung in den Bezirken und Gemeinden. Die kantonale Verwaltung implementierte damit die Statistik als Mittel zur Sichtbar- und Verfügbarmachtung der Aufsicht über die unteren Behörden. 18 Protokolle der Bezirksschulpflege Zürich vom 29. Mai 1901, StAZH Z373, Protokollnummer 361. Hierbei handelt es sich nicht um normative Vorgaben, sondern um empirisch erfasste Besuchszahlen. 19 Protokoll der Bezirksschulpflege Zürich vom 21. Mai 1902, StAZH Z373, Protokollnummer 526. 20 Rechenschafts-Bericht des Regierungsrathes an den Zürcherischen Kantonsrath 1880, Winterthur 1881, S. 206. Hervorhebung durch die Autoren.
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Neben den normativen Voraussetzungen und den Formen statistischer Darstellungen sind auch die numerischen Inhalte selbst aussagekräftig für unsere Fragestellung. Als zentraler Indikator für die Lastenverteilung innerhalb des Kantons wurden jährlich die Mittelwerte der Tätigkeiten der einzelnen lokalen Schulbehörden dargestellt. Dabei führt die Aggregation individueller Werte zu einer Entlastung des jeweiligen einzelnen Behördenmitgliedes. Die Behörden der Stadt Zürich hielten gemäß der tabellarischen Vergleiche deutlich mehr Sitzungen und Schulbesuche ab als die Schulpflegen des restlichen Kantons. Diese methodische Erweiterung, von der Darstellung absoluter Werte hin zu Durchschnittsangaben, bezeichnete in diesem Falle nicht (nur) eine Benchmark für die lokalen Behördenmitglieder, sondern erzeugte auch eine Form von Nicht-Wissen über deren Tätigkeiten und entzog die detaillierten lokalen Verhältnisse einer zentralen Sichtbarkeit. In den 1890er-Jahren allerdings führte eine Reformulierung der Kategorien zu einem gänzlich umgekehrten Verhältnis. Formal haben sich die tabellarischen Kategorien zwar regelmäßig verändert. Das Erkennen dieser inhaltlich bedeutsamen Verschiebung von „Besuche pro Schulpfleger“ zu „Besuche pro Schule“ bedurfte hingegen eines geschulten Blicks und Kenntnisse der vorangegangenen Statistiken, um als solche überhaupt wahrgenommen werden zu können. Nicht mehr die Aktivität der Schulpfleger, sondern die Kontrolle der Schule rückte in den Mittelpunkt. In dieser Art der Zählung und Darstellung konnten die städtischen Schulpfleger trotz überdurchschnittlicher Tätigkeit im Milizdienst die Besuchszahlen der Landgemeinden nicht erreichen. Die kantonalen Schulen wurden im Vergleich mit den städtischen durchschnittlich bis zu doppelt so häufig besucht. Während die lokalen Behördenmitglieder nach wie vor hinter einer aggregierten Zahl verborgen blieben, veränderte sich die Benchmark für die Gemeinden. In Folge dieser kategorialen Verschiebung standen die städtischen Schulen und ihre Behörde gemessen an ihrem Leistungswissen nun nicht mehr an der Spitze der statistischen Übersichten. Im Gegenteil: unvermittelt wurde aus dem Nachweis der Leistungsbereitschaft ein Defizit an Leistung. Die städtische Behörde stellte ihrerseits ihre Berichterstattung materiell mehrfach um. Mit einer neuen Gemeindeordnung wurde ab 1877 die Berichterstattung der Stadtschulpflege angepasst und gleichzeitig die Pflichten der Schulpfleger neu geregelt. Während die Bezirksschulpflege in einem Regulativ die lokalen Schulpfleger zu jährlich mindestens zehn Besuchen pro Schule (mit mehr als sechs Lehrern) verpflichtete, definierte die städtische Schulordnung mit Genehmigung des Erziehungsrates eine Besuchspflicht von zwei Besuchen pro Jahr pro Klasse.21 Dabei nutzte die städtische Schulbehörde die Statistik, um sich von der Rechenschaftspflicht betreffend der Schulbesuche entlasten zu können. „Diese Bestimmung, welche z.B. den Mitgliedern der Primarsektionen je 36 Besuche zumuthen würde, läßt sich nicht pedantisch durchführen; denn einmal ist es an sich nicht leicht, Männer zu finden, die die Pflichten eines Schulpflegers in Zürich übernehmen wollen und können, in-
21 Geschäftsbericht der Stadtschulpflege von Zürich über das Schulwesen der Stadt Zürich im Schuljahr 1877/78, Zürich 1878, S. 23f.
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Christina Rothen / Thomas Ruoss dem diese außer den Besuchen in der Primar- und Sekundarschule, auch diejenigen in den höhern Schulen der Gemeinde und in den Privatschulen, ferner die Theilnahme an zahlreichen Plenar- und Kommissionssitzungen in sich schließen. Sodann ist es höchst wünschbar, daß der Schulpflege auch Männer angehören, welche in baulichen, sanitarischen, rechtlichen und finanziellen Fragen sachkundig sind; diesen kann aber dann nicht immer zugemutet werden, genau die vorgeschriebene Zahl von Besuchen zu machen. Faktisch ist auch den Intentionen der Bezirksschulpflege Genüge geleistet, sofern viele Mitglieder weit mehr Besuche machen als jene verlangt und so das Durchschnittsmaß über das Geforderte hinausgeht. Dies wird auch weiterhin geschehen. Dagegen ist eine strikte Anwendung jenes Regulativs auf jedes einzelne Mitglied der Stadtschulpflege unzulässig.“22
Sie reduzierte zudem die Statistiken betreffend Schulbesuche auf ein Minimum und führte neu detaillierte Daten auf betreffend weiterer Behördentätigkeiten (Sitzungen und Geschäfte), welche seitens der kantonalen Behörde zwar nicht eingefordert wurden, die Stadt im Vergleich zum Land hingegen wieder positiv erscheinen liess. In der Folge wurden bis zur nächsten Reorganisation des städtischen Schulwesens insbesondere die Sitzungen und die Geschäfte als Verwaltungstätigkeiten tabellarisch-statistisch dargestellt. Die Schulbesuche wurden nur als Aggregate pro Schultyp publiziert. Noch im letzten Bericht der alten Schulorganisation der Stadt Zürich findet sich eine „Übersicht über die Organisation und Entwicklung desselben von 1877 bis 1892“ und darin eine detaillierte retrospektive Tabelle mit sämtlichen Geschäften und Sitzungen der Behörden in diesem Zeitraum – allerdings keine Schulbesuche.23 Im Jahre 1893 wurden zwölf vormals unabhängige Schulgemeinden zur einer Stadtzürcher Schulgemeinde vereinigt, was eine neue Verwaltungsorganisation nach sich zog. Die zentrale Schulbehörde generierte seit Beginn ihres Bestehens detaillierte Daten betreffend der Tätigkeiten der neuen städtischen Schulbehörden und ganz spezifisch der lokalen Kreisschulpflegen.24 Die Zahl der Schulbesuche wurde angelehnt an die gängige kantonale Praxis erfasst. Die strittige Frage ob Schulbesuche pro Schulpfleger oder pro Schule zu erfassen sind, wurde nun gelöst, indem beide Indikatoren berücksichtig worden sind. Die Durchschnittswerte der Schulbesuche pro Schulkreis wurden mit Dezimalangaben versehen, so dass selbst die Durchschnittszeit pro Sitzung der Zentralschulpflege mit 3.5 Stunden taxiert wurde. Die damit implizierte Exaktheit – der „fake precisionism“25 – der Tabelle weist darauf hin, dass die vormalige städtische Rückendeckung für die eigenen Schulbehörden zugunsten eigener Kontrollfunktionen der Kreisschulpflegen als neue unterste Behörden aufgegeben wurde.26 Dasselbe Bild zeigt sich auch bei der statistischen Darstellung der Sitzungsdisziplin der Kreisschulpflegen: Nicht mehr die Summe der Sitzungen und Geschäfte stand im Zentrum, sondern die Anzahl der 22 Ebd. Hervorhebung durch die Autoren. 23 Geschäftsbericht der Stadtschulpflege von Zürich über das Schulwesen der Stadt Zürich im Schuljahr 1892/93 (Mai bis Dezember) nebst einer Übersicht über die Organisation und Entwicklung desselben von 1877–1892, Zürich 1893, S. 25. 24 Protokolle der Zentralschulpflege Zürich, StadtAZ, V.H.a.42. 25 Power, Counting, S. 769. 26 Allerdings standen die beiden Behörden nicht in einer hierarchischen Linienstruktur und waren beide per Volkswahl legitimiert.
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entschuldigten und unentschuldigten Sitzungsabsenzen der Behördenmitglieder, gegliedert nach Schulkreis. Damit wurde das vormalige Legitimationsargument der Sitzungskadenz gegenüber den Oberbehörden durch die Angabe der Anzahl lokaler Sitzungen und Geschäften umgedreht in ein internes Kontrollinstrument. Der Detailgrad dieser kommunalen Statistiken über die Verwaltungstätigkeit nahm hingegen in den Jahren nach der Verwaltungsreform kontinuierlich wieder ab. So findet sich nach der organisationalen Stabilisierung der neuen Schulbehörden keine Trennung mehr in der tabellarischen Berichterstattung betreffend Schulbesuchen pro Schulpfleger und Schule und auch die durchschnittlichen Sitzungsabsenzen nach Schulkreis wurden nicht mehr vergleichend einberichtet. Vergleichbare Formen der Redimensionierung statistischer Datenpublikation die Verwaltungstätigkeit betreffend finden sich auf der Ebene der Bezirke und des Kantons. Grundlage für die Publikation kantonaler schulstatistischer Daten waren die tabellarischen Jahresberichte, welche einzureichen die Bezirksschulpflegen der Erziehungsdirektion verpflichtet waren.27 Die handschriftlichen Tabellen dokumentieren die Anzahl der Visitationen und der Sitzungen der lokalen Schulpflegen, aufgeschlüsselt bis hinunter zur Einzelschule. Ein Blick auf die Protokolle der Bezirksschulpflege Zürich28 zeigt, dass dieselbe sich bei der Erhebung der Verwaltungstätigkeit nicht auf die kantonal vorgegebenen Indikatoren beschränkt, sondern zusätzliche Daten zusammen getragen hat. Und zwar Daten, die nicht die Tätigkeiten der unteren Behörden, sondern der eigenen Behördenmitglieder dokumentieren sollte: Neben den Schulbesuchen wurden die unterschiedlichen Sitzungstypen (Vorstandssitzungen und Plenarsitzungen), die erledigten Geschäfte sowie die angefertigten Gutachten dokumentiert. Allerdings findet auch auf dieser Ebene – und hier sogar kontinuierlich – seit dem ersten zugänglichen tabellarischen Jahresbericht von 1881 eine Redimensionierung der Inhalte statt. Vergleichbare Entwicklungen von Wachstum und Redimensionierung lassen sich betreffend der tabellarischen Berichterstattung über die Tätigkeiten der kantonalen Erziehungsdirektion nachweisen. Seit der zweiten Hälfte der 1870er Jahre wurde die Anzahl der Geschäfte und der Sitzungen des Erziehungsrates und der Erziehungsdirektion sowie weiterer kantonaler Kommissionen einberichtet. Diese Übersichten zur Tätigkeit der eigenen kantonalen Verwaltung verschwanden allerdings nach etwas mehr als zehn Jahren ebenfalls wieder aus den Berichten. Damit setzte eine Redimensionierung in der statistischen Berichterstattung auf kantonaler Ebene ein, die auch nach der Jahrhundertwende anhielt. Die auf allen politischen Ebenen vom Kanton bis zu Gemeinde über den gesetzlichen Auftrag hinausgehende Publikation von Daten zur eigenen Verwaltungstätigkeit kann damit weder einseitig als Vertrauenstechnologie beschrieben werden, noch befand sie sich in einem kontinuierlichen Wachstum. Es wurde damit nicht (nur) Sichtbarkeit nach außen erzeugt, sondern Wissen über die Tätigkeiten innerhalb einer Behörde durch selbstinitiierte Datenpublikation aktiv verdeckt. Diese 27 Tabellarische statistische Jahresberichte der Bezirksschulpflegen des Kantons Zürich, StAZH UU31. 28 Protokolle der Bezirksschulpflege Zürich, StAZH Z373.
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selbstinitiierten Formen der Datenpublikation konnten der behördlichen Legitimation dienen und bei schwindendem Bedarf auch in Eigenregie wieder redimensioniert werden. PERSONALISIERTE AUFSICHT IM FALLBEISPIEL BERN Die gesetzlichen Normen im Kanton Bern definierten die von den lokalen Schulbehörden zu leistenden Schulbesuche ähnlich wie im Kanton Zürich. 1848 sind die Ortschulkommissionen gemäss dem Primarschulgesetz von 1835 dazu verpflichtet, die lokalen Schulen zu beaufsichtigen und sie dafür zu besuchen.29 Eine Frequenz der Besuche durch Mitglieder der Schulkommission wurde erst mit dem Reglement von 1857 und 1871 auf einmal monatlich im Winter und im Sommer so oft als möglich festgelegt.30 Mit dem Schulgesetz von 1894 wurde die Besuchsfrequenz nochmals erhöht: Die gesetzlichen Normen sahen alle vier Wochen einen Schulbesuch durch zwei Kommissionsmitglieder vor. Festgehalten werden sollten die Besuche im Visitationenbuch bzw. im Schulrodel jeder Klasse, welches durch die zuständigen Inspektoren bei ihren Schulbesuchen kontrolliert wurde.31 Im Unterschied zum Kanton Zürich wurde kein numerischer Bericht zuhanden der oberen Behörden erwartet, da in Form des Schulinspektorats eine personalisierte Form der Kontrolle institutionalisiert war. Welche statistischen Daten wurden nun zum Verwaltungshandeln der verschiedenen Behörden produziert? In der Stadt Bern erhob die städtische Schuldirektion, welche 1888 bei der Einführung des Direktorialsystems ins Leben gerufen wurde und für den Stadtrat die Primar- und Mittelschulen zu leiten hatte, schulspezifische Verwaltungsdaten.32 Seit 1904 liegt ein gedruckter Verwaltungsbericht vor, der vor allem an die Adresse des Stadtrats formuliert war. Die Verwaltungsberichte legten in erster Linie die Verwendung der finanziellen Mittel sowie die Wahlen der Lehrpersonen offen. In allen Berichten zwischen 1904 und 1914 war eine Tabelle zur Schulspeisung, zu Klassengrößen und Lehrpersonal sowie ein Überblick über die finanzielle Situation enthalten. Zwischen 1904 und 1914 hielt der Verwaltungsbericht der Schuldirektion jährlich die Besuche der Schulkommissionsmitglieder in den Klassen fest.33 Dieser Information waren im Bericht jeweils 2-4 Zeilen gewidmet, wobei die Anzahl aller Besuche und eine Umrechnung der Besuche pro Klasse und pro Schulkommissionsmitglied angegeben sind. Rückschlüsse über den Einsatz einzelner Schulkommissionen oder einzelner Mitglieder lassen sich aus diesen Da-
29 Gesetz über die öffentlichen Primarschulen des Kantons Bern, 13.3.1835, § 115. 30 Reglement über die Obliegenheiten der Volksschulbehörden des Kantons Bern, 9.1.1857, § 16; ebd., 5.1.1871, § 15. 31 Gesetz über den Primarunterricht im Kanton Bern, 6.5.1894, § 97, 16. 32 Bettina Tögel: Die Stadtverwaltung Berns. Der Wandel ihrer Organisation und Aufgaben von 1832 bis zum Beginn der 1920er Jahre. Zürich 2004. 33 Jahresbericht der städtischen Schuldirektion für das Jahr 1904, Bern 1905; Schulwesen der Stadt Bern, Verwaltungsbericht der Städtischen Schuldirektion für das Jahr 1905–1914, Bern.
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ten nicht tätigen. Für das Jahr 1913 hielt der Bericht beispielsweise fest, dass insgesamt 2000 Schulbesuche in der Stadt Bern, 15 pro Schulkommissionsmitglied und 8 pro Klasse durchgeführt wurden.34 1904/05 wurden in toto 2271 Schulbesuche durchgeführt, 11 pro Klasse.35 Die Akten der Schulkommission Bern-Breiterain, eine lokale Primarschulkommission, weisen einzig Zahlen zu einzelnen Schülerinnen und Schülern und deren Absenzen auf. Statistisches Zahlenmaterial zur eigenen Verwaltungstätigkeit taucht während des hier untersuchten Zeitraums nicht auf.36 Auch die Akten der zur Vorberatung und Begutachtung der gemeinsamen Schulangelegenheiten in der Gemeinde Bern 1904 ins Leben gerufenen Zentralschulschulkommission weisen keinerlei Zahlenmaterial zur eigenen Verwaltungstätigkeit auf.37 Eine protokollierte Rechenschaftslegung zur eigenen Tätigkeit erübrigte sich in einer Verwaltungskultur, die sich stark auf Mündlichkeit abstützte. Von den Landgemeinden des Kantons sind während des Untersuchungszeitraums nur während zweier Jahre Zahlen zur Besuchsfrequenz der Schulbehörden überliefert. Die Verwaltungsberichte von 1875 und 1876 enthalten tabellarische Zusammenstellungen der Schulbesuche der Schulkommissionen und der Ergebnisse der Entlassungsprüfungen.38 Kommentiert wurde die tabellarische Zusammenstellung 1876 folgendermaßen: „Durch die Aufstellung eines Tableaus über die Schulkommissionen hinsichtlich ihres Eifers, ihrer Pflichtreue oder Gleichgültigkeit bis zur Widersetzlichkeit erhielte man die bunteste Musterkarte. Sehr viele Schulkommissionen erfüllen ihre Aufgabe mit Einsicht, Eifer und grosser Pflichtreue, andere aber sind gleichgültig und schenken der Schule wenig Aufmerksamkeit [...].“39
Im Vergleich zum Fallbeispiel aus dem Kanton Zürich fällt auf, dass sich ein schubhaftes Wachstum statistischen Wissens bezüglich der Verwaltungs- und Repräsentationspraxis auf der Gemeindeebene nicht feststellen lässt. Das Verwaltungshandeln der Stadtberner Schulkommissionen wurde eher beiläufig in Form einer Selbstdeklaration rapportiert, eine Legitimations- oder Kontrollfunktion ist nur in äußerst bescheidenem Masse mit statistischer Repräsentation verbunden. Während zweier Jahre wurden die Schulbesuche der Gemeindebehörden kantonal vergleichend dargestellt. Diese Daten sind durch die Inspektoren bei ihren Besuchen den Schulrodel entnommen worden und stellen insofern keine Selbst- sondern vielmehr eine Fremddarstellung zum Verwaltungshandeln der lokalen Behörden dar. Innerhalb kürzester Zeit kam es dabei zu einem Wachstum statistischen Wissens und kurz darauf zu dessen Redimensionierung. Die Berner Akten zur Schulverwaltung weisen eine Vielzahl unterschiedlicher statistischer und numerischer Daten auf, 34 Verwaltungsbericht der Städtischen Schuldirektion für das Jahr 1913, S. 10. 35 Ebd. 1905, S. 10. 36 Protokolle Primarschulkommission Bern-Breiterain (1880–1910), Stadtarchiv SAB_1039_21, U3-I-27-01-02. 37 Zentralschulkommission. Protokoll, 1904–1924, Stadtarchiv Bern, SAB_EB_5.22.1. 38 Kanton Bern, Staatsverwaltungsbericht vom Jahr 1875/1876, Bern 1876/1877. 39 Kanton Bern, Staatsverwaltungsbericht vom Jahr 1876, Bern 1877, S. 338.
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umso bemerkenswerter ist das Fehlen statistischer Daten zum Aufsichts- und Verwaltungshandeln der lokalen Schulbehörden. Dies mag mit der in Form des Schulinspektorats personalisierten und paternalistisch orientierten Aufsicht über das Schulwesen zusammenhängen, welche eine Kontroll- und Sanktionspraxis über erhobene Daten obsolet erscheinen liess. Zur Illustration der hier ins Feld geführten personalisierten Aufsicht sei die Haltung eines Schulinspektors zur Inspektion der lokalen Schulen und damit auch zur Kontrolle des Verwaltungshandelns der Schulbehörden zitiert: „[... D]er Inspektor [wird] noch Dies und Jenes mit dem Lehrer und den anwesenden Schulkommissionen besprechen und über die allgemeinen Schulverhältnisse mit denselben sich ergehen. Häufig wird nachher noch das Gespräch etwa in mehr unterhaltender und freier Form fortgesetzt, und so wird denn in den meisten Fällen, namentlich wenn der Standpunkt der Schule ein befriedigender war, die Inspektion in recht freundlicher Weise, ohne jeglichen Misston und in aller Einfachheit, wie es dem Ernst der ganzen Handlung geziemt, geschlossen.“40
Dem punktuellen Auftauchen der tabellarischen Informationen zum Schulbesuch der Schulbehörden im Verwaltungsbericht der Erziehungsdirektion muss entsprechend eine allgemeine Informationsfunktion zugeschrieben werden, welche sogleich wiedereingestellt, respektive personalisiert worden ist. Auf kantonaler Ebene finden sich numerische Zusammenstellungen zu den abgeschlossenen und laufenden Geschäften, welche die Erziehungsdirektion in den Jahren 1859 bis 1868 bearbeitete.41 Nach 1869 wurden diese Angaben ohne numerische Nennung noch während drei Jahren fortgeführt. Das Aufkommen dieser Deklarationspraxis und deren Verschwinden lassen sich nicht eindeutig klären. Möglicherweise liegt die zwischenzeitliche Etablierung dieser Praxis der Selbstdeklaration im Legitimationsbedürfnis begründet, welches die politisch höchst umstrittene Einführung der Schulinspektoren als Teil der Erziehungsdirektion 1857 mit sich brachte. Während der folgenden Jahre liess die wahrgenommene Notwendigkeit der Legitimation des eigenen Verwaltungshandelns nach, so dass es zu einer Redimensionierung der numerischen Rechenschaftslegung kommen konnte. Dass es in Bern zu keiner aktiven Verwendung statistischen Wissens bezüglich des lokalen Verwaltungshandelns kam, kann mit der personalisierten, mündlichen Aufsichts-, Kontroll- und Mahnkultur erklärt werden. Die Austarierung der Kontroll- und Legitimationsmechanismen zwischen der lokalen und kantonalen Ebene geschah, was das Verwaltungshandeln der Schulbehörden anging, im Kanton Bern im mündlichen Gespräch zwischen den beteiligten Akteuren.
40 Jakob Egger: Geschichte des Primarschulwesens im Kanton Bern mit besonderer Berücksichtigung der letzten zwei und zwanzig Jahre, Bern 1879, S. 82. 41 Bericht des Regierungsrathes an den Grossen Rath über die Staatsverwaltung des Kantons Bern im Jahre 1859, S. 281; ebd. 1860, S. 263; ebd. 1861, S. 197; ebd. 1862, S. 251; ebd. 1863, S. 253; ebd. 1864, S. 377; ebd. 1865, S. 275; ebd. 1866, S. 220; ebd. 1867, S. 323; ebd. 1868, S. 302.
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WACHSTUM UND REDIMENSIONIERUNG Die Analyse von statistischem Wissen im Mehrebenensystem zeigt zunächst, dass statistisches Wissen nicht einfach ein eindirektionales Machtinstrument von oben nach unten darstellt. Die statistische Berichterstattung über die Verwaltungstätigkeit hat jeweils sensibel auf Veränderungen der politischen Kontexte reagiert und dabei unterschiedliche Funktionen erfüllt – abhängig von der involvierten politischen Ebene und der Aufsichtskultur. Damit unterstützt das hier dargelegte historische Beispiel die These, wonach statistisches Wissen je nach Konstellation Instrument staatlicher Herrschaft und gleichzeitig Werkzeug zur Kontrolle staatlichen Handelns war. Gerade die direkt-demokratischen, subsidiären Institutionen der Schulverwaltung führten dazu, dass die gegenseitige Kontrolle stark gewichtet wurde. Am Beispiel Zürich zeigen sich auf statistischen Daten basierende Dynamiken zwischen den Ebenen, die sich zwischen den Polen von Kontrolle und Legitimation bewegen. Die Oberbehörden hatten jeweils Interesse an der Kontrolle möglichst umfangreicher Schulvisitationen der dazu gesetzlich verpflichteten unteren Behörden. Die Pflichten der Berichterstattung an die Oberbehörden haben vor allem das Einhalten der Besuchsdisziplin sowie einen Vergleich zwischen den Bezirken beinhaltet. Die unteren Behörden reagierten ihrerseits mit zwei Mitteln: Sie nutzten einerseits die Mittel der Statistik auf eine subversive Art und Weise, indem sie Durchschnittszahlen statt Individualzahlen publizierten. Mit dieser methodischen Verfeinerung erhielten sie sich einen großen Teil der Deutungshoheit über die Daten und konnten die eigenen Behördenmitglieder der Sichtbarkeit und Kontrolle gegenüber oberbehördlicher Kontrolle entziehen. Andererseits nahmen sie eine Fokussierung auf die Berichterstattung betreffend zusätzlicher Tätigkeiten der Behörden und damit eine Ausweitung der statistischen Berichterstattung vor. Diese Produktion weiterer Daten in Eigeninitiative sollte der lokalen Schulbehörde als Entlastung des kantonalen Kontrolldrucks dienen – ein Druck der wiederum aus der statistischen Bringschuld an die Oberbehörde erst entstanden ist. Der These einer beständigen Expansion in der Produktion statistischen Wissens steht die Erkenntnis regelmäßig wiederkehrender Redimensionisierung von Verwaltungsstatistiken gegenüber. Die beiden Fallbeispiele zeigen, dass es nicht einfach zu einer stetigen Ausweitung und Differenzierung der statistischen Wissensproduktion gekommen ist. Vielmehr haben Veränderungen in den Machtkonstellationen sowie zeitlich punktuelle Konsolidierungen von Legitimitätsansprüchen zu wiederholten Redimensionisierungen der amtlichen Schulstatistik geführt. Während neue Institutionen unter anderem durch statistisches Wissen und statistische Praktiken stabilisiert werden, schwindet dieses Bedürfnis der Legitimation bei gelungener Institutionalisierung über die Zeit. Eine Voraussetzung zur Redimensionierung besteht demnach, wenn der Druck zur zusätzlichen Selbstlegitimierung durch die Sichtbarmachung der eigenen Leistungen mittels in Eigenregie publizierte Daten nachlässt. Oder anders gesprochen: wenn die freiwillige Herstellung von Sichtbarkeit keine Entlastung von Kontrolldruck mehr verspricht.
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Eine Möglichkeit der Redimensionierung, wie im Berner Fall gezeigt, besteht in einer Personalisierung von Information und Aufsicht – und damit im Ersatz statistischen Wissens durch alternative Wissensformen. So scheinen in paternalistisch geprägten politischen Kontexten kontinuierlich statistische Repräsentationen eine schwächer ausgeprägte Resonanz erfahren zu haben, als in Kontexten mit durchgehend direkt-demokratisch gewählten Laienbehörden. Der Berner Fall zeigt, dass die unpersönliche Kommunikationstechnologie der Quantifizierung und Formalisierung angesichts einer paternalistischen und damit über persönliche Kontakte funktionierenden Kommunikationskultur kaum vertrauensstiftend wirkend konnte. Entsprechend hat sich die statistische Datenproduktion auch nicht zu einem wirkmächtigen Instrument innerhalb der Machtkonstellationen der Berner Schulverwaltung entwickelt. Bei der Analyse der Dynamik amtlicher Statistik zeigt sich, dass sowohl Momente der Expansion als auch Momente der Redimensionierung in gegenseitiger Abhängigkeit gedacht werden müssen, so dass die anfangs postulierte anhaltende Anziehungskraft statistischer Datenproduktion zumindest relativiert werden muss. Trotz der hier entwickelten Thesen bleiben die Bedingungen unter denen regelmäßig erhobenes und publiziertes statistisches Wissen wieder abnimmt, seine kommunikative Funktion einbüßt oder sich andere Wissensformen als vertrauensstiftender erweisen ein Desiderat, welches es mitunter durch historische Analysen sowohl empirisch als auch theoretisch zu bearbeiten gilt.
SEHEN, LESEN, SITZEN, SCHREIBEN DIE KONSTRUKTION ‚DES SCHULKINDES‘ DURCH DIE STATISTIK IN DER SCHWEIZ IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Lukas Boser / Michèle Hofmann Dieser Beitrag nimmt Bezug auf die These, dass Statistik nicht einfach ein Abbild der ‚Wirklichkeit‘ ist, sondern dass sie stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat. Er zeigt auf, wie ‚das Schulkind‘ im Zusammenhang mit der Schule und den Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich definierter, generischer Begriff konzeptualisiert wurde und welche Rolle die Statistik dabei spielte. This paper refers to the thesis that statistics is not merely a reflection of ‚reality‘ but has a reality-constituting potential too. The paper shows how ‚the schoolchild‘ was conceptualized through statistics – in connection with school-related activities such as seeing, reading, sitting, and writing – as a scientifically defined, generic notion in the second half of the 19th and the beginning of the 20th century. In der Schweiz, einem kleinen Land mit damals weniger als drei Millionen Einwohnern, besuchten im ausgehenden 19. Jahrhundert fast 500 000 Kinder die Primarschule.1 Die große, unübersichtliche und heterogene Masse an Schulkindern – eine Folge des Bevölkerungswachstums und der allmählichen Durchsetzung der Schulpflicht – wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zunehmend als eine Problematik wahrgenommen, die statistisch erfasst und verwaltet werden musste. Diese Wahrnehmung kam nicht von ungefähr. Im Laufe des 19. Jahrhunderts durchlief die Schule als Institution einen fundamentalen Wandel. Die Dorf- oder Stadtschulen, die an lokalen Bildungsbedürfnissen ausgerichtet gewesen und die durch die Gemeinde organisiert und vom Pfarrer kontrolliert worden waren, wurden zusehends in staatliche Schulsysteme integriert. Mittels der Einführung einheitlicher Strukturen (u.a. Jahrgangsklassen), allgemeinverbindlicher Regelungen (u.a. Vorgaben zu Klassengrößen, Unterrichtszeiten) und standardisierter Curricula (Lehrpläne) wurde in der Schweiz, wie in vielen anderen europäischen Staaten auch, eine Zentralisierung des Schulwesens angestrebt. Im Ancien Régime waren Schule und
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Vgl. bsp. Personalverhältnisse, in: Jahrbuch des Unterrichtswesens in der Schweiz 1 (1887), S. 143–151, hier S. 143.
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Unterricht auf der Grundlage von lokalem Wissen und örtlichen Bedürfnissen organisiert worden. Eltern, Lehrer und Pfarrer kannten ihr Dorf oder ihren Stadtteil und die Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen. Aufgrund dieses Wissens vermochten sie abzuschätzen, wie viel Unterricht als sinnvoll angesehen werden konnte und was die Kinder in diesem Unterricht lernen sollten. Mit voranschreitender Integration der Dorf- und Stadtschulen in ein staatliches Schulwesen verlor dieses lokale Wissen an Bedeutung. Um eine staatlich organisierte Volksschule effektiv gestalten und verwalten zu können, musste diese in neuer Form sicht-, versteh- und handhabbar oder, um einen Begriff des Anthropologen James Scott zu verwenden, „lesbar“ gemacht werden.2 Die alten, lokalen Bedingungen und Bedürfnisse konnten in einem staatlichen Schulsystem nicht länger als Ordnungskriterien dienen. Dies galt insbesondere für die Population der Schülerinnen und Schüler. „Society must be remade before it can be the object of quantification. Categories of people and things must be defined; measures must be made interchangeable”,3 schreibt der Wissenschaftshistoriker Theodore Porter – und genau dies traf auch auf die Schule, auf die Schulkinder zu. Man begann, die Kinder mit Hilfe von Statistiken respektive Zahlenwerten zu gruppieren. Ordnungskriterien, wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Bildbarkeit oder Gesundheit, wurden neu eingeführt oder unter anderen Blickwinkeln betrachtet. Bezugnehmend auf die These, dass Statistik nicht einfach ein Abbild der ‚Wirklichkeit‘ ist, sondern dass sie stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat, wollen wir in diesem Beitrag der folgenden Frage nachgehen. Wie wurde ‚das Schulkind‘ im Zusammenhang mit der Schule – d.h. der Umgebung, in der ein Kind überhaupt erst zum ‚Schulkind‘ wird – sowie im Zusammenhang mit dem Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben – d.h. den Haupttätigkeiten von Schulkindern – in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich definierter, generischer Begriff konzeptualisiert und welche Rolle spielte die Statistik dabei? Es wäre jedoch historisch nicht korrekt zu behaupten, die neuartige ‚Lesbarmachung‘ der Schule und der Schulkinder wäre einem generellen Plan gefolgt. Das Gegenteil ist der Fall. Sie war die Folge von vielen einzelnen mehr oder weniger zusammenhängenden Vorgängen, die erst in der historischen Rückschau als ein Prozess erscheinen respektive sich als ein Prozess rekonstruieren lassen. Einige dieser Vorgänge wollen wir im Folgenden etwas genauer betrachten.
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James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 339f. Theodore M. Porter: Objectivity as Standardization. The Rhetoric of Impersonality in Measurement, Statistics, and Cost-Benefit Analysis, in: Allan Megill (Hg.): Rethinking Objectivity, Durham/London 1994, S. 197–237, hier S. 201.
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DAS SCHULKIND Die Vorstellungen vom ‚Kind‘ im Allgemeinen werden in der Pädagogik bis heute stark durch Idealvorstellungen geprägt.4 Einflussreich waren dabei beispielsweise Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) mit seinem Erziehungsroman Emile (1762),5 Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) mit seinen Schriften Lienhard und Gertrud (1781)6 und Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801)7 oder Ellen Key (1849– 1926) mit ihrem Buch Das Jahrhundert des Kindes (1900/1902)8. Ungeachtet des unzweifelhaft großen Einflusses, den diese und ähnlich Werke im Laufe der vergangenen 250 Jahre hatten, sind die heute vorherrschenden Bilder ‚des Schulkindes‘ – die nicht minder ideal respektive idealisierend sind – zu großen Teilen ein Resultat des wirklichkeitskonstituierenden Charakters von wissenschaftlichen Erhebungen und der Interpretation der durch sie gewonnenen Daten. Diese These ließe sich leicht an unzähligen psychologischen und soziologischen Studien und Metastudien belegen, auf die sich heute sowohl die Pädagogik als auch die Bildungspolitik stützen. Wir wollen in diesem Beitrag zeigen, dass es im 19. und 20. Jahrhundert neben Psychologie und Soziologie noch mindestens ein weiteres Feld gab, in welchem ‚das Schulkind‘ mittels empirischer, statistischer Verfahren konstruiert wurde – die Medizin. Der Begriff ‚Schulkind‘ bezeichnet schlicht ein Kind, „das die schule [sic] besucht“,9 wie bereits im Grimm‘schen Wörterbuch nachzulesen ist. Im Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Adelung (1732–1806) aus dem Jahr 1811 ist der Begriff ‚Schulkind‘ noch etwas genauer definiert und zwar insofern, als es sich dabei um ein Kind handle, welches „eine niedrige Schule“ besuche.10 Das Schulkind wurde, so lässt sich aus diesen Wörterbucheinträgen schließen, hauptsächlich über das Merkmal definiert, dass es zur Schule ging. Das ‚Zur-Schule-gehen‘ unterschied das Schulkind von anderen Kindern, die dies nicht taten. Auf den ersten Blick ist dies heute nicht viel anders. Der Duden beschreibt den Begriff in seiner Online-Ausgabe wie folgt: „Kind, das die Schule besucht.“11 Trotz dieser Konstanz in den Wörterbucheinträgen wollen wir zeigen, wie sich die Vorstellung davon, was ein ‚Schulkind‘ sei, und gleichzeitig auch das Verständnis davon, was die Schule sei und was in ihr geschehe, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten. Diese Veränderungen in der Wahrnehmung ‚des Schulkindes‘ und seiner schulischen Umgebung geschahen auf 4
Vgl. dazu Christa Berg: Kind/Kindheit, in: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004, S. 497–517, insb. S. 506–510. 5 Jean-Jacques Rousseau: Emile ou De l’éducation, Amsterdam 1762. 6 Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud, Berlin/Leipzig 1781. 7 Ders.: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, Zürich/Bern 1801. 8 Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1902. Die schwedische Originalausgabe erschien 1900. 9 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Leipzig 1899, Sp. 1953. 10 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart, Bd. 3, Wien 1811, Sp. 1680. 11 http://www.duden.de (aufgerufen am 3.7.2016).
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der Grundlage davon, dass das, was das Kind in der Schule tat, wissenschaftlich untersucht und vermessen wurde. Dabei spielte die Statistik eine bedeutende Rolle. Neben biologischen Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Größe waren es v.a. die Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben,12 die die Kriterien ausmachten, nach welchen die Kinder statistisch erfasst wurden. Gleichzeitig mit der Definition dieser Kriterien wurden auch Versuche unternommen, aus den gewonnenen Daten Normen und Grenzwerte abzuleiten, welche für die Einteilung der Kinder in Gruppen oder den Ausschluss aus denselben beigezogen werden konnten. DAS INTERESSE DER WISSENSCHAFT AM SCHULKIND Im Zuge der Hygienebewegung und angespornt durch einen beunruhigenden Verdacht wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa die Volksschule als wissenschaftliches Untersuchungsfeld entdeckt. Der Verdacht, der eine rege Forschungstätigkeit unter Medizinern auslöste, bestand darin, dass langjähriger Schulbesuch schädlich für die Gesundheit der Kinder sei, dass der Besuch der Schule verschiedene ‚Schulkrankheiten‘ verursache. Hätte sich dieser Verdacht erhärtet, dann wäre dies sowohl für die Kinder als auch für die europäischen Nationalstaaten ein großes Problem gewesen. Erstere hätten durch den Schulbesuch ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt, Letztere wären für das Kranksein ihrer Bürgerinnen und Bürger verantwortlich gemacht worden, denn durch die Einführung und Durchsetzung des obligatorischen Schulbesuchs hatten die Kinder gar keine andere Wahl, als zur Schule zu gehen. Besorgniserregend war für die Staaten auch der Befund, dass die ‚Schulkrankheiten‘ im Fall der Knaben später eine Dienstuntauglichkeit im Militär zur Folge hätten.13 Stimmte also der Verdacht der Hygieniker, dass die Schule die Kinder krank mache, so bedeutete dies, dass der Staat sein Wehrpotential schwächte, indem er die zukünftigen Soldaten in die Schule zwang. Dies führte zu einer paradoxen Situation. Einerseits hatte man aus den europäischen Kriegen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts (Revolutionskriege in Frankreich, Deutscher Krieg, Deutsch-Französischer Krieg) den Schluss gezogen, dass die Wehrkraft der Nationen direkt von der Schulbildung der jungen Männer abhing.14 Andererseits
12 Selbstverständlich sind damit nicht alle Tätigkeiten aufgelistet, welche den Schulbesuch charakterisieren. Insbesondere das Lernen gehört auch dazu. Aus Platzgründen beschäftigen wir uns in diesem Beitrag jedoch nicht mit der statistischen Auswertung von Schülerinnen- und Schülerleistungen. 13 Vgl. Michèle Hofmann: Waffen im Kampf gegen Krankheiten. Transfer medizinischen Wissens zwischen Militär und Schule um 1900, in: Lukas Boser/Patrick Bühler/Michèle Hofmann/Philippe Müller (Hg.): Pulverdampf und Kreidestaub. Beiträge zum Verhältnis zwischen Militär und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, Bern 2016, S. 193–219. 14 Vgl. Karl Fisch: Ohne Drill keine Erziehung, in: Schweizerische Monatsschrift für Offiziere aller Waffen 13 (1901), S. 1–20; S.n.: Militär und Schule, in: Schweizerische Lehrerzeitung 12 (1867), S. 76. Für die Schweiz vgl. auch Lukas Boser: Militärkarrieren von ‚Bildungsexperten‘ zwischen 1875 und 1914, in: Boser u.a., Pulverdampf und Kreidestaub, S. 143–163.
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bestand nun die Befürchtung, genau diese Wehrkraft durch den Schulbesuch zu schwächen. Vor diesem Hintergrund fingen verschiedene Ärzte an, in breit angelegten Untersuchungen eine große Zahl von statistischen Daten zu sammeln und auszuwerten.15 Dabei wurden insbesondere zwei potentiell gesundheitsschädigende Folgen des Schulbesuchs in den Fokus genommen: Myopie (Kurzsichtigkeit) und Skoliose (seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule).16 Ärzte wie Hermann Cohn (1838–1906) in Breslau oder Adolphe Combe (1859–1917) in Lausanne untersuchten tausende von Schulkindern und erhärteten auf der Grundlage ihrer Daten die These, dass die Kinder mit fortschreitendem Alter und entsprechend höherer Klassenstufe zunehmend zu Kurzsichtigkeit und Skoliose neigten.17 Wissenschaftlich haltbare Aussagen zu dieser These konnten allerdings nur gemacht werden, wenn gleichzeitig auch Normalwerte für das Sehen und die Körperhaltung bestimmt wurden. Die Vermessung der Kinder und die statistische Auswertung der Daten dienten einem dreifachen Zweck. Erstens konnten so Normwerte festgelegt werden, d.h. es wurde definiert, was als gesund galt. Zweitens konnten mittels dieser Untersuchungen Abweichungen von der definierten Norm bestimmt werden, es konnte beispielsweise festgestellt werden, ob und in welchem Ausmaß die Schulkinder kurzsichtig oder skoliotisch waren. Hatte man die Normen bestimmt und die Abweichungen davon erkannt, dann konnte man sich, drittens, auf die Suche nach den Ursachen für die Abweichungen machen. Das ‚normale‘ und ‚anormale‘ Sehen und die ‚normale‘ und ‚anormale‘ Körperhaltung wurden erforscht, um mögliche Ursachen für Abweichungen von der Norm ausmachen und solche verhindern zu können.18
15 Kritische Analysen der Verwendung von Statistiken im Bereich der Medizin hat in letzter Zeit v.a. Theodore Porter vorgelegt. Vgl. z.B. Theodore M. Porter: Funny Numbers, in: Culture Unbound 4 (2012), S. 585–598. 16 Vgl. Susanne Hahn: Die Schulhygiene zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sozialer Verantwortung und „vaterländischem Dienst“. Das Beispiel der Myopie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 29 (1994), S. 23–38; Marcel Suter: Haltung und Bewegung, in: Beatrix Mesmer (Hg.): Die Verwissenschaftlichung des Alltags. Anweisungen zum richtigen Umgang mit dem Körper in der schweizerischen Populärpresse 1850– 1900, Zürich 1997, S. 177–197, insb. S. 189–194; Monika Imboden: Die Schule macht gesund. Die Anfänge des schulärztlichen Dienstes der Stadt Zürich und die Macht hygienischer Wissensdispositive in der Volksschule 1860–1900, Zürich 2003, insb. S. 141–151; Michèle Hofmann: Ärztliche Macht und ihr Einfluss auf den Schulalltag in der Schweiz im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Paedagogica Historica. International Journal of the History of Education 51 (2015), S. 88–103. 17 Vgl. Hermann Cohn: Untersuchung der Augen von 10 060 Schulkindern. Eine ätiologische Studie, Leipzig 1867; Ders.: Die Sehleistung von 50 000 Breslauer Schulkindern, nebst Anleitung zu ähnlichen Untersuchungen für Aerzte und Lehrer, Breslau 1899; Adolphe Combe/Charles Scholder/Auguste Weith: Les Déviations de la colonne vertébrale dans les écoles de Lausanne, Zürich 1901. 18 Vgl. Michèle Hofmann: Gesundheitswissen in der Schule. Schulhygiene in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2016.
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SEHEN IM SCHULISCHEN KONTEXT Die Sehschärfe stellt eine wissenschaftlich definierte Norm, d.h. eine messbare und auf einer Zahlenskala verzeichenbare Größe dar. Dieser Wert, Visus genannt, wird ermittelt als eine Relation von der Distanz zum Anschauungsobjekt und der Größe desselben. Normalität erscheint hier als klar definierter Zahlenwert. Für die ‚Normsehkraft‘ wurde der Wert 1 festgelegt. Als einer der Ersten bestimmte der Holländer Herman Snellen (1834–1908) diesen Wert in den 1860er Jahren.19 Getestet wurde das Sehvermögen anhand von Tafeln. Snellen selbst verwendete für seine Sehprobentafeln zuerst abstrakte Zeichen, wechselte aber bald zu Buchstaben, die in der Folge auf die heute noch bekannten sogenannten E-Haken reduziert wurden. Die Verwendung von abstrakten Zeichen respektive Buchstaben macht deutlich, dass die Sehschärfe v.a. im Zusammenhang mit dem Lesen ermittelt wurde. Heute sind wir mit diesem Verfahren derart vertraut, dass es uns alternativlos erscheint. Tatsächlich könnte man auch untersuchen, aus welcher Distanz ein Mensch Schafe auf einem Feld zählen kann oder aus welcher Distanz er die Zeit auf einer Taschenuhr ablesen kann. Auch daraus hätte sich der Visus errechnen lassen. Die Augenärzte wählten jedoch das Lesen als maßgebendes Kriterium für das Sehen.20 Sehprobentafeln mit E-Haken entwickelte auch der Berner Professor für Augenheilkunde Ernst Pflüger (1846–1903).21 Seine Tafeln, die bei der Untersuchung von Schulkindern zum Einsatz kamen, sollten aus einer Distanz von zehn Metern betrachtet werden. Diese Entfernung entsprach, in einem größeren Schulzimmer, ungefähr dem Abstand aus den hinteren Bankreihen zur Wandtafel. Es ist durchaus bemerkenswert, dass Pflüger gerade diese Distanz wählte, hätte doch der Visus aus einer beliebigen Entfernung ermittelt werden können. Ausgestattet mit Skalen, Normwerten und Sehprobentafeln machten sich Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts daran, die Sehkraft der Schulkinder zu untersuchen, immer mit dem Ziel, den Verdacht, die Schule führe zu Kurzsichtigkeit, entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Große Bekanntheit erlangte eine Studie, die der Breslauer Augenarzt Hermann Cohn in den Jahren 1865/66 durchführte.22 Wie Cohn selbst festhielt, war er nicht der Erste, der Augenuntersuchungen an Schulkindern vornahm. Er verwies auf Studien, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts in anderen europäischen Ländern durchgeführt worden waren.23 Bei keiner 19 Der Wert 1 bedeutete, dass ein Mensch aus einer Distanz von 20 Pariser Fuß (6.48 Meter) ein Zeichen mit einer Höhe und Breite von 4,2 Pariser Linien (9.47 Millimeter) erkennen konnte (vgl. H[erman] Snellen: Probebuchstaben zur Bestimmung der Sehschärfe, Utrecht 1862, S. 4). Nach der Umstellung auf das metrische System wurden die Snellenschen Sehprobentafeln den neuen Maßeinheiten angepasst. 20 Von einigen Ärzten wurden die Untersuchungen genau deswegen kritisiert. Vgl. H[einrich] Hintermann: Sehstörungen und Augenkrankheiten. Vortrag von Dr. A[dolf] Steiger, Augenarzt, Zürich, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 13 (1915), S. 117–122, 150–155. 21 Vgl. Sehproben für die Primarschüler [Sehprobentafel nach Prof. Ernst Pflüger], o.O. [1900]. 22 Vgl. Cohn, Untersuchung. 23 Vgl. ebd., S. 1–15.
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dieser Untersuchungen sei aber „eine für die Auffindung von Gesetzen hinreichend große Zahl von Schülern mit den Dank den Fortschritten der neueren Augenheilkunde möglichen Hilfsmitteln exact auf die Schärfe ihres Sehvermögens von Aerzten geprüft worden“.24 Cohn untersuchte – unter Mitarbeit von Lehrpersonen – die Augen von über 10 000 Schülerinnen und Schülern. Erst seine eigene Studie, so argumentierte Cohn, mache sich das ‚Gesetz der großen Zahl‘ – wie er es selbst nannte – zu Nutze.25 Cohn teilte die Kinder gemäß des Grades ihrer Kurzsichtigkeit in sechs Kategorien ein.26 Diese verschiedenen Kategorien setzte er in Relation zum Alter der Probandinnen und Probanden, zur Schulstufe respektive -form und zu ihrem Geschlecht. Die Auswertung der Daten ließ ihn zum Schluss kommen, dass mit fortschreitendem Alter und entsprechend höherer Klassenstufe (von der Elementarschule bis zum Gymnasium) mehr Schülerinnen und Schüler kurzsichtig seien und auch der Grad der Kurzsichtigkeit zunehme.27 Cohns Kollege Emil Emmert (1844– 1911), Dozent für Augenheilkunde an der Universität Bern, publizierte 1876 die Resultate von Augenuntersuchungen, die er an über 2000 Schulkindern in den Schweizer Kantonen Bern, Solothurn und Neuenburg durchgeführt hatte.28 Bevor er seine eigenen Ergebnisse darlegte, listete er 26 internationale und nationale Studien auf, in denen insgesamt über 50 000 Schulkinder und Studenten untersucht worden waren. 1886 zählte der Berner Professor Ernst Pflüger gar über 100 Studien mit nun deutlich mehr als 100 000 Versuchspersonen.29 Diese Untersuchungen stützten Cohns Schlussfolgerung, dass die Kinder häufiger an Kurzsichtigkeit litten, je länger sie die Schule besuchten, oder anders formuliert: dass der Schulbesuch sich schädigend auf ihre Gesundheit auswirke. Diese Feststellung war im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Lehrmeinung, sie blieb jedoch nicht unwidersprochen.30 Der französische Augenarzt und Politiker Louis Émile Javal (1839–1907) wies 1905 darauf hin, dass zwar die kurzsichtigen Schulkinder im 24 Ebd., S. 15. 25 „[F]ür die Statistik sind hohe Zahlen erforderlich, wenn Gesetze reslutiren [sic] sollen.“ Ebd., S. 7. 26 Vgl. ebd., S. 28f., 42. Cohn hielt fest, dass seine Unterteilung in verschiedene Grade der Kurzsichtigkeit „ganz willkürlich“ sei, ebd., S. 42. 27 Vgl. ebd., S. 42–60, insb. S. 53, 57. Eine „Zunahme des durchschnittlichen Grades der Myopie“ von „Klasse zu Klasse“ konstatierte Cohn für beide Geschlechter (Ebd., S. 57). Weitere geschlechtsspezifische Aussagen ließ das Datenmaterial nicht zu, da die Stichprobe deutlich weniger Mädchen als Knaben enthielt. Vgl. ebd., S. 49–51, insb. S. 51. 28 Vgl. Emil Emmert: Ueber funktionelle Störungen des menschlichen Auges im Allgemeinen sowie speziell nach Schuluntersuchungen in den Kantonen Bern, Solothurn und Neuenburg nebst der Hilfsmittel dagegen, Bern 1876. 29 Vgl. Ernst Pflüger: Kurzsichtigkeit und Erziehung. Academische Festrede zur Feier des Stiftungsfestes der Universität Bern am 20. November 1886, Wiesbaden 1887, S. 4. 30 Im Laufe der Zeit begann sich die Ansicht darüber, dass der Grund für Kurzsichtigkeit in der Schule zu finden sei, generell zu ändern. Als ‚neue‘ Ursache der Kurzsichtigkeit – und auch der Skoliose – geriet ab den 1920er Jahren besonders die erbliche Vorbelastung der Kinder in den Fokus der Schulhygieniker (vgl. bsp. W[illi] v[on] Gonzenbach: Die Aufgabe der Hygiene gegenüber dem Kinde im Schulalter, in: Schweizerische Zeitschrift für Gesundheitspflege 7 (1927), S. 467–478). Die durch Gregor Mendel (1822–1884) begründete und vor dem Ersten Weltkrieg wiederentdeckte Vererbungslehre erfuhr in den 1920er Jahren nicht zuletzt deshalb
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Verhältnis zu den ‚Normalsichtigen‘ zunähmen, nicht aber in absoluten Zahlen.31 Javal führt dies v.a. darauf zurück, dass viele ‚normalsichtige‘ Kinder die Schule vorzeitig verlassen würden, um in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in der Industrie zu arbeiten, während die kurzsichtigen Kinder länger in der Schule verbleiben würden, sei es, weil sie grundsätzlich gelehriger seien (généralement studieux) oder weil ihre Eltern sie als ungeeignet für das Erwerbsleben erachteten.32 „En réalité“, schrieb Javal, „la myopie n’apparaît pas bien souvent avant l’âge de dix à douze ans, et c’est par un trompe-l’œil de statistique qu’on a été conduit à dire qu’elle se produit avec une fréquence croissante pendant toute la durée des études.“33 Die Augenuntersuchungen an zehntausenden von Schulkindern hatten zur Folge, dass ‚schlechtes‘ Sehen nicht mehr primär durch die subjektive Wahrnehmung bestimmt wurde, sondern durch eine wissenschaftlich definierte Norm. Diese Norm gab im 20. Jahrhundert auch den Rahmen vor für Maßnahmen (u.a. Sonderklassen), von denen die Schulkinder – sofern ihre Sehkraft als ‚anormal‘ beurteilt wurde – betroffen waren. SITZEN IN DER SCHULE Nebst dem Sehen interessierten sich die Wissenschaftler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts v.a. für das Kind, das in der Schule sitzt und schreibt. So banal dies scheinen mag, aber zu den Tätigkeiten, die das Kind in der Schule mit Abstand am längsten verrichtet, zählen Sitzen und Schreiben. Der Zürcher Arzt Hans Conrad Fahrner (1822–1872) rechnete Mitte der 1860er Jahre aus, dass allein in der Primarschule, „welche sämmtliche [sic] Kinder laut Gesetz durchmachen müssen“, mindestens 2000 Stunden sitzend und zugleich in einer „fatalen Schreibstellung“ zugebracht würden.34 Im langen Sitzen und insbesondere in der fehlerhaften Sitzhaltung der Schülerinnen und Schüler vermuteten die Ärzte zentrale Ursachen für die Wirbelsäulenverkrümmung, die wie die Kurzsichtigkeit als ‚Schulkrankheit‘ galt und in wissenschaftlichen Studien untersucht wurde. Fahrner veröffentlichte
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große Beachtung, da sie eine zentrale Grundlage rassenhygienischer Theorien darstellte, die in jener Zeit von breiten Bevölkerungsteilen rezipiert und akzeptiert wurden, vgl. Jürgen Reulecke: Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik, in: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 197–210. Émile Javal: Physiologie de la lecture et de l’écriture, Paris 1905, S. 188: „C’est la proportion et non pas le nombre des myopes qui va en augmentant.“ Ebd., S. 188. „In Wirklichkeit taucht die Myopie selten vor dem zehnten bis zwölften Lebensjahr auf, und es ist bloß eine statistische Täuschung, die einen dazu führte zu glauben, sie trete mit zunehmender Schuldauer häufiger auf.“ (Ebd., S. 188 – eigene Übersetzung) H[ans] C[onrad] Fahrner: Das Kind und der Schultisch. Die schlechte Haltung der Kinder beim Schreiben und ihre Folgen, sowie die Mittel, derselben in Schule und Haus abzuhelfen, Zürich 1865, S. 2f.
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1865 unter dem Titel Das Kind und der Schultisch eine Forschungsarbeit zur Skoliose, die große Beachtung fand und breit rezipiert wurde.35 Er hatte Schülerinnen und Schüler untersucht und vermessen, während sie schrieben, und war zum Ergebnis gelangt, dass viele Kinder permanent eine schlechte Körperhaltung einnähmen, was zu Wirbelsäulenverkrümmungen führe. Der Lausanner Schularzt Adolphe Combe nahm gemeinsam mit zwei Berufskollegen eine Untersuchung an mehr als 2300 Schulkindern vor und stellte dabei eine frappante Zunahme der ‚Totalskoliosen‘ im Verlauf der Schulzeit fest.36 Während Combe und seine Kollegen auch im Fall der Skoliose mittels großer Probandengruppen nach statistischen Gesetzmäßigkeiten suchten, begnügten sich andere Wissenschaftler bedingt durch aufwändige Versuchsanordnungen mit einer verhältnismäßig geringen Anzahl Testpersonen, wie das Beispiel des Berner Orthopäden Felix Schenk (1850–1900) zeigt. Schenk konstruierte zur wissenschaftlichen Untersuchung der Wirbelsäule und der Sitzrespektive Schreibhaltung von Schulkindern in den 1880er Jahren eigens Messinstrumente.37 Einerseits einen sogenannten Thoracographen, bei diesem handelte es sich um einen „Konturzeichnungsapparat, der […] die Aufnahme einer beliebigen Anzahl von Punkten am Körper des Lebenden, somit auch die Messung von Rückgratsverkrümmungen“ gestattete.38 Andererseits entwarf Schenk einen „Tisch […] zur Untersuchung der Schreibhaltung eines Schulkindes“ und „die dazu nothwendigen kleineren Hülfsinstrumente“.39 Mittels seiner Gerätschaften war Schenk in der Lage, die Rücken der Kinder und ihre Körperhaltung beim Schreiben exakt zu vermessen. Er wollte herausfinden, ob es „eine habituelle Schreibhaltung gebe, d.h. ob ein Kind beim Schreiben allemal gleich sitze, oder ob es nicht bald diese, bald jene Stellung einnehme“, und falls sich eine solche Haltung „als das Gewöhnliche herausstellen sollte“, ob „ein causaler Zusammenhang zwischen Schreibstellung und Skoliose nachweisbar sei“.40 Schenk vermass an den Körpern von 200 Schulkindern verschiedene Abstände und Winkel, die sich aus ihrer Schreibhaltung ergaben, etwa den Abstand der Ellenbogen vom Körper oder die „Größe des Winkels, den der schreibende rechte Vorderarm […] mit den Grundstrichen der Schrift bildet“.41 Diese Werte hielt er für jedes Kind in „mathematischer Form auf einem Blatt“ fest, sie lieferten „Anhaltspunkte genug, um das Charakteristische einer Schreibhaltung sofort daraus zu erkennen“.42 Anschließend zeichnete Schenk mit 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. L[ouis] Henchoz: Rapport sur la 2me assemblée générale annuelle de la société suisse d’hygiène scolaire, à Lausanne, samedi 13 et dimanche 14 juillet 1901, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 2 (1901), S. 127–168, hier S. 132; Combe/ Scholder/Weith: Les Déviations. 37 Vgl. Felix Schenk: Zur Aetiologie der Skoliose. Vortrag gehalten in der chirurgischen Section der 58. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Strassburg i./E., Berlin 1885. 38 Wilhelm Schulthess: Dr. med. Felix Schenk, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 1 (1900), S. 217–221, hier S. 218. 39 Schenk, Zur Aetiologie, S. 5. 40 Ebd., S. 4. 41 Ebd., S. 5. 42 Ebd., S. 6.
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Hilfe seines Thoracographen ein Bild der Wirbelsäule des Kindes. Dieses Bild, das Aufschluss darüber gab, ob das Kind an einer Skoliose litt, verglich er mit den Messwerten zur Schreibhaltung. Wie Fahrner, Combe und andere Ärzte kam auch Schenk zum Ergebnis, dass viele Kinder an Wirbelsäulenverkrümmung litten bedingt durch eine ‚habituell‘ falsche Sitzhaltung. Aufgrund seiner Messinstrumente und der statistischen Auswertung der erhobenen Daten war er zudem in der Lage, wissenschaftlich fundiert zu bestimmen, was eine schlechte Haltung sei. Als „Haltungsfehler, die zu Verkrümmungen zu führen pflegen“, identifizierte Schenk: erstens eine seitliche Verschiebung des Oberkörpers nach links, mit entsprechender linksseitiger Biegung, zweitens eine Drehung des Oberkörpers nach links, mit entsprechender rechtsseitiger Biegung und drittens eine starke Entfernung der Ellenbogen vom Körper beim aufrechten Sitzen.43 Zugleich wurde der Gegenstand, den Schenk vermass, durch die statistische Erhebung überhaupt erst konstruiert. Erst die Auswertung der Gesamtheit seiner Messwerte ergab die Vorstellung davon, was eine fehlerhafte Körperhaltung sei. Diese fehlerhafte Körperhaltung wurde von den Ärzten auch als ‚Schulsitzen‘ bezeichnet.44 Sie diente als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Vielzahl von neuen Schulbanksystemen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.45 LESEN UND SCHREIBEN Im Zusammenhang mit den ‚Schulkrankheiten‘ Kurzsichtigkeit und Wirbelsäulenverkrümmung schenkten die Wissenschaftler auch den durch die Schule vermittelten Kulturtechniken des Lesens und Schreibens ihre Aufmerksamkeit.46 Lesen und Schreiben standen im Verdacht, mitverantwortlich zu sein für die zunehmende Kurzsichtigkeit und die Skoliosen bei den Schulkindern. Wie die Untersuchung der Kurzsichtigkeit und der Skoliose war auch die Erforschung des Lesens und Schreibens ein internationales Unterfangen, an welchem sich Wissenschaftler aus Europa und Übersee beteiligten. Die Fragen, welche die Forscher beschäftigten, waren v.a. die, wie sehr das Lesen und das Schreiben die Augen- sowie die Hand-, Arm- und Rückenmuskulatur beanspruchten und dementsprechend ermüdeten und wie sich die muskuläre Belastung reduzieren ließe.
43 Schenk, Zur Aetiologie, S. 14. 44 Vgl. bsp. Adolf Lorenz: Die heutige Schulbankfrage. Vorschläge zur Reform des hygienischen Schulsitzens, Wien 1888; Wilhelm Ost: Die Frage der Schulhygiene in der Stadt Bern. Im Auftrage der städtischen Polizeidirektion in Bern zusammengestellt nach den Verhandlungen der hiefür gebildeten Sektionen, Bern 1889. 45 Vgl. Hofmann, Ärztliche Macht, S. 97–99. 46 Zum Lesen vgl. bsp. auch Christian Kassung: Buchstabe, Wort, Schrift. Der Blick des Lesens, in: Christian Kassung/Thomas Macho (Hg.): Kulturtechniken der Synchronisation, München 2013, S. 287–306; zum Schreiben vgl. bsp. J[akob] Gysin: Die Schriftverhältnisse der Schulen des Kantons Basel-Stadt, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 17 (1916), S. 192–268.
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In Bezug auf das Lesen wurde v.a. erforscht, wie stark verschiedene Druckschriften respektive Schriftgrößen die Augen beanspruchten. Ein erster Faktor, der als Maßstab für die Untersuchung des Lesens diente, war die Anzahl der Augenbewegungen, welche das Lesen eines Textes verursachte. Entgegen der subjektiven Wahrnehmung ist das Lesen eines Textes nicht mit einer kontinuierlichen Augenbewegung von links nach rechts verbunden. Das Auge bewegt sich vielmehr mit schnellen ruckartigen Bewegungen, Sakkaden (saccades) genannt. Diese Sakkaden zu messen, erwies sich als besonders schwierig. Das menschliche Auge ist ein sehr empfindliches Organ, was die Anwendung von sogenannten Selbstschreibe-Apparaten, wie etwa dem oben erwähnten Thoracographen, der zur Vermessung von Skoliosen zum Einsatz kam, erheblich erschwerte. Dennoch wurden entsprechende Versuche unternommen. Der Amerikaner Edward Burke Huey (1870–1913) entwickelte einen Apparat, der direkt auf das Auge der Probanden appliziert wurde – allerdings musste das Auge zuerst mit etwas Holocain oder Kokain unempfindlich gemacht werden.47 Die Manipulationen, die Huey an den Augen seiner Probanden vornahm, waren beträchtlich, und es war deshalb zweifelhaft, ob seine Resultate wirklich die Augenbewegungen beim ‚normalen‘ Lesen wiedergaben. Eine andere Möglichkeit, die Sakkaden zu zählen, bestand darin, den Probanden beim Lesen zuzusehen.48 Am exaktesten erwies sich eine Methode, bei der die Muskelbewegungen der Augen akustisch gemessen wurden. Die Bewegungen der Augenmuskeln verursachen ein Geräusch, das mittels einer ausgeklügelten Gerätschaft hörbar gemacht werden konnte.49 Der zweite Faktor, der als Maßstab für die Untersuchung des Lesens diente, war die Zeit, die das Lesen eines bestimmten Textes beanspruchte. Zur Messung der Lesezeit respektive -geschwindigkeit wurde oft ein Tachistograph oder Tachistoskop genannter Apparat verwendet. Dieses Gerät präsentierte den Probanden eine Anzahl Buchstaben oder Wörter für eine sehr kurze Zeit. Anhand der Anzahl der Buchstaben oder Wörter, die in dieser Zeit gelesen werden konnten, ließ sich die Leseleistung respektive die Lesegeschwindigkeit ableiten. Mithilfe des Tachistographs wurde beispielsweise der Beweis erbracht, dass die Zeit, die eine Person benötigt, um ein bestimmtes Wort zu lesen, viel kürzer ist als die Zeit, die dieselbe Person benötigt, um die einzelnen Buchstaben dieses Wortes zu lesen.50 Während in den frankophonen und anglophonen Staaten die Untersuchung der Lesegeschwindigkeit und der Augenbewegungen v.a. darauf ausgerichtet war, herauszufinden, wie Lesetexte beschaffen sein mussten (d.h. Größe der Lettern, Zeilenabstand, Druckqualität, verwendetes Papier etc.),51 um ein möglichst optimales Leseergebnis zu ermöglichen, drehten sich die Diskussionen im deutschsprachigen Raum vorrangig darum, welche Schrift – die gotische (Fraktur) oder die lateinische 47 48 49 50
Edmund Burke Huey: The Psychology and Pedagogy of Reading, New York 1908, S. 25. Javal, Physiologie, S. 129. Ebd.; vgl. dazu auch Kassung, Buchstabe. Vgl. Arthur Wreschner: Das psychologische Experiment im Dienste der Sprachforschung, in: Schweizerische Lehrerzeitung 53 (1908), S. 132f. 51 Vgl. bsp. Javal, Physiologie, S. 197–233; H[ermann] Cohn/R[obert] Rübencamp: Wie sollen Bücher und Zeitungen gedruckt werden? Braunschweig 1903.
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(Antiqua) – leichter zu lesen sei.52 Die Auswertung der Resultate einer an der Universität Kiel unternommenen Studie ergab beispielsweise, dass das Lesen einer Zeile eines in Fraktur gedruckten Buches durchschnittlich fünf Sakkaden verursache. Dieselbe Zeile in Antiqua gedruckt dagegen verursache sieben Sakkaden. Auf ein Buch von 100 Seiten hochgerechnet, habe der lateinische Druck 7000 zusätzliche Augenbewegungen zur Folge, was zu einer erheblich stärkeren Ermüdung des Auges führe, stellten die Autoren der Studie fest.53 Andere Untersuchungen, beispielsweise diejenige des Zürchers Oskar Messmer (1878–1950), kamen zu gegenteiligen Resultaten. Messmers Probanden, die unterschiedlichen Alters waren, mussten inhaltsgleiche Texte, die einmal in Antiqua und einmal in Fraktur gedruckt waren, vorwärts und rückwärts lesen. Dabei stellte Messmer fest, dass nicht der Druck in Fraktur, sondern derjenige in Antiqua tendenziell schneller gelesen werde.54 Die sich widersprechenden Resultate dieser Studien nährten schließlich den Verdacht, dass die Probanden diejenige Schrift besser lesen konnten, mit der sie vertrauter waren – und das war in vielen Fällen diejenige Schrift, die sie in der Schule zuerst gelernt hatten respektive der im Unterricht mehr Zeit gewidmet worden war.55 Wie das Lesen war auch das Schreiben ein vielbeachteter Untersuchungsgegenstand. Neben der Schreib- respektive der Sitzhaltung wurden in diesem Zusammenhang v.a. die Lage des Heftes auf dem Pult, der Winkel der Schrift (Schrägoder Steilschrift) und im deutschsprachigen Raum – analog zur Frage der Druckschrift – die Handschrift, Rundschrift (Antiqua) oder Spitzschrift (deutsche Kurrent), untersucht.56 Bei diesen Untersuchungen ging es insbesondere um die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler am besten Sitzen und Schreiben würden, damit ihnen aus dieser Tätigkeit keine gesundheitlichen Schäden (Kurzsichtigkeit und Skoliose) erwachsen würden. Als ein Beispiel unter vielen sei hier eine Studie des Mitbegründers des Orthopädischen Instituts in Zürich, Wilhelm Schulthess (1855– 1917), angeführt. Schulthess hatte in den 1890er Jahren in Zürich eine Untersuchung mit Schulkindern durchgeführt, um herauszufinden, „in welcher Art die Schrift auf die Körperhaltung einwirkt“.57 Als „wesentliche Punkte“ hatte er „die 52 Vgl. E[mil] Villiger: Schule und Antiqua, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 16 (1915), S. 56–62. 53 D.: Das pädagogische Ausland. Schulnachrichten. Deutsche oder lateinische Schrift, in: Schweizerische Lehrerzeitung 60 (1915), S. 256. 54 Oskar Messmer: Zur Psychologie des Lesens bei Kindern und Erwachsenen, Leipzig 1903, S. 87. 55 In Messmers Untersuchung lässt sich dies auch erkennen. Seine jungen Probanden, die in der Schule die Antiqua gelernt hatten, lasen diese Schrift schneller. Ältere Probanden, die besser mit der Fraktur vertraut waren, lasen diese leichter. Messmer selbst wies diesem Befund allerdings keine große Bedeutung zu (vgl. Messmer: Zur Psychologie, S. 86f.). 56 Vgl. bsp. Silvia Hartmann: Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941, Frankfurt a.M. 1998; F[riedrich] Erismann: Über Heftlage und Schriftrichtung, in: Jahrbuch der schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 8 (1907), S. 229–258; Karl Führer: Über Heftlage und Schriftrichtung, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 1 (1903), S. 49–54. 57 Henchoz, Rapport, S. 158.
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Heftdrehung, die Verschiebung des Heftes nach der Seite und die mehr oder weniger damit im Zusammenhange stehende Richtung der Grundstriche ins Auge gefasst“ und „die Drehungen des Kopfes und die Drehungen des Rumpfes im Verhältnis zur Verschiebung des Heftes“ auf dem Pult analysiert.58 Dabei war er zum Ergebnis gelangt, „dass die Steilschrift eine weitaus bessere Körperhaltung gestatte als die Schrägschrift“.59 Während der Diskurs um das ‚normale‘ Sehen, das ‚richtige‘ Sitzen und das ‚müheloseste‘ Lesen von Ärzten bestimmt wurde, meldeten sich in der Frage des ‚richtigen‘ Schreibens auch Lehrpersonen zu Wort. Johann Jacob Grob, Lehrer und Schulbankerfinder aus Erlenbach bei Zürich, beteiligte sich beispielsweise mehrfach an dieser Debatte. Er publizierte u.a. 1903 in den Blättern für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz einen Artikel mit dem Titel Über Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit, in dem er sich zur Skoliose und Kurzsichtigkeit im Zusammenhang mit dem Schreiben in der Schule äußerte.60 Allerdings sah sich der Zürcher Augenarzt Emil Ritzmann (1847–1930) umgehend dazu genötigt, den Beitrag von Grob zu berichtigen.61 Im Gegensatz zu den Lehrpersonen, die ihre Aussagen meist auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen im Unterricht abstützten und deren Experimente – sofern sie überhaupt solche anstellten – wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügen konnten, waren die Ärzte darauf bedacht ihre Erkenntnisse aus der Analyse von experimentell erhobenen Daten zu gewinnen. Die Fragen nach dem ‚mühelosen‘ Lesen und dem ‚richtigen‘ Schreiben offenbarten aber auch die Grenzen des ärztlich-wissenschaftlichen Einflusses auf die Schule. Damit wurden gleichzeitig die Grenzen der Erfassbarkeit ‚des Schulkindes‘ durch die Statistik deutlich. Insbesondere in Deutschland und in der Schweiz zeigt sich dies an der ‚Schriftfrage‘, also an der Frage, ob die Antiqua oder die Fraktur als ‚Schulschrift‘ verwendet werden sollte.62 Diese Frage, mit der sich viele Wissenschaftler, Lehrpersonen und Laien beschäftigten und die sie nicht zuletzt mit 58 Ebd. 59 Ebd., S. 164. 60 Vgl. J[ohann Jacob] Grob: Über Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 1 (1903), S. 85–94. 61 Vgl. E[mil] Ritzmann: Über Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit. Beitrag zur Richtigstellung des Aufsatzes von J[ohann Jacob] Grob, Lehrer, Erlenbach, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 1 (1903), S. 97–101. 62 Zu dieser Thematik vgl. bsp. Peter Bain/Paul Shaw (Hg.): Blackletter. Type and National Identity, New York 1998; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000; Jürgen F. Schopp: Typographische Schrift als Mittel nationaler Identifikation, in: Eckhard Höfer/ Hartmut Schröder/Roland Wittmann (Hg.): Valami más. Beiträge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums ‚Zeichenhafte Aspekte der Veränderung‘, Frankfurt a.M. 2002, S. 95–126; Jürgen Spitzmüller: Floating ideologies. Metamorphoses of graphic „Germanness“, in: Alexandra Jaffe/Jannis Androutsopoulos/Mark Sebba/Sally Johnson (Hg.): Orthography as Social Action. Scripts, Spelling, Identity and Power, Boston 2012, S. 255–288; Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung, Wiesbaden 1999. 62 Vgl. Spitzmüller, Floating ideologies, S. 268.
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Lukas Boser / Michèle Hofmann
Hilfe der Statistik zu beantworten suchten, war schlussendlich eine politische. „Beibehaltung nationaler Eigenart haben die einen im Auge, während den anderen der Zusammenschluss der Völker im Vordergrund steht“, so fasste ein unbekannter Autor in der Schweizerischen Lehrerzeitung die Problematik 1913 zusammen.63 Und auch der Gründer des Genfer Instituts Jean-Jacques Rousseau und bekannte Vertreter der experimentellen Pädagogik, Edouard Claparède (1873–1940), gestand 1915 ein, dass die ‚Schriftfrage‘ nach einer politischen Entscheidung verlangte, die er auch gleich mitlieferte: „Il serait très important, au point de vue national, que la Suisse renonce définitivement à l’écriture gothique, et adopte pour toute sa production littéraire, et pour ses journaux, l’écriture latine.“64 FAZIT Am Ende des 20. Jahrhunderts, das in Anlehnung an Ellen Keys berühmtes gleichnamiges Buch als ‚Jahrhundert des Kindes‘ gilt, „scheint das gesellschaftliche Projekt ‚Kindheit‘ nahezu abgeschlossen und das pädagogische Konstrukt ‚Kind‘ bis ins letzte Detail wissenschaftlich extensiv vermessen zu sein“,65 schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Christa Berg im Beitrag Kind im Historischen Wörterbuch der Pädagogik. Wir haben zu zeigen versucht, dass zumindest in Bezug auf das Schulkind, diese Vermessungen ihren Gegenstand nicht nur beschrieben, sondern auch hervorbrachten respektive formten. Alain Desrosières hält in seinem Buch Die Politik der großen Zahlen fest, das Ziel der Statistik bestehe darin, „die Vielfalt der Situationen zu reduzieren und deren zusammenfassende Beschreibung zu liefern“.66 Dabei können auch Strukturen, Charakteristiken, Muster und Eigenschaften sichtbar werden, die am Einzelfall nicht zu erkennen gewesen wären. Die Statistik liefert aber nicht ‚nur‘ ein (vereinfachtes) Abbild oder eine Erklärung der Dinge, wie sie ‚wirklich‘ sind, sie hat auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter. Durch die statistische Auswertung zehntausender Messwerte, die durch die Untersuchung von Schulkindern gewonnen worden waren, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass die Schule dafür verantwortlich sei, dass die Kinder ihre Sehkraft einbüßten und krumme Rücken bekämen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Schule als Verursacherin und nicht bloß als Ort des Auftretens der Krankheiten angesehen wurde. Obwohl es durchaus auch Stimmen gab, die andere
63 N.: Antiqua oder Fraktur? In: Schweizerische Lehrerzeitung 58 (1913), S. 74f. 64 „Aus nationalen Gründen wäre es sehr wichtig, dass die Schweiz definitiv auf die gotische Schrift verzichten und für die Produktion von Literatur und Zeitschriften einzig die lateinische Schrift verwenden würde.“ (Edouard Claparède zit. nach Schule und Antiqua [Referate anlässlich der Jahresversammlung der Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 1915 in Bad Schinznach], in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 16 (1915), S. 44–91, hier S. 68 – eigene Übersetzung) 65 Berg, Kind/Kindheit, S. 497. 66 Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg/New York 2005, S. 15.
Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben
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Gründe für Myopie und Skoliose vermuteten oder die an der Aussagekraft respektive der gängigen Interpretation der Statistiken zweifelten, gingen die meisten Ärzten von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Schulbesuch und dem Auftreten von Krankheiten aus, der genauer untersucht werden sollte, was weitere und noch detailliertere Untersuchungen an den Schulkindern erforderte. Als vermeintliche Ursachen der durch die Statistiken ‚sichtbar‘ gemachten ‚Schulkrankheiten‘ Myopie und Skoliose rückten die Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben in den Fokus der ärztlichen Forschungstätigkeit. Die in diesem Beitrag vorgestellten Ärzte sammelten eine große Zahl an Daten, die die Vorstellung davon, was ein ‚Schulkind‘ sei, veränderten. Durch die statistische Auswertung zehntausender Einzeluntersuchungen respektive zehntausender einzelner Zahlenwerte entstand ein überindividuelles Bild ‚des Schulkindes‘, das sieht, liest, sitzt und schreibt. Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben sind Tätigkeiten, die Kinder in der Schule – in mehr oder weniger großem zeitlichen Umfang – schon immer ausgeführt haben. Neu war nun, dass diese Tätigkeiten potentiell gefährlich waren, und zwar in der Schule. Der Begriff der ‚Schulkrankheit‘ bringt dies auf den Punkt. Myopie war nicht einfach eine ‚Lesekrankheit‘ und Skoliose nicht einfach eine ‚Sitzkrankheit‘, sondern es handelte sich dabei um ‚Schulkrankheiten‘. Bedroht von diesen Krankheiten war ‚das Schulkind‘, die Bedrohung ging von der Schule aus. In diesem Zusammenhang entstand ein neues Bild des Schulkindes. Dieses Bild speiste sich aus wissenschaftlich abgestützten Definitionen, was gutes oder schlechtes Sehen, ‚richtiges‘ oder ‚falsches‘ Sitzen und angestrengtes oder müheloses Lesen und Schreiben sei und es bildete die Grundlage zur Neugestaltung der Schule. So wurden etwa Schulbänke entwickelt, die eine ‚korrekte‘ Körperhaltung ermöglichen sollten, oder die Druckqualität der Schulbücher wurde verbessert, was die Augen der Kinder schonen sollte. Theodore Porter hat gezeigt, wie ertragreich die Erforschung des ‚Irrenwesens‘ im Zusammenhang mit einer Kulturgeschichte der Statistik ist.67 Wir sind der Meinung, dass die Schule (verstanden als Gesamtheit von Kindern, Lehrpersonen, Unterrichtsmaterialien, Schulgebäuden etc.) ein ebenso ergiebiges Untersuchungsfeld ist.
67 Vgl. Porter, Funny Numbers.
DER INTERNATIONALE WANDEL STATISTISCHER REPRÄSENTATIONEN DER ARBEITSWELT1 VOM NATIONALEN ZENSUS UM 1900 ZUR INTERNATIONALEN VERGLEICHBARKEIT IN DER INTERNATIONAL LABOUR ORGANIZATION (ILO) 1882–1938 Theresa Wobbe Statistiken machen extrem abstrakte soziale Tatbestände wie „Bevölkerung“, „Gesellschaft“, „Geschlecht“ oder „Ökonomie“ über räumliche und kulturelle Entfernungen hinweg fassbar und verleihen ihnen damit Sichtbarkeit. Am Beispiel der statistischen Kategorie der „Erwerbstätigkeit“ fragt der Beitrag, welche Deutungsmodelle von Arbeit dieser Klassifikation zugrunde liegen und was es braucht, um eine Vielfalt von Beschäftigungsarten überlokal miteinander kommensurabel zu machen. Zur Beantwortung wird im ersten Schritt die Etablierung der Kategorie „Erwerbsarbeit“ im deutschen Berufszensus um 1900 beleuchtet, um anschließend die Standardisierungsversuche der ILO Statistik (1919–1938) herauszuarbeiten. Statistics make abstract social facts comprehensible and give them visibility across spatial and cultural distances. The notions of population, society, gender or economy offer an example for this. With respect to the statistical category of “gainful occupation” it is asked, which interpretive concepts of work this category indicates, and what it takes to make a manifold of labour practices commensurate trans-locally. Towards an answering, the first section presents the establishing of “gainful occupation” within German statistics around 1900, the second one addresses the statistics of the International Labour Organization (1919–1938).
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Für die Unterstützung der Forschung zur Statistik und ILO danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Käte-Hamburger-Kolleg Work and Human Lifecycle in Global History (re:work) der Humboldt Universität zu Berlin während des Fellow Jahres 2014/2015. Der Fritz-Thyssen-Stiftung sei für die Finanzierung der Tagung The International Labour Organization as a producer of statistical knowledge, 25./26. February 2016 am Käthe Hamburger Kolleg gedankt. Für wertvolle Hinweise danke ich Martin Bemmann, Léa Renard und Daniel Speich.
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Theresa Wobbe
EINLEITUNG Statistiken machen extrem abstrakte soziale Tatbestände wie „Bevölkerung“, „Gesellschaft“, „Geschlecht“ oder „Ökonomie“ über räumliche und kulturelle Entfernungen hinweg fassbar. Auf diese Weise versuchen sie sichtbar zu machen, „was sich der direkten Erfahrung entzieht, und verleihen dem Sichtbargemachten gleichzeitig Faktizität“2 Mit der Statistik werden daher Wahrnehmungsmuster und Kategorien zur Verfügung gestellt, welche die Repräsentation der sozialen Welt organisieren. Diese Kategorien prägen die Art und Weise, wie Gesellschaft für uns erfahrbar wird, wie wir über unsere Nachbarn und über uns selbst denken, was wir als Arbeit und was wir als Freizeit betrachten. Gemeinsam mit der Faktizität verleiht die Statistik dem Sichtbargemachten auch Neutralität. Karl Marx benutzte etwa ausgiebig die Daten englischer Fabrikinspektoren, ohne zu ahnen, wie die statistische Bürokratie einschließlich der Versicherungstechnologie den Staat verändern würde3. Diese strukturwirksame Qualität der Statistik verdeutlicht Ian Hacking mit seiner Frage, „who had more effect on class consciousness Marx or authors of the official reports which created the classifications into which people came to recognize themselves?“.4 Im Folgenden möchte ich dieses Zusammenspiel von Darstellung und Herstellung anhand der statistischen Kategorie der Erwerbstätigkeit näher beleuchten. Die Einordnung der Gesamtbevölkerung in Beschäftigte und Nicht-Beschäftigte (occupied – unoccupied population) schien lange so selbstverständlich, dass sie erst in den letzten Jahrzehnten als ein untersuchungsbedürftiges Phänomen in der Geschichtswissenschaft und der Soziologie behandelt wird. Die jüngere Forschung interessiert sich für die Statistik nicht primär als Datenquelle, vielmehr interessiert sie sich aus einer wissenssoziologischen Perspektive für die sozialen Bedingungen dieser Kategorien und Wahrnehmungsmuster.5 Diese Studien beschäftigen sich ebenfalls mit den Verwendungsweisen und –praktiken, die wiederum als Grundlage politischer und ökonomischer Entscheidungen dienen und vermittelt darüber in weitere Kommunikationsbereiche zirkulieren.6
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Bettina Heintz: Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in Internationalen Statistiken, 1948–2010, in: Cornelia Bohn/Arno Schubbach/Leon Wansleben (Hg.): Welterzeugung durch Bilder. Sonderband der Zeitschrift Soziale Systeme 18, Stuttgart 2012, S. 7. Ian Hacking: How should we do the History of Statistics?, in: I&C: Governing the Present 8 (1981), S. 15–26, S. 17. Ian Hacking: The Taming of Chance, Cambridge 1990, S. 3. Heintz: Welterzeugung; Christian Topalov: A revolution in representations of work. The emergence over the 19th century of the statistical category "occupied population" in France, Great Britain, and the United States, in: Revue française de sociologie 42(2001), S. 79–106; Theresa Wobbe: Making up people. Berufsstatistische Klassifikation, geschlechtliche Kategorisierung und wirtschaftliche Inklusion um 1900 in Deutschland, in: Zeitschrift für Soziologie 41, 1 (2012), 41–57. Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 1995.
Der internationale Wandel statistischer Repräsentationen der Arbeitswelt
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Am Beispiel der statistischen Kategorie der „Erwerbstätigkeit“ fragt der Beitrag, welche Deutungsmodelle von Arbeit dieser Klassifikation zugrunde liegen und was es braucht, um eine Vielfalt von Beschäftigungsarten überlokal miteinander kommensurabel zu machen. Im ersten Schritt werden diese Kategorisierungsprozesse in den historischen Zusammenhang der Herausbildung nationaler Arbeitsmärkte gestellt und es wird gezeigt, welche gesellschaftlichen Unterscheidungen zwischen Einwohnern eines Landes damit hervorgebracht werden. Wir werden sehen, dass sich die Bestimmung der Leitdifferenz aktive und nicht-aktive Bevölkerung (population active – inactive) 7 für die Statistiker als ein mühsames Unternehmen darstellte. Die Klassifikationsschwierigkeiten entlang der strikt marktorientierten Erwerbsarbeit werden an der Unterscheidung von Markt und Haushalt anschaulich, die wiederum einen großen Teil der Arbeitstätigkeiten von Frauen betrifft. Die Unterscheidung in aktive und nicht-aktive Bevölkerung wurde trotz dieser Schwierigkeiten um 1900 durchgesetzt.8 Die Versuche der zwischenstaatlichen Standardisierung statistischer Messverfahren und Kategorien waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht von Erfolg gekrönt.9 Vor diesem Hintergrund wird im zweiten Schritt nach der internationalen Vereinheitlichung des Begriffs der Erwerbsarbeit im frühen 20. Jahrhundert gefragt. Die International Labour Organization (ILO) spielt nach dem ersten Weltkrieg hierbei eine wichtige Rolle, da es ihre Aufgabe ist, die Vergleichbarkeit von Arbeitsstatistiken voran zu treiben.10 Bezogen auf die Zwischenkriegszeit stellt sich die Frage, welches Konzept von Arbeit es für einen internationalen Standard erforderte, der die verschiedenen nationalen Definitionen überwölbte. Im Rahmen der Kulturgeschichte der Statistik sollen diese Überlegungen vor allem zu zwei Fragen beitragen. Zum einen betrifft dies die historisch-kontingenten Bedingungen der statistischen Beobachtung der Bevölkerung unter dem Gesichtspunkt von Lebensunterhalt, Arbeit und Beschäftigung. Die Beobachtung der so genannten Gesamtbevölkerung als Beschäftigte und Nicht-Beschäftigte, die erst im 7
Ich verwende im Folgenden beide Begriffe synonym. Im Französischen ist die Bezeichnung population active und population inactive bzw. im Englischen die der occupied und un-occupied population geläufig. 8 Margo Anderson Conk: Occupational Classification in the United States Census, 1870–1940, in: Journal of Interdisciplinary History 9(1978), S. 111–130; Margo Anderson: The History of Women and the History of Statistics, in: Journal of Women’s History 4(1992), S.14–36; Catherine Hakim: Census Reports as Documentary Evidence. The Census Commentaries 1801– 1951, in: The Sociological Review 28(1980), S. 551–580; Silvana Patriarca: Gender Trouble. Frauen und die Herstellung der aktiven Bevölkerung Italiens 1861–1936, in: Theresa Wobbe/Isabelle Berrebi-Hoffmann/Michel Lallement (Hg.), Die gesellschaftliche Verortung des Geschlechts. Diskurse der Differenz in der deutschen und französischen Soziologie um 1900, Frankfurt a.M. & New York 2011, S.212–237; Topalov, Revolution in Representations; Wobbe, Making up People. 9 Nico Randeraad: States and Statistics in the Nineteenth Century. Europe by Numbers, Manchester 2011; Nico Randeraad: The Internationl Statistical Congress (1853–1876). Knowledge Transfers and their Limits, in: European History Quaterly 41 (2011), S. 50–65. 10 Gerry Rodgers/Eddy Lee/Lee Swepston/Jasmien Van Daele: The International Labour Organization and the quest for social justice, 1919–2009, Geneva 2009, S. 19–20.
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Theresa Wobbe
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommt11, wird somit historisch-soziologisch kontextualisiert. Zum anderen behandelt der Beitrag Statistiken nicht als Datenquelle. Vielmehr soll der Blick auf statistische Kategorien als kulturelle Dokumente gelenkt werden, die sich wissenssoziologisch erschließen lassen.12 Hiermit wird es möglich, einen empirisch basierten Zugang zu den Voraussetzungen der Statistik als Wissensform zu schaffen, die einen – bislang noch unterschätzten – Anteil an der Verwissenschaftlichung des Sozialen hat.13 Wie Studien der Geschlechterforschung zeigen, sind die Schlüsselkonzepte der modernen Beschäftigungsstatistik gegenüber den Arbeitstätigkeiten von Frauen und Männern keineswegs blind. Die moderne Statistik der Arbeitswelt setzte sich vielmehr zusammen mit der strikten Trennung zwischen haushaltsbezogenen und marktbezogenen Bereichen durch14, zu deren Klassifizierung sie entscheidend beitrug. In dem Topos der „unproductive housewife“15manifestiert sich die geschlechtsdifferenzierende Dimension, die bis heute die Unterscheidungslinie zur marktorientierten Erwerbsarbeit darstellt. Statistische Kategorien – so ist im Folgenden das Argument – bilden für grenzüberschreitende und internationale Kommunikation ein konstitutives Prinzip. Denn mit ihrer formalen und objektivierenden Klassifikationsweise machen sie soziale Entitäten über kulturelle Unterschiede und räumliche Distanzen hinweg vergleichbar und tragen damit zu ihrer globalen Verknüpfung bei.16 DIE DURCHSETZUNG DER „ERWERBSTÄTIGKEIT“ ALS BESCHÄFTIGUNGSKLASSIFIKATION UM 1900 Als im frühen 19. Jahrhundert der Aufbau der amtlichen Statistik erfolgte, veränderte sich das Wissen vom Zählen und Messen wie auch die Organisation dieser Kenntnis17. So gehörte etwa zum Aufbau der nationalen Bevölkerungsstatistik zunächst der Wechsel vom Taufnamen zum bürgerlichen Namen, der Übergang von dem noch vage bestimmten Haushalt zum Individuum als Zähleinheit. Diese Umstellungen sollten sich über Jahrzehnte hinziehen. 11 Topalov, Revolution in Representations; Wobbe, Making up People. 12 Heintz, Welterzeugung. 13 Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22/2 (1996), S. 165–193; Daniel Speich: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013. 14 Giesela Bock/Barbara Duden: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1976, S. 118–199; Wobbe, Making up people. 15 Nancy Folbre: The unproductive housewife. Her evolution in nineteenth-century economic thought, in: Signs 16/3 (1991), S. 464. 16 Heintz, Welterzeugung; Wendy N. Espeland/Mitchell L. Stevens: Commensuration as a Social Process, in: Annual Review of Sociology 24 (1998), S. 401–436. 17 Ian Hacking: The taming of chance, Cambridge 1990; Theodore M. Porter: Trust in numbers. The pursuit of objectivity in science and public life, Princeton 1995.
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Die Herstellung von Komparabilität war für Statistiker daher auch um 1900 ausgesprochen mühevoll: Sie schlossen an ihre eigenen Unterscheidungen an, die sich – angesichts der faktischen Vielfalt von Arbeitspraktiken – nicht ohne weiteres umsetzen ließen. Aus der Studie von Michael Schneider über das Preußische Statistische Büro erfahren wir, wie groß die Abstimmungsprobleme zwischen den statistischen Ämtern der deutschen Staaten waren und wie weit die Zuordnungspraktiken auseinandergingen. Hierfür sind die Tätigkeiten in der Landwirtschaft ebenso aufschlussreich wie die an der Schnittstelle von Haushalt und Betrieb.18 Im späten 19. Jahrhundert versuchten die Statistiker die neue Dynamik von Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zu verstehen und in ihren eigenen Sinnkontext zu übersetzen. Sie führten die Gewerbe nicht mehr in Listen auf. Sie begannen vielmehr die Struktur der Gesamtbevölkerung unter dem Gesichtspunkt des Beschäftigungsverhältnisses eines jeden einzelnen Individuums zu erfassen. Mit dem Beobachtungsmuster „Erwerbstätigkeit“ entwarfen sie ein zunehmend abstrakteres und akkurateres Bild der arbeitenden Bevölkerung.19 Arbeit meinte nun die einzige Tätigkeit eines Individuums, nämlich die regelmäßige, marktbezogene „Erwerbstätigkeit“ und bezahlte Beschäftigung. Damit entstand ebenfalls die Vorstellung des individuellen Verdieners, der die anderen Familienmitglieder unterstützt20. Die Umstellung zur statistischen Kategorie der „Erwerbstätigkeit“ brachte somit einen grundlegenden Wandel der Beobachtung und der Repräsentation von Arbeit und Bevölkerung mit sich. Wie in Frankreich, Großbritannien, Italien oder den USA21, führten die Statistiker eine Leitunterscheidung ein, mit der sie erstmals alle Einwohner im Verhältnis zur marktbezogenen Beschäftigung erfassen wollten. Die Berufszählung sollte „die Zugehörigkeit aller Personen als Erwerbende oder Versorger und als Angehörige oder Versorgte“ ermitteln.22 Gefragt wurde, ob „die einzelnen Personen unmittelbar oder mittelbar zu den verschiedenen Berufsarten und Berufsstellungen (Berufen) gehören“23. Jede Person war demnach in ihrem Verhältnis zur Erwerbsarbeit zu erfassen. Die Vorschrift für die Bearbeiter des deutschen Berufszensus lautete 1882: „Zu den ‚erwerbstätigen 18 Michael Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M./New York 2013, S. 417–422; Wobbe, Making up People. 19 Anderson Conk, Occupational Classification; Anderson, The History of Women; Hakim, Census Reports as Documentary Evidence; Edward Higgs; Women, occupations and work in the nineteenth century censuses, in: History Workshop 23/2 (1987), S. 71; Patriarca, Gender Trouble; Schneider, Wissensproduktion; Raf Vanderstraeten: Statistische Klassifikationsschemata. Zur Entstehung einer individuellen Berufsstatistik im 19. Jahrhundert, in: Theresa Wobbe/Isabelle Berrebi-Hoffmann/Michel Lallement (Hg.), Die gesellschaftliche Verortung des Geschlechts. Diskurse der Differenz in der deutschen und französischen Soziologie um 1900, Frankfurt a.M./New York 2011, S. 183–211; Wobbe, Making up People. 20 Hakim, Census Reports as Documentary Evidence, S. 554. 21 Anderson, The History of Women; Topalov, Revolution in Representations; Hakim, Census Reports as Documentary Evidence; Patriarca, Gender trouble; Wobbe, Making up People. 22 Kaiserliches Statistisches Amt: Die Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 2. Berufsstatistik nach der allgemeinen Berufszählung vom 5. Juni 1882. Berlin: von Puttkammer & Mühlbrecht 1884, 8*. 23 Ebd., 13*.
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Personen’ sind zu rechnen: alle Personen, welche mit ihrer Hauptbeschäftigung erwerbend (...) tätig sind“24. Die Nicht-Erwerbstätigen wurden aus dieser Sicht vom erwerbstätigen Haushaltsvorstand abhängig und verfügten damit über keinen eigenen Status. Erwerbstätige verdienten dagegen für sich und die Haushaltsmitglieder die Mittel zum Unterhalt. Es wurden drei Kernkategorien gebildet: Erwerbstätige (im Hauptberuf), Dienende für häusliche Dienste (im Haushalt der Herrschaft lebend) und Angehörige (Haushaltsmitglieder, die nicht hauptberuflich oder nur nebenberuflich tätig sind). Zusätzlich wurde eine vierte Kategorie berufslose Selbständige25 eingeführt, in der erwerbslose Personen zusammengefasst wurden. Die Kategorie Erwerbstätige fungierte als Schlüsselbegriff; als Versorger ist ihre „hauptsächliche Tätigkeit auf den Erwerb gerichtet (Herv. i. O.)“26. Die Kategorien (Haupt-)Beruf und Erwerbstätige wurden in der Besprechung der Bände oft synonym verwendet.27 1897 fand die Erweiterung dieser Bestimmung um die Kategorie der Lebensstellung statt.28 In die Haushaltslisten war daher als Hauptberuf derjenige einzutragen, „auf dem hauptsächlich die Lebensstellung beruht und von dem der Erwerb oder dessen größter Teil herrührt“29. Der Begriff Erwerbstätige wurde synonym mit dem des Versorgers verwendet. Demgegenüber umfasste die Zuschreibung der Angehörigen diejenigen, die einem Haushalt angehören und „in der Hauswirtschaft unterhalten werden, ohne selbst überhaupt oder mehr als nebensächlich erwerbend tätig zu sein noch bei ihrer Haushaltung in Dienst zu stehen, noch selbständig von eigenem Vermögen, Renten oder Pensionen (...) zu leben. In der Hauptsache besteht diese Kategorie daher aus Hausfrauen, Kindern und arbeitsunfähigen Familienmitgliedern“30.
Die Ausführungen machen die Kontrastbildung und Hierarchisierung von Hauptund Nebenberuf, Selbstständigkeit und Abhängigkeit in Verbindung mit Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit anschaulich. Den Maßstab bildet nicht eine nützliche oder respektvolle Arbeit, sondern die ökonomische Dimension zusammen mit den Kriterien Entgelt, Regelmäßigkeit und Marktbezug. Die Angehörigen zählten somit 24 25 26 27
Ebd., 182*. Ebd., 14* Ebd., 13, 165*, 168*. Vgl. auch die Vorschriften an die Bearbeiter, die das Urmaterial zusammenstellen: „Jede Person ist einmal und auch nur einmal in die Übersicht unter ‚die Bevölkerung nach dem Hauptberuf‘ (...) einzutragen. (...). Zu den ‚erwerbstätigen Personen‘ sind zu rechnen: alle Personen, welche mit ihrer Hauptbeschäftigung erwerbend (...) tätig sind“ (Kaiserliches Statistisches Amt 1884: 182*). 28 In der Besprechung der Bände werden diese Begriffe nicht hinreichend unterschieden. (Willms 1980: 17f.*; 24*f.). 29 Kaiserliches Statistisches Amt: Die Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 102. Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, Berufsstatistik für das Reich im Ganzen, Erster Theil. Berlin: von Puttkammer & Mühlbrecht 1897, 3*; Kaiserliches Statistisches Amt: Die Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 202. Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907, Berufsstatistik, Abteilung I, Einführung. Die Reichsbevölkerung nach Haupt- und Nebenberuf. Berlin: von Puttkammer & Mühlbrecht 1909, 3*. 30 Kaiserliches Statistisches Amt: Die Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 2, 13*f.
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wie auch die „Dienenden“ zu den „passiven“ und wirtschaftlich abhängigen Personen, die sich nicht selbst versorgen können und dem Ehegatten bzw. dem Haushaltsvorstand unterstehen. Im Zuge dieser Reklassifizierung wurde der Haushalt durch die Abgrenzung zur erwerbswirtschaftlichen Komponente des Betriebs auf die Dimension der familiären Verbrauchsgemeinschaft eingeengt.31 Gleichzeitig wurde die „Erwerbstätigkeit“ indirekt in Form der Unterhaltspflicht an den Haushalt gebunden, wodurch Ehefrauen, Kinder und Alte von dem erwerbstätigen Ehemann bzw. Haushaltsvorstand abhängig wurden. Diejenigen, „die nicht durch Arbeitseinkommen sichtbar zum Budget beitrugen, erscheinen als passive Konsumenten dieses Einkommens, und ihr Lebensunterhalt wird abhängig von der Solidarität der ‚aktiven’ Familienmitglieder“32. Die numerische Darstellungsweise der Statistik verschafft dieser Einteilung eine spezifische Sichtbarkeit und Erkennbarkeit. Sie setzt Individuen anhand der Vergleichsdimension „Erwerbstätigkeit“ unter einem neuen Gesichtspunkt miteinander in Beziehung und erzeugt „ein Relationsgefüge, das sich in Form einer Tabelle synoptisch darstellen lässt“33. Die Ergebnisse des Berufszensus von 1882 besagten, dass rund ein Drittel der Bevölkerung als Erwerbstätige 61,5 Prozent als Nicht-Erwerbstätigen gegenübersteht und diese zu versorgen hat34. Vormals innerhalb des Haushalts nicht präzise voneinander unterschiedene Individuen wurden durch die Zuschreibung zu Angehörigen (wie auch zu Dienenden) jeweils unter einer gemeinsamen Kategorie subsumiert, die ihre Ähnlichkeit in Bezug auf wirtschaftliche Abhängigkeit hervorhob. Die Statistik machte ihre Umschreibung als Gruppe numerisch sichtbar und sie als unterhaltsbedürftige Gruppe erkennbar. Diese vergleichende Gegenüberstellung bringt die Vorstellung von einer Über- oder Unterrepräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen als Aktive und Passive überhaupt erst zur Darstellung und lässt sich auf einen Blick erfassen. Nicht zuletzt diese zahlenförmige Repräsentation trug dazu bei, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit verheirateter Frauen ohne bezahlte Beschäftigung um 1900 den Status einer wissenschaftlichen Tatsache erlangen konnte.35
31 Dieter Schwab: Artikel „Familie“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 253–301: Auf das Ausscheiden der erwerbswirtschaftlichen Komponente aus dem Familienbegriff verweist auch, „dass sich seit Ende des 18. Jahrhunderts allmählich die Vokabeln „Hauswesen“ und „Haushalt“, die zur Bezeichnung der familiären Wirtschaftseinheit bis heute lebendig geblieben sind, auf das Bedeutungsfeld der Konsumgemeinschaft beschränken“. Die Kategorie Frau wird von der Gehilfin des Mannes zur „Leiterin“ des Haushalts verschoben, indem sie den täglichen Verbrauch verwaltet. 32 Angelika Willms: Die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit im Deutschen Reich. Eine historisch-soziologische Studie, Nürnberg 1980, S. 26. 33 Heintz, Welterzeugung, S. 8. 34 Kaiserliches Statistisches Amt, Die Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 2, 14*. 35 Folbre, Unproductive housewife, S. 482.
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Im späten 19. Jahrhundert setzte sich in der Statistik eine ökonomisch angeleitete Charakterisierung der Haushaltsarbeit durch mit der diese als unproduktiv eingestuft wurde. Gleichzeitig wurde der Haushalt als moralischer Bereich im Kontrast zum ökonomisch-nützlichen des Markts stilisiert. Wie Nancy Folbre heraushebt, waren hierbei verschiedene Faktoren und Verhaltenserwartungen wirksam. Dazu zählten ein „new enthusiasm for female domesticity“36 von Seiten der Frauenbewegung, aber auch der Strukturwandel des Haushalts und der Zuwachs bezahlter häuslicher Dienstleistungen. Gleichzeitig sei die Bedeutung von Ökonomen und Statistikern für diese Attribution, „that complemented the idealization of family life and man’s demands for a family wage“37, nicht zu unterschätzen. Die Umstellung von der Zählung des Haushalts zur Zählung von Individuen beinhaltet, dass zunehmend mehr Tätigkeiten im Haushalt unter dem Gesichtspunkt ihrer Marktlichkeit beobachtet und die Individuen entsprechend gezählt wurden. In diesem Zusammenhang sollte die Arbeit von Frauen im Familienbetrieb eine spezifische Anforderung an die statistische Nomenklatur stellen. Denn diese Frauen bewegen sich zwischen den Bereichen von Haushalt und Markt hin und her, die die Beschäftigungsstatistik um 1900 strikt unterschied. In den nationalen Taxonomien wurden auf diese kognitive und normative Herausforderung unterschiedliche Antworten gegeben. Die deutschen, englischen, italienischen, österreichischen und USamerikanischen Statistiker versahen diese Tätigkeit mit der statistischen Kategorie Mithelfende Familienangehörige bzw. Family worker, während die französischen Statistiker keine eigene Kategorie schufen und die Tätigkeit z.B. in den Status des Ehegatten inkorporierten.38 Wie das deutsche Beispiel zeigt, war den Statistikern klar, dass die Partizipation im Familienbetrieb volkswirtschaftlich relevant war und daher als Beschäftigung zu gelten hatte. Zugleich waren sie mit einer Arbeitstätigkeit konfrontiert, die das Prinzip der Trennung von Haushalt und Markt dementierte und die statistisch festgelegten Kriterien wie Bezahlung oder Hauptberuf nicht erfüllte. Denn als Ehefrauen wurden diese Personen im Haushalt und damit als Angehörige klassifiziert, während sie im handwerklichen oder landwirtschaftlichen Familienbetrieb unbezahlt zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen beitrugen. Gleichwohl nahmen die deutschen Statistiker die Kategorie Mithelfende Familienangehörige in den Berufszensus auf.
36 Dies., S. 464; vgl. Bock/Duden, Arbeit aus Liebe. 37 Ebd. 38 Christian Topalov: L’individu comme convention. Le cas des statistiques professionnelles du XIXe siècle en France, en Grande-Bretagne et aux Etats-Unis, Genèses, 31 (1999), S. 48–75; Olivier Giraud: Making Sense of the Women’s Labour in the Context of the French Family Business: From Domestic Labour to Recognized, in: Olivier Giraud/Theresa Wobbe/Isabelle Berrebi-Hoffmann/Léa Renard (Hg.), Arguing about categories, New York, S. 13–29 (in der Begutachtung); Léa Renard: The grey zones between work and non-work. Statistical and social placing of „family workers“ in Germany 1880–2010, in: ebd., S. 30–46; Michel-Pierre Chélini: L’évolution des catégories socioprofessionnelles dans l´entreprise en France et en Allemagne depuis 1850; Approche comparée, Working paper IRHIS, Université Lille 3, 2008.
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Eine weitere Komplikation lag in der Frage, wo diese Tätigkeit in der Taxonomie der beruflichen Stellung (occupational status) zu platzieren sei. In der ersten Berufszählung 1882 wurde sie unter den „Selbstständigen“ in der Kategorie der „Arbeiter“ (sonstige Gehilfen, Lehrlinge, Fabrik-, Lohn- und Tagearbeiter, mithelfende Familienangehörige) zusammengefasst. Es kamen aber immer mehr kritische Stimmen auf, dass es sich hier um Ehefrauen von Selbstständigen des Mittelstands handelte, die sich nicht als Erwerbstätige wie Arbeiter klassifizieren ließen. Vor diesem Hintergrund wurde die Kategorie Mithelfende Familienangehörige 1925 als eine eigene Kategorie in die Taxonomie der beruflichen Stellung eingeführt. Rudolf Meerwarth, Mitglied des Preußischen Statistischen Landesamts, argumentierte, sie „vom Standpunkt der Gliederung nach Schichten und Gruppen nicht zur Arbeiterschaft zu rechnen“, sondern zu „der Gruppe, welcher der Haushaltungsvorstand (vor allem Bauer oder Handwerker) angehört “39. Aus dieser Sicht sozialen Schichtung schlug Gerhard Fürst, Referent im Statistischen Reichsamt, daher vor, die Mithelfenden Familienangehörigen als eine eigenständige Kategorie zu schaffen, um „weder die Gruppe der Selbstständigen noch die Arbeitnehmergruppe durch die Zurechnung der Mithelfenden mit einem fremdartigen Einschlag zu belasten“.40 Wie auch in Frankreich (1896), Großbritannien (1901) und den USA (1870) stellte die Einführung der Erwerbstätigkeit in Deutschland eine „revolution in the representations of work“41 dar. Trotz der unterschiedlichen Wege und Zeiten, die es zur Etablierung dieser Kategorie brauchte war das Ergebnis dasselbe: Nun galten nur noch die bezahlte Arbeit und ihre Marktlichkeit als Beschäftigung, nützliche und handwerkliche Tätigkeiten allein reichten nicht mehr aus, sie mussten auch als Produkt oder Dienstleistung zu verkaufen sein. Diese grundlegende Umwälzung betrifft auch und in besonderer Weise die Geschlechterdimension. Denn die statistische Einteilung von Arbeit in produktiv und nicht-produktiv bzw. aktiv und passiv hat der Durchsetzung des Konzepts der unproductive housewife und damit der Devaluation von Hausarbeit zusammen mit dem Modell des männlichen Familienernährers Vorschub geleistet42. Es ist festzuhalten, dass eine folgenreiche statistische Beschäftigungsklassifikation mit der Wende zum 20. Jahrhundert durchgesetzt wurde, während die Frage 39 Rudolf Meerwarth: Nationalökonomie und Statistik. Eine Einführung in die empirische Nationalökonomie. Handbuch der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Einzelbänden, 7. Band. Berlin 1925, S. 96; hierzu ausführlich Renard, The Grey Zones; Theresa Wobbe/Léa Renard: The category of ‘family workers’ in International Labour Organizations statistics (1930s1980s): A contribution to the study of globalized gendered boundaries between household and market, in: Journal of Global History 12 (2017), S. 340-360; Theresa Wobbe/Léa Renard/Katja Müller: Nationale und globale Deutungsmodelle des Geschlechts im arbeitsstatistischen sowie arbeitsrechtlichen Klassifikationssystem: Ein vergleichstheoretischer Beitrag (1882–1992), in: Soziale Welt 68 (2) (2017), S. 63–85. 40 Gerhard Fürst: Zur Methode der deutschen Berufsstatistik, in: Allgemeines Statistisches Archiv 19 (1929), S. 20f. 41 Topalov, Revolution in Representations. 42 Catherine Hakim: A century of change in occupational segregation 1891–1991, in: The Sociological Review 7 (1994), S. 435–454.
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der Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Tätigkeiten die Statistiker weiterhin vor praktische Probleme stellte. Denn die einmal von ihnen festgelegten Bauprinzipien und Leitdifferenzen bestimmten ihre künftigen Restriktionen43. Vor diesem Hintergrund soll im nächsten Teil die Frage diskutiert werden, welche Handlungsproblematik entstand, sobald die Kommensurabilität über nationale Kontexte hinaus international hergestellt werden sollte. Wie begegneten die Statistiker der ILO dieser Herausforderung? DIE VERSUCHE DER INTERNATIONALEN STANDARDISIERUNG IN DER ILO Die ILO wurde 1919 im Rahmen des Friedensvertrags von Versailles unter dem Dach des Völkerbundes als eine internationale Organisation auf dem Gebiet der Arbeit gegründet. Nach den militärischen Zerstörungen des 1. Weltkriegs, den damit verbundenen und daraus erfolgenden sozialen Umwälzungen hatte die ILO die Aufgabe der Friedenssicherung durch die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, was ihre Funktion als Revolutionsversicherung einschloss.44 Hiermit fand ebenfalls die Weichenstellung für eine neue Phase internationaler Organisationen statt45, denn der Völkerbund stellte nach dem Ersten Weltkrieg ein Forum für die Organisation transnationaler Probleme und für die Vernetzung transnationaler Expertise dar.46 Die ILO stellt bis heute keine übliche internationale Organisation dar, weil sie nach dem Prinzip der Dreigliedrigkeit (Tripartismus) strukturiert ist, d.h. die Regierungen der Mitgliedstaaten entsenden zwei Vertreter sowie jeweils eine Vertretung der Arbeitergeber und der Arbeitnehmer, die mit Stimmrecht ausgestattet sind.47 Aus diesem Grund geht die Organisationsform der ILO über die zwischenstaatliche Ebene der Mitgliedstaaten hinaus. Sie besteht somit aus zivilge-
43 Vanderstraeten, Statistische Klassifikationsschemata, S. 183–211, in: T. Wobbe, I. BerrebiHoffmann & M. Lallement (Hg.), Die gesellschaftliche Verortung des Geschlechts. Diskurse der Differenz in der deutschen und französischen Soziologie um 1900, Frankfurt a.M./New York 2011. 44 Sandrine Kott/Joelle Droux (Hg.): Globalizing social rights. The international Labour Organization and beyond, Geneva 2013; Maul: Menschenrechte, S. 43; Jasmien Van Daele/Magaly Rodríguez García/Geert Van Goethem/Marcel van der Linden (Hg.): ILO histories: essays on the International Labour Organization and its impact on the world during the twentieth century, Bern: 2010. 45 Akira Iriye: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley u.a 2002. 46 Antoine Vauchez: Transnationale Expertenfelder als schwache Felder. Der Entwurf des ersten Weltgerichtshofs und der Entstehung eines internationalen Expertentums, in: Berliner Journal für Soziologie, 24, 2, 2014, S. 201–226. 47 Der Vertrag von Versailles: Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten nebst dem Schlußprotokoll und der Vereinbarung betreffend die militärische Besetzung der Rheinlande. Amtlicher Text der Entente und amtliche deutsche Übertragung 1919. Auf Grund der endgültigen, neu durchgesehenen amtlichen Revision. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes, 2. Auflage, Berlin 1924, Art. 393.
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sellschaftlichen Akteuren, die „beyond the nation-state“ gesellschaftliche Perspektiven einbringen.48 Im Organisationsaufbau besteht die ILO aus dem Internationalen Arbeitsamt (IAA), dem Verwaltungsrat (Governing Body) als politisches Gremium und der jährlich tagenden International Labour Conference (ILC) mit der Vollversammlung des sogenannten Weltparlaments der Arbeit.49 Zu ihren Hauptaufgaben zählte (und zählt) seit 1919 die Generierung von Wissen zur internationalen Regulierung der Arbeitsbedingungen durch soziale Normen. Konkret umfasst dies arbeitsrechtlich die Ausarbeitung von Arbeitsstandards in Form internationaler Übereinkommen bzw. Konventionen und die Entwicklung international vergleichbarer Beschäftigungsstatistiken. Hierfür wurde sie mit spezifischen und neuartigen Kompetenzen ausgestattet. Die Heranziehung von Sachverständigen (technical experts)50 erlaubt es ihr, arbeitsbezogene Probleme unter der übergreifenden Leitidee der sozialen Gerechtigkeit behandeln zu können. Die ILO wurde somit zum „producer of knowledge and international social standards“51 an der Schnittstelle zwischen dem Nationalen und dem Internationalen. Im Rahmen des Völkerbunds wurde die statistische Expertise arbeitsteilig organisiert: Die „Economic and Financial Organization“ erhielt die Zuständigkeit für die Wirtschaftsstatistik, die ILO war mit dem „International Institute of Agriculture“ (IIA) für die Landwirtschafts- und Sozialstatistik zuständig.52 Die Ansiedlung der statistischen Zuständigkeit erfolgte im IAA wo auch die Vorbereitung der Arbeitskonferenzen (Konzipierung von Konventionen, Expertisen zu entsprechenden Themen), das Monitoring der Konferenzbeschlüsse und die Etablierung der Forschungskompetenz rund um die sozialen Probleme der Arbeitswelt stattfanden. Mit der 1923 gegründeten International Conference of Labour Statisticians (ICLS) verfügte das IAA zudem über eine weitere Expertise für die Klassifizierung von Arbeit, die heute ihr statistisches Flaggschiff darstellt.53 Die ICLS erhielt den Auftrag zur Entwicklung allgemeiner Prinzipien54 für international vergleichbare Beschäftigungsstatistiken, die den einzelnen nationalen 48 Ernst B. Haas: Beyond the Nation-State. Functionalism and International Organization, Stanford/California 1964. 49 Maul, Menschenrechte, S. 16. 50 Der Vertrag von Versailles, Art. 396, 404. 51 Ebd. 52 Patricia Clavin: What’s in a Living Standard? Bringing Society and Economy together in the ILO and League of Nations Economic Depression Delegation, 1938–1944, in: Sandrine Kott/Joelle Droux (Hg.): Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond, Genf 2013, S. 233–248 ; Roser Cussó: L’activité statistique de l’Organisation économique et financière de la Société des Nations. Un nouveau lien entre pouvoir et quantification, in: Histoire & Mesure, Jg. 27, H. 2, (2012), S. 107–136; Charles K. Nichols: The statistical work of the League of Nations in economic, financial and related fields, in: Journal of the American Statistical Association, 37 (1942), S. 339–8. 53 Vgl. die Website der ICLS: http://www.ilo.org/global/statistics-and-databases/meetings-andevents/international-conference-of-labour-statisticians/lang--en/index.htm, Abruf 7. Januar 2017. 54 International Labour Office: Studies and Reports Series: N, No: 4: International Conference of Labour Statisticians, Genf 1924, Introduction, S. 7.
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statistischen Ämtern als übergeordneter Orientierungsrahmen dienen und sie in dieser neuen Hinsicht in einem Beobachtungszusammenhang verbinden sollten. Dieser Auftrag stellte sich in der Zwischenkriegszeit allerdings als eine komplexe Materie dar. Das ergab sich erstens aus der Vielfalt unterschiedlicher nationaler Erhebungszeiträume, Messverfahren und Definitionen der Schlüsselkategorien, die zunächst überhaupt zu erheben und dann durch eine dritte Kategorie aufeinander abzustimmen und zu vergleichen waren. Zweitens war die ILO bis in die 1950er Jahre vor allem auf industrielle Lohnarbeit (vor allem von Männern) konzentriert, ohne die Vielzahl anderer Arbeitsformen und den landwirtschaftlichen Bereich in gleicher Weise zu berücksichtigen und klammerte daher viele Arbeitstätigkeiten von Frauen aus. 55 Dazu kam drittens, dass Völkerbund und ILO nach dem ersten Weltkrieg durch europäische Staaten bestimmt wurden und somit Kolonialmächte in diesen Organisationen vorwiegend Einfluss nehmen konnten. Die ILO war zwar universalistisch auf verbesserte Arbeits- und Lebensbedingungen ausgerichtet, doch der Partikularismus manifestierte sich in dem kategorischen Unterschied, der bis in die frühen 1950er Jahre zwischen „Kolonie“ und „Metropole“ gemacht wurde. Durch die prinzipielle Abgrenzung von „native labour“ zur Arbeit in der Metropole wurde die Zivilisationsdifferenz, d.h. die Unvergleichbarkeit zwischen Europa und Außereuropa aufrechterhalten und arbeitsrechtlich verankert. 56 Selbst innerhalb dieses eingeschränkten Bereichs standen die Statistiker vor der Aufgabe, nationale Klassifikationen vergleichbar zu machen, die in Sprache, Instruktionen, Kriterien und Methoden variierten. Die Year-Books of Labour Statistics (1935/36ff.) illustrieren die praktische Schwierigkeit, über das nationale Vokabular hinausgehend eine gemeinsame internationale Klassifikation festzulegen. Jedes Vorwort des Jahrbuchs behandelt diese Problematik, während im Anmerkungsteil die unterschiedlichen Verständnisse und Praktiken erläutert werden, um die begrenzte Aussagekraft zu unterstreichen. So führten die Tabellen zwar die Kategorie der erwerbstätigen Bevölkerung in ihrem Titel, ohne dass diese für die Mitgliedstaaten auch einen gemeinsamen Bezugs- und Beobachtungsrahmen zur Verfügung stellte. Die von den nationalen statistischen Ämtern verwendeten Kategorien folgten den eigenen Konventionen, so dass die gelieferten Zahlen auf verschiedenen Definitionsgrundlagen beruhten.
55 Antony Alcock: History of the International Labour Organization, New York 1971, S. 37–49; Lourdes Beneria: The enduring debate over unpaid labour, in: International Labour Review, Jg. 138, H. 3, 1999, S. 287–309; Nora Natchkova/Céline Schoeni: The ILO, feminists and expert networks: the challenges of a protective policy (1919–1934), in: Kott/Droux, A Global History, S. 49–64; Elisabeth Prügel: The global construction of gender. Home-based work in the Political Economy of the 20th Century, New York 1999. 56 Maul, Menschenrechte, S. 44; Theresa Wobbe: Das Globalwerden der Menschenrechte in der ILO. Die Umdeutung von Arbeitsrechten im Kontext weltgesellschaftlicher Strukturprobleme von den 1930er bis 1950er Jahren, in: Bettina Heintz/Britta Leisering (Hg.): Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Deutungswandel und Wirkungsweise eines globalen Leitwertes, Frankfurt a.M./New York 2015, S. 283–316.
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Da die nationale Terminologie so weit wie möglich respektiert wurde, enthielten die Tabellen unvermeidliche Differenzen und waren nicht miteinander vergleichbar.57 Darüber hinaus wiesen die Jahrbücher durchgehend auf die Unstimmigkeit besonders bei der Kategorie ‚of females gainfully occupied‘58 und den unbezahlten Mithelfenden Familienangehörigen im Vergleich zu männlichen Beschäftigten hin. Der Begriff der „Erwerbstätigkeit“ umfasste die bezahlte Arbeitstätigkeit, einschließlich derjenigen, die auf eigene Rechnung arbeiteten59. Die unbezahlten Mithelfenden Familienangehörigen wurden berücksichtigt, soweit nationale Zahlen überhaupt vorhanden waren. Auch hier bot die ILO keine gemeinsame Definition zur Überbrückung der nationalen Konventionen an.60 Aus den Anmerkungen zu den Tabellen erschließt sich diese Inkongruenz, wie beispielhaft anhand der Tabelle II zur erwerbstätigen Bevölkerung (population active) aus dem ILO Year-Book of Labour Statistics von 1937 deutlich wird (Abb. 1: ILO Year Book 1937, S. 4–5). Die zweite Spalte dieser Tabelle zu „classification“ zeigt etwa, dass Unternehmer und unabhängige Arbeiter in einigen Ländern nach der Branche der ökonomischen Aktivität (a), in anderen nach ihrem beruflichen Status (b) aufgeführt sind. Die Angaben der statistischen Ämter bezogen sich demnach auf verschiedene Beobachtungsausschnitte von „Erwerbstätigkeit“, nämlich zum einen auf den Wirtschaftssektor zum anderen auf den Status von Personen, jeweils statistische Klassifikationen, die seit 1900 ausgehandelt und definiert wurden61. Aus dem Anmerkungsteil geht wiederum hervor, welche Tätigkeiten z.B. unter welche Kategorie fallen. So waren in Deutschland „manager und higher officials“, in Großbritannien „directors and managers“ in der Kategorie der Unternehmer enthalten, während die französische Statistik auch „wives of heads of establishments who assist their husbands“ dazu zählte.
57 58 59 60 61
Year-Book of Labour Statistics 3, Geneva: International Labour Office, 1938, S. v. Ebd.; diese Kommentare ziehen sich bis 1945/46 (Bd. 9) durch die Jahrbücher. Year-Book of Labour Statistics 2, Geneva: International Labour Office, 1937, S. 1. Ebd. Einblick in den Zusammenhang von Klassifikation (u.a. der Branche), Regulierung und Tarifvertragsrecht bietet Sabine Rudischhauser: Geregelte Verhältnisse. Eine Geschichte des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich, 1890–1918/19, Köln 2016.
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Abb. 1: ILO Year-Book of Labour Statistics 1937, S. 4.
Die Arbeit der Ehefrauen wurde „des chefs d’établissement qui aidant leur mari“ subsumiert, während die Spalte Unpaid family workers für Frankreich leer blieb. Wie bereits erwähnt, gab es in der französischen Statistik keine eigene Kategorie für die Family workers. Stattdessen wurden sie dem Chef (patron) des Betriebs zu-
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Abb. 2: ILO Year-Book of Labour Statistics 1937, S. 5.
geordnet. Nur durch diese Anmerkung erfahren wir überhaupt von den Mithelfenden Familienangehörigen, während sie in der Spalte Family workers unsichtbar bleiben. Für Italien heißt es dagegen: „No distinction of unpaid workers by industrial status is given, but for fishing, industry, transport and communication and com-
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merce the figures for each industrial status include the unpaid family workers belonging to it.“ Die Kategorie der Unpaid family workers umfasste, wenn sie überhaupt gezählt wurden, unterschiedliche Branchen, Sektoren und Gewerbe.62 Der Impuls zu einer Vereinheitlichung der Klassifikationsgrundlagen kam schließlich von den Wirtschaftsstatistikern des Völkerbunds. 1938 wurde die Resolution über Statistics of the Gainfully Occupied Population dem Völkerbund vorgelegt. Diese sah eine internationale Definition vor, die breiter angelegt war als die nationale. Die Statistiker sprachen von einem internationalen Minimalprogram.63 Denn sie erwarteten nicht, dass die nationalen statistischen Ämter ihre gesamte Taxonomie veränderten, um sich einem deckungsgleichen internationalen Schema anzupassen. Sie versuchten vielmehr internationale Vergleichbarkeit durch einige ausgewählte Grundkategorien zu erreichen. Diese sollten von den nationalen Ämtern zusätzlich zu ihren eigenen Tabellen an den Völkerbund geliefert werden. Danach sollte jede Haupt- oder Nebenbeschäftigung als gainful occupation gelten, die „directly or indirectly, in cash or in kind“ entgolten wurde.64 „Erwerbstätigkeit“ wurde somit nicht länger auf das direkte Entgelt in Form von Geld oder Hauptberuf begrenzt. Diese grenzüberschreitende Bestimmung der Beschäftigungsklassifikation sollte für den internationalen Vergleich verwendet werden. Die Hausarbeit blieb weiterhin von der Klassifikation „Erwerbstätigkeit“ ausgeschlossen, „but work done by members of a family in helping the head of the family in his occupation is so included, even though only indirectly remunerated“.65 Die Wirtschaftsstatistiker des Völkerbunds schufen hiermit erstmals eine internationale Definition der Kategorie Mithelfende Familienangehörige, die für die einzelnen nationalen Bestimmungen gelten sollte. Sie wurde nun als Kategorie der erwerbstägigen Bevölkerung behandelt, die Ehefrauen von Landwirten, Ehefrauen von anderen Personen als Landwirten, weitere Mitglieder der Familie, aber auch andere Mitglieder von Familien als Landwirten umfasste66. In Verbindung hiermit fand ebenfalls eine Klärung des Verhältnisses weiblicher Mithelfender Familienangehöriger zur Beschäftigung des Ehemanns als Familienmitglieder „aiding the heads of their families in their occupation“67 statt. Die Arbeit im Familienbetrieb konnte der Beschäftigung (occupation) zugerechnet und Mithelfende Familienangehörige entsprechend gezählt werden. Diese Bestimmung diente der Abgrenzung von der Hausarbeit, aber auch der Definition der Kategorie des Arbeitgebers (employer). Diese umfasste nun ebenfalls diejenigen, die „with the assistance of members of their families“68 als Selbstständige tätig waren.
62 Vgl. für Italien Patriarca, Gender Trouble. 63 League of Nations: Statistics of the gainfully-occupied population: definitions and classifications. Recommended by the committee of statistical experts, C 226. M. 128. 1938, II. Appendix 1); Studies and Reports on Statistical Methods, No. 1, Geneva: League of Nations, 1938, S. 5. 64 Ebd., S. 9. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 10. 67 Ebd., S. 17. 68 Ebd.
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An diese Vorschläge sollte die ILO nach 1945 anknüpfen, als aus den Umwälzungen des 2. Weltkrieges eine neue internationale Ordnung mit globalen Institutionen hervorging. Die ILO wurde 1946 in die UN integriert, die sich als centre of calculation (Latour)69 etablierte. Die „Statistical Commission of the United Nations” (UNSC) spannte die ILO fortan in ihre Arbeiten ein. Daraus ging bereits 1947 ein neues potentiell globales Beobachtungsschema hervor, das System der National Accounts als Grundlage für das Bruttosozialprodukt.70 Darin stellt die ökonomisch aktive Bevölkerung als Leitdifferenz die Verbindung zur erwerbstätigen Bevölkerung dar. Die ILO hat auf dieser Basis ein Beobachtungsschema zur Klassifikation von Arbeit entwickelt, das wir heute als Labour Force Konzept kennen.71 FAZIT Zu Beginn wurde gefragt, welche Deutungsmodelle von Arbeit der statistischen Kategorie der „Erwerbstätigkeit“ zugrunde liegen und was die Voraussetzungen für übernationale Vergleichbarkeit sind. Zunächst wurde verdeutlicht, dass die neue Klassifikation von Arbeit in einem historischen Kontext entstand, in dem Beschäftigung bzw. Arten des Lebensunterhalts gesellschaftlich auf eine neue Art gedeutet und organisiert wurden. Die Kategorie Erwerbstätigkeit verweist daher auf einen tiefgreifenden Umbruch des Wissens, mit dem Arbeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gesellschaftlich denkbar und repräsentierbar wurde.72 Dieses Wissen ist Teil weiterreichender Prozesse formaler Rationalisierung (Weber), der Objektivierung und der Verwissenschaftlichung, die in der neuen Repräsentation der Arbeit manifest werden.73 Die Umwälzung wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im Vokabular der Ökonomie und nationalen Statistik nachvollziehbar, deren Maßstab nicht (mehr) eine nützliche oder sozial respektvolle Arbeit bildet. Vielmehr wurde das ökonomische Kriterium des Marktbezugs und der Marktlichkeit zusammen mit dem formalen Kriterium der Regelmäßigkeit maßgeblich. Mit der Entfaltung dieser Wissensform änderte sich auch die Beobachtungsebene. Der deutsche Berufszensus führte 1882 neue Kategorien ein, die mit den statistischen Ämtern der Staaten in ein Entsprechungsverhältnis zu bringen waren. In der Zwischenkriegszeit versuchten die Arbeitsstatistiker der ILO, über die statistischen Konventionen der nationalen Ämter hinweg eine gemeinsame Taxonomie 69 Bruno Latour: Drawing Things Together, in: Michael Lynch/Steven Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge/MA. 1988. 70 Speich, Erfindung. 71 Wobbe/Renard, Standardizing. 72 Sigrid Wadauer: Immer nur Arbeit? Überlegungen zur Historisierung von Arbeit und Lebensunterhalten? In: Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz (Hg.): Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 225–242; Sebastian Conrad/Elisio Macamo/Benédicite Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit. Individuum, Gesellschaft, Nation, in: Jürgen Kocka/Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a.M./New York, S. 449–475. 73 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Göttingen 91988, S. 1–16.
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für die (westliche) Arbeitswelt zu produzieren, währenddessen die Beobachtung nach 1945 auf einen weltweiten Rahmen ausgeweitet wurde. Wie die Ergebnisse zeigen, wurden die neuen Deutungsmodelle und Standardisierungsversuche um 1900 zusammen mit der Trennung von Haushalt und Markt durchgesetzt, wodurch auch die statistische Binnendifferenzierung zwischen Tätigkeiten innerhalb des Haushalts in Gang kam. Die Entwertung der häuslichen Arbeit von Frauen vollzog sich historisch zusammen mit der Karriere des männlichen Ernährermodells. Die Geburt der modernen Beschäftigungsstatistik, so können wir festhalten, war daher konstitutiv mit einer geschlechtsdifferenzierenden Codierung von Beschäftigung verbunden. Wie die Fokussierung der ILO auf männliche industrielle Lohnarbeit (in Europa) nahelegt, wurde hierdurch das kurz zuvor entstandene Ernährermodell von ihr verfestigt. Interessanterweise entstand in diesen weitverzweigten Transformationen ein Muster des Arbeitsmarkts, das wir heute als geschlechtliche Segregation charakterisieren und mit deren Folgen die Soziologie weiterhin beschäftigt ist. Catherine Hakim legt in ihrer Forschung über die englische Statistik und die anhaltende geschlechtsdifferenzierende Spaltung einen Zusammenhang zwischen statistischer Repräsentation und diesem Phänomen nahe.74 Die Ergebnisse weisen zudem daraufhin, dass im Zuge der Internationalisierung von Klassifikationsstandards die Kategorie der Erwerbstätigkeit für Mithelfende Familienangehörige geöffnet wird. Ab 1947 wurden sie als ein Teil der ökonomisch aktiven Bevölkerung im System des internationalen Zahlenvergleichs von Volkswirtschaften gezählt. Wie die Forschung von Daniel Speich zeigt, entsteht mit den National Accounts „ein sozialwissenschaftlicher Wissenskorpus, der erstens alle sozialen Konstellationen der Welt in ein einheitliches Buchhaltungssystem aufnahm, und der zweitens in allen politischen Körperschaften der Welt an Bedeutung gewann“75. Während die Statistiker um 1900 lokal diskutierten, ob und wie die Arbeit von Ehefrauen im Familienbetrieb gezählt werden sollte, führten Wirtschaftsstatistiker des Völkerbunds 1938 erstmals eine internationale Definition ein, die sich freilich noch vorwiegend auf Europa bezog. Nach 1945 wurden die ökonomisch aktive Bevölkerung und die verfügbare Arbeitskraftreserve (Labour Force) zum statistischen Maß der (Arbeits-)Welt. Im Zuge dieser Prozesse wurde die Labour Force gegenüber der Kategorie Mithelfende Familienangehörige (nicht aber der Hausarbeit) geöffnet. Im Untersuchungszeitraum fanden somit zwei strukturbildende Prozesse statt: Erstens erfolgte eine Quantifizierung der Tätigkeit im Familienbetrieb, indem qualitative Unterschiede statistisch in ein gemeinsames numerisches Maß umgewandelt wurden.76 Zweitens fand die Individualisierung der Inklusion statt, d.h. die verstärkte Verortung von Tätigkeiten und Personen nach individuellen statt nach korporativen Kriterien.77 74 Hakim, A century of change. 75 Speich, Erfindung, S. 14. 76 Wendy N. Espeland/Mitchell L. Stevens: Commensuration as a Social Process, in: Annual Review of Sociology 24 (1998), S. 314. 77 Wobbe, Making up People.
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Der Wandel statistischer Repräsentationen ist freilich nicht zwingend oder ein Effekt historischer Notwendigkeit. Vielmehr liegen ihm spezifische gesellschaftliche Bedingungen und historisch kontingente Prozesse zugrunde. Der nationale Zensus des Kaiserreichs, die Gründung der ILO und der Aufstieg der UN im Zuge der globalen Restrukturierung nach 1945 zum centre of calculation stehen mit einem radikalen politischen Wandel sowie mit Kriegen und seinen Folgen in Verbindung. So veränderte sich nach dem ersten Weltkrieg die alte europäische Staatenordnung und mit dieser die Relevanz sozialer Bewegungen der Arbeitswelt, während die Institutionalisierung technischer Expertise einsetzte. Diese Ereignisse waren ebenso wenig vorhersehbar wie die Große Depression. Im Untersuchungszeitraum wandelten sich ebenfalls die Wissensvoraussetzungen. Die Grundlagen von Makroökonomie und Ökonometrie wurden in den 1930er Jahren gelegt, allerdings erst nach 1945 politisch verwendet.78 Hiermit entstand eine Beobachtungsebene, die die statistische Repräsentation von Arbeit weltweit verwandelt hat.
78 Mary S. Morgan: The history of econometric ideas, Cambridge 2000; Daniel Speich: The use of global abstractions: national income accounting in the period of imperial decline, in: Journal of Global History, 6, 2011, S. 7–28; Daniel Speich Chassé: Technical Internationalism and Economic Development at the Founding Moment of the UN System, in: Marc Frey, Sönke Kunkel, Corinna R. Unger (Hg.), International Organizations and Development, 1945–1990, Basingstoke 2014. pp. 23–45. Vgl. für das ökonomische Wissen vor 1945 Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001.
LEERE FRAGEBÖGEN, VOLLSTÄNDIGE BALKENDIAGRAMME BILDUNGSSTATISTIK UND STATE EFFECT IM SPÄTKAISERLICHEN CHINA, 1905–1911 Hajo Frölich Ab 1907 erhob das chinesische Kaiserreich im Rahmen der Einführung eines staatlichen Schulwesens auch erstmals eine Bildungsstatistik, die eng mit dem Wunsch nach internationaler Anerkennung der chinesischen Souveränität verknüpft war. Der Beitrag beschreibt die Praxis der Datenerhebung und vertritt davon ausgehend die These, dass die Bildungsstatistik wesentlich dazu beitrug, dass der Staat als eine außerhalb der „Gesellschaft“ stehende Organisation wahrgenommen wurde. Diese von Timothy Mitchell als „state effect“ beschriebene Wahrnehmung bedeutete in China jedoch nicht, dass der Staat als stark erschienen wäre. Ganz im Gegenteil zeichnete die Bildungsstatistik unfreiwillig das Bild eines zugleich sehr modernen und sehr schwachen Staates, was sich auch auf die Revolution von 1911 auswirkte. From 1907 on, the imperial government of China began to implement educational statistics alongside its new system of public education, a step closely linked to the desire for international recognition of China’s sovereignty. This article describes the practice of gathering educational data and argues that the resulting statistics contributed to what Timothy Mitchell has described as a “state effect”, that is, the perception of the state as an entity existing outside “society”. In China, however, this did not mean that the state was necessarily perceived as strong. Quite the opposite, educational statistics unintentionally pictured the Chinese state as both very modern and very weak, with consequences for the 1911 revolution. EINLEITUNG Die Volksrepublik China ist ein von der Statistik und dem statistischen Vergleich geradezu besessener Staat.1 Kein Land der Erde sammelt – und publiziert – mehr 1
Dieser Beitrag beruht auf einem Kapitel meiner Dissertation, die jetzt in überarbeiteter Fassung als Buch vorliegt, Hajo Frölich: Des Kaisers neue Schulen. Bildungsreformen und der Staat in Südchina, 1901–1911, Berlin 2018. Für Hinweise und Kritik danke ich meinen Betreuern Klaus Mühlhahn und Sebastian Conrad sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Göttinger Workshops im September 2015, auf dem dieser Band beruht. Großer Dank gebührt auch Michael Schneider für seine kritische Lektüre des Manuskripts. Meine Arbeit wurde durch die
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Statistiken, auch im Verhältnis zur Bevölkerungszahl.2 Vor gut einhundert Jahren stand China noch ganz am Anfang dieser Entwicklung: Die 1907 erhobene und 1909 publizierte Bildungsstatistik war die erste moderne, reichsweite chinesische Statistik überhaupt. Sie sollte es dem chinesischen Staat ermöglichen, das seit 1902 entstehende, umfassende staatliche Bildungssystem zu kontrollieren, und sie sollte zugleich der eigenen Bevölkerung wie auch dem Ausland demonstrieren, wie modern und mächtig die Regierung in Beijing war. Rasch fand die Statistik auch abseits des Schulwesens in allen Bereichen der Verwaltung Anwendung.3 Das staatlich kontrollierte Schulwesen und mit ihm die Bildungsstatistik fungierten nicht nur, wie ein „humanes“ Strafrecht oder der Aufbau einer Polizei auch, als Kennzeichen jener staatlichen Modernität, die im Rahmen des Diskurses der Kolonialmächte allein staatliche Souveränität begründete und die Kolonialisierung ausschloss.4 Zugleich war in China das Vertrauen in die Macht von Bildung zwar fest verankert. Schulbildung aber war in China bis Anfang des 20. Jahrhunderts weitestgehend Privatsache gewesen. Der Staat gab durch die Beamtenprüfungen nur die Lerninhalte in gewissem Maße vor. Wenn die Regierung nun selbst für Schulen im ganzen Reich Sorge tragen wollte, war dies also nicht nur ein Signal an die Kolonialmächte. Sie versprach damit zugleich dem heimischen Publikum einerseits die Umsetzung jahrhundertealter Idealvorstellungen einer umfassenden Zivilisierung und andererseits die Entfesselung des ökonomischen wie fachlichen Potentials der nun als Ressource gedachten Bevölkerung im Rahmen eines sozialdarwinistischen Überlebenskampfs aller Nationen.5 Um zu belegen, dass er diesen alten und neuen Ansprüchen gerecht wurde, bediente sich der Qing-Staat insbesondere der Bildungsstatistik. Konkrete Anregungen hierzu lieferten sowohl das japanische Statistikwesen als auch vermeintliche Vorläufer in der chinesischen Geschichte selbst. Ebenfalls wichtig war die Einsicht, dass das bestehende Berichtswesen schon lange keine akkuraten Zahlen mehr lieferte. Daher gründeten die Qing 1907 ein zentrales Statistikamt in Beijing, dem
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Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 700 sowie durch ein Promotionsstipendium der Gerda Henkel Stiftung unterstützt, wofür ich beiden Institutionen herzlich danke. Xin Liu: The Mirage of China. Anti-Humanism, Narcissism, and Corporeality of the Contemporary World, New York 2009, S. 40 f. Andrea Eberhard-Bréard: Robert Hart and China’s Statistical Revolution, in: Modern Asian Studies 40 (2006), S. 605–629, S. 606; Thomas Scharping: Statistik, in: Brunhild Staiger/Stefan Friedrich/Hans-Wilm Schütte (Hg.), Das große China-Lexikon, Darmstadt 2003, S. 719–722, S. 720. Niels P. Petersson: Imperialismus und Modernisierung. Siam, China und die europäischen Mächte, 1895–1914, München 2000, S. 361. Rebecca E. Karl: Staging the World. Chinese Nationalism at the Turn of the Twentieth Century, Durham 2002; Charles S. Maier: Leviathan 2.0. Inventing Modern Statehood, in: Emily S. Rosenberg (Hg.): A World Connecting. 1870–1945, Cambridge, MA 2012, S. 29–282, hier S. 163– 166. Hinsichtlich dieses neuen Blicks auf die „Bevölkerung” ähnelte China nach 1900 durchaus jenen anderen Staaten, die Maier beschreibt. Anders als Maier halte ich die Entwicklung im Qing-Reich deshalb nicht für „wenig bedeutsam” (ebd., S. 163).
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statistische Abteilungen in allen Ministerien sowie Statistikämter in jeder Provinz zuarbeiten sollten.6 Warum aber entschied sich die Regierung der Qing-Dynastie (1644–1911) ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt für die Einführung der Statistik? Und welche Konsequenzen ergaben sich aus dieser Entscheidung? Auf diese beiden Fragen möchte ich im Folgenden Antworten finden. Damit stehen einerseits die historischen Bedingungen, die – auch außerhalb Chinas – zur Einführung der Statistik als Instrument des Regierens führten, im Mittelpunkt. Andererseits geht es mir um die praktischen Herausforderungen, die diese Einführung in China mit sich brachte, und um die tatsächliche Verwendung statistischer Daten durch die Verwaltung wie auch um ihre Rezeption durch die Öffentlichkeit. Meine These ist, dass die Bildungsstatistik im chinesischen Kaiserreich wesentlich dazu beitrug, dass der Staat zunehmend als eine außer- und oberhalb der „Gesellschaft“ stehende, ferne und abstrakte Organisation wahrgenommen wurde, die unabhängig von den in ihr operierenden Menschen zu bestehen schien. Diese von Timothy Mitchell als „state effect“ beschriebene Wahrnehmung bedeutete in China jedoch nicht, dass der Staat als stark erschienen wäre.7 Ganz im Gegenteil zeichnete die chinesische Bildungsstatistik unfreiwillig das Bild eines zugleich modernen und schwachen, schlecht informierten Staates. Weil die Schulreformen als erste in Angriff genommen wurden, spielte die vom Bildungsministerium selbst erstellte Bildungsstatistik eine gewisse Pionierrolle für das Vordringen der bis dahin eher minimalen Verwaltung in die Lokalgesellschaft. Entsprechend groß waren die praktischen Probleme der Datensammlung. Für deren Darstellung stütze ich mich auf Beispiele aus der südchinesischen Provinz Guangdong, die durch ihre große geographische Entfernung von der Hauptstadt Beijing sowie durch ihre soziokulturell ganz eigene Prägung einen besonders guten Testfall für die Durchsetzung der neuen Form der Erhebung von Daten durch die Zentralregierung darstellt. Zunächst aber betrachte ich den historischen Kontext, der 1907 zu der Entscheidung führte, die Statistik in allen Zweigen der kaiserlichen Bürokratie einzuführen. BILDUNGSTATISTIK IM HISTORISCHEN KONTEXT Als die älteste kontinuierliche Bürokratie der Weltgeschichte hatte der chinesische Staat schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden Daten über seine Bevölkerung erhoben. Auch im 19. Jahrhundert gingen täglich Berichte von Provinz- und Kreisbeamten aus dem ganzen Reich im Kaiserpalast in Beijing ein. Auf den ersten Blick war die Sammlung von „Fakten“ über Land und Leute also mitnichten ein Novum. 6 7
Ausführlich zur Etablierung der Statistik in der chinesischen Verwaltung siehe Andrea Bréard: Reform, Bureaucratic Expansion and Production of Numbers. Statistics in Early 20th Century China, Habilitation, Technische Universität Berlin 2008. Timothy Mitchell: The Limits of the State. Beyond Statist Approaches and their Critics, in: American Political Science Review 85 (1991), S. 77–96, S. 94.
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Sie hatte sich vor 1900 nicht nur im Studium der Klassiker und in der „Staatskunst“Lehre (jingshi) gezeigt, wo seit der frühen Qing-Dynastie die „Suche nach der Wahrheit aus den Fakten“ (shishi qiushi) im Mittelpunkt der so genannten „Beweisforschung“ (kaozheng) stand. Derselbe Anspruch wurde bald auch in den Naturwissenschaften (gezhi xue) vertreten.8 Aber auch die Verwaltung des gegenüber der vorangegangenen Ming-Dynastie (1368–1644) deutlich größeren und im 18. Jahrhundert ständig weiter expandierenden Qing-Reiches war bestrebt, ihre Entscheidungen in diesem immer komplexeren Gemeinwesen auf möglichst exaktes, numerisches Wissen zu gründen. Dazu gehörten Volkszählungen oder zumindest die Zählung von Haushalten, die Verwaltung der Getreidespeicher für Notzeiten und das ausgefeilte Berichtswesen der kaiserlichen Bürokratie, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch gestärkt wurde.9 Lokale Beamte mussten meist jährlich Zahlen, insbesondere über Handel, Landwirtschaft und Steueraufkommen, an ihre Vorgesetzten melden. Die chinesische Verwaltung war insgesamt flexibler und effektiver, als die Forschung lange behauptet hat. Man kann gewiss nicht behaupten, dass sie, an den Maßstäben eines Imperiums dieses Ausmaßes gemessen, schlecht informiert gewesen wäre.10 Doch Anfang 1901 befand sich das chinesische Kaiserreich in einer schweren Krise. Die Hauptstadt Beijing war infolge des Boxeraufstands von ausländischen Truppen besetzt. Der Hof unter Kaiserinwitwe Cixi (1835–1908) war ins Exil in die Stadt Xi’an geflohen. Militärisch hatte die Qing-Dynastie den ausländischen Mächten noch immer kaum etwas entgegenzusetzen. Im ganzen Reich kam es immer wieder zu Hungersnöten und Aufständen; die Provinzen gehorchten Peking immer weniger. Diverse Reformen seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten daran wenig ändern können. In dieser Situation rief die Kaiserinwitwe alle führenden Beamten auf, neue Vorschläge für Reformen einzureichen. So begann die so genannte „Neue Politik“, die China bis zur Revolution von 1911 grundlegend verändern sollte. Das unumstrittene Ziel war die Stärkung der Zentralgewalt, um China wieder „reich und stark“ zu machen. Die Reformen reichten von der Einführung einer modernen Polizei, moderner Armeen und eines staatlich kontrollierten Schulwesens bis zur Zentralisierung des Steuersystems und zur Vorbereitung der konstitutionellen Monarchie. Jetzt erst begann auch der kometenhafte Aufstieg der Statistik unter dem aus dem Japanischen entlehnten Begriff tongji. Erst der Kontext radikaler Reformen in einer wahrgenommenen Situation globaler Konkurrenz und militärischer sowie 8
Benjamin A. Elman: From Philosophy to Philology. Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China, Cambridge, MA 1984, S. 81; ders.: A Cultural History of Modern Science in China, Cambridge, MA 2006, S. 58. 9 John King Fairbank/Siyu Deng: Ch’ing Administration. Three Studies, Cambridge, MA 1960; Pierre-Etienne Will/R. Bin Wong: Nourish the People. The State Civilian Granary System in China, 1650–1850, Ann Arbor, MI 1991, Kapitel 7 und 8; Jennifer M. Rudolph: Negotiated Power in Late Imperial China. The Zongli Yamen and the Politics of Reform, Ithaca, NY 2008, S. 136–139; Tong Lam: A Passion for Facts. Social Surveys and the Construction of the Chinese Nation State, 1900–1949, Berkeley, CA 2011, S. 21f. 10 Rudolph, Negotiated Power, S. 179–181; T’ung-Tsu Ch’ü: Local Government in China under the Ch’ing, Cambridge, MA 1962, S. 41.
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wirtschaftlicher Bedrohung ließ diese neue Technik plötzlich unverzichtbar erscheinen. Die „Kommission zur Erarbeitung von Regeln für die konstitutionelle Regierung” (xianzheng biancha guan) beschrieb die Aufgabe des zentralen Statistikbüros 1907 wie folgt: „Die Statistik dient dazu, Informationen über Gewinn und Verlust der nationalen Wirtschaft sowie die Stärken und Schwächen der Situation in einem Land zu sammeln und Vergleiche anzustellen, um die Richtung der Politik festzulegen. […] Die Untersuchung all jener Länder, die jedes Jahr ein statistisches Jahrbuch veröffentlichen [zeigt, dass] sie über jedes Gebiet eine Statistik anlegen, um auf einen Blick über das Volk informiert zu sein.“11
Wie sehr diese Attraktivität der Statistik nicht von ihr selbst, sondern vom zeitlichen Kontext abhing, zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der Kaiserlichen Seezollbehörde. Diese war im Anschluss an die Opiumkriege der Jahrhundertmitte auf Druck der europäischen Imperialmächte eingerichtet worden, um sicherzustellen, dass das Chinesische Kaiserreich die enormen Reparationszahlungen würde leisten können, zu denen es sich hatte verpflichten müssen. In allen leitenden Positionen mit Ausländern – primär Briten – besetzt, publizierte die Seezollbehörde seit den 1860er Jahren regelmäßig statistische Jahrbücher, die einem festen Schema gehorchten und in reichsweit einheitlicher Form insbesondere Zahlen zu Ein- und Ausfuhr aller so genannter Vertragshäfen festhielten. Doch diese ersten modernen Statistiken einer zumindest nominell chinesischen Behörde fanden bis zur Jahrhundertwende in China keinerlei Nachahmung. Kaum jemand in China interessierte sich für diese Technik der Datensammlung.12 Erst nachdem 1900 der Boxeraufstand China in eine schwere Krise stürzte, fand die statistische Methode plötzlich auch in China Aufmerksamkeit. Das Anlegen von Statistiken in Europa seit dem 18. Jahrhundert war sehr viel mehr als eine gewissermaßen unschuldige Sammlung von Informationen. Stattdessen ging mit der Einführung dieser Technik ein Wandel der Wahrnehmung der Gesellschaft, ja häufig überhaupt erst deren Konstituierung als eigenständiger sozialer Einheit einher. Theodore M. Porter hat dies in den Begriff des „statistical thinking“ gefasst. Keine andere naturwissenschaftliche Methode, so Porter, habe seitdem die Gesellschaften derart durchdrungen; keine andere Methode gelte den Regierungen rund um die Welt als verlässlichere Basis für politische Entscheidungen.13 Wie wir anhand der langen Tradition kaiserlicher Sammlung von Fakten gesehen haben, bedeutete die Statistik in China nicht unbedingt einen radikalen Wandel der Sicht auf die Welt.14 Dennoch unterschied sie sich von früheren Formen der Datensammlung. Zwei Faktoren waren hierbei entscheidend: Erstens, die neue Qualität der Datenakquise im 20. Jahrhundert. Die Informationssammlung, die die
11 Zitiert in Andrea Bréard: Translating Statistics into 20th Century China. A Glimpse on Early Institutions and Manuals, in: Journal Electronique d’Histoire des Probabilités et de la Statistique 2 (2006), S. 1–28, S. 7. 12 Eberhard-Bréard, Robert Hart. 13 Theodore M. Porter: The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton, NJ 1986, S. 3. 14 Genau diese Ansicht aber vertritt Lam, Passion, S. 19–21.
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Qing-Regierung unter dem Namen „Statistik“ betrieb, war regelmäßiger, systematischer, umfassender, geschah in kürzeren Abständen und erzeugte ihre Informationen als Antwort auf vorgegebene Fragen beziehungsweise Formulare. Zweitens, die neue Art der Verwendung und damit die Funktion quantitativer Daten: Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nämlich hatten die regelmäßigen – meist jährlichen – Berichte der verschiedenen Beamten in den Provinzen an den Hof sowohl der Inventarisierung nationaler Ressourcen gedient, als auch eine rituelle Bedeutung gehabt. In einem riesigen Reich, in dem trotz eines ausgefeilten Botenwesens die Kommunikationswege lang, der unmittelbare Einfluss der Zentrale demnach begrenzt und der Eigensinn der Lokalbeamten innerhalb bestimmter Grenzen groß waren, funktionierten jährliche Berichte aus allen Ecken des Imperiums auch als turnusmäßige Versicherung der Loyalität gegenüber dem weit entfernten Kaiser. Wer Zahlen nach Beijing berichtete – und seien es auch Jahr um Jahr exakt die gleichen, darauf kam es nicht so sehr an – signalisierte, dass alles in Ordnung war.15 Doch dies begann sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts rasch zu ändern. Nun sollte auch in China die Erhebung abstrakter Daten zusehends jener Sichtbarmachung der beherrschten Bevölkerung dienen, der in der Forschung allgemein ein solch hoher Stellenwert für die Entstehung des modernen Staates zugesprochen wird. Mit der Sozialstatistik begannen auch in China die Sozialwissenschaften “to serve – and shape – the modern state's desire for specific forms of order, control and reassurance” – jenes staatliche Begehren also, das bislang durch Berichte gestillt worden war.16 Bisherige Untersuchungen zur Geschichte der Statistik befassen sich jedoch in erster Linie mit Europa und Nordamerika.17 Erste Studien zur Statistik in Imperien – im Unterschied zu den lange fokussierten Nationalstaaten – haben ergeben, dass beispielsweise die Habsburger Monarchie, das Osmanische Reich, das Russische Reich und das British Empire die Technik der statistischen Erhebung rasch von den Nationalstaaten übernahmen. Doch insbesondere Volkszählungen konnten sich dabei auch als kontraproduktiv erweisen, weil sie zum Beispiel ethno-linguistische Kategorien betonten, auf die sich separatistische National-Bewegungen dann berufen konnten. Großreiche, die im Innern wie Nationalstaaten agieren wollten, schei-
15 Für den Hinweis auf diese Dimension des Berichtswesens danke ich Andrea Bréard. Siehe auch Stephen R. Halsey: Money, Power, and the State. The Origins of the Military-Fiscal State in Modern China, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 56 (2013), S. 392– 432, S. 412f.; Peter Kreuzer: Staat und Wirtschaft in China. Die kulturelle Grundlage politischer Steuerung, Frankfurt a.M. 1998, S. 129–135. 16 Sheila Jasanoff: Ordering Knowledge, Ordering Society, in: dies. (Hg.): States of Knowledge. The Co-Production of Science and Social Order, London 2004, S. 13–45, S. 33. 17 Unter vielen Titeln seien nur exemplarisch genannt Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich-preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.M. 2013; Alain Desrosières: The Politics of Large Numbers. A History of Statistical Reasoning. Cambridge, MA 1998; Ian Hacking: The Taming of Chance, Cambridge 1990.
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terten also bisweilen nicht nur daran, ihre Bevölkerung genau zu erfassen; sie scheiterten vielmehr in toto, nicht nur, aber auch weil sie den Anspruch auf genaue Erfassung ihrer Bevölkerung überhaupt erhoben.18 DIE PRAXIS DER ERHEBUNG BILDUNGSSTATISTISCHER DATEN Dass sich, allen Kontinuitäten zum Trotz, 1907 dennoch kein nur nomineller Wechsel vom älteren Berichtswesen zur Statistik vollzog, wird deutlich, wenn wir nun einen Blick in die Praxis der neuen Datenerhebung werfen. Deren neuer Anspruch an Umfang, Präzision und Homogenität führte zu großen Herausforderungen, die bislang kaum untersucht worden sind. Bereits im November 1906 begann das ein Jahr zuvor gegründete Bildungsministerium mit der Einrichtung von Schulbezirken unterhalb der Ebene der Kreise, der bis dahin untersten Verwaltungseinheit. Schon zu diesem Zweck erhob das Ministerium umfangreiche Daten zu jedem Schulbezirk: Tiere, Pflanzen, Wälder, Berge, Bodenschätze, Salzfelder, Wasserwege und Straßen, Häfen, Eisenbahnen, Telegraphenlinien, die Zahl der Haushalte, ethnische und religiöse Gruppen, Berufe, Zahlen zur Ernte, Steuern, Ausfuhr und vieles mehr – erst die 16. von 19 Fragen befasste sich überhaupt mit Bildung und fragte nach den existierenden Schulen in der Gegend. Allen existierenden Berichten der lokalen Beamten und den so genannten Lokalmonographien zum Trotz entsprach das Wissen des Zentralstaates offenbar nicht dem neuen Anspruch.19 Die zentralisierte Datensammlung für die reichsweite Bildungsstatistik begann dann 1907. Nun stellte das Ministerium statistische Vordrucke zusammen, die über die neuen Bildungsämter der Provinzen und die lokalen, so genannten „Büros zur Förderung der Bildung“ an jede einzelne Schule weitergeleitet werden sollten. Hier sollten sie ausgefüllt, an die Provinzbehörde zurückgesandt und in zusammengefasster Form nach Peking weitergeleitet werden. Auf diese Weise entstanden drei reichsweite Bildungsstatistiken für die Jahre 1907, 1908 und 1909.20 Die Schwierigkeiten zeigten sich indes schon darin, dass die drei Bände jeweils erst zwei Jahre
18 Ulrike von Hirschhausen: People that Count. The Imperial Census in Nineteenth- and Early Twentieth-Century Europe and India, in: Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 145–170, bes. S. 149–153, 161 f., 166 f.; vgl. Wolfgang Göderle: Administration, Science, and the State. The 1869 Population Census in Austria-Hungary, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), S. 61–88, S. 81 sowie sein Beitrag in diesem Band. 19 Bildungsministerium: Xuebu zha ge sheng tixueshi fending xuequ wen (Das Bildungsministerium gebietet den Bildungskommissaren aller Provinzen, Schulbezirke festzulegen), November 1906, in: Zhu Youhuan (Hg.), Jiaoyu xingzheng jigou ji jiaoyu tuanti (Bildungsverwaltung und Bildungsorganisationen), Shanghai 2007, S. 65–67. 20 Wenyong Xu: Qingli zhisheng xuewu jigou jianzhi ji yu difang shehui de hudong (Administration of Qing Dynasty and its Interaction with Local Society), Dissertation, Sun Yat-sen Universität Guangzhou 2009, S. 192; Xiaohong Guan: Wan Qing xuebu yanjiu (Research of education department in late Qing dynasty), Guangzhou 2000, S. 325–327.
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nach ihrem Berichtszeitraum erschienen. Ein Problem war der mangelnde Gehorsam der Provinzbehörden. Das Schulamt der Provinz Guangdong zum Beispiel verschickte 1907 einen eigenen Satz von 17 Formularen, die sich nicht an die Vorlagen aus Peking hielten. Die Formulare mussten zu Beginn und am Ende jedes Halbjahres abgegeben werden, ihre Abmessungen waren genau vorgegeben.21 Ihre Anordnung zeigt deutlich das Bestreben des Staates, viel tiefer als bisher in die lokale Gesellschaft einzudringen. Wenn man an die eben zitierten Fragen denkt, wird deutlich, wie ambitioniert dieses Bestreben war. Im ersten Formular, das erneut einer Beschreibung der Schulbezirke (xuequ fenhua biao) dienen sollte, wurden nicht nur der Name des Kreises, die Zahl der Dörfer und Haushalte und die Fläche abgefragt. Es wurde ebenfalls Auskunft erbeten zur Entfernung des Bezirks zur nächsten Stadt sowie zu den angrenzenden Bezirken. Für die Erhebung der Zahl der modernen Schulen (xuetang) sowie der „noch erhaltenen“, klassischen Privatschulen (xian cun shu) und der Schüler sollten die Angestellten des örtlichen, halbstaatlichen „Büros zur Förderung der Bildung“ alle Schulen des Bezirks besuchen.22 Das zweite Formular nahm die Gesamtheit der Kinder im schulfähigen Alter ins Visier (xueji diaocha bu). Dieses Unterfangen nahm im Kleinen bereits die Volkszählung (renkou diaocha) des Jahres 1909 vorweg. Der jeweilige Angestellte des „Büros zur Förderung der Bildung“ sollte gemeinsam mit den Anführern der lokalen Elite in jedes Dorf und jede Stadt eines Kreises gehen und dort Haus für Haus Angaben über den Haushaltsvorstand und über die Zahl der schulfähigen Kinder ermitteln. In die Liste eingetragen werden sollte zu jedem betreffenden Kind Name, Alter und Geschlecht. Außerdem war anzugeben, welche moderne Schule oder klassische Privatschule das Kind wie lange besucht hatte. War das Kind bisher noch nicht zur Schule gegangen, so mussten die Eltern dies erklären.23 Von den folgenden 15 Formularen wandten sich 13 von den Schülern weg und befassten sich mit den existierenden Schulen selbst (guanmin ge xuetang yilan biao). Zahl, Lage und Größe der Schulen, Finanzquellen, Lehrer und Verwaltungspersonal standen im Mittelpunkt – vor allem diese Angaben sollten später Eingang in die reichsweite Statistik finden. Doch mit dem „Verzeichnis der Untersuchung der Schülerschaft“ (shengtu jiancha bu) erreichte der staatliche Blick auch die Ebene des individuellen Schülers. Hier wurde das Ergebnis der körperlichen Untersuchung (shenti jianliang) jedes einzelnen Schülers erfasst, seine Krankheiten und deren Dauer, andere Fehlzeiten, Verhaltensnoten und mehr.24 Da zu jener Zeit nicht nur das Bildungsministerium, sondern alle Ministerien und Behörden begannen, Zahlen zu sammeln, wurden die Schulen, die „Büros zur Förderung der Bildung“ und die Lokalbeamten mit Formularen überschüttet.25 Das 21 Schulamt von Guangdong (Guangdong xuewu gongsuo): Xuewu baogao biaobu shi (Vordrucke für die tabellarischen Berichte über das Bildungswesen), Guangzhou 1907, gegenüber S. 1 (Sun Yat-sen Bibliothek Guangzhou). 22 Schulamt von Guangdong: Xuewu baogao, S. 2r f. 23 Ebd., S. 3r f. 24 Ebd., S. [13]r f. 25 Paul Christopher Hickey: Bureaucratic Centralization and Public Finance in Late Qing China, 1900–1911, Dissertation, Cambridge/MA 1990, S. 169f.
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Bildungsministerium rechtfertigte seine 19 Fragen zu den Schulbezirken damit, dass „die Zahl jener lokalen Angelegenheiten, die mit Bildung zu tun haben, […] nicht gering“ sei.26 Dennoch war der Rückfluss mangelhaft. Das zeigte sich an zahlreichen Ermahnungen. Immer wieder wurde darum gebeten, in jedem Fall die vorgegebenen Formulare zu verwenden.27 Das Bildungsministerium mahnte, die Statistik müsse die Wirklichkeit spiegeln, was wenig implizit hieß, dass Zahlen nicht erfunden werden dürften.28 Auch sonst war das Ministerium mit der Arbeit der Provinzverwaltung in Guangdong unzufrieden. Die erste Datensammlung für das Jahr 1907 habe für die Anfertigung einer Statistik eigentlich nicht ausgereicht. Nicht nur hatte das Schulamt sich nicht an die Formulare aus Peking gehalten, sondern die Formulare waren obendrein fast immer falsch ausgefüllt worden. Nur eine einzige Mittelschule hatte alles richtiggemacht. Als Ersatz für die 17 eigenmächtig ersonnenen Formulare des Schulamtes, die ich eben vorgestellt habe – und die vor allem die Schulfinanzen nicht ausreichend differenziert hatten – schickte Peking 26 neue Vordrucke und eine Liste mit 17 Erläuterungen. Trotzdem kämpfte das Schulamt auch 1908 mit Problemen: Manche Lokalbeamte schickten trotz Ermahnungen gar keine Daten. Das Amt drohte ihnen, man werde die entsprechenden Felder in der Statistik leer lassen oder einfach alte Daten einsetzen. In jedem Fall werde man das Bildungsministerium über ihre Nachlässigkeit in Kenntnis setzen.29 Das Ausfüllen einheitlicher Formulare mit vor allem numerischen Angaben war für die lokalen Angestellten der „Büros zur Förderung der Bildung“ und die Schulbetreiber eine neue Herausforderung. Sie waren bis dahin von der Bürokratie kaum erfasst worden. Schon früh richtete der Staat deshalb Trainingszentren für das Personal der neuen Schulen ein und auch spezielle Kurse für Beamte. Doch längst nicht jeder konnte einen solchen Kurs besuchen.30 Dies, wie auch die langen Kommunikationswege, war dem Ministerium durchaus bewusst. Deshalb erhielt der Lokalbeamte allein zwei Monate Zeit, um allen
26 Bildungsministerium: Xuebu zha ge sheng tixueshi fending xuequ wen, S. 65. 27 Bildungskommissariat von Guangdong: Ben si feng du pi Nanshaolian sheng shixue yuan Zheng ling Zuren bing jiao baogao tubiao tongchi zunzhao fangban wen (Das Bildungskommissariat hat die Bewertung des Generalgouverneurs bezüglich des in tabellarischer Form abgefassten Berichts des für Nanshaolian zuständigen Provinz-Schulinspektors Zheng Zuren erhalten und befiehlt, diesen zum Vorbild zu nehmen), 1908, in: Guangdong jiaoyu guanbao (Bildungs-Beamtenzeitung der Provinz Guangdong, fortan: GDJYGB) 1 (1910), Heft 6, baogao, S. 85. 28 Verfassungskommission (Xianzheng biancha guan): You zouding tongjibiao zong lie (Erneute Festlegung der Muster statistischer Formulare), XT 1/2/20 (10.02.1909), in: Da Qing xin faling (Die neuen Gesetze der Großen Qing, fortan: DQXFL) Bd. 5, Beijing 2010, S. 88–91. 29 Bildungskommissariat von Guangdong (Guangdong tixuesi): Qian si Jiang bianzao Guangxu sanshisi nian Guangdong jiaoyu tongjibiao chengqing xuebu chahe wen (Bildungskommissar Jiang bittet das Bildungsministerium um Prüfung der von ihm kompilierten Bildungsstatistik der Provinz Guangdong für das Jahr 1908), in: GDJYGB 1 (1910), Heft 2, baogao, S. 1f. 30 Frölich, Des Kaisers neue Schulen, S. 160–170.
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Schulen seines Kreises die Formulare zuzustellen.31 Zudem konnte er beim Schulamt Kopien der Druckplatten kaufen, um bei Bedarf selbst schnell mehr Formulare drucken zu können. In abgelegenen Gegenden sollten sogar die einzelnen Schulen selbst eine Kopie der Druckplatten erhalten.32 Mindestens drei Monate Zeit hatte dann das Schulpersonal, um die Formulare auszufüllen. Danach bekam der Lokalbeamte wieder zwei Monate, um aus den Bögen eine Statistik für den gesamten Kreis anzufertigen und an das Schulamt zu schicken.33 Auch sonst bemühte man sich um Entgegenkommen. 1909 erklärte das Ministerium zum Beispiel, wie man neuerdings Zahlen schreiben müsse. „3.536 Schüler“ zum Beispiel hatten die Lokalbeamten und Schulangestellten oft in herkömmlicher Weise ausgeschrieben: „Drei Tausend fünf Hundert drei Zehn Sechs“ (sanqian wubai sanshi liu). Dies sei, wenn man mit den Zahlen arbeiten wolle, unpraktisch. Nun solle man chinesische Ziffern in der so genannten Positionsschreibweise notieren, also „Drei Fünf Drei Sechs“ (san wu san liu). Dabei kam es regelmäßig zu dem Problem, dass das Personal an den Schulen „leere“ Dezimalstellen nicht durch Nullen kennzeichnete: So wurde zum Beispiel aus 5.300 wu san und damit nur 53. In Zukunft möge man also auch Nullen verwenden.34 Das allgemeine Statistikamt in Kanton zeigte Verständnis für die Schwierigkeiten: Schließlich sei dies das erste Mal, dass die Beamten und Angestellten statistische Berichte zusammenstellen müssten.35 Bei Unklarheiten solle man sich deshalb getrost direkt an das Amt wenden. Dafür ließ man sogar die bisherigen, elaborierten Formvorschriften des amtlichen Schriftverkehrs fallen. Fragen möge jeder „entweder durch ein amtliches Schreiben [gongdu] oder einen normalen Brief
31 Bildungskommissariat von Guangdong: Banfa Guangdong ge shu zaobao xuetang yi lan biaoshi (Verteilung des Tabellenformulars für die Erfassung aller modernen Schulen in Guangdong durch die untergeordneten Behörden), Guangzhou [1906], S. [1]v (Sun Yat-sen Bibliothek Guangzhou). 32 Ebd., S. [2]v f. 33 Bildungskommissariat von Guangdong: Banfa Guangdong ge shu, S. [2]r. 34 Bildungsministerium: Xuebu zhongding tongjibiao ji ge xuetang yilanbiao lixing ge sheng tixuesi wen fu biao lie er jian (Das Bildungsministerium legt die Statistik-Formulare sowie die Liste für jede moderne Schule endgültig fest und sendet sie an den Bildungskommissar einer jeden Provinz, einschließlich zweier Formularvorlagen), November 1909, in: DQXFL Bd.7, S. 55–58, S. 55. Arabische Zahlen verbreiteten sich in der chinesische Mathematik ab den 1890er Jahren und wurden mit dem neuen Schulsystem zum Standard zumindest in den Lehrwerken, siehe Joseph W. Dauben/Yibao Xu: Mathematics Education in Twentieth-Century China, in: Alexander Karp/Gert Schubring (Hg.): Handbook on the History of Mathematics Education, New York 2014, S. 361–375, S. 363–365. Man vergleiche dies mit der „Einübung im Umgang mit Zahlen“ in der Habsburger Monarchie, siehe den Beitrag von Wolfgang Göderle in diesem Band. 35 Informationsbüro der Provinz Guangdong (Guangdong diaocha ju): Guangdong diaocha ju gongdu lu yao chubian (Verzeichnis der wichtigsten offiziellen Dokumente des Informationsbüros der Provinz Guangdong) [1909], in: Sang Bing (Hg.): Sanbian Qingdai gao chaoben (Manuscripts and Hand-Copied Books of the Qing Dynasty) Bd. 49, Guangzhou 2010, S. 175– 252, S. 201.
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[shuhan] oder eine schnell geschriebene, kurze Notiz [xingcao zuo shu]“ zur Kenntnis bringen; „Alles ist möglich“.36 Hier vollzog sich ein Wandel der Verwaltungskultur auf ganz praktischer Ebene. Die Erhebung statistischer Daten über die neuen Schulen war nun nicht mehr bloß Aufgabe der lokalen Beamten und ihrer inoffiziellen Angestellten und Helfer, die zwar eine gewisse Übung in der Kompilation von Zahlen hatten, deren Zuständigkeitsbereich aber geo- wie demographisch sehr groß war: Im Durchschnitt war ein Magistrat für die Belange von 250.000 Menschen zuständig, so dass die im Rahmen der „Neuen Politik“ angestrebte, intensivere Verwaltung auch mit dem üblichen, informellen Stab an Angestellten nicht zu bewerkstelligen war.37 Stattdessen erweiterte sich der Kreis derjenigen, die in das statistische Projekt und damit in den Staat eingebunden waren, dramatisch, und zwar um die Mitarbeiter der neuen „Büros zur Förderung der Bildung“ ebenso wie um die Angestellten der neuen Schulen. Sie alle mussten nun Schüler, Schulgeld, Stunden, Lehrer, Gehälter, Absolventen und so weiter nach staatlich vorgegebenen Schemata zählen und die Ergebnisse weiterleiten. Die „Neue Politik“ bedeutete eben auch, dass eine neue Schicht von kleinen Staatsbediensteten und Zuträgern entstand, die wenig gebildet und schnell überfordert waren, aber dennoch die Statistik und andere neue Aufgaben vor Ort umsetzen mussten.38 1911 plädierte denn auch ein Mitglied der Provinzversammlung von Guangdong für eine Verringerung des Verwaltungsaufwandes. Er klagte, derzeit kämen vom Bildungsministerium und dem Schulamt jedes Jahr mehr als zehn Formulare, die jährlich, halbjährlich oder gar monatlich und teilweise in achtfacher Ausfertigung einzureichen seien. Außerdem sollten die Ausgaben in verschiedenen Währungen angegeben werden; Lehr- und Verwaltungspersonal solle man einmal gemeinsam und ein andermal getrennt aufführen; die Schüler sollten einmal summarisch, dann wieder nach neuen und alten Schülern getrennt gezählt werden. Wenn sie alle Formulare ausgefüllt hätten, seien die Lehrer oft zu erschöpft, um den Unterricht vorzubereiten. Deshalb müssten die Formulare dringend vereinheitlicht werden.39 STATISTIK UND SCHULPLANUNG Nun dienten Zahlen also nicht länger nur der Inventarisierung und der Rückversicherung kaiserlicher Herrschaft, sondern als „standard model for comparisons and as a base to make choices“. Dass aus den nun erhobenen Zahlen allgemeine 36 Ebd.; zu den Typen amtlicher Dokumente siehe Fairbank/Deng: Ch’ing Administration, S. 72– 106. 37 Vgl. Kreuzer, Staat und Wirtschaft, S. 139. 38 Robert Joseph Culp: Review Essay. Knowing Society, Cultivating Citizens, and Making the State in Post-Imperial China, in: Cross Currents 6 (2013), S. 154–166, S. 164. 39 Hu Jiaqi: Qing xuebu gaiding jiaoyu faling zhi jianyi (Vorschlag, das Bildungsministerium zur Änderung der Bildungsgesetze aufzufordern), in: GDJYGB 2 (1911) Heft 2, fupian, S. 44– 46, S. 46.
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Schlüsse und Handlungsanweisungen für die Zukunft destilliert wurden, rechtfertigt für Andrea Bréard durchaus den neuen Namen „Statistik“, wenngleich es der zentralen Statistikbehörde schwer gefallen sei, diese neue Natur der Datensammlung allen involvierten Beamten deutlich zu machen.40 Tatsächlich ermahnte die Zentralregierung jene, dass die Statistik insbesondere für den Vergleich zwischen einzelnen Provinzen, aber auch zwischen verschiedenen Jahren wichtig sei, weshalb die Beamten bitte regelmäßig den Tatsachen entsprechende Daten liefern sollten.41 Zahlenbasierte Planung fand sich bald allerorten. So hieß es zur Einrichtung und Untersuchung der Schulbezirke im November 1906, zum Zwecke der weiteren Verbreitung der Bildung sollten „dringend die Tatsachen ermittelt werden, um Vorbereitungen treffen und einen Plan aufstellen zu können“.42 Dies waren keine leeren Reden. So machte ein Finanzbericht, den die Buchhaltungsabteilung des Schulamtes von Guangdong 1908 veröffentlichte, deutlich, dass die 10.000 Tael Silber43, die die Behörde von ihrem Hauptfinancier, dem „Büro für Wiederaufbau“ (shanhouju) der Provinz monatlich erhielt, bei weitem nicht ausreichten. Stattdessen benötige man ad hoc die geschätzte, enorme Summe von 550.000 Tael Silber. Damit das Schulamt unter den höchst widrigen Umständen überhaupt weiterarbeiten könne, sollten die Schuldirektoren möglichst präzise und vollständige Daten über ihre jeweilige Schule liefern. Nur so werde eine sinnvolle Finanzplanung möglich sein.44 Ähnlich hatte der Gelehrte und ehemalige hohe Beamte Huang Zunxian (1848– 1905) schon 1904 argumentiert, als er die Gentry seines Heimatkreises Jiaying im Osten der Provinz Guangdong aufrief, die Zahl der Kinder zwischen 5 und 13 Jahren – dem richtigen Alter für die Grundschule – von den Clan-Vorstehern zu erfragen, „um herauszufinden, wie viele Kinder in die Grundschule eintreten sollten; eine Grundschule soll höchstens 110 bis 120 Kinder und mindestens 50 bis 60 Kinder haben. Die Zahl der Schüler soll akkurat untersucht werden, um die Schulen genau planen zu können.“45 Der Gelehrte Luo Zhenyu (1866–1940) plante zwei Jahre später die seiner Meinung nach erforderliche Zahl verschiedener Schulen in 40 41 42 43
Bréard, Reform, Bureaucratic Expansion, S. 30f., 147. Verfassungskommission: You zouding tongjibiao zong lie, S. 89. Bildungsministerium: Xuebu zha ge sheng tixueshi fending xuequ wen, S. 65. Das Tael oder liang ist eine Gewichtseinheit und war als Silbertael zugleich bis 1911 eine wichtige Währungseinheit. Dabei existierte kein einheitlicher Standard, so dass viele verschiedene Silbertael von unterschiedlichem Gewicht – meist um 35 Gramm – und unterschiedlicher Reinheit des Silbers koexistierten. Siehe Hosea Ballou Morse: The Trade and Administration of the Chinese Empire, London 1908, S. 149–161. 44 Schulamt von Guangdong: Guangdong xuewu gongsuo kuaijike shilüe (Kurze Vorstellung der Buchhaltungsabteilung des Schulamtes von Guangdong), Guangzhou 1908, S.10r–12r; zum „Büro für Wiederaufbau“, siehe Elizabeth J. Remick: Regulating Prostitution in China. Gender and Local Statebuilding, 1900–1937, Stanford, CA 2014, S. 121. 45 Huang Zunxian: Jinggao tongxiang zhujunzi (Respektvolle Bekanntmachung an die edlen Herren des Heimatkreises), 1903, in: Chen Zheng (Hg.): Huang Zunxian quanji (Die gesammelten Schriften Huang Zunxians) Bd. 1, Beijing 2005, S. 547–550, S. 548. Zum Begriff „Gentry“ für die lokale Elite in China, siehe William T. Rowe: China’s Last Empire. The Great Qing, Cambridge, MA 2009, S. 273–275.
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allen Städten, Präfekturen und Kreisen des Reiches für die kommenden zehn Jahre.46 In der Folgezeit übernahm das Bildungsministerium die Planung auf Grundlage seiner selbst erhobenen Zahlen. Im April 1909 zum Beispiel stellte das Ministerium einen Plan für das weitere Vorgehen in den kommenden neun Jahren auf. Für jedes Jahr wurde genau aufgelistet, welche neuen Regularien erlassen, welche neuen Schultypen ins Leben gerufen und welche Schulbücher publiziert werden sollten. Außerdem war für jedes Jahr die Untersuchung aller Provinzen durch die Bildungsinspektoren vorgesehen, und es sollte im ganzen Land die Zahl der Leseund Schreibfähigen erhoben werden. Mit dem Plan reagierte das Ministerium auf die Schulpläne, die die Verfassungskommission Ende 1908 veröffentlicht hatte. Für 1917 war nicht nur die Inkraftsetzung der Verfassung vorgesehen, sondern – als Vorbedingung – ebenfalls die Realisierung der Schulpflicht für alle Kinder unter 15 Jahren.47 Als der Regent Prinz Chun (1883–1951) im Herbst 1910 unter dem Druck der revolutionären Stimmung die Eröffnung des Parlaments auf 1913 vorzog, passte auch das Bildungsministerium sehr schnell seine Planung an. Wenige Wochen nach Erlass des Edikts gab man eine Liste der „wichtigsten und zweitwichtigsten Maßnahmen zur Verbreitung der Bildung“ heraus.48 Schon im Januar folgte der nächste, wiederum aktualisierte und ausführliche Zeitplan, der aufzählte, welche konkreten Maßnahmen das Ministerium in den Jahren 1911 und 1912 jeweils noch ergreifen wollte, um die Bevölkerung bestmöglich auf die Eröffnung des Parlaments vorzubereiten.49 Ähnliches geschah auf der Provinzebene, wo das Bildungskommissariat von Guangdong unter anderem Arten und Zahlen von Schulen bis hinab auf die Ebene jedes einzelnen Kreises plante.50 Die Kosten für die weitere Verbreitung der allgemeinbildenden Primar- und Sekundarschulen auf allen administrativen Ebenen der Provinz in den kommenden fünf Jahren berechnete das Kommissariat 1911 auf genau 49.263.718 Silbertael – eine angesichts der praktischen Probleme und der unsicheren Datengrundlage geradezu lächerlich präzise
46 Luo Zhenyu: Ge sheng shi nian jian jiaoyu zhi jihua (Planung der Bildung für jede Provinz in den kommenden zehn Jahren), in: Dongfang zazhi 3 (1906) Heft 7, lunshuo (Diskussion), S. 1– 12; Heft 8, lunshuo, S. 1–11; Heft 9, lunshuo, S. 1–7. 47 Bildungsministerium: Xuebu zoubao fen nian choubei shiyi zhe (Memorandum des Bildungsministeriums über die geplanten Maßnahmen nach Jahren arrangiert), Februar 1909, in: DQXFL Bd.5, S.264–271; Elisabeth Kaske: The Politics of Language in Chinese Education, 1895–1919, Leiden 2008, S. 283f. 48 Bildungsministerium: Xuebu zou fu chen puji jiaoyu zuiyao ciyao banfa zhe bing dan (Memorandum des Bildungsministeriums zu den wichtigsten und zweitwichtigsten Maßnahmen zur Verbreitung der Bildung, nebst Entwurf), XT 2/11/25 (26.12.1910), in: DQXFL Bd.10, S. 88– 90; vergleiche dazu die Auslegung bei Kaske: Politics of Language, S. 287. 49 Bildungsministerium: Xuebu zou zhuo ni gaiding choubei jiaoyu shiyi zhe bing dan (Memorandum des Bildungsministeriums zu einem Entwurf zur Änderung des Bildungssystems, einschließlich des Entwurfs), XT 2/12/26 (26.01.1911), in: DQXFL Bd.10, S. 270–272. 50 Bildungskommissariat von Guangdong: Ben si niding fen nian choubei jiaoyu shiyi biao fenbie cheng xiang chahe wen (Präsentation des tabellarischen Entwurfs der nach Jahren getrennten Planung für das Bildungswesen durch das Bildungskommissariat von Guangdong zur detaillierten Begutachtung) in: GDJYGB 1 (1910), Heft 1, wendu, S. 1r–21v.
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Budgetplanung.51 Je geringer die Präzision in der Realität war, so scheint es, desto genauer sollte wenigstens die Planung sein. Alle diese Beispiele verweisen also zum einen auf die Absicht des Bildungsministeriums in Beijing wie auch des Bildungskommissars in Guangzhou, den Aufbau des staatlich kontrollierten Schulwesens zu rationalisieren und planbar zu machen. Unverzichtbare Grundlage hierfür war die junge Bildungsstatistik. Sie sollte den Ist-Zustand zeigen und, wenn man die jährlichen Erhebungen aneinanderreihte, eine Entwicklung sichtbar machen, in die die Schulverwaltung dann planvoll würde eingreifen können. Um dieser Sichtbarmachung willen übertrug das Ministerium von Anfang an die wichtigsten Statistiken auf Reichs- und Provinzebene in Graphiken (siehe folgender Abschnitt). Bei deren Anblick kam im Ministerium in Beijing schon Ende 1910, als die zweite Gesamtstatistik (für das Jahr 1908) erschien, verhaltene Euphorie auf: „Wenn man diese Graphiken mit jenen des Vorjahres vergleicht, so lässt sich sagen, dass sie von Fortschritt (jinbu) künden.“ Jinbu war als „return graphic loan“ aus dem Japanischen ein neues Konzept. Der statistische Vergleich aber schien seinen Wahrheitsgehalt zu belegen.52 ZWIESPÄLTIGER STATE EFFECT Die Statistik war, sofern sie von staatlichen Regierungen betrieben wurde, zentral für die Erzeugung des state effect.53 Der Staat, gleich ob imperial oder national, war es, der die Daten sammelte oder sammeln ließ, und zwar Daten über jene Bevölkerung, von der er sich dadurch abzusetzen schien. Die Kategorien, in die der Staat die Bevölkerung, aber auch Schulen und Schulfinanzen, einteilte, waren zweifelsfrei „staatliche Fiktionen“ im Sinne von James Scott. Fiktionen freilich, die nicht fiktiv blieben, sondern soziale Wirklichkeit hervorbrachten. Statistiker erfanden Kategorien, um die Menschen sortieren zu können, aber diese Kategorien haben sich verselbstständigt und prägen heute nicht nur unser Bild der Gesellschaft als ganzer, sondern auch „die Art und Weise, auf die wir unseren Nachbarn beschreiben“.54
51 Bildungskommissariat von Guangdong: Guangdong sheng putong jiaoyu fen nian choubei yusuan jingfei biao (Nach Jahren getrennte Finanzplanung für das allgemeine Schulwesen der Provinz Guangdong), in: GDJYGB 2 (1911), Heft 4, wendu, S. 121–130. 52 Bildungsministerium: Xuebu zou jincheng die er ci jiaoyu tongji tubiao zhe (Memorandum des Bildungsministeriums zum Erscheinen der zweiten [reichsweiten] Bildungsstatistik), XT 2/12/26 (26.01.1911), in: DQXFL Bd.10, S. 278f.; Robert Joseph Culp: Teaching Baihua. Textbook Publishing and the Production of Vernacular Language and a New Literary Canon in Early Twentieth-Century China, in: Twentieth-Century China 34 (2009), S. 4–41, S. 8. 53 Culp, Review Essay, S. 161f.; Lam, Passion, S. 140f. 54 Hacking: Taming, S. 3; James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven, CN 1998, S. 24. Dies galt (und gilt) für Klassifikationssysteme generell, siehe Rebekka Habermas/Alexandra Przyrembel: Einleitung, in: dies. (Hg.): Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013, S. 9–24, S. 18.
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Gleichzeitig aber, und das ist mein zentrales Argument, veränderten die Statistiken das Bild des chinesischen Staates. Damit dies geschehen konnte, mussten Statistiken jedoch zunächst von der Öffentlichkeit rezipiert werden. Und tatsächlich publizierte die Qing-Regierung während der „Neuen Politik“, entgegen früherer
Abb. 1: Tortendiagramm zur Darstellung der Gesamtzahl von Schülern nach Provinzen für das Jahr 1907 (ge sheng xuesheng ru shu bijiao tu) [Original mehrfarbig], Quelle: Bildungsministerium: Di yi ci jiaoyu tongji tubiao 1909, S. [3]
Gewohnheit, fast alle ihre Statistiken. Allerdings waren, wie gezeigt, die praktischen Probleme der Datenerhebung gravierend. Dessen ungeachtet enthielten die drei reichsweiten Bildungsstatistiken der Jahre 1907 bis 1909 detaillierte Angaben über Schulfinanzen, die Zahl verschiedener Schulen und deren Schüler, Absolventenzahlen und so weiter. Der Großteil der drei Bände, die in heutiger Zählung jeweils rund 1.000 Seiten umfassten, bestand aus langen Tabellen für jede Provinz. Hier zeigten die vielen leeren Felder entweder, dass der Staat gar nicht fähig war,
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Daten zu sammeln, oder dass schlicht keine modernen Schulen eingerichtet worden waren. Die ersten rund zehn Seiten jedoch geben ein ganz anderes Bild wieder. Hier erwecken verschiedene – im Gegensatz zum Rest des Bandes farbige – Diagramme den Eindruck, der Staat liefere eine vollständige Bestandsaufnahme der Situation des Bildungswesens. Wo die Tabellen weiter hinten sogleich die Lücken erkennen lassen, zeigen die Diagramme schlicht unterschiedlich hohe Balken oder verschieden große Tortenstücke, die mit einer Ausnahme keine Rückschlüsse auf fehlende Schulen oder Probleme der Datenerhebung zulassen (Abb. 1). Gerade dadurch aber konnten die Diagramme für die chinesische Regierung jene Funktion erfüllen, die, folgt man James Hevia, bislang den Kolonialmächten vorbehalten gewesen war: In diesen Diagrammen schuf das chinesische Bildungsministerium das, was Bruno Latour „unveränderliche und kombinierbare mobile Elemente“ genannt hat – hochgradig kondensierte, abstrakte Informationen, die unabhängig von ihrem Gegenstand beliebig vervielfältigt, transportiert, gelesen, kombiniert und als Herrschaftstechnik genutzt werden konnten.55 Dafür, dass die Statistiken des Bildungsministeriums die von Latour beschriebene Funktion erfüllen konnten, kam es auf die Qualität der Daten – ob sie richtig und vollständig waren – gar nicht so sehr an. Das heißt mitnichten, dass sich die frühen Statistiker selbst um Präzision und Wahrhaftigkeit nicht geschert hätten. Doch war die unzureichende Qualität ihrer Zahlen neben dem fehlenden Grundwissen des Personals noch auf andere praktische Probleme zurückzuführen. Diese hatte das Ministerium bereits im Vorwort zur ersten Ausgabe der Statistik von 1909 thematisiert: Sechs Provinzen hatten ihre Bildungsausgaben und -einnahmen in der einen, elf Provinzen in einer anderen Währung kalkuliert. Eine Provinz hatte beide Währungen verwendet, und vier Provinzen hatten gar nicht erst angegeben, welche Währungen sie benutzt hatten. Zur besseren Vergleichbarkeit habe man zumindest die Überblickstabellen der Provinzen einheitlich umgerechnet. Das Ministerium bat ferner um Verständnis dafür, dass in den detaillierten Tabellen häufig Schüler, aber keine Schulen, oder Schulen, aber keine Schüler aufgeführt seien. Man habe sich bemüht, diese Unstimmigkeiten zu klären.56 Ferner seien die Angaben zur Qualifikation der Lehrer so unvollständig, dass man die gelieferten Angaben zwar in die Gesamtstatistik einer jeden Provinz aufgenommen, sie aus den Einzelstatistiken jedoch gelöscht habe. Eine Reihe von weiteren Angaben seien so spärlich gewesen, dass man sie ganz weggelassen habe.57 Trotz aller Probleme – wenn nicht gerade aufgrund dieser – erstellte das Bildungsministerium aber die genannten Diagramme, die einen eindrucksvollen Anstieg zum Beispiel der Gesamtzahl der Schüler an modernen Schulen von Null im 55 Bruno Latour: Drawing Things Together, in: Michael Lynch (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge, MA 1990, S. 19–68, S. 26, 33f.; James L. Hevia: English Lessons. The Pedagogy of Imperialism in Nineteenth-Century China, Durham 2003, S. 124–128. 56 Bildungsministerium: Di yi ci jiaoyu tongji tubiao (Erste Bildungsstatistik), Beijing 1909, Vorwort, S. 1f. 57 Ebd., S. 3.
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Jahr 1902 auf 510.000 im Jahr 1907 zeigten (Abb. 2). Die Herausgeber betonten eigens, sie wollten die Geduld ihrer Leser nicht strapazieren und ihnen in kürzest möglicher Zeit einen Überblick verschaffen.58 Der Staat, so die Botschaft dieser Form der Darstellung, war umfassend informiert und folglich Herr der Lage. Wie lückenhaft die Schulstatistik in Wahrheit jedoch war, wird noch deutlicher in einigen detaillierteren Statistiken, die seit 1910 im offiziellen „Amtsblatt für Bil-
Abb. 2: Graphik zu Veranschaulichung der Entwicklung der Gesamtzahl der Schüler an modernen Schulen in ganz China zwischen 1902 und 1907, von rechts nach links (linian xuesheng renshu bijiao tu), Quelle: Bildungsministerium: Di yi ci jiaoyu tongji tubiao
dung der Provinz Guangdong“ abgedruckt wurden. Als Beleg für meine These, dass die Statistik für einen – wenn auch ambivalenten – „state effect“ sorgte, sind gerade diese „Amtsblätter“ wichtig. Denn ob der Staat durch seine Statistiken im Sinne 58 Bildungsministerium: Xuebu zou jincheng bianding di yi ci jiaoyu tongji tubiao zhe (Memorandum des Bildungsministeriums zum Erscheinen der ersten [reichsweiten] Bildungsstatistik), in: Jiaoyu zazhi 2 (1910), Heft 5, wendu zhangcheng, S. 29f.
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Timothy Mitchells wirklich als eigenständige Struktur außerhalb der Gesellschaft wahrgenommen wurde, hing natürlich davon ab, ob diese Statistiken überhaupt rezipiert wurden. Von den Amtsblättern nun wissen wir im Gegensatz zu den Statistikbänden mit Sicherheit, dass sie eine große Leserschaft hatten, was auch intendiert war.59 Das zentrale „Amtsblatt des Bildungsministeriums“ wie auch diejenigen der einzelnen Provinzen wurden einerseits direkt an die untergebenen Stellen bis hinab zu jedem einzelnen „Büro zur Förderung der Bildung“ versandt. Vom alle zehn Tage erscheinenden Amtsblatt des Ministeriums gelangten so jeweils rund 600 Exemplare nach Guangdong. Zusätzlich wurde die Zeitschrift aber auch frei verkauft.60 Was ihre Leser zu Gesicht bekamen, sah dann aber häufig wie folgt aus: Die erste Seite der „Statistik der Fachschulen der Provinz Guangdong“ (Abb. 3) ließ schnell erkennen, dass es von dieser Sorte Schule bislang nur drei in der Hauptstadt gab – trotzdem druckte man anschließend noch sieben Seiten mit ausnahmslos leeren Feldern zu allen weiteren Kreisen der Provinz. Die „Tabelle der Qualifikationen der Lehrkräfte an Pädagogischen Schulen der Provinz Guangdong“ konnte keinen viel besseren Eindruck erwecken und kam nach zehn weitgehend leeren Seiten auf insgesamt 55 Lehrerausbilder in ganz Guangdong. Und auch wenn sie auf den ersten Blick viel besser gefüllt erschien, entblößte die „Statistik der Büros zur Förderung der Bildung [quanxuesuo] in der Provinz Guangdong“ am Ende doch noch deutlicher die Schwäche des chinesischen Staates: Denn leer blieben hier einzig jene zwei Zeilen, in denen die Vorsteher der halbstaatlichen „Büros zur Förderung der Bildung“ ihr eigenes sowie das Monatsgehalt ihrer Untergebenen – über welches sie selbst bestimmen konnten – hätten angeben sollen. Der Großteil der Angesprochenen hatte hierzu keine Angaben gemacht – und der Staat konnte sie offenkundig nicht dazu zwingen.61
59 Xiaohong Guan, Wan Qing xuebu, S. 324f. 60 Guangdong jiaoyu guanbao gaiban zhangcheng (Veränderte Regularien der Guangdong Jiaoyu Guanbao), in: GDJYGB 2 (1911), Heft 17, S. 1. 61 Guangdong sheng quanxuesuo tongjibiao (Statistik der “Büros zur Förderung der Bildung” in der Provinz Guangdong), in: GDJYGB 1 (1910), Heft 10, baogao, S.137–140; Guangdong sheng zhuanmen xuetang tongjibiao (Statistik der Spezialschulen der Provinz Guangdong), in: GDJYGB 1 (1910), Heft 1, baogao, S. 2; Guangdong sheng shifan xuetang jiaoyuan zige biao (Tabelle der Qualifikationen der Lehrkräfte an Pädagogischen Schulen der Provinz Guangdong), in: GDJYGB 1 (1910), Heft 9, baogao, S. 124.
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So entblößten die Qing ihre eigene Machtlosigkeit, indem sie mit der Statistik nicht nur ein vermeintlich präziseres, in jedem Fall aber umfassenderes System der Beobachtung einführten, sondern zugleich auch einen neuen Maßstab staatlichen
Abb. 3: Erste Seite der „Statistik der Fachschulen der Provinz Guangdong“ (Guangdong sheng zhuanmen xuetang tongjibiao) für das Jahr 1908, Quelle: GDJYGB 1 (1910), Heft 1, baogao, S. 2r.
Handelns, an dem sie sich damit auch sogleich selbst maßen. Dem neuen Anspruch aber, von Beijing aus ein Schulwesen bis hinab auf die Lokalebene aufzubauen und zu kontrollieren, konnte der kaiserliche Staat, obschon er auch eine Schulinspektion einführte, noch lange Zeit nicht genügen.62 Dies ließ sich aus der Bildungsstatistik deutlich ablesen.
62 Zur Schulinspektion, siehe Elizabeth R. VanderVen: A School in Every Village. Educational Reform in a Northeast China County, S. 129–161 sowie Frölich, Des Kaisers neue Schulen, S. 149–160.
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ZUSAMMENFASSUNG Weil die Statistik heute zu einer selbstverständlichen Art des Sehens geworden ist, schenken Historiker der Demonstration von Modernität, die die Statistik eben auch leistet, bisweilen wenig Beachtung. Stattdessen werden die oben genannten drei Bände immer wieder gerne als bloße Datenquelle benutzt. Gleichwohl vergisst kaum ein Autor, vor der mangelnden Verlässlichkeit dieser Statistiken zu warnen. Sally Borthwick vermutete gar – mit guten Gründen, aber nicht ohne Vorwurf – dass entlegene Provinzen sich ihre Statistiken nur ausdachten, ohne dass das „machtlose und schlecht informierte“ Bildungsministerium dies gemerkt habe.63 Es ist jedoch gerade ihre „Unzuverlässigkeit“, die die Bildungsstatistik für die Interpretation chinesischer Staatlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts interessant macht. Die übersichtliche Statistik wurde für den Staat zu einem zweischneidigen Schwert. Als das Instrument der modernen Verwaltung schien sie unverzichtbar. Ihre Verwendung allein bewies, dass sich die Qing auf der Höhe der Zeit und im Kreis der zivilisierten Nationen (und nicht etwa der potentiellen Kolonien) befanden, und dafür war gerade die Form, in der statistische Daten präsentiert wurden, entscheidend.64 Zugleich aber erlaubte die veröffentlichte Statistik einen Blick auf die Verhältnisse in den Städten und Dörfern des Reichs, der den Staat, gemessen am nun selbst erhobenen Anspruch, potentiell schwach aussehen ließ – sofern man sich nicht mit den bunten Diagrammen zufrieden gab. Ob die fast leeren Tabellen in den Amtsblättern ihren zahlreichen Lesern tatsächlich den intendierten Eindruck eines starken Staates vermittelten, ist zumindest fraglich: Entweder belegten die weißen Felder, dass die versprochenen Schulen nicht entstanden waren, oder dass der Staat, wie beim Gehalt der Vorsteher der „Büros zur Förderung der Bildung“ gesehen, zur Datenerhebung nicht in der Lage war. Der state effect – also die Wahrnehmung des Staates als einer real existierenden Struktur unabhängig von den sie bevölkernden Beamten – wird zu einem guten Teil durch jene Instrumente erzeugt, durch die der Staat sieht, wie es in der berühmten Formulierung von James Scott heißt.65 Den Umgang mit diesen Instrumenten indes müssen die Akteure des Staates zunächst erlernen.66 Wenn, wie in den letzten Jahren der Qing-Dynastie, in diesem Prozess gerade deutlich wird, dass der Staat zunächst nur sehr wenig sieht, und wenn dieser Eindruck zudem nicht verschleiert wird wie auf den ersten Seiten der reichsweiten Statistikbände, dann resultiert daraus nicht unbedingt der Eindruck eines starken Staates. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Veröffentlichung solcher staatlicher Statistiken nicht zur Wahrnehmung einer Trennung von Staat und Gesellschaft geführt hätte. Es bedeutet nur, dass die 63 Sally Borthwick: Education and Social Change in China. The Beginnings of the Modern Era, Stanford, CA 1983, S. 78–80, 94; Guan, Wan Qing xuebu, S. 326f. 64 Jean-Guy Prévost: Statistics, Public Debate and the State, 1800–1945. A Social, Political and Intellectual History of Numbers, London 2012, S. 64. 65 Scott, Seeing, S. 76–81. 66 Thomas Mullaney: Coming to Terms with the Nation. Ethnic Classification in Modern China, Berkeley, CA 2011, S. 41 zeigt dies anhand der Schaffung der kanonischen 55 ethnischen Minderheiten der Volksrepublik seit den 1950er Jahren.
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separate Struktur „Staat“ nicht zwangsläufig als mächtig wahrgenommen werden musste. Andererseits kamen durch die spätkaiserliche Bildungsstatistik mehr Menschen als je zuvor in Kontakt mit der staatlichen Verwaltung und wurden zu deren Zuträgern.67 Pragmatisch bemühte sich die Verwaltung, diesen Prozess zu erleichtern, indem sie zum Beispiel erklärte, wie Formulare auszufüllen und Zahlen zu schreiben seien. Doch zeigte die Statistik insgesamt eben auch, wie groß der Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit war. Gerade jenen, denen der Staat durch neue Schulen überhaupt erst zu einer professionellen Ausbildung verholfen hatte – den Lehrern zum Beispiel und allen voran den Militärs – erschien derselbe Staat nicht zuletzt wegen seiner eigenen Statistiken als zu schwach, zu langsam und zu wenig modern. Das wurde deutlich, als das Finanzministerium 1910 die ersten Finanzstatistiken der einzelnen Provinzen veröffentlichte. Diese ließen erkennen, wie unterfinanziert die Verwaltung überall war und in welchem Ausmaß sie deshalb einerseits unpopuläre Sonderabgaben erhob und andererseits Aufgaben an die Gentry delegiert hatte – beides traf auch auf das Schulwesen zu. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Provinzen von ihren Abgaben weit weniger als vorgeschrieben an Beijing weiterleiteten, so dass die Zentralregierung dem Bankrott nahe war. Diese Enthüllungen führten zu einer öffentlichen Debatte und zu scharfen Auseinandersetzungen in den Provinzversammlungen. Letztere überschütteten die Gouverneure mit Reformforderungen, die jene größtenteils ablehnten; darunter auch die Forderung, die Finanzierung der Schulen endlich eindeutig zu regeln. Dies trug wesentlich zu jener aufgeheizten Stimmung bei, in der sich der Aufstand von Militärs und städtischen Eliten in Wuchang im Oktober 1911 zur reichsweiten Revolution auswachsen konnte, statt wie die vielen vorherigen Unruhen von der Regierung erstickt zu werden.68 Dass es aber die kaiserliche Regierung gewesen war, die ab 1907 die Statistik überhaupt erst verbreitet hatte, wurde nach Gründung der Republik 1912 schnell vergessen oder nicht mehr ernst genommen. Als 1923 das erste Lehrbuch speziell für Bildungsstatistik erschien, behauptete im Vorwort der einflussreiche Pädagoge Tao Xingzhi (1891–1946), Absolvent der Columbia University, Bildungsstatistik gebe es in China erst seit vier Jahren. Aber er pries begeistert ihre Möglichkeiten: „Will man im Bereich der Bildung ans Licht bringen, was die Alten nicht herausfanden; will man verstehen, was die Zeitgenossen nicht verstehen, dann kommt man nicht umhin, sich direkt oder indirekt auf die statistische Methode zu verlassen.“69 67 Näher hierzu Philip Huang: Public Sphere/Civil Society in China? The Third Realm between State and Society, in: Modern China 19 (1993), S. 216–240, S. 230–232. 68 Rowe: Last empire, S. 280; Li Zhenwu: Late Qing Govenors and Provincial Assemblies, in: Joseph Esherick/C. X. George Wei (Hg.): China. How the Empire Fell, London 2014, S. 36– 65; Guangdong ziyiju di yi ci huiyi baogaoshu (Bericht über die erste Sitzung der Provinzversammlung von Guangdong), in: Sang Bing (Hg.): Sanbian Qingdai gao chaoben (Manuscripts and Hand-Copied Books of the Qing Dynasty) Bd. 49, Guangzhou 2010, S. 131–173, S. 143– 145. 69 Xue Hongzhi: Jiaoyu tongji xue dagang (Grundzüge der Lehre von der Bildungsstatistik), Beijing 1923, Vorwort, S. iv.
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Da waren gerade einmal 14 Jahre vergangen, seit die Zentralregierung die erste reichsweite Bildungsstatistik veröffentlicht hatte. Und doch schien der statistische Blick bereits unabdingbar geworden zu sein, wollte man legitime Aussagen über das Bildungswesen Chinas treffen.
INTERNATIONALE UND WELTWIRTSCHAFTSSTATISTIK BEOBACHTUNGEN, ÜBERLEGUNGEN UND THESEN ZUR GENESE INTERNATIONALER WIRTSCHAFTSSTATISTIK IN DEN 1920ER UND 1930ER JAHREN Martin Bemmann Internationale Wirtschaftsstatistiken unterschiedlicher Art werden seit Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße erhoben und publiziert. Ab dem Ersten Weltkrieg jedoch lässt sich die Etablierung einer neuen Form beobachten, die hier als „Weltwirtschaftsstatistik“ bezeichnet wird. Das Kapitel – ein Beitrag zur Geschichte von Globalisierungsprozessen in den 1920er und 1930er Jahren – skizziert zunächst zentrale Unterschiede zwischen der älteren und jüngeren Form der internationalen Wirtschaftsstatistik. Diese bestanden vor allem hinsichtlich der jeweiligen Urheber, der Erscheinungsformen und der inhaltlichen wie geographischen Breite. Zudem hing die „Weltwirtschaftsstatistik“ von permanenter grenzüberschreitender Kooperation beteiligter Behörden, privater Einrichtungen und Experten ebenso ab wie von der Orientierung nationaler Statistik an international vereinbarten Standards. Im zweiten Schritt werden Überlegungen angestellt, weshalb die „Weltwirtschaftsstatistik“ gerade in einer Zeit entstand, die eher als eine Periode gilt, in der grenzüberschreitende Kooperationen im politischen und wirtschaftlichen Bereich schwierig bis unmöglich wurden. International economic statistics of various kinds have been compiled and published since the mid-19th century. From the First World War onwards, however, a new form of these international statistics emerged which I propose to call “world economic statistics”. In a first step, this chapter – contributing to the history of globalisation processes in the 1920s and 1930s – outlines major differences between the older and the newer form of international economic statistics. Differences existed mainly in terms of their producers, their forms of publication, their contents and their geographical scopes. Furthermore, “world economic statistics” mandatorily required a permanent border-crossing cooperation of state authorities, private bodies and experts as well as a certain orientation of national statistics towards international standards. In a second step, the chapter considers reasons why this new form of international statistics was established just in a time usually known as a period in which border-crossing cooperation in a political and economic sense became difficult or even impossible.
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EINLEITUNG Statistik, so Franz Xaver Neumann 1870 in der Vorrede zum Auftakt seiner Uebersichten der Weltwirthschaft, sei der „Schlüssel zum Verständnis des Lebens der Völker“. Mit ihr lasse sich „beurtheilen, was das Volk mit seinem Vorrath von wirthschaftlicher Kraft und Intelligenz wirklich zu leisten vermag“. Einblicke „in die Produktions- und Verkehrsverhältnisse der wichtigsten Staaten der Welt“ seien jedoch nur mithilfe von „vergleichende[n] Übersichten“ möglich.1 Der „Typus jedes einzelnen Landes“, so Neumann-Spallart 15 Jahre später, werde „erst messbar und lässt sich erst in bestimmten Zahlen ausdrücken, wenn man denselben mit dem Typus anderer Länder und mit großen Mittelwerten vergleichen“ könne.2 Neumann-Spallarts Übersichten erschienen zunächst als Artikel und ab 1878 als immer umfangreichere Jahrbücher.3 Sie entstammen einer Zeit, die Historikerinnen und Historiker als Epoche der ‚ersten Globalisierung‘ charakterisieren. Die ökonomische Verflechtung vieler Regionen der Erde nahm dank der Transport- und Kommunikationsrevolutionen des 19. Jahrhunderts in einem bis dahin unbekannten Ausmaß zu und es entstand das, was wir heute ‚Weltwirtschaft‘ nennen.4 Gleichzeitig wuchs in allen sich industrialisierenden Gesellschaften die Zahl privater wie staatlicher Einrichtungen, die quantitative Daten über verschiedenste Aspekte erhoben. Auch planten und entschieden Unternehmen und staatliche Verwaltungen zunehmend auf Basis wissenschaftlich-rational gewonnenen Wissens.5 Statistik wurde auf diese Weise zum „wichtigste[n] Instrument eines kontinuierlichen self-
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Ich danke Albrecht Bemmann und Quinn Slobodian für die kritische Lektüre und Kommentierung dieses Beitrags. Fr[anz] X[aver] Neumann: Übersichten über Produktion, Welthandel und Verkehrsmittel, in: Geographisches Jahrbuch 3 (1870), S. 420–481, hier S. 420f. F[ranz] X[aver] von Neumann-Spallart: Ein internationales statistisches Institut, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik NF 11 (1885), S. 220–237, hier S. 224. Ders.: Uebersichten über Produktion, Verkehr und Handel in der Weltwirthschaft, Stuttgart 1878; vgl. Quinn Slobodian: How to See the World Economy. Statistics, Maps, and Schumpeter’s Camera in the First Age of Globalization, in: Journal of Global History 10 (2015), S. 307–332. Kevin O’Rourke/Jeffrey G. Williamson: Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth Century Atlantic Economy, Cambridge 1999; Steven C. Topik/Allen Wells: Commodity Chains in a Global Economy, in: Emily S. Rosenberg (Hg.): A World Connecting, 1870–1945, Cambridge/London 2012, S. 591–812; Cornelius Torp: Weltwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Die erste Welle ökonomischer Globalisierung vor 1914, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 561–609; zur Transport- und Kommunikationsrevolution vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1012– 1029. Vgl. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193; Margrit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 277–313; Jakob Vogel: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639–660.
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monitoring von Gesellschaften“.6 Ihre Urheber sahen sich an der Spitze moderner Wissenschaft und Aufklärung, die mit ihrer Arbeit in einer kleiner werdenden Welt zu grenzüberschreitender Verständigung, wachsendem Wohlstand und Frieden beitrugen.7 Es überrascht daher nicht, dass das Interesse an internationalen Wirtschaftsstatistiken – also grenzüberschreitend aggregierten und vergleichenden quantitativen Informationen über Produktion, Handel, Preise und Konsumtion – zunahm und damit auch die Zahl einschlägiger Publikationen. Zudem forderten Statistiker seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Erhebungs- und Darstellungsmethoden international zu standardisieren, „denn ohne Vergleichbarkeit im internationalen Sinne wird für eine ganze Reihe von Thatsachen niemals das erforderliche Material der Forschung geboten werden“.8 Seit der ersten Tagung des Internationalen Statistischen Kongresses 1853 standen wirtschaftsstatistische Aspekte auf dessen Tagesordnung und Größen der Zunft wie Adolph Quetelet oder Ernst Engel plädierten dafür, internationale Statistiken auf der Basis möglichst einheitlich erhobener Daten zu schaffen.9 Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren solche Bestrebungen jedoch wenig erfolgreich. Internationale Wirtschaftsstatistiken blieben in erster Linie aufwändige Kompilationen unveröffentlichter und publizierter nationaler Daten. Oft boten sie den Lesern Informationen, die grenzübergreifend wenig bis gar nicht vergleichbar waren und in relativ großen zeitlichen Abständen erschienen. Von Ausnahmen abgesehen, gelang es beteiligten Akteuren erst ab dem Ersten Weltkrieg, dauerhafte, grenzüberschreitende und zunehmend globaler werdende ‚wirtschaftsstatistische Infrastrukturen‘ zu etablieren, Erhebungs- und Darstellungsmethoden international zu standardisieren und im Zuge dessen vergleichbare und belastbare internationale Wirtschaftsstatistiken in einer Häufigkeit, inhaltlichen Breite, Differenziertheit und Geschwindigkeit zu publizieren, die heute alltäglich sind. Internationale Organisationen spielten dabei eine wichtige Rolle und in den 1920er und 1930er Jahren nahm der Völkerbund eine Schlüsselrolle ein.10 6 7
Osterhammel, Verwandlung, S. 57. Mark Mazower: Governing the World. The History of an Idea, London 2012, S. 100f.; vgl. Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg 2005; Theodore Porter: The Rise of Statistical Thinking, Princeton 1986. 8 Neumann-Spallart: Ein internationales statistisches Institut, S. 226. 9 Nico Randeraad: States and Statistics in the Nineteenth Century. Europe by Numbers, Manchester/New York 2010, zu “industrial statistics” als Thema der Kongresse: S. 74f.; Hans Genzmer: Die Bestrebungen zur Schaffung eines international-einheitlichen Zolltarifschemas, Münster 1929, S. 3–6. 10 Zu dessen wirtschaftsstatistischen Aktivitäten Roser Cussó: L’activité statistique de l’Organisation économique et financière de la Société des Nations. Un nouveau lien entre pouvoir et quantification, in: Histoire & Mesure 27 (2012), S. 107–136; Martin H. Hill: The Economic and Financial Organization of the League of Nations. A Survey of Twenty-Five Years’ Experience, Washington 1946; Dzovinar Kévonian: La légitimation par l’expertise. Le Bureau International du Travail et la statistique internationale, in: Les cahiers Irice 2 (2008), S. 81–106; A[lexander] Loveday: Geneva as a Centre of Economic Information, in: INDEX 9 (1934), S. 195–209; Charles K. Nichols: The Statistical Work of the League of Nations in Economic, Financial and Related Fields, in: Journal of the American Statistical Association 37 (1942), S.
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Der Zeitpunkt dieser Veränderungen liegt so nahe, wie er überrascht. Nahe liegt er, weil Historikerinnen und Historiker die Jahre ab den 1870er Jahren übereinstimmend als „Age of Economic Measurement“ charakterisierten und die Zeit zwischen 1920 und 1950 als entscheidende Periode gilt, in der zentrale Aspekte heutiger Wirtschaftsstatistik entstanden.11 Dass es dabei zu einem intensiven internationalen Austausch seitens vor allem europäischer und nordamerikanischer Ökonomen und Statistiker über Methoden, Ziele und praktische Relevanz der Wirtschaftsstatistik kam, überrascht angesichts der langen Tradition internationaler statistischer Kongresse nicht. Erklärungsbedürftig ist aber, warum über diese grenzübergreifenden Diskussionen hinaus gerade in den 1920er und 1930er Jahren die Entwicklung der internationalen Wirtschaftsstatistik eine neue Dynamik erhielt. Schließlich setzten die nun entstehenden, regionale und nationale Daten aggregierenden sowie relativ häufig erscheinenden Statistiken voraus, dass sich Akteure in unterschiedlichen Ländern darauf einigten, was auf welche Weise erhoben, kategorisiert und dargestellt werden sollte. Zudem mussten derartige Beschlüsse umgesetzt werden, was eine gewisse ‚wirtschaftsstatistische Infrastruktur‘ (Kommunikationswege im materiellen Sinne sowie personelle und institutionelle Netzwerke) ebenso bedingte wie die Bereitschaft von Unternehmern, Behörden und Statistikern, entsprechende Daten bereitzustellen, zu erheben, zu verarbeiten und zu veröffentlichen. Die Jahre zwischen den zwei Weltkriegen schienen dafür nicht gerade ideal gewesen zu sein, waren sie – und vor allem die 1930er Jahre – doch eine Zeit, in der sich ‚die Weltwirtschaft‘ zunehmend destabilisierte und internationale Kooperationen im politischen wie wirtschaftlichen Bereich komplizierter bis unmöglich wurden. Die wirtschaftsstatistischen Innovationen jener Jahre, die von Historikern bereits untersucht und dargestellt worden sind, dienten ja auch in erster Linie dazu, die in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen stark expandierenden wirtschaftspolitischen Aktivitäten von Regierungen zu ermöglichen.12 Eine vergleichbare internationale Behörde, die auf internationale Zahlen angewiesen gewesen wäre, gab es jedoch nicht. Selbst der 336–342; Alfred von Suchan: Die Wirtschaftsstatistik in der Tätigkeit des Völ-kerbunds, in: Zeitschrift für Schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 66 (1930), S. 192–195; Martin Bemmann: Das Chaos beseitigen. Die internationale Standardisierung forst- und holzwirtschaftlicher Statistiken in den 1920er und 1930er Jahren und der Völkerbund, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 57 (2016), S. 545–587 11 Judy L. Klein/Mary S. Morgan (Hg.): The Age of Economic Measurement, Durham/London 2001; J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001; Thomas Stapleford: The Cost of Living in America. A Political History of Economic Statistics, 1880–2000, Cambridge 2009. 12 Vgl. vor allem Tooze, Statistics; Alain Desrosières: Managing the Economy, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 7: Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 553–564; Emmanuel Didier: En quoi consiste l’Amerique? Les statistiques, le New Deal et la démocratie, Paris 2009; Mary O. Furner/Barry Supple (Hg.): The State and Economic Knowledge. The American and British Experiences, Cambridge 1990; Zachary Karabell: The Leading Indicators. A Short History of the Numbers That Rule Our World, New York et al. 2014; Stapleford: The Cost; sowie Kiran Klaus Patel: The New Deal. A Global History, Princeton 2016.
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Versuch, ein zentrales statistisches Amt samt möglichst einheitlichen Erhebungsund Darstellungsmethoden für das British Empire einzurichten, scheiterte.13 Anknüpfend an den noch recht übersichtlichen Forschungsstand zur Entwicklung und Etablierung internationaler Wirtschaftsstatistik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts14 stelle ich im Folgenden Beobachtungen, Überlegungen und Thesen zu den Gründen der skizzierten Entwicklung vor. Empirisch stütze ich mich auf meine bisherigen Recherchen zur wirtschaftsstatistischen Tätigkeit des Völkerbunds und anderer Organisationen sowie auf Ergebnisse eines Pilotprojekts, das sich der internationalen Standardisierung forst- und holzwirtschaftlicher Statistik widmete.15 Ich verfolge die Hypothese, dass nach dem Ersten Weltkrieg neben internationale Wirtschaftsstatistiken, die in erster Linie verschieden erhobene und daher nur bedingt vergleichbare regionale und nationale Daten kompilierten und versuchten, diese nachträglich vergleichbar zu machen, eine neue Form der Betrachtung trat, für die ich die Bezeichnung Weltwirtschaftsstatistik vorschlage.16 Im Vergleich zur älteren Form war diese aufwändiger, teurer, von enger, kontinuierlicher internationaler Kooperation abhängig und stellte das Verständnis globaler Zusammenhänge in den Mittelpunkt des Interesses. Statistiker, Ökonomen, Unternehmer und Beamte, die sich an Entwicklung und Etablierung der ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ beteiligten, können daher als Akteure verstanden werden, die „Globalität und Globalisierung kontrollier[t]en, tr[u]gen oder anst[ie]ßen“ und daher im Zentrum einer Geschichte von Globalisierungsprozessen stehen sollten.17 Sie waren es, deren Interaktionen in den 1920er und 1930er Jahren über Länder- und Kontinentgrenzen
13 Jean-Pierre Beaud/Jean-Guy Prévost: Statistics as the Science of Government. The Stillborn British Empire Statistical Bureau, 1918–20, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History 33 (2005), S. 369–391. 14 Vgl. H[arry] Campion: International Statistics, in: Journal of the Royal Statistical Society 112 (1949), S. 105–143; Cussó: L’activité statistique; Marine Dhermy-Mairal: Du danger des enquêtes savantes. Faire œuvre de science dans l’entre-deux-guerres au Bureau International du Travail, in: Revue d’Histoire Moderne & Contemporaine 62 (2015), H.2, S. 7–32; Tom Griffin: The League of Nations and the Conference of European Statisticians, in: Carlo Malaguerra (Hg.): 50 Years of the Conference of European Statisticians, Genf 2003, S. 7–24; Kévonian, La legitimation; Slobodian, How to See. 15 Bemmann, Das Chaos beseitigen. 16 Ich stütze mich bei dieser Begrifflichkeit auf einen Vorschlag des schweizerischen Ökonomen Alois Vladimir Furlan, der von seinen Zeitgenossen jedoch kaum rezipiert worden zu sein scheint. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg unterschied er im Zuge der Debatte über die Schaffung einer Weltwirtschaftslehre eine „internationale Wirtschaftsstatistik“, die „volkswirtschaftliche Tatsachen“ vergleiche, und eine „Weltwirtschaftsstatistik“, die „weltwirtschaftliche Zusammenhänge“ untersuche; V[ladimir] Furlan: Weltwirtschaftsstatistik, in: Weltwirtschaftliches Archiv 4 (1914), S. 295–340, hier: S. 302; vgl. zu dieser Unterscheidung auch Jakob Breuer: Die Methoden der Handelsstatistik, Paderborn 1920, S. 1f. 17 Boris Barth/Stefanie Gänger/Niels P. Petersson: Globalisierung und Globalgeschichte, in: Dies. (Hg.): Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt a.M./New York 2014, S. 7–18, hier S. 14.
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hinweg zunahmen und die zur gleichen Zeit der „Entwicklung eines globalen Bewusstseins“ Vorschub leisteten.18 Denn erst die permanent beobachtende Weltwirtschaftsstatistik machte die ‚eine Weltwirtschaft‘ zum quantitativ erfassbaren, eigenständigen Gebilde oder Geflecht und damit zumindest potentiell auch beeinflussbar. Aus dieser Perspektive erscheinen die 1920er und 1930er Jahre als eine Periode beschleunigter und sich vertiefender Globalisierungsprozesse. Im Folgenden skizziere ich zunächst grundlegende Probleme, die die Entwicklung und Etablierung internationaler Wirtschaftsstatistiken erschweren. Anschließend umreiße ich die Unterschiede zwischen der älteren internationalen Wirtschaftsstatistik und der ab dem Ersten Weltkrieg entstehenden ‚Weltwirtschaftsstatistik‘. Faktoren, die zu deren Etablierung beitrugen, stelle ich darauf folgend thesenhaft vor, um abschließend die Frage zu beantworten, weshalb sich diese Dynamik gerade in den 1920er und 1930er Jahren entfaltete. PROBLEME DER ENTWICKLUNG UND ETABLIERUNG INTERNATIONAL EINHEITLICHER WIRTSCHAFTSSTATISTIKEN Der Standardisierung wirtschaftsstatistischer Erhebungs- und Darstellungsmethoden standen und stehen eine Reihe grundlegender Probleme entgegen, die sich in drei Punkten skizzieren lassen. Erstens erhoben in verschiedenen Ländern unterschiedliche Akteure wirtschaftlich relevante Daten. Staatliche statistische Ämter gehörten ebenso dazu wie Unternehmerverbände, wissenschaftliche Einrichtungen und einzelne Wissenschaftler. Jeder dieser Akteure verfolgte mit statistischen Erhebungen unterschiedliche Ziele, so dass sich Erhebungs- und Darstellungsmethoden ebenso wenig glichen wie das, was sie erhoben und wie sie diese Daten verwendeten. Verbunden war dies mit unterschiedlichen Machtbefugnissen, die den Akteuren zur Verfügung standen, um relevante Daten einheitlich oder überhaupt erheben zu können.19 Zweitens standen der internationalen Standardisierung von Erhebungs- und Darstellungsmethoden Verwaltungen und Regierungen entgegen, die sich nicht in innere Angelegenheiten hineinreden lassen wollten. Hier sei etwa an Bismarcks Einspruch gegen eine Beteiligung preußischer Statistiker an Treffen der Ständigen Kommission der Internationalen Statistischen Kongresse 1878 erinnert.20 Es fehlte
18 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 42007, S. 20; Niels P. Petersson: Globalisierung, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 271–292, hier S. 276. 19 Desrosières, Managing; ders., Politik, Kap. 5–6; Eric Grimmer-Solem: The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany, 1864–1894, Oxford 2003, Kap. 4; Randeraad, States; Jean-Claude Perrot/Stuart J. Woolf: State and Statistics in France, 1789–1915, London 1984; Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Büro 1860–1914, Frankfurt a.M./New York 2013. 20 Randeraad, States, S. 181; vgl. zudem Schneider, Wissensproduktion, S. 47, 50, 102f.
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zudem meist an der nötigen Macht, internationale Übereinkommen und Resolutionen auf der nationalen Ebene umzusetzen. Dazu kamen institutionelle und methodische Pfadabhängigkeiten, die mit beschränkten finanziellen Mitteln zusammenhingen – jede Erweiterung oder Änderung statistischer Beobachtung verursachte Kosten –, sowie mit dem Interesse, diachrone Vergleiche anstellen zu können.21 Drittens erschwerte die Vielfalt der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den verschiedenen Weltregionen internationale Standardisierungen und damit Vergleiche ebenso wie die mit der Industrialisierung zunehmende und sich von Land zu Land unterscheidende Dynamik wirtschaftlicher Entwicklung, die zu einem stetigen Wandel dieser Verhältnisse führte. In der Forst- und Holzwirtschaft etwa führten von Region zu Region verschiedene forstwirtschaftliche Bewirtschaftungsformen, damit zusammenhängende nationale Unterschiede in der Definition von ‚Wald‘, die natürliche Verschiedenartigkeit von Holz, die teils starke Zersplitterung des Waldbesitzes und der Holzwirtschaft sowie die große Vielfalt an Holzprodukten dazu, dass es bis Anfang der 1930er Jahre keine Einrichtung gab, die sich für die internationale forst- und holzwirtschaftliche Statistik zuständig fühlte, von Unternehmern und Statistikern als solche anerkannt wurde und daher fähig gewesen wäre, einheitliche Definitionen und Statistiken zu etablieren.22 VON DER INTERNATIONALEN WIRTSCHAFTSSTATISTIK ZUR WELTWIRTSCHAFTSSTATISTIK Trotz dieser Probleme mangelte es vor 1914 nicht an internationalen Wirtschaftsstatistiken. Neben Wissenschaftlern wie Neumann-Spallart gab es staatliche statistische Ämter wie das britische Board of Trade, Firmen wie die Frankfurter Metallgesellschaft, Verlage wie Macmillan (London) oder Publizisten wie den Iren Michael George Mulhall, die internationale Statistiken zu unterschiedlichen, wirtschaftlich relevanten Aspekten publizierten.23 Dazu traten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend internationale Organisationen, die sich der statistischen Beobachtung einiger Branchen widmeten und entsprechende Übersichten veröffentlichten.24 21 Schneider, Wissensproduktion, S. 264, 268; Tooze, Statistics, S. 134–136. 22 Vgl. Bemmann, Das Chaos beseitigen; Christian Lotz: Nachhaltigkeit neu skalieren. Internationale Forstliche Kongresse und Debatten um die Ressourcenversorgung der Zukunft im Nordund Ostseeraum (1870–1914), Habil. Univ. Marburg 2014. 23 United Kingdom Board of Trade: Statistical Abstract for the Principal Foreign Countries, London 1874ff.; Metallgesellschaft: Statistische Zusammenstellung über Blei, Kupfer, Zink und Zinn von der Metallgesellschaft Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1892ff.; The Statesman’s Yearbook, London 1864ff.; Michael G. Mulhall: The Dictionary of Statistics, London 1884ff. 24 Friedrich Zahn: Statistik, in: Ludwig Elster/Adolf Weber/Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. gänzlich umgearbeitete Aufl., Jena 1926, S. 869–972, hier S. 939f., 941f.; vgl. beispielsweise Conseil International pour l’Exploration de la Mer: Bulletin Statistique des Pêches Maritimes des Pays du Nord de l’Europe, 1903/04ff.; International Federation of Master Cotton Spinners and Manufacturers Association: Statistics of Consumption
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Diese zahlreich erscheinenden Statistiken einte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Erstens waren sie meist das Ergebnis aufwändiger Kompilationsarbeit von Wissenschaftlern oder angestellten Statistikern, die weitgehend unabhängig voneinander agierten. Sie verfolgten meist unterschiedliche Ziele und ihre Statistiken präsentierten daher teils verschiedene Zahlen zu gleichen Aspekten. Verstärkt wurde dies dadurch, dass sie, zweitens, veröffentlichte und nicht publizierte Daten verschiedener Provenienz auswerteten, Behörden, Verbände und Einzelpersonen anfragten, Fragebögen verschickten und diese Methoden teils auch kombinierten. Die entstehenden Übersichten vermittelten ihren Lesern daher durchaus einen Eindruck internationaler oder gar globaler wirtschaftlicher Zusammenhänge, waren in ihrer Gesamtheit jedoch alles andere als einheitlich. Schließlich mussten die Verantwortlichen oft Daten im Nachhinein vergleichbar machen und zusammenstellen, die zuvor auf der nationalen oder regionalen Ebene mit unterschiedlichen Methoden und zu unterschiedlichen Zwecken erhoben worden waren. Drittens blendeten viele der internationalen Wirtschaftsstatistiken mangels ausreichend entwickelter statistischer Institutionen große Teile der Welt aus; ihr geographischer Schwerpunkt lag meist auf Europa und zunehmend auch auf Nordamerika. Ein viertes Charakteristikum dieser Statistiken war ihre Publikationsform. Sie erschienen selten regelmäßig und zudem – mit Ausnahme der Publikationen internationaler Organisationen – oft in Monographien, Zeitschriften oder Tagungsbänden. Aufgrund dessen und wegen der langwierigen, aufwändigen Kompilation der einzelnen Daten aus unterschiedlichen Quellen waren die präsentierten Informationen selten aktuell. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten sich also Interessierte über zahlreiche Aspekte der expandierenden ‚Weltwirtschaft‘ informieren und kontrovers darüber debattieren, wie diese zu beobachten und zu beschreiben sei.25 Die wachsende Zahl an Institutionen, die internationale Wirtschaftsstatistiken zusammenstellten, sowie die vermutlich noch stärker zunehmende Menge an Publikationen sorgten bei vielen Zeitgenossen aber offenbar eher für Verwirrung als für mehr Klarheit. Im Allgemeinen, so der Chef des deutschen Statistischen Reichsamts Richard van der Borght 1908, werde es „nur dem statistischen Fachmann gelingen, das Material richtig zu verwerten“. Laien hingegen würden „sich in den üblichen Veröffentlichungen nur schwer zurecht finden“. Zudem könnten Angaben, die dezentral und „mit grosser Verspätung nachträglich und gelegentlich zusammengestellt werden“ das „mehr und mehr gesteigert[e]“ Bedürfnis von „Behörden und Geschäftstreibenden, […] Parlamente[n], Politiker[n], Redaktionen der Fach- und Tageszeitungen usw.“ nach international vergleichbaren Statistiken nicht befriedigen. Van der Borght schlug daher vor, ein internationales statistisches Amt zu gründen, das einheitlich Informationen zu demographischen, wirtschaftlichen und bildungspolitischen Aspekten
of Cotton and of Stocks of Cotton in Spinners Hands, 1908/09ff.; Institut International d’Agriculture: Annuaire International de Statistique Agricole, 1910/12ff. 25 Slobodian, How to See.
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von nationalen Statistikbehörden einholen und entsprechende internationale Übersichten monatlich, viertel- und halbjährlich sowie jährlich publizieren sollte.26 In Bezug auf die nationalen Außenhandelsstatistiken wurde dieser Vorschlag zumindest auf dem Papier schon vor dem Ersten Weltkrieg umgesetzt. Nach gut zehnjährigen Verhandlungen im Rahmen privater und (halb-)staatlicher Konferenzen unterzeichneten 29 Staaten im Dezember 1913 ein völkerrechtlich bindendes Abkommen über die Einrichtung des Bureau International de Statistique Commerciale in Brüssel, dem sie jährlich über den Wert und – soweit möglich – das Gewicht ihrer Ein- und Ausfuhren einer Reihe wichtiger Handelsgüter liefern sollten. Vergleichbar sollten diese Angaben dadurch werden, dass nicht die jeweils nationalen statistischen Warenverzeichnisse, sondern eine international einheitliche Nomenklatur zugrunde gelegt wurde.27 Der Beginn des Ersten Weltkriegs verhinderte jedoch die rasche Umsetzung des Abkommens und erst 1925 veröffentlichte das Büro sein erstes Jahrbuch mit Angaben zu 15 Ländern.28 Wie für nationale Wirtschaftsstatistiken war der Erste Weltkrieg auch für die Entwicklung und Etablierung internationaler Wirtschaftsstatistiken eine Zäsur. Deren Bedeutung muss noch genauer untersucht werden, doch bereits jetzt ist klar, dass die ab 1915 entstehende interalliierte wirtschaftliche Kooperation auf möglichst verlässlichen, vergleichbaren und aktuellen statistischen Informationen basierte.29 Klar ist auch, dass es von den dabei etablierten Organisationen (vor allem dem Allied Maritime Transport Council und dem Supreme Economic Council) institutionelle und personelle Kontinuitäten zum 1919 gegründeten Völkerbund gab. Es ist daher zu vermuten, dass Erfahrungen, die Beamte und Statistiker in diesen Organisationen während des Kriegs machten, die wirtschaftsstatistischen Aktivitäten des Völkerbunds beeinflussten.30 Dieser verlieh der Entwicklung und Etablierung internationaler Wirtschaftsstatistik ab 1919 eine neue Dynamik. Die Erfassung globaler wirtschaftlicher Strukturen und Entwicklungen erhielt eine Form, die sie in Grundzügen bis heute besitzt und die sich von älteren Formen internationaler Wirtschaftsstatistik in allen vier oben skizzierten Punkten unterschied. 26 R[ichard] van der Borght: Fondation d’un Office International de Statistique, in: Bulletin de l’Institut International de Statistique 18 (1909), Bd. 1, S. 568–590, Zitate: S. 570, 572f. 27 Conférence Internationale de Statistique Commerciale, Bruxelles, 1913. Documents et ProcèsVerbaux, Brüssel 1914; vgl. J.P. Sevenig: Die international einheitliche Handelsstatistik, in: Weltwirtschaftliches Archiv 5 (1916), S. 234–243; Genzmer, Bestrebungen, S. 7–43. 28 Bulletin du Bureau International de Statistique Commerciale. Première Année 1922, Brüssel 1925. 29 J[ames] A[rthur] Salter: Allied Shipping Control. An Experiment in International Administration, London et al. 1921, S. 185f.; vgl. Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, London 2014, S. 204f., 290f.; Marc Trachtenberg: “A New Economic Order”. Etienne Clémentel and French Economic Diplomacy during the First World War, in: French Historical Studies 10 (1977/78), S. 315–341. 30 Yann Decorzant: La Société des Nations et la naissance d’une conception de la régulation économique internationale, Brüssel et al. 2011, Kap. 2; Leonie Holthaus/Jens Steffek: Experiments in International Administration. The Forgotten Functionalism of James Arthur Salter, in: Review of International Studies 42 (2016), S. 114–135; Hill, The Economic, S. 14–18; Salter, Allied.
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Erstens konnte sich die Economic and Financial Organisation des Völkerbunds (EFO)31 – genauer: die Economic and Financial Section des Sekretariats in Genf – als eine Art zentrales internationales statistisches Amt etablieren, das permanent und im wachsenden Maße „the simple numerical facts about economic structure, activity and development“32 der ‚Weltwirtschaft‘ sammelte, publizierte und analysierte. Als das Sekretariat des Völkerbunds 1919 in London seine Arbeit aufnahm, war das weder geplant noch abzusehen gewesen. Das Statut der neuen Organisation sah nicht vor, dass sich diese eingehender mit wirtschaftlichen Fragen befassen sollte.33 Zudem gab es bereits internationale Organisationen, die sich begründete Hoffnungen machten, zentrale Rollen in der Gestaltung der internationalen Wirtschaftsstatistik zu spielen. Dazu gehörten vor allem das 1905 gegründete Internationale Landwirtschaftliche Institut in Rom, das 1913 beschlossene und 1919 in Brüssel eingerichtete Bureau International de Statistique Commerciale sowie insbesondere das Internationale Statistische Institut (ISI). Dieses war 1885 gegründet worden, verfügte seit 1913 über ein ständiges Sekretariat in Den Haag und hatte während des Kriegs internationale demographische Statistiken publiziert.34 Von 1919 bis 1921 berieten mehrere Gremien (bestehend aus Vertretern des Völkerbunds, anderer internationaler Organisationen und nationaler Behörden), das Economic and Financial Committee des Völkerbunds und am Ende auch dessen Generalversammlung darüber, welche Rolle die Genfer Organisation im Bereich internationaler Statistik spielen sollte. Im September 1921 entschied die Generalversammlung, dass der Völkerbund vorerst keine statistische Abteilung einrichten solle. Eigene statistische Erhebungen solle er nur dann durchführen, wenn es die Arbeit der einzelnen Sekretariatsabteilungen und Komitees erfordere. Inhaltliche Überlappungen sollten durch Abstimmung der einzelnen Abteilungen vermieden werden.35 Bis zu seiner Auflösung im Jahr 1946 hielt der Völkerbund offiziell an dieser Regelung fest. Faktisch jedoch war diese bereits 1921 konterkariert und im Rahmen 31 Vgl. zur EFO Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920–1946, Oxford 2013; Decorzant: La Société; Hill: The Economic; Michel Fior: Institution globale et marchés financiers. La Société des Nations face à la reconstruction de l’Europe, 1918–1931, Bern et al. 2008. 32 Loveday, Geneva, S. 196. 33 Clavin, Securing, S. 11f.; vgl. zum Statut Robert Kolb (Hg.): Commentaire sur la pacte de la Société des Nations, Brüssel 2015. 34 Zur Geschichte des ISI Friedrich Zahn: 50 années de l’Institut International de Statistique, o.O. [München] o.J. [1934]; James W. Nixon: A History of the International Statistical Institute 1885–1960, Den Haag 1960. 35 Cussó, L’activité statistique, S. 119–123; Kevonian, La legitimation, S. 89; vgl. League of Nations [im Folgenden: LoN]: Conference on International Co-operation in Statistics. August 14th and 15th, 1919, London 1919; LoN: International Statistical Commission. Report by M. Lucien March (LoN Publication, E.F.S. 74), o.O. [Genf] 1921 [British Library, London, India Office Records, IOR/L/E/7/1223, File 1196]; Official Journal of the League of Nations [im Folgenden: OJ LoN] 2 (1921), S. 1150; LoN: The Records of the Second Assembly. Plenary Meetings, Genf 1921, S. 459–464; LoN: The Records of the Second Assembly. Meetings of the Committees, Bd. 1, Genf 1921, S. 230–232.
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der EFO zeichnete der nicht institutionell festgelegte Economic Intelligence Service für die statistischen Arbeiten verantwortlich. Erstmals hatte das Sekretariat im Vorfeld der internationalen Finanzkonferenz von Brüssel im Oktober 1920 Statistiken zu einer Reihe wirtschaftlich relevanter Aspekte zusammengestellt und veröffentlicht.36 Im Dezember 1920 entschied das faktisch wichtigste Gremium des Völkerbunds, der Rat, dass sein Sekretariat die Herausgabe des Monthly Bulletin of Statistics übernehmen solle. Dieses war seit Juli 1919 im Auftrag des Supreme Economic Council der alliierten Staaten vom britischen Board of Trade publiziert worden und von Beginn an war dessen Übernahme durch den Völkerbund vorgesehen gewesen.37 Ab Juli 1921 erschien das Monatsheft – „a collection […] of indices illustrating commercial and industrial movements”38 – in Genf. Im Mai 1922 verabschiedete die Konferenz von Genua eine Resolution, die es als wünschenswert ansah „that common principles should be adopted generally for economic statistics“.39 Der Völkerbund-Rat nahm diese Empfehlung im Juni 1922 auf und sah die Genfer Organisation als prädestiniert dafür an, diese Aufgabe – in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen – anzugehen.40 Neben die statistischen Publikationen traten nun also Bemühungen, wirtschaftsstatistische Erhebungs- und Darstellungsmethoden international zu standardisieren. In Kooperation mit dem ISI, einer Reihe weiterer staatlicher und privater internationaler Organisationen sowie vor allem europäischen und nordamerikanischen Statistikern und Ökonomen war dies bis zur Auflösung des Völkerbunds ein zentraler Teil der statistischen Aktivität der EFO und resultierte bereits 1928 in einer völkerrechtlich bindenden Konvention zur internationalen Wirtschaftsstatistik.41 Das Monthly Bulletin enthielt länderbezogene Angaben über die Produktion wichtiger industrieller Waren, den Außenhandel, Groß- und Einzelhandelspreise, Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit, Zinssätze, Gold- und Devisenreserven, Bankeinlagen und den Geldumlauf. Innerhalb weniger Jahre wurden das Bulletin
36 Decorzant, La société, S. 253f.; Joseph S. Davis: World Currency and Banking. The First Brussels Financial Conference, in: Review of Economic Statistics 2 (1920), S. 349–360, hier S. 350f.; A[lexander] Loveday: The League of Nations and International Trade Statistics, in: Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 94 (1921), S. 156–159, hier S. 158f. 37 OJ LoN 2 (1920), S. 54; Supreme Economic Council: Monthly Bulletin of Statistics 1 (1919/20), H. 2, S. IV; Minutes of the 29th Meeting of the Supreme Economic Council (1./2. August 1919), in: British Documents on Foreign Affairs. Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print, Part II, Series I, Bd. 13, Frederick 1991, S. 125f. 38 LoN: Monthly Bulletin of Statistics 2 (1920/21), H. 7, S. 3. 39 Saxon J. Mills: The Genoa Conference, London o. J. [1922], S. 417. Zur Genua-Konferenz und deren Bedeutung für den Völkerbund vgl. Carole Fink: The Genoa Conference. European Diplomacy, 1921–1922, Chapel Hill/London 1984; Decorzant: La société, S. 350–366. 40 OJ LoN 3 (1922), S. 992. 41 Vgl. LoN: International Conference on Economic Statistics. Preparatory Documents, Genf 1928; LoN: Proceedings of the International Conference relating to Economic Statistics, Genf 1929; LoN: International Conference relating to Economic Statistics. International Convention, Protocol and Final Act, Genf 1928.
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und die weiteren wirtschaftsstatistischen Publikationen der EFO42 „zu unentbehrlichen Informationsquellen für den […], der sich ein Bild der internationalen Wirtschaftsentwicklung machen will“.43 Hinsichtlich der internationalen Standardisierung wirtschaftsstatistischer Erhebungs- und Darstellungsmethoden übernahm der Völkerbund zugleich eine Rolle als Koordinator und Katalysator.44 Er wurde dadurch zu einem zentralen Promotor der ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ und übernahm de facto die Rolle eines zentralen internationalen statistischen Amts, wie es Richard van der Borght 1908 vorgeschwebt hatte. Zweitens präsentierte die EFO mit ihren statistischen Publikationen ein zunehmend konsistenter werdendes und aktuelles Bild globaler wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse, das es so zuvor nicht gegeben hatte. Das Monthly Bulletin basierte vor allem auf monatlichen telegraphischen Rückmeldungen staatlicher Behörden und einiger anderer Institutionen auf einen Fragebogen.45 In seiner inhaltlichen und geographischen Breite war es damit aktueller als andere damals erhältliche Publikationen. Die einzelnen Zahlen waren zwar meist mit unterschiedlichen Methoden erhoben worden und die Angaben dadurch nur selten direkt miteinander vergleichbar. Die jeweilige Wiedergabe der Werte von 12 Vormonaten sowie mehrerer Vorjahre machte es jedoch möglich, die Veränderungen miteinander zu vergleichen und damit einen Eindruck von nationalen wie internationalen Entwicklungen im Beobachtungszeitraum zu erhalten. Diesen Fokus auf relationale statt auf absolute Größen charakterisieren auch jene Publikationen, die die EFO ab Ende der 1920er Jahre zunehmend regelmäßig veröffentlichte und die sich dem Welthandel, der globalen Industrieproduktion und der ‚Weltwirtschaft‘ als Ganzes widmeten.46 Die Standardisierungsbemühungen der EFO zielten darauf, langfristig auch einen Teil der absoluten Zahlen vergleichbar zu machen. Mit ihrer Ratifizierung der erwähnten wirtschaftsstatistischen Konvention von 1928 verpflichteten sich bis 1939 mehr als 30 Länder dazu, eine Reihe ihrer statistischen Erhebungen zu Außenhandel, Beschäftigung, Produktion in Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Industrie sowie zu Großhandelspreisen und zu Lebenshaltungskosten nach einheitlichen Vorgaben vorzunehmen und zu publizieren. Damit verfolgten sie das Ziel, „to show the economic position and development in the world as a whole and in different countries on a comparable basis“. Zudem etablierte die Konvention eine ständige statistische Expertenkommission, die die Umsetzung der Be-stimmungen überwachen und sich mit weiteren Standardisierungsarbeiten befassen sollte.47 42 Eine kurze Übersicht über die wirtschaftsstatistischen Publikationen der EFO in Hill: The Economic, S. 98–102. 43 Franz Rupp: Rezension von Review of World Trade 1935 und 1936; World Economic Survey 1935/36, in: Weltwirtschaftliches Archiv 46 (1937), S. 112*–114*, hier S. 112*. 44 Vgl. dazu Bemmann, Das Chaos beseitigen. 45 Vgl. den Entwurf eines Fragebogens für das Monthly Bulletin von 1921 in: League of Nations Archives, Genf [im Folgenden LoN Archives], 10/11617/6408. 46 Memorandum on Production and Trade (1926–1930); Review of World Production (1931); World Production and Prices (1932–1939); Review of World Trade (1932–1938); World Economic Survey (1932–1944). 47 LoN: International Conference. Convention, S. 2–67, Zitat S. 2.
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Vor allem aufgrund der oben skizzierten grundsätzlichen Probleme internationaler Standardisierung konnten die Bestimmungen nur schrittweise umgesetzt werden. Am weitgehendsten erfolgte dies in Bezug auf die Außenhandelsstatistik. Die neu geschaffene Expertenkommission einigte sich 1935 auf ein neues, differenzierteres Warenverzeichnis, das jenes ersetzen sollte, das die Brüsseler Konferenz 1913 verabschiedet hatte. In den Folgejahren erstellten einige Länder Übersichten nach dieser Vorgabe, doch eine endgültige Minimum List of Commodities for International Trade Statistics wurde erst 1938 veröffentlicht; seit 1945 wird diese in größeren Abständen von den Vereinten Nationen neuen Umständen angepasst.48 Trotz der langsamen Umsetzung erfuhren die Publikationen wie auch die internationalen Standardisierungsbemühungen der EFO weltweit Anerkennung und Wertschätzung.49 Drittens trat neben die inhaltliche Ausweitung der permanenten statistischen Beobachtung die Erweiterung des betrachteten geographischen Raums. Bereits 1923 forderte der britische Statistiker Henry Rew, der in die Standardisierungsbemühungen der EFO eingebunden war, man müsse Experten aus außereuropäischen Ländern beteiligen. Schließlich befasse man sich „with the world and not with Europe alone”.50 1928 richtete die wirtschaftsstatistische Konvention ihr Augenmerk, wie erwähnt, explizit auf die Welt als Ganzes und 1934 betonte Alexander Loveday, Leiter des Economic Intelligence Service, für die EFO sei nicht der einzelne Staat, sondern die Welt die zentral zu betrachtende Einheit.51 Neu war das nicht. Internationale Statistik, so hatte Neumann-Spallart 1885 geschrieben, habe nicht nur den Zweck, Länder miteinander zu vergleichen. Sie müsse diese auch in Beziehung zu „grossen Mittelwerten“ setzen können, also zu „Zusammenstellung[en] zahlreicher, die ganze Erde umfassender Beobachtungen“. Dabei gewonnene „Hauptsumme[n]“, etwa zum Welthandel, seien für einige Aspekte „Grundbedingung für die Erkenntnis überhaupt“.52 Solche „Hauptsummen“ waren jedoch dank vielerorts nicht existenter oder wenig entwickelter statistischer Infrastrukturen sowie aufgrund der oben skizzierten Probleme internationaler Standardisierung schwer zu ermitteln. So summierten Neumann-Spallarts Uebersichten zwar bereits 1878 Angaben von 75 und 1889/90 von 115 Ländern zu kontinentalen und zu einem globalen Handelsvolumen.53 Doch die einzelnen Erhebungen seien 48 LoN: Minimum List of Commodities for International Trade Statistics, Genf 1938; United Nations: Standard International Trade Classification. Revision 4, New York 2006, S. V; vgl. Michel Huber: Le Comité d’Experts Statisticiens de la Société des Nations (1931–1939), in: Revue de l’Institut International de Statistique 7 (1939), S. 117–137, hier S. 121–123. 49 Vgl. etwa Rezensionen einschlägiger Völkerbund-Publikationen in: The Economist, 1. Okt. 1932, S. 597f.; Sankhyā 1 (1934), S. 348–349; Canadian Journal of Economics and Political Science 1 (1935), S. 639–640; Weltwirtschaftliches Archiv 46 (1937), S. 112*–114*. 50 Henri Willem Methorst, Generalsekretär des ISI, an Alexander Loveday, 08.03.1923, in: LoN Archives, 10/21074/21074. 51 Loveday, Geneva, S. 200. 52 Neumann-Spallart, Ein internationales statistisches Institut, S. 224f. 53 Ders., Uebersichten, 1878, S. 215–219; Franz von Juraschek: Übersichten der Weltwirtschaft, 1885–1889, Berlin 1889/90, S. 738–745.
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so ungenau und verschieden, „dass nicht bloss in halbzivilisierten aussereuropäischen Ländern, sondern selbst in vielen Staaten der abendländischen Kultur das verfügbare Material gegründete [sic!] Zweifel an seiner Brauchbarkeit“ errege.54 Auch wenn die von der EFO anvisierte Globalität der statistischen Berichterstattung eher Ziel als Fakt war und der Fokus weiterhin auf Europa und Nordamerika lag, so verbreiterte sich der geographische Beobachtungsraum seiner Publikationen doch deutlich, wie die folgende Tabelle zeigt: Tab. 1: Anzahl der berichtenden Länder für einige Tabellen des Monthly Bulletin of Statistics
Juli 1921
Jan 1925
Jan 1930
Jan 1935
Jan 1939
Steinkohleproduktion
8
13
16
24
22
Roheisenproduktion
7
10
12
16
15
Rohstahlproduktion
7
11
13
16
15
Außenhandel (Wert)
23
38
46
59
82
Außenhandel (Gewicht)
10
21
24
27
27
Indices der Großhandelspreise
18
28
35
41
44
Gold- und Silbervorräte
26
38
41
52
55
Handelsbankeinlagen
6
25
32
33
43
Quellen: Monthly Bulletin of Statistics (Juli-Ausgabe 1921; Januar-Ausgaben 1925–1939).
Um permanent konsistente, belastbare und möglichst vergleichbare Daten aus so vielen „statistical areas“ wie möglich zu erhalten, also Staaten, Kolonien, Protektoraten und sonstigen abhängigen Gebieten, strebte die EFO danach, ihre wirtschaftsstatistische Infrastruktur auszubauen und Experten zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Diese Bemühungen lassen sich unterscheiden in die Schaffung eines sichtbaren und eines unsichtbaren Netzwerks beteiligter Akteure. Das sichtbare Netzwerk bestand aus den offiziell berichtenden staatlichen Ämtern, einigen privaten Institutionen sowie internationalen Organisationen. Diese wurden als Urheber der Zahlen in den Publikationen benannt. Darüber hinaus knüpfte die EFO an einem unsichtbaren Netzwerk, das den Ausbau und den Unterhalt der statistischen Berichterstattung zum Teil erst ermöglichte.
54 Juraschek, Übersichten, 1885–1889, S. 730.
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1922 etwa bemühte sich Alexander Loveday, statistische Daten aus und wirtschaftliche Informationen über Russland zu erhalten. Als John Gorvin, der Fridtjof Nansens Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen in Moskau vertrat, im Sommer 1922 anbot, regelmäßig Übersetzungen russischer Publikationen zur wirtschaftlichen Lage und Entwicklung des Landes zu liefern, machte Loveday klar, „all such papers“ haben zu wollen.55 In der Folgezeit versorgte Gorvin die EFO regelmäßig mit übersetzten Artikeln und Statistiken über die wirtschaftliche Entwicklung Russlands. Zudem konnte Loveday über ihn einen Publikationsaustausch mit dem statistischen Amt der Sowjetunion organisieren sowie Kontakt zu dessen Leiter Pavel I. Popov halten. Ab Februar 1923 beinhaltete das Monthly Bulletin Daten aus der Sowjetunion, deren Zahl in den Folgemonaten anstieg. Obgleich noch zu klären ist, inwiefern dies mit Gorvins Vermittlungsbemühungen zusammenhing, war dieser für Loveday von großer Bedeutung: „[T]o have a man on the spot who can deal with Russian officials personally in this way is a very great advantage”.56 Viertens, und das sollte bereits deutlich geworden sein, bot die EFO mit ihren Publikationen ein bis dahin nicht bekanntes permanentes und stetig erweitertes ‚Monitoring‘, das verlässliche und vor allem aktuelle Informationen über die ‚Weltwirtschaft‘ präsentierte. Dies trifft besonders auf das Monthly Bulletin zu, das Mitte jeden Monats erschien und die neuesten Zahlen wiedergab, gilt aber auch für die anderen, vor allem in den 1930er Jahren regelmäßig, meist jährlich erscheinenden, analysierenden Veröffentlichungen wie das Review of World Trade oder World Production and Prices. Die Etablierung dieser ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ verdrängte die ältere Form der internationalen Wirtschaftsstatistik nicht. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte es – wie bei Neumann-Spallart – Ansätze dazu gegeben und auch danach wurden ‚konventionelle‘, nationale Daten kompilierende internationale Wirtschaftsstatistiken erstellt und publiziert. Wladimir Woytinskys Buchreihe Die Welt in Zahlen und die mehrfach vom deutschen Statistischen Reichsamt herausgegebenen Bände über die Wirtschaft des Auslands sind bekannte Beispiele dafür57 und auch die EFO stellte für einige ihrer Periodika nationale Daten nebeneinander (etwa International Trade Statistics). Vor allem für die Verbreitung wirtschaftlich relevanter Informationen in der breiten Öffentlichkeit sind sie bis heute von großer Bedeutung. Zu vermuten ist aber, dass die permanent beobachtende ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ so wie ihre nationalen Gegenstücke nach dem Ersten Weltkrieg für Planungen und Entscheidungen wirtschaftlicher und politischer Akteure deutlich an Relevanz gewann. Dies macht nachvollziehbar, weshalb viele Autoren die wirtschaftsstatistische Tätigkeit des 55 Aktennotiz von P.W. Hohne [?] vom 24.04.1922, in: LoN Archives, 10/20082/20082 [Hervorhebung im Original]. 56 Aktennotiz von Loveday an Eric Drummond, Generalsekretär des Völkerbunds, vom 23.04.1924, in: LoN Archives, 10/34992/20082. 57 Wl[adimir] Woytinsky: Die Welt in Zahlen. Populäre Darstellung der Ergebnisse der Forschung auf allen Gebieten der Statistik, 7 Bde., Berlin 1925–1928; für wirtschaftsstatistische Übersichten vgl. Bde. 2–4; Statistisches Reichsamt: Die Wirtschaft des Auslandes, Berlin 1927–1929; Statistisches Reichsamt: Die Weltwirtschaft, Berlin 1934–1938; Statistisches Reichsamt: Statistisches Handbuch der Weltwirtschaft, Berlin 1937.
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Völkerbunds als „path-breaking“ und „pioneering“ bezeichneten,58 auch wenn solch pauschale Einschätzungen nicht gänzlich überzeugen.59 GRÜNDE FÜR DIE ETABLIERUNG DER WELTWIRTSCHAFTSSTATISTIK Der Erste Weltkrieg sowie seine direkten und indirekten wirtschaftlichen und sozialen Folgen führten weltweit, wie eingangs erwähnt, zur Expansion staatlicher wirtschaftlicher Aktivitäten, zur wachsenden Bedeutung wirtschaftspolitischer Maßnahmen sowie zum Boom ökonomischer Planungskonzepte, die verlässliche, regelmäßige und aktuelle Statistiken voraussetzten. Der Ausbau funktionsfähiger nationaler wirtschaftsstatistischer Apparate ist daher nachvollziehbar. Auf der internationalen Ebene aber fehlten vergleichbare Akteure. Es ist daher erklärungsbedürftig, weshalb Regierungen gerade in einer Zeit wachsender internationaler Spannungen in den Aufbau grenzüberschreitender wirtschaftsstatistischer Infrastrukturen wie jene der EFO investierten und die internationalen Standardisierungsbemühungen wirtschaftsstatistischer Erhebungs- und Darstellungsmethoden gerade nach dem Ersten Weltkrieg mehr Erfolg hatten, als in den sechs Jahrzehnten zuvor. Vier Faktoren, die eng voneinander abhingen, sich teils gegenseitig verstärkten und nur zusammen wirksam werden konnten, scheinen dafür bedeutsam gewesen zu sein. Erstens – und vor allem – wuchs ab dem Ersten Weltkrieg das Interesse politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Akteure an internationalen Wirtschaftsstatistiken deutlich an und damit auch deren Bereitschaft, knappe Mittel in den Aufbau entsprechender Infrastrukturen zu investieren sowie internationale Vereinbarungen umzusetzen. Zu vermuten ist, dass die Weltwirtschaftskrise dieses Interesse exponentiell steigerte und damit auch die Entwicklung und Etablierung der ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ beschleunigte.60
58 Patricia Clavin: Europe and the League of Nations, in: Robert Gerwarth (Hg.): Twisted Paths. Europe 1914–1945, Oxford 2008, S. 325–354, hier S. 341; Patricia Clavin/Jens-Wilhelm Wessels: Transnationalism and the League of Nations. Understanding the Work of Its Economic and Financial Organisation, in: Contemporary European History 14 (2005) S. 465–492, hier S. 476; Clavin: Securing, S. 36, 345, 350; David Ekbladh: Exile Economics. The Transnational Contributions and Limits of the League of Nations’ Economic and Financial Section, in: New Global Studies 4, 2010, 1, Artikel 9, S. 1, 5; Susan Pedersen: Back to the League of Nations, in: American Historical Review 112 (2007), S. 1091–1117, hier S. 1109; Matthias Schulz: Globalisierung, regionale Integration oder Desintegration? Der Völkerbund und die Weltwirtschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006) S. 840–851, hier S. 849; Zara Steiner: The Triumph of the Dark. European International History 1933–1939, Oxford 2011, S. 174; Gianni Toniolo: Central Bank Cooperation at the Bank for International Settlements, 1930–1973, Cambridge 2005, S. 193. 59 Vgl. dazu Bemmann, Das Chaos beseitigen. 60 Zum jetzigen Zeitpunkt muss dies Vermutung bleiben, da sich meine bisherigen Recherchen auf die 1920er Jahre konzentrierten.
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Politiker, Regierungsmitglieder und Beamte waren aufgrund der wachsenden Bedeutung aktiver Wirtschaftspolitik zunehmend auf Informationen über wirtschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen in aller Welt angewiesen. Entsprechende Maßnahmen mussten geplant, legitimiert und implementiert werden. Darüber hinaus hatten die alliierten Mächte, wie erwähnt, während des Ersten Weltkriegs gute Erfahrungen mit der zwischenstaatlichen wirtschaftlichen Kooperation gesammelt. Obwohl diese vor allem aufgrund US-amerikanischen Widerstands nach dem Friedensschluss nicht fortgeführt wurde,61 nahm der Bedarf an internationalen Wirtschaftsstatistiken nicht ab. Im Gegenteil, angesichts der zunehmenden Politisierung und Bilateralisierung des Außenhandels sowie internationaler Wirtschaftskonferenzen stieg er weiter an. So erhofften sich etwa die Regierungen Deutschlands und Großbritanniens von der erwähnten wirtschaftsstatistischen Konvention von 1928, sie werde Vergleiche ihrer mit anderen Ländern erleichtern, da letztere aufgrund der Konvention endlich die Dichte der statistischen Berichterstattung erlangen würden, die in Deutschland und Großbritannien bereits bestehe.62 Unternehmer und deren Verbände waren ebenfalls in zunehmenden Maße an internationalen Statistiken zu Produktion, Handel, Preisen und Konsumtion interessiert. Dies gilt allgemein für alle international tätigen Unternehmen und schlug sich etwa im Engagement der Internationalen Handelskammer für die internationale Standardisierung von Wirtschaftsstatistiken nieder.63 Besonders aber wuchs das Interesse jener Unternehmen, die in Zeiten der Krise ihren Absatz und damit ihr wirtschaftliches Überleben mithilfe grenzüberschreitender informeller Absprachen oder Kartellen abzusichern suchten. Ohne möglichst aktuelle Informationen über Angebot und Nachfrage auf dem Markt sowie über Lagerbestände und Waren im Transport waren solche Ein- oder Ausfuhrquoten ebenso wenig festzulegen wie Beschlüsse durchzusetzen. Die Zwischenkriegszeit gilt als Blütezeit internationaler Kartelle64 und es verwundert nicht, dass die Dichte entsprechender privater und 61 Tooze, Deluge, S. 291; Trachtenberg, „A new Economic Order“, S. 334–339. 62 Zur Stellung der deutschen Regierung vgl. die einschlägige Korrespondenz verschiedener Reichsbehörden in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Berlin, R 118470 sowie den – letztlich gescheiterten – Gesetzentwurf zur Ratifikation dieses Abkommens in: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 453, Berlin 1930, Drucksache V/1460 vom 27.04.1932, S. 112; für die britische Einschätzung vgl. das Ergebnisprotokoll einer interministeriellen Besprechung am 09.10.1928, in: National Archives Kew, BT70/18/S664/28 sowie ein Schreiben des Handelsministers Philip Cunliffe-Lister an George A. Mitchell, Chef der Association of British Chambers of Commerce, 22.10.1928, in: National Archives Kew, BT70/19/S1326/28. 63 1923 richtete die Internationale Handelskammer eine statistische Kommission ein, an deren Sitzungen Alexander Loveday teilnahm (LoN Archives, 10/31099/23721). 1927 folgte eine Kommission für Industriestatistik (Programme und Protokolle in LoN Archives, 10B/1227/1227; vgl. zudem Gino Olivetti: International Industrial Statistics, in: World Trade 1 (1929), H. 1, S. 21–25). Gino Olivetti war zudem als Vertreter der Internationalen Handelskammer an der Vorbereitung und Durchführung der internationalen wirtschaftsstatistischen Konferenz 1928 beteiligt (Protokolle des vorbereitenden Komitees in LoN Archives, 10B/4023/452; Protokoll der Konferenz: League of Nations: International Conference). 64 Jeffrey Fear: Cartels, in: Geoffrey Jones/Jonathan Zeitlin (Hg.): The Oxford Handbook of Business History, Oxford 2007, S. 268–292; Harm G. Schröter: Cartelization and Decartelization
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(halb-)staatlicher statistischer Beobachtung zunahm. Ein Beispiel dafür ist die Holzwirtschaft. In dieser Branche waren es grenzüberschreitende Absprachen und der Wunsch nach internationaler Kontrolle des Holzhandels seitens maßgebender Holzhandelsverbände in Mittelost- und Nordeuropa, die in den 1930er Jahren zur erstmaligen Etablierung verlässlicher, aktueller und permanenter internationaler Holzhandelsstatistiken führten. Diese wurden in Kooperation mit der EFO und nationalen Holzhandelsverbänden vom 1932 gegründeten Comité International du Bois (CIB) erhoben und monatlich publiziert. Die EFO nutzte ab Mitte der 1930er Jahre die nun zur Verfügung stehenden Daten, um ihre eigene statistische Berichterstattung über die globale Industrieproduktion zu vervollständigen und ab 1948 führte die Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen diese holzwirtschaftliche Statistik fort.65 Das Interesse wissenschaftlich tätiger Statistiker und Ökonomen an der internationalen Wirtschaftsstatistik stieg in dem Maße, wie die Nachfrage nach entsprechender Expertise zunahm. Nicht umsonst wurden gerade in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche Wirtschafts- und Konjunkturforschungsinstitute gegründet wie etwa 1919 das US-amerikanische National Bureau of Economic Research, 1920 das Moskauer Konjunkturforschungsinstitut (Institut po izučeniju narodno-chozjajstvennych kon"junktur) oder 1925 das Berliner Institut für Konjunkturforschung (seit 1941 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung).66 Von Beginn an beobachteten diese Institute internationale Entwicklungen und beteiligten sich am grenzüberschreitenden Wissensaustausch67 wie an der Kompilation nationaler Konjunkturdaten.68 1933 bis 1935 nutzte die EFO einen vom Institut für
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in Europe, 1870–1995. Rise and Decline of an Economic Institution, in: Journal of European Economic History 25 (1996), S. 129–153, hier S. 133–142; Clemens A. Wurm: Industrielle Interessenpolitik und Staat. Internationale Kartelle in der britischen Außen- und Wirtschaftspolitik während der Zwischenkriegszeit, Berlin et al. 1988. Vgl. Bemmann, Das Chaos beseitigen. Vgl. zum National Bureau of Economic Research Solomon Fabricant: Toward a Firmer Basis of Economic Policy. The Founding of the National Bureau of Economic Research, NBER Working Paper, Cambridge 1984; Walter A. Friedman: Fortune Tellers. The Story of America’s First Economic Forecasters, Princeton/Oxford 2014, S. 166–193; zum russischen Konjunkturinstitut Vincent Barnett: A Long Wave Goodbye. Kondrat’ev and the Conjuncture Institute, 1920–28; N[ikolai] D. Kondratieff: The Conjuncture Institute at Moscow, in: Quarterly Journal of Economics 39 (1925), S. 320–324; zum Institut für Konjunkturforschung Bernd Kulla: Die Anfänge der empirischen Konjunkturforschung in Deutschland 1925–1933, Berlin 1996, S. 22–110; Tooze: Statistics, Kap. 3; vgl. auch Mary S. Morgan: The History of Economic Ideas, Cambridge 1990, Kap. 2. Etwa im Dezember 1926 im Rahmen eines von der EFO und der Internationalen Arbeitsorganisation einberufenen Expertenkomitee zur Konjunkturstatistik; vgl. den Bericht dieses Gremiums in: OJ LoN 8 (1927), S. 589f. Das Internationale Statistische Institut publizierte 1934 und 1938 Übersichten von Konjunkturforschungsinstituten aus Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien zur konjunkturellen Entwicklung der jeweiligen Länder zwischen 1919 und 1930 sowie 1931 und 1936; Office Permanent de l’Institut International de Statistique: Recuèil international de statistiques économiques, 1919–1930, Den Haag/Brüssel 1934; Recuèil international de statistiques économiques, 1931–1936, Den Haag 1938.
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Konjunkturforschung berechneten Index der Weltindustrieproduktion für ihre regelmäßigen Publikationen (ersetzte diesen aber 1936 mit einer eigenen Kalkulation).69 Etwa zeitgleich, so Daniel Speich Chassé, begann sich „im Denken aller westlichen Wirtschaftstheoretiker […] ein neues Vertrauen in die Wahrheit von Zahlen, Rechnungen und Modellen“ zu etablieren, was den Weg für eine „Messbarkeitsrevolution“ bereitet habe.70 Zusammen mit den in jenen Jahren ebenfalls an Einfluss gewinnenden Vorstellungen einer unabhängig von politischen, sozialen und kulturellen Kontexten existierenden ökonomischen Sphäre sowie universal gültiger ökonomischer Gesetzmäßigkeiten71 wurde die Idee, es gäbe global gültige und quantitativ fassbare Konzepte von Produktion, Handel, Konsumtion und Preisen, plausibler denn je. Zweitens war der wachsende Bedarf von Politikern, nationalen Behörden, Unternehmern und Ökonomen an internationalen Wirtschaftsstatistiken ein Grund dafür, dass internationale Organisationen ihre Existenz mit diesbezüglichen Tätigkeiten legitimieren konnten. Das CIB beispielsweise war 1932 mit dem Ziel gegründet worden, ein Ausfuhrkartell für Holz und Holzprodukte zu etablieren. Dieses Ziel erwies sich rasch als unerreichbar und das CIB wäre daher wohl bedeutungslos geworden, hätte es nicht mit der Schaffung international einheitlicher holzwirtschaftlicher Statistiken ein Aufgabenfeld gefunden, auf dem es weitgehend unangefochten agieren konnte und bald weltweite Anerkennung erhielt. Ähnliches lässt sich für den Völkerbund feststellen. Von Beginn an setzten seine Organisationsform, die faktische Macht der Großmächte und das zentrale Prinzip nationalstaatlicher Souveränität seinen Aktivitäten enge Grenzen. Sein Ziel, internationale Beziehungen zu verrechtlichen, zwischenstaatliche Konflikte friedlich zu lösen und so den Weltfrieden zu bewahren, konnte der Völkerbund daher nur eingeschränkt erreichen. Dies wurde spätestens klar, als Japan 1931 die Mandschurei besetzte, 1934 die internationale Abrüstungskonferenz scheiterte und Italien 1935 in Äthiopien einmarschierte. In den 1930er Jahren setzten daher Mitarbeiter des Völkerbund-Sekretariats und mit ihnen kooperierende Experten und Institutionen darauf, die ‚technischen Aktivitäten‘ der Genfer Organisation zu stärken. Am Ende jenes Jahrzehnts plädierten sie sogar dafür, diese Aktivitäten vom politischen Tätigkeitsbereich des Völkerbunds zu trennen, um erstere vom schlechten Image des letzteren zu befreien. Die ‚technischen Aktivitäten‘ genossen international hohes Ansehen und waren langfristig von großer Bedeutung für die trans- und internationalen Beziehungen. Sie umfassten das Sammeln und Publizieren von Informationen, deren Auswertung und Interpretation durch Wissenschaftler, die Veranstaltung von Expertenkonferenzen, die Förderung internationaler Standardisierung technischer Verfahren und Produkte 69 Vgl. die Ausgaben des jährlichen Reports World Production and Prices, 1933–1939. 70 Daniel Speich Chassé: Was zählt der Preis? Dogmengeschichte und Wissensgeschichte der Ökonomie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014), S. 132–147, hier S. 135, 143. 71 Timothy Mitchell: Fixing the Economy, in: Cultural Studies 12 (1998), S. 82–101; Timothy Mitchell: The Work of Economics. How a Discipline Makes its World, in: European Journal of Sociology 46 (2005), S. 297–320; Mary S. Morgan: Economics, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hg.): The Cambridge History of Science, Bd. 7: Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 275–305.
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sowie allgemein den Austausch und Transfer von Wissen. Die wirtschaftsstatistischen Tätigkeiten der EFO waren dabei nur ein, wenngleich ein wichtiger Aspekt dieser Aktivitäten.72 Wie das CIB legitimierte sich also auch der Völkerbund zum Teil mit der Entwicklung und Etablierung internationaler Wirtschaftsstatistiken. Drittens war es für die international vergleichbare Erhebung von Wirtschaftsstatistiken unabdingbar, dass es auf nationaler Ebene Institutionen gab, die diese Erhebung durchführen konnten und grenzüberschreitend als Akteur wahr- und ernstgenommen wurden. In der Regel waren dies staatliche Institutionen, wie sie etwa Adam Tooze am Beispiel des Statistischen Reichsamts beschrieben hat. Doch auch private Einrichtungen konnten diese Rolle übernehmen. Beispielsweise erhoben bis zu Beginn der 1930er Jahre zahlreiche Staaten forst- und holzwirtschaftliche Statistiken. Diese waren aber qualitativ und hinsichtlich ihrer inhaltlichen Breite so disparat, dass verlässliche Aussagen über internationale Entwicklungen nur schwer möglich waren. Die internationale Holzhandelsstatistik des CIB stützte sich daher nur teilweise auf Angaben staatlicher Ämter. Viel wichtiger waren Daten, die private oder halbstaatliche Holzhandelsverbände lieferten, die gemeinsam gefasste, internationale Beschlüsse auf der nationalen Ebene durchsetzten. Sie konnten das vergleichsweise rasch und flexibel, weil ihre eigenen Mitglieder Unternehmen waren, die zum großen Teil Interesse an der internationalen Berichterstattung hatten.73 Viertens war es nötig, materielle Infrastrukturen zu erweitern. So mussten Kommunikations- und Transportwege ausgebaut werden, um eine wachsende Menge von vor Ort erhobenen Daten zunächst an nationale Einrichtungen und anschließend an internationale Institutionen wie den Völkerbund in möglichst kurzer Zeit übermitteln zu können. Dies war kein qualitativer Sprung, sondern setzte Entwicklungen der Vorkriegszeit fort, die jedoch für eine permanente Beobachtung der ‚Weltwirtschaft‘ unabdingbar waren. Insbesondere traf dies auf Länder zu, die am Beginn ihrer Industrialisierung standen wie etwa China. Dort wuchs die Länge des Telegraphennetzes von 62.000 (1912) auf 99.000 Kilometer (1935), die des Straßennetzes von 29.000 (1927) auf 111.000 Kilometer (1936) und die des Eisenbahnnetzes von etwa 9.000 (1911) auf mehr als 20.000 Kilometer (1936).74 Daneben intensivierten internationale Organisationen, Regierungen und Experten ihre Zusammenarbeit in den 1920er und 1930er Jahren hinsichtlich der Standardisierung technischer Aspekte grenzüberschreitender Telegraphie und Telefonie.75 In jener
72 Vgl. Clavin: Securing; Pedersen: Back; Mark Mazower: Governing, S. 141–153; allgemein zur Geschichte des Völkerbunds: Ruth Henig: The League of Nations, London 2010; Francis P. Walters: A History of the League of Nations, London/New York/Toronto 1952; The United Nations Library/The Graduate Institute of International Studies (Hg.): The League of Nations in Retrospect. Proceedings of a Symposium, Berlin/New York 1983. 73 Vgl. dazu Bemmann, Das Chaos beseitigen. 74 Joseph C.H. Chai: An Economic History of Modern China, Cheltenham 2011, S. 82; Jürgen Osterhammel: Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, S. 68. 75 Mark W. Zacher: Governing Global Networks. International Regimes for Transportation and Communications, Cambridge 1996, S. 156; George A. Codding: The International Telecommunication Union. An Experiment in International Cooperation, Diss. Genf 1952, S. 35–37.
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Zeit begannen statistische Ämter zudem verstärkt Lochkarten-Maschinen einzusetzen. Sie konnten so größere Datenmengen in kürzerer Zeit verarbeiten.76 1931 etwa führte die chinesische Zollverwaltung diese Technologie mit der Begründung ein, sie wolle die bis dahin vierteljährliche Handelsstatistik auf eine monatliche Berichterstattung umstellen und so den Anforderungen der internationalen Konvention zur Wirtschaftsstatistik von 1928 gerecht werden.77 Im Sommer 1931 begann die Behörde, monatliche Außenhandelsstatistiken zu veröffentlichen und ab Dezember 1932 fanden diese Eingang in das Monthly Bulletin der EFO.78 Die ebenfalls in den 1920er und 1930er Jahren zunehmende graphische Darstellung wirtschaftsstatistischer Daten in der Fach- und Tagespresse (auch in Publikationen des Völkerbunds) und damit deren bessere Verständlichkeit erhöhten zudem den Bedarf an entsprechenden statistischen Untersuchungen.79 Das zunehmende Angebot an rasch verarbeiteten und verständlich aufbereiteten Wirtschaftsstatistiken schuf sich also eine eigene, wachsende Nachfrage. FAZIT Kompilationen nationaler wirtschaftsstatistischer Daten wie jene Neumann-Spallarts und die Versuche, quantitative Informationen verschiedener Staaten im Nachhinein auf gemeinsame Nenner umzurechnen, verschwanden nach dem Ersten Weltkrieg nicht von der Bildfläche, sondern waren für die öffentliche Verhandlung internationaler wirtschaftlicher Aspekte und Probleme weiterhin von großer Bedeutung. Zunehmend aber erschienen nun internationale Wirtschaftsstatistiken, die sich hinsichtlich ihrer Urheber, ihrer Inhalte und ihrer Erscheinungsformen deutlich von früheren Publikationen unterschieden und die ich als ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ charakterisiere. Erarbeitet und publiziert wurden sie von zentralen internationalen Einrichtungen wie dem Völkerbund, die sowohl nationale Publikationen auswerteten als auch Daten mithilfe von Fragebögen entsprechend eigener Interessen erhoben. 76 Für Deutschland vgl. Tooze: Statistics, S. 163f.; zur Etablierung von Lochkartnemaschinen vgl. Lars Heide: Punched-Card Systems and the Early Information Explosion, 1880–1945, Baltimore 2009. 77 Circular Letter No. 4244 des Inspector General of Customs v. 12.06.1931, in: The Maritime Customs: Documents illustrative of the Origin, Development, and Activities of the Chinese Customs Service, Bd. 4, Shanghai 1939, S. 494–506, hier S. 494f. 78 Monthly Returns of the Foreign Trade of China, Shanghai 1931ff.; Monthly Bulletin of Statistics 13 (1932), Nr. 12. 79 Jakob Tanner: Wirtschaftskurven. Zur Visualisierung des anonymen Markts, in: David Gugerli/Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, Zürich 2002, S. 129–158; vgl. J. Adam Tooze: Die Vermessung der Welt. Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Wirtschaftsstatistik, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwandels, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 325–351, hier S. 342–346; zur Bedeutung technischer Innovationen für die Verarbeitung und die Darstellung statistischer Daten zudem Jason D. Hansen: Mapping the Germans. Statistical Science, Cartography, and the Visualization of the German Nation, Oxford 2015, S. 51–74.
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Insbesondere die Publikationen der EFO umfassten zudem nicht einzelne Branchen oder Sektoren, sondern zielten darauf, wirtschaftliches Geschehen in seiner globalen Gesamtheit permanent in den Blick zu nehmen – eine Perspektive, die zuvor einige Ökonomen und Statistiker versucht hatten einzunehmen, nicht aber eine internationale Organisation mit dem Potential, dies auch zu erreichen. Global bedeutete im Fall der EFO sowohl, die Welt anstatt einzelner Länder und deren Vergleich in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, als auch, die möglichst einheitliche Beobachtung wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse in so vielen Regionen der Erde wie möglich zu etablieren. Angesichts der vielerorts noch wenig entwickelten wirtschaftsstatistischen Infrastruktur waren der Umsetzung dieses Anspruchs jedoch enge Grenzen gesetzt. Permanent bedeutete, dass Informationen zu zahlreichen wirtschaftlich relevanten Aspekten und Entwicklungen von übernationaler Bedeutung nun nicht mehr nur unregelmäßig oder im Jahresrhythmus erschienen, sondern auch in kürzeren Zeitabständen. Hier setzte vor allem das seit 1921 von der EFO herausgegebene und stetig erweiterte Monthly Bulletin of Statistics neue Maßstäbe. Eine so häufige und regelmäßige Erscheinungsweise blieb nicht auf die Veröffentlichungen der EFO beschränkt, sondern wurde auch von anderen internationalen Organisationen erreicht wie etwa der Internationalen Arbeitsorganisation oder dem holzwirtschaftlichen CIB. Zusätzlich stieg die Zahl publizierter internationaler Wirtschaftsstatistiken durch Zeitschriften (etwa dem britischen Economist), Forschungseinrichtungen (etwa dem amerikanischen Harvard Economic Service) und staatlichen Behörden (etwa dem deutschen Statistischen Reichsamt). Die bereits vor dem Ersten Weltkrieg beklagte Vielfalt an unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Zahlen wurde also noch größer. Das erhöhte jedoch noch die Bedeutung eines international anerkannten zentralen internationalen statistischen Amts, wie es die EFO faktisch wurde. Begünstigt wurden die Veränderungen durch den Ausbau von Kommunikationswegen und der Nutzung technischer Innovationen. Vor allem aber trugen die Schaffung neuer sowie der Ausbau und die Stärkung schon bestehender wirtschaftsstatistischer Institutionen und Strukturen auf regionaler und nationaler Ebene dazu bei. Erst diese ermöglichten es internationalen Organisationen, grenzüberschreitende Vereinbarungen über eine möglichst einheitliche Erhebung und Darstellung wirtschaftsstatistischer Daten mit Akteuren in verschiedenen Weltregionen zu treffen, von denen sie hoffen konnten, dass sie tatsächlich umgesetzt wurden. Internationale Wirtschaftsstatistik war also von der Existenz effizienter nationaler Strukturen abhängig, gleichgültig, ob diese staatlicher oder privater Natur waren.80 Ausschlaggebend für die skizzierten Veränderungen war die Bereitschaft von politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich tätigen Akteuren, die Entwicklung und Etablierung internationaler Wirtschaftsstatistiken finanziell, personell und intellektuell zu fördern. Ohne diese sind weder die nach dem Ersten Weltkrieg steigende Zahl einschlägiger Publikationen zu erklären noch die Etablierung diesbezüglicher internationaler Organisationen oder die nun greifenden Bemühungen,
80 Glenda Sluga: Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013.
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wirtschaftsstatistische Erhebungs- und Darstellungsmethoden international zu standardisieren. Die weltweiten ökonomischen Krisen der 1920er und 1930er Jahre und der dadurch befeuerte Wirtschaftsnationalismus samt wachsenden Zollmauern und einer Politisierung und Bilateralisierung des Außenhandels sind zweifellos Ausweise einer Fragmentierung der ‚Weltwirtschaft‘ in der Zwischenkriegszeit, wie sie die wirtschaftshistorische Literatur eingehend beschrieben hat. Paradoxerweise waren es aber genau diese Entwicklungen, die den Bedarf an möglichst umfangreichen, aktuellen, belastbaren und verständlichen Informationen über internationale und globale wirtschaftliche Strukturen und Entwicklungen ansteigen ließen. Sich Wissen darüber anzueignen und dieses zur Grundlage von Argumentationen und Entscheidungen zu machen, war nun nicht mehr nur interessant oder ratsam, sondern wurde zur alltäglichen Notwendigkeit für Regierungen und Politiker, Unternehmer und Ökonomen. Statistik mit ihrer über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg relativ einfach verständlichen ‚quantitativen Sprache‘81 schien dazu sehr geeignet zu sein, zumal sie seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle bei der Definition und Lösung gesellschaftlicher Probleme gespielt hatte. Die Jahre der wirtschaftlichen ‚Deglobalisierung‘ oder der „Enteuropäisierung des Globalen“82 erscheinen aus dieser Perspektive als eine Zeit, in der dank intensivierter grenzüberschreitender Kooperation politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich tätiger Akteure neue wirtschaftsstatistische Infrastrukturen geschaffen wurden. Die daraus erwachsende ‚Weltwirtschaftsstatistik‘ veränderte nicht nur den Blick der Zeitgenossen auf die ‚Weltwirtschaft‘ – ein Begriff, der sich erst in jener Zeit international etablierte.83 Aufgrund der von ihnen geschaffenen Pfadabhängigkeiten und des von ihnen generierten Wissens beeinflusst sie bis heute unsere Vorstellungen internationaler wirtschaftlicher Strukturen und Entwicklungen.
81 Bettina Heintz: Numerische Differenz. Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 162–181. 82 Christof Dejung: Deglobalisierung? Oder Enteuropäisierung des Globalen? Überlegungen zur Entwicklung der Weltwirtschaft in der Zwischenkriegszeit, in: Sönke Kunkel/Christoph Meyer (Hg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt a.M./New York 2012, S. 37–61. 83 Slobodian, How to see, S. 308; zur Begriffsgeschichte Hans Pohl: Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 9–25.
400 MILLIONEN GLOBALE WIRKUNGEN EINER MÄCHTIGEN ZAHL Andrea Bréard In der Statistik, in dem Sinne wie sie in diesem Beitrag verstanden werden soll, geht es nicht allein um das logisch Rechenhafte und Operationelle, nicht nur darum, dass Zahlen als objektiv-rationale Objekte behandelt und gesammelt, als Routine oder Prosaik verstanden werden. Es geht um die Zahl als eine mobile gesellschaftliche Ware, eine Ware, die eine transkulturelle Biographie hat, eine Geschichte, die ihrer Produktion vorausgeht, einen Kontext, in dem sie erscheint, und ein Nachleben, in dem sie durch verschiedene Imaginationsräume transportiert und in verschiedenen medialen Narrationsräumen instrumentalisiert wird. Anhand des Beispiels der Bevölkerung Chinas wird aufgezeigt, dass eine Zahl in sehr unterschiedlichen Kontexten wirkungsmächtig werden kann, gerade in Austauschprozessen ebenso schnell aber auch ihre scheinbare Universalität oder Plausibilität verlieren und neue, unerwartete Bedeutungen erlangen kann. This contribution proposes to write the transcultural biography of a single yet powerful statistical quantity – the number of the Chinese population for a period of approximately 100 years – by analyzing simultaneously the normalizing processes of its statistical production, its global migrations and the divergent narratives surrounding its numerical value, far from being as pure and absolute as mathematical reason suggests. The quantification of China’s population serves as a prism through which we can address more generally the relation between the objectivity of a numerical entity and its agency in the construction of subjective realities. INTRO: ZAHLEN UND NARRATIVE Wenn Historiker empirisch arbeiten, richten sie ihr ganzes Augenmerk auf Daten, argumentieren sie dagegen narrativ, tendieren sie dazu, diese nicht unbedingt in ihre Analyse miteinzubeziehen oder wenigstens nur peripher zu behandeln. Worum es mir in diesem Beitrag, aber auch in meiner Forschungsarbeit allgemein geht, ist, dass Zahlen nicht isolierte objektive Entitäten sind: sie haben eine kulturelle Dimension, sie sind fest eingebettet in Narrative, die sie maßgeblich formen, sie mit einem semantischen Gehalt kleiden, der ihren scheinbar nackten, prosaischen, abstrakten Wert kontaminiert. Andererseits verhalten sich auch Narrative durchaus osmotisch und erlauben eine Durchdringung von Zahlen. Narrative haben aber auch
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deshalb eine quantitative Dimension, die immer latent vorhanden ist, weil Leser oder Betrachter auch ein bestimmtes Verständnis der Messbarkeit der Welt mit sich bringen: Die Quantifizierung der Welt erlaubt, Dinge zu zählen, zu ordnen, zu vergleichen. Verändert sich das vorhandene Verständnis der Messbarkeit der Welt, können die epistemischen Grenzen möglicher narrativer Plausibilität mitunter erweitert werden, um nur eine der Konsequenzen zu nennen. In meinem Beitrag geht es gerade um solche Wechselbeziehungen zwischen Zahlen und Narrativen. In historischen Situationen kann man diese Dynamik und Verstrickung am besten aufzeigen, wenn man sich auf einen Schauplatz begibt, an dem zwei sich für selbstverständlich und natürlich gehaltene (und deshalb nicht hinterfragte) Wissenskulturen aufeinanderprallen.1 China am Ende des 19. Jahrhunderts ist ein solcher Schauplatz der Geschichte, an dem das Selbstverständnis einer Zivilisation, die moralischen Werte und der Konfuzianismus, der konstituierend für die umfassende kulturelle Entwicklung war, massiv unter Druck geriet und fremdinduziert erschüttert wurden. Dann und dort sollen meine Überlegungen zur kulturgeschichtlichen Relevanz einer Zahl verankert sein. Mein Beitrag soll illustrieren, dass solche komplexen epistemischen Schauplätze nur mit Hilfe einer transkulturellen Perspektive erfasst werden können, auch weil die Zirkulation von Wissen – in diesem speziellen Fall von quantitativem Wissen – über verschiedene Routen, oft indirekt über Japan zwischen Europa und China, verläuft. Dies wird durch das folgende Zitat deutlich, das das Geheimnis im Titel dieses Beitrages lüftet und die Zahl 400 Millionen in einen ihrer narrativen Kontexte stellt: „In der großen weiten Welt, gibt es von der Sorte, die runde Köpfe und quadratische Füße haben ungefähr vier hundert Millionen. [...] Darunter sind ungefähr zwei hundert Millionen, die runde Köpfe aber gebundene Füße haben, keine Beamten, keine Gelehrten, keine Bauern, keine Handwerker, keine Kaufleute und keine Soldaten sind, und wovon von der Antike bis heute nie einer zur Schule ging.“ 海內之大,員其首方其足之種,蓋四萬萬。其員其首而纖其足,不官不士不農不工不 商不兵,而自古迄今,未嘗一讀書者,凡二萬萬。
Dies ist ein Zitat aus einem Essay von Liang Qichao, wir befinden uns im Jahre 1897. Es handelt sich also um Chinas Gesamtbevölkerung von 400 Millionen, und damit verbunden auch um deren Hälfte, Chinas 200 Millionen Frauen. Liang Qichao 梁啟超 (1873–1929) propagiert in seinem Essay ‚Über Schulen: Zur Bildung von Frauen’ von 18972 anhand dieser konkreten Zahlen die Erziehung der Frauen und die sich dadurch eröffnende Möglichkeit ihrer Eingliederung in das nationale Reformprogramm.
1 2
Bzw. „clashen“, wie bei Samuel P. Huntington: The clash of civilizations and the remaking of world order, New York 1996. Qichao Liang 梁啟超, Lun xuexiao liu. Nüxue 論學校六. 女學 (Über Schulen 6. Zur Bildung von Frauen), in: Shiwu Bao 時務報 (The Chinese Progress) 23 (11. März, 1897), S. 1a–4a (S. 1a), fortgesetzt in: Shiwu Bao 時務報 25 (11. April, 1897), S. 1a–2b. Die komplette Schrift wurde aufgenommen in: Qichao Liang 梁啟超, Bianfa tongyi 變法通議 (Eine neue Sammlung von Schriften zur Statecraft), Shanghai 1902, juan 5 卷五下學校 S. 21a ff.
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Liang Qichao war einer der führenden progressiven Denker der Reformbewegung im China des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die nach Chinas Niederlage im sino-japanischen Krieg (1895) politische und soziale Reformen forderte. Wie viele Intellektuelle seiner Zeit, einer Zeit der Transition, war er bereist und belesen, vertraut sowohl mit den konfuzianischen Klassikern als auch mit westlichen Sozialwissenschaften, politischer Ökonomie und Evolutionstheorie, mit mathematischen Wissenschaften, wenn auch nur am Rande. Von Japan aus propagierte er seine Ideen in diversen Zeitungen, von denen er auch teils selbst Herausgeber war. ‚Über die Bildung von Frauen’ war eines von zwölf Essays über institutionelle Reformen und Maßnahmen zur „Selbststärkung“ (Ziqiang 自強), einer auf traditionellen Prinzipien der konfuzianischen Ethik ruhenden technologischen Modernisierung. Liang unterstützt sein bekanntes Dogma „Bereicherung des Volkes zur Stärkung des Staates“ (Minfu si guoqiang 民富斯國強) dadurch, dass er gleichermaßen neu importierte wissenschaftliche Ideen zur politischen Ökonomie mit konfuzianischen Inhalten kombinierte. Generell gefielen westliche Prinzipien progressiven Denkern wie Liang Qichao, der vorwiegend darum bemüht war, deren inhaltliche Kohärenz mit traditionellen Denkweisen aufzuzeigen und Frauen auf die Agenda zur Rettung der Nation zu stellen. Dies lässt sich am besten mit Hilfe eines Originalzitates auf den Punkt bringen: „Was in Übersetzungen westlicher Texte „Profit erzeugen, Profit teilen“ [Produktion und Konsum] genannt wird, ist das Prinzip, was in [dem konfuzianischen Klassiker] der Großen Lehre (Daxue 大學) ausgedrückt wird durch „Die, die produzieren, sollten zahlreich sein, die, die essen, sollten wenige sein.“ Guanzi sagte: „Wenn nur ein einziger Bauer sich nicht dem Ackerbau widmet, so wird jemand Hunger leiden; wenn nur eine einzige Frau sich nicht der Weberei widmet, so wird jemand an Kälte leiden.“ Dies sind keine leeren Worte, sondern entspricht gerade dem Verhältnis, zu dem man gelangt, wenn man die gesamte materielle Produktion der Bevölkerung des Staates nimmt, und durch die Mathematischen Prozeduren der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Jueyi shushu 決疑數術) korreliert. In China, selbst wenn man nur die Männer in Betracht zieht, entsprechen die, die konsumieren, der Hälfte jener, die produzieren. Nach Ansicht der Philosophen, ist allein deshalb schon eine stabile Regierung unmöglich. Und dazu noch die zweihundert Millionen Frauen, die ganz zu den Konsumenten gehören und wovon nicht eine Einzige produktiv ist! Weil sie sich nicht selbst versorgen können und von anderen unterstützt werden müssen, werden sie von Männern wie Hunde, Pferde oder Sklaven gehalten.“
Liang korreliert hier und in anderen Schriften die Erziehung von 200 Millionen Frauen mit der Stärke der Nation. Er war kein Proto-Feminist, nicht an Frauen an sich interessiert, sondern an der Inkludierung der Frauen in die arbeitende Bevölkerung, was das Volk bereichern und somit den geschwächten Staat stärken würde. Als Befürworter einer Politik der Selbststärkung Chinas trachtete er danach, die wirtschaftliche Produktivität Chinas zu erhöhen und Frauen als eine entsprechende ‚Zielgruppe’ zu definieren. Um die Geltung seiner Argumente herzustellen, verfolgt er eine doppelgleisige Strategie und zitiert chinesische Philosophen sowie Übersetzungen ausländischer Schriften. Dass er das Konzept der Wahrscheinlichkeit hier nicht richtig versteht, sondern lediglich mit Proportionen argumentiert, verstärkt den Eindruck, der narrativen Absichten Liangs. Bei dem Werk, Mathematische Prozeduren der Wahrscheinlichkeitsrechnung, auf das er sich beruft, handelt es sich
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um die 1896 erschienene3 chinesische Übersetzung des Essays ‚Probability’ von Thomas Galloway der siebten und achten Ausgabe der Encyclopædia Britannica.4 Es war also kein Werk, das den Stand der Forschung in Wahrscheinlichkeitstheorie widerspiegelte,5 es war aber durchaus ein Werk, das einen guten Einblick in klassische Theorien von Laplace und Poisson gab, Sterbetafeln, das Gesetz der großen Zahlen und die Methode der kleinsten Quadrate (siehe Abb. 1), all das was, nach einem Précis der Zeit, dem Versicherungssystem als Bezugsrahmen dienlich sei: Das Jue yi shuxue in 10 Büchern. […] Es enthält, womit im Westen Versicherungsunternehmen gegründet wurden.6
I. II. III.
IV. V. VI. VII.
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Contents General principles of the theory of probability Of the probability of events depending on a repetition of trials, or compounded of any number of simple events, the chances in respect of which are known a priori and constant Of the probability of events depending on a repetition of trials, or compounded of any number of simple events, the chances in respect of which are known a priori and vary under different trials Of mathematical and moral expectation Of the probability of future events deduced from experience Of benefits depending on the probable duration of human life Of the application of the theory of probability to testimony, and to the decisions of juries and tribunals
‚Die Mathematischen Prozeduren der Wahrscheinlichkeitsrechnung’ (chin. Jueyi shushu 決疑 數術) sind bereits 1880 angekündigt als eine Übersetzung von John Fryer (chin. Fu Lanya 傅 蘭雅) und Hua Hengfang 華蘅芳, wovon 4 von 10 Büchern fertig seien. Siehe: John Fryer, Jiangnan zhizao zongju fanyi xishu shilüe 江南製造總局翻譯西書事略 (Ein kurzer Bericht zum Projekt der Übersetzung westlicher Bücher am Jiangnan Arsenal), in: Gezhi huibian 格致 彙編 III–5 (1880), S. 10a–12b. Fortgesetzt in Band III–6 (1880), S. 9a–11b und III–7 (1880), S. 9a–11b. Das Werk erschien erst 1896 unter dem Titel ‚Mathematik der Wahrscheinlichkeitsrechnung’ (Jueyi shuxue 決疑數學). Siehe John Fryer (chin. Fu Lanya 傅蘭雅) (kou yi 口譯) und Hengfang Hua, 華蘅芳 (bishu 筆述) (Übers.), Jueyi shuxue 決疑數學 (=A Treatise on Probability), Zhou ed. 克城周氏刊本 1896. Übersetzt nach Thomas Galloway, A treatise on probability: forming the article under that head in the seventh edition of the Encyclopædia Britannica, Edinburgh 1839 (reprint edition). Siehe auch Youjun Wang 王幼軍, Lapulasi gailü lilun de lishi yanjiu 拉普拉斯概率理論的曆史研 究 (Forschungen zur Geschichte von Laplaces Wahrscheinlichkeitstheorie), Shanghai 2007. 1885 veröffentlichte Crofton in der 9. Ausgabe der Encyclopædia Britannica seinen wesentlichen Beitrag im Bereich der geometrischen Wahrscheinlichkeit, eine erweiterte Fassung des Artikels ‚Probability‘ von Galloway mit einem sechsten Abschnitt über lokale Wahrscheinlichkeit per se. Siehe Morgan W. Crofton, Probability, in: Encyclopædia Britannica, Cambridge 1885 (9th edition). Fubao Ding 丁福保: Suan xue shu mu ti yao: san juan 算學書目提要: 三卷 (Bibliographie und Précis mathematischer Bücher), Wuxi 1899, zitiert in: Fubao Ding 丁福保 und Yunqing Zhou 周雲青 (Hg.): Sibu zonglu suanfa bian 四部總錄算法編書目 (Komplette Chroniken in vier Abteilungen, Bibliographie der Mathematikedition), Shanghai 1957, S. 596b [Faksimileausgabe Beijing: Wenwu chubanshe 文物出版社, 1984].
400 Millionen VIII. IX. X.
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Of the solution of questions involving large numbers Of the most probable mean results of numerous discordant observations, and the limits of probable error Of the method of least squares
Abb. 1: Thomas Galloway, A Treatise on Probability (1839)
Insgesamt dient das Ausland Liang aber nicht nur als Quelle theoretischen Wissens. Es ist zugleich systemisches Vorbild zur Stärkung der Nation: „Durch Gleichberechtigung von Frau und Mann, wurden die Vereinten Staaten mächtig, durch die Verbreitung von Bildung der Frauen wurde Japan stark. Um eine wohlhabende Nation und ein intelligentes Volk zu bauen, müssen wir damit [der Bildung der Frauen] beginnen.“7 夫男 女平權美國斯盛,女學布濩日本以強。興國智民,靡不始此。
Die Assoziation des Standes der Bildung mit dem Begriff der Stärke oder Schwäche einer Nation, die sich als Effekt des Übergangs von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft formt, zeigt Hajo Fröhlich deutlich in seinem Beitrag zu diesem Band auf. Sie wird bei Liang Qichao immer wieder rhetorisch durch die klanglich einprägende Quantifizierung der ungebildeten Frauen unterstrichen. In seinen ‚Notizen zu Frau [Ida] Kahn’ schreibt er der ersten weiblichen Ärztin Chinas, Kang Aide 康愛德 (1873–1930),8 eine repräsentative Vorreiterrolle in der Nationsbildung zu, die sie von der ungebildeten Masse distanziert: Wie lange wird in China schon die Bildung der Frauen vernachlässigt! Unter den 200 Millionen Frauen in unserem Land sind diejenigen, die die Finessen der Literatur verstehen und zum Verfassen von Versen zu einem Gedicht über Blumen, Gräser, Winde und Mond fähig sind, ebenso rar, wie Phönixfedern oder Einhornhörner. [...] Ohne Bildung kann man nicht den [wahren] Weg kennen. Mit einer Masse von zwei Hundert Millionen Menschen, die den [wahren] Weg nicht kennen, kann es keine Nation geben.9 中國女學之廢久矣海內之女二萬萬求其解文義嫻雕蟲能為花草風月之言者則已如鳳毛 如麟角 [...] 人不學不知道二萬萬不知道之人則烏可以為國矣
Verlassen wir aber nun Liangs Narrative zur Bildung der Frauen zum Zwecke der Stärkung der Nation und kehren zurück zur Zahl ‘400 Millionen’, die ich als solche an sich genauer unter die transkulturelle statistikgeschichtliche Lupe nehmen werde.
7 8 9
Qichao Liang 梁啟超, Chang she nüxuetang qi 倡設女學堂啟, in Shiwu bao 45 時務報第四 十五 (1897), S. 4a. In ihren eigenen Schriften verwendet sie auch ihren Geburtsnamen Kang Cheng 康成. Qichao Liang 梁啟超: Ji Jiangxi Kang nüshi 記江西康女士 (Notizen zu Frau [Ida] Kahn aus Jiangxi), in ders. (Hg.): Yinbing shi heji: wenji 飲冰室合集文集, Shanghai 1936 [1897 erstmals publiziert], S. 119–120 (S. 119).
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URSPRUNG DER ZAHL Woher kam die Zahl 400 Millionen eigentlich? Keine triviale Frage,10 denn in China gab es zwar seit langer Zeit Aufzeichnungen fiskaler und militärischer Natur zur Anzahl der Haushalte (hukou 戶口), aber erst seit 1741 eine Zählung der „Männer und Frauen, groß und klein“ (nannü daxiao mingkou 男女大小名口), ohne dabei nach Alter und Geschlecht zu differenzieren.11 Eine geschlechtsspezifische Volkszählung wurde in China erstmals nach der Etablierung eines zentralen Statistischen Bureaus 1907 gefordert und 1910, basierend auf dem neu etablierten Polizeisystem, durchgeführt. Im Rahmen konstitutioneller Reformen waren genaue Bevölkerungszahlen besonders wichtig geworden
Abb. 2: Brief von N. Bernoulli an M. de Montmort (23. Januar 1713).
10 Würde man Ho Ping-ti’s monumentalem Werk Studies on the Population of China, 1368–1953, in dem er die weit verbreitete Ineffizienz und Falsifizierung der Datenerhebungen beschreibt, Glauben schenken, so ist die Zahl von 400 Millionen nur eine grobe Schätzung, basierend auf den unzuverlässigen und nach Ho selbstbetrügerischen Zahlen der Zählungen von 1908–1911 und 1912. Siehe Ping-ti Ho, Studies on the population of China, 1368–1953, Cambridge, Mass. 1959 (Harvard East Asian Studies; Bd. 4), S. 79: „All the official population figures between 1902 and 1927 were the result of governmental self-deception.“ 11 Eine quantitative Diskussion des 1741 von der Qing-Regierung eingeführten Baojia- Systems findet sich bei Irene B. Taeuber und Nai-Chi Wang, Population Reports in the Ch’ing Dynasty, in: The Journal of Asian Studies 19.4 (1960), S. 403–417.
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für die anteilmäßige Verteilung der zu wählenden Abgeordneten in der Nationalversammlung.12 Es war aber offenbar nicht das Anliegen Liang Qichaos, über die Zahl ‘400 Millionen’ hinaus zu hinterfragen, ob, von ihr ausgehend, die Anzahl der Frauen gerade der Hälfte entsprechen würde. In seiner Studie zur Bevölkerungsstatistik in der chinesischen Geschichte von 1903 jedenfalls problematisiert er die Frage des Geschlechterverhältnisses nicht. Während es in Europa ja gerade die Beobachtung des Ungleichgewichts zwischen männlichen und weiblichen Geburten in London war, die die statistischen Überlegungen zu sozialen Phänomenen initiierten (siehe Abb. 2),13 gab es in China – außer für Mitglieder der kaiserlichen Familie – keine Geburtsregister, die eine geschlechterspezifische Differenzierung der reichsweiten Population erlaubt hätte.
Abb. 3: John Bowring, The Population of China. A Letter Addressed to the Registrar-General London, in: Journal of the Statistical Society of London (dated 13th July, 1855), S. 41
Als in der Volkszählung von 1910 erstmals in China solche Daten erhoben wurden, ergab sich sogar ein gravierendes Missverhältnis zwischen männlicher und weiblicher Bevölkerung. Mögliche Gründe dafür sind der weit verbreitete Infantizid und die Unterdeklaration geborener Mädchen, die in China auch heute noch einen demografischen Faktor darstellen. Der geringe Anteil von Frauen an der Gesamtbevölkerung stand in starkem Kontrast mit den Daten des Agrar- und Wirtschaftsministeriums von 1911, die für einige Provinzen ein großes Übergewicht an weiblichen Arbeitern aufzeigten (siehe Abb. 4). Stimmten diese Daten, hätte Liang
12 Zum Kontext der Gründung der ersten statistischen Institutionen im spätkaiserlichen China, siehe: Andrea Bréard: Reform, Bureaucratic Expansion and Production of Numbers. Statistics in early 20th Century China, TU Berlin 2008 (Habilitationsschrift). 13 In: Pierre-Rémond de Montmort, Essay d’analyse sur les jeux de hazard. Seconde édition Revue & augmentée de plusieurs Lettres, Paris 1713, S. 394.
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Frauen also den falschen Vorwurf gemacht, nichts zur nationalen Produktion beizutragen. Liang Qichao hätte sich vor 1910 zur Schätzung der weiblichen Bevölkerung als exakte Hälfte der Gesamtbevölkerung demnach lediglich auf die Aggregatszahlen einer der letzten Volkszählungen der Qing-Regierung stützen können,
Abb. 4: Erste republikanische statistische Tabellen des Agrar- und Wirtschaftsministeriums von 1911
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die 1873 und 1887 allerdings zwischen 277 und 426 Millionen variierten. Auch frühere Daten wiesen vergleichbare Schwankungen auf (siehe Abb. 3).14 Dass Liang Qichao diesen Zahlen kein Vertrauen schenkt, benutzt er 1903 in seinen bereits erwähnten Untersuchungen zu Chinas historischer Demographie als Argument, um institutionelle Reformen einzufordern. In seinem Aufsatz geht er dabei „wissenschaftlich“ vor, um Zahlen offizieller Dokumente zu berichtigen: „Was sagt, dass früher mein Volk nur derart wenige waren? Nun versuche ich, beruhend auf dem, was nicht den Tatsachen entspricht und unvollständig ist, eine [Zahl] nach der anderen statistisch zu erforschen.“ 嗚呼孰謂吾先民而僅有此。今姑據此不實不盡之統計一研究之。15
Er stellt voran, dass er mit Malthus, Darwin und statistischen Methoden vertraut sei, die er zu dieser Zeit nur aus außerchinesischen, vermutlich japanischen Quellen, kennen konnte: „Wenn Westler sich auf meine [Landsleute] beziehen, sagen sie immer ganz lässig ‘408 Millionen’. Das ist eine Schätzung der Bevölkerungszahl für das Jahr 1842. Für dieses Jahr heißt es im Allgemeinen 413.020.000 Menschen. Vielem, was in offiziellen Dokumenten in China geschrieben steht, kann ich nicht genug Vertrauen schenken. Nach den Reformen des Kangxi Kaisers beobachtet man eine Verdoppelung der Getreideabgaben. Auch dies wage ich nicht als veritable Aufzeichnungen zu bezeichnen!“ 西人之稱我者動曰四百八兆。此道光二十二年料民之數也。其年凡四百十三兆有二萬 人云吾中國官牘上文字。不足措信。雖康熙改革以後。視前代徵實數倍。猶未敢謂其 為實錄也。16
Sodann rechnet Liang mit Bevölkerungszahlen, die er der Volkszählung von 1842 entnimmt und einer Wachstumsrate, die er ableitet aus zwei aufeinanderfolgenden Volkszählungen des 18. Jahrhunderts17 und auf die jüngsten Daten extrapoliert. Dabei geht Liang davon aus, dass man von der Bevölkerung von 1842 die 700.0000 bis 800.0000 Opfer in beiden Armeen der Taiping Rebellion (1850–1864) abziehen muss, zusätzlich 5.000.0000 die dem Elend flohen, der Pest, der Hungersnot oder aufgrund der geringeren Geburtenrate ein Bevölkerungswachstum verlangsamten. Bleiben also, so Liang Qichao, 360 Millionen. Die Grundlage der weiteren Hochrechnung von Liang Qichao ist nur in groben Zügen angedeutet. Laut Liang18 ist die Bevölkerung in 35 Jahren (von 1749 bis 1783) von 177,495 Millionen auf 284,034 Millionen angestiegen. Daraus folgert er, dass sich die Bevölkerung in 45 Jahren verdoppelt. Vermutlich hat er auch hier (falsch) mit Proportionen 14 John Bowring (1792–1872), Britischer Konsul in Canton und Gouverneur von Hong Kong, war Mitglied der Royal Society seit 5/06/1856. 15 Siehe Qichao Liang 梁啟超: Zhongguo shishang zhi renkou tongji 中國史上之人口統計 (Bevölkerungsstatistiken in der chinesischen Geschichte), in: Xinmin congbao 新民叢報 46–48 (1903), S. 306–319, übersetzt nach Vergleich mit Textedition in Qichao Liang 梁啟超: Wen ji 文集 10–19, Nummer 2 in ders. (Hg.) Yin bing shi he ji 飲冰室合集 (Gesammelte Schriften aus dem Studio des Eistrinkers), Beijing 1989, S. 35–45 (S. 41). 16 Idem S. 44. 17 Qianlong 14 und Qianlong 48, bzw. 1749 und 1783. 18 Idem S. 38.
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argumentiert, denn, mit: 284,034 : 177,495 = 1,6 und der Proportion: x : 35 :: 2 : 1,6 erhält man x = 44. Somit hätte sich nach Liang gut 44 Jahre nach 1842, während der Regierung des Kaisers Guangxu,19 die Bevölkerung verdoppelt, von 360 auf 720 Millionen, und würde nun (15 Jahre später, also etwa 1903, dem Jahr in dem Liang seinen Aufsatz schrieb) im Bereich der 800 Millionen liegen. Wie er diese letzte Zahl genau gefunden hat, ist schwer nachzuvollziehen. Unterstellt man eine analoge proportionale Beziehung wie bei der Errechnung der Verdoppelung in etwa 45 Jahren, würde man 60 : 35 :: x : 1,6, und somit x = 2,74 erhalten. Damit würde die Bevölkerungszahl mit 360 * 2,74 = 987 im Jahr 1903 bei 987 Millionen liegen. Vermutlich hat Liang aber so gedacht: 45 : 15 :: 1 : 3 und deshalb die Bevölkerungszahl von 1903 auf 360 ꞏ (2 + 1/3) = 840 [Millionen] geschätzt. Da diese Zahl offensichtlich nicht der Realität entspricht, bleibt Liang – trotz seines Bemühens um eine statistische Argumentationsweise20 – am Ende lediglich etwas resigniert die Hoffnung auf eine neue Regierung, die exaktere demographische Daten produzieren werde: „Demnach müssten es im Jahre 1889 bestimmt 720 Millionen Menschen gewesen sein und heute sollten es um die 800 Millionen sein. Derart ist das Durcheinander der heutigen administrativen Institutionen, wer will sich da noch an der Richtigstellung beteiligen? Diese Zahlen werden einfach grundlos bleiben, bis zu den Erhebungen einer neuen Regierung in der Zukunft.“ 然則光緒十五年時。固應有七百二十兆人。今日其或當在八百兆之間耶。以今者行政 機關之混亂如此。誰與正之。懸此數以俟將來新政府之調查而已 21
Liang Qichao erwähnt die Zahl der „Westler“, 408 Millionen, aber nicht nur narrativ zur Kritik des unsystematischen Umgangs mit Daten im kaiserlichen Verwaltungsapparat, er benützt sie auch, in pragmatisch zu 400 Millionen vereinfachter Version, als mathematische Größe im ökonomischen Kalkül. Wie Liang 1902 selbst
19 Guangxu 15 entspricht dem Jahr 1889. 20 Abgesehen von Liangs numerischen Irrungen und Wirrungen wäre sein mathematisches pseudo-lineares Modell insgesamt nicht korrekt, denn Bevölkerung wächst nicht linear, sondern exponentiell. Das hätte er eigentlich bei dem japanischen Statistiker Yokoyama Masao nachlesen können, den er durchaus an anderer Stelle zitiert. Nach seiner Formel würde sich die Bevölkerung nach 50,1 Jahren verdoppeln, bzw. ein jährliches Wachstum von: 100 ∙
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aufweisen. Siehe z.B. Masao Yokoyama, 横山雅男, Tōkei tsuron 統計通論 (Eine allgemeine Diskussion von Statistik), Tokyo 1921 (41. Ausgabe, zuerst erschienen 1904), S. 205–210 zu Wachstumsraten und Fußnote 26. 21 Liang: Wen ji, S. 45.
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sagt,22 hat er seine Zahlen aus ausländischen Quellen, die er als Autorität betrachtet: Zur Bevölkerung meines Landes stütze ich mich auf im Westen durchgeführte Untersuchun-
Abb.5: Conrad Malte-Brun. Précis de la géographie universelle, ou Description de toutes les parties du monde... (1810), hier engl. Übers. von 1827. gen. Es heißt, dass es mehr als 426 Millionen [Chinesen] geben soll. Heute, obwohl man immer noch keine wahre Zahl erhalten hat, berechnet man sie [die Bevölkerung Chinas] zu 400 Millionen. Wenn jeder jedes Jahr 14 Pfund Salz verzehrt, dann verzehrt man im ganzen Land jedes Jahr eine Gesamtmenge, die 56 Millionen Pikul entspricht.23 我國人口據西人所調查,謂有四萬二千六百余萬 , 今雖未得確數 , 然即以四萬萬計之 , 每人每年食鹽十四斤,則全國每年食鹽總額,應為五千六百萬擔。
Die Frage nach der Gesamtbevölkerung Chinas beschäftigte tatsächlich viele ausländische Beobachter, wie auch schon den Geographen Conrad Malte-Brun (1775– 1826), der verzweifelt versuchte durch verschiedenste Quellen zu einer akkuraten Schätzung zu gelangen (siehe Abb. 5). Autorität gewann S. Wells Williams Werk The Middle Kingdom von 1848, das eine ausführliche kritische Diskussion der Bevölkerung und Statistik Chinas und seiner Provinzen beinhaltet.24 Während sich Williams auf chinesische offizielle Quellen beruft,25 beruft man sich in China wiederum auf Williams als verlässlichen Informanten. Der Herausgeber (bianzuan 編纂) der Gazette des Agrar- Industrie22 Qichao Liang 梁启超, Zhongguo caizheng gaige si an – zhengdun yanke zhi fa 中國財政改革 私案-整頓鹽課之法 (Eigene Pläne zur Reform von Chinas Finanzwesen. Methoden zur Neuorganisation der Salzbesteuerung), 1902, in Yin bing shi he ji zhi ba 飲冰室合集之八 (Gesammelte Schriften aus dem Studio des Eistrinkers 8). 23 20100 Pfund (jin 斤)= 1 Pikul (dàn 擔). 24 Williams, The Middle Kingdom, chapter V: Population and Statistics, S. 206–239. Siehe auch Williams Schreiben an Bowring in: John Bowring, The Population of China. A Letter on the Population of China, addressed to the Registrar General London, in: Transactions of the China Branch of the Royal Asiatic Society V (1855), S. 1–15 (S. 2) (Reprint in: Journal of the Statistical Society of London, 20(1) (1857), S. 41–53): Dr. Williams’ Middle Kingdom, one of the best books on China. [. . . ] As there are few men in China more diligent or better instructed than Dr. Williams, I thought it desirable to communicate with him in order to ascertain his present views as to the credit, which may properly be attached to the official statistics of China. 25 Williams, The Middle Kingdom, S. 207: The details given in this table have been taken from the best sources accessible to foreigners, and are as good as the people at large themselves possess.
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und Handelsministeriums, Yang Zhixun 楊志洵, der dem 1907 neu gegründeten zentralen Statistischen Büro persönlich und institutionell besonders nahe stand,26 publiziert 1907 in seiner Regierungsgazette ein Essay zur Bevölkerung Chinas. Darin vertraut er nicht nur Williams Datenreihe von 23 Volkszählungen seit 1381 und einer Schätzung für 1881 durch das Chinesische Seezollamt, dessen Statistische Abteilung fest in ausländischer Hand war, er beruft sich auch auf: „westliche Erforscher und Missionare, die in jüngster Zeit durch das Territorium reisen, um die Bevölkerungszahlen zu erkunden. Obwohl sie nur Annäherungen bekommen können, so sind diese ständig an die Realität gebunden.“ 近年西人遊歷者傳道者轍即所歷之地以觀人數雖止得其大概然恆切於實際27
Andererseits bezweifelt Yang vehement die Meinung amerikanischer Journalisten, die wiederum die Ansicht eines glaubwürdigen Chinesen vertraten, dass die gängig angenommenen 400 Millionen die chinesische Bevölkerung um ein vierfaches überschätzten. Dabei zitiert Yang den amerikanischen Missionar Andrew P. Happer (1818 – 1894), der 1880 zum Rätsel der chinesischen Bevölkerung berichtet: “This subject, in the early part of 1879, awakened new interest in the United States of America, because a paragraph went the round of the newspapers “stating it as a fact coming from a Chinese gentleman” who might be regarded as “excellent authority” that the population of China had been over-estimated fourfold and that probably instead of 400,000,000, the true figures would be about 100,000,000.”28
Trotz dieser vielfachen Verstrickungen der Referenz, hat sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerhalb Chinas die Zahl 400 Millionen weitläufig als Symbol der Gesamtbevölkerung Chinas etabliert. Sie erscheint in japanischen Arbeiten zur Sozialstatistik,29 mit denen Liang durchaus vertraut war, mit dem Hinweis, dass die angenommene Zahl von 400 Millionen „von vager Genauigkeit“ sei. Sie wird sowohl in statistischen Untersuchungen der London Statistical Society (1885, später Royal Statistical Society) und des bereits erwähnten chinesischen Seezollamtes 26 Sein Amt, das Büro der Gazette für wirtschaftliche Angelegenheiten (Shangwu guanbao ju 商 務官報局), unterstand dem Agrar- Industrie- und Handelsministerium (Nong gong shang bu 農工商部). Siehe Nong gong shang bu tongji chu 農工商部統計處 (Statistisches Amt des Agrar- Industrie- und Handelsministeriums) (Hg.), Nong gong shang bu tongji biao di er ci 農工 商部統計表第二次 (Zweite statistische Tabellen des Agrar- Industrie- und Handelsministeriums), 5 Bde. 五冊. Beijing, 1909. Bd. 5, S. 15. In den Ersten statistischen Tabellen des AgrarIndustrie- und Handelsministeriums (1908) ist Yang Zhixun als einer der beiden Herausgeber (bianzuan er yuan 編纂二員) der Shangwu guanbao genannt. Einer der Hauptherausgeber (zong zuan 總纂) war der Vize-Direktor des Finanzministeriums (Duzhibu yuanwailang 度支 部員外郎) Qian Chengzhi 錢承鋕 (siehe Bd. 8 第八冊, S. 8A), der auch Vize-Präsident des zentralen Statistischen Büros war. 27 Zhixun Yang 楊志洵, Zhongguo renkou kao 中國人口考 (Studien zur Bevölkerung Chinas), in: Shangwu guanbao 商務官報 (Gazette des Agrar- Industrie- und Handelsministeriums) 28 (Januar 1907) S. 38a–39b (S. 38a–38b). 28 Siehe Andreew P. Happer: The Population of China, in: The Chinese Recorder XI (5) (September-October 1880), S. 375–380, hier S. 375–376. 29 Kapitel zur Bevölkerungsstatistik in: Masao Yokoyama 橫山雅男, Tōkeigaku 統計學 (Statistik), Tokyo 1926 (Keizaigaku kōgi 經濟學講義), S. 253.
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zur Berechnung von per capita Daten zum innerchinesischen Konsum verwendet, als auch metonymisch an Stelle der chinesischen Nation.30
Abb.6: Arthur Evans Moule, Four Hundred Millions. Chapters on China and the Chinese, 1871 (links); Carl Crow, Four Hundred Million Customers, 1937 (Mitte); Joris Ivens, The 400 Million, 1939 (rechts)
Die Narration, in die diese Zahl eingebettet wird, reicht dabei von Zweifeln an deren Glaubwürdigkeit, ihrer Überprüfung im Vergleich mit Territorial- und Bevölkerungsdaten Indiens, über Diskurse eines imaginären statistischen und wirtschaftlichen Paradieses durch ihre schiere Größe, bis zur religiösen Utopie des Christianisierungspotenzials der gesamten chinesischen Bevölkerung: “The title of my book is not sensational, but aims by the great fact which it expresses to draw attention to the information contained within. […] Think of China, her vast and wide-spreading provinces, her enormous population, her decent exterior, her high-toned moral code, her unreligiousness, her atheistic religions, her alienation from God”.31
Dass Liang Qichao vor allem seine ‚200 Millionen’ nicht als mathematische Größe mit der demographischen Realität in Beziehung setzt, unterstreicht die narrative Funktion dieser Zahl und bringt uns zurück zu meinem Anliegen aufzuzeigen, dass statistisch produzierte Zahlen in Narrative eingebettet sind, die mit historischen Prozessen und kulturellen Translationen in Wechselwirkung stehen. Verfolgt man die emblematische Zahl von 200 Millionen weiter, so zieht sich ihre Geschichte durch die Frauenbewegung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in
30 Siehe Abb. 6 zur Verwendung des Emblems in Literatur und Film, siehe auch Andrew Morris: To make the four hundred million move. The late Qing dynasty origins of modern Chinese sport and physical culture, in: Comparative Studies in Society and History 42/4 (2000), S. 876– 906. 31 Arthur Evans Moule: Four hundred millions, chapters on China and the Chinese, London 1871, Preface S. IX.
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Abb. 7: Titelblatt einer Sonderausgabe zur Frauenfrage der Zeitschrift Gan (1944)
Form eines die geschlechtliche Identität definierenden Slogans. Qiu Jin (1875– 1907) 秋瑾 appelliert 1906 an ihre Kompatriotinnen in einem Aufruf an Chinas 200 Millionen weibliche Landsmänner: Ah! Die ungerechteste Sache in der Welt ist das, was unseren zweihundert Millionen Frauen geschieht! Mit einem guten Vater aufzuwachsen bedeutet ein erträgliches Leben. Ich wuchs mit einem jähzornigen und launischen Vater auf, der Nonsens redete und ständig sagte: „So ein Pech, es ist noch eine Nutzlose mehr.“ 32 唉!世界上最不平的事,就是我門二萬萬女同胞了。从小生下来,遇着好老子,還說 得過;遇着脾氣杂冒、不講情理的,满嘴連說:“晦氣,又是一個没用的。”
Und obgleich sich in den 40er Jahren die Bevölkerungsrealitäten verändert hatten, wird der Slogan im Rahmen der Revolution weiter instrumentalisiert.33 So liest man noch 1944 auf der Titelseite der revolutionären Zeitschrift Gan 干: 32 Siehe Jin Qiu 秋瑾, Jinggao Zhong er wan wan nü tongbao 敬告中二萬萬女同胞 (Ein Aufruf an Chinas 200 Millionen ‚weibliche Landsmänner‘), 1906. Nachdruck in: Jin Qiu 秋瑾, Qiu Jin ji 秋瑾集 (Gesammelte Werke von Qiu Jin), Shanghai 1979 (2. Ausgabe 1985). 33 Genaue Zahlen zur Bevölkerung Chinas sind auch hier ein Desideratum. Die erste Volkszählung nach modernen Aspekten wurde 1953 nach Gründung der Volksrepublik China durchgeführt und konstatierte eine Bevölkerungsgröße von 594,4 Millionen. Das National Bureau of
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Zweihundert Millionen weibliche Landsmänner! Steht auf und kämpft für die Befreiung der Frauen!34 二萬萬的女同胞起來爭取婦女的解放吧!
SCHLUSS: ZUR WIRKMÄCHTIGKEIT VON ZAHLEN Abschließend möchte ich noch einmal die hier angedeutete kultur- und statistikgeschichtliche Relevanz einer Zahl hervorheben. Das statistikgeschichtliche Verständnis einer Zahl erschöpft sich nach meinem Verständnis nicht darin, eine historische Epoche im Hinblick auf ihre Produktion und soziale Konstruktion von Daten zu reflektieren. Vielmehr könnte man das historische Verständnis einer statistischen Zahl als einen nicht abgeschlossenen transkulturellen Prozess deutlich weiter fassen und die Etablierung einer Zahl mit Blick etwa auf kulturelle Begegnungen, Translationen und Lokalitäten untersuchen. ‘400 Millionen’ quantifiziert zwar die Bevölkerung des chinesischen Reichs, ihre Geschichte findet aber nicht auf rein nationalstaatlicher Ebene statt. Sie ist das Produkt globaler Konstellationen, eines globalen Diskurses über Bevölkerungsund Wirtschaftswachstum. Das Vertrauen in diese nicht vertrauenswürdige Zahl lässt sich dabei nicht sozialgeschichtlich erklären, sondern nur durch die Verstrickungen kultureller Transfers. Bei Zahlen, in dem Sinne wie sie hier exemplarisch präsentiert wurden, geht es also nicht um das Rechenhafte, nicht darum, dass Zahlen nur als Zahlen behandelt werden, als Routine oder Prosaik verstanden werden, die durch bewusste Objektivierungsarbeit dauerhaft werden. Es geht um statistische Zahlen als eine globale Ware, eine Ware die eine globale Biographie hat, eine Geschichte vor ihrer Produktion, einen Kontext in dem sie erscheint und ein Nachleben, das sie durch verschiedene Kultur- und Narrationsräume transportiert. Eine Diskussion des für den chinesischen Sprachraum spezifischen terminologischen Hintergrundes des Erfolgs der Zahl ‚400 Millionen’ würde dessen kulturgeschichtliche Dimension weiter verstärken. Zur Erklärung der Beibehaltung der chinesischen Zahlschreibweise in Kalkülen und damit zusammenhängend der Kreation eines synkretistischen mathematischen Symbolismus, würde hier das Paradigma der lokalen Reaktion auf Impulse aus Europa, Japan oder den USA ebenso zu kurz greifen wie die Privilegierung des Rückbezugs auf autochthone kulturelle Traditionen. Es bedarf einer Betrachtung der Verstrickungen sowohl auf lokaler
Statistics of China (Zhonghua renmin gongheguo guojia tongjiju 中华人民共和国国家统计 局) schätzt die Bevölkerung von 1949 zu 541,67 Millionen. Siehe dessen Datenbank, Guojia shuju 国家数据, http://data.stats.gov.cn/. Andere Quellen zitieren die Zahl 582,6 Millionen für die Erhebung von 1953. Siehe zum Beispiel Yves Blayo, Des politiques démographiques en Chine, Paris (1997), S. 7. 34 Gan《干》1–3 第1卷第3期 (1944), Funü wenti teji 婦女問題特輯 (Sonderausgabe zur Frauenfrage).
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Ebene in China als auch auf globaler Ebene im Zuge der Vereinheitlichung mathematischer Symbole und numerischer Stellenwertsysteme.35 Dieses beruhte zu Liangs Zeit auf dem heute in China immer noch gängigen System, i.e. ein Dezimalsystem, in dem große Zahlen in Potenzen zu Zehntausend gruppiert werden. Lokal betrachtet zeigt sich, dass Liang Qichao zum Beispiel zwischen dem Ausdruck èr zhào 二兆 (wörtlich: zwei ‘hundert Millionen’ 2 ∙ 10 ) und dem durchaus melodischeren èr wàn wàn 二萬萬 (wörtlich: zwei ‘zehntausend zehntausend’ 2 ∙ 10 ∙ 10 ) schwankt. Da es in China verschiedene Systeme der Gruppierung der Stellen von Zahlen gab, verwendet Liang im Laufe seiner Schriften, in Narrativen und Rechnungen, zunehmend letzteren Ausdruck, um eventuelle Ambiguitäten zu vermeiden, denn, nach westlichem Vorbild wurde zu Liangs Zeiten èr zhào 二兆 auch stellvertretend für zwei Millionen, bzw. zwei ‘hundert zehntausend’ 2 ∙ 10 verwendet. Diese terminologische Frage der Zählkultur Chinas hat aber auch globalhistorische Implikationen, denn protestantische Missionare und Lehrer in China stellten allgemeiner die Frage nach der Art der Zahlschreibweise in den Kontext des Fortschritts und der Eingliederung in eine Weltgesellschaft oder der Isolierung Chinas durch seine Teilnahme an einer universalen Sprache.36 Die Zahl ‘400 Millionen’ verliert außerhalb des chinesischen Diskurses seine sprachlich-mathematische Materialität und dadurch auch seine klangliche Attraktivität. Dennoch etabliert sie sich nicht nur in China dauerhaft als Ikone der chinesischen Bevölkerung und zeigt, dass Zahlen durchaus berühmt werden, Macht erlangen, zum Symbol einer Bewegung, durch Transfer aber auch leicht ihre scheinbare Universalität verlieren und über ihre statistische und soziale Realität hinaus neue Bedeutung erlangen, indem sie in unterschiedlichen Narrativen instrumentalisiert werden.
35 Siehe hierzu Andrea Bréard: On Mathematical Terminology. Culture Crossing in 19th Century China, in: Michael Lackner/Iwo Amelung/Joachim Kurtz (Hg.), New Terms for New Ideas. Western Knowledge & Lexical Change in Late Imperial China, Leiden 2001, S. 305–326. 36 Siehe z.B. die gegensätzlichen Ansichten von John Fryer (1839–1928) und Calvin Mateer (1836–1908) in: American Presbyterian Mission Press, Records of the General Conference of the Protestant Missionaries of China held at Shanghai, May 7–20, 1890, Shanghai (1890), S. 543: “The fact is that in all such trivial points we must be willing to sink our distinctive and conventional Western practices. We must carefully avoid standing in our own light if we want the Chinese to respect our Western learning. Our systems have no more right to universal use than the Chinese. Their ancient and wonderful language, which for some reasons is more suited to become the universal language of the world than any other, must not be tampered or trifled with by those who wish to introduce Western sciences.” und idem S. 550: „I consider that the effort to propagate in China a system of mathematical nomenclature, different from that which prevails in the whole civilized world outside of China, is to put a block in the way of progress, and greatly to retard the advancement of modern science in China. […] Why perpetuate the barrier dividing the mental life of China from that of the rest of the world?”
GEZÄHLTES VERHALTEN BEHAVIORALISMUS ALS STATISTISCHES PARADIGMA DER MODERNISIERUNG ZWISCHEN DEN 1950ER UND 1970ER JAHREN Heinrich Hartmann Statistik beschreibt im 20. Jahrhundert in zunehmendem Maße Handlungswissen im Sinne sozialpolitischer Aktionen. Unter dem Einfluss der amerikanischen Modernisierungstheorie entwickelten sich die statistischen Methoden in der Nachkriegszeit auch in Richtung der Abbildung menschlichen Verhaltens (behavior). Dies bezog Feedbacks, Kommunikation und komplexe Entscheidungsmodelle ein. Dieser Aufsatz untersucht, wie die statistischen Erhebungen zum Verhalten der Bevölkerung (surveys) nicht nur zu einer neuen Informationsquelle wurden, sondern zunehmend auch zukünftige individuelle Entscheidungen berechenbar und gestaltbar machen sollten. Statistisches und demographisches Wissen sollte damit zu einer „interaktiven“ Steuerungstechnik ausgeweitet werden, wie dies insbesondere in den Kampagnen zur Familienplanung massiv zur Anwendung kam. Over the 20th Century, statistics were increasingly employed for the expanding field of social politics. In light of American post war modernization theory, statistical theory tried to make the category of human behavior calculable. This also embraced acts of communication, feedback and complex models of decision making. The chapter inquires how statistical survey research not only became a new source of information, but increasingly aimed at steering and predicting individual decisions. Statistics and demographical knowledge thus were meant to become ‘interactive’, which is particularly visible in the field of Family Planning projects. Seit Jahrzehnten weisen Wissenschaftsforschung und Geschichtsschreibung darauf hin, dass Statistik nicht jene objektive Messlatte darstellt, die die quantitative Sozialforschung gerne in ihr sieht.1 Am ehesten wurde die konstruktivistische Perspektive an Hand der Bevölkerungsstatistik problematisiert, die gleichzeitig einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung eines neuen wissenshistorischen Paradigmas gehabt hat. In den letzten 15 Jahren ist eine solche historisch-kritische Perspektive auf das demographische und statistische Wissen zu einem Gemeinplatz 1
Ian Hacking: Prussian Numbers 1860–1882, in: Lorraine Daston, et a. (Hg.): The Probabilistic Revolution, Bd. 1, Cambridge 1987, S. 377–394; ders.: The Taming of Chance. Cambridge 1990; Theodore M Porter: The Rise of Statitistical Thinking, 1820–1900, Princeton 1986.
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geworden, der durch eine Vielzahl von Studien untermauert wird,2 und – zumindest im deutschen und angelsächsischen Sprachraum – nur noch selten in Zweifel gezogen wird.3 Führt man sich den universellen Anspruch von Statistik seit dem 19. Jahrhundert vor Augen, der die Gesellschaft in ihren Grundmustern zu beschreiben versuchte, so hieße ein Blick hinter die Kulissen der Statistiken – nicht nur hinter deren Produktion, sondern auch hinter die Momente, durch die sie Bindungs– und Identifikationskraft entwickeln – nichts weiter als eine alte Frage der Gesellschaftsgeschichte neu zu stellen: die des scheinbaren Gegensatzes von Handeln und Struktur.4 Statistik ist nicht nur ein objektives Abbild gesellschaftlicher Zustände, sondern ihr Vorhandensein ist auch an sich ein Merkmal moderner Gesellschaften; dies scheint in der Forschung durchaus konsensfähig zu sein. Doch in welcher Hinsicht Statistik als ein solches Element gesellschaftlicher Selbstverständigung zu begreifen ist, darüber gehen verschiedene Perspektiven teils erheblich auseinander. Dieser Aufsatz argumentiert, dass Statistiker und Demographen die Frage unterschiedlicher Wissensbestände verschiedener Akteure und damit die Brüchigkeit der Unterscheidung von Objekt und Subjekt des Wissens in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt in ihre Konzeption der Datengenerierung und Auswertung mit einbezogen haben. Verschiedene Akteursgruppen eigneten sich statistisches Wissen an und antizipierten statistische Messungen als Teil ihrer Erfahrungswelt und ihres sozialen Handlungsspielraums. Wie aber verändert sich die Logik hinter der Statistik, wenn die Gezählten das Ergebnis von Zählungen vor Augen haben und an verschiedenen Stellen in die Auskünfte einbeziehen, die sie über sich selbst geben? Die vielleicht nicht befriedigend, aber zumindest in der kulturwissenschaftlich informierten Gesellschaftsgeschichte ausgiebig diskutierte Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung individuellen Verhaltens und sozialer Strukturen sollte schon alleine deswegen noch einmal gestellt werden, da diese Diskussion an der 2
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Aus der Vielzahl von Studien hier nur Libby Schweber: Disciplining Statistics: Demography and Vital Statistics in France and England, 1830–1885, Durham 2006; Silvana Patriarca, Numbers and Nationhood: Writing Statistics in Nineteenth Century Italy, Cambridge 1996; Michael C. Schneider: Wissensproduktion im Staat: Das königlich preußische statistische Bureau 1860– 1914, Frankfurt a.M. 2013. Einer der Punkte, an dem eine solche Auseinandersetzung um die „richtige“ Verwendung historischer Statistiken geführt worden ist, war etwa die Diskussion um die historische Anthropometrie, insbesondere an den Arbeiten des Münchener Wirtschaftshistorikers John Komlos. John Komlos: Stature and Nutrition in the Habsburg Monarchy: The Standard of Living and Economic Development, in: American Historical Review 90 (1985), S. 1149–1161; Hermann Rebel, Massensterben und die Frage nach der Biologie in der Geschichte. Eine Antwort an John Komlos, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (1994), S. 279–286. „Die Transformationsformen von Handeln in Struktur und umgekehrt, deren Rekonstruktion die Mechanismen gesellschaftlicher Zusammenhänge allein adäquat erklären kann, gerieten in dem Maße aus dem Blickfeld der Historiker, in dem das handelnde Subjekt in der Geschichte auf ein Objekt überindividueller Strukturen und Prozesse reduziert wurde.” Thomas Welskopp: Der Mensch und die Verhältnisse. „Handeln“ und „Struktur“ bei Max Weber und Anthony Giddens, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebattte, München 1997, S. 39–71, S. 42.
Gezähltes Verhalten
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Dimension des gesellschaftlichen Wissens weitgehend vorbeigeschaut hat. Bestenfalls wurde Wissen um den Aufbau moderner Gesellschaften als „perspektivisches” Element verstanden, also lediglich als ein Hintergrundrauschen der Beziehung zwischen Individuum und Struktur, das Transformationsprozesse begleitete.5 Im Gegensatz hierzu gehe ich davon aus, dass Statistiken als zentrale Formen des gesellschaftlichen Wissens nicht nur Legitimität und Anerkennung bekommen, also ‘geglaubt werden’ müssen. Statistische Kategorien werden zu Elementen, mit denen sich Individuen identifizieren und über die sie sich selbst lernen zu beschreiben. Darüber hinaus antizipieren die befragten Personengruppen auch Ergebnisse, funktionalisieren diese und beziehen sie in ihre response-strategy ein. Diese Momente strukturieren in wesentlichem Maße – und je älter das Werkzeug der Bevölkerungsstatistik ist, desto mehr – die Prozesse der Wissensgenerierung mit. Dieser Aufsatz will sich exemplarisch mit der Frage auseinandersetzen, welcher Raum der Frage des ‘Dazwischen’, also der Interaktion zwischen Kategorie und Individuum und des Handelns des Individuums auf diese Kategorie in einer Wissensgeschichte der Statistik einzuräumen ist und wieweit eine solche reziproke Konstellation von den Sozialwissenschaftlern der Nachkriegszeit reflektiert wurde. Ich tue das, indem ich die verhaltenspsychologische Schule der Sozialforschung und Demographie in der Nachkriegszeit betrachte und darstelle, wie groß der Einfluss neuer behavioralistischer und kybernetischer Forschungsmodelle wurde.6 Die vermeintlich universale Anwendbarkeit des neuen „deutungsoffenen, semantisch unterdeterminierten Konzepts“7 der Kybernetik als Paradigma der Nachkriegszeit erfasste gerade auch die Frage der Verbindung von Statistik und Individuum, in dem es die „Feedbackprozesse“ zwischen entstehendem Wissen und individuellem Verhalten, also die „Steuerung eines Systems durch Wiedereinschalten seiner Arbeitsergebnisse in das System selbst“ betrachtete.8 Dieser Zusammenhang soll insbesondere an der Surveyforschung und Fragen öffentlicher Gesundheitsund Fertilitätsstudien untersucht werden. Der kritische Blick auf die Genese statistischer „Daten“ ist etabliert. Und dadurch ist sich die Geschichtsschreibung der Statistik über die „Produktions“-ef-
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Hierzu Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172. Michael Hagner: Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: Michael Hagener/Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M. 2008, S. 38–71. Andrew Abbott/James T. Sparrow: Hot War, Cold War: The Structures of Sociological Action, 1940–1955, in: Craig Calhoun (Hg.): Sociology in America. A History, Chicago 2007, S. 285; Unger, Corinna: Family Planning: A Rational Choice? The Influence of Systems Approaches, Behavioralism, and Rational Choice Thinking on Mid-Twentieth Century Family Planning Programs, in: Heinrich Hartmann/ Corinna Unger (Hg.): A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014, S. 58–82. Jakob Tanner: Komplexität, Kybernetik und Kalter Krieg. Information im Systemantagonismus von Markt und Plan, in: Michael Hagener/Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M. 2008, S. 377–413, S. 379. Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine, Berlin 1958, S. 57.
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fekte im Klaren und zeigt auf, wie sehr diese in die Interpretation der Daten miteinfloss.9 Doch die Konstruktion von Objektivität gegenüber diesen Daten zu analysieren, bedeutete für die Geschichtsschreibung nicht unbedingt, den Objektcharakter des Gezählten an sich zu hinterfragen. In vielerlei Hinsicht ging die Geschichte der Statistik nicht den Schritt mit, den etwa Laborstudien für weite Bereiche der Wissenschaftsgeschichte gezogen haben.10 Die Paradigmen dieser Forschungsrichtung einfach auf die Analyse der Statistik zu übertragen, wäre allerdings auch ein unangemessener Analogieschluss. Die Erstellung von zählbarem sozialen Wissen vollzog und vollzieht sich nicht im Labor, und es gibt hierzu auch keinen äquivalenten Ort, der die soziale Dimension in der Produktion von Wissen adäquat bündeln würde. Die Linien, an denen Subjekt und Objekt der Wissenserzeugung miteinander interagieren, sind damit weniger klar definiert, als in den sogenannten „harten“ Wissenschaften, denn das „Bevölkerungslabor“ gibt es nicht. Gleichzeitig liegt es intuitiv auf der Hand, dem “Objekt” des bevölkerungsstatistischen Wissensdiskurses eine eigene Agency über das erzeugte Wissen zuzubilligen. Die Interaktion zwischen Objekt und Subjekt scheint mehr als deutlich, doch vollzieht sie sich an sehr heterogenen Orten und Zeitpunkten, die sich nur schwer bündeln lassen. Dort wo gezählt wird, ist nicht automatisch auch der Ort, an dem dieses Wissen weiterbehandelt wird. Die sozialen Situationen, auf die die Zählenden stoßen, sind wiederum höchst heterogen. Was die gezählten Personen selbst für eine Vorstellung über den Zählprozess haben und mit welchen Erwartungen sie ihn verbinden, ist quellenmäßig nur sehr schwer zugänglich zu machen. Gleichzeitig ist es mehr als plausibel, dass sich dieser Prozess in Hinblick auf ein vermutetes, generiertes Wissen und dessen Verwendung vollzieht, dass Zählen also in diesem Sinne als eine “recurrent practice” verstanden werden kann, wie sie für die Erschaffung sozialer Strukturen spezifisch ist.11 Diese Analyse möchte also einen Schritt über das Argument, dass die wissenschaftliche Beschreibung sozialer Realitäten diese erst sichtbar werden lässt, hinausgehen.12 Vielmehr möchte ich zeigen, dass der Begriff von „Bevölkerung“ in der Nachkriegszeit zunehmend eine ‘denkende’ Bevölkerung meinte, die mit dem Wissen über sich selbst konfrontiert war und dieses Wissen auch aktiv nutzte. Um dies zu verdeutlichen, soll in einem ersten Teil kurz die Lehre des demographischen 9
Paul Schor: The View From Below and The View From Above. What U.S. Census-Taking Reveals about Social Representations in the Era of Jim Crow and Immigration Restriction, in: Heinrich Hartmann/ Corinna Unger (Hg.): A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014, S. 19–35. 10 Jörg Rheinberger: Die Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a.M. 2006. 11 Welskopp, Der Mensch, S. 45. 12 Etwa in der Perspektive von Alain Desrosières, der in seiner Betrachtung insbesondere auf Emile Durkheims Analyse des sozialen Faktums zurückgreift. Am besten auf den Punkt gebracht wohl in Alain Desrosières: How to Make Things Which Hold Together: Social Science, Statistics and the State, in: Peter Wagner/Björn Wittrock/Richard Whitley, Discourses on Society. The Shapping of Social Science Disciplines (Sociology of the Sciences Yearbook, Bd. 15), Dordrecht et al. 1990, S. 195–218.
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Übergangs beleuchtet werden, die zum ersten Mal eine systematische Verbindung zwischen Statistiken und individuellem Verhalten formulierte und die Grundlage für eine Schule demographischer Forschung darstellte.13 In einem zweiten Teil soll verdeutlicht werden, wie die verhaltenspsychologische Forschung zumindest die demographischen Schulen in den USA der Nachkriegszeit sehr weitgehend beeinflusste und damit die „passende“ Methode für die Frage nach der Interaktion zwischen statistischem Wissen und Individuum bot. Ein dritter Teil soll sich mit den Praktiken der neuen Datenerhebungen befassen, in denen sich reine “Bevölkerungsstatistiken” teilweise in eine survey-Kultur weiterentwickelten, die nicht mehr nur nach statistisch verwertbaren Zahlen, sondern auch nach Zukunftserwartungen etc. fragten. In einem letzten Teil soll gerade an den Surveys zur Gesundheitsfürsorge und Fertilität als den Kernelementen demographischen Denkens der Nachkriegszeit gezeigt werden, dass hieraus eine neue Kultur des Umgangs mit Bevölkerungsstatistik entstand, in der demographische Prognosen nicht allein aus Extrapolation von Zahlenmaterial, sondern aus der Modellierung menschlichen Verhaltens errechnet wurden. STATISTIK, DEMOGRAPHIE, TRANSITION Die Formulierung der Lehre des demographischen Übergangs war der Moment, in dem sich in wissenschaftshistorischer Perspektive die Demographie wegbewegte von einer reinen Abbildung der Gesellschaft durch Zahlen, hin zu einem Axiom über den Zusammenhang von Modernisierung und individuellem Verhalten. Bereits seit der Zwischenkriegszeit hatte sie sich als Interpretationsangebot der statistisch forschenden Bevölkerungswissenschaft etabliert,14 ohne dabei aber ein theoretisches Angebot im eigentlichen Sinne darzustellen. Stattdessen bot sie einen scheinbar passenden Interpretationsrahmen für ein Bündel von empirischen Beobachtungen zur demographischen Dynamik. Ihren eigentlichen Durchbruch erlebte die Transitionslehre aber erst in den Nachkriegsjahren. Dabei entwickelte sie sich in den 1950er Jahren für viele Ökonomen zu einer Art illustrativem Untersystem der Modernisierungstheorie. Analog zu den wirtschaftlichen Entwicklungsstadien, wie sie etwa Walt W. Rostow verstand, beschrieb sie demographische Dynamik in Stufen, die vom Zustand hoher Morbidität und Fertilität zunächst zu einer Absenkung der Sterblichkeit bei gleichbleibend hoher Geburtenrate führte. Nach einiger Zeit ließen sich auch zurückgehende Geburtenraten beobachten. Daraus entstand dann ein neues Gleichgewicht. Allerdings bedeutete dies laut den Vertretern 13 Susan Greenhalgh: The Social Construction of Population Science: An Intellectual, Institutional, and Political History of Twentieth Century Demography, in: Comparative Studies in Society and History 38 (1996), S. 26–66; Simon Szreter, The Idea of Demographic Transition and the Study of Fertility Change: A Critical History, in: Population and Development Review 19 (1993), S. 659–701; Dennis Hodgson: Demography as Social Science and Policy Science, in: Population and Development Review 9 (1983) S. 1–34. 14 Szreter, Idea of Demographic Transition; Josef Ehmer: Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie, München 22013, S. 118ff.
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der Transitionslehre auch eine signifikante Überbevölkerung in der Übergangsphase. Was viele Ökonomen als einen unausweichlichen strukturellen Anpassungsprozess verstanden, sahen die ursprünglichen Autoren der Lehre ein wenig anders: Insbesondere Frank W. Notestein, der 1945 den einflussreichsten Aufsatz zum demographischen Übergang geschrieben hatte,15 verstand Bevölkerung in den 1950er Jahren nicht nur als eine abhängige Variable eines ökonomischen Entwicklungsprozesses. Stattdessen sprach er der Bevölkerung eine eigene Handlungsmacht in diesem Prozess zu; die Größe der Bevölkerung resultiere schließlich aus einer Vielzahl individueller Reproduktionsentscheidungen und auf diese könne in der Konsequenz auch sozialpolitisch eingewirkt werden. An der amerikanischen Ostküste formte sich aus diesen Axiomen und Überzeugungen ein Amalgam zwischen akademischer Forschung und politiknahen Expertengruppen, die ihre stärksten Säulen einerseits im neuen Office of Population Research an der Princeton University (OPR) hatte, zum anderen im 1952 gegründeten New Yorker Population Council, der wesentlich auf die Finanzierung durch die Rockefeller Familie, insbesondere den Erben John D. Rockefeller 3rd zurückging. Beide Institutionen waren aufs engste mit Frank Notestein verbunden, der das OPR seit seiner Gründung 1936 geleitet hatte. 1959 wurde Notestein dann zum Leiter des Population Council und beschäftigte sich hier mit Plänen, durch die Beeinflussung des Geburtenverhaltens die Agency im Entwicklungsprozess umzudrehen: Statt den Übergang in den Entwicklungsgebieten der Welt „durchzustehen“, zielte die Strategie des Council darauf ab, über die Beeinflussung der Geburtenraten sozioökonomische Entwicklungen anzuregen. Ihren Erfolg verdankte die Lehre der Neuordnung vieler Regionen der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, der Hochphase eines amerikanisch geprägten Entwicklungskonzeptes.16 Diese machte Bevölkerungsplanung spätestens seit dem Foreign Assistance Act von 1961 auch zu einem wichtigen Ansatzpunkt amerikanischer Entwicklungshilfe. Dass Bevölkerung in dieser Hinsicht in einem engen Zusammenhang mit Fragen der Entwicklung stand, stand damit außer Frage. Doch welcher Begriff von Bevölkerung dahinterstand und mit welchen Konzepten dieses statistische Konstrukt zum handelnden Akteur der eigenen Modernisierungsgeschichte gemacht werden sollte, dafür gab es verschiedene, teils konfligierende und widersprüchliche Auffassungen. Auf Grund der spezifischen institutionellen Umrahmung, der geographischen Nähe verschiedener Akteure und der finanziellen Unterstützung durch das amerikanische Stiftungswesen wurde in den nächsten Jahren das Reproduktions“verhalten“ der Bevölkerung zum dominanten Forschungs- und Handlungsfeld dieser Schule.
15 Frank W. Notestein: Population — The Long View, in Theodore W. Schultz (Hg.): Food for the World, Chicago 1945, S. 36–57. 16 Hierzu David Ekbladh: The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order, Princeton 2010, S. 153ff.
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VERHALTEN ALS PARADIGMA Die Nachkriegsgeschichte brachte eine neue Kultur des Umgangs mit ‚Daten’ mit sich, die in vielerlei Hinsicht ihre Selbstverständlichkeit verloren hatten. Der positivistische Gestus der Zahleneuphorie des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass der europäische Nationalstaat sich das statistische Wissen als Grundlage von Staatlichkeit weitgehend zu eigen gemacht hatte. Die Geschichte statistischer Erfassung und eines darauf aufbauenden neuen Politikverständnisses braucht hier nicht wiedergegeben zu werden; sie erfuhr in den letzten drei Jahrzehnten große Aufmerksamkeit.17 Es sei nur unterstrichen, dass sie eng verbunden ist mit einer bestimmten, meist (west-)europäischen Form des Nationalstaats seit dem 19. Jahrhundert und mit dessen Institutionen, die wiederum mit der statistischen Erfassung in enger Symbiose verwoben ist.18 Ohne den breiteren Ausbau der Verwaltungsebene war die statistische Erfassung der gesamten Bevölkerung eines nationalen Territoriums schwierig vorzustellen. Die Geschichte der Statistik gehörte damit in die Geschichte des europäischen Nationalstaats, die nach dem Krieg nicht ungebrochen fortgeschrieben werden konnte. Zudem hatte sich die Statistik nie vollständig in andere Weltregionen übertragen lassen, weder in die kolonialen Reiche vor den Weltkriegen, noch im Verlauf der Neuordnung einer postkolonialen Welt nach 1945, denn die statistischen Dispositive standen in vielen außereuropäischen Regionen doch nur begrenzt zur Verfügung.19 Nahezu zwangsläufig scheiterte Statistik in vielen Regionen der Welt nach der Dekolonisierung am Anspruch auf eine vollständige Erfassung der Bevölkerung. Stattdessen setzte sich ein eher funktionales Verständnis, ad hoc erhobener Bevölkerungs-„daten“ durch, die nach Bedarf, oft auch nur an Hand kleinerer „Sample“-gruppen erhoben wurde. 17 Sie bildet etwa ein zentrales Element in Lutz Raphaels Verwissenschaftlichungsthese; Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 18 Benedict Anderson: Imagined Communities, London 21991; in vielerlei Hinsicht bleibt zu diskutieren, inwiefern sich diese Aussage auf das eher imperial strukturierte Osteuropa übertragen lässt. Auch wenn gerade im Falle des russischen Zarenreiches die statistischen Traditionen durchaus stark sind, erscheint deren gleichmässige Ausbreitung auf das ganze Territorium des Reiches fraglich. Trotz dieser vielfachen Fragen wird in jüngeren Darstellungen davon ausgegangen, dass der Zensus sich auch als „imperiales Herrschaftsmittel“ etablierte. Ulrike v. Hirschhauen/ Jörn Leonhard: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2 2011, S. 53ff. In dieser Richtung beschreibt auch Martine Mespoulet die Durchsetzung einer funktionierenden Statistik als ein integrierendes Element des russischen Reiches, dessen Wirkung schon weit vor 1900 bis in die letzten Ecken des Reiches spürbar gewesen sei; Martine Mespoulet: Construire le socialisme par les chiffres. Enquêtes et recensements en URSS de 1917 à 1991, Paris 2008, S. 43ff. Zum österreichischen Zensus im 19. Jahrhundert vgl. den Beitrag von Göderle in diesem Band. 19 Samuel Coghe: Tensions of Colonial Demography. Depopulation Anxieties and Population Statistics in Interwar Angola, in: Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del ’900 18 (2015), S. 472–478; Karl Ittmann/Dennis D. Cordell/Gregory H. Maddox (Hg.): The Demographics of Empire: The Colonial Order and the Creation of Knowledge, Ohio 2010.
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Als Methode zu einer solchen modernen statistischen Praxis im postkolonialen Sinne bot sich das neue sozial-psychologische Interesse am menschlichen Verhalten an. Ausgangspunkt hierfür war Paul Lazarsfelds Methode und Denkschule, die ihre Heimat seit 1940 im Bureau of Applied Social Research an der New Yorker Columbia University fand. Lazarsfeld, der selbst in den 1920er Jahren in Wien eine klassische statistische Ausbildung erhalten hatte, widmete sich hier der weiterentwickelten Methode der Verhaltensforschung.20 Die unterschiedlichen Anwendungsbereiche dieser Methode von der Evolutionsbiologie bis zur Marktforschung und Werbung sind hinreichend dargestellt worden und können hier nicht vollständig aufgegriffen werden.21 Ein entscheidendes Anwendungsgebiet fand diese verhaltenspsychologische Methode neben alternativen Modernisierungskonzepten. Als besonders wichtiger Akteur in diesem Feld erwies sich die Ford Foundation, die entscheidenden Anteil daran hatte, diese Forschungsrichtung in konkrete Anwendungsgebiete zu bringen.22 Der Mitbegründer der RAND Cooperation, H. Rowan Gaither, wurde im Herbst 1948 damit beauftragt, ein Programm „for the Advancement of Human Welfare“ für die neu gegründete Stiftung zu verfassen, durch die man das menschliche Wissen der Menschheit bestmöglich nutzbar machen könne „in order to locate the areas where the problems are most important and where additional efforts toward their solution are most needed.“23 Nahezu zeitgleich rief US-Präsident Harry Truman in seiner Amtseinführungsrede im Januar 1949 zu einer neuen Entwicklungspolitik auf. Im vierten Punkt seiner Rede ging er auf die Rolle der Wissenschaften in der Entwicklung großer Teile
20 Zum Behviorismus Jacques Lautmann et a. (Hg.): Paul Lazarsfeld (1901–1976). La sociologie de Vienne à New York, Paris 1998; John A. Mills: Control: A History of Behavioral Psychology. New York University Press, New York 2000. 21 Rebecca Lemov: Word as Laboratory. Experiments with Mice, Mazes, and Men, New York 2005; Zu starker politik- und marktforschungsorientierten Anwendungsbereichen: Sarah E. Igo: The Average American. Surveys, Citizens, and the Making of a Mass Public, Cambridge/Mass 2007; Daniel J. Robinson: The Measure of Democracy. Polling Market Research, and Public Life 1930–1945, Toronto 1999; Bernhard Fulda: The Market Place of Political Opinions: Public Opinion Polling and its Publics in Transnational Perspective, in: Comparativ 21 (2011), S. 13–28; Susan Herbst: Polling in Politics and Industry, in: Theodore M. Porter/ Dorothy Ross (Hg.): The Cambridge History of Science. Vl. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 577–590; Allgemeiner: Michael E. Latham: Modernization as Ideology. American Social Science and “Nation Building” in the Kennedy Era, Chapel Hill/London 2000, S. 21ff.; Carl E. Pletsch: The Three Worlds, or the Division of Social Scientific Labor, circa 1950–1975, in: Comparative Studies in Society and History 23/1981, S. 565–590. 22 Peter J. Seybold: The Ford Foundation and the Triumph of Behavioralism in American Political Science, in: Robert F. Arnove (Hg.): Philanthropy and Cultural Imperialism. The Foundations at Home and Abroad, Bloomington 1982, S. 269–303; Hunter Crowther-Heyck, Patrons of the Revolution: Ideals and Institutions in Postwar Behavioral Science, in: Isis 97 (2006), S. 420– 446. Mark Solovey, Shaky Foundations. The Politics-Patronage-Social Science Nexus in Cold War America, Rutgers University Press, New Brunswick 2013, S. 103ff. 23 Rowan Gaither Jr. et a.: Report of the Study for the Ford Foundation on Policy and Program, Detroit 1949, S. 9.
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der Welt ein. Das daraus resultierende entwicklungspolitische „Point Four Program“ versuchte genaue Anwendungsbereiche gerade auch für die sozialwissenschaftliche Forschung zu definieren, die der Entwicklung einer sich dekolonisierenden Welt entgegenkäme. Die neuen Ansätze zur Verhaltenspsychologie passten dazu ideal. Gaither definierte die verhaltenspsychologische Forschung zum „Human Behavior“ in Modernisierungsprozessen zu einer der fünf Säulen der Stiftung.24 Schnell entwickelten sich auch quantitative Methoden in der „richtigen“ Darstellung menschlichen Verhaltens, das sich dank neuerer Fragebogentechniken in ein überindividuelles, statistisch messbares Objekt der Wissenschaft wandelte und damit den langsamen Übergang von einer psychologischen zu einer sozialstatistischen Methode, vom Behaviorismus zum Behavioralismus durchlief. Charakteristisch war dabei, dass die methodische Neuorientierung gleichzeitig auch eine technologische Komponente hatte: sehr früh begann die verhaltenspsychologische Forschung mit neuen Zähl- und Auswertungssystemen zu experimentieren und etwa den Einsatz von Lochkarten und kybernetischen Methoden anzudenken.25 Doch die Geschichte dieser verhaltenspsychologischen Praktiken im Rahmen der Aktivitäten der Ford Foundation war nicht ungebrochen. Nach etwa fünf Jahren wurde sich die Führung der Stiftung darüber klar, dass die Umsetzung einer solchen verhaltensorientierten Methode die vorwiegend anwendungsorientierte Anlage der Stiftung wesentlich überforderte. Die Forschungsrichtung wurde ausgegliedert: mit Geld der Ford Foundation wurde an der University of California in Berkeley das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences gegründet, das 1954 seine Arbeit aufnahm. Sein erster Direktor war der frühere Mitarbeiter von Lazarsfeld am Bureau of Applied Social Research, Bernard Berelson, der bereits seit 1951 für das Behavior-Programm der Ford Foundation gearbeitet hatte. Spätestens mit seinen Forschungen zum Wählerverhalten in den USA hatte sich Berelson gemeinsam mit Lazarsfeld als Spezialist im Feld einen Namen gemacht.26 Dabei betonte er immer die große Anschlussfähigkeit des Feldes an weitere quantitative und qualitative Sozialwissenschaften. „The boundaries of the behavioral sciences are by no means fixed, either among different observers or through time.“27 Die Offenheit des Programms machte diese verhaltenspsychologischen Methoden zu einem neuen Paradigma für viele sozialwissenschaftliche Disziplinen und mit der Zeit auch für die
24 Ebd., S. 90–97. 25 Solovey, Shaky Foundations, S. 116ff. Engerman gibt weitere Beispiele mit einer genauen methodischen Beschreibung; David C. Engerman: The Rise and Fall of Wartime Social Science: Harvard’s Refugee Interview Project, 1950–1954, in: Mark Solovey/ Hamilton Cravens (Hg.): Cold War Social Science. Knowledge Production, Liberal Democracy, and Human Nature, Palgrave Macmillan, New York 2012, S. 25–44. 26 Bernard Berelson/Paul F. Lazarsfeld/William N. McPhee: Voting. A Study in Opinion Formation in a Presidential Campaign, Chicago 1954; "Bernard Berelson." In: Encyclopedia of World Biography. 2004, (URL: http://www.encyclopedia.com/history/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/bernard-berelson, letzter Aufruf: 17.5.2016). 27 Bernard Berelson: Behavioral Sciences, in: David Sill (Hg.): International Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1968, S. 41–45, S. 44.
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eher statistisch ausgerichteten Bevölkerungswissenschaften. Dieser Austausch zwischen den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Methoden und insbesondere die Verbindung von individuellem Verhalten und Bevölkerungskonzepten verdichteten sich 1963, als Bernard Berelson zum Vizedirektor des privatfinanzierten New Yorker Population Council wurde und fünf Jahre später die Leitung der Organisation als Nachfolger von Frank Notestein übernahm. Verhaltens-Surveys, die auf statistischem Weg die Struktur der Bevölkerung mit Fragen zum „Kinderwunsch“ der Paare zusammenbrachten, wurden seit der Nachkriegszeit in vielen US-amerikanischen Communities eingesetzt.28 Seit den 1950er Jahren benutzten Mitglieder des Council solche Fragestellungen auch bei den Studien zu den Entwicklungsländern, allen voran die Studien von J. Mayone Stycos zu Puerto Rico.29 Seit dem Eintritt Berelsons in den Population Council war diese Methode zur Universalmethode der New Yorker demographischen Experten geworden, die Berelson nicht nur vereinheitlichen, sondern auch wesentlich weiter entwickeln wollte. Gerade ab Mitte der 1960er Jahre arbeitete er die Grundlage einer solchen Methode zudem mit dem Institute of Human Reproduction an der New Yorker Columbia University weiter aus, das ebenfalls in entscheidendem Maße von der Ford Foundation mitfinanziert worden war. Die Enstehungsgeschichte dieses Instituts verlief allerdings ganz anders. An der Columbia war es mit der Gründung dieses Instituts zunächst um die Stärkung der Gynäkologie und Geburtsmedizin gegangen. Erst mit dem massiven Engagement der Ford Foundation kam auch hier die Frage dazu, wie man das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung und speziell der weiblichen Bevölkerung im Sinne des Kampfes gegen Überbevölkerung dauerhaft verändern könnte.30 An der Columbia wurde dabei weit mehr gemacht als nur medizinische Forschung. Vielmehr war das Institut an einer „Soziologie und Anthropologie des reproduktiven Verhaltens der verschiedenen Völker der Welt“ interessiert, so hieß es in einem Arbeitspapier.31 Dabei schwebte dem Direktor des Instituts, Howard C. Taylor, eine Art von „Community Demography“ vor, in der die statistische Erfassung demographischer Grunddaten mit der Befragung der Bevölkerung und mit der Evaluierung der praktischen Programmteile einherging. Dabei sollte versucht werden, der Community neue Kenntnisse zur Frage von Familienplanung zu geben.
28 Clyde V. Kiser/ P. K. Whelpton: Social and Psychological Factors Affecting Fertility, New York 1946 (und folgende). 29 J. Mayone Stycos u.a.: The Puerto Rican Field Experiment in Population Control, in: Human Relations, 10 (1957), S. 315–334. Diese erste Studie des Population Council begann 1951. 30 Columbia University – Health Sciences Library- Archives and Special Collections, Howard C. Taylor Junior Papers [History of the International Institute for the study of Human Reproduction] 1953–1968, Box 1; Ali Erken: Negotiating Politics, Informal Networks and the Ford Foundation Projects in Turkey during the Cold War, in: International Journal of Turcologia, 11/2016, Nr. 21, S. 5–22. 31 „The International Institute for the Study of Human Reproduction“, 1.11.1965; Columbia University – Health Sciences Library- Archives and Special Collections, Howard C. Taylor Jr. Papers, Box 1.
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Eine solche „Community Demography“ war nicht etwa gedacht als Programmbestandteil, der vereinzelt in einigen Dörfern angewendet werden sollte. Vielmehr ging es gezielt um große Zusammenhänge und eine neue statistisch-interventionistische Kultur im Entwicklungskontext der 1960er Jahre. Die Grundidee einer solchen Veränderbarkeit demographischer Realitäten durch ein konzertiertes wissenschaftliches Programm fasste Bernard Berelson gemeinsam mit dem Direktor des neuen Columbia Instituts, Howard C. Taylor in einem Artikel zusammen, in der sie die Bedeutung des Programms als „Welt-Programm“ darlegten.32 Eine gewichtige Komponente eines solchen Programms war dabei der KAP (Knowledge, Attitudes and Practices) Ansatz, der vom Population Council entwickelt worden war. Er baute auf einer Befragungstechnik lokaler Bevölkerungen auf, durch die die Diskrepanz zwischen den Kenntnissen und den Praktiken der Familienplanung beschrieben und überbrückt werden sollte. In einer Vielzahl von Ländern und Regionen, insbesondere aber in Entwicklungsgebieten sollten diese Befragungen von lokalen Bevölkerungen durchgeführt werden, um Maßnahmen und Fortbildungen zur Familienplanung direkt anzubieten.33 Grundlage hierfür waren Untersuchungen, die seit Mitte der 1950er Jahre in den USA durchgeführt worden waren: Diese Growth of the American Family Study von 1955 stellte dabei das differenzierte Fertilitätsmuster zwischen den verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen in den USA dar, die hierdurch zu einer Blaupause für den Rest der Welt wurden.34 Mit großem Optimismus formulierte dabei etwa Parker Mauldin, dass die zu erwartenden Ergebnisse solcher Studien in der Tendenz besser seien, als das Datenmaterial nationaler statistischer Institute; dies schon allein, da das Erfassungspersonal wesentlich besser ausgebildet sei.35 Doch er gab auch zu bedenken, dass nationale Programme in diesem Bereich häufig nicht viel mehr als eine Katalysatorfunktion hätten, ein koordiniertes vollständiges Programm, in dem sich Statistik und Surveys ergänzten, könne nur von Internationalen Organisationen mit KnowHow und Vergleichswissen aufgestellt werden.36 Die Erfassung von Verhaltensfragen durch solche Designs sei zwar mit erheblichen Risiken verbunden, da etwa im Bereich des Kinderwunsches verbal formuliertes und wirkliches Verhalten weit auseinander lägen, doch letztlich könne man hier in einfachen Analogieschlüssen etwa aus der verhaltenspsychologischen Forschung zum Wählerverhalten lernen –
32 Howard C. Taylor/ Bernard Berelson: Maternity Care and Family Planning as a World Program, in: American Journal of Obestetrics and Gynecology 100 (1968), S. 885–893. 33 Norman Ryder/Charles Westoff: The Trend of Unexpected Parity in the United States: 1955, 1960, 1965, in: Population Index, 33 (1967), S. 153–168. Dies: Relationships Among intended, Expected, Desired and Ideal Family Size: United States 1965, in: Population Research, 1969. 34 Zu den Grundlagen des KAP Programms: Rockefeller Archive Center, Population Council, Accession 2, Administrative Files, Box 4A. Auch (der Rückblick eines Forschers, der seit der frühesten Zeit hieran beteiligt war: Charles F. Westhoff: Is the Kap-Gap Real?, in: Population and Development Review, (1988), S. 225–232. 35 Mauldin, S. 2. 36 Ebd., S. 10.
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eine Studienrichtung, die zu den Kerngebieten der frühen Verhaltenspsychologie gehört hatte. DATEN ERFRAGEN Die Techniken, die in den KAP Studien angewendet wurden, waren von vorneherein darauf ausgerichtet, gleichzeitig ein statistisch gestütztes Screening der Bevölkerung und einen verhaltenspsychologischen survey zu erstellen. Diese Formen von ad hoc Erhebungen konnten nicht auf eine reguläre Infrastruktur zur Erhebung des notwendigen Datenmaterials zurückgreifen. Mit der unzureichend ausgebauten staatlich-statistischen Infrastruktur in vielen Teilen der Welt wurden die ausführenden Agenten einer Befragung der Bevölkerung zu Schlüsselakteuren. Was schon für die Volkszählungen galt, bei denen die Interpretationsspielräume auf Seiten der Zählenden teils erheblich waren und durch rigide Verordnungen beschränkt werden mussten,37 bestätigte sich umso mehr für die survey-orientierten Interviews, die ab den 1960er Jahren zur Anwendung kamen. Sie lenkten auch für die Designer solcher Studien das Augenmerk auf den Zeitpunkt der Befragung, insbesondere da die Fragen teils hochkomplex waren und nicht nur Daten, sondern gerade auch subjektive, wenn auch kodierbare Meinungen den Gegenstand eines solchen Surveys bildeten. Die Menge entsprechender Befragungen, die allein unter dem Dach des Population Council in den 1960er Jahren stattfand, war erheblich. Um die Komplexität des Verhältnisses von Befragten und Fragenden darzustellen, sei hier ein Fall herausgegriffen, der Anfang der 1960er besondere Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Aktivität des Council bekam: die Türkei.38 Das Land war nicht nur seit Daniel Lerners Studien zum Zusammenhang von Modernisierung und individuellem Verhalten in den 1950er Jahren zu einem Schwerpunkt einer alternativen Schule der Modernisierung geworden.39 Nach dem Staatsstreich von 1960 verhielt sich die neue politische Führung offen gegenüber internationalen Survey Studien.
37 Raúl Necochea López: Demographic Knowledge and Nation-Building: The Peruvian Census of 1940, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), S. 280–296; Larry Frohman, Only Sheep Let Themselves Count: Privacy, Political Culture and the 1983/87 West German Census Boycotts, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2013), S. 335–378; Axel C. Hüntelmann: Statistics, Nationhood, and the State, in: Population Knowledge Network (Hg.): Twentieth Century Population Thinking. A Critical Reader of Primary Sources, London 2016, S. 11–36, S. 19f. 38 Hierzu Heinrich Hartmann: A Twofold Discovery of Population: Assessing the Turkish Population by its “Knowledge, Attitudes and Practices”, 1962–1980, in: Heinrich Hartmann/ Corinna Unger (Hg.): A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014, S. 178–200; Begüm Adalet: Questions of Modernization: Coding Speech, Regulating Attitude in Survey Research, in: Comparative Studies in Society and History, 57 (2015), S. 912–941. 39 Daniel Lerner: The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East, Glencoe 1958.
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Neben einem großangelegten Umfrageprojekt zur ländlichen Bevölkerung, das federführend vom MIT-Forscher Frederick Frey betreut wurde,40 kam 1963 auch eine Serie von KAP-Studien des New Yorker Population Council hinzu.41 Im folgenden Jahr wurde David Goldberg vom Institute for Population Studies der University of Michigan damit betraut, diese Projekte in der Türkei weiter durchzuführen und im Rahmen seines Aufenthalts an der Hacettepe Universität von Ankara zu betreuen.42 Aus seiner Perspektive hing das bevölkerungswissenschaftliche Problem, also die weitgehende Unsicherheit der Zahlen, weniger an spezifischen politischen Konstellationen oder inhaltlichen Ausrichtungen von demographischen Programmen, sondern war im wesentlichen technisch bedingt: “Turkey literally has the world’s worst census in terms of age reporting. There has been essentially no improvement since 1935. [This] is very hard to explain given educational increases, et cetera. My impression is that the quality of the Census Organization (people, training, etc.) have deteriorated to the point of compensating for any “natural gains” in the population. The 1965 preliminary counts lead me to believe that there may have been a substantial undercount relative to the previous census. […]The key problem will be interviewers. I haven’t solved this yet and if I don’t there won’t be a success story of the type I had hoped for.”43
Teil seines Auftrags war es, junge Demographen auszubilden und ihnen ein Gespür für die demographische Forschung zu geben. Goldberg bildete die Studenten in Ankara in den Interviewtechniken bei Zählungen und Surveys aus. Mit der Gründung des Hacettepe Institute for Population Studies (HIPS/Nüfus Etüdleri Enstitüsü) unter dem Dach des Hacettepe Science Center wurde eine solche neue Struktur zur Forschung und Ausbildung 1966 in der Türkei verankert. Es war ein Resultat aus einem neuen nationalen Agendasetting sowie dem Bedürfnis internationaler Akteure und Institutionen – insbesondere der Ford Foundation44 – nach einem festen Ansprechpartner in Ankara.45 Zudem unterstützte die Rockefeller Foundation die Arbeit mit Material, insbesondere mit neuen Rechenanlagen, Lochkartensystemen etc., die das HIPS zu dem Ort in der Türkei machte, der über die neuesten technischen Errungenschaften zur
40 Hierzu Adalet, Questions of Modernization. 41 Hartmann, Twofold Discovery. 42 Brief von Ronald Freedman an Dudley Kirk, 30.5.1964; Rockefeller Archive Center, Population Council Accesion 1, Box 63, Folder 1082. 43 Goldberg an Parker Mauldin, 11.8.1965, Rockefeller Archive Center Population Council Accesion 1, Box 63, Folder 1082. 44 Vortrag von Northrup über die Aktivitäten der Ford Foundation in der Türkei von 1968; Rockefeller Archive Center, Ford Foundation, Correspondance Reel 1607 FF-Turkey 1968; „The Ford Foundation OD Self-Study (Operation Janus). Responses from Turkey”, September 1966; Rockefeller Archive Center, Ford Foundation, Unpublished Report No 3053; Rockefeller Archive Center, Ford Foundation, Grant Files, Reel R–2109. 45 Gründungsbeschluss des Instituts bei der Sitzung des Science Centers am 3.7.1966; Rockefeller Archive Center, Population Council, Accession 2, Correspondance, Box 58, Folder Hacettepe Science Center – FC-Turkey 66–70.
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Verwaltung und Bearbeitung von Daten verfügte.46 Der Population Council stimmte ebenfalls zu, dass die zuvor an andere türkische Universitäten gelieferten Materialien vom neuen Institut übernommen werden konnten.47 Die WHO schließlich wählte das HIPS in kurzer Zeit zu ihrem Korrespondenzinstitut, durch das die Erhebung von türkischen Daten und Studien organisiert wurde.48 Diese institutionelle Aufstellung ging einher mit einer wissenschaftlichen Neuausrichtung, die den Anlass für die internationalen Organisationen bot, das neue Institut zu legitimieren. Bereits im Antrag für das neue Institut hieß es dazu: „Priority will be given to those projects that promise immediate application value such as KAP […]”. 49 Beispiele wie das der Türkei sind zahlreich in dieser Zeit. Die institutionelle Neuausrichtung statistischer und demographischer Forschungseinrichtungen war eng verwoben mit neuen Studiendesigns und der Tatsache, dass ein entsprechendes Know How auf Seiten der nationalen Institute vorgehalten werden musste.50 Die Durchführung solcher Studien im Land dagegen war in den Augen des Population Council eine delikate Angelegenheit, weil hierfür Wissenschaftler nötig waren, die über Kenntnisse des internationalen Studiendesigns wie auch der lokalen Verhältnisse verfügten. Der beauftragte Wissenschaftler fungierte hier in mehrfacher Hinsicht als Übersetzer in einem solchen Prozess. In der Türkei war es David Goldberg, der extra für längere Zeit in das Land geschickt wurde, um eine solche Übersetzerfunktion zu erfüllen. Im Rückgriff ist es nicht möglich, die Reaktionen der türkischen Bevölkerung auf die 1965 und 1966 von Goldberg und seinen türkischen Kollegen durchgeführten Befragungen adäquat zu spiegeln. Doch durch die Instruktionen an die Interviewer lassen sich hier aufschlussreiche Details eines solchen Verhältnisses von Befragern und Befragten nachzeichnen. In einem Brief wurden die Haushaltsvorstände im Februar 1966 auf den Besuch der Interviewer vorbereitet und darauf hingewiesen, dass die Erhebungen einer Verbesserung der Gesundheits- und
46 Başbakanlık Cumhuriyet Arşivleri, Fon Kodu 30.18 Kutu No: 256 Dosya Gömleği No. 62 Sıra No 13, sowie Kutu No: 163 Dosya Gömleği No. 75 Sıra No 9. 47 Zollunterlagen für Lieferungen des Population Council von 1966; Başbakanlık Cumhuriyet Arşivleri, Fon Kodu 30.18 Kutu No: 256 Dosya Gömleği No. 62 Sıra No 13, sowie Kutu No: 163 Dosya Gömleği No. 75 Sıra No 9 Kutu No: 197 Dosya Gömleği No. 47 Sıra No 20; Unterlagen zum Versand von IBM Lochmaschinen 1976/68, Rockefeller Archive Center, Population Council, Accession 1, Box 63, Folder 1084. 48 Service de Statisitique sanitaire, Rapport préparé par Vaclav Dolejsi, 23.3.1966. World Health Organization Archives, Turkey – Project 0502 (1964–1968): Health Statistical Services. 49 Rockefeller Archive Center, Population Council, Accession 2, Correspondance, Box 58, Folder Hacettepe Science Center FC-Turkey 66–70. 50 Als Beispiele einer wachsenden Literatur zu dieser Beziehung: John Paul DiMoia: Reconstructing Bodies. Biomedicine, Health and Nation Building in South Korea since 1945, Stanford 2013; Adam M.Silvia: Modern Mothers for Third World Nations: Population Control, Western Medical Imperialism, and Cold War Politics in Haiti, in: Social History of Medicine 27 (2014), Nr. 2, S. 260–280.
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Erziehungssituation vor Ort zu Gute kommen sollte.51 Die Auswertung dagegen solle geheim bleiben und die Daten lediglich vom Gesundheitsministerium und dem statistischen Amt bearbeitet werden. Genau hier wiederum vermutete Goldberg das Problem. In einem internen Schreiben warnte er die New Yorker Kollegen vor den türkischen Statistikern, die nur zu leicht die Daten der 1965er-Volkszählung ebenso verderben könnten, wie sie es mit denen von 1960 gemacht hätten.52 Glaubhafte Bevölkerungszahlen zu haben hieß aus seiner Perspektive, diese selbst zu generieren und sich von der Infrastruktur des Landes so weit wie möglich unabhängig zu machen. Die Allianz internationaler und nationaler Forschungs-communities, die gegenüber der türkischen Bevölkerung kommuniziert wurde, hielt lediglich nach außen, das Misstrauen unter der Oberfläche war deutlich.
51 Vgl Formbrief der durchführenden Middle Eastern Technical University in Ankara (METU), Feburar 1966, in: Rockefeller Archive Center, Population Council, Accesion 1, Box 63, Folder 1082. 52 „[…] you better get some demographic types here quickly before S[tate] I[nstitute of] S[tatistics] destroys the 1965 census as they did the 1960.” David Goldberg an W. Parker Mauldin, ohne Datum [Januar 1966]; Rockefeller Archive Center, Population Council, Accesion 1, Box 63, Folder 1082.
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Abb.1: Goldbergs Entwürfe für die Studie von 1966
Explizit wurde die Bevölkerung auch nach der Definition von Familie gefragt, denn es schien unmöglich ein solches Konzept direkt zu übersetzen. In der Türkei, so vermutete Goldberg, sei es oft unklar, wer Teil der Familie sei. Seine Hinweise für die Interviewer fokussierten dabei nicht nur auf die technischen Unzuverlässigkeiten im Prozess der Datenerhebung. Er zeigte auch eine große Sensibilität in Bezug auf die jeweilige soziale Situation der Datenerhebung. Es sollte in diesem Sinne ein Unterschied gemacht werden, ob Männer im Kaffeehaus oder im Haus des Dorfvorstehers interviewt wurden. Frauen dagegen sollten zu Hause befragt werden, um sie aus den Autoritätsgefügen ihrer sozialen Umwelt herauszulösen.
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Den weitaus größten Wert legten Goldberg und die Projektverantwortlichen allerdings darauf, den Interviewern Anweisungen zu geben, um die nur teilstrukturierten Interviewbögen in eine quantitativ auswertbare Form zu bringen. Die Möglichkeiten, die etwa durch die Erfassung der Antworten auf Lochkarten im Sinne einer neuen statistischen und kybernetischen Auswertbarkeit lagen, setzten in erster Linie auch auf Kodierbarkeit der Ergebnisse, also auf die Möglichkeit, eindeutige Meinungen zu erfassen. Die Interviewbögen, die in Kooperation von Middle Eastern Technical University und Population Council entstanden, waren auch in ihrer gedruckten Form 28 Seiten lang, womit die Interviewer mehrere Stunden pro interviewter Person verbringen konnten. Der Grund dafür lag v.a. darin, dass mehrere Antwortsangebote die erwarteten Verständnisschwierigkeiten bei der Beantwortung der Fragen ermöglichen sollte. Die abgebildeten Antwortmöglichkeiten für die Frage nach der Bedeutung der Kinderzahl pro Frau macht diese Übersetzungstätigkeit von Meinungen in statistische Werte und die Rolle der Person des Übersetzers sichtbar. (Abb. 1) AUF DEM WEG ZU EINER NEUEN STATISTISCHEN KULTUR Man könnte die Studien von Goldberg lediglich als eine funktionale Komponente für die Suche nach einer verlässlichen Basis einer neuen Gesundheitspolitik interpretieren, die im Sinne einer transnationalisierten Verwissenschaftlichung des Sozialen auf der Hand läge. Damit würde man aber an zwei Elementen vorbeisehen, die ein stringentes Fortschrittsnarrativ in Frage stellen und gleichzeitig auf die Wechselseitigkeit von wissenschaftlichen Übersetzungsprozessen verweisen: Zum einen auf die außerordentlich prägende Bedeutung, die diese Studien schnell erlangten, und der sich daraus ergebenden Pfadabhängigkeiten, in denen damit viele außereuropäische Länder schnell gefangen waren, denn eine Studie führte bald zu mehreren Follow-up Studien, um die Ergebnisse zu validieren oder zu korrigieren. Zum zweiten auf die Tatsache, dass die Designs, die solchen Surveys zu Grunde lagen, ganz wesentlich die statistische Kultur und dadurch auch eine Vielzahl von statistischen Institutionen, aber auch wissenschaftliche Karrieren prägten. Von ihren ersten Anfängen an waren die neuen Survey Designs nicht auf einzelne Länder ausgerichtet, sondern hatten einen international vergleichenden Charakter. Auch dies wird deutlich am Fall von David Goldberg. Die Türkei war für ihn nicht nur Empfängerland für die neuen Techniken und wissenschaftlichen Paradigmen. Es war ganz wesentlich auch ein Erfahrungsfeld, auf dem er neue Techniken testete und nach seinem zweijährigen Aufenthalt wieder zurück an sein Heimatinstitut an der University of Michigan brachte, dessen Direktor er in den 1970er Jahren wurde. 1974 fasste er diese Methode in einem Essay zusammen, das die großen Prinzipien in der Entwicklung dieser Studien nachzeichnete.53 Dieses Buch sollte eine generelle Methode für eine demographische Forschung vorgeben, die 53 David Goldberg: Modernism, the Extensiveness of Women’s Roles and Attitudes, Occasional Paper No. 14, World Fertility Survey 1974.
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sich insbesondere mit der Rolle der Frau beschäftigte. Der Autor erläuterte, dass ihm dafür im Wesentlichen seine eigenen Erfahrungen aus Ankara und Mexiko City (ab 1971) zur Verfügung standen. Zu einem nicht unwesentlichen Teil betrafen diese Erfahrungen dabei das Verhältnis zu den Befragern: “In spite of the continuous interviewer surveillance, it is now apparent that there are clear interviewer “effects”. It would seem that most of these „effects" stem from two sources: 1. a tendency on the part of some interviewers to lighten their load by occasionally asking the first few questions in a series and filling in the remaining responses themselves, and 2. an occasional ease of an interviewer being reluctant to ask a few items, filling in invented responses and obtaining response patterns showing an interviewer ‘effect’ well above or below expected values.“54
Gerade der zweite Aspekt, den Goldberg hier auflistete, dürfte eine erhebliche Komplexität verbergen, da es wohl in der Realität nicht nur darum ging, dass Fragen aus Scham nicht gestellt wurden, sondern auch um die zahlreichen Übersetzungsprobleme zwischen den Interviewern und der Bevölkerung, also mitunter um reine sprachliche oder andere Verständnisschwierigkeiten. Dieses unsichere Verhältnis bei der Datenerhebung war etwa in der Türkei ein wiederkehrendes Problem. Es gab eine lange sozialwissenschaftliche Tradition in dem Land, insbesondere Lehrern die Aufgabe des Interviewens und Zählens zu überlassen. Noch einige Jahre nach Goldbergs Untersuchung kam ein Gutachter der Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass die Lehrer, die mehr oder weniger alle sozial relevanten Ereignisse im Dorf zu wissen glaubten, diese häufig direkt aus dem Kopf aufschrieben, ohne sich die Mühe des Interviewens zu machen.55 Solche Vermutungen legten es nahe, solche Momente des sozialen Austausches, aber auch die Macht der middle-agents verstärkt zu fokussieren, deren Praktiken des Fragens entscheidende Faktoren für den Erfolg neuer Studien waren. Der Sozialwissenschaftler James Fawcett fasste in seinem Buch über Fertilität und verhaltenspsychologische Forschung zusammen, dass die etablierten survey-Studien im Wesentlichen aufgebaut seien „mainly on the basis of face validity. Response sets, such as acquiescence, and effects of the interviewer-respondent relationship are seldom assessed, nor is reliability. Attempts to measure either attitudes or knowledge by indirect means are uncommon. […] While the number of methodologically-oriented studies is small, the magnitude of error revealed when reliability and validity are assessed points strongly to the need for greater methodological rigor.” 56
Individuelles Verhalten stellte nicht nur das Untersuchungsobjekt in Frage, sondern war auch der Stolperstein für diese neuen, zählenden Survey-Techniken. Es zog eine universelle Technik in Zweifel, die als eine neue zählende Herangehensweise an die Subjektivität individueller Modernisierungspfade im Raum stand. Denn das Versprechen, das mit den KAP-Studien verbunden war, war groß. Noch Mitte der 1960er Jahre hatte W. Parker Mauldin, ein Mitglied des Population Council, den 54 Ebd., S. 10. 55 Report on a Mission to Turkey, 13.6. –12.7.1972, prepared by Vaino Kannisto; United Nations Archives, Series 134, Box 129, Folder 4. 56 James Fawcett: Psychology and Population. Behavioral Research Issues in Fertility and Family Planning, New York 1970, S. 39.
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Optimismus in Bezug auf die neuen Methoden, individuelle Präferenzen in statistische Daten zu integrieren, wie folgt ausgedrückt: „[The KAP survey] is perhaps the most substantial set of comparative social data ever collected across such a range of societies, and a few of the pilot projects in the field of family planning are among the most elaborate and extensive social experiments ever carried out in the natural setting.“57
Nicht nur eine informierte Sozialpolitik war Ziel dieser Studien, sondern sie zielten auch darauf ab, ein brauchbares Werkzeug zur Modellierung menschlichen Verhaltens durch Statistik zu entwickeln. Dieser Ansatz fand seine nahtlose Fortsetzung in einer Genealogie von Studiendesigns: Nach der Welle von Untersuchungen zu den KAP entwickelte sich aus diesem Ansatz heraus in den frühen 1970er Jahren der World Fertility Survey (WFS), zum ersten Mal organisiert vom International Statistical Institute (ISI) im Weltbevölkerungsjahr 1974.58 Wie bereits die KAP Studien, unterschied auch der WFS zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen, die zu einem Verhalten führten. Dabei waren die abhängigen die eher zähl- und erfassbaren Werte (etwa Alter, Kinderanzahl, etc.), während Fragen zu Meinungen tendenziell als unabhängig galten. Die Tatsache, dass die Meinungen dabei unabhängig waren, veränderte ihre Stellung und machte sie zwar „unerklärbar“ im Sinne einer Ableitung von anderen Variablen, nicht aber „unmessbar“. Die Genese dieser Meinung mochte außerhalb der Reichweite statistischer Forschung liegen, doch ihre Messung machte sie zu einer Form, retrospektive Statistik und extrapolierende Zukunftsszenarien auch jenseits bloßer Wahrscheinlichkeitsrechnungen aneinander zu binden. Die Prognosen, die man durch Interviewtechniken zu erlangen versuchte, sollten sich asymptotisch an das korrekte Ziel annähern und damit eine neue Form der Abbildbarkeit der Zukunft generieren. Solche Ansätze gingen dabei bald über die reine Frage der Fertilitätsforschung hinaus. Sie fragten in erster Linie nach allen gesundheitspolitisch relevanten Themen, wie etwa der Bereitschaft von Müttern zum Stillen, aber auch nach Bildungschancen etc. Riley und McCarthy ordnen solche Formen als „postmoderne Demographie“ ein, eine Demographie, die den Einfluss der Konstruktion sozialen Wissens auf die zugrundeliegende Struktur ernst nimmt.59 Dabei blieben diese Studien und eine solche funktionale Anwendung „postmoderner Forschung“ inhärent auf entwicklungspolitisch relevante Themen fokussiert, die sich aus dem Grundmuster eines demographischen Übergangs ergaben. Sie sprachen damit dem Zählenden und dem Gezählten eine neue Form von agency im Entwicklungskontext zu. Dies galt in besonderem Maße für Fragen der Geschlechterungleichheit. Doch die Ergebnisse solcher Studien waren nicht immer eindeutig. Jahre nach der ersten Kon-
57 W. Parker Mauldin: Fertility Studies: Knowledge, Attitudes, and Practices, in: Studies in Family Planning, 1 /1965, Nr. 7, S. 1–10, S. 2. 58 J. Timothy Sprehe: The World Fertility Survey. An International Program of Fertiliy Research, in: Studies in Family Planning, 5 (1974), S. 35–41. 59 Nancy E. Riley/James McCarthy: Demography in the Age of the Postmodern, Cambridge 2003, S. 120ff.
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junktur der verhaltenspsychologischen Wende der demographischen Forschung beleuchte Charles Westhoff, einer der Forscher der ersten Stunde, ein solches Projekt zunehmend kritisch und fragte offen danach, ob die beobachteten Effekte einer solchen Forschung nicht rein aus dem Beobachtungsinteresse resultieren.60 Wie gesehen war die statistische Kultur vieler sogenannter Entwicklungsländer geprägt von der neuen Surveytechnik. Dies galt umso mehr, als eine entsprechende statistische Kultur unter den Vorzeichen dieser Entwicklungsbestrebungen erst aufoder ausgebaut wurde. Doch andererseits verbanden diese neuen Untersuchungspraktiken auch die Trennung einer entwickelten ersten und einer „sich entwickelnden“ Dritten Welt. Denn auch in vielen westlichen Ländern ergaben sich hierdurch institutionelle Veränderungen. So wurde auch in der Bundesrepublik in Vorbereitung auf das Weltbevölkerungsjahr 1974 ein Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) gegründet.61 Diese Expansion neuer demographischer Institutionen, in diesem Fall angegliedert an das Statistische Bundesamt, verstand sich nicht nur als Teil des nach innen expandierenden deutschen Sozialstaats, sondern auch als eine Antwort auf die internationalen Herausforderungen durch neue vergleichend angelegte Studien. SCHLUSSBEMERKUNG Seit den 1960er Jahren beschäftigten sich Sozialwissenschaftler und Demographen mit „Verhalten“ nicht nur von Individuen und Gruppen, sondern von „Bevölkerungen“, deren weitere Entwicklung sie gleichzeitig hierdurch zu prognostizieren versuchten. Damit war individuelles Verhalten ein wichtiges Bindeglied zwischen statistischem und psychologischem Wissen – übertragen auf die großen Paradigmen der Zeit aber durchbrach eine solche Methode die Dichotomisierung von Strukturen und Individuen. Dabei war der Theorienfluss und der Austausch mit anderen, insbesondere psychologischen Forschungsrichtungen kennzeichnend und nährte einen grundsätzlichen Optimismus, die Methoden der Erfassung und Analyse von Bevölkerung innerhalb von kurzer Zeit wesentlich weiterentwickeln zu können und zu einer neuen Säule der Modernisierungstheorie ausbauen zu können. Das paradigmatische Interpretationsschema der Transitionslehre suggerierte dabei die globale Übertragbarkeit demographischer Entwicklung und legte somit die Anwendung dieser sozialwissenschaftlichen Methoden in einer sich verändernden Weltordnung nahe. Doch sie boten der Gesellschaft auch neue Möglichkeiten, sich dieses Wissen anzueignen und auf dieses zurück zu wirken. Damit veränderten sie in gewisser
60 Westhoff, Is the KAP-Gap Real. 61 Daniel Schmidt: Von der Krise zur Chance – Die Politik der „Bevölkerung“. Deutsche und europäische Diskurse seit 1970, in: Petra Overath (Hg.): Die Vergangene Zukunft Europas. Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert. Köln 2011, 117–142.; Hartmann, Heinrich: „In einem gewissen Sinne politisch belastet“. Bevölkerungswissenschaft und -politik zwischen Entwicklungshilfe und bundesrepublikanischer Sozialpolitik (1960er und 1970er Jahre), in: Historische Zeitschrift 303 (2016), S. 98–125.
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Weise den Begriff von Bevölkerung von einem statistischen Objekt zu einem handelnden Subjekt. Die Gleichzeitigkeit von der Verlagerung des statistischen Interesses auf Fragen menschlichen Verhaltens einerseits, die Subjektivierung der Datenerzeugung andererseits unterminierten allerdings eine rein funktionale Weiterentwicklung der demographischen Methode zu einer „postmoderne Demographie“, die besser in der Lage sein sollte, alte statistische Methoden einfach zu integrieren und um Aspekte wie „gender“ oder „Migration“ zu erweitern.62 Doch die verschwimmende Grenzziehung, zwischen Status und Erwartung, zwischen Daten und Meinung, kurz gesagt zwischen Demographie und Demoskopie stellte die Sozialwissenschaften vor epistemische Herausforderungen, in denen sich eindeutige Aussagen über komplexe Probleme verboten. Mehr und mehr generierten die gleichen Forschungsdesigns das Ergebnis und dessen Interpretation gleichzeitig, konnten dabei aber nicht erklären oder reflektieren, wie sehr diese erwarteten Ergebnisse wiederum die Datensammlung selbst beeinflussten. Es ist auch diese epistemische Schwierigkeit, die seit den 1970er Jahren das eindeutige Interpretationsschema der statistischen Demographie zwischen Über- und Unterbevölkerungsdiskursen, wenn es um die Formulierung von „objektiven“ statistischen Aussagen im Bereich der Bevölkerungswissenschaften ging, letztlich scheitern ließ.
62 Riley/McCarthy, Demography.
AUTORINNEN UND AUTOREN Martin Bemmann ist seit 2014 Akademischer Rat a.Z. am Historischen Seminar der Universität Freiburg. 2010 wurde er dort mit einer Arbeit zu Waldsterbensdebatten in Deutschland zwischen den 1890er und 1970er Jahren promoviert. 2011 war er Visiting Scholar an der University of East Anglia in Norwich (UK) mit einem Stipendium des DAAD. 2012/13 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der TU Dresden und das akademische Jahr 2016/17 verbrachte er als Junior Fellow am Freiburg Institute of Advanced Studies. Im Moment arbeitet Martin Bemmann an einer Habilitationsschrift zur Etablierung und Entwicklung internationaler Wirtschaftsstatistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu seinen Publikationen gehören seine Dissertation (2012) sowie zwei Sammelbände zur Bedeutung von Nicht-Wissen und Unsicherheit bei der Bewirtschaftung von Ökosystemen (2013) und zur Geschichte des Konzepts der „Ökologischen Modernisierung“ (2014). Veröffentlicht hat er darüber hinaus Aufsätze zum Waldsterben, zum internationalen Holzhandel der 1930er Jahre und zu holzwirtschaftlichen Europaplanungen der Nationalsozialisten, zur ökologischen Modernisierung sowie zu Aspekten der Etablierung und Entwicklung internationaler Wirtschaftsstatistiken. Nicolas Bilo ist Mathematiker und Historiker. Nach seinem Studium an den Universitäten Göttingen und Bologna arbeitet er als Berater in der politischen Kommunikation und der Wissenschaftskommunikation in Berlin. An der Universität Göttingen forscht er außerdem in den Bereichen Neuere Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. In seinem aktuellen, teilweise durch die Hans-Böckler-Stiftung finanzierten, Projekt untersucht er Statistiken als Medium politischer Diskurse durch nichtstaatliche Akteure. Lukas Boser hat in Bern Geschichte studiert und anschließend in Erziehungswissenschaft promoviert. Er forscht zur Geschichte des Lesens, Schreibens, Messens und Rechnens im 18. und 19. Jahrhundert und insbesondere zur Einführung und Verwendung des metrischen Systems in der Schweiz, womit er sich auch in seiner Dissertation beschäftigte. Zurzeit forscht und lehrt er an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Davor war er PostDoc an der Universität Lausanne. 2011 und 2017 verbrachte er jeweils mehrmonatige Forschungsaufenthalte an den Universitäten Madison-Wisconsin und Stanford. Er hat mehrere Buchbeiträge und Artikel in Fachzeitschriften zum Messen und Rechnen in der Schweizer Volksschule publiziert. Andrea Bréard ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Université ParisSud. Von 2005 bis 2017 bekleidete sie die Position Maître de conférences am Mathematischen Institut der Université Sciences et Technologies Lille 1. Sie folgte
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Autorinnen und Autoren
Einladungen als Gastwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, am Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung der Universität Erlangen und dem Cluster Asia and Europe der RuprechtKarls-Universität Heidelberg. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten kombinieren ihre Studien in den Fächern Mathematik und Sinologie und reichen von ideengeschichtlichen Untersuchungen zur globalen Zirkulation mathematischer Konzepte, Praktiken und Institutionen zur Untersuchung der Zahl als Kulturtechnologie in der chinesischen Geistesgeschichte. Ihre Dissertation Re-Kreation eines mathematischen Konzeptes im chinesischen Diskurs (Steiner Verlag 1999) wurde zweifach ausgezeichent mit dem Prix des Jeunes Historiens der Académie Internationale d’Histoire des Sciences und dem Prix de Thèse der Fondation Sino-Française pour l’Éducation et la Culture. Ihre Monographie Nine Chapters on Mathematical Modernity: Essays on the Global Historical Entanglements of the Science of Numbers in China erschien 2018 bei Springer. Hajo Frölich ist Sinologe und Historiker und wurde 2016 an der Freien Universität Berlin promoviert, wo er bis 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter war. Seine Dissertation wurde durch ein Promotionsstipendium der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert. 2008 und 2012 war er Visiting Scholar an der Peking University. Seine Forschung befasst sich mit Schulgeschichte und der Geschichte von Zoologie und zoologischen Gärten im China des 20. Jahrhunderts. 2018 ist sein Buch Des Kaisers neue Schulen. Bildungsreformen und der Staat in Südchina 1901–1911 bei De Gruyter Oldenbourg erschienen. Derzeit arbeitet Hajo Frölich zur politischen und sozialen Geschichte von Zoos im China des 20. Jahrhunderts, wofür er 2016 ein Stipendium der Fritz-Thyssen-Stiftung erhielt. Wolfgang Göderle ist Assistent am Institut für Geschichte der Universität Graz. Er befasst sich mit Wissensgeschichten in der Neueren und Neuesten Geschichte an den Kontaktflächen zwischen Statistik, Verwaltung, Wissenschaft und Technik im Kontext einer zentraleuropäischen new imperial history. Sein Buch Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910 ist 2016 erschienen (Wallstein, Göttingen). Stefan Haas, von dem seine SchullehrerInnen immer noch meinen, er hätte besser Mathematik studiert, ist nach einigen Jahren an der University of Toronto Professor für Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und derzeit Direktor des dortigen Zentrums für Theorie und Methoden der Kulturwissenschaften. Seine empirischen Schwerpunkte liegen in der Kultur-, Wissens- und Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Aktuell arbeitet er an der Frage, wie wissenschaftliche und dabei besonders theoretische Innovationen durch transregionalen und globalen Wissenstransfer ausgelöst und modifiziert werden. Im Hinblick auf theoretische Fragen arbeitet er an einer Argumentationstheorie für die historischen Wissenschaften sowie an einem Konzept der visuellen Narrativität.
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Heinrich Hartmann ist Assistent für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Basel. Er promovierte in Berlin und Paris zur Verwissenschaftlichung von Unternehmensorganisation. Zentrales Thema seiner aktuellen Forschungen ist die Geschichte des Bevölkerungsdenkens im 20. Jahrhundert sowie eine Wissensgeschichte der ländlichen Türkei in der Nachkriegszeit. Er ist Mitherausgeber des Bandes „A World of Poplulations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century“ (Berghahn 2014) sowie Autor von „Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg“ (Wallstein 2011). Michèle Hofmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zurzeit forscht sie in einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt zur Psychopathologisierung der Pädagogik um 1900. Sie studierte Geschichte, Erziehungswissenschaft und Ethnologie und promovierte mit einer historischen Arbeit zur Schulhygiene in der Schweiz. Sie war Honorary Fellow an der University of Wisconsin-Madison und Visiting Scholar an der Stanford University sowie Gastdozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Axel C. Hüntelmann hat Betriebswirtschaft an der Fachhochschule für Wirtschaft und Technik in Vechta und Neuere Geschichte, Mediävistik und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und an der Universität Bremen zur Geschichte des Reichsgesundheitsamtes promoviert. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am ERC-Forschungsprogramm Paper Technologies „Ways of Writing. How Physicians Know, 1500–1950“ am Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin, mit einem Projekt zu „Accounting“ (1750–1950) tätig. Zudem forscht und publiziert Axel C. Hüntelmann zur Geschichte bakteriologischer Forschungseinrichtung in Europa und Nordamerika (1850–1950), zur Biographie des Lebenswissenschaftlers Paul Ehrlich, zur Geschichte von Versuchstieren (1850–1930) und zur Geschichte des Wachstums (1770–1970). Franziska Hupfer studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie in Freiburg (Schweiz) und Zürich. Von 2013 bis 2017 war sie Doktorandin an der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich und Mitglied des Doktoratsprogramms „Geschichte des Wissens“ (ETH und Universität Zürich). In ihrer Dissertation hat sie die Kooperation von Wissenschaft und Nationalstaat am Fallbeispiel der Wetterbeobachtung und Wetterforschung in der Schweiz zwischen 1860 und 1914 untersucht. Zu diesem Thema bereits publiziert hat sie den Aufsatz „Ein Archiv für Wissenschaft, Staat und Nation: Klimatologische Datenpraktiken in der Schweiz, 18601914“ in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 25, 4 (2017), S. 435-457.
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Christa Kamleithner ist Kulturwissenschaftlerin und promoviert an der HumboldtUniversität zu Berlin mit einer Arbeit zur Wissensgeschichte der modernen Stadtplanung, die die politischen und epistemischen Voraussetzungen der Disziplin untersucht. Schwerpunkte ihrer Forschung sind Geschichte der Stadtplanung und Stadtforschung, Fragen der Medialität der Architektur und Theorien des sozialen Raumes. Publikationen u.a.: Mit dem Markt planen. Zu den epistemischen Voraussetzungen moderner Stadtplanung, in: Matthias Koch u.a. (Hg.), Planlos! Zu den Grenzen von Planbarkeit, München 2015, S. 35–49; Hg., mit Susanne Hauser und Roland Meyer: Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, 2 Bde., Bielefeld 2011/13. Christina Rothen, Dr. phil., ausgebildete Primarlegerin, studierte Erziehungswissenschaft und Geschichte in Bern, Bochum und Berlin. 2013 promovierte sie zur Verwaltung, Aufsicht und Kontrolle der Primarschule im Kanton Bern zwischen 1832 und 2008. Heute ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Sie arbeitet zur Geschichte der Bildungsverwaltung, der höheren Berufsbildung und des Kindergartens. Thomas Ruoss, Dr. des., studierte allgemeine Geschichte und Pädagogik in Zürich, Fribourg und Berlin. Er promovierte 2016 mit einer Arbeit zum Aufstieg der lokalen Statistik als politische Praxis in der Bildungspolitik. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Er arbeitet zur Schulsystementwicklung in der Schweiz auf der Grundlage statistischer Langzeitreihen, zur Geschichte der Bildungsverwaltung sowie zu einer Bankengeschichte als Bildungsgeschichte. Michael C. Schneider, Dr. phil, Professor auf Zeit für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (2013–2018). Er hat nach dem Studium der Geschichte und der Wirtschaftsgeschichte seine Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin über Unternehmen in der NS-Zeit verfasst (2002). In seiner Habilitation (2011, Goethe-Universität Frankfurt am Main) befasste er sich mit der Geschichte des preußischen statistischen Bureaus zwischen 1860 und 1914. Weitere Publikationen behandeln in diesem Zusammenhang die Geschichte der Medizinalstatistik und der Konfessionsstatistik. Weitere Forschungen behandeln die Rolle der Naturwissenschaften im unternehmenshistorischen Kontext, dazu zuletzt: Das wissenschaftliche Unternehmen. Zur chemisch-pharmazeutischen Forschung bei E. Merck, Darmstadt, ca. 1900–1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 62 (2017), S. 163–203. Theresa Wobbe, Prof. Dr. phil., Historikerin und Soziologien, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam forscht zur historischen Soziologie der Globalisierung, zum institutionellen Wandel des Geschlechts in der Weltgesellschaft, Soziologie der Klassifikation und des Vergleichs, in den letzten Jahren anhand von Kategorien der (Arbeits-)Welt und statistischer Beobachtungsinstrumente: Making up People: Berufsstatistische Klassifikation, geschlechtliche
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Kategorisierung und wirtschaftliche Inklusion um 1900 in Deutschland, Zeitschrift für Soziologie 41 (2012), S. 41-57; Kategorien des Geschlechts in der Arbeitswelt/ Catégories de genre et mondes du travail. Themenheft 19 Trivium 2015 (Hg. mit M. Lallement/ I. Berrebi-Hoffmann/ O. Giraud); Das Globalwerden der Menschenrechte in der ILO. Die Umdeutung von Arbeitsrechten im Kontext weltgesellschaftlicher Strukturprobleme von den 1930er bis 1950er Jahren, in: Bettina Heintz/Britta Leisering (Hg.): Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Deutungswandel und Wirkungsweise eines globalen Leitwertes, Frankfurt a.M./New York 2015, S. 283-316; The category of ‘family workers’ in International Labour Organizations statistics (1930s-1980s): A contribution to the study of globalized gendered boundaries between household and market, in: Journal of Global History 12 (2017), S. 340-360 (mit Léa Renard); Nationale und globale Deutungsmodelle des Geschlechts im arbeitsstatistischen sowie arbeitsrechtlichen Klassifikationssystem: Ein vergleichstheoretischer Beitrag (1882-1992), in: Soziale Welt 68 (2017), S. 6385 (mit Léa Renard u. Katja Müller).
s t u d i e n z u r a l ltag s - u n d k u lt u rg e s c h i c h t e bis Band 31: Studien zur Geschichte des Alltags
Herausgegeben von Stefan Haas (Federführung), Antje Flüchter, Armin Owzar, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 2625-4514
Clemens Wischermann Wohnen in Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg 1983. 503 S. mit 31 Tab., 54 Abb., 57 Ktn. und 56 Fot., geb. ISBN 978-3-515-05780-6 Hans Jürgen Teuteberg / Clemens Wischermann (Hg.) Wohnalltag in Deutschland 1850–1914 Bilder – Daten – Dokumente 1985. 498 S. mit 70 Tab. und Abb. sowie 300 Fot., geb. ISBN 978-3-515-05781-3 Hans Jürgen Teuteberg (Hg.) Homo habitans Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit 1985. 491 S. mit 98 Tab., 71 Abb. und 13 Fot., geb. ISBN 978-3-515-05783-7 Karl Wegert Popular Culture, Crime and Social Control in 18th-Century Württemberg 1994. 240 S., geb. ISBN 978-3-515-06466-8 Hans Jürgen Teuteberg / Günter Wiegelmann Unsere tägliche Kost Geschichte und regionale Prägung 2. Aufl. 1986. 479 S. mit 72 Tab. und Abb., geb. ISBN 978-3-515-05784-4 Peter Borscheid Geschichte des Alters 16.–18. Jahrhundert 2. Aufl. 1987. 310 S. mit 1 Tab., 29 Abb., 50 z. T. farb. Fot., geb. ISBN 978-3-515-05785-1 Hans J. Teuteberg (Hg.) Durchbruch zum modernen Massenkonsum Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters 1987. 409 S. mit 80 Tab. und Abb., geb. ISBN 978-3-515-05786-8
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Annette Drees Die Ärzte auf dem Weg zu Prestige und Wohlstand Sozialgeschichte der württembergischen Ärzte im 19. Jahrhundert 1988. 360 S. mit 33 Tab. und 26 Abb., geb. ISBN 978-3-515-05787-5 10. Anne Roerkohl Hungerblockade und Heimatfront Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des Ersten Weltkriegs 1991. 378 S. mit 35 Tab., 27 kartograf. Schaubildn. und 42 Abb., kt. ISBN 978-3-515-05661-8 11. Barbara Krug-Richter Zwischen Fasten und Festmahl Hospitalverpflegung in Münster 1540 bis 1650 1993. 367 S., kt. ISBN 978-3-515-06355-5 12. Heinrich Tappe Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1994. 401 S., geb. ISBN 978-3-515-06142-1 13. Peter Borscheid / Clemens Wischermann (Hg.) Bilderwelt des Alltags Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg 1995. 417 S. mit 343 Abb., geb. ISBN 978-3-515-06653-2 14. Kirsten Schlegel-Matthies „Im Haus und am Herd“ Der Wandel des Hausfrauenbildes und der Hausarbeit 1880–1930 1995. 292 S. mit 58 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06459-0 15. Clemens Wischermann (Hg.) Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft 1996. 221 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06984-7
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Miriam Gebhardt Das Familiengedächtnis Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932 1999. 229 S., geb. ISBN 978-3-515-07560-2 Clemens Wischermann / Stefan Haas (Hg.) Körper mit Geschichte Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung 2000. 345 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07797-2 Clemens Wischermann (Hg.) Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualität der Erinnerung 2002. 203 S., kt. ISBN 978-3-515-08065-1 Katja Patzel-Mattern Geschichte im Zeichen der Erinnerung Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung 2002. 339 S., geb. ISBN 978-3-515-08082-8 Sandra Markus Bilanzieren und Sinn stiften Erinnerungen von Unternehmern im 20. Jahrhundert 2002. 385 S., geb. ISBN 978-3-515-08055-2 Peter Lesniczak Alte Landschaftsküchen im Sog der Modernisierung Studien zu einer Ernährungsgeographie Deutschlands zwischen 1860 und 1930 2003. 411 S. mit 19 Abb. und 19 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08099-6 Sabine Merta Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930 2003. 587 S. mit 123 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08109-7 Hans Jürgen Teuteberg (Hg.) Die Revolution am Esstisch Neue Studien zur Nahrungskultur im 19. / 20. Jahrhundert 2004. 325 S. mit 39 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08447-5 Elisabeth Hackspiel-Mikosch / Stefan Haas (Hg.) Die zivile Uniform als symbolische Kommunikation / Civilian Uniforms as Symbolic Communication
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Statistik ist heute aus der journalistischen Berichterstattung, der Politik und den Wissenschaften kaum mehr wegzudenken. Sie dient der Erhebung und Strukturierung von Informationen und zur Absicherung von Wissen. Allerdings ist die Statistik kein neutrales Werkzeug, sondern eines, das selbst Wirklichkeit ordnet und organisiert. Der Umgang mit Statistik unterliegt dabei einem historischen Wandel: Die Untersuchung der Entstehung und des Einsatzes von Statistiken gibt daher Aufschluss über strukturelle Bedingungen von Wissensorganisation und damit verbunden über die politische Entscheidungsfindung bei der Gestaltung sozialer Wirklichkeit. Die Autorinnen und Autoren untersuchen die Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge statistischen Wissens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert in kulturwissenschaftlicher Perspektive – in so unterschiedlichen Kontexten wie Klima, Schule oder Arbeitsmarkt, wobei neben Deutschland und der Schweiz auch China in den Blick genommen wird. Sichtbar wird dabei, wie statistisches Wissen eingesetzt wird, um soziale Tatbestände zu strukturieren, und wie Statistiken zu einer Deutungsmatrix und einem kommunikativen Code zur Aushandlung sozialer Probleme werden.
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ISBN 978-3-515-12117-0
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7835 1 5 1 2 1 1 70