Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR: Feindbild und Verfolgungspraxis 9783666369179, 9783525369173, 9783647369174


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Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR: Feindbild und Verfolgungspraxis
 9783666369179, 9783525369173, 9783647369174

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 41

Vandenhoeck & Ruprecht

Gerald Hacke

Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR Feindbild und Verfolgungspraxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36917-3 ISBN 978-3-647-36917-4 (E-Book) Umschlagabbildung: Untersuchungshaftanstalt I, Dresden, George-Bähr-Straße 5, 1945 Quelle: AGMPD

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt I.

Einleitung

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Untersuchungsgegenstand Fragestellung Aufbau der Untersuchung Forschungsstand Quellenlage Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas hinsichtlich Staat und Politik Danksagung

21 24

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im nationalsozialistischen Deutschland

25

1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Phase der Herrschaftsübernahme (1933/34) Auseinandersetzungen mit Bibelforschern vor 1933 Auf dem Weg zum Verbot Verbotsdurchsetzung mit Schwierigkeiten Verhandlungen über eine Verbotsaufhebung Die strafrechtliche Praxis bis 1934 Die Verweigerung staatsloyaler Gesten Anfänge des geheimpolizeilichen Apparates

25 25 40 50 54 61 68 78

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Phase der Herrschaftssicherung (1935–1938/39) Durchsetzung des Verbotes Die juristische Klärung des Verbotes Maßnahme - und Normenstaat Die erste Zerschlagung der konspirativen Organisation 1936 Eine propagandistische Offensive Die strafrechtliche Praxis nach 1935 Die Ausweitung des Maßnahmestaates Der geheimpolizeiliche Apparat in der Vorkriegszeit

7.

II.

9 9 10 11 14 19

84 84 89 94 98 103 112 117 133

6

Inhalt

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Phase der voll funktionierenden Herrschaft (1939–1942) Kriegsdienstverweigerungen durch Zeugen Jehovas Die zivile Justiz im Kriege Der Einsatz von V - Leuten Die Zusammenfassung des Repressionsapparates Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern

149 150 157 161 174 176

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Auflösung (1943–1945) Der Wandel in den Konzentrationslagern Fantasien und Hintergründe „Rassisierung“ der Bibelforscherfrage ? Justiz und Gestapo in der letzten Kriegsphase Der Zusammenbruch

186 186 193 199 202 209

III. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

213

1. 1.1 1.2 1.3 1.4

Phase der Herrschaftsübernahme (1945–1956) Wachstum als Gefahr Eskalation im Zeichen des Kalten Krieges Die Entwicklung zum Verbot Die Verbotsdurchsetzung

213 213 230 243 255

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Phase der Herrschaftssicherung (1957–1970) Ein neues Konzept zur Bekämpfung des Gegners Die praktische Umsetzung des Konzeptes bis 1961 Differenzierungsstrategien Die versuchte „Enthauptung“ des konspirativen Apparates

275 275 280 296 302

3. 3.1 3.2 3.3

Phase der voll funktionierenden Herrschaft (1971–1985) Utopieverlust Formen der „stillen“ Repression Forderungen nach härterem Vorgehen

315 315 319 332

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Auflösung (1985–1989) Wehrdienstverweigerung durch die Zeugen Jehovas Alternativstrategien in Polen Verhinderung von „Öffentlichwirksamkeit“ Westlicher Druck Starres Festhalten am Verbot Die Implosion

347 349 356 360 362 365 372

Inhalt

7

IV. Schlussbetrachtungen

375

1. 2. 3.

Resümee Zwei Diktaturen im Vergleich Zersetzung und Zersetzen

375 386 399

V.

Anhang

411

1. 2. 3.

Unveröffentlichte Quellen Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

411 418 454

Ringsum Feinde und im Innern Landesverräter !1

I.

Einleitung

1.

Untersuchungsgegenstand

Weil diese Menschen sich nicht den Gesetzen der Gesellschaft unterordnen wollen, müssen sie solange aus der Gesellschaft entfernt werden, bis sie keine Gefahr mehr für die Gesellschaft bilden.2

In den fünfzig Jahren, in denen in Deutschland Verfechter zweier ideologischer Heilsbotschaften herrschten, die sich als Vollstrecker eherner Naturgesetze bzw. des gesetzmäßigen gesellschaftlichen Fortschritts wähnten, war die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas3 verboten. Das Ziel des nationalsozialistischen und des kommunistischen Regimes war deren Vernichtung als Organisation. Zu diesem Zweck wurden materielle und geistige Ressourcen aktiviert. Viele der Gläubigen ließen ihr Leben, Tausende wurden eingekerkert, verloren ihre beruf liche Existenz oder wurden anderweitig drangsaliert. Zunächst fällt die Tatsache ins Auge, dass die Zeugen Jehovas eine der wenigen Gruppen sind, die in beiden Diktaturen in toto verfolgt wurden. Beide Regime glaubten in der Übertretung der Verbotsverfügung, in der Verweigerung von eingeforderten Loyalitätsriten sowie in der Verneinung jeglicher Wehr - und Kriegsdienste eine unmittelbare Bedrohung für ihre Herrschaft zu sehen. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas umfasst nahezu alle aktuell angewandten Formen staatlicher Repression. Das betraf Eingriffe in das Glaubens - und Berufsleben, in den Bildungsweg, ging mit Psychiatrisierung und Kindesentzug auch in den privatesten Bereich hinein und setzte sich fort über die justizielle Repression bis hin zum außernormativen physischen Terror. Auch die Opferzahlen sind in Anbetracht ihrer geringen Mitgliederzahl überproportional hoch, auf bestimmten Gebieten der politisch motivierten Unterdrückung, z. B. der Wehrdienstverweigerung, spielen sie sogar eine exponierte Rolle. Lange Jahre von der Öffentlichkeit und der Geschichtsforschung vernachlässigt,4 sind die Zeugen Jehovas heute keine „vergessenen Opfer“ mehr. Die fulminante Studie von Detlef Garbe „Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich“5 aus dem Jahr 1993 hat sowohl unter Histo1 2 3 4 5

Lienhardt, Ein Riesenverbrechen am deutschen Volke, S. 28. Urteil des Landgerichts Potsdam gegen Schulze und vier andere (7 St Ks. 18/51) vom 15. 3. 1951 ( BArch, DP 1/ SE /1046/2, unpaginiert ). Da sich in der Umgangssprache die alte Bezeichnung Bibelforscher noch lange nach ihrer Umbenennung in Zeugen Jehovas (1931) hielt, fand für die Zeit des Nationalsozialismus auch der frühere Name noch Verwendung. Vgl. Garbe, Gesellschaftliches Desinteresse. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium.

10

Einleitung

rikern als auch innerhalb der Glaubensgemeinschaft weitere Aktivitäten zur Erforschung und Schilderung der Leiden unter der nationalsozialistischen Diktatur und unter dem SED - Regime ausgelöst. Es bedarf keiner neuen Studie, vielmehr soll der Blick von der verfolgten Religionsgemeinschaft auf die Umstände und die Instanzen der Verfolgung gelenkt werden. Eine einseitige Konzentration auf eine randständige Gruppe wie die Zeugen Jehovas birgt die Gefahr, sowohl den Exklusivitätsanspruch der Glaubensgemeinschaft als auch den Sonderstatus, den ihnen beide Regime zuordneten (z. B. eigene Häftlingskategorie ), zu kolportieren. Zudem wird bei Vernachlässigung aller „Seitenblicke“ auf andere verfolgte Gruppen oder die umgebende Gesellschaft ein Bild gezeichnet, dass die Realität in beiden totalitären Diktaturen nicht korrekt wiedergibt.6 Es kann jedoch in verschiedener Hinsicht aufschlussreich sein, die Verfolgung der Glaubensgemeinschaft zum Mittelpunkt der Betrachtung zu machen, wenn ihr Fall paradigmatisch für die Rolle gesehen wird, wie abweichendes Verhalten politisiert und kriminalisiert, wie Feindbilder konstruiert und verbreitet wurden und wie diese sowohl das Repressionskonzept als auch das angewandte Methodenrepertoire beeinflussten.

2.

Fragestellung

Totalitäre Diktaturen zielen auf eine unbeschränkte und nicht mehr kontrollierbare Verfügung über die Machtmittel und streben zudem auch die totale Verfügung über die Individuen an. In beiden aufeinanderfolgenden deutschen Diktaturen stießen die jeweiligen Machthaber dabei an Grenzen. Die Diskrepanz von totalitärer Herrschaftsabsicht und Herrschaftswirklichkeit schlug sich in der Wahrnehmung abweichenden Verhaltens und dessen praktischer Bekämpfung nieder. Wie fand diese Wahrnehmung Eingang in die politischen Entscheidungsprozesse und welche Konsequenzen wurden daraus gezogen ? In welchem Zusammenhang stehen dabei die zur Legitimierung des Vorgehens verbreiteten Feindbilder mit aktuellen außen - oder innenpolitischen Auseinandersetzungen? Wie schlägt sich die Propaganda auf die Repressionspraxis nieder ? Angehörige der Zeugen Jehovas verweigerten sich sowohl dem nationalsozialistischen als auch dem kommunistischen Zugriff. Wie reagierten zwei radikal antiliberale, jedoch diametralen Wurzeln entstammende Diktaturen7 angesichts einer ähnlichen Herausforderung ? Trotz der in beiden Diktaturen gleichermaßen marginalisierten Stellung der Zeugen Jehovas und der sich daraus naturgemäß begrenzten Übertragung der Ergebnisse der Studie auf andere gesellschaft6

7

Vgl. Silomon : Rezension zu Dirksen, Hans - Hermann : „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR 1945–1990, Berlin 2001. In : H - Soz - u - Kult vom 26. 3. 2002, URL : http ://hsozkult.geschichte. hu - berlin. de / rezensionen / ZG - 2002–048 (14. 7. 2008). Vgl. Fritze, Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung, S. 145 f.

Aufbau der Untersuchung

11

liche Gruppen kann eine vergleichende Betrachtung des Umgangs mit ihnen durchaus zur Erweiterung und Vertiefung des Wissens um die vielen Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten beider totalitärer Diktaturen auf deutschem Boden beitragen. Anhand der Verfolgung der Glaubensgemeinschaft lässt sich fast das gesamte Spektrum an repressiven Fähigkeiten in ihrer zeitlichen Entwicklung beleuchten. Aber auch Grenzen der Herrschaftsausübung, sei es aus strukturellen Gründen oder außenpolitischen Rücksichtnahmen, können verdeutlicht werden. Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bildet im Hinblick auf ihre übersichtliche Mitgliederzahl und ihr stabiles Profil ein geeignetes Untersuchungsfeld. In beiden Regimen dienten die Gläubigen als Projektionsfläche für ein imaginäres Feindbild, das sich bei allen durchaus vorhandenen Unterschieden auch aus einer ideologisch geprägten Wahrnehmung herleitete. Diese ist deshalb aussagekräftiger über die ideologische Fixierung und die Verschwörungsängste der Verfolger als über konkrete Handlungen und Motive der Opfer. Das Beispiel der Verfolgung der Zeugen Jehovas bietet also eine einzigartige Chance, in einem historischen Kontext zwei fast unmittelbar aufeinander folgende, aber unterschiedlich ausgerichtete Diktaturen zu untersuchen. Dabei soll der Blick ganz bewusst nicht empathisch auf die Leiden der Opfer, sondern vielmehr auf die Institutionen der Repression und ihre Methoden gerichtet sein. Prozesse innerhalb der Glaubensgemeinschaft sollen nur behandelt werden, wenn sie in Wechselwirkung mit Gegnervorstellungen und Handlungskonzeptionen der jeweiligen Repressionsinstanzen standen. An einem exemplarischen Beispiel können Entwicklungslinien der Herrschaftsausübung in ihrer Dynamik wie auch in ihrer Begrenztheit nachgezeichnet werden. Es können Träger der Verfolgung benannt und in ihrem kooperativen oder konkurrierenden Verhältnis dargestellt werden. Zudem wird eine Fülle von Politikfeldern gestreift und das Verhältnis von Wahrnehmung und Praxis untersucht. Auch die Einbeziehung der Bereiche der Herrschaftsausübung, die der physischen Vernichtung des Gegners gedient haben, erweist sich nicht als Hindernis für eine vergleichende Betrachtung, verdeutlicht sie doch trotz ähnlich funktionierender Unterdrückungsapparate die nicht zu verkennenden Unterschiede beider Regime.

3.

Aufbau der Untersuchung

Die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes erlaubt nicht immer die chronologische Schilderung der Ereignisse. Zwar wurde dies angestrebt, doch lassen sich thematische Längsschnitte nicht vermeiden. In ihrer Struktur lehnt sich die Studie einem Vier - Phasen - Modell an, das Klaus - Dieter Müller entworfen hat, um so den statischen Charakter von Diktaturvergleichen zu überwinden. Dadurch ist es möglich, Entstehungs - und Wachstumsbedingungen sowie die Verlaufsformen beider deutschen Diktaturen zu

12

Einleitung

erfassen. Entsprechend dem Vorschlag von Müller wird die jeweilige Herrschaftszeit in vier unterschiedlich lange Phasen unterteilt, die 1) Herrschaftsübernahme, 2) Herrschaftssicherung, 3) voll funktionierende Herrschaft und 4) Auf lösung darstellen.8 Für diese Phasen werden folgende Zäsuren angesetzt: 1. Phase der nationalsozialistischen Herrschaftsübernahme : 1933/34. Dieses Kapitel beschreibt einerseits den Prozess zum Verbot der Glaubensgemeinschaft, als auch dessen langsame, noch durch „Grenzen der Diktatur“ gebremste Durchsetzung. Die Zusammenlegung des Amtes des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers im August 1934 wird gemeinhin als Endpunkt der „Machtergreifung“ angesehen. Diese Vorstellung korrespondiert auch im speziellen Fall der Zeugen Jehovas, eskalierte doch die Auseinandersetzung mit der verbotenen Glaubensgemeinschaft nach der Wiederaufnahme der Verkündigung im Oktober 1934 und dem Abbruch der Verhandlungen zwischen Wachtturm - Gesellschaft und deutschen Behörden über eine Verbotsaufhebung im Januar 1935. Zum besseren Verständnis wird diesem Kapitel die ( geistige ) Auseinandersetzung mit den Bibelforschern in der Weimarer Republik vorangestellt. 2. Phase der nationalsozialistischen Machtsicherung : 1935–1939. Nach der Stabilisierung des Regimes stand die Frage, ob zu einer autoritären Ordnung zurückgekehrt oder vielmehr die Dynamik eines weltanschaulich fundierten Ausnahmezustandes perpetuiert würde. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges setzt den Schlusspunkt dieses Zeitabschnittes. Er markiert sowohl für die allgemeine Repressionspolitik als auch für die Behandlung der Zeugen Jehovas im NS - Staat eine Zäsur. 3. Phase der voll funktionierenden Herrschaft : 1939–1942. Mit Kriegsbeginn gerieten die Zeugen Jehovas wegen ihrer Wehr - und Kriegsdienstverweigerung verstärkt in den Blickwinkel der Machthaber. Die spezifische Wertung dieser Verweigerungshaltung schlug sich auf den Umgang mit den Gläubigen nieder. Hier setzten zwei, indirekt zusammenhängende Faktoren den Rahmen : die Niederlage bei Stalingrad, die zur Verkündung des „totalen“ Kriegseinsatzes führte und die Verbesserung der Lebensbedingungen für deutsche KZ - Häftlinge, die aus dem nun notwendigen verstärkten Häftlingseinsatz erwuchsen. 4. Phase der Auf lösung : 1943–1945. Ab 1943 gewannen bestimmte ( zumeist deutsche ) Häftlingsgruppen für die SS an Wert, dazu gehörten auch die Zeugen Jehovas. Welche Auswirkungen diese neue Sichtweise auf den zunehmend fragmentierten Repressionsapparat hat, soll in diesem Kapitel behandelt werden. In dieser Phase bildeten die Todesmärsche und die Kapitulation des Deutschen Reiches den Endpunkt. 5. Phase der kommunistischen Herrschaftsübernahme : 1945–1956. Abweichend von den Vorschlägen Müllers, so die These, bildet die Zeit von 1945 bis 1947 in dieser Darstellung eine Art Äquivalent zu der Zeit vor 1933. Noch 8

Vgl. Müller, Handlungsbedingungen von Systemgegnern.

Aufbau der Untersuchung

13

sind die ostdeutschen Kommunisten nicht endgültig an der Macht, in diesen Jahren entwickelt sich zudem ( entsprechend den Jahren der Weimarer Republik ) die Konfrontation zwischen SED und Zeugen Jehovas. In diese Phase fallen harte Verfolgungen durch den SED - Staat. Als Schlusspunkt dieser Phase wird das Jahr 1956 angesetzt. Die Krise, die auf die Enthüllungen der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU und die Aufstände in Polen und Ungarn folgte, hatte nicht nur strukturelle und personelle Konsequenzen in SED und MfS zur Folge. Auch das angewandte Repressionsinstrumentarium änderte sich in diesem Zeitraum entscheidend. 6. Phase der kommunistischen Herrschaftssicherung : 1957–1971. Für gewöhnlich wird die Absperrung der Grenzanlagen im August 1961 als Beginn dieser Phase genannt, so auch bei Müller. Dieses Ereignis bildete wegen seiner stabilisierenden Wirkung die notwendige Bedingung für das modifizierte Repressionskonzept. Formuliert und eingeschränkt praktiziert wurde dieses aber schon seit 1957. Da in dieser Studie das Augenmerk auch auf die der Repression zugrunde liegenden weltanschaulichen Versatzstücke gelegt werden soll, erschien diese „Vorverlegung“ angemessen. Strafpolitisch markiert das Jahr mit der Einführung des Strafrechtsergänzungsgesetzes ( StEG ) die erste Umsetzung eines differenzierten Bildes vom „Feind“. Den Endpunkt dieser Phase setzt der Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker, der auch einen Wechsel in der Legitimationssuche der SED - Führung bedeutete. 7. Phase der voll funktionierenden Herrschaft : 1971–1985. Der Versuch über eine extensive Sozialpolitik das Legitimationsdefizit zu beheben, war in den 1980er Jahren an den Kosten gescheitert. Der unhaltbare Spagat zwischen der Erhaltung des politischen Status quo und der Unfähigkeit, dafür auch Machtmittel einzusetzen, manifestierte sich besonders seit dem Beginn der Reformen in der Sowjetunion unter Gorbatschow. 8. Phase der Auf lösung : 1985–1989/90. Seit 1985 sah sich die SED auf Grund des Ansehensverlustes im Westen nicht mehr in der Lage, die wachsende Zahl an Wehrdienstverweigerern abzustrafen. Damit entfiel die letzte strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit gegenüber den Zeugen Jehovas. Eine der letzten Amtshandlungen der Modrow - Regierung war die Wiederzulassung der Religionsgemeinschaft im März 1990. In der Schlussbetrachtung werden die jeweilig korrespondierenden Phasen gegenüber gestellt, um so einerseits die zeitliche Dynamik darzustellen, andererseits um eine zeitliche Vergleichsebene zu schaffen. Beide Regime haben bei der Wahrnehmung bzw. Bekämpfung von wirklichen oder imaginierten Gegnern den Begriff der „Zersetzung“ verwendet. Anhand des Wandels der semantischen Bedeutung dieses Wortes im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR soll zuletzt die Frage nach der Bedeutung eines Feindbildes als handlungsleitendes Motiv innerhalb des jeweils praktizierten Repressionskonzeptes beantwortet werden.

14

4.

Einleitung

Forschungsstand

Lange Jahre beschäftige sich die historische Forschung zum Nationalsozialismus vor allem mit der Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und mit dem Widerstand politisch einflussreicher Gruppen. Erst mit dem Beginn einer Widerstandsforschung „von unten“ geriet auch das widerständige Verhalten kleinerer Gruppen und Einzelpersonen ins Blickfeld. Mit der Verfolgung der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas beschäftigten sich bis zum Ende der 1980er Jahre nur drei Autoren ausgiebiger.9 Das Ziel, diese „vergessene“ Opfergruppe der Vergessenheit zu entreißen, gelang Detlef Garbe mit seiner 1993 erstmals veröffentlichten Studie „Zwischen Widerstand und Martyrium“.10 Obwohl Garbes Hauptaugenmerk auf den Leiden der Anhänger der Gemeinschaft liegt, stellt er auf einer breiten Quellenbasis auch Entwicklungslinien der Verfolgungsapparate vor. Diese Studie markierte einen Wendepunkt in der Forschung zu den Zeugen Jehovas. Angesichts der seitdem erschienenen Fülle von Veröffentlichungen zur Verfolgung der Zeugen Jehovas in der Zeit des Nationalsozialismus,11 kann man mit Fug und Recht von einer Initialzündung sprechen. Dadurch konnte das Wissen um das Verhalten der Zeugen Jehovas und deren Verfolgung durch die Nationalsozialisten sowohl regional als auch thematisch erweitert werden. Inzwischen liegen Sammelbände und Einzelbeiträge zur Verfolgung in Baden Württemberg, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Schleswig - Holstein vor.12 Auch thematisch konnte die Forschung vertieft werden : zur besonderen Rolle von Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern13 sowie bei der Wehrdienstverweigerung14 liegt unterdessen eine Reihe von Veröffentlichungen vor. Vom

9

Hellmund, Geschichte der Zeugen Jehovas; Kater, Die Ernsten Bibelforscher; Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland. 10 Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium. 11 Vgl. Johannes Wrobel, 18. 12. 2003, Antwort auf eine Sammelrezension von Anke Silomon in H - Soz - u - Kult vom 25. 11. 2003, URL : http ://hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / rezensionen / type=rezbuecher&count=25&recno=11&sort =datum&order=down& id=3285&search=Garbe&segment_ignore=192&re=396 (14. 7. 2008). 12 Imberger, Widerstand „von unten“; Moß / Kawell (Bearb.), Verfolgung und Widerstand; Roser (Hg.), Widerstand als Bekenntnis; Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas. 13 Garbe, Der lila Winkel; Harder / Hesse, Zeuginnen Jehovas aus Baden; Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“; John, „Mein Vater wird gesucht“; dies., Zeugen Jehovas im Konzentrationslager in Wewelsburg; Rahe, Die Bedeutung von Religion und Religiosität; ders., Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Bergen - Belsen; Zeiger, Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Sachsenhausen. 14 Herrberger, Denn es steht geschrieben; Raumer, Zeugen Jehovas als Kriegsdienstverweigerer; Schmidt, Der Tod kam immer montags; Herrberger, Denn es steht geschrieben.

Forschungsstand

15

Interesse der Öffentlichkeit ermutigt, haben seither auch Zeitzeugen aus den Reihen der Glaubensgemeinschaft ihre Erinnerungen zu Papier gebracht.15 Eine ähnliche Situation ist inzwischen auch für die Zeit zwischen 1945 und 1989 zu konstatieren. Bis 2000 waren weder ihre Verfolgung noch ihr eigenes Verhalten Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Betrachtung;16 lediglich zwei Aufsätze beschäftigten sich mit diesem Thema.17 Seit der 2001 veröffentlichten justizgeschichtlichen Dissertation von Hans - Hermann Dirksen18 erschien eine große Zahl von Veröffentlichungen zu dieser Verfolgungsperiode.19 Dirksen verfasste seine Studie auf einer sehr breiten Quellenbasis. Er wertete nicht nur zahlreiche Bestände aus dem Bundesarchiv, mehreren Landesarchiven und aus der schriftlichen Hinterlassenschaft des DDR - Ministeriums für Staatssicherheit aus, sondern konnte auch über 250 Strafurteile und Zeitzeugenerinnerungen einarbeiten. Dirksen konzentrierte sich dabei aber zumeist auf die Verfolgung der Zeugen Jehovas ohne Seitenblick auf Entwicklungen in der DDR, innerhalb von Staatspartei und Ministerium für Staatssicherheit ( MfS) oder etwa in anderen verfolgten Gruppen. Auf die Zersetzungsarbeit des MfS fokussieren sich die Veröffentlichungen von Waldemar Hirch. In einer Monografie und mehreren Aufsätzen stellt er diese seit Ende der 1950er Jahre angewandte „stille“ Repressionsform vor.20 Der Zersetzungsstrategie widmete sich auch eine Publikation von André Gursky.21 Abseits der eigentlichen Repression durch MfS und Justiz bewegen sich die alltagsgeschichtlich angelegten Aufsätze von Annegret Dirksen zu Kindern von Zeugen Jehovas in der DDR.22 Regionalgeschichtliche Forschungen wurden bislang nur zu Leipzig und zur Region Zittau / Oberlausitz sowie zu Weimar veröffentlicht.23

15 Arnold-Liebster, Allein vor den Wölfen; Hollweg, Es ist unmöglich; Jobst, Anton Uran; Kusserow, Der lila Winkel; Liebster, Hoffnungsstrahl im Feuersturm; Rammerstorfer, Nein statt Ja und Amen; Schmidt, Die gerettete Freude; Tetzner, Frierende; Varga, Gerhard Steinacher. 16 Hacke, Zeugen Jehovas in der DDR, S. 7. 17 Fincke, Zwischen Widerstand; Pietsch, Verbotene Missionare. 18 Dirksen, Keine Gnade. 19 Vgl. Johannes Wrobel, 18. 12. 2003, Antwort auf eine Sammelrezension von Anke Silomon in H - Soz - u - Kult vom 25. 11. 2003, URL : http ://hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / rezensionen / type=rezbuecher&count=25&recno=11&sort =datum&order=down& id=3285&search=Garbe&segment_ignore=192&re=396 (14. 7. 2008). 20 Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas; ders., Ehemalige Zeugen Jehovas; ders., Erarbeitung einer „Dokumentation“; ders., Instrumentalisierung der Kirchen; ders., Operativer Vorgang „Winter“; ders., Wissenschaftliche Darstellung der Zersetzung; ders., Zusammenarbeit. 21 Gursky, Zwischen Aufklärung und Zersetzung. 22 Dirksen / Dirksen, Kinder der Zeugen Jehovas; Dirksen / Wrobel, „Im Weigerungsfall“. 23 Schmidt, Religiöse Selbstbehauptung; Westphal, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas.

16

Einleitung

Sowohl für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur24 als auch für die des SED - Regimes25 liegen inzwischen Quelleneditionen vor, die die Verfolgung der Zeugen Jehovas, die Entwicklung der Repressionsapparate und deren Perzeption widerständigen Verhaltens widerspiegeln. Die beiden, von Gerhard Paul und Michael Mallmann herausgegebenen Sammelbände zur Geheimen Staatspolizei ( Gestapo ) konfrontierten die Fachöffentlichkeit mit dem Bild einer personell eher schwach besetzten, oftmals „reaktiven“ Behörde, deren „Erfolg“ von der Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung und der Kooperation anderer staatlicher Behörden abhängig war.26 Traditionell organisations - und institutionengeschichtlich sind die Studien von Martin Faatz zur politischen Polizei in Bayern und von Friedrich Wilhelm zur Geschichte der Polizei in der NS - Diktatur angelegt.27 Einen innovativen, weil biografischen, Zugang zur institutionellen und weltanschaulichen Entwicklung der nationalsozialistischen Geheimpolizei wählte Ulrich Herbert mit seiner Studie zu Werner Best, dem stellvertretenden Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes ( Gestapa ), der neben Reinhard Heydrich maßgeblich an der Formulierung des maßnahmestaatlichen Anspruches der Gestapo beteiligt war.28 Im Gegensatz zur Gestapo rückte der „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ ( SD ) erst spät ins Blickfeld der Forschung. Nach den Publikationen von Shlomo Aronson und George C. Browder zur Anfangsgeschichte des SD29 vergingen mehr als 20 Jahre, ehe der Nachrichtendienst der NSDAP wieder Thema von historischen Forschungen wurde. Michael Wildt beschäftigte sich generationengeschichtlich mit der Führungsebene des Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA ). Lutz Hachmeister stellte den Lebensweg des Leiters der Zentralabteilung II /1 im SD („Weltanschauliche Gegner“), Alfred Six, vor, während sich Wolfgang Dierker speziell mit der kirchenpolitischen Abteilung im SD auseinandersetzte.30 24 Boberach ( Bearb.), Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk; Boberach ( Hg.), Meldungen aus dem Reich 1938–45; Diamant, Gestapo Chemnitz; ders., Gestapo Frankfurt am Main; ders., Gestapochef Thümmler; Klein ( Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Hessen - Nassau; Mlynek ( Bearb.), Gestapo Hannover meldet; Schadt (Bearb.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden; Steinwascher (Bearb.), Gestapo Osnabrück meldet. Auch die 1938 in Zürich erschienene Publikation Kreuzzug gegen das Christentum. Moderne Christenverfolgung : Eine Dokumentensammlung von Franz Zürcher stellt, obwohl sie im Auftrag der Wachtturm - Gesellschaft herausgegeben wurde, eine wichtige ( zeitgenössische ) Quellenpublikation dar. 25 Besier / Wolf, Pfarrer, Christen und Katholiken; Hartweg ( Hg.), SED und Kirche; Katalog des Unrechts; Partei - Justiz; Unrecht als System. 26 Paul / Mallmann ( Hg.), Die Gestapo; dies. ( Hg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. 27 Faatz, Vom Staatsschutz zum Gestapo - Terror; Wilhelm, Die Polizei im NS - Staat. 28 Herbert, Best. 29 Aronson, Reinhard Heydrich; Browder, Die Anfänge des SD. 30 Dierker, Himmlers Glaubenskrieger; Hachmeister, Der Gegnerforscher; Wildt, Generation des Unbedingten. Die 2008 erschienene Studie von Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens lag bei Abschluss der Arbeit noch nicht vor, the-

Forschungsstand

17

Nach den frühen Studien von Rudolf Echterhölter, Werner Johe und Klaus J. Volkmann zur Entwicklung der Rechtsprechung im Dritten Reich31 ist die 1990 erschienene Untersuchung der Justiz unter ihrem Minister Franz Gürtner von Lothar Gruchmann noch immer notwendiges Rüstzeug für die Darstellung von Distanz, Angleichung und Unterwerfung der Judikative unter die Forderungen des Maßnahmestaates.32 In verschiedenen lokalen Studien ist seit den 1990er Jahren die Spruchpraxis einzelner Sondergerichte erforscht worden.33 Die verschiedenen Phasen des Systems der nationalsozialistischen Konzentrationslager, die Entwicklung der Häftlingsgesellschaft sowie die machtpolitische Ausnutzung und ökonomische Ausbeutung der Häftlinge durch die SS konnte durch die Studien von Klaus Drobisch und Günther Wieland, Johannes Tuchel, Wolfgang Sofsky und zuletzt durch Karin Orth und dem von Ulrich Herbert, Karin Orth und Christoph Dieckmann herausgegebenen Sammelband erhellt werden.34 Die Geschichte des MfS und ihre verschiedenen Facetten sind inzwischen in einer Vielzahl von Publikationen dargestellt worden. Dabei ragen die Arbeiten von Jens Gieseke, auch generationengeschichtlich angelegt, über die hauptamtlichen MfS - Mitarbeiter, von Silke Schumann über das Verhältnis von MfS und Staatspartei in den 1950er Jahren sowie der von Clemens Vollnhals herausgegebene Sammelband zur kirchenpolitischen Abteilung des MfS heraus.35 Die Frühgeschichte des MfS und seiner Vorläufer stellen Mike Schmeitzner und noch einmal Jens Gieseke vor.36 Ein spezielleres, für diese Arbeit aber wichtiges Thema behandelt Stephan Leenen in seiner Publikation über den M - Apparat der KPD in der Weimarer Republik.37 Die Instrumentalisierung des politischen Strafrechts in der DDR ist umfassend von Wolfgang Schuller dargestellt. Hermann Wentker führt anhand der Entwicklung der zentralen Justizbehörden in der SBZ und DDR die schrittweise Gleichschaltung der Justiz durch die SED vor. Ähnliches gelingt Petra Weber

31 32 33

34

35 36 37

menrelevante Quellen konnten aber auch Dank eines Hinweises von Carsten Schreiber einbezogen werden. Echterhölter, Das öffentliche Recht; Johe, Die gleichgeschaltete Justiz; Volkmann, Die Rechtsprechung. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich. Zur Vorgeschichte der Sondergerichte ( SG ) sowie der Tätigkeit einzelner SG vgl. Lahrtz, Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit in Sachsen; Mechler, Kriegsalltag an der Heimatfront; Oehler, Die Rechtsprechung des Sondergerichts Mannheim; Roeser, Das Sondergericht Essen; Schmidt, Beabsichtige ich; Weckbecker, Zwischen Freispruch und Todesstrafe; Zeidler, Sondergericht Freiberg. Drobisch / Wieland, System der Konzentrationslager; Herbert / Orth / Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager; Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager; Sofsky, Die Ordnung des Terrors; Tuchel, Konzentrationslager. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter; Schumann, Parteierziehung in der Geheimpolizei; Vollnhals ( Hg.), Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Gieseke, Von der Deutschen Verwaltung des Innern; Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates. Leenen, Proletarier im blauen Rock.

18

Einleitung

auf der Ebene des Landes Thüringen. Mit der Steuerung und Reglementierung des Rechts in der DDR setzt sich der von Hubert Rottleuthner herausgegebene Band auseinander. Die Rechtspolitik unter Walter Ulbricht und Erich Honecker stellen Falco Werkentin und Johannes Raschka vor.38 Die Rolle der Weltanschauung bei der Formulierung und Durchsetzung der Herrschaftsansprüche, ihre Instrumentalisierung und handlungsleitende Funktion soll in dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Nach der frühen Arbeit von Josef Ackermann zur Ideologie Heinrich Himmlers erschienen seit den 1990er Jahren einige Studien zur Funktion von Ideologie und verschwörungstheoretischen Komponenten im Nationalsozialismus.39 Die Bedeutung der Semantik bei den verschiedenen Feindbildzuschreibungen beschreiben Renate Schäfer, Alexander Bein und Cornelia Schmitz - Berning.40 Die Beziehung von Ideologie, Legitimation und Stabilität in der DDR analysiert Sigrid Meuschel.41 Die unheilvolle Verbindung von marxistisch - leninistischer Weltanschauung und nationalistisch bzw. antisemitisch gefärbten Verschwörungstheorien hat Thomas Haury dargestellt.42 Die für die repressive Arbeit des MfS konstitutiven Feindbilder stellen Bernward Baule, Siegfried Mampel und Christian Bergmann vor.43 Diktaturenübergreifende Darstellungen des Einflusses von Ideologie auf totalitäre Diktaturen haben Friedrich Pohlmann, Frank - Lothar Kroll und Uwe Backes erarbeitet.44 Der theoretischen Verankerung des Diktatur vergleichs hat sich Günther Heydemann angenommen. In verschiedenen Aufsätzen und Sammelbänden gab er nicht nur einzelnen Vergleichsstudien ein Forum, sondern erstellte einen umfassenden Kriterienkatalog, der es erlaubt, jenseits aller Gleichsetzungen und Relativierungen einen Vergleich zwischen weltanschaulich und strukturell verschiedenen Diktaturen wie der nationalsozialistischen und der kommunistischen Herrschaft zu formulieren.45

38 Raschka, Justizpolitik im SED-Staat; Rottleuthner (Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR; Schuller, Geschichte und Struktur; Weber, Justiz und Diktatur; Wentker, Justiz in der SBZ / DDR; Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. 39 Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe; Kroll, Utopie als Ideologie; Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“; Pfahl - Traughber, Freimaurer und Juden; Pohlmann, Ideologie und Terror. 40 Bein, „Der jüdische Parasit“; Schäfer, Zur Geschichte des Wortes „zersetzen“; SchmitzBerning, Vokabular des Nationalsozialismus. 41 Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. 42 Haury, Antisemitismus von links; ders., Von den „Finanzkapitalisten“. 43 Baule, Die politische Freund - Feind - Differenz; Bergmann, Zum Feindbild des Ministeriums für Staatssicherheit; Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit.. 44 Backes, Totalitäres Denken; Kroll, Endzeit, Apokalypse, Neuer Mensch; Pohlmann, Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus. 45 Heydemann / Beckmann, Zwei Diktaturen in Deutschland; Heydemann / Jesse, Diktaturvergleich als Herausforderung; Heydemann / Oberreuter, Diktaturen in Deutschland; Schmiechen - Ackermann, Diktaturen im Vergleich.

Quellenlage

5.

19

Quellenlage

Die Arbeit gründet sich neben der einschlägigen Forschungsliteratur auf die Überlieferungen der direkt und indirekt an der Verfolgung der Zeugen Jehovas beteiligten Institutionen. Bei den Recherchen konnte auf die Vorarbeiten von Garbe und Dirksen aufgebaut werden. Da sich die Bearbeitung der Religionsgemeinschaft ab 1935/36 zunehmend bei der Geheimen Staatspolizei ( Gestapo ) konzentrierte, bilden die Bestände des Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA ) im Bundesarchiv eine wichtige Grundlage der Untersuchung. Ähnliches gilt für die hinterlassenen Archivalien der zentralen Justizinstanzen, dem Reichsjustizministerium und dem Volksgerichtshof ( VGH ) bzw. dem Reichsanwalt am VGH. Diese zentralen Inventare wurden um die Überlieferungen regionaler Instanzen ergänzt. Damit sollen einerseits die aus den zentralen Beständen gewonnenen Erkenntnisse abgesichert, andererseits die lokale und regionale Umsetzung zentraler Vorgaben geprüft werden. Eine reichhaltige Quelle bildeten die im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden ( SächsHStAD ) verwahrten Unterlagen des Polizeipräsidiums Dresden sowie des Sondergerichts Freiberg.46 Die Diskussion um ein Verbot der Internationalen Bibelforschervereinigung und die Verhandlungen zwischen Innen - und Kultusministerium, Geheimen Staatspolizeiamt, Auswärtigem Amt sowie Vertretern der beiden großen Kirchen haben sich in den Unterlagen des Reichskirchenministeriums niedergeschlagen. Der Komplex Kriegsdienstverweigerung durch Zeugen Jehovas speist sich vor allem aus den Überlieferungen des Reichskriegsgerichts ( RKG ),47 des Oberkommandos des Heeres / Allgemeines Heeresamt sowie aus dem Nachlass des Präsidenten des RKG, Admiral Max Bastian, im Bundesarchiv - Militärarchiv Freiburg. Von großem Nutzen waren die Detlef Garbe noch nicht zugänglichen Bestände des ehemaligen „NS - Archivs“ des Ministeriums für Staatssicherheit ( MfS ) der DDR.48 Seit Beginn der 1950er Jahre hatte das MfS begonnen, personenbezogene Unterlagen für „operative“ Zwecke aus verschiedensten Quellen, regionale Überlieferungen in der DDR, aber auch von der Sowjetunion erbeutete Aktenstücke sowie die in den von Polen verwalteten Gebieten zurückgebliebenen Bestände zusammenzufassen. 1990 umfasste diese Sammlung ungefähr 6 500 laufende Meter. Diese Akten wurden zu großen Teilen von der Hauptabteilung IX /11 des MfS aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gerissen und anderen Unterlagen zugeordnet oder zu neuen Dossiers zusammen gefügt. Darunter befanden sich auch die Sachakten der kirchenpolitischen Abteilung 46 Zur Überlieferungsgeschichte der Bestände vgl. Lahrtz, Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit in Sachsen, S. 22–25. 47 Vgl. Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. 48 Vgl. Dierker Glaubenskrieger, S. 15 f. und 26 f.; Hollmann, Das „NS-Archiv“; Muregger / Winkler, Quellen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung; Unverhau, Das „NS-Archiv“.

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Einleitung

des SD II 113. Diese Unterlagen sind, im Gegensatz zum größten Teil der zentralen Gestapo - Akten nur überliefert worden, weil diese Abteilung ab 1940 in ihrer Kompetenz beschnitten und fast abgewickelt wurde. Das Archivmaterial wurde während des Krieges zusammen mit dem RSHA - Amt VII („Weltanschauliche Auswertung“) nach Schlesiersee bei Glogau in Niederschlesien evakuiert, wo es 1945 in sowjetische und polnische Hände fiel. Anhand dieses Bestandes, der im Bundesarchiv / Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten eingesehen wurde, konnte die aktive und auch radikalisierende Rolle des „Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS“ bei der Verfolgung der Zeugen Jehovas, aber letztlich auch das Scheitern einer weltanschaulichen Auseinandersetzung mit der Glaubensgemeinschaft belegt werden. Für die Zeit nach 1945 bilden die von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ( BStU ) ver walteten MfS - Akten die wichtigste Basis. Die verantwortliche kirchenpolitische Abteilung V /4, später XX /4, monopolisierte zunehmend die „Bearbeitung“ der verbotenen Religionsgemeinschaft. Aktenmaterial des Vorläufers des MfS, der Abteilung 5 der Kriminalpolizei ( K 5) fand sich in den Z - Beständen des ehemaligen „NS - Archivs“ des MfS. Aus diesen konnte die beginnende Konfrontation der Behörden der SBZ mit den Zeugen Jehovas rekonstruiert werden. Um den Bildungsstand der MfS - Mitarbeiter zu heben, wurde bereits in den 1950er Jahren eine eigene MfS - Schule in Potsdam gegründet, die 1965 den Namen „Juristische Hochschule des MfS“ erhielt.49 Hier wurden auch Mitarbeiter qualifiziert, die im MfS oder den einzelnen Bezirks - und Kreisverwaltungen die verbotene Glaubensgemeinschaft bekämpften. Die hier verfassten Diplom - und Hausarbeiten konnten Ziele und Methoden des MfS und in einigen wenigen Fällen auch Probleme bei deren Umsetzung belegen.50 Trotz dieser Konzentration der Repression beim MfS fanden sich auch in den Überlieferungen anderer DDR - Institutionen Hinweise auf die Auseinandersetzung mit der Glaubensgemeinschaft. Zuvorderst betrifft dies natürlich die Bestände des Ministeriums der Justiz der DDR. Aufgrund der zentralen Anleitung der einzelnen Gerichte durch Ministerium, Oberstes Gericht und Generalstaatsanwaltschaft befinden sich die wichtigsten Verfahrensunterlagen als Abschrift, Bericht oder Auswertung in diesem Bestand. Ende der 1950er Jahre verlor die DDR - Justiz an Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas. Auch das Ministerium des Innern verlor gegenüber dem MfS zunehmend Kompetenzen. Dennoch fanden sich auch hier relevante Aktenstücke. Dies betraf sowohl die Zeit vor und nach dem Verbot der Glaubensgemeinschaft, hier die Hauptver waltung Deutsche Volkspolizei, als auch die spätere Einbeziehung der Volkspolizei bei den „Ordnungsstrafmaßnahmen“, die das MfS seit den 1970er Jahren anstelle des strafrechtlichen Vorgehens anwandte. Auch das Staatssekretariat für Kirchenfragen, vom MfS über Inoffizielle Mitar49 Förster, Die Juristische Hochschule; ders., Die Dissertationen an der „Juristischen Hochschule“; ders., Bibliographie der Diplomarbeiten und Abschlußarbeiten. 50 Hirch, Wissenschaftliche Darstellung.

Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas

21

beiter ( IM ) und Offiziere im besonderen Einsatz ( OibE ) kontrolliert, war an den Maßnahmen gegen die Zeugen Jehovas beteiligt. Vorrangig wurden über diese Dienststelle die zur „Zersetzung“ der Zeugen Jehovas wieder zugelassenen Vereinigungen von ehemaligen Gläubigen kontrolliert. Die Wehrdienstverweigerung schlug sich in den Unterlagen des Militärobergerichtes Leipzig sowie denen des Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung, beide im Bundesarchiv / Militärarchiv Freiburg, nieder. Das MfS war kein „Staat im Staate“. Es wurde immer angeleitet und geführt von der Staatspartei der DDR, der SED. Daher sind die Bestände der Partei, die von der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv ( SAPMO ) verwaltet werden, eine wichtige Grundlage dieser Arbeit. Für die Zeit bis zum Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR betrifft dies vor allem die Sitzungsprotokolle des Zentralsekretariats und des Politbüros, des Frauen - und Jugendsekretariats, die Protokolle des III. Parteitages der SED sowie Unterlagen der SED - kontrollierten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ) und des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands ( DFD ). Nach dem Verbot nahmen sich vor allem die Arbeitsgruppe Kirchenfragen, die Abteilung Sicherheitsfragen sowie die Abteilung Staats - und Rechtsfragen der SED des Problems der Zeugen Jehovas an. Wie auch für die Zeit vor 1945 wurde versucht, die Diskussionen, Anordnungen, Vorgaben und Analysen der zentralen Institutionen der DDR anhand regionaler und lokaler Unterlagen zu prüfen. Dies geschah auf der Basis der Unterlagen der Bezirksver waltungen des MfS in Dresden, Karl - Marx - Stadt (Chemnitz ) und Gera. Auf der Ebene der staatlichen Verwaltung und der SED wurden die Bestände im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, hier das Bezirksparteiarchiv der SED, die Akten der Landesregierung Sachsen, des Bezirkstags / Rat des Bezirkes Dresden, der Bezirksverwaltung der Volkspolizei Dresden, sowie der Stadtverordnetenversammlung und des Rates der Stadt im Stadtarchiv Dresden verwendet.

6.

Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas hinsichtlich Staat und Politik

Die Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas standen und stehen in weiten Teilen im Widerspruch zu Grundannahmen der Mitbevölkerung. Dadurch stoßen sie auf die unterschiedlichsten Reaktionen. Ihr Vertrauen auf die baldige Errichtung paradiesischer Zustände wird belächelt, das vorbehaltlose Eintreten für eigene Glaubensüberzeugungen auch in widrigsten Situationen bewundert. Ihr Sendungsbewusstsein und ihre verbale wie auch praktische Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft werden allerdings mit großem Misstrauen betrachtet. Diese Reaktionen, die bis zu offenen Feindseligkeiten gedeihen können, sind weltweit anzutreffen. Für die Beantwortung der Frage, warum die Zeugen Jehovas

22

Einleitung

im 20. Jahrhundert sowohl in demokratischen Staaten51 als auch unter autoritären und totalitären Regimen Verfolgungen ausgesetzt waren, ist das Wissen über die Grundzüge ihrer Glaubenslehre, insbesondere ihres Staats - und Politikverständnisses, unabdingbar.52 Geschichte und Gegenwart werden von Zeugen Jehovas als radikale Dichotomie wahrgenommen. Dieser Dualismus teilt alles weitgehend undifferenziert in ein Freund- Feind - Schema, in Gut und Böse, in den Raum der Glaubensgemeinschaft und den Rest der Welt. In den Grundzügen ist diese Weltsicht Basis des Glaubens seit der Entstehung der Bibelforscherbewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Als Vertreter einer strikt chiliastischen Glaubensrichtung versuchten die damaligen Bibelforscher, den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi aus den Schriften der Bibel zu berechnen.53 Diese Berechnungen haben für die Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber der staatlichen Obrigkeit und der Politik eine immense Bedeutung. Während nach ihrer Glaubenslehre staatliche Obrigkeiten in den „Zeiten der Heiden“54 eine göttliche Legitimation besaßen, wurde den Regierungen diese Berechtigung mit Errichtung der Herrschaft Christi 1914 entzogen. Wenn nun aber Christus nach Meinung der Zeugen Jehovas 1914 die Herrschaft angetreten hat und sie seine irdischen Untertanen und loyale Diener sein wollten, konnten sie seit diesem Zeitpunkt bzw. der jeweiligen Taufannahme „kein Teil dieser verderbten Welt“ mehr sein. Aus dieser Lehrmeinung resultiert die Ablehnung der Mitgliedschaft in Parteien und Gewerkschaften sowie auch die Nicht - Teilnahme an Wahlen. Jede Erlösungsreligion verkündet die Befreiung aus der als Not empfundenen Gegenwart. Doch gerade die Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen und die Verheißung ihres völligen Zusammenbruchs zugunsten eines paradiesischen Zustands unter der Herrschaft Christi wurde von den politisch Verantwortlichen jeglicher Provenienz als Wunsch nach alternativen Gesellschaftsformen und als politische Herausforderung verstanden. Zwar versuchten Zeugen Jehovas nach dem Bibelwort „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist !“ ( Matthäus 22, 21) zu handeln, doch wenn die jeweilige staatliche Ordnung eine politische Parteinahme einforderte, mussten die Zeugen Jehovas in offenen Konflikt mit den staatlichen Obrigkeiten geraten. Besonders unter politischen Ordnungen mit totalitärem Anspruch bekam ein solches religiös motiviertes Handeln eine politische Dimension. Eine Radikalisierung erfuhr diese „Absonderung“, als der „Wachtturm“ im Juni 1929 in zwei Artikeln die frühere Interpretation der „obrigkeitlichen Gewalten“ ( Römer 13, 1–7) auf eine völlig neue Grundlage stellte. Als Autori51

Zur Behandlung der Zeugen Jehovas in demokratisch verfassten Staaten vgl. Lahrtz, Die Zeugen Jehovas; Rogerson, Viele von uns werden niemals sterben, S. 79. 52 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 48; Penton, Jehovah’s Witnesses, S. 55 f. 53 Zu den Endzeitberechnungen vgl. Obst, Apostel und Propheten, S. 261. 54 Nach Lukas 21, 24. Diese Zeit dauerte nach Lehrmeinung der Zeugen Jehovas von der Schöpfung bis 1914 ( unterbrochen von der Zeit der Königsherrschaft im biblischen Israel ).

Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas

23

täten, denen man laut Römerbrief Achtung schulde, sollten nur noch Christus bzw. dessen bevollmächtigtes Instrument innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas,55 die „leitende Körperschaft“ mit Sitz in New York gelten. Die Konsequenzen der neuen Auslegung waren beträchtlich, denn die Gläubigen praktizierten diese Doktrin unabhängig von den Risiken, die ihnen daraus erwuchsen. So verweigerten Zeugen Jehovas alle Handlungen, die staatlichen Behörden und ihren Symbolen ihrer Meinung nach ungebührliche religiöse Verehrung zuteil kommen ließen, etwa in Deutschland den Hitlergruß oder in den USA das obligatorische Schulgebet und den Flaggengruß. Alle menschlichen Regierungen, unabhängig von ihrer ideologischen Grundlage, galten von nun an als satanisch. Damit bildete die Doktrin von 1929 die Grundlage für das furchtlose Eintreten der Gemeinschaft angesichts der Verfolgungen, denen sie von nun an ausgesetzt war. Sie schloss die Gläubigen gegen „den Feind“ eng zusammen und war Voraussetzung für ihr konsequentes Verhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich die Glaubensgemeinschaft von ihrer konfrontativen antistaatlichen Haltung ab und ersetzte diese durch eine stärkere Abgrenzung von dem sie umgebenden gesellschaftlichen Umfeld. Dies geschah auf zweierlei Wegen : Zum einen begann im November 1962 der „Wachtturm“ mit einer Reihe von Artikeln über die weltlichen Autoritäten und die Stellung der Christen zu ihnen. Anhand der spezifischen Bibeltexte zu diesem Thema ( Titus 3, 1; 1. Petrus 2, 11–17 bzw. Römer 13, 1–7) wurde zur ursprünglichen Interpretation der „höheren Mächte“ zurückgekehrt. Wahre Christen sollen den weltlichen Obrigkeiten untertan sein, wenn auch mit der Einschränkung, ihnen bei eventuellen Verstößen gegen das göttliche Gesetz nicht folgen zu dürfen. Zum anderen entwickelte die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas einen moralischen und ethischen Rigorismus, der in seinem nach innen homogenisierenden und nach außen abgrenzenden Charakter den konfrontativen und kritischen Kurs gegenüber den staatlichen Obrigkeiten substituierte. Heute grenzt sich die Gemeinschaft vor allem durch die Ablehnung jeglicher „weltlicher Verlockungen“ von ihrer Umgebung ab. Dies beinhaltet den Verzicht auf profane, aber 55 Bei der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas muss zwischen den einzelnen Gläubigen bzw. deren Versammlungen und den jeweiligen „gesetzlichen Körperschaften“ unterschieden werden, die nach außen als Vertreter der Gläubigen, nach innen als Besitzver walter und, was besonders wichtig erscheint, als zentrale Leitung fungieren. Die führenden Funktionäre aller zentralen Körperschaften, d. h. der „Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania“, der „Watch Tower Bible and Tract Society of New York“ und der „International Bible Students Association“ sind weitgehend identisch. Die jeweiligen nationalen Zweigbüros nehmen deren juristische und leitende Funktionen auf der nächst unteren Ebene ein. Diese Zweiteilung in juristische Vertretung bzw. Druck - und Verlagshaus und der eigentlichen Glaubensgemeinschaft begründete auch die Probleme der deutschen Behörden nach 1933 mit dem Verbot der Zeugen Jehovas. Die Glaubensgemeinschaft ( Internationale Bibelforscher - Vereinigung, IBV ) konnte verboten werden, die in amerikanischen Besitz befindliche Firma Wachtturm Bibel - und Traktat - Gesellschaft nicht. Vgl. Haack, Jehovas Zeugen, S. 21–36, bzw. Cole, Jehovas Zeugen, S. 173–179.

24

Einleitung

auch kirchliche Feierlichkeiten, auf den Genuss von illegalen Drogen und Nikotin sowie auf außereheliche Geschlechtskontakte. Zusätzlich zur schon vorher praktizierten Ablehnung des Wehrdienstes und jeglicher Beteiligung am politischen Leben ist es heute besonders die Ver weigerung von Bluttransfusionen, die für Brisanz im Verhältnis von Zeugen Jehovas zum Staat sorgt.56

7.

Danksagung

Diese Arbeit hätte ohne die Unterstützung vieler Kollegen, Bekannter, Freunde und Verwandter nicht abgeschlossen werden können. Stellvertretend für viele seien hier die Mitarbeiter der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, insbesondere Nora Manukjan, Dr. Birgit Sack sowie Bettina Westfeld, genannt, die mir bei der Doppelbelastung von Beruf und Dissertationsprojekt den Rücken frei gehalten haben. Dr. Mike Schmeitzner, Dr. Jan Erik Schulte, Dr. Francesca Weil sowie Dr. Thomas Widera (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung) erklärten sich dankbarer Weise bereit, die Texte gegenzulesen und mit konstruktiver Kritik und Ermutigungen bei der Redaktion zu helfen. Unterstützung verdanke ich ebenso Dr. Jörg Osterloh und Dr. Clemens Vollnhals. Redaktionelle Hinweise erhielt ich von Sebastian Böhm, Mareike Schreier und Elisabeth Schönfeld. Christine Lehmann und Walter Heidenreich brachten den Band zur Druckreife. Ich danke auch den Bibliotheksmitarbeiterinnen des Hannah Arendt - Instituts, Claudia Naumann und Gabriele Schmidt, die unkompliziert fast jedes erforderliche Buch besorgen konnten und damit die Recherchen ungemein erleichterten. Dieser Dank gilt gleichermaßen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Arbeitsstellen des Bundesarchivs, des Archivs der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU ), des Sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden sowie des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas in Selters / Taunus. Ohne den ( konstruktiven ) Druck von Prof. Reiner Pommerin und PD Dr. Reiner Marcowitz vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Technischen Universität Dresden, wäre die Arbeit angesichts vieler beruf licher Zwänge wohl unvollendet geblieben. Die ersten Schritte der Arbeit, insbesondere die Recherchen in den Archiven, ermöglichte ein Stipendium des Freistaates Sachsen. Was wäre ein Promotionsvorhaben ohne die Unterstützung durch Familie und Freunde. Ich möchte allen danken, die in dieser langen Zeit zu mir gehalten haben, auch wenn immer weniger Zeit für Kontakte blieb. Meinen Eltern danke ich für die logistische Unterstützung. Am meisten aber danke ich meinem Sohn : Arian, ohne Dich gäbe es diese Arbeit nicht !

56 Köppl, Die Zeugen Jehovas, S. 86–97.

II.

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im nationalsozialistischen Deutschland

1.

Phase der Herrschaftsübernahme (1933/34)

1.1

Auseinandersetzungen mit Bibelforschern vor 1933

Während sich die damaligen Bibelforscher vor 19141 in Erwartung des vom Gemeinschaftsgründer, Charles Taze Russell, „errechneten“ Anbruchs des Weltendes vor allem um die „Letzten Dinge“ gesorgt hatten, mussten sie sich im Ersten Weltkrieg mit der Frage auseinandersetzen, wie sie sich zum Kriegsgeschehen aber auch zum Kriegsdienst selbst verhielten.2 Wie andere kleinere Religionsgemeinschaften auch – beispielsweise die Gemeinschaft „Hirt und Herde“ oder die Lorenzianer3 – standen sie dem nationalen Pathos ablehnend gegenüber. Da im Deutschen Reich im Gegensatz zu einigen anderen Staaten nicht das Recht auf Wehrdienstverweigerung bestand, sollten die Anhänger der Bibelforscherbewegung versuchen, ihren Wehrdienst als Sanitäter, Techniker oder in einer Schreibstube abzuleisten. Dieses scheint auch vielen der zum Kriegsdienst eingezogenen Bibelforscher durch Entgegenkommen der Militärbehörden geglückt zu sein.4 Obwohl bereits im Juli 1914 die „Correspondenz des Evangelischen Preßverbandes für Deutschland“ den Bibelforschern „die hasserfüllte Wut eines echten religiös - fanatischen Umstürzlers“ bescheinigte,5 scheint die Gemeinschaft im Gegensatz zu anderen kleinen Religionsgemeinschaften noch nicht ins Blickfeld der staatlichen und militärischen Behörden geraten zu sein. Ob dies damit zusammen hing, dass sich die Bibelforscher „wegen ihres offenkundigen Zusammenhangs mit Amerika zurück“ hielten6 oder die 1916 im ganzen Reich noch nicht einmal 1 500 Anhänger umfassende Gruppe7 so gut wie unbekannt war,8 kann hier nicht erörtert werden. Der in Sachsen und Thüringen beheimateten Gemeinschaft „Hirt und Herde“ wurde bereits 1915 durch das zuständige 1 2 3 4 5 6 7

8

Zur Geschichte der Bibelforscher bis 1914 vgl. Wrobel, Die frühen Bibelforscher. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 46. Vgl. Obst, Apostel und Propheten, S. 330 f. Die Möglichkeit, vom Militärdienst aus religiösen Gründen befreit zu werden, bestand damals in Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien sowie in den USA. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 47. „Ueble Importe“, Correspondenz des Evangelischen Preßverbandes für Deutschland vom 22. 7.1914 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 4). So Scheurlen, Die Sekten der Gegenwart (1921), S. 30. Am jährlich stattfindenden Gedächtnismahl nahmen 1916 1423 Personen teil, diese Zahl ist nicht identisch mit den aktiven Verkündigern, sondern umfasst auch sogenannte interessierte Personen. Vgl. Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 393. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 48.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

Armeekorps aus „Gründen der Staatssicherheit [...] das Abhalten von öffentlichen und nichtöffentlichen Versammlungen des Vereins [...] für den Korpsbezirk“ untersagt. Darunter fielen auch „alle Zusammenkünfte der Angehörigen dieses Vereins in ihren Privatwohnungen, wenn sie Vereinszwecken dienen sollen.“9 Erst im Verlaufe des Krieges verhärtete sich die Einstellung der Bibelforscher in punkto Beteiligung am Wehrdienst. Neben dem Wissen um die mörderischen Zustände an der Front radikalisierten deren Standpunkt wohl auch die Wirren, die das Ausbleiben des versprochenen Weltendes und die Streitigkeiten um die Nachfolge des 1916 verstorbenen Gründers Russell auslösten.10 Nicht nur neu eingezogene Bibelforscher ver weigerten nun häufiger, dem Gestellungsbefehl nachzukommen, auch schon länger im Militärdienst Stehende lehnten die weitere Teilnahme am Kriegsdienst ab.11 Wie in anderen kriegführenden Staaten12 gerieten damit die Bibelforscher in das Blickfeld nationalistischer, den Krieg befürwortender Kreise. Ein Artikel in der „Pommerschen Tagespost“ vom September 1917 unter dem bezeichnenden Titel „Sekten als Amerikanische Agenten“, der den Bibelforschern vor warf, „gegen die Kriegsanleihen flau zu machen“, bewegte das preußische Kriegsministerium bei den militärischen, politischen und kirchlichen Behörden Erkundigungen einzuholen.13 Der Evangelische Oberkirchenrat leitete Anfang April 1918 ein Schreiben des Königlichen Konsistoriums der Provinz Westfalen an den Minister der geistlichen Angelegenheiten mit Berichten verschiedener Pfarrer der Provinz weiter. Die einseitige Rezeption der Berichte durch die Behörden zieht sich wie ein roter Faden durch die Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit der Religionsgemeinschaft : In der Anlage wurden fünf Auskünfte wiedergegeben. Vier der Pfarrer bzw. Superintendenten schrieben, dass „nicht viel von den Russeliten [ alter Ausdruck für die Bibelforscher ] zu spüren gewesen“ sei, dass „von antideutschen Machenschaften [...] hier nichts Auffälliges bemerkt worden“ sei und dass „Ausführungen politischer Art oder gar antideutschen Charakters“ nicht gefallen seien. Nur ein Pfarrer zitierte aus der Russell - Schrift „Neue Schöpfung“, nach der „es als religiöse Pflicht hingestellt“ wurde, „als Soldat im Kriege nicht auf Menschen zu schießen“. Wie andere aus dem angloamerikanischen Raum stammende Gemeinschaften – der Berichterstatter erwähnt die Altapostolische Kirche – stünden sie „mit ihrem Empfinden auf Seiten des Anglo - Amerikanertums“. Dies allerdings hüteten sie sich zu verraten, sprächen aber „anscheinend 9 10 11 12

Zit. in Obst, Apostel und Propheten, S. 330 f. Vgl. die ( allerdings WTG - konforme ) Darstellung in Cole, Jehovas Zeugen, S. 82–92. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 47. So wurden die Bibelforscher in Kanada im Februar 1918 verboten und der Nachfolger Russells, Joseph Franklin Rutherford, nebst sieben weiteren Funktionären in den USA wegen angeblicher Spionage zugunsten der Deutschen verhaftet. Vgl. Cole, Jehovas Zeugen, S. 92–98; Obst, Apostel und Propheten, S. 273 f.; Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 205 und 207. 13 Schreiben des Königlichen Kriegsministeriums vom 8.10.1917 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 13), Artikel aus der Pommerschen Tagespost vom 15. 9.1917 als Beilage anbei.

Phase der Herrschaftsübernahme

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öfter über Deutschlands Unrecht“. „Nach ihrer ganzen Geistesrichtung“ seien sie „verächtliche Flaumacher.“14 Die Tendenz der letzten Auskunft blieb hängen und prägte das Bild. Im Oktober 1917 verbot das Stellvertretende Generalkommando des II. Armeekorps in Stettin innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches den Vertrieb von Schriften und jede öffentliche Tätigkeit der Bibelforscher.15 Wie gesagt, diese Entwicklung hatte Parallelen bei den Kriegsgegnern Deutschlands, so wie die Bibelforscher als amerikafreundlich in Deutschland galten, wurde ihnen in den USA Propaganda für die deutsche Seite vorgeworfen.16 Eine derartige nationalistisch angeheizte Agenten - Hysterie ist in Zeiten von Kriegen häufiger anzutreffen. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo die verhafteten Funktionäre der Bibelforscher - Bewegung17 aber 1919 freigelassen sowie die Anklage wegen Behinderung der Wehrfähigkeit fallengelassen wurde, blieb die Gemeinschaft in Deutschland in den Augen nationalistischer Kreise auch nach dem Krieg unter dem Verdacht des Landesverrats. Dort hatte sich im Laufe des Krieges die Vorstellung eines Weltanschauungskampfes durchgesetzt.18 „Egoismus und Idealismus, Händlertum und Heldentum sind in der Tat die Hauptgegner in diesem Kriege : zwei Weltanschauungen haben ihre donnernden Geschütze gegeneinander aufgefahren“, schrieb der Philosoph Peter Wust im Mai 191519 über Werner Sombarts programmatische Schrift „Händler und Helden“.20 Es ging „um den Widerstreit von deutscher, aus tiefem Gemüt und innerer Seele begründeter Weltanschauung einerseits und feindlicher, kapitalistischer, dem Mammon verfallender Geisteshaltung andererseits“. Auch die westlich propagierten Werte von Parlamentarismus und Demokratie galten „als Inbegriff von Gott - und Sittenlosigkeit“.21 In diesem Klima

14 15 16 17

18 19 20 21

Königliches Konsistorium der Provinz Westfalen an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 20. 3.1918, Pfarrerberichte im Anhang ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 18–20). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 48. Vgl. Cole, Jehovas Zeugen, S. 92. Obwohl der Begriff des „Funktionärs“ allgemein für das Führungspersonal politischer Organisationen, insbesondere für die der Monopolparteien NSDAP und KPD / SED verwendet wird, gebrauche ich im Folgenden diesen Terminus für Funktionsträger der Religionsgemeinschaft. Das jeweilige Führungspersonal wird auf den verschiedenen Ebenen von der Wachtturm - Gesellschaft eingesetzt, d. h. auf eine Funktion gesetzt. Gerade in Zeiten der Illegalität wie vor 1945 und in weiten Teilen der Zeit der DDR gab es einen konspirativen Apparat, der jedem Vergleich zu dem der Arbeiterparteien standhält. Die „Funktionäre“ lebten in der Illegalität und waren zum großen Teil auch nicht in lokalen Versammlungen angebunden. Sie reisten umher und leiteten an, übermittelten Informationen, verteilten Literatur und sammelten Spendengelder ein. Die Zweiteilung der Zeugen Jehovas in Glaubensgemeinschaft und Druck - und Vertriebsfirma bzw. nach außen vertretender und nach innen kontrollierender Körperschaft rechtfertigen den Begriff des Funktionärs. Hier unterscheiden sich die Zeugen Jehovas grundsätzlich von anderen (christlichen ) Glaubensgemeinschaften. Vgl. Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Peter Wust, Händler und Helden. In : Tägliche Rundschau vom 19. 5.1915. Sombart, Händler und Helden. Pöhlmann, Kampf der Geister, S. 34.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

jedoch galten die Bibelforscher als Vertreter eben dieser, dem „deutschen Denken“ diametralen Geisteshaltung. Obwohl beispielsweise ein weitgehend objektiver Beobachter wie der Hallenser Theologieprofessor Friedrich Loofs die Bibelforscher von dem Vorwurf freisprach, nur gegen deutsche Kriegsanleihen zu propagieren und „Sendlinge der amerikanischen Kriegsmilliardäre, Agenten ihrer finanziellen und politischen Ziele“ zu sein, vielmehr erwarteten sie ja das Ende aller nationaler Staaten, seien diese Gedanken doch „vollends unverträglich mit nationalem deutschen Empfinden“.22 Wie Detlef Garbe richtig feststellt, gehörten sie von nun an „zu den Kräften der Zersetzung“.23 Auf eine mögliche Niederlage waren weder die deutschen Eliten noch die Öffentlichkeit vorbereitet. Sie bedeutete für nicht wenige den Zusammenbruch einer ganzen Weltordnung. Und da in derartigen Krisenzeiten „irrationale Erklärungsversuche und radikale Lösungsmodelle“ Konjunktur haben,24 gelang es nicht nur den Bibelforschern von 1916 bis 1924 den Kreis ihrer Anhänger fast zu verzehnfachen,25 sondern es wuchs auch die Akzeptanz antisemitischer und antifreimaurerischer Parolen. In den Augen weiter Kreise wurden ungeliebte gesellschaftliche Minderheiten – Juden, Freimaurer, Angehörige kleinerer Religionsgemeinschaften, aber auch die Vertreter der Arbeiterbewegung – mit den Gegnern im Weltkrieg gleichgesetzt und damit „so unüberbrückbare Gegensätze wie Demokratie und Marxismus als Werkzeuge des gleichen jüdisch - freimaurerischen Geistes miteinander“ verbunden.26 In seinem Selbstverständnis war der moderne Antisemitismus eine Abwehrbewegung gegen den jüdischen Einfluss und eine jüdische Dominanz.27 Die schon kurz vor dem Weltkrieg propagierte Einkreisungsthese feierte nun ihre Auferstehung. Alle innenpolitischen Gegner galten als eine Einheit, die aus ihrem Wesen heraus dem deutschen Volk feindlich gesinnt war. Wie auch die Deutschland einkreisenden ehemaligen Kriegsgegner und die im Osten und Südosten Deutschlands neuentstandenen Staaten, handelten sie im Auftrage der Juden oder waren selbst Juden. Die Feinde wurden in ein antisemitisches Konspirationsmodell einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“ integriert. Die vier Hauptprotagonisten der Verschwörung gegen das deutsche Volk – Juden, Freimaurer, Bolschewisten und politischer Katholizismus – konnten in fast jeder beliebigen Kombination gegen das deutsche Volk agieren, ihre Zusammengehörigkeit war für jeden dennoch selbstverständlich. Meistens war jedoch Konsens, dass die jüdische Weltverschwörung als „Oberleitung“ fungierte, in deren Auftrag die anderen agierten.28 Dabei entstehende Widersprüche konnten die Akzeptanz dieser Denkweise nicht schmälern. Wie der Maler und Typo22 23 24 25 26 27 28

Loofs, Die „Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher“, S. 191 und 204. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 49. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 142. Vgl. Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 393. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 9. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 12. Vgl. ebd., S. 363, 415 f., 428, 445 f.

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graf Paul Renner 1932 schrieb, beruhte die „geheimnisvolle Wirkung dieser völkischen Propaganda [...] darauf, dass sie mit der Unschuld jener glücklichen Naturen, bei denen die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut, jedem verspricht, was er sich wünscht, und dabei über alle inneren Widersprüche blindhin mit verstopften Augen und Ohren hinweggeht.“29 Das dualistische Welt - und Geschichtsbild, das der Antisemitismus mit dem negativen Bezugspunkt „jüdische Weltverschwörung“ und seinem positiven Pendant „Volksgemeinschaft“ vermittelte, war imstande, Erklärungen für komplexe politische und soziale Umbrüche zu bieten.30 Weil diese Weltanschauung in sich schlüssig und unangreifbar war, konnte sie Sicherheit vermitteln. Auf der Suche nach Schuldigen für die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Misere der Weimarer Republik stießen völkische Gruppen schon bald auf die Internationale Bibelforscher vereinigung ( IBV ). Deren Lehren wurden als Aufruf zum Umsturz im Auftrag freimaurerischer, jüdischer und / oder bolschewistischer Kreise gedeutet. Die Hauptvorwürfe in den verschiedenen völkischen Publikationen waren die Nähe zu den Juden, die finanzielle Unterstützung durch diese, Umsturzpropaganda und die Verbreitung von Hass auf die Kirchen. Die Ansichten vieler heutiger evangelikaler Kreise vorwegnehmend, glaubten die frühen Bibelforscher, dass die Rückkehr der Juden nach Palästina, wie sie von der zionistischen Bewegung propagiert wurde und wird, ein Zeichen der Endzeit sei. Als Bibelfundamentalisten gehörte für die Zeugen Jehovas das Alte Testament gleichberechtigt zur Heiligen Schrift, was sich auch an der Wertschätzung des – allerdings nicht nachweisbaren und in dieser Schreibweise verballhornten – Gottesnamens „Jehova“31 zeigte. Da die Juden in den Augen der Bibelforscher „lange Zeit die sichtbare Organisation Gottes auf Erden“32 gewesen seien, beteiligten sie sich weder am völkischen Antisemitismus noch am christlichen Antijudaismus.33 Eine solche Einstellung galt in völkischen Kreisen als suspekt. Eine Gemeinschaft, die den Namen des „Nationalgottes der Juden“34 benutzt, die den biblischen Propheten eine Schlüsselstellung im kommenden Gottesreich zusprach und die – wie es den Juden vorgeworfen wurde35 – ein irdisches Gottesreich verkündete ( in Wirklichkeit wäre es eine „tausendjährige jüdische Räte - Weltherrschaft“),36 konnte nur eine christlich verbrämte jüdische Sekte sein. 29 Renner, Kulturbolschewismus, S. 11. 30 Vgl. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 415. 31 Erläuterungen zur Schreibweise des Gottesnamens in Reimer, Jehovas Zeugen, S. 223– 225. 32 Joseph Rutherford, Trost für die Juden, Magdeburg 1925, S. 37. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 66 f. 33 Inwieweit sie diese Haltung 1933 aufgaben, ist in der Literatur umstritten. Vgl. die Kontroverse zwischen Richard Singelenberg und Johannes Wrobel in : Religion – Staat – Gesellschaft, 4 (2003) 1, S. 97–159. 34 Lienhardt, Ein Riesenverbrechen am deutschen Volke, S. 5. 35 Vgl. Kroll, Utopie als Ideologie, S. 120–123. 36 Kuptsch, Aufklärung über die „Ernsten Bibelforscher“, S. 22.

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Nachdem erst eine geistige Nähe konstruiert war, wurde nun die Frage nach den finanziellen Hintermännern der Vereinigung aufgeworfen. Der mit einem bis dato in Deutschland unbekannten Aufwand betriebene missionarische Eifer hatte Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur waren alle Veranstaltungen und Vorträge der Bibelforscher kostenlos, es wurde auch keine Kollekte gesammelt. Die Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Flugblätter wurden für Pfennigbeträge abgegeben. Wie konnte sich eine kleine Religionsgemeinschaft dies leisten. Da die Bibelforscher einerseits ihre finanziellen Quellen nicht offen legten, ihren Gegnern aber andererseits die in den USA normalen Geschäfts - und Vertriebsmethoden, derer sich die Gemeinschaft bediente, unbekannt waren, lag es nahe, jüdische Geldquellen anzunehmen. Bereits 1921 stellte Hans Lienhardt37 fest, die Bibelforscher hätten „mit ihren unerschöpf lichen, aus einer den Mitgliedern unbekannten Riesenquelle ( aus jüdischen Banken in New - York ) fließenden Mitteln [...] ganze Berge von unentgeltlich zu habenden Flugschriften, Broschüren, Büchern und Traktaten in 30 verschiedenen Sprachen“ verbreitet.38 Diese These wurde auch von weiteren Publizisten der radikalen Rechten als sicher kolportiert.39 1924 schien die Möglichkeit entstanden zu sein, diesen Vor wurf auch gerichtsnotorisch bestätigen zu können. Auf einer in St. Gallen ( Schweiz ) stattfindenden Protestversammlung gegen die Bibelforscher äußerte ein Teilnehmer, Beweise für die Behauptung vor weisen zu können. Dieser „Beweis“ war ein angeblicher Brief eines Hochgradfreimaurers, der die Finanzierung durch jüdische Freimaurer erwähnte.40 Als Bevollmächtigter der Bibelforscher - Vereinigung strengte daraufhin der Leiter des „Zentraleuropäischen Büros“, Conrad Binkele, vor dem Bezirksgericht St. Gallen eine Verleumdungsklage an. Die Klage wurde vom Gericht aus formalen Gründen abgewiesen, die IBV war nach Schweizerischem Recht keine juristische und damit klagefähige Person. Das Gericht ging außerdem davon aus, dass eine Beleidigung überhaupt nicht vorgelegen habe, denn in der Behauptung der Annahme jüdischen Geldes sei keine Ehrverletzung zu erblicken. Ein Wahrheitsbeweis wurde mit dem Urteil in keiner Weise angetreten.41 Die Klageabweisung, die mit einer Entschädigung von 450 Franken für den Verklagten einher ging, galt nun als Beleg für die Echtheit

37 Pseudonym für Karl Weinländer, trat auch unter Jens Jürgens oder Hermann Wieland auf. Vgl. Bericht von Gregor Schwartz - Bostunitsch als V - Mann des SD vom 4. 6.1934 (BArch, R 58, 7533, unpaginiert ). 38 Lienhardt, Ein Riesenverbrechen am deutschen Volke, S. 4. 39 Vgl. z. B. Dinter, Sünde wider die Liebe, S. 323 : „Das weiß auch das Judentum, darum hat es die ‚Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher‘ gegründet und mit ungeheuren Geldmitteln finanziert. Diese Gesellschaft ist mit allen Methoden raffinierter Rabbinerkunst am Werke, die Lüge des alten Testamentes zu verewigen. Die Schriften dieser Gesellschaft werden planmäßig und kostenlos in Deutschland verteilt. In eintrittsfreien Vorträgen wird dem ahnungslosen Volke eingeredet, das Heil könne der Menschheit nur von den Juden kommen.“ 40 Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 69. 41 Vgl. ebd., S. 68 f.; Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 145–153.

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der Vorwürfe.42 Nur wenige Publikationen schilderten die Ergebnisse des Prozesses in der Folge wahrheitsgetreu.43 Der Vorwurf der Umsturzpropaganda und der Verbreitung von Hass auf die Kirchen betraf den Zweck der angeblichen Instrumentalisierung durch die „jüdische Weltverschwörung“. Bereits 1921 meinte August Fetz im Bibelforschertum „nichts anderes als ein[en] in religiösem Gewande verkappte[ n ] Bolschewismus“ erkennen zu können.44 Die Botschaft vom nahenden Gottesgericht und der baldigen Vernichtung der irdischen Mächte wurde als revolutionäre Umsturzpropaganda gewertet. Schon IBV - Gründer Russell verkündete den Untergang der „gegenwärtigen kirchlichen und sozialen Ordnungen“. Es stünden sich „auf der einen Seite finanzielle Riesen, Trusts usw.; auf der anderen Seite riesenhafte Arbeiterorganisationen“ gegenüber. Die sozialen Spannungen seien Begleiterscheinungen des vor der Tür stehenden „gewaltigen Umschwungs“.45 Diese Schilderungen, eigentlich Übertragungen der damaligen sozialen Zustände im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts auf die baldigst erwartete Apokalypse, passte treffend zu den politischen und sozialen Wirren, die die Weimarer Republik nach Kriegsende ( und dann wieder ab 1929) erschütterten. Russells Nachfolger Rutherford verschärfte darum die Kritik an den sozialen Verhältnissen noch einmal.46 Außerdem galten und gelten den Bibelforschern alle anderen Religionen als „Ausfluss satanischer Herrschaft über die Menschen“.47 Daher griffen ihre Publikationen immer wieder auch Kirchen und Geistliche massiv an und sagten deren Vernichtung voraus : „Eine Zeitlang ist das Kirchentum durch das Volk sehr hochgehoben worden. Indem die Massen plötzlich davon überzeugt werden, dass sie sich sehr geirrt haben, als sie dies taten, und dass der Charakter dieses Systems in Wirklichkeit teuf lisch ist, werden sie sich gegen dasselbe wenden, und es wird in das Wasser geworfen werden, das heißt, es wird durch die Fluten der Anarchie verschlungen werden.“48 Aus diesen vier „Anklagepunkten“ konstruierten die Bibelforscher - „Experten“ im völkischen Lager eine „völlig harmonische Übereinstimmung der Bibelforscherlehre mit den Zielen des internationalen Talmudjudentums, der internationalen Freimaurerei, der internationalen Sozialdemokratie samt ihrer 42 Dieser Argumentation bediente sich auch das vom Ministerium für Staatssicherheit herausgegebene Buch Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas. Es wurde nicht nur wahrheitswidrig unterstellt, dass der angebliche Freimaurerbrief von den Bibelforschern selbst beseitigt wurde, um Beweise zu vernichten ( S. 93), sondern auch die angebliche finanzielle Unterstützung durch das New Yorker Bankhaus Hirsch wiederholt ( S. 87–98). 43 Zu diesen gehörte der Berichtigungsdienst des Evangelischen Pressverbandes ( zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 69), der in diesem Falle von Garbe (ebd.) zu Unrecht gescholtene Braeunlich, Die Ernsten Bibelforscher, S. 36 f., und Algermissen, Konfessionskunde, S. 775. 44 Fetz, Der große Volks - und Weltbetrug, S. 4. 45 Zitate in Braeunlich, Die Ernsten Bibelforscher, S. 25 f. 46 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 54 f. 47 Ebd., S. 70. 48 Der Schriftforscher Nr. 29, 1919 „Der Fall Babylons“. Zit. in Scheurlen, Die Sekten der Gegenwart (1921), S. 28.

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jüngsten Tochter, dem russischen Bolschewismus“.49 Um die Weltherrschaft des Judentums vorzubereiten, sollten die staatlichen, finanziellen und kirchlichen Ordnungen durch Revolution und Anarchie umgestürzt werden.50 Aufgabe der Bibelforscher in diesen konspirativen Plänen sollte es sein, das deutsche Volk auf geistigem Gebiet zu beeinflussen. Nach Alfred Rosenberg, der „ständig auf der Suche nach Geheimlehren und Verschwörungen in aller Welt und zu allen Zeiten“ war,51 hatten die Bibelforscher den Auftrag, „die Massen zu hypnotisieren“ und so der „seelischen Vorbereitung der jüdischen Weltherrschaft“ zu dienen.52 Auch Hitler soll sich angeblich über die Bibelforscher geäußert haben. In einer posthum veröffentlichten Schrift von Dietrich Eckart werden ihm die Worte in den Mund gelegt : „Mit reichen Geldmitteln versehen, bewegen sie sich ebenfalls in jüdischem Fahrwasser auf den Sowjet zu.“53 Nach Meinung Lienhardts bestand die Funktion der Bibelforscher einerseits darin, die Massen gegen die Kirchen aufzuhetzen, damit diese „die Rolle des Totengräbers“ übernehmen könnten.54 Andererseits hatten sie dem Volk klar zu machen, dass die politischen und sozialen Zustände in Deutschland, d. h. „die Wirkungen des schauerlichen jüdischen Weltverbrecherplanes“ einem „vorbestimmten Plan Gottes“ und „göttlicher Harmonie“ entsprängen.55 Obwohl es gerade in den Reihen der völkischen Antisemiten eine große Zahl von Sektierern und Fanatikern gab56 und die hier vorgestellten Konstruktionen in ihrer Hypertrophie kaum zu überbieten waren, darf man den Einfluss dieser Autoren auf die öffentliche Meinung nicht unterschätzen. Der Gleichklang der Argumente – schließlich wurden alle politisch und künstlerisch Missliebigen zu Handlangern der jüdischen Weltverschwörung stilisiert – gewöhnte die Öffentlichkeit an die Feindbilder der radikalen Rechten.57 Durch die Übernahme seitens evangelischer und katholischer Publizisten und Funktionsträger gewannen diese „Beweisführungen“ zudem noch an Gewicht. Auch wenn es durchaus Divergenzen in der Bewertung einzelner Bestandteile der Verschwörungskonstruktion gab, war man sich in den Grundlinien weitgehend einig. Die Kriegsniederlage sowie die Abdankung des Kaisers und der Landesfürsten hatten den deutschen Protestantismus, der den Krieg zum großen Teil als religiöses Ereignis begrüßte, tief erschüttert. Statt sich an Aufbau und Konsolidierung der neuen Republik zu beteiligen, sehnte man sich nach vergangenen Zeiten zurück. Die Gegenwart wurde als Niedergang und Verfall empfunden. Der Verlust der beherrschenden Stellung der bis dahin „staatshegemonialen

49 50 51 52 53 54 55 56 57

Fetz, Der große Volks - und Weltbetrug, S. 4. Lienhardt, Ein Riesenverbrechen am deutschen Volke, S. 14 f. Boehm, Baltische Einflüsse, S. 66. Rosenberg, Die Protokolle der Weisen von Zion, S. 409. Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin, S. 56 f. Lienhardt, Ein Riesenverbrechen am deutschen Volke, S. 39. Ebd., S. 25 f. Vgl. Jochmann, Die Funktion des Antisemitismus , S. 149. Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 145.

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nationalprotestantischen Kultur“58 führte zur feindseligen Ablehnung des ungeliebten demokratischen „Systems“, des nun weitgehend gleichgestellten Katholizismus, des Sozialismus, des Judentums und der kleinen Glaubensgemeinschaften.59 Auch wenn die Weimarer Republik und ihre Verfassung für weite Teile des deutschen Katholizismus zum ersten Mal eine wirkliche Freiheit und Gleichberechtigung bedeutete, konnten sich Teile des Klerus nicht mit dem Verlust der traditionellen Obrigkeiten, insbesondere der katholischen, abfinden. Noch 1922 sprach der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Michael von Faulhaber auf dem Katholikentag in seiner Stadt über die Novemberrevolution 1918 als „Meineid und Verrat“. Trotz vielfältiger Privilegien spielten die Großkirchen keine dominierende Rolle in der Gesellschaft. Dies lag allerdings nicht – wie unterstellt – an der Religionslosigkeit der Republik, sondern im Funktionsverlust der Kirchen im religiösen und geistigen Pluralismus einer säkularisierten Massengesellschaft.60 Die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung garantierten die volle Glaubensund Religionsfreiheit und schufen für viele kleinere Gemeinschaften erstmals die rechtliche Möglichkeit, sich organisatorisch zu etablieren. Obwohl sich einige dieser religiösen Gruppen intensiv um die Verbreiterung ihrer Mitgliederbasis bemühten, ging die Zahl aller Angehörigen von Religions - und Weltanschauungsgemeinschaften außerhalb der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche Ende der 1920er Jahre nicht über 300 000 hinaus.61 Besondere Zuwachsraten hatten die Bibelforscher zu verzeichnen. Verstärkt durch die soziale Not und die Arbeitslosigkeit der ersten Nachkriegsjahre, intensive Missionsanstrengungen und die aufsehenerregende Ankündigung „Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben !“ gelang es der Gemeinschaft, die Zahl der aktiven Bibelforscher bis auf 6 400 und die der Gedächtnismahlbesucher auf über 14 000 zu erhöhen.62 Nach einer Krise in Folge des nicht eingetretenen „Jubeljahres“ 1925, in dem die Auferstehung der alttestamentlichen Propheten und der „Beginn der Wiederherstellung aller Dinge“ erwartet wurden, stiegen die Zahlen mit Beginn der Weltwirtschaftskrise wieder an. Im Jahr 1933 wurden 19 268 aktive Bibelforscher und ca. 25 000 Gedächtnismahlbesucher gezählt.63 Diese Wachstumsraten waren beachtlich, blieben im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung aber vernachlässigbar. Dennoch maßen viele Beobachter den Einfluss der Bibelforscherbewegung an den von diesen veröffentlichten Absatzzahlen – 1931 wurden in Deutschland beispielsweise 5,6 Millionen Bücher und Broschüren abgesetzt64 – und den teilweise spektakuläre Besucher58 59 60 61 62 63

Besier, Pastorennationalismus, S. 16. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Pöhlmann, Kampf der Geister, S. 35. Vgl. Besier, Pastorennationalismus, S. 10. Vgl. Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 388. Vgl. Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 109, ebenfalls Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 393. 64 Vgl. ebd., S. 390 f.

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zahlen bei Veranstaltungen. Nur wenige blieben wie Konrad Algermissen in ihrer Einschätzung realistisch : „Doch darf man sich dabei nicht durch Äußerlichkeiten täuschen lassen. Die weitaus größere Zahl geht sicher nur aus Neugierde in die Versammlungen, und beim Bücherkauf ist es zunächst der äußerst billige Preis der Bibelforscherschriften, der in die Augen sticht und zum Kaufen lockt.“65 Die dezidierte Kirchenfeindlichkeit der Bibelforscher tat ein Übriges, um die Großkirchen zu alarmieren. Verstärkt nach dem Weltkrieg und besonders spektakulär mit ihrem in Millionenauf lage zur Jahreswende 1924/25 verbreiteten Flugblatt „Anklage gegen die Geistlichkeit“ griff die Glaubensgemeinschaft Kirchenorganisation sowie - funktionäre an und verkündete deren baldige Vernichtung. Die dabei verwendeten Argumente – enge Bindung zum Staat, Kriegsbefürwortung oder Heuchelei – fanden durchaus ihre Parallele in Freidenkerschriften. Besonders negativ stieß die Forderung nach Kirchenaustritt auf. Denn nun vermuteten die Kirchen Verbindungen zu den sozialdemokratisch und kommunistisch dominierten Freidenkerverbänden. Die von den proletarischen Freidenker verbänden propagierte Kirchenaustrittsbewegung konnte zwar in der Weimarer Republik Fortschritte machen, durchschlagende Erfolge erreichte sie aber nicht. Selbst in einer Hochburg der Linken wie Leipzig stieg die Zahl der zu keiner Religionsgemeinschaft Gehörigen bis 1925 nur auf knapp über 10 und lag im Reich gar nur bei knapp 2,5 Prozent.66 Und auch die aus der Kirche Ausgetretenen schlossen sich in den seltensten Fällen einer anderen Glaubens - oder Weltanschauungsgemeinschaft an, die meisten bildeten die „Subkultur der ‚Milieuprotestanten‘ ohne denominationelle Bindung.“67 Die Austritte hatten auch nicht mit einer „langfristig angelegten Kampagne gegen die Kirchen“ zu tun, die die Freidenkerverbände „für manche protestantische Landeskirche in industriellen Gebieten zu einer existentiellen Bedrohung“ machte,68 sondern verdeutlichten vielmehr die veränderten geistigen und religiösen Bedingungen einer pluralistischen Massengesellschaft. In den Kirchen waren aber die antikommunistischen Ressentiments zu groß, um sich mit dem organisierten Atheismus in Deutschland inhaltlich auseinanderzusetzen.69 Sie beurteilten das Anwachsen der Freidenkeragitation vor dem Hintergrund der stalinistischen Religionsverfolgung in der Sowjetunion. Die Kirchen befürchteten, nach dem Sieg des kommunistischen Atheismus könnte es in Deutschland zu ähnlichen Entwicklungen kommen.70 Ironischerweise sahen auch die Freidenker die Bibelforscher als unliebsame Konkurrenz, denn die Bibelforscher fanden besonders in unteren sozialen Schichten ihr Rekrutierungsreser voir. Gerhard Hetzer verneint zwar die von 65 Algermissen, Konfessionskunde, S. 777. 66 Zahlen aus Statistik des Deutschen Reiches, Band 401, Berlin 1930, S. 356 f. Zit. in Winkler, Der Schein der Normalität, S. 158. 67 Besier, Pastorennationalismus, S. 23. 68 So Kühnel, Hans Schemm, S. 195. 69 Vgl. Pöhlmann, Kampf der Geister, S. 186. 70 Vgl. ebd., S. 173.

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der Polizei häufig unterstellte Unterwanderung der Bibelforscher durch Kommunisten und Sozialdemokraten, spricht aber von einem „symbiotischen Zusammenleben“. So betätigten sich beispielsweise in einer als Hochburg der KPD geltenden Armenbarackensiedlung Augsburgs „eine ganze Reihe dort wohnender Frauen für das Bibelforschertum“.71 Im Gegensatz zu kirchlichen und völkischen Kritikern, die „regelrechte Verbrüderungskundgebungen zwischen den ‚Ernsten Bibelforschern‘ und Bolschewisten“72 festgestellt haben wollten, galt den proletarischen Freidenkerverbänden der Glaube an ein göttliches Eingreifen zugunsten der sozial Benachteiligten nur dem Zweck, die potentiell revolutionären Massen vom Klassenkampf abzuhalten.73 Nichtsdestotrotz bemerkten die Kirchenleitungen dieses Konkurrenzverhältnis nicht. Die Aktivitäten der proletarischen Freidenkerverbände und die von der KPD mitgetragene Kirchenaustrittspropaganda beunruhigten sie sehr. Die kommunistische Propaganda von der Weltrevolution und der Errichtung eines „Sowjetdeutschlands“ nahmen sie für bare Münze. Alle Kräfte, die an der Schwächung der eigenen Stellung arbeiteten, mussten in ihren Augen auch in einer Kampfgemeinschaft stehen. Für die 1921 eigens von den Evangelischen Kirchen zur Auseinandersetzung mit der Sekten - und Gottlosenpropaganda errichtete Apologetische Centrale stand daher fest, dass „der Kampf gegen die Sekten als Kampf gegen den ‚Krebsschaden in unserm Volk‘“ galt : „Sektenbekämpfung hieß Dienst am Volk“, ihr Kampf gegen die „zersetzenden Mächte des Freidenkertums käme nicht nur der Kirche „sondern auch dem Volksganzen zugute“. Denjenigen, die sich als kompromisslose Kämpfer gegen Kommunismus und Bolschewismus gaben, galten bald ihre offenen Sympathien.74 Eine Klammer für die verschiedensten Kräfte, die das „System“ von Weimar und die ihm zugeschriebene geistige Verwirrung ablehnten, war der Begriff des Kulturbolschewismus. Dieser beschrieb in den Augen seiner Protagonisten nicht nur ein politisches System, sondern eine Gesinnung, die in „ihrer zersetzenden Wirkung auf die deutsche Volksseele [...] nichts anderes als der Angriff [...] auf unsere Kultur und Erschütterung ihrer Grundlagen mit dem Ziel sei, diese Kultur, nachdem sie genügend unterwühlt ist, durch revolutionäre Tat im Sinn der bolschewistischen Weltanschauung umzuwandeln“.75 Er war einerseits weit genug die verschiedenen politischen und weltanschaulichen Lager zu einen – so in der Ablehnung des „undeutschen Pazifismus“ wie ihn beispielsweise die Bibelforscher vertraten, weil ihm „das Volk kein absolut verpflichtender Wert mehr“ ist. Wer nicht die Pflicht bejahe, zum Schwert zu greifen, dessen Weg führe gerade zum Landesverrat.76 Andererseits war der Begriff auch vage genug, bestehende Divergenzen zu verdecken. Denn obwohl eine große Zahl von kirch71 72 73 74 75 76

Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 637. Busch, Das Sektenwesen, S. 93. Vgl. Efferoth, Himmel Fimmel. Pöhlmann, Kampf der Geister, S. 170, 173, 214. Hutten, Kulturbolschewismus, S. 1 f. Ebd., S. 72 f.

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lichen Publizisten ebenfalls die von völkischen Propagandisten vorgebrachten antisemitischen Konstruktionen kolportierten, waren rassistische Denkstrukturen innerhalb der Kirchen nicht unumstritten. Diese Differenzen zogen sich durch beide Konfessionen : So meinte der damalige Generalsekretär des „Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutschprotestantischen Interessen“, Paul Braeunlich, obwohl er wie andere „Sektenexperten“ im konspirationstheoretischen Denken verstrickt war, die finanzielle Hilfe der Juden für die Bibelforscher gerade mit Ver weis auf den Prozess im Schweizer St. Gallen verneinen zu müssen. Nicht die Juden, die immer wieder als Sündenböcke herhalten müssten, sondern der Bolschewismus „habe auch gegenüber seinen geistigen Vorbereitern eine offene Hand“.77 Dem widersprach der evangelische Pfarrer Julius Kuptsch entschieden : „Der Bolschewismus kann vielleicht hier und da der Vermittler des Geldes sein, aber niemals die Geldquelle selbst. Der Bolschewismus bzw. Kommunismus ist ein armer Proletarier.“78 Auch in der Katholischen Kirche – die alles in allem eine größere Distanz zum Rassegedanken hatte – gab es derartige Auseinandersetzungen. So konnte schon 1922 Fritz Schlegel mit dem Segen des Bischöf lichen Ordinariats zu Freiburg die Herkunft der Finanzmittel der Bibelforscher aus dem ( jüdischen) Bankhaus Hirsch „aufdecken“,79 während der Leiter des apologetischen Dezernats an der Zentrale des Volksvereins für das katholische Deutschland, Konrad Algermissen, dementierte, dass hinter der Propaganda der Bibelforscher „Gelder christentumsfeindlicher Organisationen“ stünden.80 Obwohl von kirchlichen Stellen, insbesondere der Apologetischen Centrale der evangelischen Kirche, immer wieder „belastendes“ Material den staatlichen Behörden zur Verfügung gestellt81 und Tätigkeitsverbote angemahnt wurden, standen diese dem Verlangen, direkt gegen Sekten vorzugehen, distanziert gegenüber. Im Krisenjahr 1923 wurde beispielsweise in Preußen die Frage eines Bibelforscher verbotes ventiliert. Anlass waren „pazifistische“ Vorträge eines Bibelforschers, die den Verdacht erregten, „die Einigkeit des deutschen Volkes, insbesondere gegen die [ französischen ] Bedrücker im Ruhrgebiet zu lähmen“.82 Das vom preußischen Staatskommissar für öffentliche Ordnung angeschriebene Kultusministerium verneinte irgendeine Nähe der Religionsgemeinschaft zu den Franzosen, aber auch zu den Kommunisten.83 Dennoch attestierte der Staatskommissar im November 1923 innenpolitische Bedenken gegen das Auftreten der Bibelforscher, sie würden im staatsfeindlichen Sinn und „gegenwärtig zu Gunsten der Kommunisten“ arbeiten. Von einem Verbot auf Grund des Aus77 78 79 80 81 82

Braeunlich, Die Ernsten Bibelforscher, S. 36 f. Kuptsch, Aufklärung über die „Ernsten Bibelforscher“, S. 41. Vgl. Schlegel, Die Wahrheit über die „Ernsten Bibelforscher“, S. 269. Algermissen, Konfessionskunde, S. 775. Vgl. Pöhlmann, Kampf der Geister, S. 186, 213. Anfrage des ( preußischen ) Staatskommissars für öffentliche Ordnung an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 29. 3.1923 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 54). 83 Antwort des Kultusministers vom 20. 8.1923 ( ebd., Bl. 59).

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nahmezustands riet er ab, da diese Gesetze eines Tages aufgehoben werden müssten und sie dann „Dank ihrer ausländischen Verbindungen ohne weiteres die Möglichkeit besitzen, sofort wieder aufzuleben“. Dagegen schlug er neue reichsgesetzliche Bestimmungen vor, „mit denen Organisationen solcher Art das Handwerk gelegt werden könnte“.84 Diesem erneuten Vorstoß, entgegen der Auskunft, dass keine Nähe zu Kommunisten vorläge, lag ein Schreiben des Evangelisch - lutherischen Konsistoriums Kiel vom September 1923 zugrunde. Darin befürwortet es das Konsistorium, „wenn dem u. E. nicht nur kirchen - sondern auch staatsfeindlichen Treiben dieser Leute von Polizeiwegen ein Ende gemacht werden könnte. Und fragte weiter : „Würde nicht evtl. nach den heutigen scharfen Bestimmungen [ während des Ausnahmezustands ] das Verbot der Sekte in Frage kommen ?“85 Der preußische Kultusminister befürwortete im Januar 1924 gegenüber dem preußischen Innenministerium weder das Verbot auf Grund des Ausnahmezustandes noch neue reichsrechtliche Bestimmungen. Zwar sei „die Tätigkeit der Sekte für den Staat uner wünscht“, doch wäre deren Bekämpfung Aufgabe der Kirchen.86 Dem stimmte der Innenminister zu, kritisierte jedoch, dass Grundlage des erneuten Vorstoßes der „nur auf Vermutungen gestützte Verdacht“ war, es „handle sich um eine jüdische Sekte“. Derartige Verdächtigungen seien geeignet, den konfessionellen Frieden zu stören. Beide Minister vereinbarten, der Gemeinschaft erhöhte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.87 Dieses Beispiel verdeutlicht die vielen Ambivalenzen der Politik gegenüber kleinen Glaubensgemeinschaften in den 1920er Jahre. Einerseits gewährte die Reichsverfassung allen Bürgern Glaubens - und Gewissensfreiheit. Andererseits hatten beide Großkirchen noch genügend Einfluss, mögliche Verbote anzuregen. Obwohl auch teilweise staatliche Behörden den Bibelforschern Gefahrenmomente zuschreiben, realisierten sie die Wünsche der Kirche nicht. Dies taten sie aus einem gewissen Grad an Liberalität oder aber, weil der Ausnahmezustand ( noch ) nicht unbegrenzt verlängert werden konnte. Nach der Flugblattkampagne „Anklage gegen die Geistlichkeit“ ersuchte der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, Hermann Kapler, im März 1925 den Reichsinnenminister, das Flugblatt und die Druckmatrizen beschlagnahmen zu lassen. Doch auch hier drang die Kirche mit ihrer Forderung nicht durch, sie wurde auf den Klageweg verwiesen.88 Bis Anfang der 1930er Jahre beschränkte sich das staatliche Vorgehen auf Verfahren nach §§ 166 f. StGB ( Beschimpfung der anerkannten Religionsgemeinschaften ) sowie auf Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung, die gegen Missionsversuche an den Wohnungstüren angewandt wurden. In der zweiten 84 Staatskommissar an Kultusministerium vom 15.11.1923 ( ebd., Bl. 6) 1. 85 Evangelisch - lutherisches Konsistorium Kiel an den Kultusminister vom 11. 9.1923 ( ebd., Bl. 63). 86 Kultusministerium an preußisches Innenministerium vom 3.1.1924 ( ebd., Bl. 72). 87 Innenministerium an Kultusministerium vom 26.1.1924 ( ebd., Bl. 81). 88 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 78.

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Hälfte der 1920er Jahre wurde letzteres Instrument verstärkt angewandt, die Zahl der eingeleiteten Gerichtsverfahren verdoppelte sich fast von 1926 zu 1928 auf 1660. Da in den allermeisten Fällen jedoch auf Freispruch plädiert wurde, belastete das die Staatskasse merkbar. Auch den Bibelforschern war es angelegen, die bestehenden Probleme zu regeln. Nachdem ein Vorstoß beim preußischen Kultusministerium im Oktober 1929, dem Schreiben lagen polizeiliche Unbedenklichkeitserklärungen und Bescheinigungen über steuerliche Vergünstigungen von verschiedenen deutschen Behörden bei, scheinbar zu keinem befriedigenden Ergebnis führte,89 gelang dies im folgenden Jahr beim preußischen Innenministerium. Im Mai 1930 erließ das Ministerium einen Runderlass, nach dem die Vereinigung „rein religiöse Zwecke“ verfolge und sich auch nicht politisch betätige. Von Strafverfahren „wegen Vergehens gegen die Reichsgewerbeordnung das Gesetz über die Besteuerung des Gewerbebetriebes im Umherziehen“ sollte in Zukunft abgesehen werden.90 Im April 1929 ver warf der V. Senat des Reichsfinanzhofs eine Rechtsbeschwerde des Magdeburger Finanzamtes gegen ein Urteil des dortigen Finanzgerichtes. Dieses hatte der Wachtturm - Gesellschaft die Gemeinnützigkeit zuerkannt. Das Finanzamt negierte, dass die Gesellschaft ein Allgemeininteresse vertrete, da sie insbesondere durch ihre maßlosen Angriffe in Kreisen der evangelischen und der katholischen Kirche Verwirrung stifte. Doch für den Reichsfinanzhof war es unzulässig „die Frage der Gemeinnützigkeit vom Standpunkt der katholischen oder evangelischen Kirche auszuwerten“.91 Eine derartige Neutralität staatlicher Organe sollte aber bald der Vergangenheit angehören. Am 28. März 1931 erließ Reichspräsident Hindenburg die Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen. Diese eigentlich gegen Ausschreitungen von links - wie auch rechtsradikalen Gruppierungen gerichtete Verordnung, erwies sich als Möglichkeit auch gegen kirchenfeindliche Kräfte vorzugehen, verbot sie doch alle Versammlungen und Umzüge unter freiem Himmel, wenn dabei „eine Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts ihre Einrichtungen, Gebräuche oder Gegenstände ihrer religiösen Verehrung beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden“.92 Nachdem in Bayern vorerst nur einzelne Bibelforscherschriften beschlagnahmt und Versammlungen verboten wurden, erweiterte die Polizeidirektion München die Beschlagnahme auf alle Schriften in ganz Bayern. 1932 zogen Baden und Württemberg nach. Der Badische Verwaltungsgerichtshof erklärte jedoch schon im Juni 1932 die Anwendung der Reichspräsidentenverordnung für unzulässig. Zwar meint Detlef Garbe, dass die 89 Vgl. bevollmächtigter Rechtsanwalt der IBV und WTG an Kultusministerium vom 21.10.1929, Betr. Bescheinigung über Tendenzen einer religiösen Vereinigung ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 154–158). 90 Runderlass des Ministeriums des Innern vom 19. 4.1930 – Ib 1021. In : MBliV, Nr. 18 vom 30. 4.1930, S. 400 f. 91 Entscheidung des Reichsfinanzhofes, V. Senat, vom 19. 4.1929 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 177). 92 RGBl. 1931 I, S. 79–81.

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Rechtsbeschwerden der Bibelforscher nacheinander durch die Regierung in Oberbayern, das Innenministerium sowie durch das Bayerische Oberste Landesgericht abgewiesen wurden,93 doch erwähnen Manuela und Martin Aumer in einem Aufsatz über Bibelforscher im fränkischen Schwabach – allerdings ohne Quellenangaben –, dass das dortige Amtsgericht am 16. Oktober 1932 einen Runderlass der Münchner Polizeidirektion erhielt, nach der „die Beschlagnahme keine rechtliche Grundlage mehr habe“.94 Nachdem selbst die autoritär regierenden Präsidialkabinette zu keiner die Großkirchen befriedigenden Lösung des Sektenproblems fähig waren, kamen sich Kirche und Nationalsozialismus auch in dieser Frage näher. Einig waren sich beide Lager, dass die Propaganda der Bibelforscher, wie auch die der Freidenker den Kommunisten in die Hände spiele. Es zeigte sich schon Anfang der 1930er Jahre, dass eine beträchtliche Anzahl von evangelischen Pfarrern der positiv bewerteten Bekämpfung des Kommunismus und des Freidenkertums durch die Nationalsozialisten einen höheren Stellenwert einräumte, als der negativ bewerteten Betonung der Rassefrage.95 Bei der Über windung der Gräben zwischen protestantischer Kirche und Nationalsozialismus in Rassen - aber auch in Religionsfragen ( immerhin war Rosenbergs 1930 erschienenes „Werk“ „Mythus des 20. Jahrhunderts“ auf breite Ablehnung durch die Kirchen gestoßen ) halfen betont protestantische Nationalsozialisten wie der Gauleiter von Oberfranken, Hans Schemm (1891–1935). Seine Reden kreisten immer wieder um die Gefahren, die dem Christentum durch die Freidenkerbewegung drohten. Vom Schweizer Zweigaufseher Franz Zürcher wurde – ebenfalls ohne Quellenangabe – die Drohung Schemms kolportiert : „Wenn wir an der Macht sind, wird mit den Bibelforschern kurzer Prozess gemacht.“96 Inwieweit die bayerische nationalsozialistische Landtagsfraktion das Vorgehen gegen die Bibelforscher initiierte, ist in der Literatur umstritten. Während zeitgenössische Quellen den Nationalsozialisten die Initiative zuschreiben,97 möchte Garbe diese Darstellungen relativiert sehen.98 Wichtig scheint, dass die Nationalsozialisten mit ihrer Frontstellung gegen Bibelforscher und Freidenker bei beiden großen Konfessionen Boden gut machen konnten. Während Kardinal Faulhaber in der Haltung der Nationalsozialisten den Versuch zu entdecken glaubte, „den schroffen Gegensatz zum Christentum zu mildern“,99 gaben die evangelischen Kirchen ihre inneren Vorbehalte gegenüber den Nationalsozialisten mehr und mehr preis. Auch nach Machtantritt der Nationalsozialisten kooperierten Kirche und neue Staatsmacht in der „Sekten“ - und Freidenkerbekämpfung. Insofern ver93 94 95 96 97 98 99

Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 83. Aumer / Aumer, Die „Ernsten Bibelforscher“, S. 85. Vgl. Kühnel, Hans Schemm, S. 199. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 75. Vgl. Stödter, Verfassungsproblematik und Rechtspraxis, S. 45. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 83. Kardinal Faulhaber an den bayerischen Episkopat vom 6.12.1930. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 83.

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tritt Garbe zu Recht die These, dass „die späteren Verfolgungsmotive sämtlich bereits in den zwanziger Jahren angelegt“ waren.100 Doch sobald die Diktatur etabliert war, fiel die konservativ - autoritäre Mimikry. Die neue „Volksgemeinschaft“ kam nicht nur ohne Volkskirche aus, sie emanzipierte sich bald vom Christentum, dass sie auch dessen Vertreter zu Handlangern der Zersetzung erklären konnte.

1.2

Auf dem Weg zum Verbot

Mit der „Machtergreifung“ des „Kabinetts der nationalen Konzentration“ am 30. Januar 1933 war den führenden Funktionären der WTG klar, dass sich die Verhältnisse zwischen Behörden und den Zeugen Jehovas verschärfen würden. Das deuteten die vereinzelten Angriffe in der nationalsozialistischen Presse, aber auch der Druck an, den die Nationalsozialisten in Bayern seit 1931 im Hinblick auf ein Verbot der IBV ausübten. Um der Konfrontation die Spitze zu nehmen, wurden Ende Februar / Anfang März zwei neue Rechtsträger für die deutschen Bibelforscher gegründet : die Nord - und die Süddeutsche Bibelforschervereinigung.101 Damit versuchte die WTG das im nationalen Taumel verpönte Wort „international“ zu vermeiden. Auch Reichsdiener Balzereit sah sich in einem Schreiben an Rutherford vom 2. März 1933 außerstande, anstehende Probleme mit den lettischen Behörden ( die dortigen ZJ wurden von Magdeburg betreut ) in Riga zu klären, weil die Umstände in Deutschland zu ernst seien und er damit unabkömmlich wäre.102 Dennoch hieße es die Bedeutung der Bibelforscher in den Augen der neuen Machthaber massiv zu überschätzen, wollte man annehmen, dass sich deren Aufmerksamkeit sofort auf die angefeindete Religionsgemeinschaft richtete. Es ist sogar zu bezweifeln, dass die Mehrzahl der nationalsozialistischen Funktionsträger von den Ressentiments gegen die Bibelforscher wusste oder sich von ihnen leiten ließ. Der Hamburger Polizeipräsident Dr. Hans Nieland103 gab beispielsweise gegenüber dem Amtsgericht in Hamburg eine Unbedenklichkeitserklärung ab. Man erhebe keinen Einspruch gegen die Eintragung der „Norddeutschen Bibelforscher vereinigung“ ins Vereinsregister.104 Im Frühjahr 1933, insbesondere in den Tagen und Wochen vor und nach der Reichstagswahl vom 5. März, galt es unter Betonung eines angeblich geplanten kommunistischen Aufstandsversuches, die Organisationen der Arbeiterbewegung zu zerschlagen und 100 Garbe, „Sendboten des Jüdischen Bolschewismus“, S. 149. 101 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 88 f. Gründungsunterlagen der Norddeutschen Bibelforschervereinigung als Anlage zum Antrag auf Eintrag ins Vereinsregister an AG Magdeburg vom 1. 3.1933 ( WTA, 01/03/33). 102 Vgl. WTG, Balzereit, an Rutherford vom 2. 3.1933 ( WTA, Dok 02/03/33). 103 Hans Nieland (1900–1976), nacheinander Polizeipräsident, Senator und Stadtkämmerer in Hamburg, 1940–1945 Oberbürgermeister von Dresden. Vgl. Hermann, Oberbürgermeister der Stadt Dresden Hans Nieland und Stellvertreter Rudolf Kluge. 104 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 89 f.

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ihrer Aktivisten habhaft zu werden. Rechtsgrundlage dieses Vorgehens war die am 28. Februar erlassene Reichstagsbrandverordnung, die sich dem Wortlaut ihrer Präambel nach gegen „kommunistische staatsgefährdende Gewaltakte“ richtete, grundlegende Bürgerrechte der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft setzte und somit die Möglichkeit eröffnete, willkürlich zu verhaften, zu verbieten und zu beschlagnahmen.105 Zwar weitete am 3. März Göring als kommissarischer preußischer Innenminister in einer Durchführungsverordnung106 die Zielgruppe der Verordnung vom 28. Februar 1933 auch auf „mittelbare Unterstützer“ des Kommunismus aus, doch auch diese Ausführungen ließen keinen Zweifel, dass der Feind links stand. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, standen auf Seiten der Nationalsozialisten einige eingefleischte Gegner der Bibelforscherbewegung. In den Wochen nach der „Machtergreifung“ lassen sich jedoch keine gezielten „staatspolitischen Maßnahmen“ belegen. Wohl kam es im Vorfeld und während der Reichstagswahl vom 5. März 1933 zu Repressalien der SA - Schlepperkolonnen gegenüber potentiellen Nein - und Nichtwählern, diese sind jedoch in die allgemeine Terror - und Einschüchterungskampagne der Februar - und Märzwochen einzuordnen. Noch konnten Zeugen Jehovas darauf ver weisen, dass sie sich schon zu Zeiten des „Systems“ nicht an Wahlen beteiligten und dass diese Abstinenz nicht aus politischer Opposition geschehe.107 Dass die IBV schon bald in die Zahl der zu verbietenden Vereine eingereiht wurde, hatte seine Ursache in dem Druck, der von interessierter Seite innerhalb, aber vor allem außerhalb der NSDAP ausgeübt wurde. Die ersten Länder, die die Tätigkeit der Internationalen Bibelforschervereinigung verboten, waren Mecklenburg - Schwerin am 10. April,108 Bayern am 13. April und Sachsen am 18. April 1933.109 Dass diese Länder die Vorreiterrolle übernahmen, überrascht nicht. Einerseits konzentrierte sich in Sachsen ein Großteil der deutschen Bibelforscher. Andererseits gingen die staatlichen Behörden in Mecklenburg110 und Bayern111 bereits vor 1933 gegen die Religionsgemeinschaft vor. Während die Entwicklungen in Mecklenburg - Schwerin und Sachsen hin zum Verbot im Dunkeln liegen, lassen sich die Geschehnisse in Bayern teilweise rekonstruieren. Wie in Bayern mit Hans Schemm war in Preußen mit Bernhard Rust ein dezidiert protestantischer Nationalsozialist als Kultusminister auch für Kirchenangelegenheiten zuständig geworden.112 Bereits am 7. März 1933 ging 105 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933, RGBl. I, S. 83. 106 MBliV 94 (1933), Teil 1, S. 233, MdI, Runderlass vom 3. 3.1933. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 136 f. 107 Vgl. Garbe / Knöller, Die Bibel, das Gewissen und der Widerstand, S. 228. 108 Vgl. Juristische Wochenschrift, 64 (1935), S. 2082. 109 Sächsisches Verordnungsblatt, Nr. 34, 1933, S. 251. 110 Zur Auseinandersetzung um die Präsentation des IBV - Filmes „Das Schöpfungsdrama“ in Teterow ( Mecklenburg - Schwerin ) im Jahre 1932 vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 241. 111 Vgl. vorigen Abschnitt. 112 Zu Bernhard Rust (1883–1945) vgl. Peddersen, Bernhard Rust.

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aus seinem Ministerium eine Anfrage an das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, ob es stimme, dass im Freistaat gegen Versammlungen der IBV sowie deren Schriftenvertrieb vorgegangen würde.113 Dieses Schreiben gab das bayerische Kultusministerium, dem seit dem 10. März Hans Schemm kommissarisch vorstand, am 13. März an die Bayerische Politische Polizei ( BPP) weiter. Die BPP referierte in einer Antwort vom 12. April über den gesamten Entwicklungsstand der Auseinandersetzungen mit den Bibelforschern seit 1930 und konnte berichten, dass auf Grund der „Volksschutzverordnung“ vom 4. Februar 1933114 am Vortag sämtliche Druckschriften der IBV in Bayern verboten und beschlagnahmt wurden.115 Diese Auskunft jedoch schien Schemm nicht genügt zu haben. Wie er seinem preußischen Amtskollegen am 12. Mai mitteilte, hatte das bayerische Staatsministerium des Innern auf sein Drängen hin auch die IBV am 13. April 1933 auf Grund der Reichstagsbrandverordnung verboten.116 Kaum von Schemm über das bayerische Vorgehen in Kenntnis gesetzt, nahm das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung mit dem Vertreter des Reichsinnenministeriums ( RMdI ), Oberregierungsrat Erbe, und Rudolf Diels vom preußischen Geheimen Staatspolizeiamt ( Gestapa ) Kontakt auf, um die Frage eines Verbotes zu ventilieren. Erbe meinte, sein Ministerium hätte sich in dieser Frage schon am 31. März 1933 an das Preußische Innenministerium gewandt. Diels wiederum befürwortete zwar ein Verbot, gab aber zu bedenken, dass die Wachtturm - Gesellschaft ein gewaltiges Wirtschaftsunternehmen sei. Eine Schließung würde die Arbeitslosigkeit einer größeren Zahl von Personen bedeuten, ein Argument, das angesichts der wirtschaftlichen Krise von Gewicht war. Außerdem mehrten sich laut Diels die Gerüchte, dass die Gesellschaft den Umzug nach Prag plane. Vor allem verwies der Gestapa - Chef auf die Vorsprache des US - amerikanischen Generalkonsuls. Dieser hatte Bedenken gegen ein Vorgehen gegen die IBV geäußert und angesichts der zahlreichen Anhängerschaft der IBV in den USA zu Rücksichtnahmen gemahnt. Noch galt in Preußen allerdings der Runderlass des dortigen Innenministers vom 19. April 1930, nach dem die Vereinigung „rein religiöse Zwecke“ verfolge und sich auch nicht politisch betätige.117 Daher fragte der dortige Kultusminister bei der preu113 Vgl. Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus vom 7. 3.1933 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 188). 114 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes vom 4. 2.1933, RGBl. I, S. 35. § 2 der Verordnung stellte auch die Verächtlichmachung von Religionsgemeinschaften öffentlichen Rechts unter Strafe. 115 Vgl. BPP an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus vom 12. 4.1933 (BArch, R 5101, 23415, Bl. 193); vgl. auch Faatz, Vom Staatsschutz zum Gestapo - Terror, S. 477 f. 116 Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 12. 5.1933 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 200). 117 Runderlass des Ministeriums des Innern vom 19. 4.1930 – Ib 1021. In : Ministerialblatt für die preußische innere Verwaltung, Nr. 18 vom 30. 4.1930, S. 400 f.

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ßischen Innenbehörde an, inwieweit die Entwicklungen in Mecklenburg - Schwerin, Bayern und Sachsen sowie der Vorstoß des Reichsinnenministeriums nicht Anlass genug seien, die Aufhebung des Runderlasses zu prüfen.118 Inzwischen gingen die regionalen Behörden in Preußen ( und anderen Ländern, in denen noch kein allgemeines Verbot der IBV bestand ) eigenständig gegen die Religionsgemeinschaft vor : „National gesinnte“ Teile der Bevölkerung erstatteten Anzeige gegen den Vertrieb der Druckschriften,119 in Detmold kam es zu ersten ( kurzfristigen ) Verhaftungen wegen angeblicher Verteilung pazifistischer Schriften in der Reichswehr,120 der Polizeipräsident von Magdeburg ersuchte in einem Funkspruch vom 8. April um die Beschlagnahme des Buches „Die Krise“,121 der Regierungspräsident von Oppeln berichtete dem Preußischen Unterrichtsminister über Verbote der dortigen Bibelforscherversammlungen122 und auch in Hagen verfügten die lokalen Behörden am 22. April die Auf lösung der ansässigen Bibelforschergruppen.123 Am 24. April 1933 besetzte die Magdeburger Polizei samt Hilfskräften aus den Reihen der SA das dortige Hauptbüro der Wachtturmgesellschaft. Die Produktionsräume wurden versiegelt und alle Gruppen in Preußen verboten. Während aber die Verbote in den einzelnen Ländern „nur“ das Betätigungsverbot einer an sich weiterbestehenden Gesellschaft bedeuteten, ergaben sich nun in Preußen Probleme, deren Brisanz zunächst nicht erkannt wurde : hier musste die Gesellschaft als solches verboten werden, da deren Sitz in Magdeburg lag. Ein Unterfangen, das durch den Status des deutschen WTG - Zweiges als Tochtergesellschaft der amerikanischen WTG eine zusätzliche Bedeutung erhielt, denn nun intervenierte auf Grund des Ersuchens der Wachtturm - Gesellschaft das amerikanische Generalkonsulat. Das „Dritte Reich“, außenpolitisch in der Isolation, war in dieser Phase nicht unempfindlich gegenüber ausländischen Interventionen. Der Regierungspräsident in Magdeburg, Dr. Nicolai, versicherte denn auch am 29. April 1933, dass es keinerlei Anhaltspunkte für kriminelles respektive politisches Material gäbe, hob auf Anordnung des Preußischen Innenministeriums die Besetzung und Beschlagnahme auf und gab auch den Druckschriftenvertrieb wieder frei.124 Zwar wurden in Folge auch die Verbote der lokalen Bibelforschergruppen in Preußen aufgehoben ( und wie in Bremen auch in den Ländern, die sich in ihrem Verhalten

118 Vgl. Preußisches Kultusministerium an Preußisches Innenministerium vom 19. 5.1933 (BArch, R 5101, 23415, Bl. 206). 119 Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 163. 120 Vgl. Riechert, Bibelforscher, S. 728. 121 Erwähnt in Offizialbericht des Polizeisenators von Bremen, Theodor Laue, zur Beschwerde an den Präsidenten des Senats und Regierenden Bürgermeisters Dr. Richard Markert vom 6.10.1933 ( WTA, Dok 06/10/33). 122 Vgl. Der Regierungspräsident von Oppeln an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 19. 5.1933 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 213). 123 Vgl. Antwort des Polizeipräsidenten von Hagen an die Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Arnsberg vom 17. 6.1933 ( WTA, Dok 12/06/33). 124 Vgl. Rechtsbüro der WTG an das Amerikanische Generalkonsulat vom 14. 5.1933 (WTA, Dok 14/05/33).

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an Preußen orientierten ),125 die Herausgabe der schon konfiszierten Druckschriften wurde aber mancherorts verzögert. Der zuständige Regierungspräsident setzte beispielsweise den Landrat des Kreises Steinburg in Schleswig - Holstein am 5. Mai 1933 von der Freigabe des Vermögens in Kenntnis, da „[ e ]in generelles Einschreiten gegen die Bibelforscher [...] hiernach nicht beabsichtigt zu sein“ scheint. Dieser Anordnung widersetzte sich jedoch der Landrat, da dies nicht „im Interesse der Staatsautorität“ läge, und regte bei der zuständigen Staatspolizeistelle Kiel die Prüfung des beschlagnahmten Materials an, die Herausgabe der Schriften könne immer noch erfolgen, sollten sich diese als unbedenklich erweisen.126 Grundlage dafür war die Auslegung, dass die Aufhebung nur die „generelle Beschlagnahme“ und nicht die einzelner Druckschriften beträfe. Mit den Anordnungen vom 10., 20. und 24. Mai bzw. dem 8. Juni 1933 wurden vom Preußischen Gestapa denn auch 23 Druckschriften der Bibelforschervereinigung beschlagnahmt und verboten.127 Ebenso massiv war der Druck, den beide Großkirchen auf die regionalen und zentralen Machthaber ausübten, doch endlich gegen die ungeliebten Konkurrenten vorzugehen. Die Nationalsozialisten, die sich in der Phase der noch nicht voll ausgebauten Macht als Vorkämpfer des Christentums gerierten, eröffneten den Feinden von „Sekten“ größere Spielräume als es die Behörden in der Weimarer Republik taten. An der Kampagne gegen die Bibelforscher beteiligten sich sowohl die Kirchenbasis als auch deren offizielle Vertreter. Viele protestantische Gläubige begrüßten das neue Regime. Die Regierungserklärung Hitlers vom 1. Februar 1933 war voll von Bekenntnissen zum Christentum und zu Gott.128 Nach den Kämpfen gegen unliebsame religiöse und weltanschauliche Konkurrenten vor 1933 stellte der § 2 der „Volksschutzverordnung“ die Verächtlichmachung von Religionsgemeinschaften öffentlichen Rechts unter Strafe. In vielen Gemeinden kam es zu ostentativen Kirchenbesuchen von Parteieinheiten, insbesondere der SA, sowie zu Wiedereintritten in die Kirche durch Parteimitglieder. Seit Jahren hatten viele evangelische Gemeinden nicht mehr so viele Besucher bei Gottesdiensten und anderen Amtshandlungen gesehen.129 Ein Teil der nationalsozialistischen Postulate, wie der Kampf gegen den „gottlosen Marxismus“, den „Freigeist“, den „Sittenverfall“, die „entartete Kunst“ bis hin zur „religiösen Zersplitterung des deutschen Volkes“ waren zahlreichen Gläubigen durchaus vertraut. Daher überraschen die umfassenden Forderungen Plauener „Kirchenfreunde“ in einem Schreiben an das Preußische Kultusministerium vom 22. April 1933 nicht : „Es ist allgemeiner Wunsch, dass all die kleinen Sekten, wie ‚Hirt und Herde‘, Adventisten, Metotisten [ sic !], 125 Vgl. Antwort des Polizeipräsidenten von Hagen an die Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Arnsberg vom 17. 6.1933 ( WTA, Dok 12/06/33). 126 Vgl. Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 164 f. 127 Vgl. Offizialbericht des Polizeisenators von Bremen, Theodor Laue, zur Beschwerde an den Präsidenten des Senats und Regierenden Bürgermeisters Dr. Richard Markert vom 6.10.1933 ( WTA, Dok 06/10/33). 128 Vgl. Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland, S. 2. 129 Vgl. Brakelmann, Nationalprotestantismus und Nationalsozialismus, S. 341.

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Gesundbeter etc. sofort aufgelöst werden müssten. Dieselben sind gegen die staatliche Kirche, sonst würden sie doch vorziehen in die stattliche [ sic !] Kirche zu gehen, sie sind aber nicht staatlich, folgedessen staatsfeindlich und wenn alles das verfolgt wird, was staatsfeindlich ist, dann hätten sämtliche solche Gemeinschaften und Sekten schon längst von der neuen Regierung aufgelöst werden müssen.“130 Hatte sich der württembergische Evangelische Oberkirchenrat im März 1933 gegenüber dem dortigen Kultusministerium noch einer klaren Stellungnahme enthalten, als nach Anregung eines nationalsozialistischen Pfarrers die Frage eines möglichen Verbotes der Bibelforscherbewegung ventiliert wurde,131 zeigten sich andere Kirchenkreise weniger zurückhaltend. Ein evangelischer Pfarrer aus Oberschlesien regte beim dortigen Landratsamt am 12. April 1933 das Verbot dieser „kirchenzersetzenden Irrlehren“ an, da „judaisierende Sekten dieser Art amerikanischen Ursprungs [...] eine Gefahr für Volkstum und Kirche“ seien.132 Auch der protestantische „Kirchlich - Soziale Bund“ attestierte den Bibelforschern in einem Schreiben an das preußische Kultusministerium vom 24. April eine „verhetzende Tendenz“. Ziel der von diesen vertriebenen Schriften wäre die „Verheissung goldener Berge auf Erden, verbunden mit falschem Pazifismus und völliger Materialisierung der Gottes - Idee“. Um dem Schreiben besonderen Nachdruck zu verleihen, ver wies der unterzeichnende Pfarrer Rocka auf die angeblichen jüdischen Finanzquellen im Hintergrund der IBV.133 Auch der 1887 gegründete „Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch - protestantischen Interessen“ stieß in dasselbe Horn und trat am 12. April 1933 an das preußische Kultusministerium mit einer Verbotsforderung heran.134 Gleichsam bestätigt wurden diese Vorwürfe durch eine Werbe - und Verkündigungskampagne der Bibelforscher, die – wie jedes Jahr – im Vorfeld des Gedächtnismahles vom 8. bis 16. April 1933 stattfand und in deren Verlauf 2,5 Millionen Broschüren verteilt wurden.135 Besonders die Verbreitung der Broschüre „Die Krise“ erregte die Gemüter, prophezeite in ihr doch der WTG130 „Plauener Kirchenfreunde“ an Preußisches Ministerium für Volksbildung, Abt. G, vom 22. 4.1933 ( BArch, R 5101, 23420, Bl. 211). Derartige Forderungen sind auch vom Präsidenten des Evangelisch - lutherischen Landeskirchenamtes Sachsen in Bezug auf die Neusalemsbewegung in einem Schreiben an das Sächsische Innenministerium vom 9.12.1933 überliefert ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB II 1399, A. 19, Bl. 1). 131 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 89. 132 Pastor Teichmann aus Roschkowitz / Oberschlesien an Landratsamt Kreuzburg vom 12. 4.1933 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 209). 133 Kirchlich - Sozialer Bund an Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 24. 4.1933 ( ebd., Bl. 196). 134 Vgl. Preußisches Kultusministerium an Preußisches Innenministerium vom 19. 5.1933 (ebd., Bl. 206). Der „Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch- protestantischen Interessen“ war am Ausgang des Kulturkampfes gegründet worden und kämpfte um die protestantisch - nationale Identität des Deutschen Reiches. Vgl. Heinrichs, „Vorwärts“ in der Arbeit, S. 274. 135 Graffard / Tristan, Die Bibelforscher und der Nationalsozialismus, S. 23.

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Präsident Rutherford eine baldige Diktatur. Eigentlich als Warnung für Amerika gedacht, wurde diese Ankündigung in Deutschland natürlich auf die „nationale Erhebung“ bezogen.136 Wie Gebhard richtig bemerkt, fiel in den Wochen der fast flächendeckenden Loyalitätserklärungen politischer, religiöser oder anderweitiger Vereine und Gruppierungen eine derartige Kampagne besonders negativ ins Gewicht.137 Von Verbotsforderungen und der Bestätigung der angeblichen Staats - und Religionsfeindlichkeit der Schriften durch das Gestapa unter Druck gesetzt, gleichzeitig aber in der Frage des weiteren Vorgehens wegen der notwendigen außenpolitischen Rücksichtnahmen irritiert, trafen am 29. Mai 1933 Vertreter des Preußischen Kultusministeriums, des RMdI sowie Gestapa - Chef Rudolf Diels mit Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Evangelischen Oberkirchenrates, der Apologetischen Centrale138 und des Berliner Bischöf lichen Ordinariates zu einer Besprechung in den Räumen des Gestapa zusammen. Ziel des Treffens war nach Aussagen des Leiters des Gestapa, Diels, die „Ansicht der beteiligten Ressorts und sonstigen interessierten Stellen zu der Frage kennenzulernen, welche Haltung der Staat gegenüber den ‚Ernsten Bibelforschern‘ [...] einnehmen solle“. Diels, wie auch der Referent des RMdI, wiesen nochmals auf die außenpolitischen Schwierigkeiten eines möglichen Verbotes hin, wohingegen die Vertreter der Evangelischen Kirche einhellig erklärten, dass „der entscheidende Abwehrkampf von der Kirche [...] selbst geführt werden müsse“, ein Verbot aber wegen der „grundsätzlich destruktiven Tendenz“ zu begrüßen sei. Besonders der Vertreter des Preußischen Kultusministeriums, Dr. Weber, verwies auf die generelle Rechtfertigung eines Verbotes, da die Bibelforscher einerseits eine staats - , kirchen - und christentumsfeindliche Propaganda betrieben, andererseits neuerdings Berichte eingingen, dass „Anhänger des politischen Kommunismus unter dem Deckmantel der ‚Ernsten Bibelforscher‘ ihre politische Zersetzungsarbeit fortzusetzen suchen“. Nachdem sich die Gesprächsteilnehmer im Allgemeinen günstig über das Verbot äußerten, wurde vereinbart, vor einem endgültigen Beschluss vom Gestapa Berichte sämtlicher Landespolizeistellen und vom Kultusministerium die Stellungnahme der kirchlichen Behörden einzufordern.139 Nun schaltete sich auch der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, der Breslauer Erzbischof Kardinal Bertram, in die Diskussion ein : Vom Münchner Ordinariat ließ er sich die bayerische Verbotsverfügung übermitteln und war im Begriff einen gleichlautenden Antrag auch für Preußen zu stellen. Für weiterführende Verhandlungen benannte er den Breslauer Domkapitular Piontek als

136 Vgl. auch Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 109. 137 Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 488. 138 Zur Rolle der Apologetischen Centrale beim Verbotsprozess vgl. Pöhlmann, Kampf der Geister, S. 215. 139 Vermerk des Vertreters des preußischen Kultusministeriums, Gerichtsassessor Dr. Weber, über das Treffen vom 30. 5.1933 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 217 f.).

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seinen Vertreter.140 Schon in der zweiten Juniwoche trafen sich die Gesprächsteilnehmer erneut. Diesmal war das preußische Kultusministerium Tagungsort. Die dortige Behörde war mit sieben Personen vertreten, unter ihnen der Führer der „Deutschen Christen“, Pfarrer Joachim Hossenfelder. Wieder betonten die kirchlichen Vertreter die „Unruhe und Zersetzung innerhalb der christlichen Bevölkerung, die durch das Vorgehen der ‚Ernsten Bibelforscher‘ herbeigeführt worden sei“, woraus „eine große Gefahr für das deutsche Volkstum“ entstünde. Aus diesem Grund sei ein Verbot „dankbar zu begrüßen“. Mit Verweis auf das vorliegende Material, das vorwiegend kirchlichen Ursprungs sei und allein die kirchenfeindliche Tendenz der Bibelforscher belege, meinte Assessor Dr. Ganske vom Gestapa, eine Staatsgegnerschaft nicht klar nachweisen zu können. Dem widersprachen sein Vorgesetzter Diels und der Ministerialrat aus dem RMdI Fischer entschieden, ohne allerdings schlüssige Belege vorzubringen. Fischer betonte beispielsweise „die starke Anlehnung [...] an das Gedankengut des Judentums und an dessen Zukunftshoffnungen“, während Diels entgegen den früher geäußerten Erkenntnissen über eine angebliche Unterwanderung durch Kommunisten feststellte, „dass vielfach ein enger Zweckverband zwischen den ‚Ernsten Bibelforschern“ und den sozialistischen Freidenkern bestanden habe“. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes, Bülow - Schwante, betonte aber, bei einem Verbot müsse mit Rücksicht auf das Ausland deutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass „ein starker kommunistischer Einschlag bestehe“. Die außenpolitischen Schwierigkeiten glaubte Diels auch dadurch mindern zu können, dass man von einer Vermögensbeschlagnahme Abstand nehme und der Wachtturmgesellschaft erlaube, ihre Wirtschaftsbetriebe ins Ausland zu verlegen. Da es bei diesen Verhandlungen neben der Internationalen Bibelforscher - Vereinigung auch um den vom ehemaligen Generalquartiermeister des kaiserlichen Heeres von Ludendorff geführten Tannenberg - Bund ging, fällt die unterschiedliche Behandlung ins Auge : Obwohl die großen Kirchen auch dessen Verbot forderten, eine Nähe zu Freidenkern und Religionslosen festgestellt wurde und sogar Gestapa - Chef Diels im Bund einen „Sammelpunkt für schärfste Kritiker an der bestehenden staatlichen Ordnung“ sah, setzten sich das preußische Kultus - bzw. Innenministerium stark für das Weiterbestehen ein. Die angeführten Gründe waren fadenscheinig : Mit einem Verbot würde „möglicherweise nur der entgegengesetzte Effekt erzeugt“. Auch aus Rücksicht „auf den verdienten Feldherrn“ und weil die Mitglieder des Tannenberg - Bundes „zum Teil ehrenwerte Männer“ seien, die „nur durch eine kleine Verirrung auf die schiefe Bahn geraten“ waren, sollte von einer Auf lösung abgesehen werden.141 Der Einfluss der Kirchen auf die neuen Machthaber stieß in diesem Fall an seine Grenzen. Der radikale Nationalismus überwog in der Bewertung des Tannenberg - Bundes dessen philo140 Vgl. Breslauer Erzbischof, Kardinal Bertram, an preußischen Kultusminister vom 3. 6.1933 ( ebd., Bl. 226). 141 Niederschrift über die am 9. 6.1933 im preußischen Kultusministerium abgehaltene Besprechung, verfasst von Dr. Weber, Gerichtsassessor im Kultusministerium, am 30. 6.1933 ( ebd., Bl. 234–237).

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sophisch - religiöse „Verirrung“. Bei den „internationalen“ Bibelforschern fanden sich keine „Milderungsgründe“. Zwei Wochen später, am 24. Juni 1933, wurde das entsprechende Verbot der IBV für Preußen auf Grund der „Reichstagsbrandverordnung“ erlassen. In der vom Staatssekretär im Preußischen Innenministerium Ludwig Grauert unterzeichneten Verfügung wurde der Religionsgemeinschaft eine „unverkennbare Hetze gegen die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen“, sowie „kulturbolschewistische Zersetzungsarbeit“ vorgeworfen. Angebliche Angriffe gegen den Nationalsozialismus und seine führenden Vertreter galten als Beleg, dass die Bibelforscher den „christlich - nationalen Staat als einen markanten Gegner“ ansahen. Außerdem stünde die IBV im Begriff, sich zu einer „Auffang - Organisation für die verschiedensten staatsfeindlichen Elemente“, insbesondere „Anhänger ehemaliger kommunistischer und marxistischer Parteien und Organisationen“ zu entwickeln.142 In seiner Begründung klarer und direkter war ein Bericht der Bremer Polizei zum Stand der Bibelforscherfrage. Dieser war im Oktober 1933 erstellt worden und zeigt eindrücklich, dass nun semantische Rücksichtnahmen viel weniger nötig waren als noch im Sommer. Durch „ihre Lehre von der Nächstenliebe und Gemeinschaft nach der Art der ersten Christen“ arbeiteten die Bibelforscher, ob gewollt oder ungewollt, dem Kommunismus in die Hand.143 Da sich ihre Anhängerschaft vor allem aus minderbemittelten Schichten zusammensetze, „kann bei diesen nur der Eindruck erweckt werden, dass sie durch diesen Kampf eine bessere soziale Stellung erlangen würden“. Aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den weltlichen Obrigkeiten ergäbe „sich für die Anhänger die Aufforderung zur Teilnahmslosigkeit bezw. zum passiven Widerstand“. Dies sei jedoch eine Einstellung zum Staat, „die in heutiger Notzeit, wo die aktive Mitarbeit jedes einzelnen Volksgenossen Vorbedingung zum erfolgreichen Aufbau des Staates und Volkswohls ist, eine grosse Gefahr bedeutet, denn alle, die bei diesem Aufbau abseits stehen, sind den Einflüssen staatsfeindlicher Elemente besonders ausgesetzt“. Die internationale Einstellung und der damit verbundene Pazifismus rauben „den Anhängern jeden Sinn für die deutsche Volksgemeinschaft“.144 Diese Vorwürfe waren natürlich in sich widersprüchlich. Einerseits wurde den Bibelforschern vorgeworfen, ihre Anhänger zum sozialen Kampf aufzustacheln. Andererseits würden sie ihre Anhänger durch das Versprechen paradiesischer Zustände von der Teilnahme am „Aufbau“ abhalten. Mit dem Verbot der IBV in Preußen – die noch verbliebenen Länder schlossen sich diesem bald an145 – erreichten die Gegner der Bibelforscher in nur fünf 142 Verbotsverfügung zit. in Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 75–77. 143 „Durch ihre Bekämpfung des Parlamentarismus und des Kapitalismus sowie des Privatbesitzes durch ihre Lehre von der Nächstenliebe und Gemeinschaft nach der Art der ersten Christen stimmen sie in diesem Punkt mit den Kommunisten überein [...].“ 144 Offizialbericht des Polizeisenators von Bremen, Theodor Laue, zur Beschwerde an den Präsidenten des Senats und Regierenden Bürgermeisters Dr. Richard Markert vom 6.10.1933 ( WTA, Dok 06/10/33). 145 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 97 f.

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Monaten seit Machtantritt der Nationalsozialisten ein Ziel, das Kirchen und völkische Verbände während der Weimarer Republik jahrelang vergeblich gefordert hatten und das an den Rahmenbedingungen einer weitgehend rechtstaatlichen Ordnung scheitern musste. Ob die wenigen schon vor 1933 in den Chor der völkischen und kirchlichen Bibelforschergegner einstimmenden nationalsozialistischen Stellungnahmen zur IBV die „Richtlinien für das notwendig werdende Einschreiten“ andeuteten146 oder ob die auf vielen Gebieten geschaffene Erwartungshaltung, nun mit den Gegnern der Systemzeit abrechnen zu können, den gesellschaftlichen Druck schuf, dem die Behörden ( zumindest in Preußen ) folgen mussten, sei dahingestellt. Festgestellt werden kann, dass die Forderungen der Kirchen nach einem Verbot die in bestimmten – zumeist betont kirchlichen – NSDAP - Kreisen bestehenden Ressentiments gegen die Bibelforscher verstärkte. Damit waren die neuen Machthaber, die in der Phase der Herrschaftsdurchsetzung auf ein einvernehmliches Verhältnis zu den großen Kirchen angewiesen waren, auf ein im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften schärferes Vorgehen festgelegt.147 Nach einer derart intensiven Vorbereitung und der Konsultation informierter kirchlicher Kreise muss die Verbotsverfügung des Preußischen Innenministeriums in ihrer Fehlerhaftigkeit überraschen. Es wurde nicht nur versäumt, auf die Anregungen des RMdI nach einem ländereinheitlichen Verbot einzugehen, auch der avisierte Verzicht auf eine Vermögensbeschlagnahme wurde nicht eingehalten. Die völlig unverständliche Bezeichnung „Wachtturm - , Bibel - und Traktatgesellschaft Lünen - Magdeburg der Neuapostolischen Sekte“ als Adressaten der Verfügung verdeutlicht einen „erstaunlich mangelhaften sektenkundlichen Sachverstand“148 im Preußischen Innenministerium. Diese Nachlässigkeiten und die ebenso unterbliebene Veröffentlichung in der Preußischen Gesetzessammlung149 sollten in den folgenden Monaten und Jahren zu vielfältigen Schwierigkeiten bei der Verbotsdurchsetzung führen.

146 Dies lässt zumindest der Bericht der Bremer Polizei vermuten. Vgl. Offizialbericht des Polizeisenators von Bremen, Theodor Laue, vom 6.10.1933 ( WTA, Dok 06/10/33). 147 Vgl. Garbe, Sendboten, S. 156. 148 Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 166. 149 Bei dem Verbot vom 24. Juni 1933 handelte es sich um eine Anordnung, die an eine unbestimmte Zahl von Personen gerichtet war und deshalb nach §§ 32, 35 des Preußischem Polizeigesetzes, auf das sie sich berief, hätte veröffentlicht und deklariert werden müssen. Da dieses unterblieb, richtete sich das Verbot als „Polizeiverfügung“ eigentlich allein an die zwölf eingetragenen Mitgliedern der „Internationalen Bibelforscher-Vereinigung, deutscher Zweig e. V.“. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 149.

50 1.3

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Verbotsdurchsetzung mit Schwierigkeiten

Das Verbot in Preußen wurde den dortigen Polizeibehörden am 27. Juni 1933 per Funkspruch bekannt gegeben.150 Zwei Tage später erfolgte die Presseinformation, während der Generalbevollmächtigte der WTG erst am 3. Juli offiziell Nachricht über die Verbotsverfügung erhielt.151 Angesichts des politischen Klimas nach einem halben Jahr nationalsozialistischer Regierung war in der deutschen Presse keine Kritik am Vorgehen gegen die Bibelforscher zu erwarten. Viele nationalsozialistische, völkische oder kirchliche Blätter berichteten und verwiesen nochmals auf die Gefahren. Während beispielsweise die nationalsozialistische „Schleswig - Holsteinische Tageszeitung“ anhand der auf der Verbotsverfügung beruhenden Pressemitteilung des preußischen Innenministeriums die „offizielle“ Gefahrenzuschreibung kolportierte,152 ließ es sich der „Westdeutsche Beobachter“ aus Köln nicht nehmen, den Bibelforschern „eine abgrundtiefe religiös - sittliche Verkommenheit, die dem Kommunismus in jeder Art die Hand reichte“, anzudichten, um am Ende des Beitrages zu frohlocken, dass „die Herrlichkeit der kommunistischen Bibelverdreher und Jehovazeugen [...] in Preußen ein unrühmliches Ende gefunden“ hätte.153 Die im Auftrag der Apologetischen Centrale herausgegebene Zeitschrift „Wort und Tat“ meinte, „keine Stimme des Bedauerns [ würde ] laut werden, dass es der Sekte unmöglich gemacht ist, die Gemeinden noch länger zu verwirren“.154 Auch das von DC - Führer Pfarrer Hossenfelder herausgegebene Blatt „Evangelium im Dritten Reich“ begrüßte das Verbot der „marxistischen ‚Bibelforscher‘“.155 Trotzdem die Bestrebung um ein Verbot der Bibelforscher von Erfolg gekrönt war, bemühten sich langjährige Feinde der IBV aus dem völkische Lager ihre Weisheiten weiter zu verbreiten. So räumte der vor 1933 im antisemitischen „Hammer“ und der Zeitschrift „Ariosophie“ publizierende Hans Hauptmann156 in völliger Verkennung der Realität dem Verbot der IBV „in der langen Reihe der vom Nationalsozialismus klar erkannten staatlichen Notwendigkeiten, die 150 Anordnung des Gestapa vom 27. 6.1933. Abgedruckt in Klein ( Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Hessen - Nassau, S. 612. 151 Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 260, sowie Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 102. 152 Schleswig - Holsteinische Tageszeitung vom 30. 6.1933. Zit. in Imberger, Widerstand „von unten“, S. 255. 153 Zum Verbot der ernsten Bibelforscher. Was sich hinter den frommen Biedermännern verbarg. In : Westdeutscher Beobachter vom 4. 7.1933. 154 Schwanengesang der Ernsten Bibelforscher. In : Wort und Tat. Zeitschrift für evangelische Wahrheit und kirchliche Verantwortung, hg. im Auftrag der Apologetischen Centrale, 9 (1933) 8. Zit. in URL : http ://www.manfred - gebhard.de /1933/ Schwanengesang. htm (30. 9. 2004). 155 Evangelium im Dritten Reich, Ausgabe vom 9. 7.1933. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 102. 156 Was wollen die ernsten Bibelforscher. In : „Ariosophie“, 4 (1931), S. 195–198; vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 362 f.

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unsere Regierung mit bewunderungswürdiger Folgerichtigkeit Schritt um Schritt verwirklicht“, einen wichtigen Platz ein. Das Verbot „dieses getarnten Judenvortrupps“ wäre eine „Großtat zur Rettung der arischen Menschheit“.157 Auch Karl Gerecke, deutsch - christlicher Pastor und NSDAP - Mitglied, Verfasser der Schrift „Die Gotteslästerungen der ‚Ernsten Bibelforscher‘“, glaubte im August 1933 in einer Stellungnahme an Hitler, diesen zur Unnachgiebigkeit gegenüber der Religionsgemeinschaft veranlassen zu müssen. Anlass für diesen Vorstoß war der Erhalt der Wilmersdorfer Erklärung der Bibelforscher. Gerecke hegte wohl die Befürchtung, die nationalsozialistische Führung könnte das Verbot wieder rückgängig machen und beschwor daher aufs Neue die Gefahren der Glaubensgemeinschaft. Nannte er den Glauben der Bibelforscher 1931 einen „um sich fressenden, kirchenfeindlichen Krebs jüdischer Volksverhetzung“,158 unterstellte er nun, die von den Bibelforschern erwartete letzte Schlacht von Harmagedon sei nichts anderes als ein „durch die wunderbare Revolution“ der Nationalsozialisten verhindertes „blutiges, bolschewistisches Morden“, dessen „Mordlisten [...] bei Ausbruch der nationalsozialistischen Retterrevolution schon aufgestellt“ waren.159 Mit Bekanntgabe des Verbotes wurden auch die Durchsuchung der Ortsgruppen und Geschäftsstellen der IBV sowie die Beschlagnahme allen staatsfeindlichen Materials angeordnet.160 Dieses Vorgehen entsprach dem üblichen Prozedere bei Verboten,161 weil es die beste Gewähr dafür bot, die illegale Arbeit durch die Beschlagnahme der materiellen Mittel im Keime zu ersticken.162 Allerdings kam es bei diesen Durchsuchungen und Razzien vorerst nicht zu schweren Übergriffen der Polizei, wie sie im Arbeitermilieu auftraten.163 In allen Teilen des Reiches wurden außerdem die Leiter der Bibelforschergruppen vom Verbot der weiteren Betätigung informiert und die örtlichen Behörden von ihren Stadt - und Landräten oder Amtshauptmännern zu Durchsuchungsaktionen bei bekannten Bibelforschern angehalten.164 Wie ein Schreiben des Bürgermeisters 157 Hans Hauptmann, Hinter den Kulissen der Zeugen Jehovas. In : Heilbronner Tagblatt vom 14. 7.1933. 158 Karl Gerecke, Die Gotteslästerungen der „Ernsten ‚Bibel‘ - Forscher“, Leipzig 1931, S. 159 f. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 75. 159 Zwei Anklagepunkte zu der Eingabe der „Ernsten Bibelforscher“ vom 25. Juni 1933 an den Herrn Reichskanzler, von Pfarrer ( Karl ) Gerecke, Münchehof, am Harz, o. D., als Anhang zum Schreiben von Pastor Hahn, Mitglied des Preußischen Landtages, an den Reichskanzler vom 21. 8.1933 ( BArch, R 43, II, 179, Bl. 147–168, hier 159). 160 Vgl. Offizialbericht des Polizeisenators von Bremen, Theodor Laue, vom 6.10.1933 (WTA, Dok 06/10/33). 161 Vgl. Halbmonatsbericht des Regierungspräsidenten von Hannover an das Preußische Innenministerium vom 6. 7.1933, darin wird eine vom Berliner Gestapa angeordnete „größere Aktion“ gegen die IBV - Gruppen, den Deutschnationalen Kampfring, die Schwarze Front und die SPD - Gruppen angeordnet, die alle in diesem Zeitraum verboten oder aufgelöst wurden. In : Mlynek ( Bearb.), Gestapo Hannover meldet, S. 62 f. 162 Vgl. Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 169. 163 Vgl. Paul, Staatlicher Terror, S. 153. 164 Vgl. Polizeiamt Bischofswerda an den dortigen Stadtrat vom 5. 5.1933 über eine Hausdurchsuchung ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 4203, Bl. 180);

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des sächsischen Augustusburg verdeutlicht, warteten die lokalen Verwaltungen nicht immer auf derartige Anweisungen, sondern führten Haussuchungen eigenständig durch.165 Bei diesen Durchsuchungen konnte sich die Polizei vielerorts auf Namenslisten stützen, die schon vor 1933 von den Behörden erstellt wurden, außerdem waren bekennende Bibelforscher gerade in ländlichen Gebieten bekannt. Dabei hatten die Polizeibeamten vor Ort, auf die sich die personell schwache politische Polizei stützte, eine kaum begrenzte Definitionsmacht. Ihr Vorgehen war abhängig von persönlichen Gegnerstereotypen und gesellschaftlichen Vorurteilen.166 Die Mithilfe der Bevölkerung, zumal aus Kirchenkreisen, unterstützte die Polizeiarbeit. So wiesen beispielsweise der Passauer Bischof167 sowie der evangelische Oberkirchenrat in Stuttgart an, den Polizeibehörden jede Zuwiderhandlung gegen das Verbot zu melden.168 Auch die Parteibasis der NSDAP beteiligte sich an der Über wachung und Denunziation von Bibelforschern. Polizeirapporte aus Hagen berichteten über Anzeigen illegaler Versammlungen durch SA - Männer. Die Polizei löste die Versammlungen auf und nahm die Personen vorläufig fest. Doch schienen die angetroffenen Gläubigen den Beamten nicht gefährlich genug. Denn nach einer Belehrung über die Strafbarkeit derartiger Zusammenkünfte wurden die Personen wieder entlassen, zumal sich die angeblichen abfälligen Äußerungen über das „Dritte Reich“ nicht nachweisen ließen.169 Auch in anderen Gegenden zeigten sich „Motivationsdefizite“ bei der Verfolgung, besonders wenn die betreffenden Bibelforscher in ihren Gemeinden einen guten Leumund besaßen und der Vorwurf einer „offenen Tätigkeit im kommunistischen oder sonst staatsfeindlichen Sinn nicht nachzuweisen“ war.170 Der Leiter der Staatspolizeistelle Kiel fühlte sich daher zu einer Klarstellung bemüßigt : Das massenhaft beschlagnahmte Schriftenmaterial hätte sich „insofern als staatsfeindlich erwiesen, als es geeignet ist, die Bevölkerung in staatsablehnendem Sinne zu beeinflussen und Verwirrung in sie hineinzutragen“.171 Die Anhänger der IBV verhielten sich vorerst auch ruhig. Der Beauftragte des WTG - Präsidenten Rutherford, Martin C. Harbeck, wies die Gläubigen an, sich dem Verbot zu beugen „bis der Herr [...] wiederum Gelegenheit gibt, zur

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Amtshauptmannschaft Flöha an den Stadtrat von Augustusburg vom 24. 4.1933 (WTA, Dok 24/04/33). Vgl. Antwort des Stadtrates von Augustusburg an die Amtshauptmannschaft Flöha vom 27. 4.1933, dass bereits am 21. 4.1933 bei den in Augustusburg lebenden Bibelforschern Durchsuchungen durchgeführt wurden ( WTA, Dok 27/04/33). Vgl. Jessen, Polizei und Gesellschaft, S. 32 f. Vgl. Oberhirtliches Verordnungsblatt für die Diözese Passau vom 6. 5.1933, S. 50 f. Vgl. Rundschreiben vom 20. 6.1933 ( WTA, Dok 20/6/33). Bericht des 3. Polizeireviers in Hagen vom 10. 7.1933 ( WTA, Dok 10/07/33) und Bericht des 6. Polizeireviers in Hagen vom 11. 7.1933 ( WTA, Dok 11/07/33). Vgl. Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 167, und Kühl, Widerstand im Dritten Reich, S. 168. Zit. nach Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 167.

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Rechtfertigung seines Namens beizutragen“.172 Dieses Stillhalten sollte einerseits die Bemühungen der deutschen Leitung unterstützen, die Verbotsgründe entkräften zu können173 bzw. das Verbot auf dem Rechtswege anzufechten,174 andererseits die wieder in Gang gekommenen Verhandlungen zwischen dem US- amerikanischen Generalkonsulat und dem Preußischen Innenministerium flankieren.175 Es war bezeichnend, dass die erste größere Aktion der Bayerischen Politischen Polizei durch Flugblattaktionen freier Bibelforschergruppen ausgelöst wurde. In Augsburg lebende Anhänger dieser von der IBV abgesonderten Richtung versandten neben aus dem Ausland bezogenen Schriften auch ein maschinenschriftliches Flugblatt unter dem Titel „Bis wann regiert Hitler ?“ In dieser Flugschrift wurde der Sturz Hitlers aus den biblischen Schriften für den 27. Mai 1934 errechnet.176 Verfasser war ein in Thüringen lebender ehemaliger Heilpraktiker, der diese Prophezeiungen per Post in Thüringen und Sachsen, aber auch nach Preußen, Württemberg und Baden verbreiten ließ.177 Der „ver worrene Inhalt“ der Schrift ließ die bearbeitenden Beamten fälschlicher weise darauf schließen, dass die Verfasser zu den Ernsten Bibelforschern gehörten.178 Trotz dieser Zurückhaltung und der scheinbaren Nachlässigkeit auf Seiten der Behörden sind auch schon im ersten Jahr der NS - Herrschaft Bibelforscher in Schutzhaft genommen worden.179 So berichtete ein Freitaler Bibelforscher, dass er während seiner Missionstätigkeit noch vor dem Verbot für zwei Tage in Schutzhaft genommen wurde.180 Nachdem auf Druck der US - amerikanischen Administration das Vermögen der WTG im September 1933 freigegeben werden musste, wies ein Rundschreiben des Gestapa an, „diejenigen Personen, die aus Anlass des Einschreitens gegen die Bibelforscher in Schutzhaft genommen worden sind, zu entlassen.“181 Die Annahme, dass diese Aufforderung an die unteren Stapostellen nicht ohne Grundlage erging, scheint plausibel. Zu einer 172 Rundschreiben Harbecks vom 28. 8.1933 ( WTA, Dok 28/08/33). 173 Dem dienten verschiedene Eingaben der deutschen IBV - Leitung bzw. ihrer Rechtsbeistände und auch die „Declaration of Facts“, angenommen auf einer Großveranstaltung in Berlin - Wilmersdorf am 25. 6.1933. Abgedruckt in Yonan, Jehovas Zeugen, S. 64–73. 174 Der Versuch, das Verbot vor dem Verwaltungsgericht anzufechten, scheiterte am 15. 7. 1933. Das OVG Magdeburg entschied, dass eine Überprüfung von Anordnungen auf Grund der ReichstagsbrandVO nicht möglich sei. 175 Vgl. folgenden Abschnitt. 176 Vgl. Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 624 f. 177 Vgl. Schreiben des Polizeipräsidiums Chemnitz, Politische Abteilung, vom 6.1.1934 und des Polizeipräsidiums Gera vom 8. 9.1934 ( SächsHStAD, SG Freiberg, 5 StA 224/34, unpaginiert ); Schreiben des Polizeipräsidiums Leipzig, Abt. IV, vom 29.1.1934 und Schreiben des Gestapa Sachsen vom 21.2.1934 (ebd., 6 StA 484/34, Bl. 1 f. und 3). 178 Vgl. Schreiben des Polizeipräsidiums Leipzig, Abt. IV, vom 29.1.1934 ( ebd.). 179 In diesem Punkt muss also das Fazit von Reimer Möller für den schleswig - holsteinischen Landkreis Steinberg korrigiert werden. Vgl. Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 224. 180 Vgl. Befragung des Bibelforschers Leopold Klügel im Dresdner Polizeipräsidium am 17. 4.1934 ( SächsHStAD, Polizeipräsidium Dresden, Akten - Nr. 313, Bl. 4). 181 Staatspolizeistelle Dortmund an alle Landräte und Ortspolizeibehörden im dortigen Bezirk vom 23.10.1933 ( WTA, Dok 23/10/33).

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ersten Verhaftungswelle kam es nach der mit einer Volksabstimmung verbundenen Reichstagswahl vom 12. November 1933.182 In Sachsen wurden z. B. bei den bekannten Bibelforschern in Reaktion auf deren massenweise Wahlverweigerung Hausdurchsuchungen durchgeführt. Bei jedem Hinweis auf Weiterbetätigung – dies war zumeist der Besitz von Literatur – wurden die Betreffenden in Schutzhaft genommen.183 Die unkoordinierten Länder verbote erzeugten jedoch Lücken bei deren Durchsetzung. So reisten beispielsweise sächsische Bibelforscher noch nach dem Verbot ihrer Glaubensgemeinschaft in Sachsen zum IBV - Kongress nach Berlin - Wilmersdorf, da in Preußen die IBV noch legal war.184 In Württemberg war nur die öffentliche Werbetätigkeit und der Verkauf von Druckschriften, nicht aber die „Pflege der Weltanschauung innerhalb des Kreises ihrer Angehörigen“ verboten worden.185 Auch die IBV - Zeitschrift „Goldenes Zeitalter“ konnte noch bis Ende Juni 1933 vertrieben werden, da diese in einem separaten „Gezet - Verlag“ herausgegeben wurde, der nicht in den einzelnen Verfügungen erwähnt wurde.186 Vor allem aber die nach Verhandlungen der WTG bzw. der US - amerikanischen Vertretung mit den deutschen Behörden erfolgte Aufhebung der Vermögensbeschlagnahme stellte die Repressionsorgane vor große Schwierigkeiten. Damit war die Wachtturm - Gesellschaft faktisch anerkannt, während die IBV verboten blieb.

1.4

Verhandlungen über eine Verbotsaufhebung

Als vier Tage nach dem Verbot ca. 30 SA - Leute in Übereinstimmung mit einer landesweiten Durchsuchungs - und Beschlagnahmeanordnung des preußischen Gestapa das Zweigbüro der Wachtturm - Gesellschaft in Magdeburg besetzten, intervenierte diese erneut bei den US - Behörden. Gleichzeitig sandte sie den Leiter ihres Zentraleuropäischen Büros, Martin C. Harbeck dorthin, um vor Ort mit den zuständigen deutschen Stellen als Bevollmächtigter der Gesellschaft zu verhandeln.187 Diese parallelen Konsultationen erreichten im Laufe der folgenden 18 Monate überraschende Entwicklungen und Fortschritte, endeten aller182 Vgl. Abschnitt II.1.6. 183 Vgl. Acht Schutzhäftlinge nach Colditz gebracht. In : Burgstädter Anzeiger und Tageblatt vom 23.11.1933; Gendarmerieposten Zschopau an StA in Chemnitz vom 13.12.1933 (SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 66, 6 StA 3245/33). 184 Vgl. Urteil des Reichsgerichts vom 23.1.1934 (4 D 244/33) ( UaP Wolfgang Richter ). 185 Vgl. Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 35. 186 Vgl. Schreiben des Gezet - Verlages vom 18. 5.1933 ( SG Freiberg, Karton 64, 6 StA 2642/33); Vernehmungsprotokoll der Abteilung B des Dresdner Polizeipräsidiums vom 11. 9.1933 ( ebd.). Nach vielfältigen Zweifelsfragen galten diese Schriften nach Aussage des Magdeburger Regierungspräsidiums erst mit dem Verbot in Preußen als verboten. Vgl. Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums des Innern vom 27. 7.1933 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 4203, Bl. 189). 187 Führende Vertreter der deutschen Wachtturm - Gesellschaft, wie Paul Balzereit, waren in die ČSR geflüchtet.

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dings ergebnislos. Dieses letztendliche Scheitern verdeutlicht eindrücklich den Abschluss des Prozesses der nationalsozialistischen Machtetablierung und soll daher im Folgenden behandelt werden. Nachdem der Versuch, das Verbot im Ver waltungsstreitverfahren aufzuheben, mit der Abweisung einer Klage durch das Magdeburger Oberverwaltungsgericht am 15. Juli 1933 wenig erfolgreich war, erreichte der US - Konsul Geist vom Staatssekretär im Preußischen Innenministerium, Ludwig Grauert, die Zusage, die Beschlagnahme des WTG - Vermögens rückgängig zu machen. Allerdings galt diese Zusage nur unter der Voraussetzung der Aufgabe und Auf lösung des Magdeburger Hauptbüros.188 Am 25. Juli sandte der von der WTG beauftragte Rechtsanwalt Karl Kohl189 eine Beschwerde an das Preußische Innenministerium. Wie schon in der „Declaration of Facts“, einer während des Kongresses am 25. Juni 1933 in Berlin - Wilmersdorf angenommene Petition,190 versuchte Kohl in dieser Beschwerde die Begründungen der preußischen Verbotsverfügung zu widerlegen. Ja, er ging noch weiter und betonte die Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Bibelforscherbewegung. Diese lägen in der Forderung nach „Brechung der Zinsknechtschaft“, dem Christentum als Grundlage des Staates, dem Kampf gegen das „organisierte Christentum“191 und der feindseligen Stellung gegen die SPD und die KPD. Außerdem müsse es die 1,2 Millionen zählende Anhängerschaft der Bibelforscher - Vereinigung192 „im Innersten ihres Herzens auf das Tiefste verletzen“, dass Juden im Reiche die ungestörte Religionsausübung gestattet sei, einer „Vereinigung, die auf rein christlicher Grundlage sich aufbaut, [...] aber nicht“. Am Ende des Schreibens gab Kohl bekannt, dass WTG - Präsident Rutherford einer entschärften deutschen Fassung der WTG - Literatur zugestimmt habe. Als sich jedoch die Herausgabe weiter verzögerte, der US - Konsul Ende Juli 1933 im Innenministerium die Auskunft erhielt, dass die Beschlagnahme als Garantie für propagandistisches Wohlverhalten der WTG im Ausland diene und Ende August zudem noch die Bestände des Schriftenversandlagers vor den Toren Magdeburgs verbrannt wurden,193 schaltete sich das State Department 188 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 108. 189 Der Verteidiger Wilhelm Brückners im Hitler - Ludendorff - Prozess 1924 und nicht etwa der Hitlers wie die WTG 1933 und ZJ - Kritiker der Gegenwart behaupteten. 190 Abgedruckt in Yonan, Jehovas Zeugen, S. 64–73. Rutherford wünschte, dass dem Kongress so viele deutsche ZJ beiwohnten, dass sie alle deutschen Länder und Provinzen, jede IBV - Ortsgruppe sowie Millionen Leser überzeugend repräsentieren würden. Vgl. Wrobel, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, S. 123. 191 „Unter ‚organisiertem Christentum‘ versteht die Internationale Bibelforscher - Vereinigung das Zusammenarbeiten von Großfinanz, Parlamentarismus und politischer Geistlichkeit zum Zwecke, den Völkern den ‚christlichen Staat‘ vorzutäuschen.“ Beschwerde von Justizrat Karl Kohl an das Preußische Innenministerium vom 25. 7.1933, Bl. 6 (WTA, Dok 25/07/33). 192 Damit sind wohl die Abnehmer jeder Art von WTG - Literatur gemeint. Diese Zahl kursiert auch in späteren NS - Dokumenten. Vgl. Abschnitt II.2.6. 193 Vgl. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 85, und Eingabe von Harbeck vom 26. 9.1933 ( BArch, R 43, II, 179, Bl. 203–218, hier 205 f.).

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selbst ein. Außenminister Hull wies Botschafter Dodd an, bei der deutschen Regierung gegen die Verletzung des Freundschafts - , Handels - und Konsularvertrages zwischen Deutschland und den USA aus dem Jahre 1923 zu protestieren. Dieser Druck zeigte bei den preußischen Verantwortlichen Wirkung. Noch am 11. September 1933 hatte Ministerialdirigent Dr. Fischer aus dem Preußischen Innenministerium dem Kultusminister Rust bestätigt, dass die Geschäftsräume, Konten und Grundstücke sichergestellt worden seien, doch dürfen unter Aufsicht des Magdeburger Polizeipräsidenten der normale Geschäftsverkehr abgewickelt und laufende Geschäftsverbindlichkeiten aus den sichergestellten Konten erfüllt werden.194 Nun, am 28. September, wurde dann das gesamte WTG - Vermögen durch einen Erlass des Preußischen Innenministeriums unter dem Vorbehalt des weiter geltenden Betätigungsverbotes wieder freigegeben.195 Ein Schreiben des Innenministeriums an das dortige Kultusministerium begründete diesen Schritt ( der in Kirchenkreisen Unverständnis und Bedauern hervorrief )196 mit den aus dem „diplomatischen Schritt der amerikanischen Regierung erwachsenden Schwierigkeiten für das Deutsche Reich[, die ] größer sind als die Vorteile, die sich aus dem Fortbestand der Beschlagnahme des Vermögens [...] ergeben“.197 Nachdem die Vermögensfreigabe auch durch die Staatspolizeistellen im Oktober bekannt gegeben wurde, erfolgte in einigen Gebieten Preußens wirklich die Rückgabe des als amerikanisches Vermögen deklarierten Besitzes der örtlichen Bibelforschergruppen, speziell der Druckschriften. Wie schon kurz vor der Auf lösung der IBV in Deutschland wurden damit Literaturlager angelegt. Wichtiger als die Bestätigung der Vermögensfreigabe durch die Gestapo war deren Anweisung, „diejenigen Personen, die aus Anlass des Einschreitens gegen die Bibelforscher in Schutzhaft genommen worden sind, zu entlassen.“198 Für die WTG konnte die Freigabe des Vermögens nur ein Zwischenschritt hin zur Aufhebung des Betätigungsverbotes sein. Zusammen mit den beauftragten Anwälten wurde ein Arbeitsprogramm erarbeitet. Als nächste Ziele wurden die Zulassung der örtlichen Versammlungen und folgend deren Belieferung mit Literatur angepeilt.199 Geschickt nutzte sie die faktische Anerkennung der Gesellschaft unter gleichzeitiger Betonung der amerikanischen Unzufriedenheit über die Verstöße gegen den deutsch - amerikanischen Handelsvertrag und die dort erwogene Absicht, vor dem Haager Schiedsgericht über die Streitigkeiten

194 Vgl. Preußisches Innenministerium an Preußisches Kultusministerium vom 11. 9.1933 (BArch, R 5101, 23415, Bl. 277 f.). 195 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 108–111. 196 Vgl. ebd., S. 113. 197 Preußischer Innenminister an den Preußischen Kultusminister vom 5.10.1933 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 288). 198 Staatspolizeistelle Dortmund an alle Landräte und Ortspolizeibehörden im dortigen Bezirk vom 23.10.1933 ( WTA, Dok 23/10/33). 199 Balzereit an Harbeck vom 19.1.1934 ( WTA, Dok 19/01/34). Darin wurde auch die vage Hoffnung geäußert, dass der beauftragte Anwalt Dr. Auert einen „Gesamterfolg“ erreichen könnte, „den er ja für die Dir bekannte Summe in Aussicht gestellt hat“.

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zu verhandeln, für Vorstöße bis in höchste Regierungs - und Parteikreise aus. Im Januar 1934 liefen mündliche Kontakte der Gesellschaft zum „ersten politischen Berater aller Angelegenheiten im Vorzimmer des Ministers Hess“, Dr. Heinrich Heim,200 zum SA - Adjutanten Hitlers, Wilhelm Brückner,201 und zu Gestapochef Rudolf Diels.202 Neben diesen Verhandlungen diente der legale Status zur Koordinierung der Aktivitäten in den verschiedenen Ortsgruppen. Ehemalige Mitarbeiter der Magdeburger Zentrale oder andere Funktionäre betätigten sich als Reisevertreter für Bibeln, die von der „Britischen Bibelgesellschaft“ bezogen wurden, oder für andere Artikel und konnten so einerseits den Kontakt zu den Anhängern aufrechterhalten, andererseits aber auch den für das Glaubensleben notwendigen kerygmatischen Aktivitäten Rechnung tragen. Ebenso wichtig für den Zusammenhalt der früheren Anhänger war die Arbeit des Rechtsbüros der Magdeburger Zentrale. So wurden von ihm nicht nur akribisch alle Berichte über Verhaftungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere Übergriffen gesammelt ( die dann später in Veröffentlichungen der Glaubensgemeinschaft über die Lage in Deutschland Verwendung fanden ), sondern es fungierte auch als Rechtsberatungsstelle, das die Angeklagten aus den eigenen Reihen mit Anwälten und Informationen versorgte.203 Als durch eine Verfügung des Preußischen Justizministeriums vom 9. Juni 1934204 die Vermögensfreigabe amtlicherseits veröffentlicht wurde, ließ die WTG beglaubigte Kopien dieser Verfügung samt Begleitschreiben an beauftragte Bibelforscher senden, damit diese erneut bei den lokalen Behörden zwecks Herausgabe des Vermögens vorstellig werden. Bei diesen scheint die Ansicht bestanden zu haben, dass das Vermögen nunmehr ein zweites Mal freigegeben worden sei. Obwohl das Gestapa schon am 9. Dezember 1933 angeordnet hatte, dass künftig die Herausgabe zu unterbleiben habe, war das Vorhaben der Bibelforscher teilweise von Erfolg gekrönt. Die Bayerische Politische Polizei sah sich am 14. Juli veranlasst, dem durch ein Rundschreiben entgegenzusteuern. Es bestehe kein Anlass, das beschlagnahmte Vermögen auszuhändigen. Im preußischen Gestapa war man der gleichen Meinung, verwies allerdings auf die Möglichkeit, nach einem Antrag der WTG den früheren Besitz im Auslande zu verwenden.205 200 201 202 203

Dr. Heinrich Heim (1900–1988), Ministerialrat im Stab Stellvertreter des Führers. Wilhelm Brückner (1884–1954), langjähriger Chefadjutant von Adolf Hitler. Balzereit an Harbeck vom 19.1.1934 ( WTA, Dok 19/01/34). Vgl. „Gerichtsverfahrensordnung“ der WTG, o. D. ( SächsHStAD, SG Freiberg Js / SG 1197/35); auch Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 124 f.; Verbots- und Beschlagnahmeanordnung des Sächsischen Staatsministers des Innern vom 27.12.1934 betreffend der Druckschrift „Aufforderung zur Benutzung der von den Bibelforschern eingerichteten Rechtsberatung“ ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 4203, Bl. 156). 204 Deutsche Justiz, 96 (1934), S. 757. 205 Runderlass der BPP vom 14. 7.1934 bzw. des Gestapa vom 15. 9.1934. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 125 f.

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Am 17. Juli 1934 intervenierte das US - Generalkonsulat erneut beim Reichsminister des Innern. Dieser antwortete mit einem Erlass am 13. September 1934, in dem „das Vermögen der Internationalen Bibelforscher - Vereinigung einschließlich ihrer saemtlichen Organisationen“ und gleichzeitig der „Druck und Vertrieb von Bibeln und sonstiger unbedenklicher Schriften“ freigegeben wurde. Dieser Erlass wurde den Länderregierungen mitgeteilt, worauf in verschiedenen Ländern die auf Grund des Gesetzes über die Einziehung von volks - und staatsfeindlichem Vermögen erfolgte Beschlagnahme des Eigentums von Bibelforscher - Ortsgruppen aufgehoben wurde.206 Der Sächsische Staatsminister des Innern versäumte im Vollzugsschreiben an das Reichsinnenministerium nicht, nochmals auf die Gefährlichkeit der Religionsgemeinschaft hinzuweisen. Neben der sich allmählich entwickelnden illegalen Arbeit der Gläubigen erregte besonders ihre Ablehnung der weltlichen Obrigkeit, womit sie „auf die übrige Bevölkerung aufreizend“ wirke.207 Dennoch kam es im Herbst zwischen den Vertretern der WTG und dem des RMdI zu weiteren Gesprächen. Es sollte geklärt werden, welche „unbedenklichen Schriften“ denn nun in Magdeburg gedruckt werden dürften. Der an die Länderregierungen weitergereichte Erlass stimmte mit dem der US - Regierung übermittelten nicht überein. Im Schreiben an die deutschen Behörden sollte lediglich der „Druck und Vertrieb von Bibeln der üblichen Art sowie sonstige Drucklegungen von Schriften, deren Inhalt erlaubt ist und keine Beziehungen zu der Tätigkeit der ‚Ernsten Bibelforscher‘ hat“,208 erlaubt sein. Mitte Oktober schrieb die WTG an frühere Schriftenverkäufer, dass die Gesellschaft wieder die Herausgabe von Kalendern plane und wies an, bei früheren Lesern den Bedarf zu eruieren.209 Hans Dollinger, Syndicus der WTG, erhielt bei seinen Gesprächen im RMdI von Regierungsrat Dr. Gisevius die Auskunft, dass für die Prüfung der „Unbedenklichkeit“ die Staatspolizeistelle Magdeburg verantwortlich sei, die ihre Anweisungen wiederum vom Gestapa in Berlin erhielte.210 Dieses unterrichtete die Magdeburger Stapostelle, dass gegen „den Druck und Vertrieb von Bibelwerbezetteln und der Kalender [...] z. Zt. nichts einzuwenden“ 206 Vgl. z. B. Verfügung des Thüringischen Ministers des Innern betr. eingezogenes Vermögen der Internationalen Bibelforscher vereinigung, Ortsgruppe Greiz, vom 5.12.1934 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 178). In dieser Verfügung wurde die Vermögensfreigabe mit der Verbotsaufhebung durch das Reich begründet, eine Sichtweise, die die Gestapo alarmieren musste. Vgl. auch Gestapa an die WTG betr. Beschlagnahmte Bücherdepots in Bochum vom 15.10.1934 ( WTA, Dok 24/10/34); Regierungspräsident in Arnsberg, gez. Reg. - Assessor Dellbrügge, an Preußischen Kultusminister vom 11. 5.1934 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 302). 207 Vgl. Sächsisches Innenministerium an RMdI vom 15.11.1934 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 202). 208 Vgl. Sächsischer Staatsminister des Innern an die sächsischen Behörden vom 15.11.1934 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 4203, Bl. 123). 209 Vgl. Schreiben WTG vom 17.10.1934 ( SächsHStAD, SG Freiberg Kms / SG 98/35, Bl. 42). 210 Vgl. Aussage von Hans Dollinger vor dem AG Magdeburg am 3. 4.1935 ( SächsHStAD, SG Freiberg, Js / SG 2171/35, Bl. 22–24).

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sei.211 Der Vertrieb dieser Kalender ist zumindest für den sächsischen Raum nachweisbar.212 Ein weiterer Punkt dieser Verhandlungen war die Herausgabe einer eigenen deutschen Ausgabe der Zeitschrift „Das Goldene Zeitalter“. Auch in diesem Falle wurde schon unter den ehemaligen Lesern geworben. In sächsischen Bibelforscherkreisen kursierte in dieser Zeit die Meinung : „Die Ernsten Bibelforscher sind wieder frei. Auch die Zeitschrift „Das Goldene Zeitalter“ erscheint wieder. Wir können die alten Abonnenten aufsuchen und Bestellungen auf den Kalender und diese Zeitschrift entgegennehmen.“213 Auf den ersten Blick schienen die Verhandlungen also erfolgreich verlaufen zu sein. Doch die Gestapo legte die Vereinbarungen auf eigene Weise aus. Alle von der WTG für ihre Mitarbeiter ausgestellten „Bescheinigungen bezüglich des ungewerblichen Verbreitens der im Verlag des Bibelhauses geführten Bibeln und anderer Literatur“ wurden als Druckschriften, die der Weiterführung der IBV dienen, beschlagnahmt und verboten.214 Auch die weiteren Planungen betreffend des „Goldenen Zeitalters“ verliefen im Sand. In der zweiten Dezemberhälfte erhielt die Magdeburger Bibelforscherzentrale trotz der Zusage aus dem Reichsinnenministerium, dass an der Genehmigung nicht gerüttelt werde und die Gesellschaft schon Papier und andere zum Druck notwendige Dinge kaufen könne, ein Verbot vom Gestapa.215 Zwar versuchte die WTG mit einer „Grundsätzlichen Erklärung“ an das RMdI vom 19. Dezember 1934 noch einmal das Ruder herumzureißen, indem sie auf die „sehr ungünstigen Eindrücke [ ver wies], die eine – durch Behinderung der Arbeitsmöglichkeiten einer amerikanischen Gesellschaft erfolgten Verletzung des Art. XII des gegenwärtigen Handelsvertrages [ im Hinblick eines neuauszuarbeitenden Vertrages ] unzweifelhaft auslösen“. Auch die verloren gehenden Arbeitsplätze in Magdeburg, die WTG sprach von ca. 20 000 Personen in der Gesellschaft216 und 5335 Personen in Fremdbetrieben, sowie die Auswirkungen in der ausländischen Öffentlichkeit, die „durch das blosse Bekanntwerden [ einer ] toleranten Handlungsweise der deutschen Regierung gegenüber einer bekannten amerikanischen Gesellschaft“ ausgelöst würden, führte das Schreiben ins Feld.217 Die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt war zwar noch nicht gelöst, aber bei weitem nicht mehr so prekär, als das deswegen eine Rücksichtnahme auf die 211 Vgl. Gestapa Berlin an Stapostelle Magdeburg vom 14.11.1934 (SächsHStAD, SG Freiberg Kms / SG 98/35, Bl. 63). 212 Exemplar eines Abreißkalenders ( ebd., Band 2, Bl. 153). 213 Befragungsprotokoll des Gendarmerie - Postens Wilkau - Hasslau am 14.11.1934 (Sächs HStAD, SG Freiberg Kms / SG 126/35, Bl. 12). 214 Verfügung des Gestapa an alle Staatspolizeistellen vom 20.12.1934 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I /1046 A. 1, Bl. 109 f.). 215 Vgl. Aussage von Hans Dollinger vor dem AG Magdeburg am 3. 4.1935 ( SächsHStAD, SG Freiberg, Js / SG 2171/35, Bl. 22–24). 216 Diese Zahl ist natürlich zu hoch gegriffen, sie umfasst alle Verkündiger, die zwar die Literatur der WTG vertrieben, damit aber noch kein ökonomisches Auskommen besaßen. 217 Grundsätzliche Erklärung der WTG an das RMdI, Abt. III, vom 19.12.1934 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 61–114).

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WTG auch nur in Betracht kam. Ebenso hatte sich der außenpolitische Druck auf Deutschland entschärft. Die WTG überschätzte die Dringlichkeit, die das State Department dem Wohlergehen einer kleinen Religionsgemeinschaft widmete. Diesem ging es vor allem um die Sicherheit amerikanischen Eigentums in Deutschland, die durch den Präzedenzfall der Besetzung und Beschlagnahme der Magdeburger Zentrale gefährdet schien.218 Nachdem in den Verhandlungen auf diese Bedenken eingegangen wurde und das NS - Regime grundsätzlich amerikanischen Kapitalbesitz respektierte, erlosch das Interesse schnell. Ebenso verkannte die Brooklyner Führung die neuen Realitäten in Deutschland. Nach ihrer Meinung war eine Schrift dann unbedenklich, „wenn sie unpolitisch ist und in ihrem Inhalt der nationalsozialistischen Welt - oder Staatsauffassung nicht entgegensteht“.219 Seit dem Verbot der IBV hatten sich die Möglichkeiten der Nationalsozialisten, ihren Machtanspruch durchzusetzen, erweitert. Über die Unbedenklichkeit entschied jetzt nicht mehr eine ausländische Gesellschaft, sondern zunehmend die Geheime Staatspolizei. Wie sehr sich auch das gesellschaftliche Umfeld der Zeugen Jehovas verändert hatte, soll im Folgenden auf drei Gebieten beleuchtet werden, die alle unmittelbar Einfluss auf das Glaubensleben der Bibelforscher, aber auch auf das weitere Verhalten der deutschen Behörden ihnen gegenüber hatten. Auf der justitiellen Ebene zeigten die laufenden Verfahren wegen der Verbotsübertretung, dass das Verhalten der Bibelforscher gegenüber staatlichen Anordnungen ein grundsätzliches Problem darstellte. Die Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Verbotes rückte die Glaubensgemeinschaft unabsichtlich in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Auf gesellschaftlicher Ebene gerieten die Gläubigen mit zunehmender Gleichschaltung des alltäglichen Lebens immer mehr ins Blickfeld nationalsozialistischer Verbände. Die ständigen Forderungen nach staatsloyalem Verhalten durch die Einführung des „Hitler - Grußes“ in Behörden, Betrieben und Schulen oder dem faktischen Zwang zur Wahlteilnahme und Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Gliederungen trieben die einzelnen Bibelforscher in immer neue Gewissenskonflikte und letztlich auch zu bewusst ablehnendem Auftreten. Die Geheime Staatspolizei schließlich sah sich durch die noch immer zurückhaltende Spruchpraxis der ordentlichen und Sondergerichte um die Früchte ihrer Ermittlungsarbeit gebracht. Immer häufiger verordnete sie daher ( befristete ) Schutzhaft. Mit der Übernahme der Geheimpolizei durch den Reichsführer - SS Himmler erfolgte eine Ideologisierung, durch die beginnende Zentralisierung im Reich, zunächst nur in der Person Himmlers als Inspekteur der Politischen Polizeien, aber auch eine Koordinierung und Professionalisierung. Nach der Zerschlagung jeder nennenswerten Widerstandsbasis in der Arbeiterbewegung wurden Ressourcen zur Verfolgung anderer Gegner frei. Diese Entwicklung wurde flankiert durch die wachsende 218 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 110. 219 Grundsätzliche Erklärung der WTG an das RMdI, Abt. III, vom 19.12.1934 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 61–114, hier 113).

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Herauslösung der Politischen Polizei aus dem Apparat des RMdI. Doch zunächst zu den Entwicklungen in der Justiz.

1.5

Die strafrechtliche Praxis bis 1934

Von den neuen Machthabern wurden Recht und Justiz konsequent zur Verfolgung und Bekämpfung von reellen und potentiellen Gegnern sowie von Missliebigen in Dienst genommen. Viele Richter und Staatsanwälte begrüßten die „nationale Erhebung“. Sie waren durch ihre soziale Herkunft vorwiegend konservativ eingestellt und hegten in ihrer Ablehnung des politischen Systems der Weimarer Republik unverhüllte Sympathien für die politische Rechte. Für den größten Teil der Richterschaft war es für die Errichtung eines autoritären Staates wert, Einschränkungen in der Rechtsstaatlichkeit in Kauf zu nehmen. Gegenüber „Staatsfeinden“ akzeptierten sie auch die Neigung der Nationalsozialisten zur Missachtung überlieferter Rechtsprinzipien. Noch hegten sie die Illusion, dass die bedenklichen Erscheinungen des Regimes einer Übergangszeit angehören und mit der Beruhigung der innenpolitischen Lage verschwinden würden.220 Als die nationalsozialistische Führung im März 1933 die Sondergerichte221 errichtete, übertrug sie ihnen die Aburteilung der einfachen politischen Vergehen. Vorrangig waren dies Übertretungen von Verboten politischer und religiöser Gruppen auf Grund der Reichstagsbrandverordnung sowie Verstöße gegen die Heimtückeverordnung222 ( ab Dezember 1934 dem Heimtückegesetz).223 Für die klassischen politischen Delikte, Hoch - und Landesverrat, blieben in Fällen der Vorbereitung die Strafsenate der einzelnen Oberlandesgerichte, in schweren Fällen der Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig zuständig.224 Eine Woche nach Errichtung der Sondergerichte konnte die Deutsche Allgemeine Zeitung noch mahnen : „Die Gefahren der sondergerichtlichen Rechtssprechung liegen vor allem auf zwei Gebieten. Einmal gibt es gegen die Urteile kein Rechtsmittel; die Strafvollstreckung, auch eines Urteils auf Todesstrafe, kann also – vorbehaltlich der Entschließung über die Begnadigung – sofort erfolgen. [...] Ferner liegt der Umfang der Beweisaufnahme völlig im Ermessen des Sondergerichtes. Dieses kann eine Beweiserhebung ablehnen, wenn diese nach seiner Überzeugung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich ist. [...] Je schneller eine Beruhigung der Bevölkerung eintritt und je energischer die Verfolgung der Ruhestörer in Angriff genommen wird, um so eher wird es möglich sein, die Sondergerichte wieder zu beseitigen und die Zuständigkeit der ordent220 Vgl. Gruchmann, Die „rechtsprechende Gewalt“, S. 83. 221 Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. 3.1933, RGBl. I, S. 136. 222 Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. 3.1933, RGBl. I, S. 135 f. 223 Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20.12.1934, RGBl. I, S. 1269 f. 224 Vgl. Johe, Die gleichgeschaltete Justiz, S. 108.

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lichen Gerichte zu begründen.“225 Die Sondergerichte waren jedoch mit dem Ziel eingesetzt worden, die Maßnahmen des neuen Regimes mittels Rechtsprechung zu decken. Daher waren sie nicht als eine Einrichtung auf Zeit gedacht, sondern entwickelten sich vielmehr zum beispielhaften Strafgericht des nationalsozialistischen Staates. Der temporäre Eindruck, den der Name Sondergericht erweckte, war den Nationalsozialisten daher durchaus erwünscht.226 Bereits bei Einsetzung der Sondergerichte im März 1933 hatte das Justizministerium Wert darauf gelegt, das Verfahren zu beschleunigen. Um den Zeitraum von der Anzeige bis zur Urteilsverkündung zu verkürzen, sollten die Ladungsfristen für die Zeugen verkürzt werden und die Voruntersuchung gegen den Angeklagten entfallen.227 Rechtsmittel gegen das Urteil durch den Angeklagten waren nicht möglich, das Urteil wurde sofort rechtskräftig. Genauso wie Beschleunigung wurde von den Richtern der Sondergerichte Härte in der Anwendung der Gesetze gefordert. Dabei übertrafen die Richter in ihren Urteilen die zulässigen Mindeststrafen bereits beachtlich und wichen damit von der Urteilspraxis der ordentlichen Gerichte ab. In den ersten Jahren nutzten sie den gegebenen Strafrahmen jedoch noch nicht gänzlich aus. Noch wurde Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung – zumal vor Wahlen – genommen. Auch wenn die Richter der Sondergerichte in den ersten Jahren den Bestrebungen der Staatsführung zustimmten, fühlten sie sich noch an richterliche Traditionen gebunden.228 Bereits im ersten Jahr seiner Existenz wurden vor dem Sondergericht Freiberg, zuständig für den Oberlandesgerichtsbezirk Dresden, 1733 Verfahren gegen 3257 Personen durchgeführt. Gegen 1925 Personen wurden die Verfahren wieder eingestellt, so auch gegen 18 Bibelforscher. Bislang konnte nur ein Verfahren ermittelt werden, bei dem in den Jahren 1933/34 ein Zeuge Jehovas durch das Sondergericht Freiberg verurteilt wurde.229 In erster Linie waren die Sondergerichte gegen politische Gegner des neuen Regimes gerichtet. Die noch erhaltenen Unterlagen beinhalten folgende Anklagen : Straftaten gegen die sogenannte Reichstagsbrandverordnung, Heimtückeverordnung, Unerlaubter Waffenbesitz, Straftaten nach dem Sprengstoffgesetz, Zuwiderhandlung gegen das Verbot kommunistischer Versammlungen und Druckschriften, Fortführung verbotener politischer Gruppen ( SPD, SAP / SJV, Rote Sporteinheit ), Straftaten gegen sonstige Vereinigungs - und Publikationsverbote. Auch bei den nicht ausdrücklich wegen der Zugehörigkeit zur KPD, SPD oder ihnen nahestehenden politischen Gruppen Verurteilten zeigt sich ein hoher Grad der Zugehörigkeit

225 226 227 228 229

Unsere Meinung. In : Deutsche Allgemeine Zeitung vom 29. 3.1933. Vgl. Johe, Die gleichgeschaltete Justiz, S. 107. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 93. Urteil des SG Freiberg gegen Eduard Schuster, Dresden, vom 11.1.1934 (SächsHStAD, SG Freiberg, SG 632/33). Interessanter weise wird in diesem Urteil die später diskutierte Frage nach der Rechtswirksamkeit des IBV - Verbotes in keiner Weise berührt.

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zu diesen Gruppierungen.230 Bis 1935 kamen vor allem politisch motivierte Taten vor die Sondergerichte, ehe diese dann ab 1935 vor dem Volksgerichtshof ( VGH ) oder den Strafsenaten der Oberlandesgerichte ( OLG ) verhandelt wurden. Die Sondergerichte behandelten nun vorwiegend unpolitische Handlungen ( Heimtücke - und Bibelforscherverfahren ).231 Dennoch darf nicht übersehen werden, dass neben den Sondergerichten auch die „normalen Gerichte“, an denen vielfach auch die Richter der Sondergerichte tätig waren, Anteil an der Rechtsprechung in politischen Fällen hatten.232 Die Zuwiderhandlung gegen die auf der Reichstagsbrandverordnung beruhenden IBV - Verbote fiel eigentlich in die Kompetenz der am 21. März 1933 in allen OLG - Bezirken eingerichteten Sondergerichte. Dennoch lassen sich bis Mitte der 1930er Jahre Verfahren auch vor herkömmlichen Gerichten nachweisen. So wurden Bibelforscher bis ins Jahr 1936 hinein auch vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Anklage gebracht.233 Verfahren aus dem außerordentlichen Verfahrensweg der Sondergerichte konnten auf Grund der Entlastungsverordnung vom 6. Mai 1933 in das ordentliche Verfahren abgegeben werden.234 Auch die Landratsämter waren dazu berechtigt, gegen das „gewerbsmäßige Hausieren“ oder der „Störung der Sonntagsruhe“ mittels Ordnungsstrafen vorzugehen.235 Da vor den Strafkammern der Amts - und Landgerichte im Gegensatz zu den Sondergerichten die Rechtsmittel nicht eingeschränkt waren, gingen einige verurteilte Bibelforscher in Revision. Sie bezogen sich dabei auf das durch die Reichstagsbrandverordnung nicht eingeschränkte Grundrecht der freien Religionsausübung nach Art. 135 der Weimarer Reichsverfassung ( WRV ), außerdem böte in ihren Augen die „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ erlassene Verordnung keinerlei Grundlage für das Vorgehen gegen die IBV. An dieser Frage entzündete sich innerhalb der Justiz die Diskussion : Waren die einzelnen Verbotsverfügungen der Länder gegen die IBV, die sich auf die Reichstagsbrandverordnung stützten, überhaupt wirksam, da diese sich in ihrer Präambel auf die Abwehr „kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ bezog ? Mit der Reichstagsbrandverordnung waren neben den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123 und 153 WRV auch der Artikel 124 ( Recht auf Bildung von Vereinen ) außer Kraft gesetzt worden, nicht aber die Artikel 135 ( Religionsfreiheit) und 137 ( Recht auf Bildung von Religionsgesellschaften ). Galt die Reichsverfassung nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ überhaupt noch und wenn ja, war die IBV eine Religionsgesellschaft ? Dann wäre das Verbot verfas230 231 232 233 234 235

Vgl. Schroeder / Lahrtz, Die nationalsozialistischen Sondergerichte, S. 97 f. Vgl. Schmidt, Beabsichtige ich, S. 219. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 299 f. RGBl. I, S. 256. Vgl. Lahrtz, Zu den Strukturen und Aufgabenfeldern, S. 41. Vgl. Strafbefehl des AG Sayda ( Sachsen ) vom 4. 9.1933 ( WTA, Dok 04/09/33). Vgl. auch Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 47; Imberger, Widerstand „von unten“, S. 266; Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 625.

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sungswidrig. Die Beantwortung dieser Fragen zog sich bis ins Jahr 1935 hin und verdeutlicht die schrittweise Gleichschaltung der Justiz, aber auch den noch vorhandenen Entscheidungsrahmen, über den die Richterschaft zu dieser Zeit verfügte. Die Kontroversen innerhalb der Justiz, aber auch ihre Wirkung über diesen Rahmen hinaus, gaben der causa IBV eine grundsätzliche Bedeutung, die die Glaubensgemeinschaft in Realität nicht besaß und die im Endeffekt eine radikalisierende Wirkung auf deren Verfolgung hatte. Verschiedentlich vertraten Gerichte die Ansicht, dass Anordnungen der Verwaltung, die sich auf die Reichstagsbrandverordnung stützten, rechtswidrig seien, wenn sie über den begrenzten Rahmen der „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ hinausgingen.236 Dieser in den Augen der neuen Machthaber zu engen Auslegung versuchte der Ministerialdirektor im Preußischen Justizministerium, Wilhelm Crohne, mit einem Artikel in der offiziösen „Preußische Justiz“ zu begegnen. Das Festhalten an der in der Präambel beschworenen kommunistischen Gefahr wäre eine „geistlose Wortklauberei“. Die Überschrift wolle vielmehr „die Veranlassung des Gesetzes bezeichnen“.237 Einen anderen, schon im März 1933 von Göring für die Polizei vorgezeichneten Weg238 wies das Bayerische Oberlandesgericht : Zwar ging das OLG München von einer Beschränkung der Reichstagsbrandverordnung auf „kommunistische staatsgefährdende Gewaltakte“ aus, legte diese aber weit aus. Auch eine „mittelbare Unterstützung“ der kommunistischen Ziele falle unter die Verordnung. Da das Gericht Ähnlichkeiten in der kirchenfeindlichen Propaganda von KPD und IBV feststellte, galt das Bibelforscherverbot damit als rechtens.239 Mit dieser Entscheidung lag das bayerische OLG ganz auf der Linie der nationalsozialistischen Machthaber. Schon im August des Jahres hatte das Oldenburgische Innenministerium in einem Rundschreiben darauf hingewiesen, dass „alles was das Ansehen der Regierung und die Wirkung ihrer Maßnahmen herabzusetzen geeignet ist“ und damit die Bekämpfung des Kommunismus behindert, „daher mittelbar zur Förderung kommunistischer staatsfeindlicher Bestrebungen“ diene.240 Trotz gleicher Wortwahl waren die Motive des Münchner Urteils und die des Rundschreibens des Oldenburgischen Innenministeriums nicht deckungsgleich. Während Letzteres jede nicht gleichgeschaltete Meinungsäußerung und Handlung als „mittelbare“ Unterstützung des Kommunismus gewertet sehen wollte, ging es den Münchner Richtern „um die Erhaltung der ‚Grundfesten‘ des Staates, um die Abwehr jeder auch noch so schwachen Erschütterung im 236 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 539. 237 Crohne, Bedeutung und Aufgaben der Sondergerichte, S. 384 f. In diese Richtung tendierte auch das Reichsgericht mit seiner Entscheidung vom 21.1.1934 (4 D 244/33), die Eingangsworte der Reichstagsbrandverordnung bezeichneten „nur den nächstliegenden Zweck“. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 138–140. 238 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 53. 239 Urteil des OLG München vom 7.12.1933 (275/33). Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 46 f.; Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 77; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 138 f. 240 Rundschreiben des Oldenburgischen MdI vom 2. 8.1933. Zit. nach Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 539 ( FN 18).

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Gefüge der staatlichen Ordnung“. Wie das Gericht kurze Zeit später entschied, war mit der Rechtmäßigkeit des IBV - Verbotes aber keineswegs die Religionsfreiheit aufgehoben.241 Auch schon in den Jahren vor der „Machtergreifung“ sahen die Richter in den Bibelforschern wegen deren kirchenfeindlichen Äußerungen „verkappte Kommunisten“ ( Garbe ). Das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichtes vom 7. Dezember 1933 und vom 22. Februar 1934 bewegte sich also noch auf der Linie der bayerischen Rechtsprechung der Weimarer Zeit: die antikirchlichen Angriffe der IBV rückten diese in eine Front mit den antikirchlichen Bestrebungen der Kommunisten. Das Gericht akzeptierte aber die Weitergeltung der Religionsartikel 135–137 der WRV, die Rechte zur Vereinsbildung wären in diesem Falle zwar eingeschränkt, das beträfe aber nicht die Sphäre der persönlichen Glaubensausübung. Gegenüber Vertretern der Großkirchen legten viele Gerichte, zumal in kirchlich geprägten Regionen, die Strafgesetze moderater aus242 und hielten sich trotz Kritik von Gestapo und Reichsjustizministerium ( RJM ) an die Vorschriften des Strafprozessrechts. Opfer einer harten politischen Straf justiz wurden zumeist Mitglieder der Unter - bzw. der unteren Mittelschicht, gegenüber Vertretern der oberen Mittelschicht zeigten die Richter noch lange Zeit weit mehr Verständnis, was sich vor allem aus einer sozialen Verbundenheit der aus dem konservativ - bürgerlichen Milieu stammenden Richterschaft mit dieser Angeklagtengruppe erklären lässt.243 Bevölkerungsgruppen, die von den Nationalsozialisten politisch und sozial verfemt waren, genossen „offensichtlich keine Sympathien“ innerhalb der Justiz.244 Weitaus schwieriger zu beantworten, war die Frage, ob die Religionsartikel 135–137 WRV und damit die Verfassung selber noch gültig wären und ob die IBV in den Genuss des Schutzes der Religionsfreiheit kommen könnte. Angestoßen wurde diese Frage vom Reichsgericht. In einer Revisionsverhandlung wurde der Fall zweier Meißner Bibelforscher behandelt, die vom Landgericht Dresden am 31. August 1933 freigesprochen wurden.245 Beide hatten die Protesterklärung gegen das Bibelforscherverbot, wie sie am 25. Juni 1933 auf dem Wilmersdorfer Kongress angenommen wurde,246 an Personen des öffentlichen Lebens versandt. Dies wertete das Gericht nicht als Aufrechterhaltung des Zusammenhaltes einer verbotenen Vereinigung, sondern als Protestäußerung, die nicht unter die Strafvorschrift fiele. Das sächsische IBV - Verbot jedoch stellte das Landgericht Dresden nicht in Frage, da die IBV nur ein religiöser Verein wäre.247 241 Urteil des OLG München vom 22. 2.1934 (298/33). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 138. 242 Beispiele in Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 539 f., sowie Angermund, „Recht ist, was dem Volke nutzt“, S. 63. 243 Vgl. Angermund, Deutsche Richterschaft, S. 156 f. 244 Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 197–199. 245 Urteil des Landgerichts Dresden vom 31. 8.1933 (3 A 40/33) ( UaP Wolfgang Richter ). 246 Abgedruckt in Yonan, Jehovas Zeugen, S. 64–73. 247 Dies begründete das Gericht mit der fehlenden staatlichen Anerkennung der Bibelforscher als Religionsgesellschaft durch den Freistaat Sachsen.

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Das Reichsgericht wies den Revisionsantrag der Oberreichsanwaltschaft gegen das freisprechende Dresdner Urteil zurück und bestätigte die Wertung, dass im Versenden der Protesterklärungen noch keine Zuwiderhandlung gegen das IBV - Verbot zu sehen wäre. In der Frage der Verbotsgültigkeit vermied das oberste deutsche Gericht jedoch eine klare Stellungnahme. Wenn die IBV eine Religionsgesellschaft entsprechend Art. 137 WRV wäre, sei auch die Verordnung des sächsischen Innenministers vom 18. April 1933 „verfassungswidrig und damit rechtsungültig“. Denn dessen Bestimmungen wären vom Reichspräsidenten nicht außer Kraft gesetzt worden und gehörten auch gar nicht zu den Verfassungsnormen, die außer Kraft gesetzt werden könnten. Wäre die IBV dagegen nur ein religiöser Verein im Sinne des Art. 124 WRV, „dann ist die Rechtsgültigkeit der erwähnten sächsischen Verordnung vom 18. 4. 33 nicht zu beanstanden“.248 Wollte man nicht wie die Richter des Hessischen Sondergerichts Darmstadt die Verbotswirksamkeit grundsätzlich bestreiten,249 und dies sahen die meisten Juristen nicht als ihre Aufgabe an, markierten die aus dieser ( Nicht - )Entscheidung resultierenden Fragen auch die möglichen Lösungsansätze. Eine radikalere oder „selbstbewusstere“ ( Volkmann ) Gruppe von Staatsrechtlern und Juristen negierte den Verfassungsrang der Bestimmungen der WRV völlig. Vertreter dieser Interpretation betonten die Diskontinuität von Weimarer Verfassung und nationalsozialistischer Herrschaft. Demnach besaßen auch Art. 135–137 WRV keinen Verfassungsrang mehr.250 Selbst wenn also die IBV eine Religionsgesellschaft wäre, genösse sie nicht den Schutz des Art. 137. Verfassungsrang hatte nach Ansicht des Hanseatischen Sondergerichts in einem Urteil vom 15. März 1935 allein das Parteiprogramm der NSDAP. Religionsfreiheit stand also unter dem im Punkt 24 des Parteiprogramms genannten Vorbehalt, dass diese nicht den „Bestand [ des Staates ] gefährde oder gegen das Sittlichkeits - und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoße“. Die Ansicht der Hamburger Richter, nach der die WRV „nach dem Siege der Regierung der nationalsozialistischen Revolution am 5. März 1933 [...] erledigt“ war und somit auch die nichtsuspendierbaren Artikel 135–137 nicht weiter galten,251 war zu diesem Zeitpunkt bei weitem noch nicht Konsens. Noch gab es gegenteilige Entscheidungen. Letzten Endes setzte sich diese Sichtweise jedoch durch. 1939 entschied das Reichsgericht, dass die WRV „als solche durch den Umbruch im Jahre 1933 ihre Gültigkeit verloren“252 habe. Dieser Sichtweise folgten 1940 der Bayerische Verwal248 Urteil des Reichsgerichts vom 23.1.1934 (4 D 244/33) ( UaP Wolfgang Richter ). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium 1999), S. 138–140.; Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 39 f. 249 Urteil des Hessischen Sondergerichts Darmstadt vom 26. 3.1934 ( S M 26/34). Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 286; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 140 f.; Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 49. 250 Vgl. zur staatsrechtlichen Diskussion ebd., S. 6–10. 251 Urteil des SG Hamburg vom 15. 3.1935 ( HSG 11 Js. 1617/34). Teilweise zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 145. 252 Zit. nach Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 158.

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tungsgerichtshof sowie 1942 das Reichsverwaltungsgericht. Nur nicht explizit aufgehobene oder dem neuen nationalsozialistischen Geist entsprechende Bestandteile der Verfassung konnten als „technische Normen gewöhnlichen Rechts“ fortgelten.253 Einen anderen, „gemäßigteren“ Weg wies das Landgericht Dresden. Anders als das Hanseatische Sondergericht blieb es bei seiner Verbotsbestätigung im Rahmen des traditionellen Rechts und wahrte so eher den Schein der traditionellen Rechtsförmigkeit. Das Problem, dass das Urteil des Reichsgerichts die Beantwortung der Frage, ob die IBV ein religiöser Verein oder eine Religionsgesellschaft sei, „auf das Gebiet schwieriger theologischer und religionsgeschichtlicher Probleme verschoben“ hätte,254 lösten die Dresdner Richter auf eben diesem Gebiet : Sie holten ein kirchenrechtliches Gutachten255 ein, ob die IBV ein „bestimmtes Glaubensbekenntnis“ hätte und befragten den Generalbevollmächtigten der WTG, Hans Dollinger, „hinsichtlich des Wesens und des Charakters der I.B.V.“. Hintergrund war die in verschiedenen Kommentaren zur WRV genannte Definition, nach der unter einer Religionsgesellschaft „die zusammenfassende Organisation der Anhänger eines und desselben, bestimmten und besonderen Glaubensbekenntnisses zu verstehen“256 wäre. Nach Meinung der Richter hätte die IBV eben dieses „bestimmte und besondere Glaubensbekenntnis“ aber nicht. Mit einem Glaubensbekenntnis wird „endgültig und unabänderlich der Glaube festgelegt“. Gerade diese „unabänderliche Festlegung von Glaubenssätzen“ aber würden die Bibelforscher ablehnen. Die Glaubensgrundsätze wären abänderlich und wandelbar im Laufe der Zeit. Außerdem erfasse eine Religionsgesellschaft „ihre Anhänger in Totalität“. Ein Mensch könne „nur einem Glauben, einem Bekenntnis und daher nur einer Religionsgesellschaft angehören“. Bei den Bibelforschern aber hätten nur die getauften Anhänger ihre früheren Glaubensüberzeugungen und Mitgliedschaften aufgegeben. Die große Zahl der ungetauften Anhänger wäre aber noch Mitglied ihrer alten Gemeinden. Aber beide, getaufte und ungetaufte Anhänger, bildeten zusammen die Bibelforscher vereinigung. Ebenso monierten die Richter, dass die IBV weder Mitgliederlisten noch Karteien führe, noch irgendwelche Beitragspflicht hätte. Nicht zuletzt der Anspruch der Bibelforscher, „keine neue Kirche oder Sekte [zu ] bilden, sondern nur die Bibel [zu] erläutern und den Menschen [zu] helfen, verlorenen Glauben zurückzugewinnen,257 begründete in den Augen des Landgerichts den Status eines bloßen religiösen Vereins, dessen Verbot in 253 Vgl. ebd., S. 158 f. 254 So in einer Urteilsanmerkung zum Urteil des Reichsgerichts in der Juristischen Wochenschrift. Zit. nach Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 140. 255 Gutachten zur Frage, ob die ernsten Bibelforscher ein bestimmtes Glaubensbekenntnis haben, von Geh. Konsistorialrat Dr. Schröder vom 28. 5.1934 ( SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 171, Kms / SG 97/35, unpaginiert ). 256 Das Urteil des Landgerichts Dresden vom 28. 5.1934 (3 A 40/34) nennt hier Anschütz RV. 6. Auflage 1927 Anm. 2 zu Art. 137; Giese RV 8. Auflage 1931 Anm. 2 zu Art. 137; Poetzsch - Hefter Art. 137 Anm. 4. 257 Dieser Passus bezieht sich auf § 17 der Satzung der IBV.

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jedem Fall rechtswirksam sei. Die sächsische Sichtweise übernahm 1935 schließlich auch das Sondergericht Breslau.258 Doch die offensichtliche Diskrepanz zwischen angeblicher Gefahr der Zeugen Jehovas und der Realität führte einige Richter in Widerspruch zur vorgegebenen Linie. Am 15. November 1934 urteilten die Richter des Bielefelder Schöffengerichtes, dass die nichtöffentliche Pflege des Glaubenslebens nach der Lehre der ernsten Bibelforscher durch das Verbot nicht betroffen werde.259 Häusliche Gottesdienste abzuhalten könne keiner Religionsgemeinschaft verboten werden, da dies durch Art. 135 WRV geschützt sei. Das zufällige Zusammentreffen der Angeklagten, auch wenn es zum Zweck religiöser Aussprache verabredetes Zusammenkommen gewesen wäre, bedeute keine Fortsetzung der verbotenen „Internationalen Bibelforscher - Vereinigung“. Die verschiedenen freisprechenden Urteile belegen keineswegs eine bewusste Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime. Allerdings verdeutlichen sie, dass diesen wenigen Richtern die überlieferte Religionsfreiheit wichtiger erschien als die beschworene Gefahr, die vom Glauben der Zeugen Jehovas für das deutsche Volk ausgehen sollte. Es sollte noch bis 1935 dauern, ehe die IBV - Verbote flächendeckend von den Gerichten akzeptiert wurden. Zu einer einheitlich harten Rechtsprechung gegen Bibelforscher kam es erst 1937/38, als Gestapo und der Sicherheitsdienst ( SD) den Druck auf die Justiz verstärkten.

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Die Verweigerung staatsloyaler Gesten

Obwohl sich viele Angehörige der Zeugen Jehovas in den ersten Monaten nach dem Verbot der Glaubensgemeinschaft ruhig verhielten, entwickelten sich im Zuge der Errichtung und Stabilisierung der nationalsozialistischen Diktatur Momente, in denen sich jeder Einzelne der Bewährungssituation gegenübergestellt sah. Weniger eigene Aktivitäten als die Forderungen eines totalitären Regimes nach Mobilisierung, Gleichschaltung und Loyalitätsgesten führten in die Konfrontation. Anhand der Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen, der Mitgliedschaft in NS - Organisationen und der Anwendung des „Deutschen Grußes“ soll diese Entwicklung nachgezeichnet werden. Anders als bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 gerieten die Zeugen Jehovas anlässlich der mit einer Volksabstimmung260 verbundenen Reichstagswahl vom 12. November 1933 flächendeckend ins Visier der nationalsozialistischen Kontroll - und Repressionsorgane. Die Märzwahl diente der parlamentarischen Absicherung der „Machtergreifung“. Trotz Terrors im Vorfeld blieben 258 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 147 f. 259 Urteil erwähnt in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 143; Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 298 f. Abschrift des Urteils des OLG Hamm vom 30. 3.1935 (2 Bs 18/35) ( SächsHStAD, Sondergericht Freiberg, Karton 171, Kms / SG 97/35, Bl. 50c ). 260 Gesetz über Volksabstimmung vom 14. 7.1933, RGBl. I, S. 479.

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die formalen Normen einer Reichstagswahl, inklusive das der „frei konkurrierenden Listen“, intakt. Zwar nutzten die neuen Machthaber neben der eigenen Parteiarmee auch die Ressourcen des Staates in unerhörtem Maße für den im Zeichen von Einschüchterung und Überwältigung der öffentlichen Meinung stehenden Wahlkampf, die erhofften Einbrüche in die Stammwählerschaft der offen angegriffenen Arbeiterparteien und der bedrängten bürgerlichen Parteien blieben jedoch aus. Die NSDAP erhielt nur 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen.261 In einem Umfeld, in dem es im weitesten Sinne noch um Konkurrenz um Wählerstimmen ging, wurden wohl Nichtwähler bedrängt. Doch hatten sie keine weiteren Repressalien zu befürchten. Mitunter half auch der Hinweis, bereits in der „Systemzeit“ nicht gewählt zu haben, vor Druck.262 Eine andere Situation begegnet uns im November 1933. Am 14. Oktober 1933 verkündete Reichspropagandaminister Joseph Goebbels den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund. Der Reichspropagandaminister nutzte geschickt die Zustimmung, die dieser außenpolitische Schritt auch in den vom Nationalsozialismus noch nicht durchdrungenen Milieus fand, und verband eine diesbezügliche Volksabstimmung mit einem Votum über die Ergebnisse der „nationalen Revolution“.263 Nachdem am 14. Juli 1933 mit dem Gesetz gegen die Neubildung von Parteien 264 die Ausschaltung aller konkurrierenden Parteien abgeschlossen war, stand im November nur noch eine NSDAP - Liste zur Wahl. Bei Abstimmungen mit akklamatorischem Charakter gilt aber in viel stärkerem Maße als bei solchen mit konkurrierenden Listen der Nicht - Wähler als Feind. Die konsequent wahlabstinenten Zeugen Jehovas gerieten bereits im Vorfeld ins Visier. Besonders außerhalb der Anonymität der Großstädte wurden die bekannten Angehörigen durch NS - Organisationen und öffentliche Arbeitgeber unter Druck gesetzt. Angesichts dessen und des „Wahlkampfes“ waren sich die Zeugen Jehovas des Problems offensichtlich bewusst. Dass es eine zentrale Weisung über das Verhalten am Wahltag gab, ist unwahrscheinlich, da die WTG Führung die zu diesem Zeitpunkt aussichtsreichen Verhandlungen nicht erschweren wollte. Allerdings trafen sich im Vorfeld Kleingruppen, um sich gegenseitig in der ablehnenden Haltung zu bestärken,265 auch entsprechende Handzettel wurden weitergereicht.266 Den Druck, der gegenüber potentiellen Nichtwählern aufgebaut wurde, verdeutlicht ein „Mahnschreiben“ eines NSDAP- Zellenleiters an ein Ludwigsburger Ehepaar : nach Durchsicht der Wahlunterlagen der Märzwahl wurde festgestellt, dass das Paar der „Wahlpflicht nicht genügt“ hatte. Da das „Wahlrecht [...] aber ein Ehrenrecht“ sei, müssten sie die261 262 263 264 265

Vgl. Bracher / Funke / Jacobsen ( Hg.), Weimarer Republik, S. 630 f. Vgl. Garbe / Knöller, Die Bibel, das Gewissen und der Widerstand, S. 228. Vgl. Jung, Plebiszit und Diktatur, S. 35–60. Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. 7.1933, RGBl. I, S. 479. Vgl. Vernehmungsprotokoll des Polizeiamtes Freital vom 3.1.1934 ( SächsHStAD, SG Freiberg, 6 StA 3212/33). 266 Vgl. Bericht des SD Oberabschnitt Elbe vom 2.1.1934 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 488 f.).

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ses Recht auch ausüben. „Wollen Sie aber nicht, dass man Sie als Nichtwähler den Neinwählern gleichstellt, und Sie als Landes - und Volksverräter kennzeichnet, so erfüllen Sie am Tage der deutschen Ehre Ihre Wahlpflicht und stimmen mit ‚Ja‘.“267 Die Wählerlisten wurden am Abstimmungstag über wacht, um Säumige zu mobilisieren. Wer den meist der SA entstammenden Schlepperkommandos nicht entkam, musste mit gewalttätigem Druck rechnen. In nicht wenigen Fällen entlud sich der „Volkszorn“ in Auf läufen vor den betreffenden Anwesen. Sowohl in Lichtenstein als auch in Oelsnitz ( beide im Erzgebirge ) wurden wahlverweigernde Zeugen Jehovas gedemütigt : Da sie „trotz wiederholter Aufforderung [...] ihrer Wahlpflicht nicht genügt[ en ]“ und sich daher „außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft gestellt“ hatten, wurden mehrere Bibelforscher von SA - Männern durch die Stadt geführt. Sie mussten Plakate mit der Aufschrift „Wir Lumpen ( internationale Bibelforscher ) haben nicht für Deutschland gestimmt“ tragen. Die Ehefrauen der Zeugen Jehovas schlossen sich ihren Männern freiwillig an. Weil sich „seitens der Bevölkerung Missstimmung bemerkbar machte, ordnete die Polizei die Inschutzhaftnahme [...] an“.268 Hier deutet sich wieder die Arbeitsteilung zwischen dem Druck der Parteiinstanzen und der Reaktion staatlicher Behörden an. Die Partei inszenierte auf der Straße und in den Zeitungen den nötigen „Volkszorn“. So rief das „Heilbronner Tagblatt“ zum Geschäftsboykott „mit den Anhängern dieser Judensekte [ auf.] Vielleicht weichen die schleimigen Nebel aus ihren Hirnschalen, sobald ihre Mägen knurren und sie einsehen lernen, dass sie ihre bisherigen Profitchen nicht so sehr dem Wüstengotte Israels, wie der Langmut und Nachsicht ihrer deutschen Volksgenossen zu verdanken haben.“269 Auf einer „Schandtafel“, „aus vaterländischen Empfindungen heraus und berechtigter Empörung über ihr Fernbleiben von der Wahlurne“ in Pölitz in Pommern aufgestellt, wurde eine „Liste der Volksverräter“ angebracht.270 In Bochum wurden neun Männer durch SA - Männer „vorgeladen“ und bettlägerig geprügelt.271 Ausschreitungen wurden auch aus dem Regierungsbezirk Arnsberg gemeldet, da die dortige SA „verständlicherweise“ in den Absprachen, nicht wählen zu gehen, „einen Volksverrat sah“.272 Die weitere „Bearbeitung“ übernahm die Polizei, vornehmlich die Geheime Staatspolizei. Während das Sächsische Gestapa auf Weisung aus Berlin am 267 Schreiben vom 11.11.1933 ( WTA, Dok 11/11/33). 268 Stollberger Anzeiger und Tageblatt vom 14.11.1933 sowie vom 15.11.1933. 269 Die Zeugen Jehovas. In : Heilbronner Tageblatt vom 15.11.1933. Zit. nach Hetzner, Christen im Feuerofen. Der Herausgeber der Zeitung, Hans Hauptmann, veröffentlichte schon vor 1933 gegen die Bibelforscher, so 1931 „Was wollen die ernsten Bibelforscher“. In : Ariosophie, 4 (1931), S. 195–198. Vgl. auch Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 362 f. 270 Vgl. Thevoz, Pommern 1934/35, S. 162. 271 Vgl. Vernehmungsprotokoll der Polizei in Hagen vom 24.11.1933 ( WTA, Dok 25/11/ 33). 272 Regierungspräsident in Arnsberg, gez. Reg. - Assessor Dellbrügge, an den Preußischen Kultusminister vom 11. 5.1939 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 302).

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20. November 1933 die unterstellten Behörden zur namentlichen Meldung aller Zeugen Jehovas anwies, erging von der Amtshauptmannschaft Flöha bereits eine Woche vorher die Order, Namenslisten zu erstellen, zu überwachen und unvermutet zu überprüfen. Bei Hinweisen auf eine Tätigkeit für die Bibelforscher sollte sofort Schutzhaft angeordnet werden. „Es wird notwendig sein, endlich einmal ein Exempel zu statuieren, damit die Bibelforscher ihre offensichtlich im Geheimen betriebene Tätigkeit aufgeben.“273 Vier Tage später riet sie dem Stadtrat von Augustusburg, den ehemaligen Bibelforschern Freiheitsbeschränkungen aufzuerlegen, damit diesen die weitere Betätigung unmöglich würde. Die Beschränkungen, die Ausgeh - und Besuchsverbote beinhalteten,274 sollten durch Gendarmerie und Partei überwacht werden.275 Für die Zeit vom 13. zum 19. Dezember 1933 ordnete das Dresdner Gestapa Haussuchungen bei allen gemeldeten Zeugen Jehovas an. Besitz und Verleih von Büchern der WTG sowie Briefen, die auf eine Absprache bezüglich des Wahlverhaltens schließen ließen, sollten mit Schutzhaft belegt werden. Interessanterweise war das Vertrauen in die Gendarmerie nicht sehr groß, die, zumeist in dörf liche Strukturen eingebunden, im Verdacht stand, derartige Pläne weiterzugeben.276 Der Buchbesitz war angesichts des mangelnden Wissens der Polizei über Aufbau und Arbeit der Glaubensgemeinschaft vielfach auch der einzige Nachweis für die illegale Tätigkeit. Obwohl parallel der Buchbesitz der WTG freigegeben und die Beschlagnahme von Literatur aus der Zeit vor dem Verbot von den Gerichten rückgängig gemacht wurde,277 musste die Polizei zu diesem Haftgrund greifen.278 Neben polizeilichen und gegebenenfalls strafrechtlichen Ermittlungen wurde auch das Arbeitsrecht gegen wahlver weigernde Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes angewandt. Weil er es „am Wahltag unterließ [...], die für jeden Beamten selbstverständliche Treue zum neuen Staat zu bekunden“, wurde ein Ver waltungssekretär aus Pforzheim aus dem Reichsbund der Deutschen Beamten entfernt.279 Gegen einen Bibelforscher aus Oetinghausen, den sein Arbeitgeber wegen seiner Nichtteilnahme an der Wahl fristlos kündigte, verhängte das zuständige Arbeitsamt in Herford eine sechswöchige Sperre der

273 Amtshauptmannschaft Flöha an alle Städte und Gemeinden vom 14.11.1933 ( WTA, Dok 14/11/33). 274 Vgl. Maßnahmen gegen Bibelforscher. In : Buchholzer Zeitung vom 23.11.1933. 275 Vgl. dies. an Stadtrat von Augustusburg vom 18.1.1933 ( WTA, Dok 18/11/33). 276 „Der Vorgang ist streng geheim zu halten, da es Beamte gibt, die Anhänger der Bibelforscher sind.“ Geheimes Staatspolizeiamt / Z.U.B. Dresden an alle untergeordneten Behörden vom 6.12.1933 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI 4203, Bl. 193). 277 Vgl. Abschnitt II.1.4. 278 Vgl. Gendarmerieposten Zschopau an die Staatsanwaltschaft Chemnitz vom 13.12.1933 ( SächsHStAD SG Freiberg, Karton 66, 6 StA 3245/33). Allerdings wurde das Verfahren im Falle von Buchbesitz aus den Jahren vor 1933 zumeist eingestellt. 279 Vgl. Deutscher Beamtenbund, Reichsfachgruppe Kommunalbeamte, Kreisfachgruppenleiter Pforzheim an Ludwig Stickel vom 8.12.1933 ( WTA, Dok 08/ 12/ 33).

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Arbeitslosenhilfe, da die Entlassung selbstverschuldet gewesen wäre. Allerdings scheint es auch andere Stimmen in Partei und Staat gegeben zu haben. Die Spruchkammer des Ober versicherungsamtes Dortmund entschied gegen die angeordnete Sperre, da „wohl ein Wahlrecht [ bestehe ], nicht aber eine Verpflichtung. Aus dem Wahlrecht erfolgt die Befugnis des Bürgers zu wählen oder der Wahl fernzubleiben. [...] Das Wahlgeheimnis schützt ihn dabei vor Beeinflussung bei der Wahl und auch vor Anfechtungen auf Grund seiner Stimmabgabe nach der Wahl.“280 Bei diesem überraschenden Spruch konnte sich die Kammer auch auf eine Anweisung von Reichsinnenminister Wilhelm Frick vom 15. Dezember 1933 stützen, nach der „jede Maßnahme, die auf die Feststellung der Nicht - Wähler und Nein - Sager hinausläuft, zu unterbleiben“ hatte. Da „das deutsche Volk sich am 12. November mit einer über wältigenden Mehrheit zu seinem Führer Adolf Hitler [...] bekannt hat“, erscheine „eine nachträgliche Feststellung der Nichtwähler als kleinliche und unnötige Maßnahme“.281 Auch in einem Bericht des Prager WTG - Büros an den Leiter des Zentraleuropäischen Büros, Martin C. Harbeck, wurde das Aufheben von Entlassungen durch Regierungsstellen erwähnt.282 Milde gegenüber Gegnern setzte sich im Apparat allerdings nicht durch. Die Spruchkammer konnte wohl mit Ver weis auf das formal weiter bestehende Wahlrecht die Sperre des Arbeitslosengeldes aufheben, die Entlassung selber ließ sie bestehen.283 In einer Weisung der Bayerischen Politischen Polizei ( BPP) vom 27. Dezember 1933 befahl Reinhard Heydrich mit Verweis auf die Wahlabstinenz der Bibelforscher „bei neuerlichem Bekanntwerden staatsfeindlichen Verhaltens“ mit Nachdruck, gegebenenfalls mit Schutzhaft vorzugehen.284 Die Zeugen Jehovas lehnten aus ihrem Verständnis von „Neutralität“ heraus die Mitgliedschaft in „weltlichen Organisationen“ ab. Außer bei den berufsständischen Organisationen („Reichsnährstand“, „Reichskulturkammer“) bestand offiziell keine Verpflichtung zur Mitgliedschaft in NS - Gliederungen. In Strafprozessen wurde eine Mitarbeit allerdings als Zeichen der Eingliederung in die Volksgemeinschaft strafmildernd im Falle einer angeblich staatsfeindlichen Betätigung für die Bibelforscher - Vereinigung gewertet. Die Probleme um die Mitgliedschaft in der „Deutschen Arbeitsfront“ ( DAF ) können beispielhaft beleuchten, warum Zeugen Jehovas ablehnend reagierten, weshalb die Frage trotz der geringen Zahlen zum Problem wurde und welche Institutionen arbeitsteilig agierten.

280 Ober versicherungsamt Dortmund, Spruchkammer für Arbeitslosenversicherung, Sitzung vom 14. 2.1934 in Detmold ( WTA, Dok 14/02/34). 281 Vgl. Hessisches Staatspolizeiamt an die Polizeidirektionen vom 15.12.1933 betr. Nichtwähler ( BArch, Slg. Schumacher, 267–2, unpaginiert ). 282 Vgl. WTG Prag an Harbeck vom 13. 3.1934 ( WTA, Dok 13/03/34). 283 Ober versicherungsamt Dortmund, Spruchkammer für Arbeitslosenversicherung, Sitzung vom 14. 2.1934 in Detmold ( WTA, Dok 14/02/34). 284 Vgl. Abschrift des Befehls für die Ortspolizeibehörden vom 9.1.1934 ( WTA, Dok 27/12/33); Drobisch / Wieland, System der NS - Konzentrationslager, S. 101.

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Nur einen Tag nach der Inszenierung des „Tages der nationalen Arbeit“ und parallel zum Verbot der freien Gewerkschaften am 2. Mai 1933 verkündete der Stabsleiter der Politischen Organisation der NSDAP, Robert Ley die „Deutsche Arbeitsfront“, die das „gesamte werktätige deutsche Volk“ umfasse. Zunächst wurden die Mitglieder der aufgelösten Gewerkschaften, dann auch berufsständische Vertretungen wie Handwerker vereinigungen in die DAF überführt. Schon bald jedoch griff sie auch nach den bis dato nicht organisierten Arbeitnehmern. Auf diese Weise wurde von den DAF - Funktionären verstärkt Druck ausgeübt. Ihr Einfluss reichte dabei auch in die Privatbetriebe hinein. Einige Arbeitgeber versuchten sich vor die Betroffenen zu stellen, zumal Bibelforscher als fleißige Arbeiter bekannt waren, was aber angesichts des aufgebauten Druckes scheiterte.285 Da alle Beiträge direkt vom Lohn abgezogen wurden, kam es auch zu Spannungen zwischen den organisierten Arbeitnehmern und den wenigen Zeugen Jehovas, die diese Reallohneinbußen nicht hatten. Spannungen, die von der DAF gerne als Entlassungsgrund angegeben wurden.286 Die Aufmerksamkeit verstärkte sich im November und Dezember 1934, als verschiedene DAF - Dienststellen Austrittserklärungen von Bibelforschern erreichten. Durch die Verordnung Hitlers über Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront vom 24. Oktober 1934 wurde die DAF zur „Gliederung der NSDAP“ erklärt.287 Damit entfiel auch das Argument kompromissbereiter Zeugen Jehovas, Mitglied einer wirtschaftlichen und nicht politischen Organisation zu sein. Einige hatten unter der Zusicherung, keiner politischen Organisation beizutreten, die Eintrittspapiere unterschrieben.288 Sie waren der Konfrontation, so lange es ging, aus dem Weg gegangen. Angesichts der Wiederaufnahme der religiösen Aktivitäten durch die Gläubigen am 7. Oktober 1934 galt es für viele Bibelforscher nun, auch in dieser Frage „Zeugnis abzugeben“. Zuerst erreichten die alarmierenden Nachrichten die DAF - Zentrale über die verschiedenen Fachverbände. Die Reichsbetriebsgemeinschaft Papier übersandte im Dezember 1934 Austrittserklärungen aus Niederschlema in Sachsen, denn diese „erhellen so richtig den Geist, der in diesen Sektenklicken [ sic !] steckt.

285 Vgl. Erinnerungsbericht von Heinrich Dickmann. Abgedruckt in Gollnick, „An das bibelund christusgläubige Volk Deutschlands ...“, S. 287, Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 187. 286 Vgl. DAF Ver waltungsstelle Wolfstein an DAF Gauwaltung Neustadt/ Haardt vom 28.11.1934 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 549 f.). 287 Verordnung des Führers über Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront vom 24.10.1934. In : Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München 1936, S. 185–187. Die DAF - Verordnung wurde in allen großen, überregionalen ( und ebenso den kleineren ) Zeitungen im Wortlaut veröffentlich. Sie wurde auch in der Tagespresse erörtert. Vgl. Rüdiger Hachtmann, Rezension zu Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999. In : Archiv für Sozialgeschichte (29. 5. 2000), URL : http ://library.fes.de / fulltext / afs / htmrez /80011.htm (14.11. 2006). 288 Vgl. Vernehmungsprotokoll der Polizeiwache Waldenburg. Abgedruckt in Diamant, Gestapo Chemnitz, S. 94.

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Gerade im Gau Sachsen, wo dieses Sektenwesen allem Anschein nach zu Hause ist, sollen von den Anhängern schon mehrere Austritte aus der DAF erfolgt sein.“289 Nun nahm sich die in „Amt Information“ umbenannte „Abteilung Abwehr“ der DAF290 des Problems an und übergab die gesammelten Berichte und Austrittserklärungen dem Sicherheitsdienst der SS : „Inzwischen werden uns aus allen Teilen des Reiches, so insbesondere aus Sachsen, Baden, Ostpreußen usw., neue Austritte gemeldet, die immer damit begründet sind, dass die religiöse Überzeugung nicht zulässt, einer politischen Organisation anzugehören. Es erscheint erforderlich, diesen Dingen nachzugehen, da anzunehmen ist, dass mit solchem religiösen Wahn von staatsfeindlicher Seite aus bewusster Missbrauch getrieben wird.“ Da vermutet wurde, dass „die Bibelforscher von einer Zentralstelle die Anweisung erhalten, nicht der DAF oder NSDAP beizutreten“, regte das „Amt Information“ entsprechende Ermittlungen beim SD an.291 Einige Ortsfunktionäre der DAF machten ihrem Unverständnis Luft : „Sind wir denn Puppen oder Amtspersonen im dritten Reich ? Haben wir uns seit 1930 als Kugelfang für kommun[ istische ] Mordschützen hingegeben, um nun diese Bibelforscherkreaturen mit Glacéhandschuhen angreifen zu müssen?“292 Die teils von den örtlichen Stellen der DAF, teils vom SD informierte Gestapo konnte vielerorts nur die Entlassung feststellen und die Überwachung veranlassen. Die Nichtmitgliedschaft in der DAF galt noch nicht als Nachweis einer staatsfeindlichen Handlung. Mitunter versuchten die betroffenen Gemeinden auch, das Problem zu bagatellisieren, um eine Inschutzhaftnahme zu verhindern. In solchen Fällen fielen die nicht versorgten Familienmitglieder der sozialen Unterstützung durch die Gemeinden anheim : „L. wäre auch bestimmt in Schutzhaft gekommen, wenn sich nicht in letzter Minute das Bürgermeisteramt Lauterecken schützend vor L. gestellt hätte. Bei dem Bürgermeisteramt Lauterecken gehen nämlich die Interessen der Gemeinde vor die der Gesamtbewegung und besonders die der Deutschen Arbeitsfront. Die Gemeinde hat ihre wahre Angst davor, dass sie die Familie L., wenn er in Schutzhaft käme, unterstützen müsse.“293 Vom Sicherheitshauptamt der SS zu Ermittlungen angeregt, 289 Reichsarbeitsgemeinschaft Papier der DAF an DAF, Abt. Sozialamt, vom 1.12.1934 (BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 732–734). 290 Vgl. Roth, Facetten des Terrors. Das „Amt Abwehr“ der DAF hat gewisse Bedeutung für die repressive Arbeit, da der SD sich hier auf eine mächtige und weitverzweigte Organisation stützen konnte. Das „Amt Abwehr“ war kurz nach „Machtergreifung“ im Zuge des Aufbaus der DAF entstanden. Durch die große Mitgliederzahl war auch eine hohe Zahl an Zuträgern vorhanden. Der DAF - Geheimdienst wurde nicht mit den anderen Nachrichtendiensten aufgelöst, sondern unter Kontrolle des SD gebracht, von der DAF finanziert und vom SD angeleitet. Ab Sommer 1934 als „Amt Information“ unter SS Sturmbannführer Felix Schmidt, bestand es bis Frühjahr 1938. Vgl. auch Neuberger, Winkelmaß, S. 211 f. 291 DAF, Amt Information an Sicherheitsamt des RFSS vom 6.12.1934 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 730 f.). 292 Meldung des DAF Ortswalters von Meinersdorf / Erzgebirge an die DAF Kreisleitung Chemnitz vom 1. 6.1935 ( BArch R 58, [ alt ZB I ] 568, Bl. 6). 293 Vgl. DAF Ver waltungsstelle Wolfstein an DAF Gaurechtsberatungsstelle Neustadt / Haardt vom 9.1.1935 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 728 f.).

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musste die Gestapo im Mai 1935 einräumen, dass es noch keinerlei Hinweise auf eine zentrale Steuerung der DAF - Austritte gäbe.294 Der Hitlergruß wurde in den ersten Jahren nach der „Machtergreifung“ von der Bevölkerung bereitwillig praktiziert. Nach dem Vorbild der italienischen Faschisten adaptiert, machte Rudolf Hess die Geste für die NSDAP 1926 obligatorisch.295 Ab 1933 wurde sie alltägliche Pflicht. Am 13. Juli 1933 erließ Reichsinnenminister Frick einen Runderlass, nach dem der Gruß auf alle öffentlichen Dienststellen ausgedehnt und zur allgemeinen Pflicht erklärt wurde.296 Das Württembergische Kultusministerium schloss sich diesem Erlass am 24. Juli 1933 an und ordnete an, den Hitlergruß in der Schule zu verwenden.297 Oberflächlich betrachtet war der Gruß ein äußerliches, verhältnismäßig unbedeutendes Merkmal des Systems. Doch erinnerte er den Nichtangepassten ständig daran, in einer feindlichen Umgebung und nicht in „Übereinstimmung mit seinen inneren Überzeugungen zu leben“.298 Nicht ohne Grund bezeichnet Tilman Allert den Gruß daher auch als „eine Art gesprochene Armbinde“.299 Den Gruß für andere sichtbar im Alltag zu befolgen, galt als Loyalitätsbeweis. Mit drohendem Unterton warnt daher der nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in den Richtlinien zur Kameradschaftserziehung : „Wer nicht in den Verdacht kommen will, sich bewusst ablehnend zu verhalten, wird daher den Hitlergruß erweisen.“300 Allert betont ebenso die religiöse bzw. sakrale Dimension des Hitlergrußes. Einerseits verkörpert das Grüßen den Kern der nationalsozialistischen Propaganda, die bestrebt war, die Person Adolf Hitlers allgegenwärtig werden zu lassen und gleichzeitig auch dem Profanen zu entziehen.301 Andererseits verspricht das Wort „Heil“ in der religiösen Konnotation die Existenz einer göttlichen Instanz, die einzig das „Heil“ in reiner Form repräsentiert und nun in den Zusammenhang mit der Person Hitlers gestellt wird.302 294 Vgl. Gestapa Berlin an Sicherheitshauptamt des RFSS vom 24. 5.1935 ( ebd. Bl. 719). 295 Der Heil - Gruß tauchte in der jüngeren deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert in nationalvölkischen und romantischen Kreisen auf. Im beginnenden 20. Jahrhundert war der Gruß in der Jugendbewegung und im Wandervogel weit verbreitet. Gerne wurde die genuin germanische Herkunft der Geste betont, übernommen wurde sie aber wohl zuvorderst vom faschistischen „römischen Gruß“, weshalb der Grußbefehl in den 1920er Jahren selbst in nationalsozialistischen Kreisen umstritten war. Vgl. Allert, Der deutsche Gruß, S. 80–83; vgl. auch Schmitz - Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 141–143 und 299–301. 296 Vgl. Allert, Der deutsche Gruß, S. 45. 297 Vgl. ebd., S. 54 f. In Preußen wurde durch die „Leitgedanken zur Schulordnung“ vom 20.1.1934 ( Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung, S. 128) angeordnet, bei Stundenbeginn und - ende sowie bei Lehrer wechsel den Hitlergruß anzuwenden. Vgl. Boberach ( Hg.), Richterbriefe, S. 48 ( FN 29). 298 Bettelheim, Aufstand gegen die Masse, S. 342. 299 Vgl. Allert, Der deutsche Gruß, S. 56. 300 Zit. nach ebd., S. 13. 301 Vgl. ebd., S. 76. 302 Vgl. ebd., S. 59 f. Hier ist auch die Herkunft des Wortes Heiland ( althochdeutsch ) aus soter ( Retter, griechisch ) über salvator ( lateinisch ) bedeutsam.

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Wolfram Meyer zu Uptrup beschrieb die beabsichtigte Wirkung der Sakralisierung Hitlers durch die nationalsozialistische Propaganda – zumal in den Krisenzeiten 1933 sowie gegen Kriegsende – als Zusammenfallen „alles Glauben und Hoffen“ in der Person Hitlers. Er repräsentiere vorwegnehmend die Heilszeit und garantiere damit auch ihr Kommen. Geführt von der Vorsehung beginne mit ihm eine neue völkische Heilszeit. Jeder einzelne Deutsche ( insoweit der zur Volksgemeinschaft gehörte !) konnte an diesem Heil teilhaben, wenn er „sich durch Fleiß oder Tapferkeit zum ‚Werke des Führers‘ und zu seiner ‚Person‘“ bekannte. Zwar muss die Vollendung des Heils für die Zukunft erhofft werden, durch einen Glaubensakt könne man aber „an der in Aussicht gestellten nahen ‚Heilszeit‘ bereits jetzt“ teilhaben.303 Hitler wurde also mit der Aura einer göttlichen Instanz ausgestattet gedacht und wie man an Gott glaubt, glaubt man an ihn. Im Gruß wünschte man sich Heil durch ihn.304 Bei diesem sakralen Geltungsanspruch des Grußes waren solche Glaubensgemeinschaften naturgemäß besonders bedroht, die nach dem Muster sogenannter totaler Institutionen organisiert sind. Diese beanspruchen die vollständige Handlungskontrolle und umfassende Sozialisationszuständigkeit über ihre Mitglieder. Konkurrierende moralische Ansprüche werden als Gegenentwürfe auf dem Weg zum religiösen Heil betrachtet.305 Dennoch war die Frage der Anwendung des Hitlergrußes bei den Zeugen Jehovas nicht unumstritten. Im September beantwortete WTG - Präsident Rutherford eine von den deutschen Anhängern gestellte Frage betreffend der Beachtung des „Hitler - Grußes“.306 Seiner Meinung nach könne man „keine Parallele ziehen zwischen den Verhältnissen in Deutschland und denen in Babylon zur Zeit als Daniel und andere sich in diesem Land befanden“.307 Da der „Staat das Recht hat, Vorschriften für die Staatsangestellten zu erlassen“ und sich „diese Vorschrift [...] nur auf einen von den Staatsangestellten zu gebenden Gruß“ beziehe, sah Rutherford keinen Zusammenhang mit irgendwelchen biblischen Vorschriften. Wem das Gewissen verbiete, dieser Anordnung zu folgen, der solle seine Arbeitsstelle verlassen und sich eine andere suchen. Noch einmal gab er bekannt, dass er mit den deutschen Behörden in Verhandlungen stehe, um ihnen klar zu machen, in keiner Weise mit Juden oder Sozialisten in Verbindung zustehen.308 Diese „defensive Verfahrensweise“309 wurde auch den Anhängern anempfohlen. Der Beauftragte der WTG, Martin C. Harbeck, bat diese, sich „den gegenwärtigen Vorschriften und Maßnahmen der Regierungs 303 304 305 306

Vgl. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 432. Vgl. Allert, Der deutsche Gruß, S. 63. Vgl. ebd., S. 106. Aus der Formulierung geht klar hervor, dass Rutherford auch die Grußformel „Heil Hitler“ meinte. 307 Vgl. Daniel 3, 1–30. 308 Rutherford an Hero von Ahlften, Vorsitzender der Norddeutschen Bibelforscher - Vereinigung vom 20. 9.1933 ( dt. Übersetzung ) ( WTA, Dok 20/09/33). 309 So gibt Landesleiter Balzereit eine Aufforderung Rutherfords in einem Brief an Martin C. Harbeck vom 24. 4.1933 wieder ( WTA, Dok 24/04/33).

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und Polizeibehörden zu unterziehen“ und „gute Bürger des Landes“ zu sein.310 In dieser Frage gingen verschiedene Anhänger aber nicht konform mit der Linie des von Rutherford Beauftragten. Noch 1933 kam es deshalb zu Entlassungen aus dem Staatsdienst, weil die Betreffenden „den von der Verwaltung angeordneten Deutschen Gruß nicht anwenden“ wollten. Damit wäre ihre „staatsfeindliche Einstellung [...] erwiesen“.311 Die Verweigerung des Grußes wurde als Verletzung der Dienstpflicht und des Treueides gewertet.312 Auch das Gestapa erließ im August 1934 einen Erlass, weil „ein Fall bekannt geworden [ sei ], wo ein 13 - jähriger Schüler das Singen des Horst - Wessel - Liedes und den deutschen Gruß mit der Begründung verweigert hat, er sei als Bibelforscher international und kenne nur einen Führer ‚Jehova‘“. Aus diesem Fall wurde geschlussfolgert, dass die Bibelforscher es verstanden hätten, „auch auf die Schuljugend Einfluss zu gewinnen“. Berichte über ähnlich gelagerte Fälle wurden eingefordert.313 Im Mai 1934 schrieb Rutherford nun, dass er seinen Standpunkt in der Grußfrage geändert habe. Grund für seinen Meinungsumschwung wären Berichte amerikanischer Zeitungen, nach denen „Herr Hitler den Platz Christi einzunehmen behauptet“. Er empfahl, den Gruß zu verweigern, denn „ein jeder, der mit dem Herrn im Bunde steht, muss Jehova und Christus Jesus um jeden Preis treu sein“.314 Diese kompromisslose Strategie wurde auf einem im September 1934 in Basel stattfindenden Kongress der Bibelforscher von Rutherford in Gegenwart von annähernd 1 000 deutschen Teilnehmern noch einmal bekräftigt.315 Die Predigt Rutherfords zirkulierte unter den Gläubigen : „Als ich zum ersten Male von diesem Gruß hörte, dachte ich, es sei ein gewöhnlicher Gruß, so, wie man z. B. auf der Straße in Amerika sagt : Hallo ! wie geht es, alter Bursche ! Aber ich bin darüber unterrichtet worden, dass der Gruß Heil Hitler eine größere, tiefere Bedeutung hat. Er hat die Bedeutung, dass das Heil von Hitler, also von einem Menschen, kommen solle. Ich habe mit Herrn Hitler keinen Streit. Ich denke, dass er ein großer Tor ist. Aber ich bin dessen sicher, dass das Heil nicht von irgend einem Menschen kommen kann. [...] Wir werden kein Haar von Herrn Hitler krümmen oder irgendein Hindernis in seinen Weg legen. Aber es mögen alle Menschen wissen, die zur satanischen Organisation gehören, dass wir Jehova dienen werden.“316 Die in Basel beschlossene Fortführung des Missionswerkes äußerte sich in Deutschland mit koordinierten Kleinversammlun310 Zirkularschreiben der Watch Tower Bible and Tract Society, Brooklyn New York, U. S. A., gez. M. C. Harbeck, vom 28. 8.1933 ( WTA, Dok 28/08/33). 311 Entlassungsschreiben der Reichsbahndirektion Breslau vom 28. 9.1933 ( WTA, Dok 28/08/33). 312 Vgl. RMdI, gez. Staatssekretär Hans Pfundtner, an alle Obersten Reichsbehörden vom 11. 6.1934 ( WTA, Dok 11/06/34). 313 Gestapa - Erlass vom 8. 8.1934; vgl. Erlasssammlung gegen Sekten und Logen ( BArch, R 58, 1074, Bl. 28–33). 314 Rutherford an Hero von Ahlften vom 17. 5.1934 ( WTA, Dok 17/05/34). 315 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 127 f. 316 Abschriften der Predigt ( SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 171, Kms / SG 97/35, Handakte sowie ebd., Karton 114, 5 StA 1783/34).

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gen am 7. Oktober 1934. Hier wurden die Baseler Entscheidungen verkündet, künftig „Gott mehr [ zu ] gehorchen als Menschen“. Im Anschluss daran wurde von jeder Versammlung ein Schreiben beschlossen und an die Reichsregierung gesandt, in dem angekündigt wurde „um jeden Preis Gottes Gebote [ zu ] befolgen“ und sich trotz Verbotes auch künftig zu versammeln, „um sein Wort zu erforschen“.317 Im zweiten Halbjahr 1934 verschärfte sich also, wie anhand dreier Handlungsbeispiele gezeigt wurde, der Konflikt der Bibelforscher mit den Erwartungen der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ : Auf eine erneute Verweigerung der Teilnahme an einer Volksabstimmung,318 dem Plebiszit über die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in der Person Hitlers am 19. August 1934,319 folgte eine nicht zu übersehende Anzahl von Austritten von Bibelforschern aus der DAF im Anschluss an deren Eingliederung in die NSDAP - Strukturen. Im Oktober 1934 wurde dann außerdem kollektiv allen den eigenen Glaubensvorstellungen widersprechenden Weisungen der staatlichen Obrigkeiten eine Absage erteilt. Diese Entwicklung führte zu verstärkter Anzeigebereitschaft in der NSDAP - Basis, zumal die Teilfreigabe des WTG - Vermögens und die damit einhergehenden Bibelforscheraktivitäten auf Unverständnis stießen. Auch innerhalb der Polizei, insbesondere der Geheimen Staatspolizei, mehrte sich die Kritik. Sowohl im Hinblick auf freisprechende Urteile wie im Fall des Schöffengerichts Bielefeld, als auch bei Ver weigerung eines richterlichen Haftbefehls und zögerlichen gerichtlichen Verfahren drang die Gestapo wiederholt auf Aufhebung der richterlichen Entscheidungen und Einflussnahme auf die Justiz, damit die zuständigen Gerichte und Staatsanwaltschaften die Zeugen Jehovas so behandeln, wie es deren Gefährlichkeit entspräche.320

1.7

Anfänge des geheimpolizeilichen Apparates

Der Machtanspruch des SS - geführten Repressionsapparates kam nicht von ungefähr. SS-Chef Heinrich Himmler kam als Reichsführer einer Abteilung der SA beim Kampf um einflussreiche Posten zunächst nicht zum Zuge. Auch der ihm unterstellte „Parteigeheimdienst“, der „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ ( SD ), war Anfang 1933 mehr „eine bescheidene, dilettantische und gering dotierte Organisation“,321 als das er weiter gehende Machtambitionen hätte wirksam unterstützen können.

317 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 128 f. 318 Verordnung zur Durchführung der Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs vom 3. 8.1934, RGBl. I, S. 757. 319 Zur Volksabstimmung vom 19. 8.1934 vgl. Jung, Plebiszit und Diktatur, S. 61–81. 320 Vgl. Tagesmeldung des Gestapa vom 5.12.1934 ( BArch, R 58, 5781a, [ alt ZB I 1419], Bl. 711); Tagesmeldung des Gestapa vom 29.1.1935 ( ebd., Bl. 842). 321 Browder, Die Anfänge des SD, S. 302.

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Bereits nach einem halben Jahr jedoch hatte Himmler in Bayern jene Trias an Repressionsmitteln in der Hand, die die Grundlage des künftigen SS - Polizeistaates bilden sollten : politische Polizei, Inlandsgeheimdienst und unkontrollierbare „Gegnerverwahrung“.322 Als kommissarischer Münchner Polizeipräsident, zu dem er im März 1933 ernannt wurde, und als politischer Polizeikommandeur Bayerns hatte er auch die Verfügungsgewalt über die Bayerische Politische Polizei ( BPP ) bekommen. Diese war bereits vor 1933 weitgehend auf den Kampf gegen links ausgerichtet.323 Auch der SD konnte sich trotz seiner bescheidenen Anfänge bis 1934 als einziger Geheimdienst der NSDAP etablieren. Folgenreicher war noch die Errichtung eines der SS unterstellten Konzentrationslagers vor den Toren Münchens, in Dachau. Das Beispiel dieses Lagers entwickelte sich zur Blaupause sämtlicher nach 1934 weiter existierenden Konzentrationslager. Die reichsweite Zusammenfassung des direkten Repressionsapparates vollzog sich in zwei parallelen Entwicklungen : in der Zusammenfassung der Geheimpolizeikompetenzen beim Reich und in der gleichzeitigen Herauslösung des Polizeiapparates aus der staatlichen Verwaltung. Die Übernahme des politischen Polizeiapparates vollzog sich dezentral. Da das Reich keine Polizeikompetenzen besaß, mussten die Polizeibehörden länderweise übernommen werden. In allen Ländern Deutschlands wurden im Frühjahr 1933 politische Polizeibehörden eingerichtet. Konnte nicht wie in Bayern auf bestehende Geheimpolizeiapparate zurückgegriffen werden, bildete man wie in Preußen aus der kleinen politischen Abteilung der Kriminalpolizei den Nukleus des später zentralen Geheimen Staatspolizeiamtes ( Gestapa ). In anderen Ländern wurden schrittweise neue Institutionen geschaffen, so in Sachsen im März 1933 das „Landesabwehramt zur Bekämpfung staatsfeindlicher, insbesondere bolschewistischer Bestrebungen“, das bereits im April in „Zentrale für Umsturzbekämpfung“ umbenannt wurde. Im Juli 1933 erhielt die inzwischen nur dem Innenministerium unterstellte Behörde in Anlehnung an das preußische Vorbild die Bezeichnung Gestapa Sachsen.324 Beginnend mit Hamburg (6. Oktober 1933) erreichte Himmler bei den jeweiligen Reichsstatthaltern die Ernennung zum Politischen Polizeikommissar. Am 2. Juni 1934 hatte er mit der Übernahme des Amtes in Schaumburg - Lippe sämtliche Länder - Geheimpolizeiapparate in seiner Hand.325 Nach dieser Zusammenfassung der Geheimpolizei in den Ländern im Wege der Personalunion folgte als nächster Schritt die „Verreichlichung“. Noch 1934 wurde im Berliner Gestapa als Koordinationsstelle das „Zentralbüro des Politischen Polizeikommandeurs der Länder“ eingerichtet. Durch einen Runderlass des RMdI vom 20. September 1936 mit „den Aufgaben des Politischen Polizei322 Zur Übernahme der BPP durch Himmler und Heydrich vgl. Schwegel, Der Polizeibegriff im NS - Staat, S. 50–55. 323 Vgl. Neuberger, Winkelmaß, S. 163. 324 Vgl. Lahrtz, Zu den Strukturen und Aufgabenfeldern, S. 35 f., sowie Schmid, Gestapo Leipzig, S. 11. 325 Vgl. Aronson, Reinhard Heydrich, S. 169–172.

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kommandeurs“ beauftragt, übernahm es damit die Führung der Länder- Gestapas. Bis 1937 wurden die einzelnen Politischen Polizeien dem Gestapa unterstellt und als Stapo[ leit ]stellen auch dem Namen nach in ein reichseinheitliches Netz eingegliedert. Mit dem 1. Gestapo - Gesetz vom 26. April 1933 wurde das Gestapa errichtet und die Politische Polizei aus der bisherigen Stellung in der Inneren Verwaltung gelöst. Doch noch unterstand es dem Preußischen Innenministerium. Verfügungen und Anordnungen, dies betraf auch Schutzhaftbefehle, waren durch Klage und Beschwerde im Ver waltungsstreitverfahren anfechtbar.326 Diese Lücke schloss schon ein halbes Jahr später das 2. Gestapo - Gesetz vom 30. November 1933. Die Staatspolizei wurde dem Zugriff des Innenministeriums entzogen und dem Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring direkt unterstellt und damit als eigenständiger Zweig der inneren Ver waltung etabliert. Etwaige Beschwerdemöglichkeiten waren aufgehoben.327 Nachdem Göring am 21. April 1934 Himmler zum Inspekteur und Stellvertretenden Chef der geheimen Staatspolizei ernannte, verzichtete er mit Erlass vom 20. November 1934 auf sein Weisungsrecht gegenüber Himmler.328 Ein 3. Gestapo - Gesetz enthob die Gestapo jeglicher Zugriffsrechte durch die Verwaltungsgerichte. Auch die inhaltlichen Schranken der Gestapotätigkeit wurden aufgehoben. Mit der Formulierung, die Gestapo habe die Aufgabe, „alle staatsgefährlichen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu erforschen und zu bekämpfen“, erhielt sie das Recht auf völlig offene und eigenständige Definition der zu bearbeitenden Gegner. Außerdem wurden ihr die Kreis - und Ortspolizeibehörden als Hilfsorgane unterstellt.329 Diese Unterstellung, schon seit 1933 erprobt, verschaffte der Gestapo trotz geringer Mitarbeiterzahl den Nimbus ständiger Präsenz. Vorermittlungen, Über wachung und Vollzugsmaßnahmen überließ die Gestapo zumeist der örtlichen Gendarmerie. Trotz vielfältiger Reibungsverluste beruhten viele Erfolge in der Gegnerbekämpfung auf den örtlichen Polizeibehörden. Sie kannten die lokalen Gegebenheiten, sie kannten die Protagonisten politischer Gegner. Dabei hatte der einzelne Beamte eine kaum begrenzte Definitionsmacht. Er konnte auf all diejenigen zugreifen, „die man ohnehin schon immer im Auge hatte“.330 Mit den Bibelforschern beschäftigte sich innerhalb des Gestapa die Dienststelle II 1 B unter Gerhard Flesch. Hier wurden Belange Konfessioneller Verbände, Juden, Freimaurer und Emigranten bearbeitet. Das Dezernat „Konfessionelle Verbände und Sekten“ umfasste Ende 1934 ganze vier Mitarbeiter. Nicht nur diese personelle Ausstattung verdeutlicht die geringe Rolle, die Bibelforscher bislang in der Arbeit der Gestapo spielten. Auch in den regionalen Stapostellen musste mit geringen personellen Mitteln gearbeitet werden. In klei326 327 328 329 330

Abgedruckt in Rürup ( Hg.), Topographie des Terrors, S. 55–57. Abgedruckt in ebd., S. 57 f. Abgedruckt in ebd., S. 60. Abgedruckt in ebd., S. 58. Vgl. Nitschke, Polizei und Gestapo, S. 317.

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neren Dienststellen war jeder Beamte für alles verantwortlich, nur in größeren Städten entwickelten sich „Fachleute“ für Bibelforscherfragen. Die bis zum Oktober 1934 nur sporadisch anzutreffenden Kontakte der Zeugen Jehovas untereinander blieben der Polizei lange verborgen. Dies lag zum einen daran, dass diese sich in alltäglichen Zusammenhängen wie Hauskränzchen, privaten Läden oder Vertretertätigkeit abspielten,331 die zu dieser Zeit noch nicht flächendeckend zu kontrollieren waren. Zum anderen maßen die Verfolgungsinstanzen diesen Aktivitäten noch wenig Bedeutung bei.332 Zwar konnte die Polizei auch auf Namenslisten zurückgreifen, die schon vor 1933 angelegt wurden, da aber die meisten Bibelforscher nach den Anweisungen ihrer Führung passiv blieben, wurden sie nicht aktenkundig.333 Zudem wurde die Arbeit der Polizei dadurch gehemmt, dass „unbedenkliche Schriften“ hergestellt und vertrieben werden durften. Das Gestapa musste entsprechend umständlich jede einzelne Druckschrift prüfen und per Rundschreiben verbieten.334 Noch im Oktober 1934 unterschied eine Verfügung der BPP zwischen Schriften der WTG in Brooklyn und denen anderer Herkunft. Während Letztere beschlagnahmt werden durften, waren die anderen den Besitzern zu belassen.335 Obwohl es seit Frühjahr 1934 z. B. in Hamburg zu ersten größeren Verhaftungsaktionen kam, verlief die Polizeiarbeit in den beiden ersten Jahren der NSHerrschaft vor allem nach dem Prinzip der Abschreckung. Dies soll ein Beispiel aus Dresden belegen : Im Vorfeld der Reichstagswahl im November 1933 erreichte die NSDAP - Ortsgruppe Freital eine Anzeige eines Reichsbahn - Oberinspektors. In der Wohnung einer ihm bekannten Frau würden sich Bibelforscher treffen, um ihr Verhalten zur Wahl abzustimmen. Diese Anzeige wurde an das Dresdner Polizeipräsidium weitergereicht. Dieses wiederum informierte den zuständigen Bürgermeister, der den lokalen Gendarmerieposten anwies, die betreffende Wohnung zu „überholen“ und Ermittlungen anzustellen. Hintergrund der Anzeige war eine Auseinandersetzung des Reichsbahnbeamten mit seiner Ehefrau, die sich zu den Bibelforschern zählte und trotz der Vorhaltungen ihres Mannes, dass „es gerade bei dieser Wahl auf jede einzelne Stimme ankomme“ erst „die Meinung ihrer Schwestern und Brüder hören müsse“. Die Polizei fand bei ihrer Durchsuchung der Wohnung keinerlei Druckschriften, auch andere Beweise für die Weiterbetätigung als Bibelforscher ließen sich nicht erbringen, obwohl der Verdacht bestand, dass „es sich bestimmt um eine verabredete Zusammenkunft gehandelt“ hatte. Das Verfahren vor dem Sondergericht Freiberg wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Dennoch verfehlte diese Vorgehensweise aus Denunziation, Durchsuchung, Verhör und Anzeige ihre Wirkung nicht. Wie der Ehemann zufrieden feststellte, sei seine Frau „durch den Vorgang sehr eingeschüchtert“. Er glaube nicht, dass sich „die Beschuldigten 331 332 333 334 335

Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 265. Vgl. ebd., S. 268. Vgl. Stolle „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 97. Vgl. ebd., S. 98. Vgl. Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 625 ( FN 22).

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noch weiterhin irgendwie betätigen und Zusammenkünfte haben“. Anderenfalls würde er dies „auch sofort zur Anzeige bringen“.336 Auch der Sicherheitsdienst konnte sich bis Mitte der 1930er Jahre institutionell rasant entwickeln. Noch im Herbst 1933 wurde er zum fünften Amt innerhalb des SS - Apparates. Mit dem Umzug nach Berlin Anfang 1935 wurde das SD- Amt zum SD - Hauptamt erhoben. Ihm unterstanden die SD - Oberabschnitte, denen wiederum SD - Abschnitte und Außenstellen unterstellt waren. 1934 konnte sich der Sicherheitsdienst nicht nur als einziger Nachrichtendienst der NSDAP etablieren, in einer Verfügung vom 4. Juli 1934 bestimmte der „Politische Polizeikommandeur und Inspekteur der Gestapo“, den SD an der Erfüllung aller Aufgaben des Staatsschutzes zu beteiligen. Nachdem schon 1933 innerhalb der Abteilung III („Information Inland“) ein Referat 2 („Religion“) mit Glaubensgemeinschaften beschäftigt war,337 synchronisierte ein neuer Geschäftsverteilungsplan die Strukturen des Sicherheitsdienstes mit den entsprechenden Referaten der Gestapo. Eine Kirchenabteilung II /113, dem die Abteilung II B 2 der Gestapo entsprach, war in der Zentralabteilung II /1 („Weltanschauliche Auswertung“) der Hauptabteilung II /11 („Weltanschauliche Gegner“) unterstellt. Hier beschäftigte sich ein Referat II /1133 mit den „Sekten“. Doch die differenzierten Arbeitsgebiete überstiegen die personellen und intellektuellen Fähigkeiten des SD zunächst bei weitem. Anfang 1933 hatte der SD etwa 40 Mitarbeiter.338 Während im Frühjahr 1934 im Gestapa in Berlin 600 Mitarbeiter beschäftigt waren ( dazu kamen allein in Preußen 2 000 Beamte der Staatspolizeistellen ), zählte der SD reichsweit etwa 200 Mitarbeiter.339 Zwar stieg diese Zahl bis Ende 1935 auf etwa 1 000 an, die SD - Mitarbeiter waren jedoch den ebenfalls mit Fragen von Religionsgemeinschaften befassten Beamten der Gestapo oder des Reichskirchenministeriums hinsichtlich von Bildung und Herkunft unterlegen. Für ihre Rekrutierung war eher die politische Zuverlässigkeit als die fachliche Kompetenz ausschlaggebend. Kriterium hierfür war vor allem eine frühe Mitgliedschaft in NS - oder völkischen Organisationen.340 Auch das Netz an „Vertrauensmännern“ war erst 1936/37 so weit geknüpft, dass es zur einigermaßen lückenlosen Kontrolle genutzt werden konnte. Browder berichtet, dass in Wiesbaden von 14 „Vertrauensleuten“ nur vier als zuverlässig eingeschätzt werden konnten.341 Gerade bei der Bearbeitung der kleineren Religionsgemeinschaften fällt auf, wie gering anfangs das Wissen der entsprechenden Bearbeiter war. Eine Anweisung zur Berichterstattung für die SD - Oberabschnitte von 1934 gibt für die beiden großen Referate III /2 A („Katholizismus“) und III /2 B („Protestantismus“) detaillierte Vorgaben, wel336 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Polizeiamtes Freital vom 3.1.1934 ( SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 6, 6 StA 3212/33). 337 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 245 f. 338 Hachmeister, Der Gegnerforscher, S. 148. 339 Wildt, Generation des Unbedingten, S. 246 f. 340 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 86. Allerdings glichen beispielsweise ehemalige katholische Priester die mangelnden Fachkenntnisse aus. Vgl. ebd., S. 89. 341 Browder, Die Anfänge des SD, S. 305.

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che Bereiche des kirchlichen Lebens beobachtet und bespitzelt werden sollen. Der Aufgabenbereich für die Abteilung III /2 C („Sekten“) ist dagegen äußerst simpel. Grob in die Richtungen „Christliche Sekten“ und „Nichtchristliche Sekten und Religionen“ getrennt, ging es zuvorderst um Kenntnisse zur Verbreitung und geistigen Ausrichtung.342 Noch mussten also Grundkenntnisse erarbeitet werden. Der langjährige „Sektenreferent“ im SD, Walter Kolrep, unterschied sich wenig von den beschriebenen Merkmalen von SD - Mitarbeitern : der besonderen Linientreue und der mangelnden Vorbildung. 1910 geboren trat er schon mit 19 Jahren der NSDAP und der SS bei. Er besuchte die Oberrealschule, nahm eine Drogerie - Lehre auf und arbeitete mehrere Jahre als Drogerie - Gehilfe sowie als Verkäufer. Nach einer Tätigkeit als Personalreferent bei der 17. SS - Standarte in Hamburg wechselte er 1935 ins neu geschaffene SD - Hauptamt, wo er ab dem 1. 4.1936 auch offiziell zum Referenten ernannt wurde.343 Seine Vorkenntnisse waren entsprechend gering. Auch für die Suche nach geeigneten Mitarbeitern waren seiner Meinung nach eine gute nationalsozialistische Haltung und eine gute Schulbildung ausschlaggebender als das Wissen um die religiöse Landschaft.344 Allerdings fällt in der Folgezeit auf, dass sich Ansätze systematischer und kontinuierlicher Sammlung von Informationen im Referat II /1133 entdecken lassen. Wie in den verschiedenen „Funktionstrennungserlassen“ angemahnt, konzentrierte sich das Referat auf die langfristige Erforschung des Gegners, um die Einzelfallbearbeitung der Gestapo zu übergeben. Noch war die Zielrichtung der Sektenarbeit nicht klar, die Angaben wechseln zwischen völliger Zerschlagung sämtlicher Sekten345 und dem gezielten Erhalt der „harmlosen Gruppen“, um damit die kirchliche Zersplitterung zu befördern. Die konkret anstehenden Aufgaben dagegen waren eindeutig : es ging um die statistische Erfassung, die Auswertung der entsprechenden Literatur, den Aufbau einer Sektenbibliothek sowie die Erarbeitung eines Nachschlagewerks, um die mangelnden Fachkenntnisse auf regionaler und lokaler Ebene auszugleichen. Durch das Zusammenstellen von einschlägigem Material war Kolrep auch in die Verbotsvorbereitung verschiedener Religionsgemeinschaften einbezogen. Bis 1935/36 betätigte sich der SD jedoch vorrangig als Informationssammelstelle, die relevante Kenntnisse an die Gestapo zur Weiterbearbeitung gab. Demgegenüber erstaunt die große Beachtung, welche die Freimaurer in den ersten Jahren des SD fanden. Ein eigenes Referat III /5 beschäftigte sich mit den schon in der „Kampfzeit“ zum Standardrepertoire der nationalsozialistischen und völkischen Verschwörungstheorien gehörenden Vereinigungen. Daher standen wohl auch genügend „Experten“ zur Verfügung.346 Außerdem bezogen viele 342 Vgl. ebd., S. 315. 343 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 554 f. 344 Vgl. Bericht „Das Sektenwesen“, Bearbeiter Oberscharführer Walter Kolrep, o. D. ( vor dem 30.1.1937) ( BArch, R 58, 7492, Bl. 14–16). 345 Vgl. Dienstanweisung für das Sachgebiet II 1133 ( Sekten ), o. D. ( BArch, R 58, [ alt ZB I /1184] 5713, Bl. 165–174). 346 Vgl. Browder, Die Anfänge des SD, S. 307.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

Mitarbeiter ihre Informationen aus den einschlägigen Ludendorff - Schriften.347 Gerade nach der „Machtergreifung“ konnten die neuen Machthaber große Freimaurer - Bestände beschlagnahmen, die jetzt ausgewertet werden mussten. Die unverhältnismäßige Beschäftigung mit den Freimaurern verdeutlicht das an der Dimension internationaler Verschwörungen ausgerichtete Feindbild innerhalb von SD und Gestapo. Es galt nun, den „defensiven“ Impetus, das Bild des allmächtigen im Inneren wie im Außen agierenden Feindes, aggressiv zu wenden, ihn zur Ausrichtung des eigenen Apparates und zur Artikulation des eigenen Machtanspruches gegenüber den Vertretern des „Normenstaates“ in Ver waltung und Justiz zu nutzen.348 Die Entwicklung des Umgangs mit den Bibelforschern in den ersten beiden Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft verdeutlicht die schwindenden „Grenzen der Diktatur“. Im Gegensatz zum Jahr der „Machtergreifung“ mussten Ende 1934 sowohl im Hinblick auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt als auch auf außenpolitische Belange viel weniger Rücksicht genommen werden. Das Regime hatte sich etabliert, es musste die Frage geklärt werden, wie mit „Feinden“ künftig umgegangen werden sollte. Dabei standen sich zwei Linien gegenüber : In den kommenden Jahren musste geklärt werden, ob zu „normalen Verhältnissen“ zurückgekehrt werden könne oder ob der Ausnahmezustand, der seine rechtliche Grundlage in der Reichstagsbrandverordnung fand, als dauerhaft anzusehen war. Die Auseinandersetzung um die künftige Behandlung der Bibelforscher war Ausdruck dieses Dissenses und soll im Folgenden betrachtet werden.

2.

Phase der Herrschaftssicherung (1935–1938/39)

2.1

Durchsetzung des Verbotes

Wie schon in den Herbstmonaten des Jahres 1934 konstatierten zu Beginn des Jahres 1935 verschiedene Berichte von Staatspolizeistellen, dass Aktionen der Polizei zur Durchsetzung des Bibelforscherverbotes „keinen durchschlagenden Erfolg“ gebracht hätten. Die Bibelforscher seien im Gegenteil in gesteigertem Maße hervorgetreten, um so den organisatorischen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten.349 Insbesondere der mit dem Erlass des RMdI vom 13. September 1934 erlaubte „Druck und Vertrieb von Bibeln und sonstiger unbedenklicher Schriften“ wurde immer häufiger Gegenstand kritischer Meldungen, denn der Bibelverkauf, so ein Bericht des Sicherheitsdienstes der SS, würde genutzt, um die Lehrtätigkeit auch weiterhin durchzuführen.350 Die Justiz ihrerseits sah sich 347 Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 166. 348 Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 212 und 302. 349 Vgl. Bericht der Staatspolizeistelle Altona von Januar 1935. Zit. in Imberger, Widerstand „von unten“, S. 285. 350 Bericht der SD - Stelle 55001 an SD III 2 vom 22. 3.1935 ( BArch, R 58, [alt ZB I ] 1462, Bl. 644–647).

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verstärktem Druck durch die Gestapo ausgesetzt, konnte sie doch gegen den Bibelverkauf nicht vorgehen. Doch bald erkannten findige Staatsanwälte eine Lücke : Um sich vor den Polizeibehörden aber auch in den aufgesuchten Haushalten legitimieren zu können, hatten viele Bibelforscher eine Karte der Wachtturm - Gesellschaft bei sich, die auf die Erlaubnis des Reichsinnenministeriums zum Bibelverkauf verwies.351 Auf eine Anfrage des RJM antwortete das RMdI, dass der Druck dieser Karte nicht genehmigt sei, das Mitführen der Karte daher als Lehrtätigkeit für die INB gelte.352 Unter den noch agierenden Büros der Wachtturm - Gesellschaft war es namentlich die Rechtsabteilung, deren Gefährlichkeit die Gestapo beschwor. Durch zentrale Anweisungen an frühere Anhänger betreffend des Verhaltens vor Gericht,353 die Vermittlung und Bezahlung von Rechtsanwälten sowie die Sammlung von Strafbefehlen schaffe sie einen moralischen Rückhalt und somit die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts.354 Aus diesem Grund wurde versucht, sämtliche im ehemaligen Bibelhaus in Magdeburg aus - und eingehende Post zu kontrollieren, um so die nötigen „Beweise“ für das Vorgehen gegen das in einer Grauzone agierende Rechtsbüro zu erhalten.355 Obschon die Wachtturm - Gesellschaft und das amerikanische Generalkonsulat in Ergänzung ihrer Beschwerden über die Behinderung der Tätigkeit der Gesellschaft vom 19. Dezember 1934 auch weiterhin auf eine positive Verhandlungslösung drangen, schienen innerhalb der federführenden deutschen Institutionen die Würfel für das weitere Vorgehen gegenüber der WTG gefallen zu sein. Während das Auswärtige Amt in Erwiderung der Eingabe der WTG an das RMdI die Drohungen mit einem Verfahren vor dem Haager Gerichtshof als wenig wahrscheinlich abtat, aber „aus politischen Gründen eine möglichst entgegenkommende Behandlung der Gesellschaft für angezeigt“ hielt,356 lehnte das Gestapa in seiner Stellungnahme jegliche Weiterbetätigung für die WTG strikt ab. Die Vermögens - und Druckfreigabe habe eine unklare Rechtslage geschaffen, die von der WTG mittels Schriftenverbreitung und Rechtsberatung zur Umgehung des IBV - Verbotes ausgenutzt würde. „Fälle von Verweigerung des deutschen Grußes, unmännlichem und undeutschem Pazifismus und Angriffe

351 Bescheinigung der WTG ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 403). 352 RJM an RMdI vom 6. 3.1935 und Antwort des RMdI vom 14. 3.1935 ( ebd., Bl. 434). 353 „Gerichtsverfahrensordnung“, herausgegeben von der Rechtsabteilung für die Gläubigen ( SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 124, Js / SG 1197/35, unpaginiert ). 354 Tagesmeldung des Gestapa vom 11. 4.1935 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 803); vgl. auch Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 282. 355 Vgl. Schilderung meines „legalen“ und „illegalen“ Kampfes gegen die Naziherrschaft, ohne Autor vom 15. 2.1948 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 862, Bl. 45–53, BArch, DO 4, 734, unpaginiert ). Dieser Bericht ist ohne Verfasserangabe, die Eigenbeschreibung des Autors („Generalbevollmächtigter und Syndikus“) verweisen aber auf Hans Dollinger. 356 AA an RMdI vom 14.1.1935 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 338 f.).

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auf Staat und Regierung“ seien Folge dieser Tätigkeit gewesen und bewiesen zudem, dass die Ernsten Bibelforscher „immer mehr in kommunistisches Fahrwasser“ gerieten. Auch wirtschaftliche Argumente, wie von der WTG vorgebracht, dürften nun „nicht mehr allein ausschlaggebend sein für Maßnahmen, die zur Sicherheit und Erhaltung des nationalsozialistischen Staates geboten“ seien.357 Zur Koordinierung der weiteren Behandlung der Wachtturm - Gesellschaft trafen sich am 1. Februar 1935 Vertreter des RMdI, des Auswärtigen Amtes, des Gestapa, der Staatspolizeistelle Magdeburg sowie des Stabes des Stellvertreters des Führers zu einer Referentenbesprechung. Das Innenministerium und das Gestapa wiesen noch einmal auf die negative Wirkung des Erlasses vom 13. September 1934 hin. Alle Beteiligten waren in der Kritik am derzeitigen Zustand einer Meinung und mussten sich lediglich mit der Frage beschäftigen, wie amerikanische Proteste gegen die Auf lösung der Magdeburger Zentrale vermieden werden könnten. Da sich der amerikanische Generalkonsul, Douglas Jenkins, betreffend der WTG - Frage schon im Innenministerium angekündigt hatte, wurde beschlossen, ihm ein Memorandum zu überreichen, in dem nach eingehender Schilderung der staatsfeindlichen und gesetzeswidrigen Tätigkeit der WTG nahegelegt wurde, die WTG zu drängen, ihren Betrieb freiwillig zu liquidieren. Anderenfalls käme es zu einer zwangsweisen Auf lösung durch den zuständigen Regierungspräsidenten. Wie Garbe richtig vermutete, wurde diese Möglichkeit „im Blick auf die Reputation des Reiches beim US - amerikanischen Generalkonsulat“ gewählt,358 denn mit dieser Regelung stand der WTG die Möglichkeit eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens offen, den Bestimmungen des deutsch - amerikanischen Freundschaftsvertrages wäre also Genüge getan.359 Nachdem ein Schriftsatz des Generalkonsulats sämtliche gegen die WTG vorgebrachten Vorwürfe zurückwies,360 gab das Reichsinnenministerium in einem Schreiben an das Gestapa den Weg für ein Verbot frei. Gleichzeitig mahnte sie nochmals, alle „unnötigen Schärfen“ zu vermeiden, „von Verhaftungen oder sonstigen Beschränkungen der persönlichen Freiheit von Angestellten [...] abzusehen“ und auch das Vermögen nicht gemäß Reichsgesetz vom 14. Juli 1933 als staats - und volksfeindlich zu deklarieren, um so der Gesellschaft die Möglichkeit der Liquidation zu lassen.361 Ganz so lautlos, wie sich die Beamten des Reichsinnenministeriums das gewünscht hatten, sollten die folgenden Maßnahmen allerdings nicht erfolgen. Nachdem mit dem 7. Oktober 1934 in Deutschland das „Verkündigungswerk“ durch die verbotene IBV wieder aufgenommen wurde, versammelten sich im Gegensatz zum Vorjahr am 17. April 1935 die Gläubigen wieder zum jährli357 Gestapa an PrMdI vom 14.1.1935 ( ebd., Bl. 347 f.). 358 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 134. 359 Vermerk über die Referentenbesprechung am 1. 2.1935 vom 15. 2.1935 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 365–369). 360 Vgl. Aufzeichnung des American Consular Service vom 26. 3.1935 ( ebd., Bl. 375–380). 361 RMdI an Gestapa vom 1. 4.1935 ( ebd., Bl. 371).

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chen Gedächtnismahl. Wie beispielsweise ein Schreiben des sächsischen Gestapa belegt, erfuhr die Geheime Staatspolizei den Termin aus beschlagnahmten Bibelforscherschriften und befahl den Ortspolizeibehörden, für den 11. April 1935 einen „überraschenden Zugriff bzw. Wohnungskontrollen“ bei den bekannt gewordenen Bibelforschern durchzuführen.362 Die für Ende April angeforderten Erfolgsmeldungen blieben aber weitgehend aus,363 denn die IBV wurde ihrerseits vor der geplanten Aktion der Polizei gewarnt. Die Umstände, wie die Bibelforscher an die Information gerieten, liegen weitgehend im Dunkeln. Die offiziöse Darstellung der Glaubensgemeinschaft spricht von einem „Freund der Wahrheit, der zu solchen Geheiminformationen Zugang hatte“.364 Fest steht, dass die Hamburger Polizei anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung bei einem Bibelforscher die Abschrift des Gestapa - Befehls fand. Nach Vernehmungen verschiedener Beteiligter wurde ermittelt, dass die Abschrift von Fritz Winkler zugestellt wurde.365 Dieser berichtete in einer späteren Vernehmung, dass er eine Abschrift des Gestapa - Befehls anonym aus Berlin zugesandt bekam und außerdem noch durch einen Polizeibeamten aus Velten bei Berlin gewarnt wurde. Im Auftrag der Magdeburger Zentrale habe er dann die verschiedenen Bezirksdiener informiert.366 Nachdem die Ermittlungen in dieser Sache auf eine Verbindung mit dem Magdeburger Bibelhaus stießen, entschloss sich das Berliner Gestapa die Chance zu nutzen und am 26. April die dortigen Gebäude erneut zu besetzen. Alle Anwesenden wurden verhaftet.367 Am Folgetag erließ der Magdeburger Regierungspräsident von Jagow dann die vom Reichsinnenministerium schon avisierte Verbotsverfügung für die WTG. Die Auf lösungsverfügung, die ausdrücklich die Möglichkeit einer ver waltungsgerichtlichen Klage einräumt, nahm in ihrer Begründung insbesondere auf die Arbeit der Rechtsabteilung und den Vertrieb von Druckschriften bibelforscherischen Inhalts Bezug, was auf einen „organischen Zusammenhang“ zwischen WTG und staatsfeindlicher und somit verbotener IBV hinweise.368 Mit 362 Schreiben des Präsidenten des Sächsischen Gestapa, Mehlhorn, vom 11. 4.1935 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI 4203, Bl. 67). Der ursprüngliche Erlass des Gestapa Berlin erging am 20. 3.1935 ( BArch, R 58, 1074, Bl. 28). 363 Vgl. beispielsweise Meldung der Polizeiwache Bischofswerda vom 17. 4.1935 ( ebd., Bl. 71); vgl. auch Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 143 f. 364 Ebd., S. 144. 365 Vgl. Abschrift eines Berichtes der ermittelnden Hamburger Stapobeamten, o. D. ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 674 f.). 366 Vgl. Abschrift der Vernehmung Fritz Winklers vom 24. 8.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB II] 1421, Bl. 1485–1518, hier 1496 f.). 367 Vgl. Abschrift eines Berichtes der ermittelnden Hamburger Stapobeamten o. D. ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 674 f.). Insofern trifft die Vermutung von Garbe, dass die Verhaftung des Generalbevollmächtigten und Syndikus der WTG, Hans Dollinger, und des Reichsdieners Paul Balzereit „im Zusammenhang mit der erneuten Besetzung des Magdeburger Zweigbüros“ erfolgte, nur bedingt zu, vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 135. 368 Vgl. Abschrift der Verbotsverfügung durch den Magdeburger Regierungspräsidenten vom 27. 4.1935 ( BArch, Sammlung Schumacher, 267–1, unpaginiert ). Die verschiedenen in der Literatur kursierenden Daten dieses endgültigen Verbotes, z. B. 3. 6.1935 in

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Schreiben vom 13. Juli teilte das Reichsinnenministerium den Landesbehörden dann auch die vorläufige Beschlagnahme des Vermögens der WTG durch den Magdeburger Regierungspräsidenten mit und bat um entsprechende Verfügungen in den Ländern.369 Wie Hans Dollinger später berichtete, erarbeitete er zusammen mit einem durch das amerikanische Generalkonsulat beauftragten Rechtsanwalt in seiner Zelle im Berliner KZ Columbiahaus „eine 74 Seiten umfassende Anklageschrift im Verwaltungsstrafverfahren gegen den Staat Preußen wegen Verfassungsbruch, Verletzung des Handels - , Freundschafts - und Konsultationsvertrages von 1922 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Deutschen Reiche und rechtsbrechender Zuwiderhandlung gegen geltendes deutsches Recht“. Damit wurde eine Klage vor dem Haager Schiedsgericht zum Unwillen der deutschen Behörden doch wahrscheinlicher, so dass sie neuen Verhandlungen zustimmten.370 Nach einigen Schwierigkeiten, inzwischen wurde der vor Ort koordinierende Leiter des Zentraleuropäischen Büros, Harbeck, verhaftet und ausgewiesen,371 kam man überein, dass die WTG bewogen werden soll, ihre Klage zurückzuziehen, wenn im Gegenzug ihr Vermögen freigegeben würde. Nach dem verbotsbestätigenden Urteil des Reichsgerichts vom 24. September sah auch die WTG die Vergeblichkeit weiteren Hoffens auf Legalität ein und schloss am 10. Oktober 1935 mit dem Gestapa Berlin, vertreten durch Werner Best eine Vereinbarung. Damit zog sie ihre Klage vom 11. Mai 1935 vor dem Magdeburger Bezirksverwaltungsgericht gegen das Verbot und die vom 17. Juli desselben Jahres gegen die Vermögensbeschlagnahme zurück und ließ auch den Klageanspruch auf Feststellung, dass keine staatsfeindliche Betätigung vorgelegen hätte, fallen. Gleichzeitig hob das Gestapa die Vermögensbeschlagnahme auf und unterstellte den Besitz einem Treuhänder.372 Die Reste legaler Handlungsmöglichkeiten für die Bibelforscher wurden spätestens

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Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 282 f., resultieren wahrscheinlich aus den Daten der jeweiligen Mitteilungsschreiben über die WTG - Auf lösung an die verschiedenen Landes - und Ortspolizeibehörden. Vgl. Schnellbrief des RMdI an alle Landesregierungen vom 13. 7.1935 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 176); vgl. Mitteilung der BPP an die dortigen Ortspolizeibehörden vom 26. 7.1935 ( BArch, Sammlung Schumacher, 267–1, unpaginiert ). In Sachsen wurde die WTG durch Verfügung des MdI am 18. 7.1935 verboten. Vgl. Sächs. VBl. I vom 23. 7.1935, S. 369. Vgl. Schilderung meines „legalen“ und „illegalen“ Kampfes gegen die Naziherrschaft, ohne Autor vom 15. 2.1948 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 862, Bl. 45–53, BArch, DO 4, 734, unpaginiert ). Vgl. amerikanischer Generalkonsul, Jenkins, an den Staatssekretär im PrMdI vom 9. bzw. 10. 8.1935 ( BArch, R 58, [alt ZB I ] 1462, Bl. 786 f.). Vgl. Abschrift der Vereinbarung zwischen dem Vertreter der WTG, Anton Koerber, und dem Vertreter des Gestapa Berlin, Oberregierungsrat Werner Best, vom 10.10.1935 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 1046, A. 3, Bl. 143). Mit dem 15.10.1935 hob der Magdeburger Regierungspräsident in einem Schreiben an die beauftragte Rechtsanwälte der WTG die Beschlagnahme auf ( ebd., Bl. 142). Vgl. auch Sächsischer Staatsminister des Innern an die Ortspolizeibehörden vom 15.11.1935 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 4203, Bl. 30).

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mit dem Verbot des Reichsministeriums des Innern, Bibeln vertreiben zu dürfen, vom 30. Januar 1936 beseitigt.373 Mit dem Verbot der WTG im April 1935 hatten sich zwar die Möglichkeiten der Polizei zur Verfolgung der IBV verbessert, vor allem war durch die Schließung der Rechtsberatung der moralische Rückhalt für die Gläubigen weggefallen, wie die Staatspolizeistelle Magdeburg berichten konnte, aber die Diskussion innerhalb der Justiz über die Rechtmäßigkeit des IBV - Verbotes harrte noch immer der endgültigen Klärung.

2.2

Die juristische Klärung des Verbotes

In den verschiedenen freisprechenden Urteilen ordentlicher und Sondergerichte im Jahr 1934 wurde immer wieder auf die durch Artikel 137 WRV gesicherte Freiheit der Religionsausübung rekurriert. Noch im November folgerte das Bielefelder Schöffengericht, dass die nichtöffentliche Pflege des Glaubenslebens nicht verboten werden könne. Doch schon im Januar 1935 beschied das Sondergericht Halle, dass der entsprechende Verfassungsartikel von den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung begrenzt würde.374 Mit dieser Entscheidung lagen die Richter auf der Linie des Gestapa, dass in einer Meldung vom selben Tage das Bielefelder Urteil massiv kritisierte. Es sei „im Interesse des Staates dringend erwünscht, dass das Urteil aufgehoben wird, da das Gericht bei seiner Fällung offenbar die Gefährlichkeit der Sekte in keiner Weise erkannt und nicht berücksichtigt hat, dass die Freiheit der Religionsausübung dort aufhört, wo die Fundamente des Staates unterwühlt werden.“375 Das Hanseatische Sondergericht in Hamburg ging in einem Verfahren am 14./15. März gegen Hauptfunktionäre der dortigen IBV - Versammlungen noch einen Schritt weiter. Mit dem 5. März 1933 sei die WRV „für alle Zeiten erledigt“ und das NSDAP - Parteiprogramm Grundlage des Verfassungsrechts. Damit waren die garantierten Grundrechte nicht nur eingeschränkt sondern gänzlich außer Kraft gesetzt. Entsprechend wurde die Lehre der Zeugen Jehovas und deren praktische Umsetzung nach dem Punkt 24 des NSDAP - Programmes gemessen. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die IBV „gegen nationales Selbstbewusstsein“ auftrete und sich „mehr oder weniger deutlich für die Kriegsdienstver weigerung“376 ausspreche. Das „germanische Rassegefühl“ sei „untrennbar mit dem Heldischen verbunden“. Dagegen verstoße der Bibelforscherglaube und gefährde so zum einen „den Bestand des Staates“ und zum anderen „das Sittlichkeits - und Moralgefühl der germanischen Rasse“. Die „fanatische“ 373 Vgl. Abschrift eines Schreibens des RMdI an die Landesregierungen betr. - Bibelforscher vom 30.1.1935 ( ebd., Bl. 73). 374 Urteil des SG Halle vom 29.1.1935 ( GSM 72/34). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 143. 375 Tagesmeldung des Gestapa vom 29.1.1935 (BArch, R 58, [alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 842). 376 Am 16. 3.1935 kündigte Hitler die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht an.

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Einstellung der Angeklagten zeige, dass „nicht nur Kommunisten [...] der neuen deutschen Volksgemeinschaft gefährlich werden“ können.377 Eine ähnliche, wenn auch weniger radikale Position vertraten das Breslauer Sondergericht bzw. das Oberlandesgericht Braunschweig. Beide vermieden die ausdrückliche Verneinung des Weiterbestehens der WRV. Während aber die Breslauer Richter nur diejenigen Artikel fortgelten lassen wollten, die nicht im Widerspruch zu „Sinn und Geist der nationalsozialistischen Bewegung“ stünden,378 entsprach nach Meinung der Braunschweiger Richter eine Rechtsauffassung, die sich auf Grundrechte berufe, nicht mehr den „heutigen staatsrechtlichen Grundsätzen“.379 Einen gänzlichen neuen Weg, um aus dem verwirrenden Verhältnis zwischen WRV und Verbotsverfügung herauszufinden, versuchte das Landgericht Dresden im März 1935. Nicht die verschiedenen sich auf die Reichstagsbrandverordnung berufenden Landesverfügungen begründeten in den Augen der Dresdner Richter die Rechtswirksamkeit des IBV - Verbotes, sondern der Erlass des RMdI vom 13. September 1934. Dieser betonte, dass trotz der Vermögensfreigabe und der Erlaubnis zum Druck und Vertrieb unbedenklicher Schriften die Lehr - und Versammlungstätigkeit der IBV „nach wie vor verboten“ bleibe.380 Die Verordnung des RMdI habe „neues Verfassungsrecht gesetzt“, wozu die Reichsregierung nach Artikel 4 des „Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934381 befugt sei. Mit den Worten „nach wie vor“ habe die Reichsregierung ihrer Anweisung eine rückwirkende Kraft beigelegt.382 Doch auch eindeutig nationalsozialistisch orientierte Juristen konnten sich mit diesem radikalen Standpunkt nicht anfreunden, so dass dieser Weg von den Gerichten nicht weiterverfolgt wurde. Dennoch bezog sich die Staatsanwaltschaft des Sondergerichtes Freiberg in ihren Anklageschriften in Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Verbotes bis in den Sommer auf die Argumentation des Landgerichtsurteils.383 Diese für die Verhinderung weiterer Aktivitäten der IBV günstige Entwicklung konterkarierte im April 1935 überraschend ein Urteil des Sondergerichts für Schleswig - Holstein. Der dortige Gerichtshof erklärte das preußische Verbot für ungültig, da dieses nicht – wie vom Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz gefordert – in der dortigen Gesetzessammlung veröffentlicht worden war. Dies wäre aber die Bedingung gewesen, da sich das Verbot an einen unbestimmten Personenkreis richtet. Nach Auffassung der Altonaer Richter bedeutete die 377 Urteil des SG Hamburg vom 15. 3.1935 ( HSG 11 Js. 1617/34). Teilweise zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 145. 378 Urteil des SG Breslau vom 27. 4.1935 (42 Sg. 10 KMs 19/35). Vgl. ebd., S. 147. 379 Urteil des OLG Braunschweig vom 29. 5.1935 ( Ss 5/35). Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung in Kirchensachen, S. 48. 380 Vgl. Abschnitt III.1.4. 381 RGBl. I, S. 75. 382 Urteil des LG Dresden vom 18. 3.1935 (16 St.A. 4666/34). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 151 f.; Volkmann, Die Rechtsprechung in Kirchensachen, S. 50. 383 Vgl. z. B. Anklage des OStA beim SG Freiberg vom 20. 6.1935 ( SächsHStAD, SG Freiberg, Kms / SG 97/35); Anklageschrift des OStA beim SG Freiberg vom 18. 7.1935 (ebd., Kms / SG 119/5).

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Nichtveröffentlichung, dass hier statt einer Polizeiverordnung nur eine Polizeiverfügung vorlag, die sich allein an einen bestimmten Personenkreis, mithin an die zwölf eingeschriebenen Mitglieder der Internationalen Bibelforschervereinigung richte. Alle sechs angeklagten Bibelforscher wurden freigesprochen.384 Um weitere Freisprüche abzuwenden, zog daraufhin die dortige Staatsanwaltschaft weitere anstehende Bibelforschersachen zurück. Der Kieler Leiter der Staatspolizei kritisierte das Urteil scharf und befürchtete ein Wiedererstarken der IBV - Tätigkeit.385 Nachdem die Sondergerichte Schwerin386 und Breslau387 die Sichtweise der Altonaer Richter bestätigten, wies der Ministerialdirektor im RJM, Wilhelm Crohne, mit einer Rundverfügung am 5. Juni alle Preußischen GStA an, von weiteren Anklageerhebungen abzusehen und bereits festgelegte Hauptverhandlungstermine abzusetzen.388 Crohne nahm auch Verbindung zum Reichsinnenministerium auf, das in seiner Antwort zwar die Nichtveröffentlichung des preußischen IBV - Verbotes bestätigte, die prekäre Frage, ob nun eine Polizeiverfügung oder - verordnung vorläge, schob das RMdI indes vom Tisch, weil „vielmehr von der unbestreitbaren Tatsache ausgegangen werden [ müsse ], dass sich in mehr als zweijähriger Verwaltungsübung auf der Grundlage der VO. zum Schutz von Volk und Staat auf Grund revolutionären Rechts die Rechtsfigur der ‚staatspolitischen Anordnungen‘ entwickelt habe“. Diese könne nun nicht mehr nach den Maßstäben des Polizeirechts gemessen werden. Das Innenministerium schlug vor, dass vom Justizministerium den „unrichtigen Rechtsauffassungen der Sondergerichte Altona und Breslau entgegengetreten würde“.389 Diesem „Wunsch“ aus dem Innenministerium kam Crohne mit einem grundsätzlichen Artikel in der offiziösen Zeitschrift „Deutsches Recht“ nach. In zwei kürzeren Abschnitten ging er dabei auf die in früheren Verfahren strittigen Punkte ein : Der Bezug auf die Reichstagsbrandverordnung in den jeweiligen Verbotsverfügungen bestünde zu Recht, da die dortige Eingangsformulierung „zur Abwehr kommunistischer, staatsgefährdender Gewaltakte“ nicht den Rahmen, sondern den Anlass beschrieb. Außerdem hätten verschiedentlich Sondergerichte nachgewiesen, dass die Bibelforscher „eine ähnlich staatsgefährdende

384 Urteil des SG Altona vom 3. 4.1935 ( SH SG 11 Son KM 10/35). Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 541; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 148–150; Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 56. 385 Vgl. Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Schleswig in Kiel, Allgemeine Übersicht über die politische Lage im Monat Mai 1935. Zit. in Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 208. 386 Urteil des SG Schwerin vom 13. 5.1935. Das SG meinte aber, dass dieser Mangel für Mecklenburg - Schwerin später nachgeholt wurde. Vgl. Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 98. Dies geschah mit Verfügung vom 5. 8.1933. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 133 ( FN 203). 387 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 541. 388 Vgl. ebd.; auch Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 298. 389 Vgl. Diensttagebuch des Reichsjustizministers Gürtner, Eintrag vom 29. 6.1935. Zit. in Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 56 f.; Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 541.

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Richtung hätten wie die Kommunisten“. Auch das Argument der Verbotsunwirksamkeit wegen der weiterbestehenden Grundrechtsartikel 135 und 137 WRV wischte Crohne vom Tisch. Auch „zur Zeit der vollen Geltung der Weimarer Verfassung“, sprich der Zeit vor 1933, sei der freie Zusammenschluss zu Religionsgesellschaften nur im Rahmen der Strafgesetze geschützt gewesen. Da aber die Tätigkeit der Bibelforscher, „wie die Gerichte festgestellt haben“, „volksfeindlich und volkszersetzend und damit staatsgefährlich“ sei, bestehe dafür „im nationalsozialistischen Staat kein Raum“. Weitaus größeren Raum nahm das umstrittene Altonaer Urteil ein. Crohne übernahm die Argumentation des RMdI wortwörtlich, um später zu resümieren, dass die Gültigkeit der Verbotsanordnung „ nicht bezweifelt werden [ kann ]; ihre Tragweite ist in freier Auslegung zu bestimmen, lediglich aus dem Willen und den Motiven der Behörde, die sie erlassen hat, und aus den staatspolitischen Notwendigkeiten, die zu ihrem Erlass führten.“ Zum Abschluss seiner „Zurechtweisung“ ( Garbe) gab er den Gerichten auf, dass sie „sich bei der Erfüllung ihrer ernsten und heiligen Aufgabe, Staat und Volk in seinem Bestande zu schützen und zu fördern, bewusst bleiben, dass sie nicht an scheinbaren formellen Schwierigkeiten scheitern dürfen, sondern Wege zu suchen und zu finden haben, um trotz dieser Schwierigkeiten ihrer hohen Aufgabe gerecht zu werden“.390 Mit einer Rundverfügung wurden die Staatsanwaltschaften unter Hinweis auf die Veröffentlichung Crohnes am 12. August angewiesen, „den angehaltenen Verfahren [...] mit Nachdruck Fortgang zu geben“.391 Mehr noch als die Bekanntgabe dieser Rundverfügung an das Reichsinnenministerium verdeutlicht die Übersendung des Urteils des Sondergerichts Weimar vom 26. Juni 1935392 unter welchem Druck das RJM gestanden haben mochte. Die hier ausgereichten Urteile waren besonders hart ( sie bewegten sich zwischen sechs Monaten und vier Jahren Gefängnis ). In Strafhöhe und auch in der Urteilsbegründung waren sie angetan, der Innenbehörde zu zeigen, dass die Kritik bei den Gerichten beherzigt würde und auch die Justiz zu hartem Durchgreifen in der Lage sei. Höchstrichterliche Bestätigung fand die Darlegung Crohnes im Urteil des Reichsgerichts am 24. September. In der Revision eines Urteils des Landgerichts Offenburg vom 6. Dezember 1934 befanden die Richter des 1. Strafsenats, dass zwar die Artikel 135 und 137 WRV weitergelten, aber die im ersteren Artikel getroffene Einschränkung, dass die allgemeinen Staatsgesetze von der Freiheit zum Zusammenschluss zu Gesellschaften nicht berührt werden, auch auf die Frage der Freiheit der Religionsausübung zuträfe. Wenn für eine Religionsgesell390 Dr. Wilhelm Crohne, Die Verbote der Internationalen Bibelforscher vereinigung sind rechtsgültig. In Deutsche Justiz, 97 (1935), S. 1144 f.; vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 150 f.; Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 541. 391 Information des RJM an das RMdI vom 31. 8.1935 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 820). 392 Abschrift des Urteils des SG Weimar vom 26. 6.1935 ( So.G. 28/35) mit Anschreiben des RJM an das RMdI vom 30. 8.1935 ( ebd., Bl. 790–816).

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schaft also „die Art ihrer Betätigung den Tatbestand eines Strafgesetzes, wie insbesondere der §§ 128, 129 StGB. oder der Vorschriften über Hochverrat, Landesverrat, Verletzung der Wehrkraft begründet oder die Verwirklichung eines solchen Verbrechenstatbestandes erwarten lässt“, träfe auf sie der Schutz des Artikel 137 nicht mehr zu. Eine Prüfung, ob eine Staatsgefährdung durch die IBV bestehe, läge ausschließlich bei der verordnenden Behörde „nach ihrer pflichtgemäßen Beurteilung der Lage“ und nicht bei den Gerichten. Nach Meinung des Reichsgerichtes belegten die dem zu behandelnden Urteil beigefügten Belegstellen „geradezu ein Streben nach Erschütterung des Staatsbestandes oder begründen zum mindesten die Annahme, das die Betätigung der ‚Ernsten Bibelforscher‘ eine solche Erschütterung zur Folge haben würde“.393 Damit war die Frage der Rechtmäßigkeit der Verbote endgültig geklärt. In der Folge gab es bei den unteren Instanzen keine Zweifel mehr, dass die Tätigkeit der Bibelforscher verboten sei. Wie aber verschiedene Berichte von Staatspolizeistelle beweisen, war die juristische Ungewissheit, was nun „bibelforscherische Tätigkeit“ bedeute und in welchem Maße sie geahndet werden solle, nicht wirklich ausgeräumt. So wurde in Berlin moniert, dass der Haftbefehl gegen einen Bibelforscher, der predigend von Haustür zu Haustür zog, verweigert wurde, weil dies nach Ansicht des Haftrichters keine Propaganda für die IBV gewesen wäre.394 In Greifswald sprach ein Gericht im Oktober 1935 Teilnehmer des Gedächtnismahles vom April frei, weil dies keine Versammlung der verbotenen Vereinigung, sondern eine religiöse Zusammenkunft gewesen sei.395 Auch das Sondergericht Altona blieb, trotz grundsätzlicher Anerkennung des IBV - Verbotes, bei seiner abweichenden Urteilsfindung : Es könne „natürlich [...] keinem Zweifel unterliegen, dass nicht schon eine strafbare Handlung vorliegt, wenn sich gelegentlich frühere Mitglieder oder Anhänger als Freunde oder Bekannte besuchen“.396 Die Klärung der Frage, wie zukünftig gegen die Bibelforscher vorgegangen werden solle und wer dabei die Federführung besitzt, bestimmte das Verhältnis zwischen Justiz und geheimer Staatspolizei in den folgenden Monaten.

393 Urteil des 1. Strafsenats des Reichsgerichts vom 24. 9.1935 (1 D 235/35) ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 322–326). 394 Abschrift des Lageberichts der Staatspolizei Berlin für Oktober 1935 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1614). 395 Abschrift des Lageberichts der Staatspolizeistelle Stettin für Oktober 1935 ( ebd., Bl. 1609). 396 Urteil des Sondergerichts Altona vom 14.10.1935. Zit. in Imberger, Widerstand „von unten“, S. 290.

94 2.3

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

Maßnahme - und Normenstaat

Mit der endgültigen Durchsetzung des Verbotes der IBV und dem Schließen der letzten Schlupf löcher für eine legale Betätigung der Bibelforscher waren die für eine strafrechtliche Ahndung illegaler Tätigkeit notwendigen Instrumente geschaffen. Dieses Ergebnis korrespondierte mit der allgemeinen Entwicklung im Reich. Die relevanten politischen Gegner waren ausgeschaltet. Ihre legalen Apparate waren verboten, eine wie auch immer geartete Weiterbetätigung auf gesetzlicher Grundlage unterbunden. Durch Zusammenspiel von Parteiformationen, SA und SS, dem von Letzterer immer mehr dominierten Apparat der Polizei und Geheimpolizei und der Justiz war es bis 1935 ebenfalls gelungen, die wichtigsten illegalen Apparate zu zerschlagen. Hauptzielgruppe des brutalen Vorgehens des NS - Regimes gegen potentielle und reale Gegner waren die Linksparteien und die Gewerkschaften. Nach dem 30. Juni 1934 sprach nach Ansicht der Vertreter der regulären staatlichen Autorität alles dafür, den maßnahmestaatlichen Machtbereich abzubauen. Die inneren Gegner waren zerschlagen, der normenstaatliche Apparat reiche aus, um den verbleibenden Widerstand zu bekämpfen.397 Gerade die von SA - und SS - Verbänden mit brutalen Behandlungsmethoden und Tötungshandlungen begleiteten Verhaftungswellen stießen auch bei nationalistisch gesinnten „Volksgenossen“ nicht auf uneingeschränkte Billigung.398 Unter Vertretern des Staatsapparates, aber auch bei einigen führenden Nationalsozialisten, mehrten sich Ende 1934 die Stimmen, die angesichts der Stabilität des neuen Regimes zu einer Rückkehr zu geordneteren Verhältnissen riefen. Zum Jahreswechsel 1934/35 befanden sich nur noch 3 000 Gefangene in den fünf Lagern der IKL, gleichzeitig häuften sich die Beschwerden über die Behandlungsmethoden durch Gestapo und Wachmannschaften, RJM und RMdI drängten auf Haftüberprüfungen und Anbindung des Schutzhaftverfahrens an rechtsförmige Normen.399 Ungeklärt war weiterhin die Frage nach der Strafbarkeit von Gewalt in KZ und Gestapoverhör. Auch in der Frage der Rechtsvertretung von Schutzhäftlingen gingen die Auffassungen weit auseinander. Dem Zugriff auf den eigenen, jeglicher Kontrolle entzogenen Machtbereich widersetzte sich die Gestapo hart. Letztlich ging es um die Frage, ob „zu „normalen Verhältnissen“ zurückgekehrt werden kann, ob der Ausnahmezustand als vorübergehend oder als dauerhaft anzusehen sei“.400 Bereits 1934 gab es Bemühungen, die Berechtigung des maßnahmestaatlichen Repressionsapparates theoretisch zu begründen. Zwar sei eine erhebliche Zahl der Gegner verschwunden, andere seien in den Untergrund abgewandert und müssten nun noch aufgespürt werden. Die bislang nicht abgeschlossene Gesundung des deutschen Volkes erfordere außerdem die weitere Internierung 397 398 399 400

Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 38. Vgl. Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 300. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 32 f. Vgl. Herbert, Von der Gegnerbekämpfung, S. 60 f.

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der Gegner. Bis diese nicht ihre Ansichten änderten, müssten sie in Gewahrsam bleiben, um die Gesundung nicht zu stören.401 Dass dieser Gegnerbegriff nicht allein die Kommunisten umfasste, wurde schon 1933 klar, als die Bestimmungen der Reichstagsbrandverordnung auf alle staatsfeindlichen Bestrebungen ausgeweitet wurden, denn „kommunistisch gefährdende Gewaltakte“, wie sie deren Präambel anführte, bildeten von nun an nur noch den damaligen Anlass für die Reichspräsidentenverordnung.402 Auch die Bibelforscher galten seit dem Urteil des Bayerischen Oberlandesgerichtes vom 7. Dezember 1933 als „mittelbare“ Unterstützer des Kommunismus.403 In einer Artikelserie in der SS - eigenen Zeitung „Das schwarze Korps“ im Herbst 1935 ging der SD - Chef und Leiter des preußischen Gestapa, Reinhard Heydrich, einen entscheidenden Schritt weiter. Die überkommenen Gegner seien nur aktuelle Erscheinungsformen derjenigen geistigen Kräfte, die mit dem „Führer und der NSDAP Deutschland bekämpfen“. So wie sich die Bedingungen des „ewigen Kampfes zwischen dem Stärkeren, Edleren, rassisch Hochwertigen und dem Niederen, dem Untermenschentum“ veränderten, würden auch die Erscheinungsformen der „treibenden Kräfte des Gegners“, dem „Weltjudentum, Weltfreimaurertum und ein[ em ] zum großen Teil politische[ n ] Priesterbeamtentum, welches die Religionsbekenntnisse missbraucht“, ständig variieren.404 Damit hatte Heydrich nicht nur die Auseinandersetzung mit den Gegnern des Nationalsozialismus zum „Ewigen Kampf“ erklärt, er hatte auch den Gegnerbegriff seines politischen Inhalts beraubt. Mit dem Verneinen einer zeitlichen Begrenzung des Kampfes entfiel auch jede Diskussion um einen zeitlichen Rahmen des „Maßnahmestaates“. Die „Entpolitisierung“ des Gegnerbegriffes, die neue Ebene eines universellen Weltanschauungskampfes hatte mehrere Funktionen. Eine Erweiterung des Feindbegriffes musste natürlich die Ausweitung der Zuständigkeiten zur Folge haben. Die Dämonisierung der Gegner des NS - Staates zielte auf die Konkurrenz aus Verwaltung und Justiz ab. Je gefährlicher und vielgestaltiger der Gegner dargestellt wurde, je weiter die Auseinandersetzung auf eine geistige Ebene gehoben wurde, desto einsichtiger musste es doch sein, dass nur eine jeglicher Kontrolle enthobene Staatspolizei und ein weltanschaulicher Geheimdienst wie der SD für Gegnerdefinition und Bekämpfung in Frage kamen.405 Andererseits hatte eine solche Gegnerausweitung auch eine innere Zielrichtung. Es ging um eine „geistige Gleichrichtung“, darum, dass „jeder über jeden Gegner gleichmäßig denkt, ihn gleich grundsätzlich ablehnt, ohne persönlich egoistische und mitleidige Ausnahmen zu machen“.406 Letztendlich ging es auch um die Professionalisierung angesichts der neuen Herausforderungen. 401 402 403 404 405 406

Vgl. Gellately, Allwissend und allgegenwärtig ?, S. 52 f. Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 539. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 46 f. Heydrich, Wandlungen unseres Kampfes, S. 1 f. Hachmeister, Der Gegnerforscher, S. 145. Heydrich, Die Wandlungen unseres Kampfes, S. 19.

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In den folgenden Jahren konnte es nur noch darum gehen festzulegen, ob es einen Rahmen für die Art der zu bekämpfenden Gegner und ihrer Handlungen geben könnte. Werner Best, stellvertretender Leiter des Preußischen Geheimen Staatspolizeiamts in Berlin, betonte 1936 die „präventiv - polizeiliche Aufgabe der politischen Polizei“. Die vorbeugende Verhinderung von Delikten sei wichtiger als deren Ahndung, damit gerieten nicht nur tatsächliche politische oder weltanschauliche Gegner des Regimes sondern auch potentielle Feinde ins Visier.407 Ein Jahr später ging Best einen Schritt weiter : Der „nationalsozialistische Staat [ müsse ] jeden Versuch weltanschaulicher Bestrebungen, die von dem nationalsozialistischen Staatswillen abweichen, als Krankheitserscheinungen im Volkskörper betrachten und mit allen Mitteln zu überwinden und auszumerzen bestrebt sein“.408 Angesichts der hier theoretisch entwickelten Zielvorgaben war die Ernennung von Heinrich Himmler zum Chef der Deutschen Polizei nicht nur Zeichen von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Geheimer Staatspolizei und dem Reichsinnenministerium, sondern vor allem die Durchsetzung eines neuen Repressionskonzeptes : das generalpräventive Ausgreifen der polizeilichen Maßnahmen über das politische Gebiet auf Abweichungen im Sozialverhalten. Gesamtauftrag der Polizei war nunmehr die politische „Gesunderhaltung des deutschen Volkskörpers“.409 Daher war es nur der normenstaatlichen Mimikry geschuldet, dass erst 1940 ein Runderlass des Reichssicherheitshauptamtes das polizeiliche Handeln vom Begründungszusammenhang der Reichstagsbrandverordnung befreite, da sich „die Befugnis der Geheimen Staatspolizei […] aus dem Gesamtauftrag herleitet, der [...] im Zuge des Neuaufbaus des nationalsozialistischen Staates erteilt worden ist“.410 Als Ergebnis des Kampfes um die Frage, ob Ausnahmerecht perpetuiert wird, kann festgehalten werden, dass sich am Nebeneinander von Norm und Terror nicht viel geändert hatte. Auch nach ihrem Sieg akzeptierte die SS gegenüber der Ministerialbürokratie die äußeren Regeln der Ziviladministration. Deren inneren Kern aber akzeptierte sie nicht.411 Auch die Erlasse des Gestapa und später des Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA ) demonstrierten Legalität und verliehen dem polizeilichen Handeln den Schein von Rechtsförmigkeit. Damit kamen sie dem Bedürfnis der aus der Zeit vor 1933 übernommenen Beamten nach regelhaften Vorgaben entgegen.412 Nichtsdestoweniger war es das Bestre407 Vgl. Werner Best, Die Geheime Staatspolizei. In : Deutsches Recht, (1936), S. 125. Zit. in Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 45. 408 Werner Best, Die Politische Polizei des Dritten Reiches. In : Hans Frank ( Hg.), Deutsches Ver waltungsrecht, München 1937, S. 417–430. Zit. in Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 36. Zu Parallelen im Denken Hitlers vgl. Pohlmann, Ideologie und Terror, S. 212. 409 Vgl. Herbert, Von der Gegnerbekämpfung, S. 72 f. 410 Runderlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 15. 4.1940. Zit. in Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 37. 411 Vgl. Pingel, Konzeption und Praxis, S. 153. 412 Vgl. Mallmann / Paul : Die Gestapo. Weltanschauungsexekutive, S. 639.

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ben des Apparates, den eigenen, außernormativen Bereich ständig auszuweiten. Von diesen Zielen war auch das Vorgehen gegen die Bibelforscher beeinflusst. Nach 1933 gab es für viele Bibelforscher noch immer Möglichkeiten, ihr Glaubensleben relativ ungestört zu gestalten. Vieles wurde in den privaten Bereich verlagert. Im Familienkreis oder bei Freunden wurde in der Bibel gelesen, gebetet, gesungen, oder anhand von Schriften wurden Glaubensthemen besprochen. Die notwendige Literatur kam entweder als Auslandspost an Privatadressen oder wurde über Danzig und das Saarland bzw. die Schweiz, die Tschechoslowakei oder die Niederlande geliefert. Bis 1935 befanden sich diese Kontaktmöglichkeiten in einer Grauzone zur Illegalität. Zwar war die Betätigung für die Bibelforscher vereinigung und auch deren Zeitschriften „Wachtturm“ und „Goldenes Zeitalter“ verboten, die jetzt gelieferten Schriften trugen aber neue Namen. Da mit der Anordnung des RMJ von September 1934 aber der „Vertrieb unbedenklicher Schriften“ genehmigt wurde, kamen die jeweiligen Staatspolizeiämter der Länder nicht umhin, diese Schriften langwierig einzeln zu verbieten.413 Bis dahin tauchten aber schon wieder neue Titel auf. Ab 1935 konnte diese Übermittlung schrittweise unterbunden werden. Im Sommer bzw. Herbst des Jahres wurde die IBV in Danzig414 bzw. im Saarland415 verboten. Damit konnten die dortigen Büros nicht mehr unkontrolliert Material ins Reichsgebiet versenden. Ab 1934 wurde über bekannte Bibelforscher zunehmend eine Postkontrolle verhängt. Wie Lageberichte der Staatspolizeistelle Frankfurt am Main zeigen, konnten dadurch größere Mengen an Ersatzschriften beschlagnahmt werden.416 Mittels Deckadressen und fingierten Absendern gelangte aber noch bis 1936 Literatur postalisch nach Deutschland. Als dritte Maßnahme bestimmte das RMdI 1936, dass künftig kein formelles Verbreitungsverbot mehr für „jeweils neu herauskommende Bibelforscherdruckschriften“ erlassen würde. Über die Neuerscheinung solle nur noch berichtet werden, damit gegen ihre Verbreitung eingeschritten werden könne.417 Das erleichterte die polizeiliche Arbeit ungemein. Durch die Postkontrolle gelangten die Behörden nach und nach zu ersten Erkenntnissen über geplante Treffen der IBV - Anhänger und die Strukturen des illegalen Apparates. Wurden die einzelnen Gläubigen nicht auf frischer Tat ertappt, beruhte die Arbeit der Polizei bis dahin zumeist auf Informationen aus der Zeit vor 1933.418 Die Leiter und andere Aktive der legalen Bibelforschergruppen waren bekannt. Bei ihnen fanden in regelmäßigen Abständen ( zumeist 413 414 415 416

Vgl. Stolle, „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 98. Verbot in Danzig am 6. 6.1935. In : Danziger Neueste Nachrichten vom 4.10.1935. Vgl. Lagebericht aus Saarbrücken ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1584). Lageberichte der Staatspolizeistelle Frankfurt am Main vom 5. 6.1935 bzw. 5. 7.1935. Abgedruckt in Klein ( Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Hessen - Nassau, S. 446 bzw. 457. 417 Vgl. Rundschreiben der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Arnsberg vom 2. 5.1936 ( WTA, Dok 2/5/36). Vgl. auch Erlasssammlung gegen Sekten und Logen (BArch, R 58, 1074). 418 Vgl. Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 51 f.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

nach Wahlen oder zu anderen Anlässen, bei denen die Gläubigen aufgefallen waren ) Hausdurchsuchungen statt.419 Aus den Funden wurde auf eine Zuwiderhandlung gegen die Verbotsverfügung geschlossen und die Einleitung von Ermittlungen wurde veranlasst. Mitunter lenkten besonders eifrige Beamte die Vernehmungen auch auf für Bibelforscher besonders heikle Themen, um Gründe für Schutzhaftbefehle zu finden. So bot sich ab Mai 1935 die Frage nach der Stellung zur eingeführten Wehrpflicht an, um „besonders verstockte“ Bibelforscher aus der Reserve zu locken.420 Auch nach der Bereitschaft, im Reichsluftschutzbund mitzuarbeiten, wurde häufig gefragt. Die Arbeit der Staatspolizei war aber in keiner Weise koordiniert und kontinuierlich. So konnten durch Beobachtungen durch die örtliche Polizei, V - Leute oder Denunziationen aus dem Lebensumfeld immer wieder einzelne Gläubige oder Gruppen ertappt und inhaftiert werden, eine wirkliche Einschränkung des Glaubensleben war das allerdings nicht. Wie lückenhaft die Kontrolle durch die Gestapo war, zeigt die Möglichkeit der illegal Aktiven, sowohl Abzugs - und Druckmaschinen421 als auch Schallplattenpressen422 zu besorgen, um die Gläubigen mit der nötigen Literatur zu versorgen. Die schrittweise Einschränkung der verbliebenen Möglichkeiten zur religiösen Betätigung zwang die Gläubigen so, die illegale Tätigkeit immer weiter zu professionalisieren, was von den Verfolgungsinstanzen wiederum als Beweis für die Gefahren, die von der IBV ausgingen, interpretiert wurde. Ähnlich dem Problem der eingeforderten Loyalitätsgesten im zivilen und beruf lichen Leben kann man auch auf dem Gebiet des Glaubenslebens von einer Eskalationsspirale sprechen.

2.4

Die erste Zerschlagung der konspirativen Organisation 1936

Bis 1936 maßen die Verfolgungsinstanzen, speziell die Gestapo, trotz gegenteiliger Verlautbarungen den organisierten illegalen Aktivitäten der Bibelforscher nicht allzu viel Bedeutung bei. Zuwiderhandlungen gegen das Verbot wurden durch Denunziation, Ertappen auf frischer Tat oder Aussagen bereits gefasster Bibelforscher bekannt. Dann schritt die Geheimpolizei zwar ein, aber ein systematisches Vorgehen oder gar Ansätze, gegen die illegale Leitung vorzugehen, lassen sich bis dato nicht beobachten. Dies sollte sich mit dem Jahre 1936 ändern. Ausgangspunkt war ein weiteres Mal das systematische Fernbleiben der Zeugen Jehovas bei einer Reichstagswahl. Wie die Stapostelle Dortmund beispielsweise berichtete, wurde anlässlich der Wahl am 29. März 1936 „eine überaus 419 Vgl. Anweisung des Sächsischen Gestapa vom 29. 4.1936 zu erneuten Kontrollen bei ehemaligen Leitern der IBV ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI/4203, Bl. 107). 420 Vgl. Marßolek / Ott, Bremen im Dritten Reich, S. 305. 421 Vgl. Vernehmung von Erich Frost o. D. ( zwischen dem 15. 4. und dem 24. 4.1937) (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 1–4). 422 Vgl. Marßolek / Ott, Bremen im Dritten Reich, S. 306.

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rege Betätigung von ehemaligen Anhängern der I.B.V. wahrgenommen“. Die Verteilung von Broschüren und Traktaten sowie Mundpropaganda hätte die Weigerung vieler Bibelforscher, „ihrer Wahlpflicht“ zu genügen bzw. zur Musterung zu erscheinen, zur Folge gehabt.423 Inwieweit diese Aktivitäten wirklich mit der Reichstagswahl in Verbindung standen oder vielmehr besonderen Dienstwochen zuzuschreiben waren, wie sie die Brooklyner Leitung der IBV ihren Anhängern zweimonatlich vorschrieb,424 ist nicht mehr feststellbar. Immerhin bestätigte der damalige Reichsleiter, Fritz Winkler, dass im Mai und Juni dieses Jahres fast 6 000 Zeugen Jehovas annähernd 40 000 Stunden Predigtdienst leisteten.425 Auch das Sächsische Gestapa nahm die Nichtteilnahme an der Reichstagswahl zum Anlass, um die örtlichen Polizeibehörden anzuweisen, erneut ehemalige Leiter der IBV zu kontrollieren.426 Während die Ermittlungen der Dortmunder Stapostelle zwar Erfolge vorweisen konnten – immerhin wurden 120 Personen festgenommen und 25 Zentner illegales Schriftenmaterial beschlagnahmt427 –, in ihrer Reichweite aber auf den dortigen Regierungsbezirk beschränkt blieben, bedeutete die Arbeit der sächsischen Gestapo den Beginn einer ersten koordinierten Verhaftungswelle im Reich. Anfang Juni 1936 ging ihnen der Bezirksdienstleiter für Westsachsen, Paul Großmann, ins Netz. Seinem Nachfolger, Erich Frost, blieb die Gestapo gemeinsam mit dem SD auf den Fersen. Anfang August gelang es dann, „die illegale Organisation der I.B.V. festzustellen“. Besonders wichtig war die Entdeckung der Anlaufadresse des Bezirksdienstleiters ( BDL ) Frost, da nun zum ersten Mal konkrete Hinweise auf die illegale Reichsleitung der IBV vorlagen. Diese musste sich nach den neuen Kenntnissen in Berlin befinden. Nachdem der SD - Oberabschnitt ( SD - OA ) Elbe diesen Kenntnisstand ins SD - Hauptamt ( SD - HA ) meldete, wurden zwei Ermittler des Leipziger Polizeipräsidiums am 18. August 1936 nach Berlin kommandiert, „um auf Grund ihrer Kenntnisse in Zusammenarbeit mit dem Geheimen Staatspolizeiamt, Abt. II 1 B 1, die Aufrollung der IBV. im Reich durchzuführen“. Auch der Referent im SD - HA, II 1134, Walter Kolrep, wurde zu dem neuen „Sonderkommando“ hinzugezogen. Nun überschlugen sich die Ereignisse. Am 19. August wurde mit Hennigsdorf der Ort gefunden, an dem die Schallplatten mit Rutherford - Reden hergestellt und ins Reich versandt wurden. In der Nacht vom 20. zum 21. August 423 Vgl. Schreiben der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Arnsberg vom 24. 6. 1936. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 437 f. 424 Vgl. Vernehmungsprotokoll Fritz Winklers vom 24.8., Anlage eines Schreibens des Gestapa vom 28. 8.1936 an alle Stapostellen und Politischen Polizeien der Länder (BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1483–1518, hier 1500). 425 Vgl. ebd. 426 Vgl. Sächsisches Gestapa an die Ortspolizeibehörden vom 29. 4.1936 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 4203, Bl. 107). 427 Vgl. Schreiben der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Arnsberg vom 24. 6. 1936. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 437 f.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

gelang es den Ermittlern, die „Zentralstelle zur Verbreitung der illegalen Literatur“ auszuheben und in den darauf folgenden Morgenstunden auch den Reichsleiter der IBV, Fritz Winkler, festzunehmen. Am selben Tag wurde ein Literaturlager mit 300 000 Büchern und Karteien gefunden. Eine Werkstatt zur Herstellung des Wachtturms konnte am 22. August besetzt und auch die wichtige Kurierlinie Berlin – Breslau – Hirschberg / Spindlermühle zur Einfuhr von Literatur entdeckt und damit ( zumindest zeitweise ) zerschlagen werden. Schließlich lokalisierte man am 24. August zwei Verstecke, in denen IBV - Gelder in Höhe von fast 14 000 Reichsmark lagerten.428 Für die Ermittlungsarbeit erwies es sich von Vorteil, dass Fritz Winkler zur Aussage zu bewegen war. Durch ihn konnten die Namen aller BDL, aber auch die Struktur des von ihm gleichzeitig betreuten Bezirks Brandenburg - Schlesien ermittelt werden. Dass dies nicht ohne psychischen Druck und körperliche Gewaltanwendung geschah, legt die Beteiligung der als besonders nachdrücklich bekannten „Bibelforscherspezialisten“ aus Leipzig nahe. Sicher scheint aber, dass die These von Michael Stolle, die Gestapobeamten wollten Funktionäre der unteren Ebenen und einfache Gläubige nur „hinters Licht führen“, wenn sie behaupteten von oben verraten worden zu sein, an der Realität vorbei geht.429 Winklers Verhörprotokoll nebst einer Aufbauskizze der Reichs - bzw. der Brandenburgisch - Schlesischen Bezirksorganisation wurde am 28. August mit der Aufforderung an alle Stapostellen gesandt, beginnend mit den BDL die regionalen Netzwerke „aufzurollen“.430 An die jeweiligen SD - OA erging am Folgetag die Order von Kolrep, sich mit den Stapostellen in Verbindung zu setzen und mit diesen gemeinsam die befohlene Aktion durchzuführen. Als eines der Hauptziele nannte Kolrep die Anfertigung von Skizzen des Aufbaus der IBV in den jeweiligen OA.431 428 Vgl. Bericht des SD - HA II 1134 an Six mit Bitte um Weiterleitung an Heydrich vom 26. 8.1936, betr. Aufrollung der internationalen Bibelforscher ( BArch, R 58, [ alt ZB II] 1421, Bl. 1290–1292). Diese Tatsache spricht für eine relativ spontane Errichtung des „Sonderkommandos“. Das im Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 150, kolportierte Datum 24. 6.1936 lässt sich in den Akten nicht feststellen, wird aber in der Forschungsliteratur übernommen. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 237. Auch der an gleicher Stelle von Garbe erwähnte Runderlass des Preußischen Gestapa an die Stapostellen und Politischen Polizeien der Länder vom 7. 7.1936 nimmt keinerlei Bezug auf das „Sonderkommando“. Doch selbst für den Fall, dass es frühere Überlegungen für eine koordinierende Ermittlungsgruppe im Gestapa gab, führte doch erst das Hinzuziehen der Leipziger Polizeibeamten und des Sektenreferenten des SD - HA zu wirklich durchgreifenden Erfolgen. 429 Vgl. Stolle, „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 116, FN 84. Das Vernehmungsprotokoll Fritz Winklers vom 24. 8.1936, Anlage eines Schreibens des Gestapa vom 28. 8.1936 an alle Stapostellen und Politischen Polizeien der Länder ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1483–1518, hier 1500). Zur Aussage des BDL von Pfalz - Baden, Konrad Franke. Vgl. Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 65–68. 430 Vgl. Gestapa vom 28. 8.1936 an alle Stapostellen und Politischen Polizeien der Länder ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1483 f.). 431 Vgl. Fernschreiben SD - HA II 113 an alle OA vom 29. 8.1936 ( ebd., Bl. 1293).

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Durch die Aussagen der verhafteten Funktionäre, aber auch aus beschlagnahmten Schriften auf den kurz bevorstehenden Kongress der IBV in Luzern / Schweiz aufmerksam gemacht, schien den Berliner Zentralbehörden Eile geboten. In ihren Augen bestand die Gefahr, dass führende deutsche IBV-Funktionäre daran teilnehmen würden. Doch scheint die in Preußen432 oder Bayern433 nachweisbare Anordnung, bekannten Zeugen Jehovas die Pässe zu entziehen, nicht einheitlich durchgeführt worden zu sein, denn vielen gelang legal die Ausreise.434 Der Ablauf der Ereignisse verdeutlicht auch, dass Niermanns Vermutung, dass die Luzerner Tagung als Vorwand für eine radikalere Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Gestapo genutzt wurde,435 falsch ist. Vielmehr bekamen Gestapo und SD erst im Zuge der Ermittlungen zur Reichsleitung der IBV Kenntnis vom geplanten Kongress. Dies beschleunigte zwar die reichsweite Verhaftungsaktion, die wirkliche Bedeutung des Kongresses für die illegale IBVArbeit wurde allerdings erst im Dezember 1936 erkannt. Wie befohlen begannen am 31. August im gesamten Reich Angehörige der Staatspolizei verstärkt durch SD - Mitarbeiter mit den Durchsuchungs - und Verhaftungsmaßnahmen. Besonders in den Regionen, in denen BDL oder andere führende Leiter dingfest gemacht werden konnten, gelangen durchschlagende Erfolge. So waren in den Bezirken Schleswig - Holstein, Bayern oder Pfalz - Baden fast alle Versammlungen von Verhaftungen betroffen.436 Zu den massiven Festnahmen trugen zum einen die Aussagen der Funktionäre bei, zum anderen zahlte sich nun die seit längerem betriebene Katalogisierung bekannter Bibelforscher bei Gestapo und SD aus. So berichtete z. B. der SD - OA Rhein, dass die dortige Dienststelle „außer den Hinweisen des Hauptamtes ( Franke, Mainz ) keinerlei Handhabe gegen die I.B.V. hatte“. Daher wurden zusammen mit der dortigen Gestapo bei allen „in Erscheinung getretenen Bibelforschern“ Durchsuchungen und Verhöre durchgeführt.437 Nachdem BDL Konrad Franke auch noch umfassend aussagte – ihn erreichte ein Brief Winklers, dass es keinen Sinn hätte zu schweigen – konnten viele Funktionäre aber auch Kleinabnehmer von Bibelforscherschriften verhaftet bzw. überführt werden. Nach Meinung des dortigen SD - Referenten sei „die illegale Organisation der I.B.V. in Hessen - Nassau [ damit ] restlos zerschlagen“.438 Auch aus anderen Gegenden Deutschlands 432 Vgl. Schreiben der Stapostelle für den Regierungsbezirk Arnsberg vom 21. 8.1936 (WTA, Dok 21/8/36). 433 Vgl. Runderlass der BPP vom 20. 8.1936 ( BArch, Sammlung Schumacher, 267–1, unpaginiert ). 434 Erst am 28. 4.1937 gab es dann eine reichseinheitliche Anordnung zur Einziehung von Pässen. Vgl. Erlasssammlung gegen Sekten und Logen ( BArch, R 58, 1074, Bl. 28–33). Allerdings lassen sich noch 1938 bei Angehörigen von führenden Funktionären gültige Ausreisepapiere nachweisen, z. B. die Ehefrau von BDL Julius Riffel, Rosa Riffel ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 1279, B. 16). 435 Vgl. Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 300. 436 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 246. 437 Bericht des SD - OA Rhein an SD - HA II 113 vom 29.10.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 126–128). 438 Vgl. Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 65–68.

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konnten die Polizeibehörden Erfolge melden. So wurden in Bremen eine illegale Schallplattenpresse,439 in Breslau umfangreiche Bücherlager440 und verteilt im Reich verschiedene Druckereien für den Wachtturm441 entdeckt. Verhaftungen bereits bekannter Bibelforscher zogen eine Lawine weiterer Festnahmen nach sich. Der SD - OA Süd musste Ende Oktober nach Berlin berichten, dass die Aktion noch nicht abgeschlossen wäre und sich auch noch längere Zeit hinziehen würde, „da immer neue Personengruppen bekannt werden, die sich nach dem Verbot [...] betätigten“.442 Insgesamt verlor die IBV im vierten Quartal 1936 ca. 2 300 Verkündiger,443 sei es durch Verhaftung, sei es durch den Rückzug aus dem aktiven Glaubensleben. Auch wenn das Berliner Gestapa bereits am 28. August meldete, „die gesamte Zentralleitung der IBV [ sei ] ausgehoben worden“444 und der SD - OA Rhein Ähnliches vom dortigen IBV - Apparat berichtete,445 waren die Ergebnisse langfristig gesehen weniger „durchschlagend“ als berichtet. Dies betraf einerseits die Fähigkeit der IBV im Reich weiter tätig zu sein, andererseits aber auch die Zusammenarbeit der beiden inzwischen in alleiniger Verfügungsgewalt Himmlers stehenden Repressionsapparate, Gestapo und SD. Die relativ spontane Errichtung des „Sonderkommandos“ und die kurze Zeitspanne bis zum IBV - Kongress in Luzern ließ nicht mehr genügend Zeit, um aller BDL und anderer führender Funktionäre habhaft zu werden. Einige von ihnen waren schon auf dem Weg in die Schweiz, andere konnten sich dem Zugriff durch Flucht entziehen. Damit bildeten führende Bibelforscher wie Erich Frost, Albert Wandres, Heinrich Dietschi, Georg Rabe und andere, wie in Luzern zusammen mit dem WTG - Präsident Rutherford besprochen,446 den Kern der neuen IBV - Organisation in Deutschland. Dieser Neuaufbau blieb der Gestapo und dem SD lange unbekannt, da beide sich der erfolgreichen Zerschlagung der illegalen Strukturen weitgehend sicher waren. Auch die Zusammenarbeit von Gestapo und SD verlief in einigen Regionen nicht wie gewünscht. Teilweise wurden die jeweiligen SD - Referenten nicht von der geplanten Aktion informiert und beklagten sich, dass sie erst nach erfolgter Verhaftung an der Sichtung des beschlagnahmten Materials teilnehmen konn439 Vgl. Marßolek / Ott, Bremen im Dritten Reich, S. 306. 440 Vgl. Bericht des SD - HA II 1134 an Six mit Bitte um Weiterleitung an Heydrich vom 26. 8.1936 betr. Aufrollung der internationalen Bibelforscher ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1290–1292, hier 1291). In einer Anklageschrift vor dem Breslauer SG vom 22.11.1936 ( Sg. 10a. Js. 2373/36) ist von 48 000 kg Schriftenmaterial die Rede ( WTA, Dok 2/11/36). 441 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 246. 442 Bericht des SD - OA Süd an SD - HA II 113 vom 29.10.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 124). 443 Vgl. Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 156. 444 Vgl. Gestapa vom 28. 8.1936 an alle Stapostellen und Politischen Polizeien der Länder ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1483 f.). 445 Bericht des SD - OA Rhein an SD - HA II 113 vom 29.10.1936 ( BArch, R 58, [alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 126–128). 446 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 249 f.

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ten. Die Gestapo trat, so bemängelte beispielsweise der SD - OA Süd - West, nicht von sich aus an den SD heran. Wegen Personalmangels seien die Aktionen daher nur etappenweise erfolgt. Dies und die mangelnden Vorkenntnisse hätten damit die „Schlagkraft und den Erfolg der Maßnahmen bedeutend beeinträchtigt“.447 Verzögerungen bei der Zerschlagung von Bibelforschergruppen wurden der jeweils anderen Institution zugeschrieben. Der SD - Unterabschnitt ( SD - UA ) Frankfurt/ Oder beschuldigte den dortigen Stapostellenleiter, die Aktion abgebrochen und durch seinen Befehl die restlose Zerschlagung der IBV - Gruppen in Forst verhindert zu haben.448 Andererseits schrieben Gestapo und SD die Erfolge jeweils der eigenen Arbeit zu. In kaum einem Gestapo - Bericht wird die Teilnahme des Sicherheitsdienstes erwähnt,449 während der Sekten - Referent im SD - HA, Walter Kolrep, in seinem Bericht an Heydrich stolz meldete, dass er Fritz Winkler „zur Strecke“ brachte.450 Für die verantwortlichen Referenten im SD sollte die Eruierung von Aufbau und Arbeitsweise der IBV, von deren Funktionären, Bücherlagern und Anlaufstellen vorrangiges Ziel sein. Wie die folgenden Jahre zeigten, sollte sich diese insgesamt langfristiger angelegte Arbeit des SD letztendlich als erfolgreicher erweisen als die wahllosen Verhaftungen der Gestapo. Vorerst jedoch überwog die Zufriedenheit über die Erfolge, zudem die Beschlagnahmungen und Vernehmungen umfangreiches Material für die Darlegung der angeblichen Gefährlichkeit der IBV und damit neue Begründungen für die eigene Arbeit und das schärfere Vorgehen gegenüber der Justiz lieferten.

2.5

Eine propagandistische Offensive

Für die Konsolidierung und Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft spielte die Propaganda eine genauso zentrale Rolle wie sie dies für die Eroberung der Macht tat. Will man deren Rolle, hier speziell die der schriftlichen Medien, bei der Verfolgung der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas genauer erläutern, muss grundsätzlich zwischen den verschiedenen schriftlichen 447 Vgl. Bericht des SD - OA Süd - West an das SD - HA II 1 betr. Aufrollung der Internationalen Bibelforscher - Vereinigung vom 12.11.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 178–188). 448 Vgl. 2. Zwischenbericht betr. Aufrollung der Internationalen Vereinigung Ernster Bibelforscher des SD - UA Frankfurt / Oder an den SD - OA Ost vom 11. 9.1936 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten ZB I, 561, Bl. 247–250); Stapostelle Frankfurt/ Oder an das Gestapa Berlin betr. Durchführung der Aktion gegen die Internationale Bibelforscher - Vereinigung im Bereich der Staatspolizeistelle Frankfurt / Oder vom 14. 9.1936 ( ebd., Bl. 256–258); Stapostelle Frankfurt / Oder an Gestapa Berlin, o. D. ( ebd., Bl. 254 f.). 449 Dies ist auch der Grund dafür, dass der Anteil des SD bei der Zerschlagung der IBV in Deutschland in den bisherigen Forschungsarbeiten derart unterbelichtet blieb. 450 Vgl. Bericht des SD - HA II 1134 an Six mit Bitte um Weiterleitung an Heydrich vom 26. 8.1936 betr. Aufrollung der internationalen Bibelforscher ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1290–1292, hier 1290).

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Medien – Presseberichte, Buchveröffentlichungen, Artikel der Fachpresse und interne Informationsmaterialien der mit der direkten Repression beauftragten Institutionen – unterschieden werden. Wie auch auf anderen Gebieten ist die publizistische Auseinandersetzung mit den Bibelforschern sehr differenziert. Je nach Zielpublikum variierten Funktion und Inhalt. Die meisten Zeitungen und Anzeigenblätter berichteten in kurzen Meldungen von den Verboten der IBV.451 Die Polizeiaktion gegen die Magdeburger Zentrale der Bibelforscher Ende April 1933, aber auch die Freigabe des Gebäudekomplexes wurden natürlich in den lokalen Medien ausführlicher behandelt.452 Nur wenige Artikel sind überliefert, in denen sich anlässlich des Verbotes ausführlich mit der Religionsgemeinschaft auseinandergesetzt wurde.453 Deren Autoren hatten zumeist einschlägige Erfahrungen im völkisch - antisemitisch inspirierten Kampf gegen die IBV und veröffentlichten ihre Berichte in provinziellen nationalsozialistischen454 oder obskuren völkischen Organen.455 Als zwei Jahre später die IBV auch im vom Völkerbund verwalteten Danzig verboten wurde, bereiteten die Behörden dies medial wirkungsvoll vor. Die dortige Bevölkerung wurde durch den nationalsozialistischen „Danziger Vorposten“ mit Schreckensmeldungen über eine Verbrüderung von Bibelforschern und Kommunisten „informiert“. Die IBV, die vom „Juden Rutherford“ geführt und fortwährend gegen den „Volkskanzler Adolf Hitler“ hetzen würde, nähme in Massen Kommunisten in ihre Reihen auf. Diese wiederum würden weiterhin kommunistische Flugblätter herstellen und verbreiten. Das Blatt sprach der IBV in Danzig die Existenzberechtigung ab und forderte ein Verbot.456 Nachdem die 451 Diese Veröffentlichungen sollten nach Meinung von Ministerialdirektor im RJM Crohne („Die Verbote der Internationalen Bibelforscher vereinigung sind rechtsgültig“, DJ 97 (1935), S. 1144 f.) die nichterfolgte Veröffentlichung des preußischen IBV - Verbotes in der Gesetzsammlung ersetzen ( vgl. Abschnitt II.2.2). 452 Vgl. „Polizeiaktion gegen die ernsten Bibelforscher“. In : Magdeburger Generalanzeiger vom 25. 4.1933; „Druckereibetrieb der Wachtturm - Bibel - Gesellschaft wieder freigegeben“. In : ebd. vom 3. 5.1933. 453 Vgl. „Zum Verbot der ernsten Bibelverdreher. Was sich hinter den frommen Biedermännern verbarg“. In : Westdeutscher Beobachter vom 4. 7.1933. 454 Vgl. z. B. Hans Hauptmann, Hinter den Kulissen der Zeugen Jehovas. In : Heilbronner Tagblatt ( Parteiamtsblatt der NSDAP und DAF, Kreis Heilbronn ) vom 14. 7.1933. Hauptmann, der schon vor 1933 in Zeitschriften wie „Ariosophie“ („Was wollen die ernsten Bibelforscher ?“, 4 [1931], S. 195 f.) oder „Hammer. Blätter für deutschen Sinn“ („Unfug oder Verbrechen ?“, 31 [1932], S. 186 f.) seine Meinung über die Bibelforscher kundtat, betonte hier einmal mehr die Nähe zu den Juden, die sich angeblich in der Betonung des Alten Testaments und Auserwähltheit des jüdischen Volkes äußerte. Er schloss seinen Artikel mit den Worten : „Darum hat die gesamte Kulturwelt dem Nationalsozialismus und der Regierung Adolf Hitlers auch das Verbot dieses vertarnten Judenvortrupps als eine Großtat zur Rettung der arischen Menschheit zu danken.“ Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 362 f. 455 Vgl. „Ein Riesenverbrechen am deutschen Volk“. In : Der Seher. Geistwissenschaftliche Rundschau vom 3. 5.1934. Dieser Aufsatz war eine Zusammenfassung der Schrift von Hans Lienhardt (Pseudonym für Karl Weinländer) unter gleichem Namen, 2. Auflage Weißenburg 1921. 456 Vgl. „Die ‚Internationale Bibelforscher - Vereinigung‘ als Sammelbecken staatsgefährdender Elemente. Aufsehenerregende Verhaftungen in Danzig – Unerhörte Verquickung

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dortigen Behörden ein solches aussprachen, glaubte sich die Zeitung bemüßigt, ihre Leser noch einmal über die Herkunft und Gefährlichkeit des „getauften Juden“ Rutherford und seine Affinität zu Kommunisten und Negern aufzuklären.457 Über die vielen Prozesse gegen Zeugen Jehovas vor den Sondergerichten informierten die Zeitungen in Deutschland in unterschiedlicher Weise. Zum großen Teil wurden knappe Prozessberichte abgedruckt, in denen die angebliche Tat geschildert und das Strafmaß bekannt gegeben wurde. Gingen die Berichte überhaupt auf Gründe für die Verurteilungen ein, dann geschah dies vorrangig mit Verweis auf die Staatsgefährdung durch das Übertreten des IBV - Verbotes. Die Lektüre verbotener Schriften, die illegalen Zusammenkünfte und das Verbreiten des eigenen Glaubens seien Ausdruck der anarchischen und staatsfeindlichen Gesinnung458 der Bibelforscher. Wenn jemand glaube, „nur weil er eine religiöse Überzeugung in sich trage, könne er staatliche Verbote missachten“, müsse dies „aus dem Notwehrrecht des Wiedererwachens des deutschen Volkes bekämpft werden“.459 Auch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, als Vergehen gegen das IBV - Verbot einen großen Teil der Verhandlungen vor den Sondergerichten ausmachten und sich der Ton in den ehemals bürgerlichen Blättern verschärfte, rekurrierten die Gerichtsberichterstatter dieser Zeitungen vorrangig auf die Gefahren für Obrigkeitsstaat und Nation. Es wurde auf die vaterlandslose Gesinnung als Ursache der „einhelligen Ablehnung des Wehrdienstes und der Betätigung in der Rüstungsindustrie“460 verwiesen. Auch gewann der Vergleich der Bibelforscher mit den Kommunisten immer breiteren Raum.461 Dennoch fehlte die in der nationalsozialistischen und völkischen Presse verbrei-

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von Religion mit Schmutz und Schund – Kommunisten als ‚Bibelforscher‘“. In : Der Danziger Vorposten vom 27. 5.1935; „Kommunisten und ‚Ernste Bibelforscher‘. Wie es zur Aufdeckung der ‚Arbeitsgemeinschaft‘ kam“. In : Danziger Neueste Nachrichten vom 28. 5.1935 und „‚Bibelforscher‘ im Dienste Moskaus. Aufschlussreiche Entdeckungen der Danziger Polizei – Rote Judenknechte als ‚Zeugen Jehovas‘“. In : Leipziger Tageszeitung vom 28. 5.1935. Vgl. „Der jüdische Häuptling der ‚Internationalen Bibelforscher‘. Der geheimnisvolle ‚Richter‘ Rutherford – Kommunisten und Neger unter jüdischer Führung“. In : ebd. vom 18. 7.1935. Vgl. „Abermals Schwätzer und ‚Bibelforscher‘ vor Gericht“. In : Dresdner Nachrichten vom 24. 8.1935. Vgl. „‚Zeugen Jehovas‘ beunruhigen die Bevölkerung“. In : Limbacher Zeitung vom 14. 3.1935. „39 Bibelforscher verurteilt. Staatsfeindlichkeit hinter Jehova getarnt“. In : Hamburger Nachrichten vom 13. 4.1938. „In der Urteilsbegründung wies der Vorsitzende darauf hin, dass hier ein Vergleich zwischen Kommunisten und Bibelforschern in der Arbeitsmethode und Organisation am Platz sei. Nur mit dem Unterschied, dass die Bibelforscher viel raffinierter den Wiederaufbau ihrer Vereinigung betrieben hätten als die Kommunisten. Wohl nähmen die Bibelforscher die Vorteile der deutschen Volksgemeinschaft ( z. B. Arbeitsbeschaffung und soziale Unterstützung ) für sich in Anspruch, sie wollten jedoch nicht die Gesetze des Staates befolgen. Ebenso wie die Kommunisten Feinde des Deutschen Reiches seien, so seien auch die Bibelforscher Staatsfeinde.“ „Verurteilte Bibelforscher“. In : Burgstädter Anzeiger vom 27. 2.1937.

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tete Diffamierung der Angeklagten und die antisemitische Konnotation, selbst über Freisprüche wurde berichtet.462 Ausführlicher wird über Verfahren vor Arbeits - oder Zivilgerichten berichtet. Zwar enthielten sich bürgerliche Zeitungen auch hier herabwürdigender Aussagen, besprachen aber breit die Rechtmäßigkeit von Entlassungen wegen des Fernbleibens von der Maifeier,463 der Verweigerung eines Diensteides auf Hitler464 oder der Nichtteilnahme an Wahlen, weil die betreffenden Bibelforscher „gegen die Anschauungen der meisten [...] Arbeitskameraden und auch der Bevölkerung gehandelt und [...] die religiösen Belange vor die nationalen gestellt“ hätten.465 Während also bürgerliche oder nicht parteieigene Blätter zum einen wohldosiert über die Richtigkeit des strafrechtlichen und staatspolizeilichen Vorgehens gegen die Bibelforscher informierten, zum anderen damit auch eine abschreckende Wirkung erzielen sollten, berichteten NS - Zeitungen ganz anders. Angeklagte „logen vor Gericht, dass sich die Balken bogen“, waren „überzeugte Fanatiker“, die geistig angekränkelt mit ihrer „Wühlarbeit“ „Unruhe unters Volk“ brächten.466 In ihren Versammlungen würde „bis zur Erschöpfung über das Dritte Reich geschimpft und gehetzt“. Wenn sich Bibelforscher auf ihren Missionstouren befanden, waren sie „in Dauerferien und ließen andere schuften“. Im Ausland gehöre die Vereinigung „zu den gemeinsten Hetzern und Verleumdern des Reiches“.467 Die Tätigkeit der IBV verberge in Wirklichkeit „weltpolitische Absichten anarchistischen, kommunistischen und bolschewistischen Charakters [...] mit dem Endziel der Aufrichtung eines Weltreichs Alljudas“.468 In den Gerichtsverfahren bestätige sich „das Bild der Bibelforscher, denen die Lüge, die Frechheit, der Verrat, die Verleumdung, die Anmaßung und die Ignoranz zur zweiten Natur wurde“.469 Mit dieser Berichterstattung befriedigten die NS - Blätter die irrationalen Bedrohungsvorstellungen ihrer Klientel. Einerseits wurden ausgemachte Feinde – seien es nun Kommunisten, Juden, Freimaurer oder hier Bibelforscher – außerhalb der Volksgemeinschaft verortet, ja aller positiven Eigenschaften entkleidet, andererseits aber auch zu Protagonisten ( oder Werkzeugen ) einer weltweiten Verschwörung erklärt und damit in eine Reihe 462 Vgl. zum freisprechenden Urteil des Darmstädter Sondergerichts am 28. 3.1934 „Die Bibelforscher vor Gericht“. In : Kölnische Zeitung vom 28. 3.1934. 463 Vgl. „Wegen Fernbleibens von der Maifeier entlassen“. In : Heidelberger Tageblatt vom 23. 7.1934. 464 Vgl. „Entlassen wegen Verweigerung des Diensteides. Sitzung der Badischen Dienststrafkammer“. In : Generalanzeiger für Südwestdeutschland vom 14.12.1934. 465 Vgl. „Eine interessante Entscheidung des Arbeitsgerichts Kaiserslautern“. In : Pfälzische Presse vom 29. 4.1936. 466 Vgl. „Das Schöffengericht urteilte. Wühlarbeit der ‚ernsten Bibelforscher‘“. In : Rheinische Landeszeitung vom 22.10.1935. 467 Vgl. „Das wahre Gesicht der Bibelforscher. Seltsame Fürsprecher vor dem Sondergericht“. In : Völkischer Beobachter ( Ausgabe Nürnberg ) vom 21.11.1935. 468 Vgl. „Lumpen in Alljudas Schutztruppe. Bibelforscherprozesse sind Akte der Staatsnotwehr – Königsberger Sondergericht tagte“. In : Königsberger Zeitung vom 8.1.1938. 469 Vgl. „Die größte Schande : Verräter am eigenen Volk. Exemplarische Freiheitsstrafen für Internationale ‚Bibelforscher‘“. In : Stuttgarter NS - Kurier vom 28. 3.1938.

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mit den vermuteten übermächtigen und weltumspannenden Mächten gestellt, die das deutsche Volk und die arische Rasse bedrohten. Allerdings waren sich die Protagonisten der Verfolgung nicht einig, wie über die Prozesse gegen Bibelforscher berichtet werden sollte. Nach einer Tagesparole des Propagandaministeriums vom 2. Februar 1937 waren zwar Berichte über Prozesse gegen Zeugen Jehovas möglich. Allerdings sollten keinerlei Einzelheiten über den Aufbau der Organisation gebracht werden.470 Dies sollte einerseits die geheimpolizeiliche Arbeit decken, andererseits aber auch potentiellen Gegnern keine Hinweise über Methoden der illegalen Arbeit in die Hände geben. Nach 1939 wurden auch die Todesurteile gegen wehrdienstverweigernde Bibelforscher nicht veröffentlicht, da Bibelforscher „durch eine solche Veröffentlichung nicht abgeschreckt, sondern vielmehr in ihrem Fanatismus als Märtyrer gestärkt würden“.471 Demgegenüber monierte der Prozessbeobachter der Gestapo im Verfahren gegen IBV - Reichsleiter Winkler, dass die „Presse den Verhandlungen gegen die IBV nicht das geringste Interesse entgegenbringt“. Richtigerweise vermutete er eine ablehnende Stellungnahme des Propagandaministeriums, schlug aber vor, „dieserhalb mit dem Prop.Min. Fühlung zu nehmen, da ein kritisch beleuchtetes IBV - Urteil einerseits die Richter zu schärferer Urteilsfällung veranlassen und die Bibelforscher selbst abschreckend von dem ergangenen Urteil in Kenntnis setzen würde“.472 Die Funktion der Feindbilddefinition kommt noch stärker zum Ausdruck in den „Aufklärungsartikeln“, die nach der Verhaftungsaktion von 1936 in der einschlägigen Parteipresse veröffentlicht wurden und die Parteigliederungen zu verstärkten Aktionen gegen die Bibelforscher anregen sollten. Anfang 1936 unterschied das „Schwarze Korps“ noch zwischen der missbrauchten Anhängerschaft bzw. den Führern der IBV und frohlockte, dass „das neue Reich [...] auch diesen Spuk beseitigt und die armen Opfer den Händen ihrer Ausbeuter entrissen“ habe.473 Im Februar 1937 wurden im selben Blatt derartige Unterschiede vom Tisch gewischt. Nachdem ausgiebig über die jüdischen Hintermänner der Bibelforscher und ihre Ziele, die Ähnlichkeit mit den Parolen der Kommunisten aber auch mit deren illegalen Apparat berichtet wurde, kam das SS - Organ auf den Punkt : „Vielleicht belehren diese Ausführungen manch einen, der bisher über die ‚armen Sektierer‘ nur mitleidig gelächelt hat. Vielleicht begnügt er sich nun nicht mehr damit, da und dort auftauchende Flugschriften der Bibelforscher wie ein Witzblatt herumzureichen. Vielleicht sieht er sich jetzt veranlasst, den

470 Vgl. Tagesparole des Propagandaministeriums ( RMVP ) vom 2. 2.1937 ( BArch, R 58, [alt ZB I 1419] 5781, Bl. 579). 471 Präsident des Reichskriegsgerichts an den Chef des OKW vom 30. 5.1940 ( BArch, Militärarchiv, Prag - Film, M 1001/2, A. 36, Bl. 29–33, hier 32). 472 Vgl. Bericht über Strafsitzung der Sondergerichte I und II in Berlin in der Strafsache gegen den IBV - Reichsleiter Winkler vom 31. 7.1937 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 473 Vgl. „Die Harfe Gottes. Aus der ‚heiligen‘ Industrie der ‚Ernsten Bibelforscher‘“. In : Das Schwarze Korps vom 27. 2.1936.

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‚armen Narren‘, der ihm den Wisch durch den Türschlitz steckt, am Kragen zu nehmen und seiner Bestrafung zuzuführen.“474 Auch die von Alfred Rosenberg herausgegebenen „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage“ nahmen sich Ende 1936 der Zeugen Jehovas an. Mit ausgiebigen Zitaten wurden aus alttestamentlichen und nichtbiblischen jüdischen Quellen jüdische Weltherrschaftspläne „bewiesen“. Die auf den Aussagen der alttestamentlichen Propheten beruhenden Endzeithoffnungen der Bibelforscher bewiesen nach Ansicht des Artikels eindeutig, dass diese „vermittels der Bibel die Völker für die jüdische Weltherrschaft ( d. h. Bolschewismus ) sturmreif“475 machen wollten. Dass das Bewusstsein um die Gefährlichkeit und die Mitarbeit aus Partei und Bevölkerung bei der Bekämpfung der Bibelforscher nicht umfassend genug war, verdeutlicht ein Artikel im internen NSDAP - Blatt „Der Hoheitsträger“. Die Blockleiter der Partei wurden nach den üblichen Schauermärchen über die Bibelforscher direkt aufgefordert, „aus Unterhaltungen hier und da Bemerkungen auf[ zu ]schnappen [...], die als Fingerzeig für weitere Nachforschungen dienen, können“.476 Doch scheinbar genügte die Aufforderung nicht. In der übernächsten Ausgabe fühlte sich das Hauptschulungsamt der NSDAP bemüßigt, mit der „weitverbreiteten Auffassung, dass es sich bei den Bibelforschern um ‚verblendete‘ Volksgenossen handele“, aufzuräumen. Diese „Tendenzlüge des internationalen Judentums“ sei „von interessierter Seite“ verbreitet worden.477 Wie auch im „Westdeutschen Beobachter“478 sollten Polizeifotos verhafteter Zeugen Jehovas diese These unterstützen. Denn diese verdeutlichten, „dass es sich hier nicht um geistig hochstehende oder rassisch wertvolle Menschen“, sondern um „degeneriertes Untermenschentum“ handelt. Damit sollten möglicherweise noch vorhandene Beden474 Vgl. „Unser Heiliger Vater Joseph Stalin“. In : Das Schwarze Korps vom 18. 2.1937. Mit diesem Artikel schoss das Blatt allerdings über das Ziel hinaus, denn ausführlich wurde auf den Aufbau der Organisation und die internen Schutzbestimmungen eingegangen. Nach einer Tagesparole des Propagandaministeriums ( RMVP ) vom 2. 2.1937 waren zwar Berichte über Prozesse gegen ZJ möglich. Allerdings sollten keinerlei Einzelheiten über den Aufbau der Organisation gebracht werden ( BArch, R 58, [alt ZB I 1419] 5781, Bl. 579). Eine Anfrage des RMVP löste einen hektischen Briefwechsel zwischen SD - HA, Gestapa und Schwarzem Korps aus. Es stellte sich schließlich heraus, dass das Schwarze Korps aus der Denkschrift des Gestapa „Die Internationale Bibelforscher - Vereinigung“ zitiert hatte ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801, Bl. 4–7). Vgl. auch Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 221. In einer Rundverfügung vom 21. 5.1937 wurde festgelegt, dass „Berichte über Strafverfahren gegen ernste Bibelforscher bis auf weiteres klein zu halten sind“. Vgl. Zusammenstellung von Rundverfügungen für die Justizpressestellen (SächsHStAD, StA beim OLG Dresden, Nr. 41, unpaginiert ). 475 Vgl. „Die Bibel im Dienst der Weltrevolution. Die politischen Hintergründe der ‚Ernsten Bibelforscher‘“. In : Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage, 2 (1936) 34, abgedruckt in Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland, S. 366–371 ( Dok. 30). 476 Vgl. Ernst Ludwig Illinger, Die Ernsten Bibelforscher als Sendboten des jüdischen Bolschewismus. In : Der Hoheitsträger, 2 (1938) 6, S. 12–15. 477 Vgl. „‚Verblendete‘ Volksgenossen und ‚harmlose‘ Menschen“. In : Der Hoheitsträger, 2 (1938) 8, S. 12–16. 478 Vgl. P. E. Rings, Die „Ernsten Bibelforscher“. Sendboten des jüdischen Bolschewismus. In : Westdeutscher Beobachter vom 21. 8.1938; vgl. auch Die Zeugen Jehovas. Sie möchten das Königreich Gottes auf Erden erreichen. In : Der Stürmer, 16 (1938) 31.

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ken ausgeräumt werden, „an der Ausmerzung der für die positive Mitarbeit am Staat verlorenen Anhänger der Bibelforschervereinigung“ mitzuhelfen. Nach 1933 sind keine bedeutenden Kampfschriften gegen die IBV in Buchform erschienen. Einzige Ausnahme ist das im katholischen Germania - Verlag 1936 erschienene Buch „Die Zeugen Jehovas. Pioniere für ein jüdisches Weltreich. Die politischen Ziele der Internationalen Vereinigung ernster Bibelforscher“ von Hans Jonak von Freyenwald. Da der Verfasser von der Gestapo als profunder Kenner der Bibelforscher gelobt wurde,479 soll sich im Folgenden mit Inhalt und Hintergründen dieses Werkes beschäftigt werden. 1934 hatte die israelitische Kultusgemeinde Bern und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund einige Antisemiten, die eine Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“ vertrieben hatten, wegen „Verbreitung von Schundliteratur“ angeklagt. In dem bis 1935 andauernden Prozess ging es darum, die Authentizität der „Protokolle“ zu klären. Nach ersten Schwierigkeiten wandten sich die Schweizer Antisemiten Hilfe suchend nach Deutschland, um von dort gutachterliche Unterstützung zu erhalten. Diese Unterstützung wurde auch gewährt, allerdings nicht offiziell, sondern über den sogenannten Weltdienst (auch „Arischer Weltdienst“), einer „seltsamen Kombination aus Verlag, Propagandaanstalt und Nachrichtenbüro“480 mit Kontakten in alle Welt. Der Leiter, Ulrich Fleischhauer, Oberstleutnant a. D., „war ein radikaler Vertreter der Völkischen Gruppe“ innerhalb der DNVP und „ein alter Bekämpfer des Judentums und der Freimaurerei“.481 Bereits 1933 schlug er vor, seinen „gleich nach der Revolution gegründeten Kampfverlag“, den U. Bodung - Verlag, zum Nukleus einer Auslandspropagandastelle zu machen. Diese sollte einen Nachrichtendienst für die „arische Presse“ in den einzelnen Ländern organisieren, das schon vorhandene Informantennetz ausbauen und mit antijüdischen Organisationen Kontakt aufnehmen.482 Die Mitarbeiter der in Erfurt ansässigen Organisation hatten schon einschlägige Erfahrung bei der Herausgabe antisemitischen Schrifttums. Bestandteil des „Sachverständigengutachtens“, das die Echtheit der „Protokolle der Weisen von Zion“ belegen sollte, war auch ein Abschnitt über die Bibelforscherbewegung. Anhand von deren Endzeitvorstellungen und der publizistischen Auseinandersetzung mit den Großkirchen versuchte Fleischhauer zu beweisen, dass die Bibelforscher nichts anderes als eine christlich getarnte

479 Denkschrift der Gestapo „Die Internationale Bibelforscher - Vereinigung“, als Anlage an Schreiben der Stapoleitstelle München vom 24.12.1936 ( BArch, Slg. Schumacher, 267– 1, unpaginiert ). 480 Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 211. 481 So die Auskunft der Stapostelle Erfurt für das Gestapa vom 21. 4.1936 ( BArch, R 58, [alt ZB I ] 303, Bl. 4 f.). 482 Vgl. Memorandum Einige Gedanken über die Notwendigkeit der Schaffung einer Auslands-Propagandastelle, U. Bodung - Verlag, Erfurt, o. D. ( BArch, R 58, 988, Bl. 8–10). Aus einem späteren Schreiben der „rechten Hand“ Fleischhauers, Georg de Pottere, vom 15.10.1933 geht hervor, dass dieses Memorandum an Hitler gesandt wurde.

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„Kampforganisation“ des Weltjudentums sei. Ihre Tätigkeit wäre der Beweis für die in den Protokollen aufgeführten jüdischen Weltherrschaftspläne.483 Mitarbeiter beim Weltdienst und damit auch am „Gutachten“ war Hans Jonak von Freyenwald. Er brachte ein Jahr nach Prozessende die schon im „Gutachten“ vorgebrachten Ausführungen zu den Bibelforschern in Buchform heraus.484 Geschickt verband Freyenwald antisemitische Verschwörungsvorstellungen mit den Ängsten vor der „Zersetzung des christlichen Glaubens“ und der traditionellen staatlichen Autoritäten, wie sie in konservativen protestantischen und katholischen Kreisen herrschten. Freyenwald kommt nach 90 Seiten zu dem Fazit : „In religiöser Beziehung unterscheidet sich die Lehre stark von den Irrlehren anderer christlicher Sekten, die sich gewöhnlich nur als Abweichungen von der christlichen Religion darstellen, während die Bibelforscher das heutige Christentum in seiner Gesamtheit ablehnen und es bis zu seiner völligen Vernichtung bekämpfen. In politischer Beziehung sind die Bibelforscher eine Klassenkampforganisation, welche unter dem Vorwand einer Religionsverbesserung ausschließlich politische, und zwar weltrevolutionäre Ziele verfolgt. Und das politische Ziel ist die Errichtung eines israelitischen Weltstaates.“485 Dass Freyenwald von der Gestapo als „ausgezeichneter Kenner der Bibelforscherfrage“ bezeichnet wird, hängt natürlich hauptsächlich mit der Zielgruppe des entsprechenden Schreibens zusammen. Als es im Spätsommer 1936 endlich gelang, die illegalen Strukturen der sogenannten 1. Reichsleitung zu ermitteln und einige der wichtigsten Funktionäre zu verhaften, stellte die Gestapo aus den Vernehmungsprotokollen und diversen Bibelforscherschriften eine „Denkschrift“486 für die eigenen Mitarbeiter, aber vor allem für das Justizministerium zusammen. Da die Behandlung der Bibelforscherproblematik in der Justiz in den Augen der Gestapo nicht angemessen war, galt es das Gefahrenpotential zu beschwören und dies so, dass sich nicht nur dezidiert nationalsozialistische, sondern auch konser vative Juristen davon angesprochen fühlten. Dazu griff die „Denkschrift“ die Argumentation Freyenwalds auf und verzichtete fast völlig auf antisemitische Tendenzen. Ein Ver weis auf den herausgebenden Verlag, den katholischen Germania - Verlag, tat ein Übriges, um Unabhängigkeit und Seriosität des „ausgezeichneten Kenners“ und damit auch der „Denkschrift“ zu suggerieren. 483 Das Berner Gericht schloss sich den Klägern an, die die Echtheit der Protokolle anzweifelten und bezeichnete die Protokolle als Schundliteratur. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 275–277; Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 344 f.; Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 406–418. 484 Jonak von Freyenwald, Die Zeugen Jehovas. Das Buch erschien 1936 mit der Imprimatur des Erzbischöf lichen Ordinariats Wien. 485 Jonak von Freyenwald, Die Zeugen Jehovas, S. 94. 486 Denkschrift der Gestapo „Die Internationale Bibelforscher - Vereinigung“, als Anlage an Schreiben der Stapoleitstelle München vom 24.12.1936 ( BArch, Slg. Schumacher, unpaginiert ); auch in RFSS an Reichskirchenministerium vom 26.10.1936 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 337–356). Die Denkschrift wird ausführlich zusammengefasst in Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 302 f.

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Die Nähe zu Freyenwald und seinem Umkreis im „Weltdienst“ hielt sich indes in Grenzen. Nachdem der Prozess um die Protokolle verloren ging,487 wurde die finanzielle Unterstützung des „Weltdienst“ stark beschnitten.488 Zudem erwies sich die Kooperation als nicht ganz folgenlos. Nachdem Fleischhauer gegen die WTG - Führung in Bern Klage erhob, antwortete der Schweizer WTGResident Harbeck mit einer Gegenklage. Darin wurde explizit auf die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Deutschland Bezug genommen und als Quelle der Bericht von Wolfgang Langhoff, „Die Moorsoldaten“,489 aufgeführt. Um sich auf den Prozess vorzubereiten, fragte Fleischhauer nun beim Reichsinnenministerium an, wie er sich verhalten solle. Vor allem wollte er wissen, welche Stellung er zu dem Punkt, dass „viele Hunderte von Bibelforschern in den deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern um ihres Glaubens Willen schmachten und unmenschliche Qualen auf sich nehmen“, einnehmen soll. Diese Anfrage wurde auch an das Gestapa und das Reichspropagandaministerium weiter geleitet.490 In den Akten ist keine Antwort überliefert, Fleischhauer erschien aber nicht zum Verfahren in der Schweiz.491 Eine Gerichtsverhandlung über die Praxis der Verfolgung in Deutschland im Ausland war verständlicherweise nicht opportun. Wie auch viele andere Vertreter des völkisch - antisemitischen Lagers verlor auch Fleischhauer an Einfluss, als es dem Sicherheitsdienst immer mehr gelang, weitgehende Kontrolle über das Schulungswesen der Partei zu gewinnen.492 Gegen Ende der NS - Herrschaft schien dem SD sogar die Verwendung der Argumente aus dem katholischen Lager der Bibelforscher - Gegner suspekt. Ein interner Bericht des RSHA über „Die Sekte der Ernsten Bibelforscher in ihrem Verhältnis zur Freimaurerei und den Juden“ schließt mit dem vorsichtigen Hinweis: „Wenn hier auch von katholischer Seite den E[ rnsten ] B[ ibelforschern ] die Verbindung mit dem Freimaurer - und Judentum nachgesagt wird, so ist dieser Beweisführung m. E. doch nicht ohne Weiteres zu misstrauen, wenn [sie] auch vielleicht mit gewisser Vorsicht zu verwenden“ ist.493 Das stete Zurückdrängen der völkischen Gruppen von entscheidenden Positionen soll nicht suggerieren, dass deren Einfluss zu vernachlässigen wäre. Völkisch - antisemitische und deutsch - christliche Gruppen hatten einerseits das frühe Verbot der IBV ( mit - )initiiert und damit die Konfrontation zwischen Staats487 Zum Prozess und seiner Rezeption in Deutschland vgl. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 105–107. 488 Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 422. 489 Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht, Zürich 1935. 490 Ulrich Fleischhauer, U. Bodung - Verlag Erfurt an das Reichsinnenministerium vom 20. 3.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 911–915); Abgabevermerk an Gestapa und RMVP vom 31. 3.1936 ( ebd., Bl. 920). 491 Vgl. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 68. 492 Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 345 f. 493 Bericht von RSHA VII A 2 an VII B 3 vom 1.10.1944 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 8 f.).

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macht und renitenten Gläubigen ausgelöst Sie lieferten andererseits auch die Blaupause für die „geistige Auseinandersetzung“ mit der Bibelforscherproblematik. Die einmal gefundene Einordnung der Bibelforscher in eine jüdisch - bolschewistische Verschwörung wurde auch in den zuständigen Referaten von Gestapo und SD weiter gepflegt. Deren „rationale“ und „emotionslose“ Arbeit unterschied sich von der ihrer geistigen Vorgänger nur in der Abneigung vor zu großer Öffentlichkeit und in der Radikalität, Angedachtes auch in der Realität zu praktizieren.

2.6

Die strafrechtliche Praxis nach 1935

Auch nach der endgültigen Durchsetzung des IBV - Verbotes stand die Justiz vor einem Dilemma : Legte man die Handlungen der einzelnen Bibelforscher dem Tatvorwurf zu Grunde, mussten die ausgeworfenen Strafen in den Augen der Gestapo immer zu niedrig ausfallen, da sich eine Strafbarkeit nach den bestehenden Vorschriften des Strafgesetzbuches oftmals nicht zweifelsfrei nachweisen ließe. So konnte das Sondergericht Halle noch im Sommer 1936 im gemeinsamen Bibellesen und - besprechen keine verbotene Handlung erkennen, da kein Außenstehender angesprochen wurde und daher auch keine Werbetätigkeit für die IBV festzustellen sei.494 Das Persönlichkeitsbild vieler angeklagter Zeugen Jehovas entsprach in den Augen der Richter selten dem verbreiteten Bild eines „gefährlichen Staatsfeindes“. Vielmehr handele es sich um „harmlose, anständige Menschen“,495 denen irregeleitet der „staatsgefährdende Charakter der Sekte nicht voll ins Bewusstsein gekommen“496 wäre. Die Diskrepanz von beschworener Gefährlichkeit und wahrgenommener Persönlichkeit spiegelte sich auch in Einschätzungen von höchsten Justizfunktionären wider. Reichsgerichtspräsident Bumke begegnete in den ihm bekannten Fällen vor dem Reichsdisziplinarhof „immer dasselbe Bild eines älteren Beamten, der nie Anstoß erregt hatte“.497 Auch die GStA von Düsseldorf und Marienwerder meinten statt gefährlicher Staatsfeinde eher „trottelhafte Typen“, die „geistig nicht ganz normal sind“ bzw. Mitläufer zu sehen.498 Schon seit Frühjahr 1935 wurden die einzelnen Staatspolizeistellen beauftragt, Urteile der jeweiligen Gerichte zu überprüfen und unliebsame Urteile zu

494 Vgl. Bericht des SD - OA Elbe an das SD - HA vom 28. 9.1936 über ein freisprechendes Urteil des SG Halle vom 9. 6.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 565, 567, 570, 571, 572, 573] 5424, hier alt ZB I 570, Bl. 5–9). 495 So der Staatsanwalt am Landgericht Dortmund. Zit. nach Garbe, „Sendboten des Jüdischen Bolschewismus“, S. 158 f. 496 Urteilsbegründung des SG Kiel. Zit. in Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 214. 497 Vgl. Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–191, hier 186). 498 Vgl. ebd., Bl. 184.

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melden.499 Entsprechend berichteten die örtlichen Polizeistellen von „unhaltbaren“ Urteilen, die „geradezu einen Freibrief für die illegale Arbeit der Bibelforscher“500 darstellten und „in keinem Verhältnis zu dem unheilvollen und die Wehrkraft des deutschen Volkes schädigendem Treiben dieser kommunistisch verseuchten Fanatiker standen“.501 Doch trieb die Gestapo die Urteilspraxis der ordentlichen und der Sondergerichtsbarkeit nicht nur durch negative Berichte vor sich her. Auch – zumindest für den Moment – beispielhaft harte Urteile wurden gesammelt und den untergeordneten Polizeibehörden übersandt. So übersandte das Gestapa Berlin im April 1936 die Abschrift eines Urteils des Sondergerichtes Weimar an alle Staatspolizeistellen mit der Aufforderung, „mit den örtlichen Staatsanwaltschaften Fühlung zu nehmen und darauf hinzuwirken, dass diese den gleichen Standpunkt einnehmen“,502 weil dieses „einen bemerkenswerten Aufschluss über die Gefährlichkeit der Ernsten Bibelforscher“503 gäbe. Mit dem Verweis auf derartige harte Urteile wurde neuerlich Druck ausgeübt, denn auch im justizinternen Vergleich der Spruchpraxis wurden diejenigen OLG - Bezirke, die bis an den angedrohten Strafrahmen von fünf Jahren Gefängnis heranreichten, als beispielhaft vorgestellt.504 Um die Gefährlichkeit der Bibelforscherbewegung unter Beweis zu stellen, stellte die Gestapo die Ermittlungsergebnisse der Verhaftungsaktion von August und September 1936 in einer „Denkschrift“ zusammen. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung wäre die Lehre der Bibelforscher ein Gemisch von Politik und Religion, wobei die Religion nur Mittel zum Zweck sei. Ziel der Bibelforscher sei „die Vernichtung aller bestehenden Staatsformen und Regierungen und die Aufrichtung des Reiches Jehovas, in dem die Juden als das auserwählte Volk die Herrscher sein sollen“. Wehrdienst und Luftschutz, Arbeiten in der Rüstungsindustrie, Beteiligung an Wahlen und nationalsozialistischen Organisationen, den Eid auf Hitler, die Rassegesetzgebung sowie den Hitlergruß würden sie zudem verweigern. Bei dieser Ablehnung des nationalsozialistischen Staates 499 Vgl. Erlass des geheimen Staatspolizeiamtes Berlin zur Überprüfung und Meldung unliebsamer Urteile vom 26. 4.1935. Abgedruckt in Rürup ( Hg.), Topographie des Terrors, S. 98. 500 Bericht des SD - OA Elbe an das SD - HA vom 28. 9.1936 über ein freisprechendes Urteil des SG Halle vom 9. 6.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 565, 567, 570, 571, 572, 573] 5424, A. 570, Bl. 5–9). 501 Bericht der Staatspolizeistelle Kiel vom 5. 2.1936. Zit. in Paul, Staatlicher Terror, S. 385. 502 Der Politische Polizeikommissar der Länder an alle Staatspolizeistellen und politischen Polizeien der Länder vom 1. 4.1936 ( BArch, Militärarchiv, MFB 1/ SF - 01/25669, unpaginiert ). 503 So die Bayerische Politische Polizei, die die Urteilsabschrift am 23. 4.1936 an die dortigen Polizeistellen weiter leitete ( WTA, Dok 23/04/36). 504 So Ministerialdirektor Crohne : „Die Höhe der erkannten Strafen ist den einzelnen Bezirken sehr verschieden. Nur wenige Bezirke sind überhaupt bis zu 5 Jahren Gefängnis hinaufgegangen. Es sind dies die folgenden vier : Darmstadt, Dresden, Jena, Königsberg. Andere Bezirke sind auffällig milde.“ Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6. 1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–191, hier 182).

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sei es „selbstverständlich“, dass die Vereinigung „eine Auffangbewegung für alle staatsfeindlichen Elemente“ werde. Detailliert wurde der Aufbau des entdeckten illegalen Apparates referiert, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Staat „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen die Internationale Bibelforschervereinigung vorgehen [ muss ], um sie wenigstens in Deutschland für immer zu vernichten. Es hat sich gezeigt, dass die bisherigen Strafen ihren Zweck verfehlten. [...] Es ist daher zwingende Notwendigkeit, dass der Staat jegliche Betätigung für die verbrecherischen Ziele der Internationalen Bibelforschervereinigung so ahndet, dass der Betreffende für lange Zeit von der menschlichen Gesellschaft ferngehalten wird und keine Gelegenheit hat, sein Treiben fortzusetzen, dass aber andererseits die Strafe auch eine empfindliche Abschreckung für alle mit der Irrlehre Sympathisierenden darstellt“.505 Auch die Zahl der noch immer aktiven Zeugen Jehovas wurde massiv übertrieben, um die Gefahr in den Augen der Justizbeamten zu verstärken. Attestierte die „Denkschrift“ noch vage, dass sich „die Zahl der Anhänger [...] erschreckend vergrößert“ habe, übermittelte die Gestapo dem Reichsjustizministerium 1937, dass „die Zahl der Internationalen Bibelforscher in Deutschland 5 bis 6 Millionen betrage“.506 Die Gestapo fungierte also in der Bibelforscherfrage nicht nur als Exekutivorgan, sondern schuf mit ihrer Beurteilung gleichsam erst politische und weltanschauliche Gegner. Die Justiz hielt sich streng an die Vorgaben durch die Staatspolizei. Am 5. Dezember 1936 übersandte das Reichsjustizministerium zusammen mit der „Denkschrift“ eine Rundverfügung, dass nunmehr schärfste Mittel gegen die Zeugen Jehovas einzusetzen wären. „Mit Rücksicht auf die Gefährlichkeit [...] ist es erforderlich, dass nunmehr bei Funktionären der durch das Gesetz zugelassene Strafrahmen in geeigneten Fällen voll ausgenutzt wird. Auch 505 Denkschrift der Gestapo „Die Internationale Bibelforscher - Vereinigung“, als Anlage an Schreiben der Stapoleitstelle München vom 24.12.1936 ( BArch, Slg. Schumacher, 267– 1, unpaginiert ); auch in RFSS an Reichskirchenministerium vom 26.10.1936 ( BArch, R 5101, 23415, Bl. 337–356). Die Denkschrift wird ausführlich zusammengefasst in Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 302 f. 506 Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–191, hier 181). Ministerialdirektor Crohne ging selbst von „nur“ einer Million aus, zum Vergleich gab Reichsdiener Winkler im Gestapoverhör an, dass sich im Mai und Juni 1936 noch 6 000 ZJ am Predigtdienst beteiligten. Vgl. Vernehmungsprotokoll Fritz Winklers vom 24. August, Anlage eines Schreibens des Gestapa vom 28. 8.1936 an alle Stapostellen und Politischen Polizeien der Länder ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1483– 1518, hier 1500). In der Phase der Verhandlungen zwischen WTG und RMI nannte auch der WTG - Bevollmächtigte überhöhte Zahlen, um so auf die Folgen eines Verbotes „einer Religionsgemeinschaft, die sich auf über 1 Million von Glaubensgenossen erstreckt“, hinzuweisen. Vgl. Gesuch des bevollmächtigten Vertreters der WTG Harbeck an Adolf Hitler vom 26. 9.1933 ( BArch, R 43/ II /179, Bl. 203–218, hier 217). Harbeck rechnete einfach die Abnehmer von Bibelforscherschriften zu den „Glaubensgenossen“. Die Zahl 1,2 Millionen Anhänger der IBV taucht auch im Urteil des LG Dresden vom 28. 5.1934 (3 A 40/34. Nr. 8) auf, sie „wurde bei einer gelegentlichen Unterschriftensammlung für die Bibelforschervereinigung ermittelt“ ( SächsHStAD, Sondergericht Freiberg, Karton 171, Kms / SG 97/35).

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die bloße Mitgliedschaft zur IBV muss bei dieser Sachlage bereits so bedenklich erscheinen, dass Geldstrafen nicht mehr [...] geeignetes Mittel [...] sein dürften.“507 Diese Rundverfügung wurde Anfang März 1937 wiederholt, da „einige Gerichte sich noch nicht haben entschließen können, mit der nötigen Strenge“ vorzugehen.508 Beide Rundverfügungen deuten neben einer allgemeinen Strafverschärfung an, wie künftig mit Bibelforschern vor den Gerichten umzugehen sei. Zum einen wurden jetzt unterschiedslos alle aufgegriffenen Bibelforscher unabhängig vom Grad der Betätigung vor Gericht gestellt. Zum anderen musste, um die Gefährlichkeit der Angeklagten und damit die Strafhöhe zu begründen, erst einmal ein Straftatbestand konstruiert werden. Der Berliner Landgerichtsdirektor Burczek fasste diese Tendenz wie folgt zusammen : „Hier darf kein Mitgefühl abhalten [...] Auch die sonst tadelfrei lebende alte Frau, weil sie als Mitglied der IBV angehört, vergeht sich schwer gegen Volk und Staat, weil sie durch ihre Teilnahme überhaupt mit die Möglichkeit setzt, dass die Vereinigung ihr Leben im Staate zu dessen Schaden fortführen kann. Diese Tatsache wird in weiten Kreisen verkannt, ist aber von ausschlaggebender Bedeutung für die Würdigung anscheinend harmlosen, in Wirklichkeit staatsgefährlichen Tuns in staatspolitischer und strafrechtlicher Hinsicht.“509 Angesichts der Urteile und vor allem angesichts deren Begründungen entsteht der Eindruck, dass die vorgeworfenen Handlungen gegenüber der vermeintlichen Gesinnung der Angeklagten zurück traten. Gezielt wurde bei Ermittlungen und Vernehmungen der Standpunkt der Angeklagten zu den in der „Denkschrift“ monierten Ver weigerungen eruiert, um so Staatsfeindlichkeit“ und „Fanatismus“ zu beweisen. So wurden neben gängigen Kriterien wie Vorstrafen oder Aussagebereitschaft auch Aussagen über Wahlver weigerung oder Nichtmitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen strafverschärfend gewertet. War ein angeklagter Bibelforscher Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg konnte dies strafmildernd gewertet werden,510 lehnte er aber dann das Frontkämpferehrenabzeichen511 ab, verkehrte sich die Wertung ins Gegenteil.512 Die Verweigerung des Hitlergrußes oder der Eidesleistung durch Beamte zeigte dessen „fanatische Einstellung“. Erwiesen Zeugen Jehovas jedoch 507 Rundverfügung des RJM vom 5.12.1936. Abgedruckt in Mechler, Kriegsalltag an der Heimatfront, S. 71. 508 Rundverfügung des RJM vom 2. 3.1937. Zit. in Johe, Gleichgeschaltete Justiz, S. 122. 509 Zit. nach Garbe, „Sendboten des Jüdischen Bolschewismus“, S. 165 f. 510 Vgl. Verfahren gegen Erich Pöschel vor dem SG Freiberg ( SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 499, Kms / SG 44/38) und Verfahren gegen Emil Israel vor dem SG Freiberg (ebd., Karton 574, Kms / SG 264/39). 511 Im Juli 1934 stiftete die deutsche Reichsregierung auf Anregung des Reichspräsidenten das Ehrenkreuz als Zeichen der Erinnerung für die ehemaligen Frontkämpfer, Kriegsteilnehmer und Hinterbliebenen des Weltkrieges. Die Stiftungsurkunde wurde am 13. 7.1934 vom Reichspräsidenten unterzeichnet, die Bekanntgabe erfolgte zwei Tage später im Reichsgesetzblatt ( RGBl. I, S. 619). 512 Vgl. Verfahren gegen Max Thieme u. a. ( SächsHStAD, SG Freiberg, Karton 389, Kms / SG 163/37).

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den Hitlergruß oder leisteten ihren Diensteid, ohne von ihrem Glauben zu lassen, waren sie „scheinheilig“513 und bewiesen dadurch ihre „innere Unwahrhaftigkeit“.514 Wie die Rechtsprechung gegenüber den Bibelforschern zeigt, machte der staatliche Zugriff auch vor Eingriffen in das Privat- und Familienleben, selbst in den Bereich des persönlichen Gewissens, nicht halt.515 Die Zuschreibungen dienten dazu, die gefällten Urteile zu rechtfertigen und gegenüber vorgesetzten Dienststellen und vor allem gegenüber der Gestapo Härte und Entschlossenheit zu demonstrieren. Das Reichsjustizministerium wiederum versuchte durch diese Lenkungsbemühungen, „den Übergriffen der Gestapo entgegenzusteuern, um die eigene Strafhoheit gegenüber solchen von den Nationalsozialisten apostrophierten Staatsfeinden sicherzustellen“.516 Die Legitimation der Entscheidungen führt zu einer Verfahrenswirklichkeit, welche die Voraussetzungen für eine Straf justiz in den Bahnen eines rechtsförmigen Verfahrens schuf.517 Die Gerichte hielten sich zwar an den im Gesetz vorgesehenen Strafrahmen, doch der Anspruch des Staates, diese harten Gesetze auch bis zur letzten Konsequenz anzuwenden und das Strafmaß an der Höchststrafe zu orientieren, verdeutlicht den Missbrauch des Rechts zu politischen Zwecken.518 Bis 1937 hatte sich bei einzelnen Sondergerichten ein eigener Strafenkatalog für Bibelforscher entwickelt, der je nach Funktion der Angeklagten differierte. Gruppenleiter erhielten 10 Monate, Dienstleiter ein Jahr und Bezirksdienstleiter zwei Jahre Gefängnis. Rückfällige Bibelforscher wurden mit Strafen nicht unter einem Jahr bedacht, nur Bibelforscherinnen wurden „wegen ihrer Neigung zu religiösen Irrlehren“ milder bestraft. Für sie galt ein Strafrahmen von 10 Monaten Gefängnis. Damit war zwar die Forderung nach härteren Strafen erfüllt und auch die Strafandrohung für einfache Gläubige sichergestellt, in den Augen von Gestapo und SD konnte dieser Strafrahmen allerdings nicht befriedigen, da die erlittene Schutz - und Untersuchungshaft fast immer voll angerechnet wurde.519 Diese Kritik verweist auf den Konflikt zwischen Justiz und Gestapo / SD, wer darüber zu entscheiden habe, wann der Strafzweck erfüllt wäre und und ob der normative Rahmen der Justiz oder das außernormative Handeln von SS-geführter Geheimpolizei Priorität genoss. Dies soll im folgenden Abschnitt behandelt werden. 513 Vgl. Begründung der Strafzumessung für den Angeklagten Emil Herrmann. In : Urteil SG Freiberg vom 11. 9.1937 gegen Bruno Oswald Micklich u. a. ( Kms / SG 56/37) (AGMPD, Konvolut Herrmann, unpaginiert ). 514 Vgl. Urteil SG Königsberg vom 7. 5.1937 (15 KMs 105/37) ( BArch, R 3001/ III g/ 522/39, unpaginiert ). 515 Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 197. 516 Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 303. 517 Vgl. Richter, Hochverratsprozesse, S. 142. 518 Vgl. Johe, Gleichgeschaltete Justiz, S. 115. 519 Vgl. Bericht über Strafsitzung der Sondergerichte I und II in Berlin in der Strafsache gegen den IBV - Reichsleiter Winkler vom 31. 7.1937 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ).

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2.7

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Die Ausweitung des Maßnahmestaates

Das Feindbild „Kommunismus“ war eine wichtige Klammer im Denken von Nationalsozialisten und nationalkonservativen Eliten in der Ministerialbürokratie und vor allem in der Justiz. Angesichts dessen war es folgerichtig, dass Kommunisten schon zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft nicht nur die Härte der neu geschaffenen Strafbestimmungen traf. Sie waren besonders stark von der Schutzhaft und damit von den unkontrollierten Gewalttaten in den Konzentrationslagern betroffen. Durch einen Prozess der Stereotypisierung und Stigmatisierung wurden die Kommunisten außerhalb des geltenden Rechtssystems, wenn nicht gar der menschlichen Gesellschaft gestellt. Dass diese antibolschewistischen Vorurteile dann auch Maßnahmen außerhalb der traditionellen Rechtsnormen „extrem erleichterten“, erscheint zwangsläufig.520 Bereits im Mai 1933 konstatierte der Staatssekretär im preußischen Innenministerium Ludwig Grauert, die Erfahrung habe gezeigt, dass Vernehmungen wegen des Verdachts auf hoch - bzw. landesverräterische Handlungen durch Beamte der ordentlichen Polizei nicht den erwünschten Erfolg zeitigten. Daher sei es erforderlich, „in geeigneten Fällen in polizeilichem Gewahrsam befindliche Häftlinge [...] von den nationalen Verbänden zu benennende, mit Hilfspolizisten zu besetzenden Dienststellen zur verantwortlichen Vernehmung [...] zu überstellen“.521 Diese staatlich sanktionierte Form der Folter, euphemistisch „technische“, „verantwortliche“ oder „verschärfte Vernehmung“ genannt, wurde häufiger angewandt, wenn polizeiliche Ermittlungsergebnisse nicht ausreichten oder nicht gerichtsverwertbare Informationen von V - Leuten vorlagen. Offiziell beinhalteten derartige Vernehmungen Maßnahmen wie Schlafentzug, einfachste Verpflegung, Dunkelzelle, Ermüdungsübungen bis hin zu Stockschlägen.522 Trotz des außernormativen Charakters derartiger „Beweissicherungen“ gab es auch für diese Fälle Anordnungen, die Regelhaftigkeit suggerieren sollten. So war eigentlich vorgesehen, vor jeder „technischen Vernehmung“ in einem Bericht die Gründe für die Notwendigkeit darzulegen und die Genehmigung einzuholen. Auch sollte immer ein Arzt anwesend sein. Die Realität sah allerdings anders aus. Ein Kieler Gestapo - Beamter gab nach Kriegsende an, dass „ein Arzt [...] von der Staatspolizei in Kiel zu ‚technischen Vernehmungen‘ nie herangezogen worden [ sei ...]. Im Polizeipräsidium in Kiel war es allen Beamten bekannt, dass diese Art von Verhören nach Dienstschluss und vor allem während der Nacht stattfanden.“523 In ihren Verhörmethoden offenbarte sich die genuine Arbeitsweise der Gestapo. Ziel der Verhöre war es, von den Verdächtigen Geständnisse zu erlangen, die Wege dahin führten über Drohungen und 520 Schmid, Gestapo Leipzig, S. 39. 521 Erlass des preußischen Innenministeriums vom 29. 5.1933. Zit. in Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 359 f. ( FN 104). 522 Vgl. Paul, Staatlicher Terror, S. 208. 523 Vernehmung Karl Sprenger am 26. 7.1947 ( BArch Koblenz, Z 42 III /566). Zit. in Paul, Staatlicher Terror, S. 207 f.

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psychischen Druck bis hin zu körperlicher Gewalt. Diese „Ermittlungen“ gingen einem rechtsförmigen Verfahren voraus und sind geradezu „als Bedingung der Möglichkeit von Rechtsförmigkeit im Nationalsozialismus“ zu benennen.524 Der Widerspruch aus intern propagierter Regelhaftigkeit und realer Praxis erklärt sich auch aus der Ablehnung derartiger Maßnahmen. Innerhalb der Polizei galt die legalisierte Folter als Eingeständnis von Unprofessionalität, daher wurde sie kaum beantragt, sondern stillschweigend praktiziert.525 Auch innerhalb der Justiz regte sich Widerspruch. So schrieb der Reichsanwalt am VGH, dass die „verschärfte Vernehmung“ abzulehnen sei. Sie wäre kein zuverlässiges Instrument zur Wahrheitsfindung und darüber hinaus „eines Kultur volkes unwürdig“.526 Außerdem konnte die Folter in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft durchaus auch nicht intendierte Folgen nach sich ziehen, wenn Angeklagte vor den Gerichten ihre Aussagen widerriefen und damit die Praxis der Gestapo öffentlich machten. Häufig blieb den Gerichten nichts anderes übrig, als die Angeklagten aus Mangel an Beweisen freizusprechen.527 Um derartige Entscheidungen auszuschließen, hatte das Gestapa ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „die Anwendung verschärfter Vernehmungsmethoden auf keinen Fall aktenkundig gemacht werden darf“.528 Ja, es bestand sogar die Gefahr, dass Gestapobeamte zur Rechenschaft gezogen würden, da es sich bei den Misshandlungen „offenbar nicht um einzelne Übergriffe im Affekt, sondern um systematische Aussageerpressungen handele, die mit politischem Übereifer nicht entschuldigt werden“ könnten und damit auch nicht unter die einschlägigen Straffreiheitsgesetze fallen.529 In einigen Gerichtsbezirken wurde daraufhin die Überführung von Gefangenen in Polizeigefängnisse zur Vernehmung untersagt.530 Als bei einer Tagung am 11. und 12. November 1936 im Reichsjustizministerium mit den für Hochverratsachen zuständigen Präsidenten und Generalstaatsanwälten der Oberlandesgerichte und Vertretern des Gestapa das Problem der Anwendung verschärfter Vernehmungsmethoden angesprochen werden sollte, sprach Reinhard Heydrich selbst in einem halbstündigen Vortrag zu den Themen „Der Kommunist im polizeilichen Ermittlungsverfahren“ und „Die Stellung der Vertrauensmänner der Gestapo im Strafprozess“. In der anschließen-

524 Richter, Hochverratsprozesse, S. 62 f. 525 Vgl. Schmid, Gestapo Leipzig, S. 38. 526 Schreiben des Reichsanwaltes am VGH vom 14. 9.1936. Zit. in Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 713 ( FN 86). Vgl. auch Mallmann / Paul, Die Gestapo. Weltanschauungsexekutive, S. 637 f. 527 Vgl. Beispiele des Schleswig - Holsteinischen Sondergerichts in Paul, Staatlicher Terror, S. 210 f. Dass Richter derartig erzwungene Geständnisse nicht ver werteten, beweist, dass die Justiz über die Zustände in den Konzentrationslagern und Polizeigefängnissen informiert war. Vgl. Johe, Gleichgeschaltete Justiz, S. 140. 528 Erlass des Gestapa vom 28. 5.1936. Zit. in Paul, Staatlicher Terror, S. 211. 529 Schreiben der StA Hamburg vom 25. 4.1935. Zit. in Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 705 ( FN 55). 530 Vgl. ebd., S. 710.

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den Aussprache meinte der Leiter der Strafrechtsabteilung im RJM, Ministerialdirektor Wilhelm Crohne, dass nun mit der verschärften Vernehmung „als gegeben gerechnet werden“ müsse. Wichtig sei nur, dass „das Ansehen der Polizeibeamten und damit des Staates [...] nicht von Richtern und damit wieder vom Staat unnötig vor Leuten, gegen die immerhin hinreichender Hochverratsverdacht besteht, beeinträchtigt werden“ dürfe.531 Als Rahmen für die inzwischen von der Justiz stillschweigend akzeptierte Folter galt allerdings noch der Vor wurf des Hochverrats, der vorrangig kommunistische Verdächtige traf. Dies verdeutlicht auch der Titel des Vortrages von Heydrich. Natürlich beschränkte sich die „verschärfte Vernehmung“ nicht auf Kommunisten, wenn derartige Fälle aber in die Öffentlichkeit gelangten, konstruierte die Gestapo phantasiereich Verbindungen zur illegalen KPD.532 Um auf diesem Gebiet „eine bessere technische Verzahnung zwischen den illegalen Methoden der Gestapo und der normativen Arbeit der Justiz“533 zu erreichen, trafen sich am 4. Juni 1937 Ministerialdirektor Crohne, die beiden Oberstaatsanwälte Joël und von Haacke, die Generalstaatsanwälte beim OLG Hamm und dem Kammergericht Berlin sowie der Oberstaatsanwalt Düsseldorf534 mit den Vertretern des Gestapa Best und Möller. Die Justizvertreter betonten nochmals ihre Akzeptanz der „von Seiten der höchsten Staatsführung [...] für erforderlich und unerlässlich anerkannt[ en ]“ Vernehmungspraktiken der Gestapo, die strafrechtliche Verfolgung derartiger Fälle sei also nicht erwünscht. Als einzige Möglichkeit, die Strafverfolgung einzustellen, bot sich nach Meinung von Oberstaatsanwalt von Haacke die Einstellung des Verfahrens mangels Rechtswidrigkeit an, was allerdings „klare Regeln und Richtlinien für die Anwendung verschärfter Vernehmung“ voraussetzte. Gemäß den bisherigen Absprachen sahen die Vertreter der Justiz in erster Linie Hoch - und Landesverräter in der Gruppe der verschärft zu Vernehmenden. Inzwischen meinte jedoch die Gestapo, dass „möglicherweise auch in Bibelforscher - , Sprengstoff - und Sabotagesachen eine verschärfte Vernehmung in Frage kommen könnte“. Eine grundsätzliche Einigung wurde nicht erzielt, die Gestapovertreter wollten zuvor noch eine Stellungnahme Himmlers einholen.535 Dies scheint rasch zu einer Klä531 Zit. in ebd., S. 714. 532 So wurde die Überstellung des Knabenmörders Seefeld zur Vernehmung durch die Gestapo mit einer „möglichen Identität mit einem kommunistischen Geheimagenten gleichen Namens“ begründet. Vgl. ebd., S. 710. Auch die Misshandlung von Homosexuellen legitimierte Heydrich Ende 1936 damit, dass „unter den Homosexuellen in Duisburg ein Zusammenhang bestanden habe, der dem unter Kommunisten üblichen ähnlich sei“. Vgl. ebd., S. 712. 533 Ebd., S. 715. 534 In Düsseldorf und Berlin waren die meisten Probleme mit der „verschärften Vernehmung“ aufgetreten. Vgl. auch die Anklagepunkten aus dem „Offenen Brief“ der Zeugen Jehovas, in denen auf Misshandlungen durch die Polizei in Dortmund, Gelsenkirchen und Hamm ( alles OLG - Bezirk Hamm ) hingewiesen wurde. Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 715. 535 Die von Gruchmann erwähnte Einschränkung, dass „verschärfte Vernehmungen“ nicht „zur Herbeiführung von Geständnissen über eigene Straftaten“ angewandt werden

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rung geführt zu haben, denn am 1. Juli 1937 erließ das Gestapa eine Anordnung über den Vollzug der verschärften Vernehmung. Diese ist zwar nicht überliefert,536 ein Bericht der Stapostelle Aachen über eine Dienstbesprechung am 12. Juli 1937 vermerkt jedoch, dass „bei KPD. - Angehörigen und Internationalen - Bibelforschern eine Ausnahme“ vom Verbot der „Anwendung des verschärften Vernehmungsmittels“ möglich sei.537 Diese Praxis wird sowohl von zeitgenössischen Berichten der Zeugen Jehovas538 als auch in Niederschriften von Gestapo und SD539 schon seit Anfang 1937 bestätigt. Wie erwähnt, wurden schon davor andere Deliktgruppen als „Hochverräter“ im Zuge der Ermittlungen misshandelt, die Erwähnung der Zeugen Jehovas in der Anordnung vom 1. Juli 1937 markiert jedoch nach der Einführung dieser außernormativen Maßnahme noch im Jahr der „Machtergreifung“ einen erneuten Qualitätssprung. Erstmals durfte eine Gruppierung neben den Kommunisten unter der Duldung der Justiz gefoltert werden. Die bislang mühsam aufrecht erhaltene Illusion in der Justiz, dass ausschließlich Hochverräter zur Abwehr staatsgefährdender Verbrechen misshandelt werden durften, brach zusammen. Dass dies nur ein erster Einbruch in die Fassade der an traditionellen Normen orientierten Justiz war, verdeutlicht die Tatsache, dass die Justiz erstens grundsätzlich auf ihre Strafhoheit gegenüber den Gestapobeamten verzichtete540 und zweitens der Kreis der per Anordnung legal zu Folternden von nun an ständig erweitert wurde : 1941 wurde der Geltungsbereich des Erlasses vom 1. Juli 1937 auf „Polen und Sowjetrussen“ erweitert. Außerdem lag nun die Entscheidungsbefugnis nicht mehr beim Gestapa in Berlin, sondern bei den Stapostellenleitern, den Leitern der Leitstellen und den Kommandeuren der Sicherheitspoli-

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durfte ( so im Erlass aus dem Jahr 1942), war keineswegs „ein Schritt zur Beseitigung der Schwierigkeiten für die Justiz“ ( Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 718). Dieses „Zugeständnis“ war nicht das Papier wert. Die Möglichkeit der Gestapo mittels „verschärfter Vernehmungen“ den organisierten Widerstand nach dem Schneeballprinzip aufzurollen, machte eine direkte Befragung überflüssig. Aus den erzwungenen Geständnissen der jeweils anderen Betroffenen ergaben sich genügend Beweismittel. Mit dem Erlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 12. 6.1942 trat der Erlass vom 1. 7.1937 außer Kraft und wurde vernichtet ( BArch, Militärarchiv, MFB 1/ SF - 03/16332, unpaginiert ). Bericht vom 19. 7.1937 ( ebd., unpaginiert ). Vgl. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 137–149, sowie „Offener Brief an das bibelgläubige und Christus liebende Volk Deutschlands !“ ( AGMPD ). Beispielsweise Bericht über eine am 6. Januar 1937 begonnene Aktion des SD - Unterabschnittes Arnsberg gegen die Internationale Bibelforscher - Vereinigung in Zusammenarbeit mit Beamten der Staatspolizei Dortmund, Anhang eines Schreibens des SD - OA West an SD- HA II /113 vom 21.1.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 203– 213, hier 206): „Die in den folgenden Tagen auch tatsächlich erzielten Erfolge und Aussichten sind denn auch fast ausschließlich auf die von den Beauftragten des SD - Unterabschnittes Arnsberg gewünschte und durchgesetzte Art und Weise der Vernehmung zurückzuführen.“ Vgl. Bericht des SD - Führers des SS - Oberabschnitts Fulda - Werra an das Sicherheitshauptamt, Abt. II /113 vom 5. 8.1937 ( ebd., Bl. 228–237, hier 235) : „Erst durch Gegenüberstellungen und Zermürbungsmethoden konnten sämtliche Verhaftete, obwohl sie anfänglich leugneten, der Tat überführt werden.“ Vgl. Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 260.

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zei und des SD.541 Schon 1942 wurde der Kreis der zu Folternden fast völlig entgrenzt. Eine Neuregelung des Erlasses vom 1. Juli 1937 sah vor, dass „die verschärfte Vernehmung [...] nur [ !] angewendet werden [ darf ] gegen Kommunisten, Marxisten, Bibelforscher, Saboteure, Terroristen, Angehörige von Widerstandsbewegungen, Fallschirmagenten, Asoziale, polnische oder russische Arbeitsverweigerer oder Bummelanten“. Alle „übrigen Fälle“ bedurften der vorherigen Genehmigung durch Gestapochef Müller.542 Ein weiteres Element des Ausgreifens außernormativer Maßnahmen in den Bereich der Justiz war das Instrument der Schutzhaft. Die Schutzhaft war eines der schlagkräftigsten Instrumente zur Bekämpfung der reellen oder vermeintlichen Gegner des NS - Regimes. Mit Hilfe der Schutzhaft, deren formaljuristische Grundlage die „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933543 bildete, schuf sich die Gestapo einen von jeder rechtsstaatlichen Bindung gelösten Raum staatlicher Willkür. Gegen Zeugen Jehovas wurde die Schutzhaft schon im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft verhängt. Besonders anlässlich außergewöhnlicher Aktivitäten der Religionsgemeinschaft wie der Nichtteilnahme an den Reichstagswahlen im November 1933 oder des Beginns der organisierten illegalen Tätigkeit am 7. Oktober 1934 wurden viele Gläubige in Schutzhaft genommen. Noch waren derartige Aktionen unkoordiniert, erst 1935 ist eine gewisse Systematisierung zu beobachten. Im Juni 1935 erließ die Bayerische Politische Polizei ( BPP ), der Nukleus des SS - geführten Polizeiapparates, eine erste Schutzhaftregelung, um auf die verstärkte illegale Betätigung der Bibelforscher zu reagieren. Wenn der Haftrichter keinen Haftbefehl anordnete, sollten Bibelforscher kurzzeitig in Schutzhaft genommen und erst nach dringender Ermahnung wieder entlassen werden.544 Bereits drei Monate nach dieser ersten Regelung erging eine verschärfte „Schutzhaftrichtlinie“ : Alle bei Betätigung aufgegriffenen Bibelforscher sollten, wenn kein Haftbefehl vorlag, für sieben Tage in Schutzhaft genommen werden. Bei ehemaligen Funktionären galt eine Frist von zwei Monaten. Fiel ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft zum wiederholten Male auf, sollte die Schutzhaft in einem Konzentrationslager vollstreckt werden. Eine Verlängerung der Fristen wäre nur bei Missionsversuchen oder schweren Disziplinarverstößen während der Schutzhaft erlaubt.545 Diese im Februar 1936 wegen des „staatszersetzenden“ Charakters der IBV noch einmal bekräftigte Richtlinie546 541 Erlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 6.10.1941 ( BArch, Militärarchiv, MFB 1/ SF - 03/16332, unpaginiert ). 542 Erlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 12. 6.1942 ( ebd., unpaginiert ). 543 RGBl. 1933 I, S. 83. 544 Vgl. Rundverfügung der BPP vom 26. 6.1935 ( Nr. 18823/35–I 1 B ). In : BPP vom 1. 8.1936, Zusammenstellung der zur Zeit in Bayern geltenden Schutzhaftbestimmungen ( BArch, R 58, 264, Bl. 239–252, hier 244). 545 Vgl. Anweisung der BPP an alle nachgeordneten Behörden vom 23. 9.1935 ( ebd., Bl. 162 f.). 546 Vgl. Rundverfügung der BPP vom 1. 2.1936, betr. Bekämpfung der Ernsten Bibelforscher ( BArch, Sammlung Schumacher, 267/1, unpaginiert ).

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musste im März 1936 allerdings modifiziert werden. Da „sich die Fälle [ häuften ], dass bei der Festnahme von Bibelforschern beide Elternteile zu gleicher Zeit in Schutzhaft genommen“ wurden, sollte künftig „von der gleichzeitigen Inschutzhaftnahme beider Eltern nach Möglichkeit“ abgesehen werden. Die in dieser Anweisung vorgebrachte Begründung, dass „die Kinder vor schweren seelischen und wirtschaftlichen Schäden“ bewahrt werden sollten, war vorgeschoben. In Wirklichkeit fielen die Kinder „der öffentlichen Wohlfahrt zur Last“.547 Die Anordnung zeigt, dass inzwischen viele Zeugen Jehovas in Haft genommen wurden und damit die Kommunen die sozialen Folgen tragen mussten. Außerdem verdeutlicht sie, dass im Gegensatz zu anderen illegal aktiven Gruppen inzwischen gleichermaßen Männer und Frauen illegal aktiv waren.548 Am 22. April 1937 kam es dann zu der folgenschweren Anordnung des Gestapa, dass jeder aktive Bibelforscher nach Aufhebung des richterlichen Haftbefehls, nach einem gerichtlichen Freispruch sowie nach Beendigung der Strafhaft in Schutzhaft zu nehmen wäre.549 Diese Schutzhaft galt auch über sieben Tage hinaus, bei Funktionären der verbotenen Glaubensgemeinschaft sowie bei „Rückfalltätern“ sollten „strengste Maßstäbe“ angelegt werden.550 Obwohl die Gestapo immer den präventiven Charakter der ergriffenen Maßnahmen betonte, griff diese Anordnung natürlich massiv in den Entscheidungsraum der Justiz ein. Die Richter sahen darin eine Abwertung und Korrektur der eigenen Entscheidungen.551 Nach Meinung des Präsidenten des OLG Braunschweig war diese Maßnahme das „Grab der Rechtspflege“.552 Die Differenzen zwischen Geheimpolizei und Justiz verdeutlichen zum einen die unterschiedliche Herangehensweise bei der Verfolgung von Gegnern des NSRegimes. Über die Notwendigkeit eines verschärften Vorgehens gegen den Träger „volksfeindlichen Willens“ herrschte Konsens, auch darüber, dass dieser nur zwei Möglichkeiten besäße : er „kapituliert unter dem Eindruck der Strafmaßnahmen des Staates“ oder „er wird unschädlich gemacht – letzten Endes

547 Anweisung der BPP an alle nachgeordneten Behörden vom 21. 3.1936 ( BArch, R 58, 264, Bl. 201). 548 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 259. 549 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 620. 550 Vgl. AO des Gestapa vom 22. 4.1937, betr. Schutzhaft gegen Bibelforscher( WTA, Dok 22/04/37). 551 „Das Sondergericht erblickt in diesem Vorgehen eine Schädigung des Ansehens der Justiz und eine Erschütterung des Vertrauens in die Rechtspflege. Es wird dadurch der Anschein der Korrektur eines unmittelbar vorangegangenen Richterspruches erweckt.“ OLG - Präsident von Braunschweig an Reichsminister der Justiz vom 21. 5.1937, betr. Strafverfahren gegen Angehörige der Internationalen Bibelforscher - Vereinigung ( BArch, R 3001, 1467, Bl. 285). 552 Zit. nach Wysocki, Die Geheime Staatspolizei im Land Braunschweig, S. 128. Hier nahm der OLG - Präsident die Verhaftung von drei Geistlichen zum Anlass seiner Kritik. Außerdem sahen die Richter die „bessernde und abschreckende Wirkung des Strafvollzuges“ durch die unterschiedslose Inschutzhaftnahme von Bibelforschern in Frage gestellt. Vgl. Zweimonatliche Lageberichte aus dem OLG - Bezirk Karlsruhe vom 16.12.1937 ( BArch, R 3001, 3136, Bl. 141–157, hier 157).

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[...] durch Vernichtung“.553 Dissens gab es in der Frage, ob und wann der Strafzweck erreicht wurde und wer darüber entscheiden sollte. Denn nach Meinung der Gestapo hatte sich die Gesinnung der Gegner nach Verbüßung der gerichtlich verfügten Strafhaft eben nicht erledigt, sondern bedeutete eine fortwährende Gefährdung der „öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung“.554 Dieser konnte nur durch deren Ausgrenzung aus der Rechtsgemeinschaft und der Auslieferung in die Schutzhaft begegnet werden.555 Die Justiz hatte es zum anderen schon seit 1933 geduldet, dass Strafgefangene nach Verbüßung der Haft der Polizei ausgeliefert wurden. Auch in diesem Fall erleichterte der grundsätzliche Antikommunismus der nationalkonservativen Eliten in Justiz und Bürokratie die Durchsetzung des Gestapo - Konzepts. Der preußische Justizminister ordnete schon im Mai 1933 an, dass die Justizbehörden vor der Entlassung „staatsfeindlicher Personen“ mit den zuständigen Polizeibehörden Kontakt aufnehmen sollten.556 Auch in Bayern erließ das Justizministerium 1934 eine Verfügung nach der „Funktionäre[ n ] oder fanatische[n] Marxisten [...] die Möglichkeit einer erneuten staatsfeindlichen Betätigung zu nehmen“ wäre. Auch nach Beendigung der Strafhaft sollten sie wieder in Schutzhaft genommen werden.557 Im Dezember 1934 gelang erstmalig eine reichseinheitliche Regelung : Demnach sollte bei Landesverrätern einen Monat vor Entlassungstermin die zuständige Landespolizeistelle informiert werden. Informationen über den Zeitpunkt der Entlassung von Hochverrätern mussten sich die Staatspolizeistellen vorerst auf der Basis der von der Justiz zur Verfügung gestellten Urteile und Entscheidungen selbst einholen. Dies war zeitaufwendig und erwies sich auch nicht in jedem Fall als erfolgreich. Die Staatspolizei reagierte mit pauschalen Rücküberstellungsanträgen. Nachdem das Gestapa im November 1936 erneut diesen Zustand kritisierte und reichseinheitliche Regelungen einforderte,558 gab das Reichsjustizministerium nach und wies an, einen Monat vor der Entlassung von Landes - und Hochverrätern den zuständigen Staatspolizeistellen Mitteilung zu machen.559 Angesichts ihrer generalpräventiven Zielsetzung gab sich die Gestapo mit diesem Zustand nicht zufrieden, denn längst hatte sie begonnen, auch Bibelforscher nach Beendigung ihrer Strafhaft in Gewahrsam zu nehmen. Ihre Anordnung vom 22. April 1937, auch sämtliche haftentlassene Bibelforscher in Schutzhaft zu nehmen, überschnitt sich mit einer Anweisung des Reichsjustizministeriums vom 21. April 1937, nach der es „in Ausnahmefällen“ möglich wäre, Angeklagte auch nach Freisprüchen in 553 554 555 556

Vgl. Freisler, Einige Gedanken über Willensstrafrecht, S. 162. Vgl. Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 116. Vgl. Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems, S. 181. Vgl. Erlass des Preußischen Justizministers über Entlassung staatsfeindlicher Personen aus der Untersuchungs - oder Strafhaft vom 6. 5.1933 ( BArch, R 3001, 1467, Bl. 361). 557 Verfügung des Bayerischen Staatsministeriums ( o. D.). Zit. nach Aronson, Reinhard Heydrich, S. 133. 558 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 618. 559 Vgl. Rundverfügung des Reichsjustizministeriums an den Reichsanwalt und die GStA vom 18.1.1937 ( BArch, R 58, 264, Bl. 22 f.).

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Schutzhaft zu nehmen.560 Dieses Schreiben griff die Staatspolizei begierig auf, um es gleichsam als justitielle Bestätigung ihres Erlasses allen Staatspolizeistellen zu übermitteln.561 Nachdem sich nun immer stärker Kritik aus den einzelnen OLG - Bezirken meldete,562 gelangte am 4. Juni 1937 über den Generalstaatsanwalt von Stettin endlich eine Abschrift des Gestapo - Runderlasses an die zentrale Reichsjustizbehörde.563 In einer Besprechung der OLG - Präsidenten und Generalstaatsanwälte im Reichsjustizministerium am 18. Juni 1937 fasste Ministerialdirektor Wilhelm Crohne nach Verlesung des Gestapa - Erlasses den Standpunkt des Ministeriums zusammen : „Wir können, nachdem die Allgemeine Anordnung nun einmal besteht, hiergegen nichts unternehmen. Der Kampf gegen die Internationalen Bibelforscher muss stärker und stärker werden.“564 Bereits am 2. Juli 1937 wurde mit einer Rundverfügung des Reichsjustizministeriums die Benachrichtungspflicht bei Haftentlassung auch auf die Gruppe der Bibelforscher ausgedehnt.565 Diese Rundverfügung gab das Gestapa am 5. August an alle Polizeistellen weiter. Wiederum war es gelungen, vorerst auf Hochverräter beschränkte „Ausnahmen“ auf andere Gruppen auszuweiten und wiederum war es die Gruppe der Bibelforscher, die als „Türöffner“ genutzt wurde. Zwar gelang es nicht wirklich, alle Zeugen Jehovas nach der Strafhaft in die Verfügungsgewalt der Gestapo zu verbringen, wie neuerliche Vorstöße der Gestapo zeigen, doch waren nun auch hier die Schleusen geöffnet. 1939 beklagten die Generalstaatsanwälte auf einer neuerlichen Besprechung im Justizministerium, dass inzwischen auch Homosexuelle und Sittlichkeitsverbrecher regelmäßig nach Freisprüchen und Haftende in Schutzhaft genommen würden. Im März 1941 wurden dann auch „Rassenschänder“ in die Mitteilungspflicht einbezogen,566 im November 1941 „alle Juden“ und durch Rundverfügung des Reichsjustizministeriums vom 21. April 1943 auch Polen, die eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verbüßt hatten.567 Die in den Jahren 1937 und 1938 einsetzenden Verfolgungswellen bedeuteten einen qualitativen Sprung in der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Das sozialhygienische und gesellschaftsbiologische Konzept der Politischen Polizei konnte schrittweise in die Praxis der Verfolgungsbehörden umgesetzt werden.568 Sowohl politische Gegnerschaft als auch die physische „Degeneration“ 560 Vgl. Schreiben des Reichsjustizministeriums vom 21. 4.1937 ( BArch, R 3001, 1467, unpaginiert ). 561 Vgl. Runderlass des Gestapa vom 8. 5.1937 ( BArch, R 58, 264, Bl. 279). 562 Vgl. z. B. OLG - Präsident Frankfurt a. M. an Reichsjustizminister vom 21. 5.1937 ( BArch, R 3001, 1467, Bl. 285). 563 Vgl. ebd., Bl. 286. 564 Protokoll der Besprechung im RJM am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–191, hier 181). 565 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 622. 566 Vgl. Protokoll der Besprechung mit den Generalstaatsanwälten am 23.1.1939 ( BArch, R 3001, 1467, Bl. 314–317). 567 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 623. 568 Vgl. Orth, System der Konzentrationslager, S. 47.

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Einzelner wurde nun Gegenstand des polizeilichen „Abwehrkampfes“.569 Zwar ist Karin Orth zuzustimmen, dass die massenhafte Inhaftierung von Bibelforschern 1937 vorrangig mit den illegalen Aktivitäten der Gläubigen in Zusammenhang zu setzen ist,570 die ständige Ausweitung der von Schutzhaft bedrohten Personengruppen spiegelt den Anspruch des SS - geführten Verfolgungsapparates wider, die „Volksgemeinschaft“ radikal umzugestalten. „Rassisch“, politisch und sozial Uner wünschte wurden systematisch ausgegrenzt. Dabei spielten die Bibelforscher eine gewisse Schlüsselrolle, wurde doch die Sphäre des Politischen verlassen. Wie später darzustellen ist, erweiterte die Gestapo den Kampf gegen die Bibelforscherbewegung dann auch um Elemente aus der Asozialenbekämpfung wie der Pauperisierung oder dem Versuch, flächendeckend Bibelforschern die Kinder zu entziehen. Wodurch nun gelangten die Zeugen Jehovas in einen solchen herausgehobenen Blickwinkel ? Parallelen zwischen Kommunisten und Bibelforschern wurden schon vor 1933 gezogen. Reale Grundlage der Vorwürfe waren vor allem eine ähnlich radikale Kirchenfeindschaft,571 aber auch das Überschneiden der sozialen Milieus.572 Wesentliche Argumente für die angebliche Gefährlichkeit der Bibelforscher waren seit Wiederaufnahme der aktiven Glaubenstätigkeit im Oktober 1934 Ähnlichkeiten in der Struktur des konspirativen Apparates, der Art und Weise der illegalen Tätigkeit sowie der Art und Weise der nach innen und außen betriebenen Propaganda. Nach ersten Erfahrungen mit den Ermittlungsmethoden der Polizei stellten die Bibelforscher ihren Apparat nach dem „Zellenprinzip“ um. Die kleinste Einheit war eine Zelle genannte Kleinstgruppe, die nur über den Zellendiener Kontakt zur nächst höheren Ebene hatte. Zellen standen untereinander nicht in Verbindung. Der „einfache“ Bibelforscher hatte also wenige Kenntnisse über den Apparat.573 Das für das Glaubensleben der Zeugen Jehovas unabdingbare Literaturvertriebssystem erwies sich „als hochgradig organisierter, von konspirativen Sicherungsvorkehrungen geprägter Apparat“.574 Auch die massenhafte Verbreitung von Flugschriften in der Öffentlichkeit verdeutlicht den hohen Organisationsgrad der Bibelforscher im Untergrund. Ausführlich berichten die Vernehmungs - und Arbeitsberichte von Gestapo und SD von Dokumentenfälschungen, Schmuggel von Literatur über die Grenze, illegalen Geldtransfers, Druckmaschinen und geheimen Sendern, Ver vielfältigungsapparaten und Schreibmaschinen, untergetauchten Funktionären mit Tarnnamen oder Anlei569 570 571 572

Vgl. Ulrich Herbert, Best, S. 169. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 49 f. Vgl. Abschnitt II.1.1. Vgl. z. B. Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 637; Marßolek / Ott, Bremen im Dritten Reich, S. 308; Bosch, Widerstand im Südwesten, S. 26; Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 218. 573 Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 318. Diese Organisationsform war ein wichtiger Grund, warum die Gestapo die jeweiligen Organisationen von oben nach unten „aufrollte“. 574 Imberger, Widerstand „von unten“, S. 326.

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tungen für die Anhänger über die Aussagever weigerung vor Polizei und Justiz.575 Elke Imberger stellt richtig „auffallende strukturelle Parallelen zu den illegalen Organisationen der Arbeiterbewegung“ fest.576 Diese strukturellen Ähnlichkeiten waren allerdings nur genuiner Ausdruck von illegal organisiertem Massenwiderstand und keineswegs Zeichen von inhaltlichen Parallelen oder gar entsprechenden Zielsetzungen. In den verschiedenen Zeitschriften der Zeugen Jehovas wurde ausführlich über die Lage in Deutschland berichtet, eingehend naturgemäß über die Misshandlungen der eigenen Glaubensgeschwister, aber auch über das Schicksal der Juden und – wenn auch im geringeren Maße – über das von politischen Häftlingen. Die Quellen waren sowohl Augenzeugenberichte als auch zitierte Berichte aus dem „Manchester Guardian“, der „Neuen Weltbühne“ oder dem „New Chronicle“.577 1938 wurde in der Schweiz von der WTG ( aber in einem neutralen Verlag ) unter dem Titel „Kreuzzug gegen das Christentum“ eine ausführliche Sammlung von Augenzeugenberichten, Presseberichten und Dokumenten über die Verfolgung der Zeugen Jehovas für die Öffentlichkeit herausgegeben.578 Das hier vorgestellte Material wurde ein Jahr zuvor auch in Flugschriften an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland und der Welt, vor allem aber in zwei konzertierten Aktionen in Deutschland in die Haushalte verteilt. Einerseits reihten sich die Bibelforscher damit in den Augen der deutschen Repressionsorgane in die Reihe der „Hetzer“ gegen Deutschland ein.579 Andererseits gebrauchte die WTG dabei durchaus Formulierungen, die dem „antifaschistischen Vokabular“ entsprangen. Dies hing natürlich mit der Abscheu über die Geschehnisse in Deutschland selber zusammen, vor allem aber mit den zeitgenössischen gesellschaftlichen Zuständen in den USA, wo in der dortigen WTG- Zentrale über die Inhalte der Veröffentlichungen entschieden wurde, und der Schweiz, wo sich das Zentraleuropäische Büro befand. In beiden Ländern stand die WTG mit staatlichen oder zumindest starken gesellschaftlichen Kräften in Konflikt.580 Die propagandistische Schärfe gegen das nationalsozialisti575 Vgl. SD - HA II /1134, Meldung vom 7.1.1938 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, A. 1, unpaginiert ); Vernehmung von Erich Frost o. D. ( zwischen dem 15. 4. und dem 24. 4.1937) ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 1–4); Vernehmung von Erich Frost am 26. 4.1937 ( ebd., Bl. 11–18, hier 17); Bericht des SD - OA Südwest an SD HA II /1 betr. Aufrollung der Internationalen Bibelforschervereinigung vom 12.11.1936 ( BArch, R 58, [alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 178–188, Bl. 185 f.); SD HA II /1134 an die SD - Führer aller SS - OA vom 19.10.1937 ( ebd., Bl. 221– 225); Bericht SD HA II /1134 betr. Aktion gegen die illegale Bibelforschervereinigung vom 2. 4.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1306); Vernehmungsprotokoll von Fritz Winkler vom 24. 8.1936 ( ebd., Bl. 1485–1518, hier 1501 f.). 576 Imberger, Widerstand „von unten“, S. 318. 577 Vgl. Milton, Die Konzentrationslager der dreißiger Jahre, S. 143 f. 578 Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum. 579 Der „Offene Brief“ wurde in einem SG - Urteil als „Hetze, wie sie sonst nur noch in jüdischen Emigrantenblättern oder in der kommunistischen Lügenpresse des Auslands zu finden ist“, eingeschätzt. Vgl. Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 205. 580 Für die Schweiz vgl. Kamis - Müller, Antisemitismus in der Schweiz, S. 152–157. Für die USA vgl. Rogerson, Viele von uns werden niemals sterben, S. 79 : „Von 1940 bis 1944

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sche Regime spiegelt daher auch die Suche nach möglicher Unterstützung wider. Die Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche in den USA bzw. mit von rechtskatholischen Kreisen unterstützten Antisemiten in der Schweiz sollte bei der Beurteilung der Veröffentlichungen der Bibelforscher in den 1930er Jahren nicht unterschätzt werden. Augenscheinlichster Beleg für diesen Zusammenhang ist der besessen wiederholte Vor wurf einer katholisch - faschistischen Zusammenarbeit.581 Sowohl aus der Justiz als auch aus den Reihen der Staatspolizei wurde der „Fanatismus“ der Bibelforscher mit dem der Kommunisten verglichen. So berichtete der zuständige SD - Mitarbeiter des Unterabschnittes Arnsberg, dass es „sich bei den Internationalen Bibelforschern um ausgesprochen asoziale Elemente [ handelte ], die gerade in der Zeit des Wiederaufbaus des Reiches um so ernster zu nehmen sind, als sie mit einem z. Bsp. die Anhänger der illegalen KPD bei weitem übertreffenden glühenden und leidenschaftlichen Fanatismus [...] ihre unheilvolle Lehre [...] verkündigen [ und ] ihre berüchtigten Zersetzungsschriften unter das Volk bringen“.582 Auch diese angebliche Ähnlichkeit erklärt sich schnell : Jede Form des organisierten Widerstands ( oder Widerstehens ) war nach der Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft „nur unter Ausblendung realistischer Kalküle möglich“. Während Kommunisten „in massenhaftem Widerstand solche Opfer bringen [ konnten ], weil sie an eine revolutionäre Sinnperspektive [...] glaubten“,583 sahen sich die Zeugen Jehovas angesichts der Zumutungen des NS - Regimes in einer Situation des Zeugnisgebens. Dieses war, im Gegensatz zu der in die Zukunft gerichteten Perspektive der Kommunisten, ganz auf das „Treubleiben zu Jehova“ in der Gegenwart ausgerichtet und konnte dann als Endkonsequenz eben die „Nichtbeachtung jeglicher persönlicher Nachteile“584 nach sich ziehen. Wirklicher Hintergrund für die ständige Ausweitung der bislang weitgehend auf Kommunisten beschränkten außernormativen Repression waren nicht

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wurden die Zeugen etwa 2 500 mal vom Mob angegriffen. Sie wurden geschlagen, geteert und gefedert, verstümmelt, kastriert und einige wurden sogar getötet.“ Zur juristischen Behandlung der ZJ im Zweiten Weltkrieg in westlichen Demokratien vgl. Lahrtz, Die Zeugen Jehovas. Vgl. „Offener Brief an das bibelgläubige und Christus liebende Volk Deutschlands !“ (AGMPD ) bzw. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 37–58. Bericht über eine am 6. Januar begonnene Aktion des SD - Unterabschnittes Arnsberg gegen die Internationale Bibelforscher - Vereinigung in Zusammenarbeit mit Beamten der Staatspolizei Dortmund, Anhang eines Schreibens des SD - OA West an SD - HA II /113 vom 21.1.1937 ( BArch, R 58, [alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 203–213, hier 209). Vgl. auch Stapoleitstelle Stuttgart, Vernehmungsprotokoll von Julius Riffel vom 21. 2.1938 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 1279, unpaginiert ) : „Der Unterzeichnende hat jahrelang Kommunisten behandelt [ sic !], und kann nur erklären, dass die Bibelforscher schwerer zu Angaben zu bewegen sind, als dies bei Kommunisten der Fall ist.“ Vgl. Peukert, Volksfront und Volksbewegungskonzept, S. 880. Bericht über eine am 6. Januar begonnene Aktion des SD - Unterabschnittes Arnsberg gegen die Internationale Bibelforscher - Vereinigung in Zusammenarbeit mit Beamten der Staatspolizei Dortmund, Anhang eines Schreibens des SD - OA West an SD - HA II /113 vom 21.1.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 203–213, hier 209).

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angebliche Gemeinsamkeiten im Handeln und Denken von Bibelforschern und Kommunisten. Die nationalsozialistische Geheimpolizei war vielmehr mit der lautstark verkündeten Zerschlagung der illegalen Organisation im Herbst 1936 gescheitert. Ungeachtet einiger vermeldeter Probleme während der Verhaftungsaktion im Herbst 1936 gingen Gestapo und SD im Oktober 1936 davon aus, dass die illegale Organisation der Zeugen Jehovas „restlos zerschlagen“ sei.585 Diese Sichtweise teilte auch die Justiz, „da der Großteil der ‚Ernsten Bibelforscher‘ [...] abgeurteilt ist, darf gehofft werden, dass die Neuanzeigen auf diesem Gebiet seltener werden“.586 Sichtlich überrascht und völlig unvorbereitet traf die Verfolgungsbehörden am 12. Dezember 1936 dann auch eine reichsweite Flugblattverteilung der Bibelforscher, die nicht nur den Wiederaufbau des zerschlagen geglaubten Apparates bewies, sondern auch die massenhafte Beteiligung der einzelnen Gläubigen an der Untergrundtätigkeit. Wie schon geschildert, fand Anfang September 1936, kurz nach dem Beginn der Verhaftungswelle der Gestapo gegen die erste illegale Reichsleitung, in Luzern in der Schweiz ein IBV - Kongress unter der Leitung des WTG - Präsidenten Rutherford statt. Hier trafen auch die geflüchteten IBV - Funktionäre ein. Der Kongress stand auch im Zeichen der Verbote in Danzig und in Österreich.587 Während der nationalsozialistisch geführte Danziger Senat die IBV 1935 verbot,588 erklärte der österreichische Bundesgerichtshof im Februar 1936 ein Verbot der IBV durch den Sicherheitsdirektor von Wien für rechtens.589 Das Verbot durch die Nationalsozialisten und das durch die ( von der katholischen Kirche unterstützte ) Schuschnigg - Regierung bestärkte die IBV in ihrer Sichtweise von einer „faschistisch - katholischen Allianz“.590 Auf dem Kongress wurde eine Resolution verabschiedet, die auf die Verfolgung der Zeugen Jehovas hinwies und die katholische Kirche dafür verantwortlich machte. Diese Resolution sollte vorerst nur in mehreren tausend Exemplaren an Regierungs - , Behörden und Kirchenvertreter versandt werden. Erst als der geplante öffentliche Vortrag von Rutherford „auf Betreiben der röm. - katholischen Hierarchie verboten wurde“, entschloss sich der WTG - Präsident die Resolution „öffentlich in der ganzen Welt zu verbreiten“.591 Obwohl viele der reichsdeutschen Kongressbesucher nach ihrer Rückkehr mit einzelnen Exemplaren verhaftet wurden, „betroffene“ Stellen vom Erhalt

585 SD - Oberabschnitt Rhein an SD HA II /113 vom 29.10.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 126–128, hier 126). 586 GStA Karlsruhe, Lagebericht für die Monate Dezember 1936 und Januar 1937 ( BArch, R 3001, 3136, Bl. 25). 587 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 247. 588 Vgl. Danziger Neueste Nachrichten vom 4.10.1935. 589 Vgl. Widerstand und Verfolgung in Wien, S. 161. 590 Vgl. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 37–58. 591 Vernehmung von BDL August Fehst am 4. 7.1937 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, A. 1, unpaginiert ).

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der postalisch versandten Resolution berichteten592 und am 10. Dezember 1936 in Augsburg gar die Vorbereitungen zur Verteilung aufgedeckt wurden,593 gelang es nicht, die am 12. Dezember 1936 zwischen 17 und 19 Uhr von fast 3 500 Bibelforschern594 durchgeführte Verteilung von mehr als 100 000 Flugblättern zu verhindern.595 Nur wenige Bibelforscher konnten auf frischer Tat ertappt werden.596 Für den 15. Dezember 1936, 4 Uhr morgens, ordnete das Gestapa deshalb eine „schlagartige“ Haussuchung bei allen der „I.B.V. verdächtigen Personen“ an, „da die Art und Weise der Ausführung [ gezeigt hat ], dass die I.B.V. trotz der Aktion vom 28. 8. 36 noch weiterbesteht“.597 Da die Beteiligung an der Resolutionsverteilung schwer nachzuweisen war, nahm die Gestapo jeden bei dem Hinweis auf Weiterbetätigung, insbesondere bei Besitz von Bibelforscherschriften in Schutzhaft.598 Alles in allem erwies sich die reichsweite Aktion der Gestapo als Fehlschlag. Erst als im Februar 1937 noch einmal sporadisch Resolutionen in Umlauf gebracht wurden,599 stellten sich Erfolge in den Ermittlungen ein. Anfang März konnte der BDL für Ost - und Westpreußen, Pommern und Mecklenburg, Georg Rabe, verhaftet werden. Durch dessen Aussage fielen die BDL Daut, Siebeneichler und Nawroth sowie Reichsdiener Frost in die Hände der Ermittler.600 Die verstärkten Ermittlungen hatten zweierlei Folgen : Nachdem es schon in der zweiten Jahreshälfte 1936 zu einer massiven Verschärfung der Vernehmungsmethoden gekommen war, brachen in der ersten Hälfte 1937 scheinbar die Dämme. Sieben „unnatürliche Todesfälle“ führt die semi - offizielle WTG - Publikation „Kreuzzug gegen das Christentum“ für diesen Zeitraum auf.601 Die Überraschung durch die offensichtlich unbemerkte Reorganisation des illegalen Apparates sowie die daraus folgende Erkenntnis, den Gegner unterschätzt zu haben, führte zu einer Brutalisierung. Das Ziel der Vernehmungen war nun nicht mehr vorrangig die Beweisführung von individueller Straffälligkeit, sondern die Aufdeckung eines illegalen Apparates. Je nach örtlichen Gegebenheiten und Einstellung der betreffenden Gestapo - Beamten oder

592 GStA Karlsruhe, Lagebericht für die Monate August / September 1936 vom 30.10.1936. Abgedruckt in Schadt ( Bearb.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden, S. 240–244, hier 242. Vgl. auch Bericht des SD - OA Süd - West am SDHA II 1133 vom 12.11.1936, in dem 52 in Württemberg festgestellte Resolutionen gemeldet wurden ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 178–188). 593 Vgl. Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 631. 594 Vgl. Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 155. 595 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 253 ( FN 138). 596 Vgl. ebd., S. 248; Imberger, Widerstand „von unten“, S. 334 f. 597 Der Regierungspräsident von Oberbayern, Telegramm vom 14.12.1936. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 255. 598 Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 336. 599 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 257. 600 Vgl. Bericht des Gestapa, II B 2, vom 16. 4.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB II 1420] 5781b, Bl. 1034–1043, hier 1041); Staatsanwaltliche Vernehmung des BDL Georg Rabe vom 19. 4.1937 ( ebd., Bl. 1045–1053). 601 Vgl. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 169–183.

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SD - Mitarbeitern variierten Methoden und Rückschlüsse. So beklagte der SD Oberabschnitt Ost zwar die schwierigen Vernehmungen, da die inhaftierten Bibelforscher verstockt seien. Er erwähnt aber keinerlei verschärfte Maßnahmen und kommt zudem zu dem falschen Schluss, es nicht mit einem neuen Apparat sondern vielmehr mit den Übriggebliebenen der letzten Großaktion zu tun zu haben.602 Ganz anders ein Bericht des SD - Unterabschnittes Arnsberg nur 14 Tage später : Er konstatiert eine „wieder völlig neu aufgebaut[ e ]“ illegale Organisation und lenkte die Vernehmungen hin zur Aufdeckung der Strukturen. Unter Führung der SD - Beauftragten begannen im Polizeigefängnis Dortmund „verantwortliche Vernehmungen“, bei denen es den SD - Referenten nach einigen vergeblichen Versuchen gelang, die Inhaftierten „zu eingehenden Angaben über den wiederaufgebauten illegalen Organisationsapparat [...] zu veranlassen“. Die neuen Erkenntnisse führten zur Aufdeckung ganzer Ortsgruppen, vor allem von deren „Führerschaft“. Besonders beklagte der Bericht, dass einige der nun entdeckten Führer schon im Gewahrsam der Staatspolizei waren und mangels Beweises wieder auf freien Fuß gesetzt oder in ein Strafverfahren ver wickelt wurden, ohne dass ihre Funktion im Apparat bekannt wurde.603 Diese Form der Ermittlung war erfolgversprechender, ging es doch darum, der Spitzenfunktionäre habhaft zu werden, um anschließend den Apparat von oben nach unten aufzurollen. Die an Kommunisten erprobte „verschärfte Vernehmung“ erwies sich dabei als erfolgreich.604 Durch die Massenverhaftungen kam es zudem zu einem Verfahrensstau bei den Gerichten. Nach den August - Verhaftungen setzte das Gestapa beim RJM die Absetzung aller Hauptverhandlungen gegen Zeugen Jehovas sowie die Rückgabe der Ermittlungsakten an die Staatspolizei durch.605 Nachfragen der Gerichte und Staatsanwälte beim RJM ergaben keine weiteren Kenntnisse, man vermutete dort vielmehr, dass „die Staatspolizei die Sachen noch um einige rechtlich relevante Gesichtspunkte“ ergänzen wollte. Ergebnis dieser „Nacharbeit“ war die Denkschrift der Gestapo, die der Justiz die angebliche Gefährlich602 Vgl. Bericht SD - OA Ost an Kolrep vom 8.1.1937, betr. Aufrollung ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781, Bl. 582–584). 603 Bericht über eine am 6. Januar begonnene Aktion des SD - Unterabschnittes Arnsberg gegen die Internationale Bibelforscher - Vereinigung in Zusammenarbeit mit Beamten der Staatspolizei Dortmund, Anhang eines Schreibens des SD - OA West an SD - HA II /113 vom 21.1.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 203–213). Bedenkt man, dass sowohl in Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 170 f., als auch im „Offenen Brief“ Dortmunder Gestapobeamte der Folter bezichtigt werden, liegt es nach diesem Bericht nahe, die Verantwortung für die Misshandlungen beim SD zu suchen. 604 Die Methoden sind örtlich auch durch Versetzung von ehemals auf Kommunisten spezialisierte Gestapobeamte vermittelt worden. Vgl. Stolle, „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 97. Vgl. auch Stapoleitstelle Stuttgart, Vernehmungsprotokoll von Julius Riffel vom 21. 2.1938 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 1279, unpaginiert ) : „Der Unterzeichnende hat jahrelang Kommunisten behandelt [ sic !], und kann nur erklären, dass die Bibelforscher schwerer zu Angaben zu bewegen sind, als dies bei Kommunisten der Fall ist.“ 605 Vgl. Erlass des Gestapa vom 11. 9.1936. Abgedruckt in Diamant, Gestapo Chemnitz, S. 178.

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keit anhand der neugewonnenen Informationen unter Beweis stellen wollte, um diese zu höheren Strafen zu bewegen.606 Erst Anfang Dezember 1936 fanden beispielsweise wieder neue Verfahren vor dem Sondergericht Dortmund statt. Bis Oktober hatten sich allein hier 480 unerledigte Verfahren gegen Bibelforscher angesammelt.607 Neue Verhaftungswellen in der ersten Hälfte des Jahres 1937 taten ihr Übriges. Die GStA in Dresden und Stettin berichteten auf einer Tagung im RJM von bis zu 1 500 bzw. 600 Verhaftungen in ihren Bezirken.608 Unter diesen Umständen konnte weder die Forderung der Gestapo nach Einzelhaft, noch die nach harter und rascher Abstrafung erfüllt werden. Obwohl verstärkt Gruppenprozesse gegen Bibelforscher durchgeführt wurden,609 gelang es nicht, den Überhang abzubauen. Bibelforscher waren bis zu sechs Monaten in Untersuchungshaft.610 Da Beweise für die illegale Weiterbetätigung schwer zu erbringen waren, fielen die Strafen häufig so niedrig aus, dass diese mit der überlangen Untersuchungshaft abgegolten waren.611 Angesichts der neuerlichen Herausforderung durch die Bibelforscher sah sich die Staatspolizei um die Früchte ihrer Arbeit gebracht und verhängte verstärkt Schutzhaft für die angeblich nicht adäquat bestraften Bibelforscher. Die Geheime Staatspolizei war inzwischen gegenüber der Justiz in einer solchen Machtposition, dass sie die Diskussionen um ihre Vernehmungs - und Schutzhaftpraxis gegenüber den Bibelforschern zu einer Ausweitung des eigenen Kompetenzbereiches nutzte. Ihr gelang die staatlich sanktionierte Auslagerung von Bereichen der Ermittlung und der Strafpraxis in die außernormative Sphäre. Als Höhepunkt des Drucks auf die Justiz kann die Forderung bezeichnet werden, Bibelforscheraktivitäten als „Hochverrat“ oder dessen Vorbereitung zu bestrafen. Dass die Justiz nicht hart genug gegen die Bibelforscher vorging, d. h. den möglichen Strafrahmen des § 4 der Reichstagsbrandverordnung bis zu fünf Jahren Gefängnis nicht ausschöpfte, war eine oft wiederholte Kritik der

606 Vgl. Abschnitt II.2.5. 607 Vgl. OStA in Dortmund an RJM vom 30.10.1936. Zit. in Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 300 f. 608 Vgl. Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–190, hier 186). 609 Vor dem SG Dortmund wurde zwischen November 1936 und Dezember 1937 in 63 Verfahren gegen 579 Angeklagte verhandelt, mithin ein Durchschnitt von 9 Angeklagten pro Verfahren. Vgl. Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 305. 610 Vgl. OStA in Dortmund an RJM vom 30.10.1936. Zit. in ebd., S. 300 f. 611 Weckbecker zeigt für das Sondergericht Frankfurt am Main, dass der Anteil der Fälle, in denen die Haftstrafe mit der Untersuchungshaft abgegolten war, 1937 54 % derjenigen Fälle betrug, in denen die Haftstrafe nicht vollstreckt wurde. Außer 1942 (10,2 %) überstieg dieser Anteil von 1933 bis 1945 sonst nie die 10 - Prozent - Marke. 42 % dieser Fälle betraf die Übertretung des Verbotes einer Religionsgemeinschaft, mithin fast immer Zeugen Jehovas. Im selben Jahr betrug der Anteile dieser Deliktgruppe 56,2 % aller Anklagen vor dem Frankfurter Sondergericht. Auch im Jahresvergleich dieser Deliktgruppe fällt auf, dass auf das Jahr 1937 51,2 % aller Anklagen zwischen 1933 und 1945 fallen. Vgl. Weckbecker, Zwischen Freispruch und Todesstrafe, S. 65 und 387.

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Staatspolizei. Mit Aufdeckung der illegalen reichsweiten Organisation im Frühherbst und der Flugblattverteilung im Dezember 1936 mehrten sich Forderungen, von diesem Strafrahmen abzuweichen. So beklagte die Denkschrift der Gestapo, dass die Bibelforscher „wegen ihrer verbotenen Betätigung lediglich auf Grund des § 4 der Verordnung vom 28. Febr. 1933 bestraft“ wurden und kam zu dem Schluss, „dass diese Strafen zu einer wirksamen Bekämpfung des staatsgefährdenden Treibens in keiner Weise ausreichten“.612 Im Februar 1937 wurde das „Schwarze Korps“ konkreter : „Nicht das Heimtückegesetz ist für ihre Betätigung zuständig, sondern der Hochverratsparagraph. [...] Das deutsche Volk muss seinen Feinden mit brutaler Kraft jede Lust nehmen, das religiöse Mäntelchen zur Unterwühlung seines Bestandes zu missbrauchen. [...] Für Verbrecher solcher Art reichen das Zuchthaus und die Sicherungsverwahrung als Strafe kaum aus.“613 Auch Himmler wandte sich 1937 an das Reichsjustizministerium und schlug vor, in einer Novelle Zuchthausstrafen anzudrohen.614 Mit dieser Forderung griff die SS nun alte nationalsozialistische Forderungen nach Zuchthaus - und Todesstrafe für Volks - und Landesverrat auf.615 Innerhalb der Justiz wurde dieses Ansinnen nicht grundsätzlich abgelehnt. Den Oberreichsanwalt beim VGH, zuständig für die Anklageerhebung bei Hochverratsdelikten, erreichten vereinzelte Anfragen von Staatsanwaltschaften, „inwieweit der Verdacht einer hochverräterischen Betätigung begründet erscheint“.616 Die Verfahren wurden jedoch in aller Regel an die zuständigen örtlichen Staatsanwaltschaften zurück gegeben, „da keinem dieser Beschuldigten ein hochverräterischer Vorsatz hat nachgewiesen werden können“.617 Dennoch wurden diese Anregungen aufgegriffen : Nach dem Entwurf des neuen Strafgesetzbuches konnten Bibelforscher „wegen Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung“ mit Zuchthausstrafen bedacht werden. Bis das neue StGB erlassen 612 Denkschrift der Gestapo „Die Internationale Bibelforscher - Vereinigung“, als Anlage an Schreiben der Stapoleitstelle München vom 24.12.1936 ( BArch, Slg. Schumacher, 267– 1, unpaginiert ). 613 „Schwarzes Korps“ vom 18. 2.1937. Zit. in Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 307. Auch der Lagebericht des Gestapa für den Zeitraum vom 1.10.1936 bis zum 28. 2.1937 forderte, Hochverratsbestimmungen zur Anwendung zu bringen. Vgl. Steinberg, Widerstand und Verfolgung in Essen, S. 160 f. 614 Vgl. Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–190, hier 182). Vgl. über einen Vorstoß des Gestapa im RJM und im Reichskriegsministerium zwecks Hochverratsanklagen gegen Bibelforscher auch Auszug aus Monatsbericht des Gestapa von Januar 1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1184] 5713, Bl. 529–540, hier 535 f.). 615 Vgl. Rosenberg, Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 580. 616 Schreiben des GStA beim Hanseatischen OLG vom 5.1.1938. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 317. 617 Lagebericht des Oberreichsanwaltes beim VGH vom 31.1.1940 ( BArch, R 3001, 3390, Bl. 17–22, hier 20). Im Januar 1940 erreichten den ORA beim VGH drei Verfahren gegen 11 Bibelforscher aus dem „Sudetengau oder in der Ostmark“. Auch in Lübeck leitete ein OStA nach Erhalt einer IBV - Resolution ein „Verfahren gegen Unbekannt wegen Vorbereitung zum Hochverrat“ ein. Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 613 ( FN 4).

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wurde, kam eine Novellierung der bestehenden Strafbestimmungen nicht in Frage.618 Die Kodifizierung des nationalsozialistischen Rechts wurde allerdings zurückgestellt. Bis mit Kriegsbeginn neue Strafbestimmungen erlassen wurden, galt als Rahmen weiterhin eine Strafe bis zu fünf Jahren. Die Bemerkung Zürchers auf die Forderung nach gesetzlicher Todesstrafe für Zeugen Jehovas im „Schwarzen Korps“, „bis es so weit ist, verkriechen sich die Mörder hinter der Lüge : ‚Er hat sich erhängt.‘“, ist zwar im Hinblick auf die Todesopfer nach Vernehmungen verständlich, aber so nicht korrekt. Der Foltertod war keine Ersatzstrafe für Überführte und zu gering Bestrafte, sondern Bestandteil der Ermittlungen. Es blieb der mit Kriegsbeginn veröffentlichten Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO)619 vorbehalten, den Strafrahmen auch für Bibelforscher bis zur Todesstrafe auszuweiten.

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Der geheimpolizeiliche Apparat in der Vorkriegszeit

In den Jahren 1936/37 hatten sich Struktur und Arbeitsweise von Gestapo und Sicherheitsdienst gefestigt und professionalisiert. Die Politischen Polizeien der Länder und die entsprechenden Abteilungen in den Polizeipräsidien konnten durch einen Runderlass Himmlers als Stapo( leit )stellen dem Gestapa in Berlin unterstellt werden.620 Damit war die Zentralisierung der geheimpolizeilichen Strukturen in einer Behörde, nach dem Zwischenschritt der Führung der einzelnen Landespolizeien in Personalunion, abgeschlossen. Mit dem 3. Gestapo Gesetz vom 10. Februar 1936 wurde die Zuträgerfunktion der Kreis - und Ortspolizeibehörden als Hilfsorgane der Gestapo festgeschrieben.621 Auch der Sicherheitsdienst expandierte. Er konnte die Zahl seiner Mitarbeiter reichsweit von 1935 bis 1937 auf 5 000 verfünffachen.622 Dem SD - Hauptamt waren sieben Oberabschnitte untergeordnet, denen wiederum Abschnitte unterstellt waren. Ab 1937 war der SD dann auch in der Lage ein dichteres Kontrollnetz zu knüpfen. Bis zu 30 000 ehrenamtliche Mitarbeiter und Vertrauensleute ( V Leute ) belieferten die einzelnen Dienststellen mit Informationen.623 Offiziell waren die Aufgabenbereiche von Gestapo und SD gegeneinander abgegrenzt. Aufgabe der Gestapo war es, „die Feinde des NS - Staates ab[ zu ]wehren und [ zu ] bekämpfen“, während der SD „die Feinde der NS - Idee ermitteln 618 Vgl. Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–191, hier 182). 619 Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 17. 8.1938, RGBl. 1939 I, S. 1455. 620 Für Sachsen : Runderlass des Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsinnenministerium vom 10. 4.1937, Sächsisches Verwaltungsblatt I, S. 239. 621 Abgedruckt in Rürup ( Hg.), Topographie des Terrors, S. 58. 622 Vgl. Hachmeister, Der Gegnerforscher, S. 148. 623 So Otto Ohlendorf vor dem IMT am 3.1.1946. Vgl. Boberach ( Hg.), Meldungen aus dem Reich, Band 1, S. 16.

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und die Bekämpfung und Abwehr bei den staatlichen Polizeibehörden anregen“ sollte. Die fehlende Exekutivgewalt des SD als Partei - und damit Privatorganisation erwies sich als wesentliche Beeinträchtigung. Der SD war auf Hilfestellung des staatlichen Exekutivorgans Gestapo angewiesen, was allerdings in der Praxis auf Probleme stieß. So beklagte ein SD - Mitarbeiter des Sachgebiets Marxismus ( II /121), dass „keine hinreichende Zusammenarbeit mit den Stapostellen [ bestünde ], weil von diesen die Konkurrenz des SD gefürchtet wird“. Die mangelnde Zusammenarbeit hatte beispielweise zur Folge, dass „kein hinreichender Überblick über die Ergebnisse der polizeilichen und gerichtlichen Bekämpfung des illegalen Marxismus“ bereitgestellt würde.624 Selbst die Einsicht in die staatspolizeilichen Akten musste langwierig erkämpft werden, da derartige Forderungen in den Augen des Gestapa zur „Vernachlässigung wesentlicher staatspolizeilicher Aufgaben“ führten.625 Auf dem Gebiet der „Bekämpfung der politischen Kirchen“ war die Beziehung vielschichtiger. Wolfgang Dierker beschreibt das Verhältnis zwischen Gestapo und SD als „konfliktreiche, gegenseitige Ergänzung“. Obwohl es zu Doppelarbeit und Konkurrenz kam, erreichte die Über wachung der weltanschaulichen Gegner eine große Dichte.626 Trotz aller auch hier vorhandenen Probleme, so wurden z. B. die betreffenden SD - Sachbearbeiter nicht rechtzeitig über verfügte Auf lösungen von Sekten informiert, so dass sie bei den angeordneten staatspolizeilichen Durchsuchungen nicht zugegen sein konnten, waren hier nachrichtendienstliche und exekutive Maßnahmen schwer zu trennen. Auch der sogenannte Funktionstrennungserlass vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, vom 1. Juli 1937, der die Geschäftsverteilung zwischen Gestapo und SD endgültig bestimmen sollte, brachte keine Klärung. Sowohl Kirchen und Sekten, als auch Juden, Pazifismus und Rechtsbewegung wurden von einer eindeutigen Zuordnung ausgenommen. Auf diesen „Sachgebieten [ sollten] alle allgemeinen und grundsätzlichen Fragen ( in denen staatspolizeiliche Vollzugsmassnahme nicht in Betracht kommt ) vom Sicherheitsdienst RFSS und alle Einzelfälle ( in denen staatspolizeiliche Vollzugsmassnahmen in Betracht kommen ) von der Geheimen Staatspolizei bearbeitet“ werden.627 Diese Trennung ließ sich allerdings in der Praxis nicht realisieren. Bedenken äußerte auch der Leiter der Zentralabteilung II /1 („Weltanschauliche Gegner“), Alfred Six. Für ihn war die Anwesenheit seiner Mitarbeiter bei den staatspolizeilichen Vernehmungen unabdingbar, da sich dabei „eine nicht zu unterschät-

624 Stellungnahme des Sachgebietes II /121 vom 4. 6.1936, betr. Aufgabenteilung zwischen SD und Gestapa ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1335, Bl. 205 f.). 625 Vgl. Vermerk von Werner Best ( Gestapa ) vom 9. 9.1936 und die Antwort von Herbert Mehlhorn ( SD - HA ) vom 22. 9.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1335, Bl. 411–414). 626 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 295. 627 Gemeinsame Anordnung für den Sicherheitsdienst des Reichsführer SS und die geheime Staatspolizei, betreffend die Zusammenarbeit des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS und der Geheimen Staatspolizei vom 1. 7.1937. Abgedruckt in Rürup ( Hg.), Topographie des Terrors, S. 64–66.

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zende Möglichkeit, Agenten, Zubringer oder Vertrauensmänner zu gewinnen“, böte.628 Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, nahmen SD - Mitarbeiter an den Vernehmungen von Bibelforschern nicht nur zur Gewinnung von V - Leuten teil, sie beteiligten sich aktiv und federführend an „verantwortlichen Vernehmungen“. Der Sektenreferent im SD - Hauptamt, Walter Kolrep, umschrieb diese Form der Teilnahme auf einer Tagung der SD - Sektenreferenten blumig : „Durch Teilnahme an Aktionen der Staatspolizei kann der Sachbearbeiter die Person des Gegners selbst kennen lernen und direkt Aufschluss über seine Arbeitsmethoden, geistige Einstellung usw. erhalten. Es ist zu erstreben, dass der SD Sachbearbeiter als ‚der Sachverständige‘ gilt und dass staatspolizeiliche Aktionen erst nach Rücksprache mit ihm durchgeführt werden.“629 Auch wenn diese Vorstellungen nicht in Erfüllung gingen, zeugen sie doch einerseits vom elitären Verständnis der weltanschaulich gefestigten, politisch radikalen und administrativ ungebundenen „Glaubenskrieger“ ( Dierker ). Andererseits verweisen sie auch auf einen Grundkonflikt zwischen einem staatlichen Exekutivorgan, dessen Aufgabe es war, Gegner zu ermitteln und ihrer Bestrafung ( normativ wie auch außernormativ ) zuzuführen und einem originär nationalsozialistischen Geheimdienst, der es als Aufgabe betrachtete, reale und potentielle Gegner samt ihrer geistigen Wurzeln zu bekämpfen. Diese Form der Ermittlungsarbeit war langwieriger, versprach mittelfristig aber durchschlagendere Erfolge. Wohl ist Wolfgang Dierker zuzustimmen, wenn er meint, dass der SD in der Frage der Zeugen Jehovas keinen konzeptionellen Einfluss auf Straf justiz, Verwaltung oder Gestapo nahm.630 Allerdings muss gleichzeitig auch die ab 1937 zunehmende Beteiligung des SD an der Verfolgung, die eingeleitete Konzentration auf Strukturen statt auf Tatbeteiligung sowie die koordinierende Funktion, die Kolreps Sektenreferat übernahm, beachtet werden. Diese Form des Einflusses radikalisierte die schon brutale Verfolgung der Bibelforscher aufs Neue. Dennoch wurde die kontinuierliche Radikalisierungsspirale auch durch gegenläufige Strukturelemente gemildert. Die Erlasse der Geheimpolizei waren um dezidierte Rechtsförmigkeit bemüht und demonstrierten Legalität. Einerseits befriedigten sie damit das Bedürfnis nach Regelhaftigkeit bei den vielen altgedienten Beamten innerhalb wie auch außerhalb der Gestapostrukturen.631 Andererseits setzte dies dem Vorgehen gegen die Bibelforscher auch Grenzen. Schon das Verbotsverfahren gegen die IBV in den einzelnen deutschen Ländern erwies sich als sehr schwierig und langwierig. Eine eindeutige, wenn auch nicht einheitliche Regelung kam erst 1935. 628 Anmerkungen zu der gemeinsamen Anordnung für den Sicherheitsdienst des Reichsführer SS und die geheime Staatspolizei, betreffend die Zusammenarbeit des Sicherheitsdienstes des Reichsführer SS und der Geheimen Staatspolizei, o. D. ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1335, Bl. 208–220, hier 215 f.). 629 Richtlinien zur Bekämpfung des Sektenwesens ( Zusammenfassung der Tagung der Sektenreferenten im SD vom 18. 6.1937) ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1184] 5713, Bl. 162–164). 630 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 203. 631 Vgl. Mallmann / Paul, Die Gestapo. Weltanschauungsexekutive, S. 639.

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Mit der Angliederung neuer Gebiete an das Reich stand die Gestapo vor dem Problem, dass dort die IBV noch nicht verboten war. Im „rückgegliederten“ Saargebiet konnten die Bibelforscher offiziell noch ein halbes Jahr legal tätig sein, ehe es der Gestapo gelang, beim zuständigen Reichskommissar einen entsprechenden Verbotserlass durchzusetzen.632 Es zeugt von der realen Bedeutung der Bibelforscherfrage, dass diese nach dem Anschluss nicht wirklich als Priorität angesehen wurde. Auch im nationalsozialistisch regierten Danzig wurde die IBV erst 1935 verboten. Bis dahin wurden diese nicht zum Reich gehörenden Gebiete als Umschlagplatz für Schriftenmaterial genutzt. In Danzig kam neben der offenen Grenze nach Deutschland noch hinzu, dass die Post unter polnischer Kontrolle stand. Die Polen hatten natürlich wenig Interesse, die Post nach verbotenen Bibelforscherschriften zu kontrollieren.633 Bis 1938 nutzten die Bibelforscher den wenig kontrollierten kleinen Grenzverkehr in die Sudetengebiete oder gleich die unkontrollierbare grüne Grenze des Riesengebirges. Doch auch mit Anschluss der deutschbesiedelten Territorien der Tschechoslowakei im Herbst 1938 war die IBV dort nicht verboten. Zwar kam es zu einer Rechtsangleichung an die Rechtsnormen des Reiches634, doch wurden die Bibelforscher nie durch ein Reichsgesetz, sondern jeweils von den einzelnen Ländern verboten. Erst ein Erlass Himmlers vom 7. Juli 1939 schuf hier Abhilfe und gab die Möglichkeit, auch sudetendeutsche Bibelforscher „nach geltenden Normen“ zu verfolgen.635 In Österreich wurde die IBV endgültig 1936 verboten.636 Damit war die Tätigkeit der Bibelforscher nach dem Anschluss des Landes im März 1938 wie auch im „Altreich“ untersagt. Doch dieses bestehende Verbot verhinderte eine Verbotsverfügung auf Grund der Reichstagsbrandverordnung, da auch im nationalsozialistischen Deutschland eine verbotene also nicht bestehende Organisation nicht noch einmal verboten werden konnte. Dies hatte naturgemäß Konsequenzen für die gerichtliche Ahndung der illegalen Betätigung, der im „Altreich“

632 Vgl. Auszug aus Lagebericht der Gestapo Saarbrücken, Juni 1935 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1601), dass., Oktober 1935 ( ebd., Bl. 1584). Die Anordnung des Reichskommissars für das Saarland betr. Auf lösung und Verbot der Internationalen Bibelforschervereinigung erging am 3. 9.1935. 633 Vgl. Abschrift der Vernehmung Fritz Winklers vom 24. 8.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB II] 1421, Bl. 1485–1518, hier 1503 f.). 634 Gesetz über die Gliederung der sudetendeutschen Gebiete vom 25. 3.1939 ( RGBl. 1939 I, S. 745). 635 Erlass RFSS und Chef d. Dt. Polizei im RMdI ( S - PP ( II B ) 1120/39) vom 7.11.1939 (Archiv města Ústí nad Labem, Landrat Ústí nad Labem, 210, kult 204, unpaginiert ). Im Bericht der Stapoleitstelle Reichenberg über die Aktion gegen die IBV am 10.12. 1939 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ) taucht allerdings das Datum 11. 7.1939 auf. In den einschlägigen Urteilen des Sondergerichts Leitmeritz wird der 7. 7.1939 bestätigt. Vgl. Urteil gegen Wenzel Bauer vom 5.12.1940, (14) 5 Sond KMs 130/40 (253/40) ( Státní oblastní archiv v Litoměřicích, Pracoviště Most (Bestand OLG Leitmeritz ), Karton 360). 636 Vgl. Widerstand und Verfolgung in Wien, S. 161.

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geltende Strafrahmen von bis zu fünf Jahren war hier nicht anwendbar.637 Bis September 1939 wurden daher österreichische Bibelforscherfunktionäre ohne gerichtliches Verfahren in Konzentrationslager verbracht.638 Erst mit dem ab September geltenden § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung („Wehrkraftzersetzung“)639 sowie der im November 1939 erlassenen „Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes“ ( § 3 „Teilnahme oder Unterstützung einer wehrfeindlichen Verbindung“)640 waren auch den Gerichten im angegliederten Österreich gesetzliche Normen zur Aburteilung von Zeugen Jehovas in die Hand gegeben. Im Allgemeinen waren die Bibelforscher als kleine, aber streitbare Glaubensgemeinschaft wenig angesehen in der sie umgebenden Gesellschaft. Da sie vielfach zu den wenigen gehörten, die sich nicht am gleichgeschalteten öffentlichen Leben beteiligten, nicht zu den Wahlen gingen oder durch Spenden oder Beflaggungen ihre Loyalität zu den nationalsozialistischen Machthabern bekundeten, waren sie vielerorts Nötigungen ausgesetzt. Während derartiges Verhalten in der Anonymität der Großstädte mitunter ohne Folgen blieb, gerieten Bibelforscher gerade in überschaubaren Gemeinden in das Blickfeld der lokalen Parteifunktionäre, die z. B. bei Wahlen ihre nationalsozialistische Gesinnung mit Hundert - Prozent - Ergebnissen unter Beweis zu stellen gedachten.641 Umso schärfer reagierte die Gestapo, wenn in kleineren Ortschaften nicht mit der geforderten Entschlossenheit gegen die Bibelforscher vorgegangen oder wenn gar zwischen den ansässigen Bibelforschern und Ortsbürgermeisterei und Ortsgendarmerie ein stillschweigendes Abkommen geschlossen wurde. Dies geschah zumeist dann, wenn Bibelforscher seit langem in ihr soziales Umfeld eingebunden waren und akzeptierte Mitglieder der Dorfgemeinschaft waren.642 Denn auf die Zuträgerdienste, die Beobachtungen, Meldungen und natürlich die Durchsetzung der angeordneten Maßnahmen durch die lokalen Behörden war die personell schwach ausgestattete Staatspolizei angewiesen. In der kleinen Gemeinde Steinperf ( Krs. Marburg - Biedenkopf ) hatte der Bürgermeister vor zu auffälligen Zusammenkünften gewarnt und nach der Wahl 1936 hinter die Namen der ortsansässigen ( und wahlverweigernden ) Bibelforscher ein „B“ eingetragen. Dieses sollte für „behindert“ gestanden haben und offensichtlich dazu dienen, sowohl Wahlverweigerer als auch Bürgermeister aus der Schusslinie zu nehmen. Auf Befragen gab der Ortsvorsteher an, er hätte kurz vor der Wahl eine Anweisung in diese Richtung erhalten. Dies lässt darauf schließen, dass auch übergeordnete Dienststellen an einer Eskalation kein Interesse hatten. So 637 Vgl. Bericht des SD - Oberabschnittes Donau an SD - HA II /113 vom 19. 4.1939 (BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1527, Bl. 83). 638 Vgl. Widerstand und Verfolgung in Wien, S. 166. 639 Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 17. 8.1938 ( RGBl. 1939 I, S. 1455. 640 RGBl. 1939 I, S. 2319. 641 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 158. 642 Vgl. ebd.

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hatte der zuständige Landrat Zeugen Jehovas noch im Herbst 1935 auf direkte Anfrage gestattet, Beerdigungsfeiern durchzuführen, wenn dort nicht gegen den Staat geredet würde. Sowohl den Bürgermeister als auch den Gendarmeriebeamten und den Postvorsteher nahm die Gestapo in Schutzhaft.643 Ob eine Angelegenheit in ihren Zuständigkeitsbereich fiel oder nicht, bestimmte die Gestapo selbst. Sie definierte, was zu den „politisch - polizeilichen“ Aufgaben gehörte. Daher gab es keinen Bereich des gesellschaftlichen oder auch wirtschaftlichen Lebens, der ihrem Zugriff entzogen war, wenn nur eine „Gefahr für Volk bzw. Staat“ behauptet wurde. Bereits seit 1933 wurden Zeugen Jehovas auch wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Es kam zu Entlassungen, Gewerbeerlaubnisse wurden entzogen oder Geschäfte boykottiert.644 Die Gründe dafür waren zumeist die Nichtbeteiligung an nationalsozialistischen Betriebsorganisationen oder Feierlichkeiten, die Verweigerung des Hitlergrußes und des Eides oder einfach das Bekenntnis zum eigenen Glauben. Bei diesen ökonomischen Drangsalierungen muss man allerdings differenzieren. So entwickelten sich beispielsweise Läden oder Marktstände, die Bibelforschern gehörten, zu Treffpunkten sowohl für Glaubensgeschwister, die nicht mehr mit dem illegalen Apparat in Kontakt standen als auch als Anlaufstelle für Kuriere.645 Eine ähnliche Funktion besaßen Heilpraktikerniederlassungen, vor denen die Gestapo 1936 warnte.646 Ehemalige WTG - Mitarbeiter, die vor 1933 als Pioniere hauptberuf lich missionierten, aber auch Funktionäre des illegalen Apparates wichen auf den Beruf eines Vertreters aus, um unkontrolliert reisen,647 nötige Materialien besorgen648 oder Kontakt aufnehmen zu können.649 Die Entziehung von Gewerbegenehmigungen in derarti643 Vgl. Bericht des SD - Oberabschnittes Fulda - Werra an SD - HA II /113 vom 5.10.1937, Anlage Urteilsabschrift SG Frankfurt am Main vom 14. 4.1937 (6 S Ls 2/37) ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1527, Bl. 121–173, Urteilsabschrift Bl. 125–162). Auch der Bürgermeister der Gemeinde Fallinghausen ( Krs. Wetzlar ) wurde vor das Sondergericht gestellt, weil er die IBV begünstigt haben soll, indem er nicht einschritt, obwohl er Kenntnis von den Treffen und Beerdigungsfeiern der lokalen Bibelforscher besaß. Urteilsabschrift SG Frankfurt am Main vom 23. 4.1937 (6 S Ls 3/37) ( ebd., Bl. 163–173). 644 Vgl. Erinnerungen von Bruno Knöller. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 179. 645 Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 315. 646 Brief der Stapoleitstelle Dortmund an die zuständigen Polizeipräsidenten in Bochum und Dortmund vom 7. 5.1936. Abgedruckt in Milton, Die Zeugen Jehovas, S. 162 (Dok. 3). 647 Reichsleiter Fritz Winkler war Versicherungsvertreter. Vgl. Vernehmungsprotokoll von Fritz Winkler vom 24. 8.1936, als Anlage von Gestapa an alle Staatspolizeistellen vom 28. 8.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1483–1518). 648 Eine illegale Druckerei in Berlin - Lichtenrade wurde beispielsweise praktischerweise bei einem Bibelforscher, der Papier vertreter war, aufgestellt. Vgl. Bericht über die zweite Organisation der illegalen I.B.V. von SD - HA II /1134 an die SD - Führer der SS - Oberabschnitte vom 19. 4.1937 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 649 Der spätere BDL von Sachsen, August Fehst, reiste beispielsweise in seiner Funktion als Dienstleiter in Schlesien als Textilwaren - Vertreter. Vgl. Vernehmungsprotokoll von August Fehst vom 29. 6.1937 ( ebd.).

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gen Fällen war in den Augen der Gestapo eine operative Notwendigkeit. Eine Erscheinung, die auch in autoritären Diktaturen praktiziert wird, ist die Entlassung missliebiger Personen aus dem öffentlichen Dienst. Gerade hier glauben die Machthaber auf besondere Loyalität drängen zu können. Äußeres Zeichen dieser Loyalität war im nationalsozialistischen Deutschland seit Juli 1933 der obligatorische Hitlergruß im Dienst650 sowie der im August 1934 eingeführte neue Diensteid auf Hitler.651 Deren Verweigerung, aber auch das bloße Bekenntnis zur IBV wurden als Dienstpflichtverletzung gewertet. Die betreffenden Angestellten und Beamten wurden aus dem Dienstverhältnis entlassen, weil sie „nicht die Gewähr [ böten ], dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“.652 Diese Sichtweise wurde auch durch einige Gerichtsurteile und Stellungnahmen der staatlichen Ver waltung gestützt. So meinte das Preußische Ober ver waltungsgericht in mehreren Prozessen, dass das Versagen eines Wandergewerbescheins oder einer Gewerbegenehmigung wegen einer IBV - Mitgliedschaft einer nach Außen getretenen Betätigung bedürfe.653 1935 fragte das Sächsische Wirtschaftsministerium beim Reichsinnen - und beim Reichswirtschaftsministerium wegen des Versagens eines Wandergewerbescheines für einen Bibelforscher an. In seinen Augen sei das bloße Festhalten an der Bibelforscherlehre gleichbedeutend mit einer Betätigung, weshalb die behördliche Erlaubnis entzogen werden könnte. Doch sowohl das Reichsinnen - als auch das Reichswirtschaftsministerium machten eine solche Entscheidung von einer aktiven Betätigung nach Verbotsverfügung abhängig.654 Auch das Reichsarbeitsgericht verpflichtete noch 1939 den Reichsbund Deutscher Beamter zur Weiterzahlung eines Ruhegehaltes für einen pensionierten Beamten, der sich für die IBV betätigte.655 Doch eine solche Sichtweise, die sich bei arbeits - oder ver waltungsrechtlichen Entscheidungen an der Frage der aktiven Gegnerschaft zum Regime orien-

650 Vgl. Runderlass des Preußischen Ministers des Innern vom 20. 7.1933. In : Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung, 94 (1933), S. 859. 651 Vgl. Gesetz über die Vereidigung der Beamten und der Soldaten der Wehrmacht“ vom 20. 8.1934 ( RGBl. 1934 I, S. 785). 652 Anordnung des Reichsministeriums des Innern vom 11. 6.1934. Zit. nach Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 168. Weitere Fälle von Entlassungen aus dem Öffentlichen Dienst in ebd., S. 165–173; Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 27–32; Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 195–198. 653 Entscheidungen des Preußischen OVG vom 16.1.1936, 13. 8.1936, 1. 4.1937 sowie 21. 4.1938. Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 30; auch Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 195 f. 654 Vgl. Reichswirtschaftsminister an den Reichsinnenminister vom 25. 2.1935 und dessen Antwort vom 27. 3.1936 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, unpaginiert ). Es ging in diesem Schreiben um einen Dresdner Handelsvertreter und einen Meissner Bäckermeister. Ebenso Sächsischer Wirtschaftsminister an den Reichswirtschaftsminister vom 26. 7.1935 und Reichsinnenminister an den Reichswirtschaftsminister vom 16. 8.1935 ( BArch, R 58, 1462, Bl. 783–785). 655 Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 32.

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tierte, setzte sich nicht durch. Die bloße Annahme, dass sich Bibelforscher betätigen könnten, reichte in vielen Fällen für negative Entscheidungen aus. So urteilte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof 1936, dass „die Tatsache, dass ein Gewerbetreibender ganz im Sinne der Bibelforschervereinigung denkt und hartnäckig an der Verkündigung ihrer Lehren festzuhalten erklärt, [...] die Annahme [ rechtfertigt ], dass er sein Gewerbe zu staatsfeindlichen Zwecken missbrauchen werde“.656 Auch einer sächsischen Bezirkshebamme wurde ihr Glaube zum Verhängnis. Weil sie sich weiterhin zu ihm bekannte und sich nicht an der Wahl beteiligte, wurde ihr gekündigt, obwohl auch das Gericht sie für ungefährlich hielt : „Mögen Personen wie die Klägerin, für sich selbst betrachtet, auch in solchen Lagen kaum staatsgefährlich werden können, so geben sie doch durch ihre Einstellung und ihr Bekennen solchen Leuten, die dem Staate wirklich feindlich sind, einen inneren Halt und unterstützen dadurch mittelbar Bestrebungen, die darauf angelegt sind, dem Volke zu schaden.“657 Auch die Produktion von Fleischsalaten und Mayonnaise stand in Sachsen unter dem Vorbehalt der politischen Zuverlässigkeit. Einem Fabrikanten wurde vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht 1938 die Gewerbeerlaubnis wegen „Unzuverlässigkeit“ entzogen. Das Gericht meinte, diesen Begriff, der eigentlich auf „gewerbliche Unzuverlässigkeit“ bezogen war,658 auch auf politische beziehen zu können : Der Fabrikant hatte es „versäumt“, sich an der Wahl im März 1936 zu beteiligen.659 In der Frage der Ruhegehälter pensionierter Beamter, die sich noch zur IBV bekannten, konnte das Gestapa das Reichsinnenministerium davon überzeugen, dass diese aberkannt werden sollten, da die IBV erstens als „marxistische“ Organisation zu betrachten wäre, weil sie „ideenmäßig die gleichen Ziele wie der Marxismus“ verfolge und zweitens die Betätigung für die illegale IBV eine Zahlung ohnehin ausschließe.660 In dezidiert nationalsozialistischen Kreisen wollte man aber noch weiter gehen. Bibelforschern sollte die Lebensgrundlage entzogen werden. Beispielhaft für diese Kreise ist eine Aufforderung in einem Zeitungsartikel aus dem Herbst 1933 : „Es liegt für deutsche Menschen, die sich soeben in hellster Begeisterung für den Deutschesten aller Deutschen, für Adolf Hitler erklärt haben, keine Veranlassung vor, diese bewusst Abseitsstehenden in Nahrung zu setzen. Man entziehe ihnen jede Unterstützung und lasse sie mit ihrem Judenkram allein.“661 656 Urteil des Bayerischen Ver waltungsgerichtshofes vom 8. 5.1936. Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 30. 657 Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichtshofes vom 4.12.1936. Zit. in Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 196. Zu Hebammen im „Dritten Reich“ vgl. Lisner, „Hüterinnen der Nation“. 658 § 20 der Verordnung über Handelsbeschränkungen vom 13. 7.1923. 659 Urteil des Sächsischen Ober ver waltungsgerichts vom 8. 2.1938. Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 30 f. 660 Vgl. Dr. Haselbacher, Gestapa an den Reichsinnenminister vom 10. 5.1937 (BArch, R 58, 1462, Bl. 934). 661 Heilbronner Tageblatt vom 15.11.1933. Zit. in Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 362 f.

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Auch der nationalsozialistische „Angriff“ forderte den Ausschluss der Bibelforscher aus sämtlichen Betrieben Deutschlands.662 Vor allem Vertreter der Deutschen Arbeitsfront drangen auf die Entlassung von der angestammten Arbeit, dem Druck mussten sich Arbeitgeber auch bei Wertschätzung der Arbeit ihrer ehemaligen Angestellten beugen.663 Systematisch wurde auch versucht, den dadurch in wirtschaftliche Not Geratenen alternative Beschäftigungen664 oder sogar die Arbeitslosen - 665 bzw. die Wohlfahrtsunterstützung666 zu verwehren. Zwar konnten diese Praktiken nicht flächendeckend durchgesetzt werden, da der Arbeitskräftemangel ab 1936667 und die Unterstützung einiger Arbeitgeber668 diesen Plänen entgegen liefen, der Versuch einer gezielten Verelendung der Bibelforscher ist aber unübersehbar. Diese Verelendung und Marginalisierung wurde flankiert durch Versuche, Bibelforscher in psychiatrische Anstalten einzuweisen. In verschiedenen Gutachten, die im Auftrag von Sondergerichten zur Prüfung der Frage der Schuldfähigkeit angeordnet wurden, wurde den Angeklagten durch „religiösen Fanatismus“ ausgelöster „Verfolgungswahn“ und „religiöse Paranoia“ bescheinigt und die Unterbringung in Heil - und Pflegeanstalten empfohlen.669 Auch die Unfruchtbarmachung nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 wurde in wenigen Fällen bei Bibelforschern angeordnet.670

662 Vgl. Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum, S. 133. 663 Beispiele für Entlassungen vgl. DAF Verwaltungsstelle Wolfstein an DAF Gauwaltung Neustadt / Haardt vom 28.11.1934 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 549 f.); Tagesmeldung des Gestapa vom 31. 3.1936 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1184] 5713, Bl. 211); ebenso in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 174 f.; Erinnerungsbericht von Heinrich Dickmann. Abgedruckt in Gollnick, „An das bibel - und christusgläubige Volk“, S. 287; Riechert, Bibelforscher, S. 729 f.; vgl. Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 187. 664 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 176. 665 Zur Verweigerung von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung seit 1937 vgl. ebd., S. 184. 666 Rundschreiben der Staatspolizeistelle Regensburg vom 7. 2.1938 ( BArch, Sammlung Schumacher /267–1, unpaginiert ); Riechert, Bibelforscher, S. 731. 667 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 175. 668 Vgl. Hartwich / Segmann, Dorsten unterm Hakenkreuz, S. 134; Hetzner, Christen im Feuerofen, S. 6; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 174–176. 669 Vgl. Gutachten über Elfriede Löhr durch die Psychiatrische – und Nervenklinik der Universität München vom 25.10.1938 sowie Gutachten über dies. durch den Landgerichtsarzt Dr. Vogel vom 10.11.1938, als Anlage zu einem Schreiben des SD - Oberabschnittes Süd vom 6. 3.1939 ( BArch, R 58, [ alt ZB II 1420] 5781b, Bl. 1008–1015). Vgl. auch Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 242; Beispiele auch in Imberger, Widerstand „von unten“, S. 338 und 357–359; sowie Marßolek / Ott, Bremen im Dritten Reich, S. 307. 670 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 244. Es gab allerdings auch differierende Entscheidungen, so hob das Erbgesundheitsobergericht beim OLG Dresden einen Beschluss des Erbgesundheitsgerichts auf Unfruchtbarmachung wieder auf, weil bei dem betreffenden Bibelforscher keine Krankheit festzustellen war. Menschen, „die die Beschäftigung mit der Bibel zu ihrem Lebenswerk machen, [ zeigen ] für die nicht diesem Kreise Gehörenden ein etwas verschrobenes, pastorales Wesen“. Urteil vom 10.10.1936 ( WTA, Dok 11/12/36).

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Besonders perfide war es, wenn die systematische Verarmung wie im Falle eines Pfälzer Bibelforschers, dem nach der Nichtbeteiligung an der Wahl im April 1938 gekündigt wurde, dann als Begründung für den Entzug des elterlichen Sorgerechts herhalten musste.671 Im Januar 1937 forderte ein „Sektenbericht“ des SD - Hauptamtes, „in den Fällen, in denen beide Elternteile fanatische IBV - Anhänger sind, [...] den Eltern das Fürsorgerecht für die minderjährigen Kinder absprechen zu lassen“.672 Diese Anregung griff ein Gestapa Erlass im Juli 1937 auf : „Um die Verbreitung der Lehre der IBV unter der Jugend zu verhindern ist es erforderlich, die Kinder der bereits in Erscheinung getretenen Bibelforscher dem Einfluss ihrer Eltern zu entziehen.“ Deshalb sollten die zuständigen Amtsgerichte angeregt werden, den Anhängern der IBV „das Personenfürsorgerecht gemäß § 1666 BGB“ zu entziehen.673 Dieser Erlass wurde im April 1939 erneuert. Gestapo - Chef Müller erklärte darin noch einmal, dass zu den „politisch unzuverlässigen Familien“, aus denen laut Runderlass des Reichsinnenministers vom 27. November 1938 die Kinder in „politisch einwandfreie Familien“ gebracht werden sollten, auch die Anhänger der IBV zu zählen wären. Um „ein Nebeneinanderherarbeiten [...] zu vermeiden“, ordnete Müller die Benennung der „IBV - Anhänger, in deren Familiengemeinschaft sich Jugendliche befinden“ bei den zuständigen Jugendämtern an.674 Ab 1937 wurde es eine gängige Praxis, den Zeugen Jehovas die Kinder zu entziehen. Die Gestapo arbeitete dabei mit den Vormundschaftsgerichten bei den Amtsgerichten, sowie Schulen, lokalen Behörden oder Sozialämtern zusammen. Während Gerichte in einigen Verfahren in standardisierter Form die Gefährdung des Kindswohls kurz dadurch begründeten, dass die Eltern ihr Kind „durch die Erziehung im Sinne dieser Lehre“, die jede staatliche Autorität ablehnt „in scharfen Gegensatz zur Volksgemeinschaft“ brächten,675 zeigen andere Entscheidungen, wie tief nationalsozialistisches Gedankengut in diesen Bereich der Justiz eingedrungen war. Das Amtsgericht Waldenburg meinte, dass den „deutschen Eltern das Recht der Erziehung nur unter der – wenn auch nicht ausdrücklich ausgesprochenen, so doch selbstverständlichen – Voraussetzung [ anvertraut sei ], dass die Eltern dieses Erziehungsrecht so ausüben, wie Volk und Staat es erwarten dürfen“.676 Diese Voraussetzung lag nach Ansicht des Amtsgerichtes Beuthen nicht vor bei 671 Vgl. Schepua, Nationalsozialismus in der pfälzischen Provinz, S. 488. 672 Undatierter Bericht „Sekten“ ( handschriftlich Januar 1937) ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1184] 5713, Bl. 529–540, hier 537 f.). 673 Erlass des Gestapa vom 21. 6.1937. Abgedruckt in Fricke, Roter Ochse, S. 67; ebenso in Diamant, Gestapo Chemnitz, S. 176. Diamant gibt fälschlicherweise 1936 statt 1937 als Jahr dieses Erlasses an. § 1666 BGB besagte, dass ein Vormundschaftsgericht eingreifen kann, wenn der Inhaber der elterlichen Gewalt „das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, dass er das Sorgerecht missbraucht oder das Kind vernachlässigt“. 674 Vgl. Anordnung des Gestapa, II B 2, gez. Müller an alle Stapostellen vom 17. 4.1939 (WTA, Dok 10/05/39). 675 Urteil des Amtsgerichtes Leipzig vom 14. 4.1938. Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 207. 676 Urteil des AG Waldenburg vom 2. 9.1937. Zit. in Volkmann, Die Rechtsprechung, S. 33.

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einer Vereinigung, deren Leitung „der Komintern und dem Judentum hörig“ wäre677 und die den Wehrdienst verweigere. Auch die Erklärung der betroffenen Mutter, dass ihre Kinder noch nicht erwachsen wären und im entsprechenden Alter selbst entscheiden könnten, war „abwegig“, denn „die Internationalen Bibelforscher stellen sich außerhalb der Volksgemeinschaft. Nur eine starke Wehrmacht kann das Leben eines Volkes sichern. Kein Volk kann daher zulassen, dass einige Mitglieder des Volkes seine Existenzbedingungen erschüttern und untergraben.“678 Nach Angaben der WTG sind Bibelforschern in mindestens 860 Fällen die Kinder weggenommen worden.679 Die Zahl der Fälle, in denen die Entziehung des Personenfürsorgerechts beantragt wurde, liegt wahrscheinlich weitaus höher. Der SD - Oberabschnitt Süd - West meldete im März 1938, dass bei 30 Anhängern die Entziehung beantragt worden war.680 Spätere Vollzugsmeldungen zeigen jedoch, dass in 23 Fällen der Antrag von den Gerichten abgelehnt wurde. Die Gründe dafür waren vielschichtig. So waren nicht beide Elternteile aktiv am Glaubensleben beteiligt, die zuständigen Stellen sprachen sich dagegen aus oder die Kinder wurden doch noch beim Jungvolk, der HJ oder dem BDM angemeldet. Häufig war das Kontrollnetz aus Jugendämtern und NSV dicht. Die Gerichte waren sich dann sicher, dass die Kinder nicht „in staatsfeindlichem Sinne“ erzogen würden. Die vielerorts gerichtlich angeordnete Schutzaufsicht flankierte diese Sozialkontrolle zusätzlich.681 Doch blieb den Eltern dabei die Trennung von ihren Kindern erspart. Die Wegnahme von Kindern aus Bibelforscherfamilien war ein wichtiges Element bei der Bekämpfung der Glaubensgemeinschaft. Selbst in die berüchtigten Richterbriefen, die der Lenkung der Justiz im Kriege dienten, fand eine umstrittene Entscheidung in punkto Sorgerechtsentziehung bei Bibelforschern 1942 Eingang.682 Dass die Aufhebung eines ablehnenden Urteils des Amtsgerichtes Oberhausen in der Berufungsinstanz in die Briefe aufgenommen wurde, beweist sowohl die fortlaufende Praxis des „Kinderraubs“ ( Garbe ) als auch die eingeforderte Härte in dieser Frage. Stellt man diese Praxis in Bezug zu einem Bericht, den die Abteilung II /113 im RSHA Ende 1939 für Himmler anfertigte, gewinnt der Kindesentzug eine neue Dimension. Als künftige Konzeption für die Bibelforscherbekämpfung befürwortete die Abteilung neben der vollständigen „Unterbringung“ in Konzentrationslagern auch die endgültige „biologische Austrocknung“ der renitenten Glaubensgemeinschaft. Da ihnen mit Anbruch 677 Urteil des AG Beuthen vom 26.10.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1217). 678 Urteil des AG Beuthen vom 25. 9.1937 ( ebd., Bl. 1218). 679 Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 125. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 208 geht von einer großen Dunkelziffer aus. 680 Meldung des SD - Oberabschnitts Süd - West an SD - HA II /1134 vom 31. 3.1938 (BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1258–1263). 681 Meldung des SD - Oberabschnitts Süd - West an SD - HA II /1134 vom 21. 7.1938 (ebd., Bl. 1219–1223); dass. vom 24. 8.1938 ( ebd., Bl. 1224–1228); dass. vom 16. 6.1938 ( ebd., Bl. 1236–1242); dass. vom 14. 5.1938 ( ebd., Bl. 1243–1257). 682 Vgl. Boberach ( Hg.), Richterbriefe, S. 49.

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des 1000 - jährigen Reiches683 sowieso verboten sei, Kinder zu zeugen, sollte ihnen die noch „unverdorbene Nachkommenschaft“ entzogen und diese „in Fürsorgeanstalten oder sonstige[n] Heime“ untergebracht werden.684 Damit würde sich das Problem mit der Zeit wohl selbst erledigen. Die Forderung nach einer biologischen Lösung war nur die letzte Konsequenz einer Weltsicht, nach der „unter dem Einfluss der Sekten ein beträchtlicher Teil deutscher Menschen zu minderwertigen Werkzeugen orientalischen Geistes herabgewürdigt [ würde ] und die Sekten schließlich noch im A - Fall eine direkte Volksgefahr darstellen“.685 Die Einschätzung, dass Bibelforscher „rassisch minderwertig“ wären,686 dass es sich bei ihnen um „degeneriertes Untermenschentum“687 und „ausgesprochen asoziale Elemente“688 handele, wurde jahrelang innerhalb des Apparates, in Gerichtsurteilen oder in der NS - Presse verbreitet. Durch die gezielte Verelendung von Bibelforschern wurden diese zudem gesellschaftlich marginalisiert. Es lag also nahe, auch an ihnen die Methoden der Asozialenbekämpfung anzuwenden. Dies waren Schutzhaft, Kindesentzug und die Unterbringung in psychiatrischen Anstalten. Hier trafen sich traditionelle Vorurteile von „psychopathischen Sektierern“689, deren Mitglieder sich durch „Formen leichten Schwachsinns“, Züge von „Lebensuntauglichkeit“ bis hin zu „abnormen Persönlichkeiten mit psychopathischen Wesenszügen und bis Dispositionen für Geistesstörungen“ auszeichnen,690 von „trottelhaften Typen“, die „geistig nicht ganz normal sind“,691 mit Vorstellungen eines genuin nationalsozialistischen gesellschaftsbiologischen 683 Ob der Bearbeiter hier auf die Hoffnungen der Zeugen Jehovas anspielte, der Weltkrieg würde das Ende der Welt einläuten, ist unbekannt, aber wahrscheinlich. 684 Bericht über die Internationale Bibelforschervereinigung von RSHA II 113, unterschr. von Heydrich an den Reichsführer SS vom 15.12.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). Mit dem angeblichen Verbot, Kinder zu zeugen, nimmt der SD dabei Bezug auf die Endzeiterwartung der Zeugen Jehovas, nach der Eltern mit der Zeugung von Kindern bis zur Zeit nach der „Schlacht von Harmagedon“ warten sollten. Vgl. die WTG - Schrift : Schau den Tatsachen ins Auge, Brooklyn 1938, S. 50. 685 Arbeitsanweisungen 1937/38 für SD - HA II 113, mitgeteilt durch Verfügung des SDOberabschnitts Süd - West an die SD - Unterabschnitte Württemberg, Baden, Pfalz, Saar (15. 2.1938). Abgedruckt in Boberach ( Bearb.), Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk, S. 908–931, hier 910 f. 686 RSHA, II /1133, Richtlinien zur künftigen Bekämpfung der IBV vom 29. 2.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 687 Vgl. „Verblendete“ Volksgenossen und „harmlose“ Menschen. In : Der Hoheitsträger, 2 (1938) 8, S. 12–16. 688 Bericht über eine am 6. Januar begonnene Aktion des SD - Unterabschnittes Arnsberg gegen die Internationale Bibelforscher - Vereinigung in Zusammenarbeit mit Beamten der Staatspolizei Dortmund, Anhang eines Schreibens des SD - OA West an SD - HA II /113 vom 21.1.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 203–213, hier 209). 689 Vgl. Hoppe, Ungehorsam aus religiöser Überzeugung, S. 399. 690 Vgl. Herr, Bibelforscher in Strafhaft, S. 87. 691 So der GStA in Düsseldorf, Karl Schnöring, Protokoll der Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium am 18. 6.1937 ( BArch, R 3001, 4277, Bl. 149–191, hier 184).

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Konzeptes. Dessen Ideen ließen sich zumindest in einigen Punkten am leichstesten (d. h. „ohne gefährliche Herausforderung der konser vativen Partner und Machtträger in Staat und Gesellschaft“) in die Realität umzusetzen gegen „ohnehin machtlose Minderheiten“ wie die als erbkrank oder asozial Klassifizierten, Bibelforscher, „Zigeuner“ und Juden.692 Das Konzept ließ sich aber nicht flächendeckend verwirklichen. Noch war die Gesellschaft nicht wirklich gleichgeschaltet, noch gab es humanistische oder auch nur zweckrationale Residuen in Justiz, Verwaltung, Medizin und Privatwirtschaft. Der gewaltige Radikalisierungsschub der Jahre nach 1935 ist jedoch evident. Das gesellschaftspolitische Programm, die Polizei als „Arzt am Volkskörper“693, war nicht länger nur elitäres Selbstverständnis im SS-Apparat. Es wurde – zumindest teilweise – auch in die Tat umgesetzt. Wirkungsvolle Schläge gegen die illegalen Strukturen der Zeugen Jehovas gelangen nur, wenn Gestapo und SD hoher Funktionäre habhaft wurden. Diese reisten zu den einzelnen Gruppendienern, gaben Informationen weiter, reorganisierten nach Verhaftungen die Strukturen, lieferten Abschriften von Bibelforschertexten und koordinierten deren Vervielfältigung. Sie kannten die Anlaufstellen, Treffpunkte und - daten sowie potentielle Ersatzpersonen. Anhand der Verhaftungswelle im Frühjahr 1937 lässt sich das sogenannte Aufrollen gut darstellen. Nachdem es lange Zeit nicht gelungen war, die Organisatoren der reichsweiten Flugblattaktion vom 12. Dezember 1936 zu ermitteln, konnte die Gestapo in Königsberg den BDL von Ostpreußen, Georg Rabe, verhaften. In dessen Notizbüchern war ein Treff vermerkt, auf Grund dessen es gelang, den BDL von Berlin, Otto Daut, festzunehmen. Parallel dazu war die Staatspolizei in Bayern erfolgreich, sie nahm den BDL von Bayern, Karl Siebeneichler, in Haft. Aus deren Vernehmungen entnahmen die Ermittler dann die Informationen, die zur Ergreifung des Reichsdieners Erich Frost und seiner Sekretärin, Ilse Unterdörfer, des BDL Artur Nawroth und weiterer Personen sowie zur Beschlagnahmung eines Lastkraftwagens zum Literaturtransport und einer Druckmaschine führten. Außerdem waren nun auch die Namen der noch auf freiem Fuß befindlichen BDL bekannt. Dennoch scheint die „2. Aktion gegen die illegale Bibelforscher - Vereinigung“ nicht mit genügendem Nachdruck durchgeführt worden zu sein. Sektenreferent Kolrep wandte sich jedenfalls am 2. April 1937 an Heydrich. Mit Verweis auf die noch nicht gefassten BDL Ditschi, Wandres, Fehst, Stichel und Friese meinte er, dass „solange noch ein Hauptfunktionär der illegalen I.B.V. auf freiem Fuß ist, [...] mit der sofortigen Neuorganisation der I. B. V. gerechnet werden“ muss.

692 Vgl. Zimmermann, Die nationalsozialistische Verfolgung der Juden und „Zigeuner“, S. 60. 693 Werner Best, Die Politische Polizei des Dritten Reiches. In: Hans Frank (Hg.), Deutsches Verwaltungsrecht, München 1937, S. 417–430. Zit. in Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 36.

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Der Erfolg der Aktion wäre gefährdet durch Personalprobleme im entsprechenden Gestapo - Referat. „Auch diese Aktion [ müsse ] als gescheitert angesehen werden, wenn sie nicht mit allen Mitteln und mit aller Energie durchgeführt wird.“694 Kolreps Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Das lag zum einen am mangelnden Nachdruck, denn den untergetauchten Funktionären gelang es, die Strukturen relativ rasch wieder herzustellen.695 Es lag aber auch unzweifelhaft an Ermittlungspannen. Nach den Erfahrungen mit der Flugblattverteilung im Dezember 1936 hätten die Ermittler bei der Aussage des BDL Daut, dass der beschlagnahmte Druckapparat für eine geplante Flugblattaktion am 27. und 29. März 1937 genutzt werden sollte, hellhörig werden müssen.696 Schon im Herbst 1936 war es den Bibelforschern gelungen, Hindernisse, die im Vorfeld der Aktion durch Ermittlungen der Gestapo eintraten, aus dem Weg zu räumen. Am 20. Juni 1937, zwischen 12 und 13 Uhr, verteilten in vielen Orten Deutschlands Bibelforscher einen „Offenen Brief an das bibelgläubige und Christus liebende Volk Deutschlands“. Fast 70 000 Flugblätter697 wurden in einer Schnellpresse in Lemgo698 hergestellt, um den Verlust der Druckmaschine in Berlin und die Beschlagnahme von 200 000 Exemplaren, die aus dem Ausland eingeführt werden sollten, auszugleichen. Wie in der „Resolution“ klagten die Zeugen Jehovas wieder ihre Verfolgung in Deutschland an, doch diesmal ausführlicher und detaillierter. Es wurde ein Schreiben der NSDAP - Kreisleitung Waldenburg, indem von den dortigen Bibelforschern per schriftlicher Erklärung die Verleugnung des eigenen Glaubens eingefordert wurde, und ein Artikel über „Bibelforscher im Strafvollzug“ abgedruckt. Das Flugblatt nannte ebenso Fälle von Misshandlungen und Tötungen von Bibelforscher sowie auch die Namen der daran beteiligten Gestapo - Beamten aus Dortmund, Gelsenkirchen und Bochum.699 Die Flugschrift schloss mit dem Bekenntnis, dass „Tausende von Zeugen Jehovas in Deutschland aufs grausamste verfolgt, misshandelt und in Gefängnisse und Konzentrationslager eingesperrt“ wurden. „Trotz größtem seelischen Druck und trotz sadistischer körperlicher Misshandlung, auch an deutschen Frauen, Müttern und an Kindern im zarten Alter, hat man in vier Jahren nicht vermocht die Zeugen Jehovas auszurotten; denn sie lassen sich nicht einschüchtern, sondern fahren fort, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“.700 694 Vermerk SD - HA II /1134 zur Vorlage an Heydrich vom 2. 4.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1421, Bl. 1306). Das Schreiben lag Heydrich am 6. 4.1937 vor. 695 Der BDL von Sachsen, August Fehst, berichtet beispielsweise, dass der neue Reichsdiener Ditschi auf die Information über den Verlust der Materialschleuse in die ČSR lapidar meinte, dass schon eine neue bei Aachen existiere. Vgl. Vernehmungsprotokoll von August Fehst vom 5. 7.1937 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 696 Vgl. Bericht von SD - HA II /1134 an Heydrich vom 24. 3.1937 ( ebd.). 697 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 261. 698 Vgl. Telegramm des SD - Oberabschnittes Südwest an SD - HA II /1134 vom 15. 7.1937 (BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 374). 699 Die Details des „Offenen Briefes“ fanden auch Eingang in Zürcher, Kreuzzug gegen das Christentum. 700 Zit. in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 261.

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So in der Öffentlichkeit den Spiegel vorgehalten zu bekommen, war in den Augen der Nationalsozialisten eine „Hetze, wie sie sonst nur noch in jüdischen Emigrantenblättern oder in der kommunistischen Lügenpresse des Auslands zu finden ist“.701 Auch im Sommer 1937 konnten nur wenige beteiligte Zeugen Jehovas auf frischer Tat gestellt werden.702 Doch diesmal waren zumindest die Namen der wichtigsten BDL bekannt und zur Fahndung ausgeschrieben. Zudem konnte Kolrep jetzt seine Vorgesetzten von der Dringlichkeit der Angelegenheit überzeugen. Am 30. Juni 1937 wurde auf einem gemeinsamen Treffen der mit der IBV - Bekämpfung befassten Gestapo - und SD - Mitarbeiter der Vorschlag Kolreps angenommen, vorerst nichts gegen die IBV zu unternehmen. Stattdessen sollte die Zeit genutzt werden, V - Leute einzuschleusen, die Grenzen verstärkt zu überwachen und schließlich die „restlose Aufrollung“ einem Sonderkommando von 10 bis 15 Mann zu übertragen.703 Noch im Juni ging der BDL von Sachsen, August Fehst, ins Netz. Aus seinen Aussagen ging hervor, dass inzwischen Heinrich Ditschi als Reichsdiener fungierte. Sowohl der zuständige Dresdner Gestapo - Beamte Albert Würker als auch der SD - Referent Kolrep hielten die Überführung Fehsts nach Berlin für erforderlich, da dieser offensichtlich „über den jetzigen Aufbau der IBV in Deutschland und über die Reichsleitung der IBV besser unterrichtet ist, als er bisher angegeben hat“.704 Zur gleichen Zeit konnten in München zwei Bibelforscherinnen ermittelt werden, die sich an der Verteilung beteiligt und Kontakt zu Elfriede Löhr hatten. Von dieser wusste man seit der Vernehmung von Karl Siebeneichler, dass sie in einer höheren Funktion sein müsse.705 Zusammen mit den Vernehmungsprotokollen sandte der SD aus München auch zwei Fotografien von Elfriede Löhr mit. Im August fiel diese den Ermittlern in die Hände. Über sie wurde der Sicherheitsschlüssel entdeckt, der zu einer geheimen Wohnung führte. Hier konnte der Reichsdiener Ditschi am 26. August nach seiner Rückkehr von einem IBV - Kongress in Paris empfangen werden. Bereits eine Woche später wurde sein Nachfolger Albert Wandres in Dresden in Haft genommen. Aus dessen Notizen ließen sich Treffpunkte zu den verschiedenen BDL und deren potentiellen Nachfolgern ermitteln. Insgesamt konnten bei dieser zentralen Aktion 13 BDL und 28 Gruppendiener festgenommen, dazu sieben Ver-

701 So in einem Urteil des Hanseatischen Sondergerichts vom 11. 4.1938. Zit. in Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 194. 702 Vgl. Telegramm von SD - Oberabschnitt Süd an SD - HA II /1134 vom 21. 6.1937 (BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 534). 703 Niederschrift über eine Besprechung zwischen SD - HA II 113 und Gestapa II 1 B 1 am 30. 6.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1335, Bl. 301–304, hier 301). 704 Vernehmungsprotokoll von August Fehst vom 5. 7.1937 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 705 Vgl. handschriftliche Notiz auf Telegramm des SD - Oberabschnitts Süd an SD - HA II /113 vom 26. 6.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1419] 5781a, Bl. 545).

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vielfältigungsapparate, ein Bücherlager mit 1 000 Karton IBV - Schriften sowie 7 000 Reichsmark sichergestellt werden. Danach wurden die Funktionäre an die zuständigen Stapostellen übergeben, um die regionalen und lokalen Strukturen aufzudecken.706 Von diesem Schlag konnte sich der illegale Apparat der IBV nicht mehr erholen. Alle Versuche, an die alten Strukturen anzuknüpfen, schlugen binnen weniger Tage oder Wochen fehl. So wurde der neueingesetzte BDL Riffel schon zwei Tage nach seinem Grenzübertritt aus der Schweiz in Stuttgart festgenommen. Doch die Erfahrungen der letzten Monate hatten gezeigt, wie schnell sich bislang wenig aktive Bibelforscher für illegale Aktivitäten zur Verfügung stellten. Daher forderte SD - Referent Kolrep von den SD - Oberabschnitten, dass eine detaillierte Kartei aller bekannten Bibelforscher anzulegen und im Doppel ins Hauptamt übermittelt werden soll.707 In einer Begründung legte Kolrep dar, dass „die Organisation der illegalen I. B.V. [...] der der illegalen K. P. D. [ gleiche] und [...] zum Teil noch besser durchgeführt [ ist ] als bei dieser“. Bislang wurden nur die „wichtigen führenden Persönlichkeiten“ erfasst. Jetzt sei es aber nötig, dass „sämtliche Bibelforscher im Reich erfasst werden, da jeder einzelne Anhänger dieser illegalen Organisation als gefährlicher Staatsfeind zu werten ist“.708 Die Tendenz, zur Verhinderung jedweder Neuorganisation prophylaktisch alle Zeugen Jehovas in Haft zu nehmen, zeigt sich auch in einem Schreiben des SDOberabschnittes Nord - West. Dieses nahm Bezug auf einen Artikel im „NS Rechtsspiegel“ vom 11. Juli 1939, in dem hohe Strafen für die höheren Funktionäre begrüßt wurden, „denn sie sind es ja, die weiterhin den Ungehorsam gegen den Staat und seine Anordnung predigen“.709 Was noch zwei Jahre vorher auf Genugtuung gestoßen war, fand in den Augen des SD kein Gefallen, da dies „die Vermutung aufkommen [ lässt ], dass die kleinen Bibelforscher nicht so gefährlich sind und demnach hohe Strafen für ihre Vergehen gegen Volk und Staat nicht angewandt werden“.710 Am 5. April 1939 wurden im Zuge des alljährlichen Gedächtnismahles bei allen bekannten und nicht in Haft befindlichen Zeugen Jehovas Münchens Haussuchungen vorgenommen. Diese verliefen alle ergebnislos, was dahingehend gedeutet wurde, dass die IBV in München zerschlagen sei. Die angetroffenen Bibelforscher gaben einerseits an, dass sie „keine illegale Tätigkeit auszuüben 706 Vgl. SD - HA II /1134 an die SD - Führer der SS - Oberabschnitte vom 19.10.1937 (BArch, R 58, [ alt ZB I 1461] 5801a, Bl. 221–225). 707 Vgl. Bericht über die zweite Organisation der illegalen I. B. V., SD - HA II /1134 an die SD - Führer der SS - Oberabschnitte vom 4. 5.1937 ( BArch, Zwischenarchiv DahlwitzHoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 708 SD - HA II /1134 an I /1, betr. namentliche Mitgliederliste der illegalen I. B. V. vom 26. 4.1937 ( ebd.). 709 Bibelforscher vor dem Sondergericht. Religiöse Sonderlinge oder Staatsfeinde ? In : NSRechtsspiegel, 3 (1939) 14, S. 1 f., hier 2. 710 SD - Oberabschnitt Nord - West an SD - HA II /1134 vom 8. 8.1939, betr. NS - Rechtsspiegel vom 11. 7.1939 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 565, 567, 570, 571, 572, 573] 5424, A. 567, Bl. 2).

Phase der voll funktionierenden Herrschaft

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gedenken“, aber „dass ihnen niemand den Glauben nehmen könne“.711 Dieser Glaube aber wurde mit Beginn des Krieges auf eine neue Probe gestellt. Viele, auch vorher inaktive Zeugen Jehovas sahen sich angesichts des geforderten Kriegsdienstes in eine Situation gestellt, in der sie glaubten, ihre Treue zu Jehova unter Beweis stellen zu müssen. In einer Zeit, in der der Krieg als Beginn der Schlacht von Harmagedon gedeutet wurde, in der es darauf ankam, Zeugnis zu geben, beteiligten sich auch immer wieder Gläubige an regionalen Organisierungsversuchen. Die Bibelforscherfrage trat in die Phase einer neuen Eskalation ein.

3.

Phase der voll funktionierenden Herrschaft (1939–1942)

Am 16. September 1939 berichtete der Reichsrundfunk von der Hinrichtung eines Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung. Diese Bekanntmachung wurde in den Folgetagen durch eine „Mitteilung des Reichsführer SS“ in deutschen Zeitungen ergänzt, nach der „am 15. 9.1939 wegen Weigerung, seine Pflicht als Soldat zu erfüllen, August Dickmann, geboren 7.1.1910, aus Dinslaken [ erschossen wurde ]. Dickmann begründete seine Weigerung mit der Erklärung, er sei ‚Zeuge Jehovas‘; er war ein fanatischer Anhänger der internationalen Sekte der ‚ernsten Bibelforscher‘“.712 Dieser ersten öffentlichen Hinrichtung eines Wehrdienstverweigerers gingen standrechtliche Erschießungen eines kommunistischen Arbeiters, der die Arbeit an Fliegerunterständen verweigert hatte, sowie eines Brandstifters voraus.713 Grundlage dieser „Sonderbehandlung“ genannten außerjustitiellen Hinrichtungen waren die am 3. September 1939 von Heydrich erlassenen „Grundsätze der inneren Staatssicherung während des Krieges“. Dieser geheime Runderlass forderte die rücksichtslose Unterdrückung sogenannter Zersetzungsversuche und die „brutale Liquidierung“ der Protagonisten.714 In einem Erlass vom 7. September wurde die Tarnbezeichnung „Sonderbehandlung“ für die angedrohten Exekutionen befohlen.715 Ein zwei Wochen später herausgegebener Durchführungserlass präzisierte die Abgrenzung der Repression „auf dem bis711 Telegramm von SD - Oberabschnitt Süd an SD - HA II /113 vom 5. 4.1939 ( BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1527, Bl. 82). 712 Vgl. Johannes Wrobel, Die öffentliche Hinrichtung des Zeugen Jehovas August Dickmann am 15. September 1939 im KZ Sachsenhausen, URL : http ://www.jwhistory.net / archiv / wrobel / pdf / wrobel - sachsenhausen1999.pdf (24. 3. 2008). 713 Vgl. Liste des Reichsjustizministeriums über 18 Fälle von Erschießungen durch die Polizei in der Zeit von 6. 9.1939 bis 20.1.1940. Abgedruckt in Broszat, Zur Perversion der Straf justiz, S. 412–415; vgl. auch Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 675–689, sowie Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 173–176. Bis Juli 1942 soll es nach Angaben des Reichsjustizministeriums zu mindestens 96 Exekutionen durch die Polizei gekommen sein. Vgl. Wilhelm, Die Polizei im NS - Staat, S. 118. 714 Vgl. Grundsätze der inneren Staatssicherung während des Krieges vom 3. 9.1939 (BArch, R 58, 243, Bl. 202–204). 715 Vgl. Wilhelm, Die Polizei im NS - Staat, S. 117.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

her üblichen Wege“ von der „Sonderbehandlung“. Zu Letzterer zählten „solche Sachverhalte, die hinsichtlich ihrer Ver werf lichkeit, ihrer Gefährlichkeit oder ihrer propagandistischen Auswirkung geeignet sind, ohne Ansehen der Person durch rücksichtsloses Vorgehen ( nämlich durch Exekution ) ausgemerzt zu werden“. Für Heydrich fielen darunter „Sabotageversuche, Aufwiegelung oder Zersetzung von Heeresangehörigen oder eines größeren Personenkreises, Hamsterei in großen Mengen, aktive kommunistische oder marxistische Betätigung usw.“.716 Die „Grundsätze der inneren Staatssicherung“ beruhten auf einer Weisung Hitlers an Himmler vom 3. September 1939, die Ordnung im Innern mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten.717 Hitlers rückwirkende Rechtfertigung für die außernormativen Exekutionen verdeutlicht das zugrunde liegende Denken : er könne „im Einzelfall auch nicht darauf verzichten, weil Gerichte ( Militär und Civil ) den besonderen Verhältnissen des Krieges sich nicht gewachsen zeigten“.718 Eine Wiederholung der revolutionären Situation wie im Herbst 1918 war die große Sorge der Nationalsozialisten. Das Wiederauf leben alter Dolchstoßängste forcierte einen Radikalisierungsschub, der die Grenzen hinter sich ließ, an die der Maßnahmestaat in einer bürgerlich - verrechtlichten Gesellschaft in Friedenszeiten immer wieder stieß.719 Angesichts der Ängste des nationalsozialistischen Regimes vor einem neuen November 1918 erschienen die vorhersehbare und auch angekündigte Verweigerung der Zeugen Jehovas, den Wehrdienst zu leisten, als „offene Sabotage und offener Widerstand“.720 Dieser „Versuch zur Entfachung einer Widerstandsbewegung“721 sollte neben dem außernormativen Terror auch durch die Kriegs - und Sondergerichtsbarkeit gebrochen werden.

3.1

Kriegsdienstverweigerungen durch Zeugen Jehovas

Eine der Lehren, die die nationalsozialistische Bewegung aus der Kriegsniederlage von 1918 zog, war die, einem erneuten Versagen der Gerichtsbarkeit im Kriege vorzubeugen. Bereits wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme erließ die neue Regierung das Gesetz über die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit. Mit dem 1. Januar 1934 nahmen danach Kriegsund Oberkriegsgerichte ihre Arbeit auf.722 Seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Mai 1935 bis zum Kriegsbeginn 1939 wurde Kriegsdienstver716 717 718 719 720

Rundschreiben des RSHA vom 20. 9.1939 ( BArch, R 5, 243, Bl. 215). Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 676. Zit. nach Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 175. Vgl. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 27. RSHA II /113 an RFSS vom 5.10.1939, betr. Die Einstellung der politischen Kirchen und Sekten zur gegenwärtigen Lage ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1163 A. 4] 5706b, Bl. 1509– 1527). 721 Bericht des SD - Oberabschnittes West vom 20. 9.1939 ( BArch, ZB I /1046, A. 8, Bl. 374). 722 Gesetz zur Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit, RGBl. 1933 I, S. 264. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 355.

Phase der voll funktionierenden Herrschaft

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weigerung als Fahnenflucht mit einem Strafrahmen von sechs Monaten Gefängnis bis zu zehn Jahren Zuchthaus geahndet.723 Dieser Strafrahmen wurde allerdings nicht ausgeschöpft, Zeugen Jehovas wurden zumeist mit Strafen zwischen einem und zwei Jahren Gefängnis bedacht.724 Es musste in den Augen der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Partner in Justiz und Militär jedoch auch darum gehen, der neuen Militärjustiz die nötigen Mittel in die Hand zu geben, wollte man verhindern, dass „Zehntausende von Deserteuren [...] ohne besonderes Risiko der Front den Rücken kehren konnten“.725 Das von Hitler verkündete Motto „An der Front kann man sterben, als Deserteur muss man sterben“ sollte fortan alle Diskussionen über neue Kriegsstrafverordnungen bestimmen. In den gemeinsamen Sitzungen des Reichsjustiz - und Reichswehrministeriums ab 1934 ging es auch bald nicht mehr nur darum, Deserteure angemessen zu bestrafen, sondern es sollte auch jegliche „pazifistische Propaganda in Wort und Schrift unmöglich“ gemacht werden.726 Bereits in dieser frühen Phase der nationalsozialistischen Herrschaft tauchen die später in die Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO )727 bzw. die Wehrkraftschutzverordnung728 aufgenommenen Delikte „Zersetzung des völkischen Wehr willens“ und „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Vereinigung“ auf.729 Noch wurde die Todesstrafe „nur“ in Fällen angedroht, wenn „in Kriegszeiten oder in Zeiten drohender Kriegsgefahr [...] öffentlich zur Verweigerung des Kriegsdienstes in der deutschen Kriegsmacht“ aufgefordert wurde. Die im August 1938 erlassene KSSVO sah dagegen in § 5 vor, dass „wegen Zersetzung der Wehrkraft [...] mit dem Tode bestraft [ wird ], wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht“. Die Todesstrafe galt in solchen Fällen als Normalstrafe, es konnte nur in „minder schweren Fällen“ auf Zuchthaus - oder Gefängnisstrafen erkannt werden. Damit wurde „eine alte nationalsozialistische Forderung“ ein723 Vgl. Raumer, Zeugen Jehovas als Kriegsdienstverweigerer, S. 187. 724 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 357–364; Beispiele in Raumer, Zeugen Jehovas als Kriegsdienstver weigerer, S. 187; Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 208; John, „Mein Vater wird gesucht“, S. 160 f. Allerdings unterstanden die Verurteilten auch in der Haft den Militärgesetzen und wurden bei Verweigerung der obligatorischen Exerzierübungen erneut verurteilt. 725 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1937, S. 586. Zit. in Bredemeier, Kriegsdienstverweigerung im Dritten Reich, S. 61. Folgende Zitate ebd. 726 Protokoll der 36. Sitzung der Strafrechtskommission vom 4. 6.1934, Stellungnahme des des Landgerichtsdirektors, Fritz Grau ( BArch, R 3001, 962, Bl. 46–49, hier 46). 727 Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 17. 8.1938, RGBl. 1939 I, S. 1455. § 5 der KSSVO abgedruckt in Hillermeier, „Im Namen des Deutschen Volkes“, S. 143. 728 Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutze der Wehrkraft des deutschen Volkes vom 25.11.1939, RGBl. 1939 I, S. 2319. 729 Strafrechtskommission, Anträge Nr. 54, Berichterstatter Landgerichtsdirektor Fritz Grau, 14. 5.1934 ( BArch, R 3001, 962, Bl. 2 f.).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

gelöst : schon in der Wahlperiode 1928 hatte die NSDAP - Reichstagsfraktion in einem Antrag die Todesstrafe wegen „Wehrverrats“ gefordert, wenn jemand „die Wehrkraft oder den Wehrwillen des deutschen Volkes zu untergraben“ suche.730 Mit dieser Verordnung war erstmals der seit 1918 im nationalkonservativen und nationalsozialistischen Lager kursierende Terminus der „Zersetzung“ einvernehmlich in das Strafrecht übernommen worden. Welche hervorgehobene Rolle kriegsdienstverweigernde Zeugen Jehovas in der Praxis der deutschen Militärgerichtsbarkeit spielten, verdeutlichen die zur Anwendung der KSSVO herausgegebenen Erläuterungen und Grundsätze. So richtete sich der § 5 der KSSVO nach den Erläuterungen der Wehrmachtsrechtsabteilung des OKW insbesondere gegen „pazifistische Bestrebungen, die darauf abzielen, die soldatische Haltung des Volkes zu schwächen oder allgemein die Disziplin zu unterhöhlen. Der Wille, sich gegen Angreifer zu wehren, darf weder aus Feigheit noch aus weltanschaulicher Überzeugung gelähmt werden“. Mit der Formulierung in § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSSVO731 sollte „jede Art von Kriegsdienstver weigerung erfasst werden“.732 Welcher Personenkreis im Konkreten damit gemeint war, veranschaulichten die Rechtsgrundsätze des Reichskriegsgerichts ( RKG ) zum entsprechenden Paragraphen : Gerade bei diesen „hartnäckigen Überzeugungstätern ( Bibelforscher )“ sollte nach Meinung des RKG „wegen der propagandistischen Wirkung [...] nur die Todesstrafe angezeigt sein“733. Die Annahme eines „minder schweren Falles“ war also bei Aufrechterhaltung der eigenen Gewissensentscheidung ausgeschlossen. Wurden die vor dem Tag der Mobilmachung, dem 26. August 1939, einberufenen wehrdienstverweigernden Zeugen Jehovas noch nach dem Militärstrafgesetzbuch zu Gefängnisstrafen verurteilt,734 traf ihre Mitgläubigen nach diesem Stichtag die ganze Härte der Kriegsstrafbestimmungen. Bereits am 13. September 1939 wurde der erste Zeuge Jehovas wegen Kriegsdienstverweigerung durch das RKG zum Tode verurteilt.735 Obwohl für Wehrdienstverweigerer aus Gewissens - und religiösen Gründen das RKG zuständig war, kamen in den ersten Monaten nach Inkrafttreten der kriegsrechtlichen Bestimmungen auch Verfahren vor die unteren Kriegsgerichte. Zwischen dem 26. August und dem 18. November 1939 sind 11 Zeugen Jehovas von diesen zum Tode verur-

730 Zit. in Protokoll der 36. Sitzung der Strafrechtskommission vom 4. 6.1934, Stellungnahme des Ministerialrats im RJM, Fritz Grau ( ebd., Bl. 46–49, hier 48). 731 „Mit dem Tode bestraft wird [...] wer es unternimmt [...] auf eine andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen.“ 732 OKW ( Wehrmachtsrechtsabteilung ), Erläuterungen zu § 5 KSSVO ( Zersetzung der Wehrkraft ) an den Oberbefehlshaber des Heeres vom 10. 6.1940 ( BArch, Militärarchiv Freiburg, RH 53–6/76, Bl. 212–215, hier 213 und 215). 733 Rechtsgrundsätze des Reichskriegsgerichts zu § 5 KSSVO. Zit. nach Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 365. 734 So wurde am 29. 8.1939 der Zeuge Jehovas Berthold Mewes durch das Feldkriegsgericht des Kommandeurs im Luftgau V zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I /1046, A. 8, Bl. 370). 735 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 368.

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teilt worden.736 Einem Bericht des RKG - Präsidenten, Admiral Max Bastian, an den Chef des OKW, Generaloberst Keitel, über die Tätigkeit des RKG in den ersten acht Monaten des Krieges zufolge wurden in diesem Zeitraum von insgesamt 291 Verurteilungen 160 Personen nach § 5 KSSVO bestraft. Dieser Personenkreis umfasste sowohl die „Zersetzung durch Untergrabung der Manneszucht“, die „Wehrkraftzersetzung durch zersetzende Äußerungen in der Öffentlichkeit“ sowie die Fälle von Wehrdienstentziehung. Bastian unterteilte Letztere in Selbstverstümmler, Simulanten und Bibelforscher. 89 Bibelforscher wurden verurteilt, davon 63 zum Tode. Obwohl Bastian meinte, dass „die zu Kriegsbeginn aufgetretene Massendienstverweigerung“ abgeklungen sei,737 steigerte sich die Zahl der Bibelforscherverfahren vor dem RKG bis zum 30. September 1940 auf 152, von denen 112 mit der Todesstrafe endeten.738 Die Zahlen der bis Kriegsende zum Tode verurteilten Zeugen Jehovas lassen sich nur schätzen, da die Wehrmachtskriminalstatistiken ab dem zweiten Kriegsjahr die Bibelforscherverfahren nicht mehr gesondert aufführten. Die Auswertung der in Freiburg lagernden verfilmten RKG - Unterlagen, die aus dem Militärhistorischen Archiv Prag stammen,739 ergibt von 1942 bis 1944 97 wegen Kriegsdienstverweigerung zum Tode verurteilte Bibelforscher.740 Garbe geht von 250 deutschen und österreichischen Zeugen Jehovas aus, die nach kriegsgerichtlichem Todesurteil hingerichtet wurden.741 Obwohl die Militärjustiz die aufgeführten Straftatbestände und die Strafandrohungen der KSSVO erarbeitet und begrüßt hatte, ja sogar noch in Friedens736 Vgl. Übersicht über die durch die Wehrmachtsgerichte in der Zeit vom 26. 8. bis 18.11.1939 zum Tode verurteilten Personen, Anlage eines Schreibens des OKW ( Wehrmachtsrechtsabteilung ) an den Präsidenten des RKG vom 20.11.1939 ( BArch, Militärarchiv Freiburg, Prag - Film M 1001/2, A. 36, Bl. 1 f.). 737 Bericht des Präsidenten des Reichskriegsgerichts an den Chef des OKW vom 30. 5.1940 ( ebd., Bl. 29–33). 738 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 373. 739 Vgl. Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. 740 BArch, Militärarchiv, Prag - Film M 1001, 1004–1010, 1039. Die Auswertung im Hinblick auf die Anzahl der Bibelforscherzahlen gestaltete sich schwierig, da nicht alle Angeklagten offen ihre Zugehörigkeit zur IBV oder den Zeugen Jehovas zugaben. Dennoch kann angenommen werden, dass es sich bei Personen, die angaben, IBV - Literatur zu lesen oder Bibelleser wären und gleichzeitig aus einer anderen Religionsgemeinschaft ausgetreten waren ( Evangelische und Katholische Kirche sowie Baptisten ), ebenfalls um Bibelforscher gehandelt hatte. Die Angaben in der einschlägigen Literatur zu Kriegsdienstverweigerern aus anderen Religionsgemeinschaften ( vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 227, dort auch weitere Literaturangaben ), nach denen Angehörige der Katholischen Kirche (6), der Siebenten - Tags - Adventisten ( Reformationsbewegung ) (5), der Baptisten (1) sowie der Bekennenden Kirche (1) den Wehrdienst verweigerten, muss um die Glaubensgemeinschaften Menschenfreundliche Versammlung ( BArch, Militärarchiv, Prag - Film M 1007/ A 108) und Biblische Glaubensgemeinschaft ( ebd., Prag Film M 1007/ A 30) ergänzt werden. Während erstere eine Abspaltung der IBV ist, sammelten sich unter letzterer auch einige ehemalige Bibelforscher. Diese beiden Fälle (sowie u. U. einige der Verurteilten, die sich nicht explizit zur IBV bekannten ) verdeutlichen, dass die Frage der Wehrdienstverweigerung auch in Kreisen ehemaliger Bibelforscher diskutiert wurde. 741 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 374 f.

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zeiten die Gefahr für die „Schlagfertigkeit und Sicherheit“ betonte, die entstünde, wenn „ein Wehrpflichtiger sich seiner Pflicht entzieht“,742 schreckten die Reichskriegsgerichtsräte zu Beginn des Krieges vor den Konsequenzen ihres Rechtsempfindens zurück. Bereits vor dem 11. September 1939 wurde die Frage der Behandlung der Bibelforscher Hitler vorgetragen, der nach den Erinnerungen des RKG - Präsidenten Bastian den Zeugen Jehovas eine „Sonderstellung“ ver weigerte, weil „er vielfach älteren und alten Familienvätern den Tod im Kampf nicht ersparen könnte. Die Sektierer müssten im Kriegsfalle, also einer Notzeit des Vaterlandes, ihre persönliche Überzeugung einem höheren ethischen Zweck gegenüber zurückstellen.“743 Nach den ersten Urteilsvollstreckungen sprach OKW - Chef Keitel die Problematik erneut bei seinem Obersten Befehlshaber an. Hitler verwies auf die Verluste in Polen. „Wenn er von jedem deutschen Mann, der wehrfähig ist, dieses Opfer fordern müsse, sehe er sich nicht in der Lage, bei ernsthafter Wehrdienstverweigerung Gnade walten zu lassen.“ Mildernde Umstände könnten keine Berücksichtigung finden. „Wenn der Wille des Mannes, der den Wehrdienst verweigere, nicht gebrochen werden könne, müsse das Urteil vollstreckt werden.“744 An diese Vorgaben hielten sich die Richter in den nun folgenden Kriegsjahren. Auch wenn die Entscheidung gegen das „innere Empfinden“ mancher Militärrichter ging, war es doch ausgeschlossen, „aus gerichtsherrlicher Befugnis heraus gegen eine solche Entscheidung des für die Sicherheit des Staates im Kriege erhöht verantwortlichen Staatschefs Einwendungen zu erheben, nachdem im Schoße des Oberkommandos der Wehrmacht diese Entscheidung herbeigeführt worden war“.745 Die widerspruchslose Hinnahme der Militärjustiz gegenüber den Vorgaben Hitlers wird durch exemplarische Entscheidungen des RKG bzw. Weisungen des OKW verdeutlicht, die jede Möglichkeit ausschlossen, die Todesstrafe oder ihre Vollstreckung zu umgehen. Damit auch kein potentieller Verweigerer übersehen werde, sollten Wehrpflichtige, die in irgendeiner Weise noch vor ihrer Einberufung ( z. B. bei der Musterung oder im Briefverkehr mit den Wehrersatzämtern ) ihre Absicht äußerten, den Wehrdienst zu verweigern, „unverzüglich“ zum aktiven Wehrdienst eingezogen werden.746 Auch die Frage einer möglichen Wehrdienstuntauglichkeit war für die Verurteilung eines Kriegsdienstver weigerers unerheblich, denn „eine etwaige Wehrdienstunfähigkeit berührt das durch die Gestellungspflicht begründete Verhältnis nicht“.747 Sogar 742 RKG, Urteil vom 20.1.1938. Zit. nach ebd., S. 369. 743 Max Bastian, Meine Erinnerungen, Weihnachten 1956 ( BArch, Militärarchiv, N 192–1 ( Nachlass Max Bastian ), S. 56). 744 Der Chef des OKW, Schreiben vom 1.12.1939 ( BArch, Militärarchiv, RH 53–6/76, Bl. 168). 745 Max Bastian, Meine Erinnerungen, Weihnachten 1956 ( BArch, Militärarchiv, N 192–1 [Nachlass Max Bastian ], S. 56). 746 Vgl. Geheime Rundverfügung des OKW vom 8.11.1940 ( BArch, Militärarchiv, RH 15– 221, unpaginiert ). 747 Feldurteil des 3. Senats des RKG vom 29.1.1940 StPl ( HLS ) III 8/40. In : Entscheidungen des Reichskriegsgerichts. Hg. als Kameradschaftsarbeit von Angehörigen des Reichskriegsgerichts. 2. Band, 1. Heft, Berlin 1940, S. 51.

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eine militärärztliche Feststellung der Wehrdienstuntauglichkeit verhinderte bei Verweigerung nicht die Verurteilung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 KSSVO, da nach Meinung des RKG auch der „untaugliche Versuch“ als Wehrdienstentziehung zu werten wäre.748 Die Weigerung, den Fahneneid auf Hitler zu leisten – von Zeugen Jehovas ebenso wie der Hitlergruß als religiöses Bekenntnis zu einem Menschen abgelehnt – wurde nicht als Tatbestand der Gehorsamsver weigerung (nach §§ 94, 95 MStGB ), sondern ebenso unter dem Begriff der Wehrkraftzersetzung subsumiert.749 Den militärischen Notwendigkeiten musste sich auch eine Bewertung „der Person des einzelnen Täters“ unterordnen. Nicht diese war entscheidend, auch nicht eine etwaige verminderte Zurechnungsfähigkeit nach § 51 StGB, „denn die Kriegsnotwendigkeiten gehen in der gegenwärtigen Lage Deutschlands allen anderen Erwägungen vor“.750 Diese richtungsweisenden Entscheidungen und Vorgaben konterkarieren alle nachträglichen Versuche, die Spruchpraxis des RKG zu beschönigen.751 Es ging eben nicht darum, „den § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung den Bibelforschern gegenüber mit einem weitest gehenden Verständnis an[ zu ]wenden und jede Rücksicht [ zu nehmen ], die der gebotenen Staatssicherheit und damit der gegebenen Weisung gegenüber nur irgendwie vertretbar war“.752 Auf mildernde Umstände konnte nur hoffen, wer seine Gewissensentscheidung revidierte. Auch wenn sich Angehörige der Militärjustiz in Gesprächen mit den Verweigerern oftmals um einen Sinneswandel bemühten753 und zu diesem Zwecke auch Gespräche mit Gefängnisgeistlichen754 oder sogar Angehörigen ermöglichten,755 ging es doch stets darum, den „Willen zu brechen“, wie es Hitler formuliert hatte.756 Auf Verständnis für ihre Gewissensentscheidung durften Wehrdienstverweigerer nicht hoffen. Sie galten als ehrlos. In den Urteilen wurde mit Ver weis auf die dem „Verhalten innewohnende Werbekraft“ die Todesstrafe mit ihrer abschreckenden Wirkung begründet. Diese formale Floskel stand allerdings im Widerspruch zu der Weisung des OKW, die Nachrichten über die Vollstreckung von Todesurteilen an Bibelforschern 748 Feldurteil des 2. Senats des RKG vom 20. 2.1940, StPl. ( HLS.) II 18/40. In : ebd., S. 59 f. 749 Vgl. Schreiben des OKH vom 1. 3.1940 ( BArch, Militärarchiv, RH 53–6/76, Bl. 186– 189, hier 188 f.). 750 Feldurteil des 3. Senats vom 3. 5.1940, StPl ( HLS ) III 25/40. In : Entscheidungen des Reichskriegsgerichts. Hg. als Kameradschaftsarbeit von Angehörigen des Reichskriegsgerichts. 2. Band, 1. Heft, Berlin 1940, S. 63 f. 751 Vgl. die Auseinandersetzung mit derartigen Wertungen bei Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 375. 752 Max Bastian, Meine Erinnerungen, Weihnachten 1956 ( BArch, Militärarchiv, N 192–1 [ Nachlass Max Bastian ], S. 57). 753 Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 371, Hartwich / Stegmann, Dorsten unterm Hakenkreuz, S. 138 f., Niekisch, Gewagtes Leben, S. 347 f. 754 Vgl. Poelchau, Die letzten Stunden, S. 38. 755 Max Bastian, Meine Erinnerungen, Weihnachten 1956 ( BArch, Militärarchiv, N 192–1 [ Nachlass Max Bastian ], S. 57). 756 Vgl. Der Chef des OKW, Schreiben vom 1.12.1939 ( BArch, Militärarchiv, RH 53–6/76, Bl. 168).

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nicht öffentlich zu plakatieren.757 Für RKG - Präsident Bastian waren für diese Entscheidung sowohl die Gefahr, dass eine „solche Veröffentlichung vom feindlichen Ausland nur zu einer gegen Deutschland gerichteten Propaganda ausgenützt würde“, als auch die fehlende abschreckende Wirkung in Bibelforscherkreisen, die „vielmehr in ihrem Fanatismus als Märtyrer gestärkt würden“, ausschlaggebend.758 Die Hoffnung, dass „die zu Kriegsbeginn aufgetretene Massenverweigerung der Bibelforscher abgeklungen“ sei und vor allem „nur noch verhältnismäßig wenig junge wehrdienstver weigernden Bibelforscher“ in Erscheinung träten,759 erfüllte sich nicht. Von einem „reinigenden Gewitter“, das nach der Hinrichtung von 130 Glaubensgenossen „Tausende ähnlich Gesinnter“ zur Aufgabe ihres Vorhabens bewegt hätte,760 konnte keine Rede sein. Zwar gingen die Zahlen im Vergleich zum ersten Kriegsjahr wirklich zurück, verblieben aber auf einem hohen Niveau. So wurden nach den ( unvollständigen ) Unterlagen des Reichskriegsgerichtes 1942 29, 1943 50 und 1944 18 Bibelforscher761 zum Tode verurteilt.762 Überproportional vertreten waren wohl Gläubige, die das 31. Lebensjahr überschritten hatten, doch auch die Altersgruppe bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres hatte sich nicht von der Strafandrohung abschrecken lassen.763 Die Urteilspraxis aber vor allem die Vollstreckungsquote764 verdeutlichen, dass es sich bei den Urteilen gegen kriegsdienstverweigernde Zeugen Jehovas (wie natürlich auch gegen die aus anderen Glaubensgemeinschaften ) nicht um eine kriegsbedingte Strafverschärfung handelte. Die deutsche Militärjustiz machte sich ( wie auch ihr ziviles Pendant ) zu Exekutoren einer Vorstellung, nach der „jeder, der sich aktiv oder passiv aus der Volksgemeinschaft ausschließe, von der Volksgemeinschaft liquidiert werde“.765 Ein Vergleich mit der Strafpraxis der demokratisch verfassten Kriegsgegner Deutschlands zeigt, dass es in den angloamerikanischen Ländern wohl zu Kon757 Vgl. Schreiben des OKH vom 17.10.1939 betr. Bekanntmachung von Todesurteilen gegen „Ernste Bibelforscher“ wegen Ver weigerung des Fahneneides und des Kriegsdienstes ( BArch, Militärarchiv, RH 53–6/76, Bl. 139). 758 Bericht des Präsidenten des Reichskriegsgerichts an den Chef des OKW vom 30. 5.1940 ( BArch, Militärarchiv Freiburg, Prag - Film M 1001/2, A. 36, Bl. 29–33, hier 32). 759 Ebd. 760 Picker, Hitlers Tischgespräche, Eintrag vom 7. 6.1942, S. 360. Eine quellenkritische Würdigung dieser Aufzeichnungen vgl. Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, S. 13–18. 761 Seit der zweiten Kriegshälfte konnten auch die unteren Kriegsgerichtsinstanzen wieder gegen Verweigerer aus Gewissensgründen urteilen. Die angegebenen 18 Verurteilungen stellen also nur die Strafpraxis des RKG dar und nicht die gesamte Zahl an Todesurteilen. Vgl. den Fall des durch das Divisionsgericht 404 am 24. 3.1944 zum Tode verurteilten Bibelforschers Hugo Henschel ( AGMPD ). 762 Zahlen nach BArch, Militärarchiv, Prag - Film M 1001, 1004–1010, 1039. 763 Prozentuale Verteilung der Alterskohorten für 1942 : 34,5 % bis 21. Lebensjahr ( LJ ), 17,2 % bis 31. LJ, 41,4 % bis 41. LJ, 6,7 % älter als 41 Jahre; für 1943 : 12 % bis 21. LJ, 20 % bis 31. LJ, 38 % bis 41. LJ, 30 % älter als 41 Jahre; für 1944 : 22,2 % bis 21. LJ, 5,6 % bis 31. LJ, 38,9 % bis 41. LJ, 33,3 % älter als 41 Jahre. 764 Lediglich jedes fünfte Urteil wurde nicht bestätigt oder auf dem Gnadenweg aufgehoben. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 375. 765 Picker, Hitlers Tischgespräche, Eintrag vom 7. 6.1942, S. 360.

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flikten mit den dortigen Zeugen Jehovas wegen ihrer Verweigerung des Wehr und Zivildienstes gekommen war. Es gab sowohl Einschränkungen für die öffentliche Betätigung der Glaubensgemeinschaft ( in Kanada sogar ein kurzzeitiges Verbot ) als auch Verurteilungen der einzelnen Ver weigerer. Die Spannungen wurden jedoch ( in je unterschiedlichem Maße ) abgemildert durch Unterstützerkomitees für Wehrdienstverweigerer ( Großbritannien ) oder gesellschaftlichen Druck ( Kanada ). Trotz des auch hier auftretenden Gegensatzes zwischen staatlicher Forderung und persönlicher Verweigerung sind diese Gesellschaften ein Beispiel dafür, dass in demokratisch verfassten Staaten „auch in schwerer Bedrängnis Kompromisse bei der Behandlung Andersdenkender“ zugelassen werden können.766

3.2

Die zivile Justiz im Kriege

Die außerjustiziellen Erschießungen durch die Polizei riefen bei der Justiz eine starke Beunruhigung hervor. Reichsjustizminister Gürtner hatte von ihnen erst aus der Presse erfahren. Wie um Hitlers nachträgliche Begründung für diese offene Polizeijustiz, nach der die Gerichte sich „den besonderen Verhältnissen des Kriegs nicht gewachsen zeigten“,767 zu widerlegen, wurden die Vorsitzenden der Sondergerichte und die Leiter der dortigen Staatsanwaltschaften am 24. Oktober 1939 in das Reichsjustizministerium einberufen, um sie auf die neuen Erwartungen in Kriegszeiten einzuschwören. Gegenstand der Tagung waren die Aufgaben der zivilen Justiz bei der Aufrechterhaltung der „inneren Front“. Wie schon bei der Erarbeitung der Kriegsstrafgesetze waren sich auch diesmal nationalsozialistische und nationalkonservative Juristen darin einig, dass es Aufgabe der Justiz sein müsse, alles zu unternehmen, damit nicht erneut die Heimat der kämpfenden Truppe in den Rücken falle. Der einführende Vortrag des nationalsozialistischen Justizstaatssekretärs Freisler endete mit den Worten „Was aber ist dem recht, der dem Volk den Dolch in den Rücken stößt, wenn der Soldat des Volkes die Brust im Kampf dem Tod darbietet ? – Die Frage stellen heißt : sie beantwortet zu haben !“ Sein nationalkonservativer Minister parierte ebenso markig : „Ähnlich wie bei einer Truppe [...], bei der nicht von vornherein mit härtesten Mitteln die Aufrechterhaltung der Disziplin durchgesetzt wird, genauso ist es im gesamten deutschen Volk“ und forderte die „Umwertung der Friedenswerte im Strafrecht“. Die Drohung Hitlers, er könne auch in Zukunft nicht auf außerjustizielle Hinrichtungen verzichten,768 zeigte Wirkung : Ministerialdirektor Crohne forderte, dass „gegen

766 Lahrtz, Die Zeugen Jehovas, S. 44; weitere Literaturangaben in Raumer, Zeugen Jehovas als Kriegsdienstverweigerer, S. 199 ( FN 30). 767 Zit. nach Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 679; vgl. auch Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 175. 768 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 679.

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Schwerstverbrecher [...] in Kriegszeiten die zugelassene Todesstrafe grundsätzlich die gebotene“ wäre.769 Am 11. März 1940 errichtete das Reichsjustizministerium in praktisch jedem Landgerichtsbezirk ein Sondergericht. Gerichtsverfassungsrechtlich waren diese Strafkammern der Landgerichte, besetzt mit drei Berufsrichtern. Die Propaganda gab ihnen martialische Beinamen : Sie hießen „Kriegsgerichte der inneren Front“ oder „Panzertruppe der Rechtspflege“; die Staatsanwaltschaft war in dieser waffenklirrenden Metaphorik die „Kavallerie der Rechtspflege“. Mit Kriegsbeginn veränderten sich die vor den Sondergerichten verhandelten Straftaten weitgehend. Die politischen Delikte spielten zwar immer noch eine erhebliche Rolle; das Geschehen wurde jedoch weit stärker durch Delikte bestimmt, die mit dem Krieg in Zusammenhang standen. Der „innere Feind“ war für die Justiz nicht mehr der schon längst mit polizeilichen Mitteln wie Schutzhaft oder Liquidierung bekämpfte politische Gegner, sondern der „Volksschädling“ und der „Kriegsschieber“.770 Die alles beherrschende Rechtsvorschrift stellte die sofort im September 1939 erlassene „Volksschädlingsverordnung“771 dar. Grundsätzlich konnte nach dieser Verordnung nahezu in jedem Fall die Todesstrafe verhängt werden. Alle Straftaten nach Einbruch der Dunkelheit konnten als „Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegerangriffen getroffenen Maßnahmen“ – der Verdunkelung – angesehen werden. Nach den Massenverhaftungen der Jahre 1937 und 1939 und den anschließenden Verurteilungen durch Sondergerichte bis 1938 ging die Anzahl der Bibelforscher verfahren ab 1939 rapide zurück.772 Mit der Zerschlagung der reichsweiten illegalen Strukturen und der Verhaftung eines großen Teils der Aktivisten praktizierten viele Zeugen Jehovas ihren Glauben nur noch in der mehr oder weniger sicheren Privatsphäre.773 Nach 1938 gelang es außerdem nur noch vereinzelt, regionale Strukturen zu organisieren, die bei Entdeckung

769 770 771 772

Zit. nach Bästlein, Sondergerichte in Norddeutschland, S. 225. Vgl. Weckbecker, Zwischen Freispruch und Todesstrafe, S. 769. Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. 9.1939 ( RGBl. 1939 I, S. 1679). Vgl. die Angaben für Verfahren vor dem Sondergericht Freiberg bei Lahrtz, Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit in Sachsen : 1937 : 859 Personen ( S. 225 f.), 1938 : 48 Personen ( S. 252 f.), 1939 : 6 Personen ( S. 263 f.), sowie für das 1940 eingerichtete Sondergericht Dresden ( unvollständige Überlieferung ) 1940 : 2 Personen ( S. 343). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 511 über Verfahren vor Sondergerichten gegen Hamburger Zeugen Jehovas : 1937 : 19, 1938 : 161, 1939 : 5, 1940 : 3. 773 Der totale Leistungsanspruch des nationalsozialistischen Regimes, zumal in Kriegszeiten, war für die Bibelforscher aufgrund ihres Glaubens noch weitaus problematischer als für NS - Gegner aus der Arbeiterbewegung. Nicht alle konnten oder wollten sich an der organisierten illegalen Arbeit beteiligen. Der Rückzug in die Privatsphäre half dann nichts, wenn es um Fragen der persönlichen Gewissensentscheidung ging, wie in Fragen des Wehrdienstes, des Luftschutzes oder anderen Tätigkeiten im weiteren Umfeld der Kriegsanstrengungen ( Rüstungsarbeiten, Reichsarbeitsdienst ). Vgl. Imberger, Widerstand „von unten“, S. 375.

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dann zu Strafverfahren führten.774 Dennoch wurde die rigide Strafpraxis gegenüber den Bibelforschern nicht eingestellt, sondern auf neuer, verschärfter Grundlage weitergeführt. Zwar meinte der Präsident des RKG, das bis Mai 1940 exklusiv für Verfahren nach § 5 KSSVO zuständig war, dass „die Fälle angezeigter öffentlicher Wehrkraftzersetzung ( § 5 Abs. 1 Nr. 1 KSSVO ) [...] trotz der absoluten Höhe ihrer Zahl relativ im Vergleich zur Bevölkerungsanzahl nicht besonders bedeutsam und für die Gesamthaltung der Heimat ohne tiefere Bedeutung“ wäre.775 Die neuen Kriegsstrafbestimmungen wurden ab dem 1. Juni 1940 der alleinigen Kompetenz des RKG entzogen. Zivilpersonen wurden ab diesem Zeitpunkt für „Wehrkraftzersetzung“ bzw. „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung“ vor den Sondergerichten angeklagt. Gerade Letztere fand nun regelmäßig gegen Zeugen Jehovas Anwendung. Sie bestimmte, dass wer an einer „wehrfeindlichen Verbindung teilnimmt oder sie unterstützt“ mit Zuchthaus und nur in minder schweren Fällen mit Gefängnis bestraft wird. Dass diese Strafvorschrift wie geschaffen für ein verschärftes Vorgehen gegen die Bibelforscher war, bewiesen die dazugehörigen ministeriellen Kommentare, nach denen unter den Terminus „wehrfeindliche Verbindung“ auch Personengruppen fielen, „die eine wehrfeindliche Gesinnung auf einer sektiererisch - religiösen Grundlage unter Verzicht auf jede Organisation“ verbindet. Damit auch keine Zweifel aufkämen, wurde konkretisiert : „Ein Beispiel für eine wehrfeindliche Verbindung sind die Internationalen Bibelforscher.“776 Da unter „Teilnahme“ und „Unterstützung“ auch das bloße Bekenntnis zu einer solchen Verbindung gewertet wurde, eignete sich diese Strafbestimmung außerordentlich zur Aburteilung einfacher Gläubiger, während die Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 KSSVO den Organisatoren des Glaubenslebens vorbehalten blieb. Damit war der Strafrahmen für die Ahndung von Bibelforscheraktivitäten radikal verschärft : einfachen Gläubigen drohte die Zuchthausstrafe, Funktionären der Tod. Die Todesstrafe blieb keine leere Drohung. Am 18. März 1941 verurteilte das Sondergericht Dresden den Bibelforscher Ludwig Cyranek zum Tode, seine fünf Mitangeklagten zu Zuchthausstrafen zwischen drei und zwölf Jahren. Cyranek war es gelungen, Verbindung zu den nach der Zerschlagung der reichsweiten Bibelforscherorganisation verstreuten lokalen Gruppen herzustellen und mit 774 Allein in den Gebieten, die wie Österreich und das Sudetenland 1938 an das Reich angegliedert wurden und in denen es erst ab 1939/40 rechtliche Grundlagen für die strafrechtliche Ahndung von Glaubensaktivitäten gab, scheint es zu verstärkten strafrechtlichen Aktivitäten gekommen zu sein. Vgl. die aufgeführten Urteile der Sondergerichte Wien und St. Pölten in Widerstand und Verfolgung in Wien, S. 161–185; Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich, S. 283 f., 291, 295 f., 299–302; sowie die ( rudimentären ) Unterlagen des Sondergerichtes Leitmeritz in Státní oblastní archiv v Litoměřicích, Pracoviště Most ( Bestand OLG Leitmeritz ). 775 Bericht des Präsidenten des Reichskriegsgerichts an den Chef des OKW vom 30. 5.1940 ( BArch, Militärarchiv Freiburg, Prag - Film M 1001/2, A. 36, Bl. 29–33, hier 31). 776 Zit. nach Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 346.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

Hilfe des inzwischen für Deutschland und Österreich verantwortlichen Bibelhauses in Heemstede in den Niederlanden auch die Belieferung mit Literaturabschriften zu organisieren. Durch einen V - Mann der Dresdner Gestapo verraten, wurde er am 1. März 1940 in Dresden festgenommen ( vgl. auch den folgenden Abschnitt ). In der 44- seitigen Urteilsbegründung wurden ausgiebig die von den Angeklagten verbreiteten Literaturabschriften zitiert, um aus der dort geäußerten Ablehnung des Kriegsdienstes, der Schilderung der Verfolgung der Zeugen Jehovas oder der Darstellung des „Faschismus, Nazismus und Kommunismus [...] als teuf lische Werkzeuge“ gegen die „treuen Knechte Jehovas“ nicht nur den wehrfeindlichen, sondern auch den staatsfeindlichen Charakter der IBV zu begründen. Da die Angeklagten diese Abschriften auch weiterverbreiteten und so öffentlich tätig waren, wurden sie auch wegen Zersetzung der Wehrkraft verurteilt. Jeder, der sich dem Deutschland „aufgezwungenen Kriege [...] entgegenstellt, stellt sich selbst außerhalb jeder Volksgemeinschaft und muss aufs schärfste mit allen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mitteln bekämpft werden“. Die Handlung der Angeklagten wäre „eine derart schwere und in Kriegszeiten in ihrer verderblichen Auswirkung kaum noch zu überbietende Straftat“, für die § 5 KSSVO „grundsätzlich die Todesstrafe“ androhe. Einen „minder schweren Fall“ mochte das Gericht bei Cyranek nicht erkennen.777 Der 33 - Jährige wurde am 4. Juli 1941 in Dresden enthauptet.778 Das Urteil wurde sowohl in der lokalen als auch in der überregionalen Presse verbreitet.779 Waren ursprünglich nur die Kriegsgerichte für die Ahndung des § 5 KSSVO zuständig,780 radikalisierte sich die Spruchpraxis, wie gezeigt wurde, durch die Übertragung der Zuständigkeit für Zivilisten an die Sondergerichte im Juni 1940.781 Eine erneute, nun im Zeichen der bevorstehenden Kriegsniederlage stehende Verschärfung trat mit Zuweisung der Fälle von Wehrkraftzersetzung an den Volksgerichtshof im Januar 1943782 ein.

777 Urteil des Sondergerichts Dresden gegen Ludwig Cyranek und 5 Andere vom 18. 3.1941 (16 b KLs / SG 35/41) ( Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, ZH Waldheim Nr. 41058, Haftakte Franz Massors ). 778 Cyraneks Abschiedsbrief ist abgedruckt in: Du hast mich heimgesucht bei Nacht, S. 341; Schröder, Vom Leben und Sterben des Bibel - Forschers Ludwig Cyranek, S. 34–41. 779 Vgl. Der Angriff vom 21. 3.1941: „Saboteure des Luftschutzes. Haupträdelsführer der Bibelforscher zum Tode verurteilt“; Der Freiheitskampf vom 21. 3.1941: „Verbrecher an der deutschen Wehrkraft“; Sächsische Volkszeitung vom 21. 3.1941: „Bibelforscher zum Tode verurteilt. Verbrechen an der Wehrkraft des deutschen Volkes“. 780 Kriegsstrafverfahrensordnung vom 17. 8.1938, RGBl. 1939 I, S. 1457. 781 7. Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Kriegsstrafverfahrensordnung vom 18. 5.1940, RGBl. 1940 I, S. 787. 782 Verordnung zur Ergänzung und Abänderung der Zuständigkeitsverordnung vom 29.1.1943, RGBl. 1943 I, S. 76.

Phase der voll funktionierenden Herrschaft

3.3

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Der Einsatz von V - Leuten

Mit der Verhaftung Cyraneks wurde der letzte Versuch der IBV, in Deutschland eine überregionale Organisationsstruktur zu etablieren, zerschlagen. Dieser Vorgang beleuchtet das Zusammenwirken von SD und Gestapo sowie die Arbeit mit V - Leuten. Im Sommer 1937 wurde dem SD - Referenten in Berlin erstmals bekannt, dass die Stapostelle in Dresden über einen V - Mann in den Reihen der Bibelforscher verfügt.783 Dieser V - Mann, Hans Müller, entstammte einem Pirnaer Bibelforscherelternhaus. Bereits 1920 schlossen sich seine Eltern der Glaubensgemeinschaft an und traten samt ihrer Kinder aus der Kirche aus.784 1932 ließen sie sich dann taufen. Müller wurde 1935 verhaftet und vom Sondergericht Freiberg zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er aus dem Sudetengebiet Bibelforscherliteratur geholt und verteilt hatte.785 Seit dieser Zeit scheint er Informant der Gestapo gewesen zu sein.786 Seine eigene Verfolgungsgeschichte und die seiner Familie787 halfen ihm, in Dresden bis zum Gruppendiener aufzusteigen. Sein guter Leumund, auch durch seine Familie bestätigt, schützte ihn auch später vor aller Skepsis und allem Misstrauen an seiner Loyalität gegenüber den Glaubensgenossen.788 Von Müller kam der Hinweis auf einen Treffpunkt, bei dem der BDL für Sachsen, August Fehst, verhaftet werden konnte.789 Kolrep fasste nun den Plan, Müller auf den Posten eines BDL zu schieben. Damit hoffte man, Kontakt mit der Reichsleitung herstellen und so die Organisation komplett zerschlagen zu können.790 Um diesem Ziel näher zu kommen, sollten alle anderen möglichen Kandidaten ausgeschaltet und Müller zum Beweis seiner Standhaftigkeit wegen 783 Vgl. Bericht von SD - HA II /1134 an II /1 vom 8. 7.1937, Bericht über eine Dienstreise des SS - Untersturmführers Kolrep nach Dresden ( BArch, Zwischenarchiv DahlwitzHoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 784 Der Vater war verhaftet worden und starb später im Konzentrationslager Dachau, der Bruder konnte sich der Verhaftung durch Flucht entziehen und arbeitete als Pionier in Holland. Vgl. Herbert Müller, Ein Glaube, der zurück nicht schrickt. In : Wachtturm vom 1.11. 2000, S. 22–27, hier 22. 785 Abschrift des Urteils des LG DD vom 18. 3.1935 (16 StA 4666/34) gegen Hans Müller u. a. ( SächsHStAD, Sondergericht Freiberg, Karton 173, Az. : Kms / SG 107/35, Bl. 14– 16). 786 Vgl. Bericht von SD - HA II /1134 an II /1 vom 8. 7.1937, Bericht über eine Dienstreise des SS - Untersturmführers Kolrep nach Dresden ( BArch, Zwischenarchiv DahlwitzHoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 787 Vgl. Herbert Müller, Ein Glaube, der zurück nicht schrickt. In : Wachtturm vom 1.11. 2000, S. 22–27, hier 24. 788 Berichte über Loyalitätsbekundungen von Harbeck und Winkler in Lebensbericht von Otto Hartstang (1970) sowie Erinnerungsbericht Gertrud Krämer ( geb. Eichler ), SCA 26. Feb. 1974 ( beide WTA ). Seine Familie zweifelt noch heute an der Spitzeltätigkeit Müllers. Vgl. Auskunft des Leiters des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas, Selters, vom 30.1. 2002. 789 Vgl. Bericht von SD - HA II /1134 an II /1 vom 8. 7.1937, Bericht über eine Dienstreise des SS - Untersturmführers Kolrep nach Dresden ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 790 Müller scheint von der für Schlesien zuständigen Gertrud Pötzinger für seinen „Dienst“ angeleitet worden zu sein. Vgl. Pötzinger, „Ruhig trage, dulde, aber seh ...“, S. 391 f.

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Verweigerung des Hitler - Grußes aus seiner Arbeit entlassen werden.791 Letzteren Vorschlag umzusetzen, war aber gar nicht nötig, da es gelang, den Landesdiener Wandres bei einem Treff in Dresden festzunehmen. Außerdem erwies es sich als günstiger, mit Ver weis auf die Arbeit bei der Dresdner Straßenbahn, Müller als Organisator im Hintergrund zu platzieren, der nicht wie die meisten anderen Funktionäre in der Illegalität lebte.792 Im Dezember 1937 traf sich Müller dann mit dem bis dato für Deutschland zuständigen Leiter des Bibelhauses in Prag, Heinrich Dwenger, und dem WTGBeauftragten Harbeck und fuhr gemeinsam mit diesen nach Bern. Dort wurde zusammen mit dem zukünftig für Deutschland zuständigen Arthur Winkler das Reichsgebiet neu verteilt.793 Vier Funktionäre sollten zukünftig als Gebietsleiter die Arbeit und die Literaturverteilung koordinieren. Müller wurde unter dem Decknamen „Hans Dittrich“ zuständig für Oberschlesien, Sachsen, Halle - Merseburg, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg, Pommern und Ostpreußen.794 Kurz nach ihrem Eintreffen in Deutschland konnten die frisch eingesetzten Gebietsleiter Walter Kirsch795 sowie Julius Riffel796 festgenommen werden. Auch die an ihre Stelle getretenen Otto Hartstang ( April 1938)797 und Maria Hombach ( August 1938)798 lieferte Müller der Gestapo aus. Nach Angliederung des Sudetenlandes erhielt Müller eine neue Aufgabe. Unter arbeitsteiliger Aufsicht von Gestapo und SD versorgte er die dortigen Gläubigen mit Literatur. Als seinen Vertreter konnte er sogar den zuständigen Dresdner SD - Sekten - Referenten Obersturmführer Knorr als „Glaubensbruder Rudi“ einführen,799 der ihn künftig auch auf seinen Reisen begleitete. Obwohl laut ihres Erinnerungsberichts die für das Gebiet zuständige Gertrud Eichler

791 Vgl. ebd. 792 Vgl. Brief an Ludwig Cyranek ( Geheimname „Horst“) über die Deckadresse : Martha Neuffer in Stuttgart vom 9.1.1940 : „Er ist bei der Straßenbahn, kann darum auch nicht die Interessen des Werkes richtig wahrnehmen.“ ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 793 In Erinnerungsberichten ( und in der sich an ihnen orientierenden Literatur ) wird als Ort der Besprechung Oldenzaal in den Niederlanden angegeben. Das stimmt nur insoweit, als dass die in Bern nicht Anwesenden dort über die Organisationsstruktur informiert wurden. Vgl. Auszug aus dem Lebensbericht von Otto Hartstang (1970) ( WTA ), sowie Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 72 f. 794 Vgl. Meldung von SD - HA II /1134 an Heydrich vom 7.1.1938, 4. illegale Organisation der IBV ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert). 795 Vgl. ebd. 796 Vgl. Vernehmungsprotokoll von Julius Riffel vom 21. 2.1938 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I /1279, unpaginiert ). 797 Vgl. Auszug aus dem Lebensbericht von Otto Hartstang (1970) ( WTA ). 798 Hombach wurde allerdings schon nach fünf Monaten wieder entlassen. Sie wurde dann im Zuge der Verhaftung von Cyranek erneut, diesmal endgültig, inhaftiert. Vgl. SD - Leitabschnitt Dresden an RSHA II 113 vom 14. 3.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 799 Vgl. Bericht über den Neuaufbau der illegalen Bibelforscher - Vereinigung, Bericht über die Dienstreise des SS - Hauptsturmführers Kolrep nach Dresden vom 6.–10. 2.1940 (ebd.); Bericht über eine Dienstreise in Sachen illegale I. B. V. vom 15. 2.1940 (ebd.).

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Verdacht schöpfte800 – Müller forderte von ihr die Namen und Adressen aller Personen, die mit Literatur versorgt würden – gelang es Müller, alle Bedenken zu zerstreuen. Knorr wurde sogar gebeten, neugewonnene Gläubige zu taufen.801 Nachdem genügend Informationen über den Aufbau der illegalen Strukturen im Sudetenland vorhanden waren, gab es auch keinen Grund mehr, mit der Verhaftung der dort bekannt gewordenen Bibelforscher zu warten.802 Am 10. Dezember 1939 wurden die sieben als Funktionäre bekannten Zeugen Jehovas und danach noch etwa 22 weitere in Haft genommen. Allerdings stand die Gestapoleitstelle Reichenberg nun vor einem Problem : Da die illegalen Aktivität „der Gertrud Eichler und einiger ihrer Glaubensgeschwister besonders bedingt wurde durch das Verhalten eines gewissen Hans Müller aus Dresden“ und „Hans Müller [...] identisch mit dem V - Mann der Staatspolizeileitstelle Dresden“ war, hielt es der dortige Kriminaloberassistent „für unzweckmäßig, die Einleitung eines Strafverfahrens [...] zu veranlassen“. Er stellte stattdessen den Antrag „auf eine längere Inschutzhaftnahme“.803 Zwei Gründe veranlassten ihn zu dieser Entscheidung : Zum einen wäre bei einem Strafverfahren die Rolle Müllers bekannt geworden, zum anderen hätte es wohl Probleme mit der Justiz über die Strafbarkeit der Handlungen gegeben, da nach Meinung des Reichsjustizministeriums V - Leute nicht als agent provocateur eingesetzt werden dürften.804 Auch von der Staatspolizeistelle Osnabrück ist die kontrollierte Abgabe von Bibelforscherliteratur überliefert. Mit Genehmigung des Gestapa erfolgte die Literaturverteilung an die von Arthur Winkler genannten Anschriften, die der Stapo Osnabrück durch V - Personen ( IBV - Kuriere ) mitgeteilt wurden. Die jeweils bestellten Druckschriften wurden bei verschiedenen Postanstalten in Deutschland aufgegeben. Die Stapo Osnabrück konnte somit in diesen Fällen die illegale Tätigkeit überwachen und „zu einer zweckmäßigen Zeit die erforderlichen Maßnahmen durchführen“.805 Kurz vor Kriegsbeginn erhielt Müller wieder Kontakt zu Winkler nach Holland.806 Der hatte inzwischen Ludwig Cyranek mit der Reorganisation des Netzwerks beauftragt. Zu diesem Zweck wurde das Reichsgebiet in ein westliches und ein östliches Teilstück gegliedert.807 Während Cyranek für den Westen 800 Erinnerungsbericht Gertrud Krämer ( geb. Eichler ) vom 26. 2.1974 ( WTA ). 801 Vgl. Bericht des V - Mannes über ein Treffen am 17.10.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 802 Vgl. Bericht des SD - Leitabschnittes Dresden an RSHA, II /1134, Illegale IBV im Sudetengau vom 16.11.1939 ( ebd.). 803 Bericht der Stapoleitstelle Reichenberg über die Aktion gegen die IBV am 10.12.1939 (ebd.). 804 Vgl. Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 715. 805 Bericht der Stapostelle Osnabrück vom 6.12.1938 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 806 Vgl. Treffbericht des SS - Obersturmführers Knorr mit V - Mann Müller, o. D. ( nach dem 6. 9.1939) ( ebd.). 807 Vgl. Urteil des Sondergerichts Dresden gegen Ludwig Cyranek und 5 Andere vom 18. 3.1941 (16 b KLs / SG 35/41) ( Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, ZH Waldheim Nr. 41058, Haftakte Franz Massors, S. 7).

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Deutschlands ( und nach der Zerschlagung der österreichischen Organisation im April und Mai 1939 auch für Österreich ) zuständig war, griff man für den östlichen Part wiederum auf Müller zurück.808 Müller hatte drei Aufgaben für seine Auftraggeber zu übernehmen : Wie schon für das Sudetengebiet nahm er Kontakt zu Bibelforscherversammlungen im östlichen Deutschland auf ( Berlin, Velten, Küstrin, Elster werda,809 Freiberg810, Freital811), überbrachte Literaturabschriften und sammelte Adressmaterial, dass nach seiner Abreise dann zur Überführung der dortigen Aktivisten genutzt wurde. Außerdem schaffte es Müller ( zusammen mit Knorr alias „Rudi“), die beteiligten Bibelforscheraktivisten zur Kontaktaufnahme bzw. Materialanlieferung nach Dresden zu überreden. So gelang es, sowohl die Kontaktleute Franz Massors ( Magdeburg ) und Wilhelm Konstanty ( Bossendorf bei Haltern ) zu ermitteln und ihre Festnahme zu veranlassen als auch die Funktionäre Maria Voll, Ernst Bojanowski812 und vor allem Ludwig Cyranek in Dresden zu stellen.813 Damit, so frohlockte der SD - Leitabschnitt Dresden, könnte „der größte Teil der illegalen Arbeit in Deutschland überhaupt erfasst werden“.814 Nicht zuletzt war es an Müller, dafür zu sorgen, dass man Arthur 808 Vgl. Vernehmungsprotokoll von Ludwig Cyranek als Anlage des Schreibens der Stapoleitstelle Dresden ( II B 1 – 69/40 g ) vom 25. 5.1940 ( Nordrhein - Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Gestapoakte 2017). Ich danke Richard Singelenberg für den Hinweis. Ein durch die Dresdner Staatspolizeileitstelle angefertigtes Schaubild der illegalen IBV ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ) suggeriert einen Organisationsgrad, der so in dieser Zeit nicht mehr bestand. „Zonendiener“ Massors war beispielsweise erst 1939 wieder „zum Werk gekommen“, nachdem er sich lange Jahre aus dem aktiven Glaubensleben zurückgezogen hatte. Vgl. den abgefangenen Brief an das Bibelhaus in Holland als Anlage von SD - Leitabschnitt Südwest an RSHA, Amt II, vom 16.11.1939 ( ebd.). Dementsprechend kann man ihn eher als Kontaktmann für den Umkreis von Magdeburg bezeichnen. Derartige Schaubilder sollten einerseits die Effektivität der eigenen Arbeit, andererseits die Gefährlichkeit der IBV beweisen. 809 Vgl. V - Mann - Berichte über Zusammenkünfte in Küstrin am 26.11.1939, Velten ( auch für Berlin ) am 27.11.1939 und Elsterwerda am 28.11.1939 als Anlagen zum Schreiben SD - Leitabschnitt Dresden an RSHA II 113 vom 1.12.1939 ( ebd.). 810 Vgl. Fernschreiben des SD - Leitabschnittes Dresden an RSHA II /1134 vom 1. 3.1940 (ebd.). 811 Vgl. Fernschreiben von RSHA II /1134 an SD - Leitabschnitt Dresden vom 28. 2.1940 (ebd.). 812 Beide wurden am 5. 2.1940 in der Wohnung von Obersturmführer Knorr bei der Übergabe von 20 kg Literatur verhaftet. Vgl. Vernehmungsprotokoll von Anna Voll vom 8. 2.1940 ( ebd.). Da Maria Voll vorher in Österreich aktiv war, wurde auch die Stapoleitstelle Wien verständigt, diese bat von einer Überstellung abzusehen, da rechtlich keine Handhabe vorliege, „die Tätigkeit der IBV ist in der Ostmark nicht verboten“. Vgl. Fernschreiben SD - Leitabschnitt Dresden an RSHA II 1134 vom 20. 2.1940 ( ebd.). 813 Vgl. zu diesem Vorgang auch einen Bericht eines an den Vernehmungen beteiligten Polizeibeamten aus dem Jahr 1960, Aufbau der Polizei vor 1945, gez. Hertz, vom 12. 4.1960 (BStU, ZA, HA XX /4, 2177, Bl. 63–65). 814 Fernschreiben des SD - Leitabschnittes Dresden an RSHA II 113 vom 1. 3.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). Da es dem Mitarbeiter Cyraneks, Julius Engelhard, allerdings gelang, sich der Verhaftung zu entziehen, war dieser Erfolg unvollständig. Engelhard schaffte es noch bis 1943 Literatur zumindest für den Westen und Südwesten Deutschlands zu vervielfältigen und zu verbreiten.

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Winkler habhaft wurde, liefen doch seit 1939, abgesehen von sporadischen Verbindungen in die Slowakei815 oder in die Schweiz ( zumeist über Frankreich ),816 alle Literatureinfuhren über sein holländisches Bibelhaus. Avisierte Treffen mit Winkler, die zur Festnahme genutzt werden sollten, scheiterten im Herbst 1939817 sowie zu Ostern 1940.818 Erst nach 1½ Jahren in der Illegalität wurde Arthur Winkler am 21. Oktober 1941 bei der Durchsuchung eines geheimen Literaturlagers entdeckt und verhaftet. Inwieweit Müller daran beteiligt war, wie berichtet wurde, ist nicht gesichert. Noch 1941 soll es allerdings zu einem Treffen von Müller mit Winkler gekommen sein.819 Der Wachtturm berichtete, dass Winkler durch Verrat verhaftet wurde.820 Die nationalsozialistischen Repressionsorgane mussten also mit V-Leuten zusammenarbeiten, um Ansätze einer überregionalen Struktur aufzudecken. Solange es darum ging, einzelnen Gläubigen die Übertretung der Verbotsverfügungen nachzuweisen, erwies sich die Unterstützung durch Denunziationen aus der Bevölkerung als hilfreich. Denunzianten standen im Gegensatz zu Informanten, Spitzeln oder V- Leuten nicht in einem dauerhaften Verhältnis zu Gestapo und SD und berichteten zumeist aus eigenem Antrieb über unerlaubte Handlungen oder missliebige Äußerungen.821 Die Ambivalenz der Denunziation beschrieb Gisela Diewald- Kerkmann treffend mit dem Satz : „Die politische Denunziation war gewollt, der Denunziant aber nicht erwünscht.“822 Auf der einen Seite behinderte die Flut von Hinweisen und Anschuldigungen der Bevölkerung die Tätigkeit der Gestapo, vor allem wenn die Dienststellen wie im Kriege unterbesetzt waren. Auf der anderen Seite wurde sie als Mitarbeit der Bevölkerung immer wieder eingefordert und ermöglichte dadurch erst die terroristische Effizienz gegenüber dem Dissens im Alltag.823 815 Vgl. Vernehmungsprotokoll von Ludwig Cyranek als Anlage des Schreibens der Stapoleitstelle Dresden ( II B 1 – 69/40 g ) vom 25. 5.1940 ( Nordrhein - Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Gestapoakte 2017); Einvernahmeprotokoll Bojanowski 1940. Abgedruckt in Widerstand und Verfolgung in Wien, S. 164 f. 816 Vgl. Auszug aus dem Lebensbericht von Otto Hartstang (1970), S. 16 ( WTA ). 817 Das Treffen sollte am 23. 9.1939 bzw. Mitte November 1939 in Magdeburg stattfinden. Vgl. Treffbericht des SS - Obersturmführers Knorr mit V - Mann Müller, o. D. ( nach dem 6. 9.1939) ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ); sowie Aktennotiz über eine Besprechung im Gestapa am 7.11.1939 ( ebd.). 818 Vgl. Bericht des SD - Leitabschnittes Dresden an RSHA II /113 vom 14. 3.1940 ( ebd.). 819 Vgl. Auszug aus dem Lebensbericht von Otto Hartstang (1970), S. 28 ( WTA ). Über den weiteren Einsatz Müllers liegen keine gesicherten Informationen vor. Ob wie geplant direkte Einsätze im zentraleuropäischen Büro der WTG in Bern realisiert wurden, ist fraglich. Vgl. Befürwortung einer Geldprämie an Müller vom 6.12.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). Im Erinnerungsbericht von Gertrud Krämer taucht Müller in SS - Uniform im KZ Ravensbrück auf, er soll dann an der Ostfront einen Bauchschuss erhalten haben. Vgl. Erinnerungsbericht Gertrud Krämer ( geb. Eichler ), SCA 26. Feb. 1974 ( WTA ). 820 Vgl. Wachtturm vom 15. 3.1969, S. 348. 821 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 248. 822 Diewald - Kerkmann, Denunziantentum und Gestapo, S. 305. 823 Vgl. Paul / Mallmann, Auf dem Wege zu einer Sozialgeschichte des Terrors, S. 9 f.

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Bibelforscher waren geradezu prädestiniert, Opfer von Denunziationen zu werden. Sowohl der Personenkreis der für Anzeigen in Frage kam, als auch die Liste der Möglichkeiten in den Augen der umgebenden Gesellschaft missliebig aufzufallen, waren sehr groß. Sowohl die fanatische NSDAP - Basis als auch weite Kreise der Kirchen824 waren der Glaubensgemeinschaft gegenüber feindlich eingestellt. Bibelforscher störten mit ihrer Wahlverweigerung angestrebte hundertprozentige Wahlergebnisse und damit das Ansehen der lokalen Behörden.825 Dieselbe Wirkung hatte auch ihre Weigerung, in nationalsozialistische Organisationen wie die DAF einzutreten, auf „das Betriebsklima“. Auch wenn nicht in jedem Fall eine Anzeige drohte, wurden die Betreffenden doch den Behörden bekannt gemacht und bei nächstbester Gelegenheit „überholt“. Nicht wenige Lehrer nutzten das „aufsässige“ Verhalten von Bibelforscherkindern, um deren Eltern wegen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht anzuzeigen.826 Jeder Missionsversuch konnte mit einer Anzeige enden.827 Die Annahme, dass bei Zeugen Jehovas Denunziationen selten waren, weil diese „im allgemeinen sehr abgeschieden lebten“ und derartige Meldungen „ein Einbinden in ein spezifisches Beziehungsgeflecht“ voraussetzten,828 entbehrt jeder Grundlage. Richtig dagegen ist natürlich, dass nicht die gesamte Arbeit der Gestapo auf der Zuträgerschaft aus der Bevölkerung beruhte. Während damit abweichendes Verhalten im Alltag zur Strecke gebracht wurde, gewann die Arbeit mit Spitzeln ab 1935/36, als die IBV ihre Tätigkeit mehr und mehr konspirativ absicherte, an Bedeutung.829 Grundsätzlich muss man zwischen den V - Leuten der Gestapo und des SD unterscheiden. Da der SD vor allem als Nachrichtendienst fungieren sollte, ging es ihm um die langfristige, grundsätzliche Informationsgewinnung. Seinem eigenen Verständnis nach, ein „ehrenwerter Nachrichtendienst“, ein „unbestechlicher Wächter der NS - Weltanschauung“ zu sein,830 teilte er seine Informanten in folgende Kategorien ein : Vertrauensmänner ( V - Leute mit einer einwandfreien nationalsozialistischen Gesinnung, die ohne Gegenleistung, allein mit dem Willen „zur Unterstützung einer guten Sache“ arbeiteten ), Beobachter ( SS - Mitglie824 Vgl. Möller, Widerstand und Verfolgung, S. 225; vgl. Marßolek / Ott, Bremen im Dritten Reich, S. 307, 495. 825 So schlug der Ortsgruppenleiter der NSDAP in Bad Meinberg nach der Wahlverweigerung der ZJ 1936 die Inschutzhaftnahme der dortigen Bibelforscher vor, was vom Kreisleiter und der Stapoaußenstelle Detmold auch gutgeheißen wurde. Vgl. Riechert, Bibelforscher, S. 729; vgl. auch anonyme Anzeige an NSDAP - Kreisleitung Berchtesgaden vom 2. 4.1936 ( WTA, Dok 02/04/36). 826 Vgl. beispielsweise Volksschule an der Bergstraße, Herne, Personalbericht über die Kinder Jürgen und Helga Lünenschloss ( WTA, Dok 01/02/40 [1]); Bericht von Selma Pohla, 12. 9.1998 ( WTA, ZZ Pohla, Selma ); Brief von Ilse Fliedner, geb. Fulde vom 26.12. 1996; ( WTA, ZZ Fulde, Ernst ). 827 Vgl. Stolle, „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 103 f. 828 Vgl. ebd., S. 105. 829 Zum Zusammenhang von Konspiration und Spitzeldiensten vgl. Mallmann / Paul, Die Gestapo. Weltanschauungsexekutive, S. 632. 830 Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 253.

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der, die in anderen Bereichen arbeiteten, berichteten und / oder Informanten rekrutierten und führen sollten ), Gewährsleute ( die in Einzelfällen Informationen lieferten ) sowie Agenten ( die gegen Bezahlung arbeiteten ).831 Nach Angaben von Otto Ohlendorf, soll es ca. 30 000 „ehrenamtliche Mitarbeiter“ des SD gegeben haben.832 Zwar beschreibt auch Wysocki eine funktionale Unterscheidung der Informanten durch die Gestapo in V - Leute, Agenten ( A - Leute ), Zubringer ( Z - Leute), Helfershelfer ( H - Leute ), Gelegenheitsdenunzianten und Unzuverlässige ( ULeute ), ein Runderlass des Gestapa aus dem Jahr 1937 besagt allerdings, dass „als V - Leute [...] all jene Personen [ gelten ], die Nachrichten liefern, gleichgültig, ob sie auf längere Sicht oder nur vorübergehend, ob sie gegen Entgelt oder aus ideellen Gründen usw. arbeiten“.833 Die idealistischen Vorstellungen, die der SD nach außen und nach innen verkündete, waren auch dahingehend unrealistisch, als Informanten für die Gegnerbekämpfung ( nicht allerdings für die Beobachtung der „Lebensgebiete“ !) im aufzuhellenden Umfeld beheimatet und intime Kenntnisse der spezifischen Umstände und Praktiken haben mussten. Sie besaßen dort zumeist Ansehen und Vertrauen auf Grund ihrer Vergangenheit.834 Mit Hilfe von V - Leuten gelang der Gestapo eine Reihe von Schlägen gegen den organisierten Widerstand.835 Erfolgreich konnte dies aber nur in Verbindung mit den „herkömmlichen“ wenn auch radikalisierten Ermittlungsmethoden, sprich verschärfter Vernehmung, Gegenüberstellungen, Haussuchungen sowie eigenständiger Bestrafung sein. Erst diese Kombination machte den Erfolg aus, mussten die Gestapoquellen doch geheim gehalten werden, wollte man nicht nach ersten Schlägen die Konspiration der Informanten gefährden. Vernehmungserfolge waren die Voraussetzung für gerichtsfeste Beweise.836 Es bedurfte mitunter nur eines Impulses von außen, um die demoralisierten Verhöropfer zum Reden zu bringen. Zumindest bis zur Kriegswende waren diese schon lange vor Verhörbeginn durch die Erosion des oppositionellen Milieus und die Aussichtslosigkeit widerständigen Verhaltens nach Kriegsbeginn psychisch zerstört.837 Bei Zeugen Jehovas kam hinzu, dass sie angesichts des erwarteten nahen Weltendes der weltlichen Macht nicht die Bedeutung zumaßen, die sie verdient hätte.838 Zudem waren nicht wenige der aktiven Protagonisten ab 1938 eher durch Zufall in exponierte Stellungen gelangt, so dass eine Aussage

831 832 833 834 835 836 837 838

Vgl. ebd., S. 253 f. Vgl. ebd., S. 256. Runderlass des Gestapa vom 1. 2.1937. Zit. nach ebd., S. 253. Vgl. Mallmann, Die V - Leute der Gestapo, S. 271; Mallmann / Paul, Die Gestapo. Weltanschauungsexekutive, S. 632. Vgl. beispielsweise die Zerschlagung großer Widerstandsgruppen des kommunistischen, sozialistischen sowie des katholisch - bürgerlichen Milieus in Österreich durch drei V Leute. Vgl. Neugebauer, Der NS - Terrorapparat, S. 732. Vgl. Mallmann, Die V - Leute der Gestapo, S. 273. Vgl. Mallmann / Paul, Gestapo – Mythos und Realität, S. 106. Vgl. Stolle, „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 117 f.

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vor der Gestapo auch eine Art Ausstieg aus dem psychischen und physischen Stress der Untergrundtätigkeit sein konnte.839 Wie viele V - Leute auf die Untergrundtätigkeit der Zeugen Jehovas angesetzt waren, lässt sich auf Grund der rudimentären Quellenlage nicht sagen. So gab es V - Leute, die zur Beobachtung von Bibelforschern in ihrem Wohnumfeld beauftragt waren.840 Zumeist kamen, wie in anderen Milieus, V - Leute aus den Reihen der Zeugen Jehovas selbst. Sie waren verhaftet worden und wurden bei Verhören „umgedreht“.841 Aus diesem Grund relativiert sich auch die These, dass „es in den Reihen der Bibelforscher verhältnismäßig wenig V - Leute gab“, weil sich diejenigen zurückzogen, die nicht völlig loyal waren.842 Dies mag für die Phase der noch intakten reichsweiten Strukturen zutreffen. In einer Zeit, in der sowohl durch die Justiz als auch durch die Gestapo der Tod drohte, konnten auch wenige V - Leute an entscheidender Stelle verheerende Auswirkungen haben. Wenn es zudem gelang, eigene Mitarbeiter in illegalen Strukturen zu etablieren, wurden die Schläge noch effektiver. 1937 konnte ein Polizeibeamter aus Frankfurt am Main in die Reihen der Bibelforscher eingeschleust werden. Ganze Bibelforschergruppen aus Frankfurt, Wiesbaden, Mainz sowie der Nahe - und Rheingegend fielen seiner Arbeit zum Opfer.843 Beispiele der Kooperation eines Spitzels mit einem Gestapo - Beamten wie im Fall Hans Müllers und des „Glaubensbruders“ Herbert Knorr sind auch aus anderen Widerstandsmilieus bezeugt. Die Frauenleiterin des KPD - Bezirks Halle - Merseburg verhalf der Gestapo 1935 zusammen mit dem als „Oberberater“ eingeführten Hallenser Kriminalkommissar Frank zur Verhaftung von 550 Angehörigen der illegalen kommunistischen Organisation.844 Doch zeigt der Fall Hans Müller auch die Grenzen der Arbeit der Repressionsorgane auf. Die Delegierung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf untere Instanzen machte einen Großteil des „Erfolges“ im Nationalsozialismus, insbesondere in der Gestapo aus.845 Die weitgehende Verantwortlichkeit der einzelnen Staatspolizei( leit )stellen förderte zwar die Effizienz und damit die 839 Vgl. das Beispiel der Aussagebereitschaft von Ernst Bojanowski, der 1939 23 - jährig zuerst den österreichischen Zweig der Zeugen Jehovas neu aufbauen sollte und dann für den Großraum Berlin zuständig wurde. Mit seiner Hilfe konnte ein großer Teil der österreichischen illegalen Strukturen aufgerollt werden. Vgl. Schlussbericht der Stapo über die bisherigen Vernehmungen des Kaufmannes Bojanowski, als Anlage des Schreibens des SD - Leitabschnittes Dresden an RSHA II /1134 vom 1. 3.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). Mit diesem Dokument dürften Zweifel an der Indienstnahme Bojanowskis durch die Gestapo ausgeräumt sein. Vgl. Thaller, Eine Baracke aus Mauthausen, S. 205. 840 Vgl. Bericht des SD - Oberabschnittes Ost an die Stapostelle Berlin vom 24. 7.1935 (BArch, R 58, [ alt ZB I ] 1462, Bl. 682–684). Derartige Beobachter wurden auch von NSDAP - Ortsgruppen eingesetzt. Vgl. Bericht der NSDAP, Großgau Berlin, Kreis X, Abt. Verbände vom 13. 5.1935 ( ebd., Bl. 696–699). 841 Vgl. Paul, Staatlicher Terror, S. 171. 842 Stolle, „Betrifft : Ernste Bibelforscher“, S. 106. 843 Vgl. Wrobel, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 368 f. 844 Vgl. Mallmann, Die V - Leute der Gestapo, S. 278 f. 845 Vgl. Aronson, Reinhard Heydrich, S. 112.

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Radikalisierung, ebenso aber auch die Konkurrenz. So erzeugt der „Fall Müller“ den Eindruck, als ob einzelne Dienststellen um den Erfolg konkurrierten. Die Bibelforschergruppen im Sudetenland wurden zum Beispiel von der Staatspolizeileitstelle Dresden aufgerollt, ohne die zuständige Behörde in Reichenberg, wie vorgeschrieben, einzubeziehen oder zu informieren.846 Als durch einen abgefangenen Brief des Bibelhauses in Holland bekannt wurde, dass sich in Stuttgart eine wichtige Kontaktadresse der illegalen IBV befindet,847 planten Gestapo und SD in Dresden Müller und Knorr dort anlaufen zu lassen, um weitere Verbindungsleute der illegalen Organisation festzustellen. Die Stuttgarter Staatspolizei hatte jedoch den Adressat des Geheimbriefes schon festgesetzt und es zudem versäumt, dessen Wohnung zu überwachen. Wie die Dresdner SD Dienststelle beklagte, blieb damit die Möglichkeit ungenutzt, Einblick in die illegalen Strukturen der IBV in Süddeutschland zu gewinnen.848 Aber das eigenständige Handeln der Dresdner Dienststellen wurde vom Kirchenreferat II B 33 des RSHA moniert. Koordinierende Aufgaben und Anweisungen zum staatspolizeilichen Vorgehen in anderen Abschnitten könne nur Berlin anordnen.849 Als dann Ende Februar 1940 ein geheimes Schreiben aus Stuttgart an Arthur Winkler in Holland abgefangen werden konnte, in dem die Adresse des Magdeburger Bibelforschers Franz Massors erwähnt wurde, versuchte die dortige Stapoleitstelle, die zentrale Bearbeitung des Vorganges an sich zu ziehen, obwohl ihr bekannt war, dass sowohl in Dresden als auch in Stuttgart schon Ermittlungen in dieser Sache liefen.850 Auch die Stapostelle in Osnabrück kritisierte das Verhalten anderer Dienststellen. Obwohl diese über einen wichtigen V - Mann der IBV informiert waren, schrieben sie ihn zur Fahndung aus und gefährdeten so dessen Konspiration. Der dortige Sachbearbeiter klagte daher : „Weiterhin habe ich den Eindruck gewonnen, dass die an den Ermittlungen beteiligten Staatspolizeistellen, in deren Bezirken durch den Sachbearbeiter Feststellungen getroffen werden mussten, dem weiteren Verlauf der Angelegenheit mit mehr oder weniger Missgunst begegnen.“851 Einzelne Staatspolizei - und SD - Dienststellen wollten sich durch Erfolge in der IBV - Bekämpfung profilieren. Ein weitaus grundsätzlicheres Problem lag in der prinzipiellen Ausrichtung der Arbeit von Gestapo und SD. Wohl gibt es einige Belege dafür, dass die Polizeiarbeit regional auch mittelfristig ausgerichtet war. Mit Genehmigung des Gestapa erfolgte die Literatur verteilung an Bibelforscher durch die Gestapostelle Osnabrück. Durch V - Leute, zumeist Kuriere, war sie in Besitz des entsprechenden Adressmaterials gekommen und konnte so „in diesen Fällen die 846 Vgl. Fernschreiben des SD - Leitabschnittes Reichenberg an RSHA II /113 vom 24.1. 1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 847 Brief in Latenzschrift an Horst (= Ludwig Cyranek ) vom 9.1.1940, als Anlage eines Schreibens der Staatspolizeileitstelle Münster an RSHA vom 24.1.1940 ( ebd.). 848 Vgl. Bericht über Dienstreise in Sachen illegale I.B.V. vom 15. 2.1940 ( ebd.). 849 Fernschreiben RSHA II B 33 an SD - Leitabschnitt Dresden vom 7. 3.1940 ( ebd.). 850 Vgl. Fernschreiben der Staatspolizeileitstelle Magdeburg an RSHA, Amtschef IV, vom 29. 2.1940 ( ebd.). 851 Bericht der Staatspolizeistelle Osnabrück vom 6.12.1938 ( ebd.).

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illegale Tätigkeit der betreffenden Kreise überwachen und zu einer zweckmäßigen Zeit die erforderlichen Maßnahmen durchführen“.852 Auch die fast fünf jährige Zusammenarbeit der Stapoleitstelle in Dresden mit V - Mann Hans Müller verdeutlicht derartige Tendenzen. Doch diese regionalen Erfahrungen setzten sich nicht durch. Wie die nichtabgestimmte Festnahme der Stuttgarter IBV - Kontaktperson durch die dortige Gestapodienststelle verdeutlicht,853 war sofortiges Zuschlagen wohl eher die Regel. Auch SD - Sektenreferent Kolrep musste angesichts der neuen Ermittlungsergebnisse im Sommer 1937854 bzw. im Januar 1938855 darauf drängen, keine sofortigen Aktionen zu beginnen, sondern erst einmal zwei bis drei Monate mit verstärkten Ermittlungen und dem Einschleusen von V - Leuten zu nutzen. Die Ermittlung und sofortige Zerschlagung von illegalen Strukturen reichte nämlich nicht aus. Was im Falle des organisierten politischen Widerstandes erfolgreich war, musste angesichts von Gläubigen, die sich in einer Zeit kurz vor dem Weltende sahen und entsprechend spontan für „das Werk“ zu aktivieren waren, scheitern. Das Beispiel von Franz Massors856 oder das von Julius Engelhard857 zeigen, wie schnell sich ehemals inaktive oder wenig aktive Gläubige zu zentralen Anlaufpunkten entwickeln konnten. Auch in seiner Vernehmung schilderte Cyranek die improvisierten Versuche eines organisatorischen Neuaufbaus. Eine Bibelforscherin aus Leipzig wandte sich an eine Glaubensgenossin in der Schweiz. Ihre Adresse bekam Cyranek über Holland zugespielt und sie diente ihm in der Folge als Literaturanlaufadresse für Leipzig.858 Daher verwundert es nicht, dass Kolrep Ende Februar 1940 vorschlug, die Stapostellen anzuweisen, künftig „jeden Bibelforscher sofort zu verhaften, um eine Erfassung und Betreuung durch [...] Funktionäre zu vermeiden“. Die Taktik, „in den verschiedensten Städten des Reiches Verbindung zu [...] Einzelfunktionären aufzunehmen, diese mit Schriften zu versorgen und dadurch weitere Personen zu ermitteln“, sei aufzugeben. Umso vehementer reagierte Kolrep, als er erfuhr, dass Werner Best, Leiter des Amtes I im RSHA, anlässlich einer Besprechung im Amt IV ( Gestapo ) vorschlug, „V - Männer in die Reihen der IBV. [ zu senden ], die versuchen sollten, die Bibelforscher gesprächsweise von ihren Irrlehren zu bekehren“.859 Denn um 852 Ebd. 853 Vgl. Bericht über Dienstreise in Sachen illegale I.B.V. vom 15. 2.1940 ( ebd.). 854 Vgl. Niederschrift über eine Besprechung zwischen SD II 113 und Gestapa II 1 B 1 am 30. 6.1937 ( BArch, R 58, [ alt ZB II ] 1335, Bl. 301–304, hier 301). 855 Vgl. Meldung von SD - HA II /1134 an Heydrich vom 7.1.1938, 4. illegale Organisation der IBV ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert). 856 Vgl. den abgefangenen Brief an das Bibelhaus in Holland als Anlage zum Schreiben des SD- Leitabschnitts Südwest an RSHA, Amt II, vom 16.11.1939 ( ebd.). 857 Vgl. Koch, Julius Engelhard, S.95–103. 858 Vgl. Vernehmungsprotokoll von Ludwig Cyranek als Anlage des Schreibens der Stapoleitstelle Dresden ( II B 1 – 69/40 g ) vom 25. 5.1940 ( Nordrhein - Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Gestapoakte 2017). 859 Vermerk Kolrep, RSHA II B 33 an Amtschef II vom 6. 3.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ).

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eine Gruppe „von innen heraus“ so zu bearbeiten, dass diese ihre Gefährlichkeit ( ihre „Irrlehre“) aufgibt, müsste sie nicht vernichtet werden. Stattdessen wäre es nötig, sich langfristig mit den Bibelforschern zu beschäftigen, um Schwachstellen und Angriffspunkte zu entdecken. Damit widersprach Best eigentlich seiner eigenen These von der Staatspolizei als „Arzt am Volkskörper“.860 Kolrep war konsequenter : „Die Ausrottung dieser Staatsfeinde ist die wirksamste Bekämpfung.“861 Das „Ausbrennen des Krankheitsherdes“ war die einzige vorstellbare Strategie. Die Jahre 1939 und 1940 waren für das weitere Vorgehen gegen die Bibelforscher insoweit von Bedeutung, als jetzt im „Schicksalskampf des deutschen Volkes um seine Existenz“862 jedwede längerfristige Strategie aufgegeben wurde. Angesichts einer Vielzahl von Verweigerungen des Wehrdienstes durch Zeugen Jehovas sowohl außerhalb als auch innerhalb der KZ forderte Himmler Lösungsvorschläge über „die grundsätzliche Bekämpfung und die zu ergreifenden geistigen Gegenwirkungen“.863 Das Sektenreferat des SD erstellte im Dezember 1939 einen neunseitigen Bericht. Unter Berufung auf IBV - Schriften ( vor allem auf „Faschismus oder Freiheit“)864 ergaben sich für die Bearbeiter politische Konsequenzen aus der religiösen Lehre. Neben der Ablehnung des Kriegsdienstes und aller Rassen - , Klassen - oder Standesunterschiede würden die Bibelforscher „in allen totalitären Staaten,865 vor allem in Deutschland, Russland, Italien und dem vatikanischen Weltstaat [...] das Werk Satans [...] sehen“. Diese Sichtweise mache sie „zu grundsätzlichen Staatsfeinden in allen totalitären Staaten“. Als Wurzel „des selbstlosen Fanatismus der Ernsten Bibelforscher“ benannte der Bericht die „Überzeugung, dass nach der Bibel die Ernsten Bibelforscher wirklich die alleinigen auserwählten Zeugen Jehovas“ wären und eine „fanatische Sehnsucht nach wahrer Menschlichkeit, Brüderlichkeit und sozialer Freiheit [hätten], deren Erfüllung sie einzig und allein im kommenden Königreich Christi sehen“. Dies ermögliche es ihnen, „lächelnd oder still verbissen alle Verfolgungen“ auf sich zu nehmen. Auch die Familienangehörigen zeigten „keinerlei Schmerz oder Trauer, sondern eher sogar Freude darüber, dass es ihren Männern gegönnt wurde, Zeugen Jehovas gegenüber dieser satanischen Staatsführung zu werden“. Nach Meinung des SD mussten hinter einer solchen Haltung natürlich auch politische Hintermänner stehen. Die früheren Thesen eines engen Zusammengehens zwischen IBV und marxistischen und kommunistischen Kreisen, um „als Machtinstrument Moskaus zur Zersetzung des Christentums“ zu dienen, wurden verworfen. Stattdessen bemühten die SD - Sachbe860 Vgl. Abschnitt II.2.3. 861 Vermerk von RSHA II B 33 vom 22. 2.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 862 Aus einem Urteil des VGH gegen Juliana Kellner und Hermine Kauer vom 29. 8.1944. Abgedruckt in Widerstand und Verfolgung in Wien, S. 162 f. 863 Adjutantur des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an RSHA II /113 vom 29.12.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert). 864 Joseph Franklin Rutherford, Faschismus oder Freiheit. Brooklyn 1939. 865 Die Bezeichnung „totalitär“ wird in diesem Bericht affirmativ verwendet.

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arbeiter die alten Unterstellungen, „dass die Gelder der Ernsten Bibelforscher zu einem beträchtlichen Teil von jüdisch - amerikanischen Freimaurern stammen“. Auch die Inhalte der neuesten Literatur der IBV bewiesen, „dass diese Sekte heute von den westlichen Demokratien zur Zersetzung der totalitären Staaten eingesetzt wird“. Obwohl „vom Standpunkt der Bibel“ auch wesentliche Vor würfe gegen die westlichen Demokratien erhoben werden könnten, kämen diesbezüglich keinerlei Angriffe in den einschlägigen Bibelforscherschriften vor. In ihnen befinde sich aber „die gesamte Greuelpropaganda westlicher Demokratien gegenüber Deutschland in kondensierter Form“. Da die Todesstrafe für Zeugen Jehovas kein Abschreckungsmittel darstelle, wurde vorgeschlagen, alle arbeitsfähigen Bibelforscher in Konzentrationslagern „unterzubringen“. Angesichts des als nah erwarteten Weltendes wäre den Bibelforschern die Zeugung von Kindern verboten.866 Diese Lehre sollte ausgenutzt werden, um sich des Problems auch biologisch zu entledigen. „Soweit die Bibelforscher aber noch über unverdorbene Nachkommen verfügen, wird vorgeschlagen, ihnen die Erziehungsberechtigung zu nehmen und die Kinder in Fürsorgeerziehungsanstalten oder sonstigen Heimen unterzubringen.“ Um die Organisation der Bibelforscher „von Grund aus“ zu zerschlagen, sollte zukünftig nicht mehr abgewartet werden, bis sich ein neuer Apparat gebildet hätte, sondern „künftig jede Zellenbildung im Keime“ erstickt werden.867 In seinen „Richtlinien zur künftigen Bekämpfung der IBV“ von Februar 1940 ging Sektenreferent Kolrep noch einen Schritt weiter : Neben den schon bekannten Forderungen wie KZ - Haft auf Lebenszeit, Strafkompanien für Bibelforscher im wehrfähigen Alter oder im Falle von Kriegsdienstverweigerung Überstellung vor das zuständige Kriegsgericht sowie ein konsequenter Kindesentzug, schlug Kolrep nun vor, die Bibelforscher in den Osten zu deportieren. Da „diese Menschen einerseits endgültig für die Volksgemeinschaft verloren sind, zum anderen aber wegen ihrer rassischen und geistigen Minderwertigkeit keinen großen Verlust für diese bedeuten“, sollten „diese Staatsfeinde zusammen mit Juden und polnischen Staatsangehörigen [...] in das Gebiet des geplanten Rest - Polen“ umgesiedelt werden.868 Damit versuchte Kolrep nichts anderes, als das Problem der Bibelforscher im Zuge der Planspiele einer völkischen Flurbereinigung endgültig zu klären. Nach der Besetzung Polens und dem Grenzvertrag mit der Sowjetunion im September 1939 wurden sowohl in der politischen Führung als auch im RSHA Pläne ventiliert, neben den annektierten polnischen Westgebieten auch das Reichsgebiet von Juden „sowie alle[ n ] irgendwie unzuverlässigen Ele866 Mit dem angeblichen Verbot, Kinder zu zeugen, nimmt der SD Bezug auf die Endzeiterwartung der Zeugen Jehovas, nach der Eltern mit der Zeugung von Kindern bis zur Zeit nach der „Schlacht von Harmagedon“ warten sollten. Vgl. die WTG - Schrift Schau den Tatsachen ins Auge, Brooklyn 1938, S. 50. 867 Bericht über die Internationale Bibelforscher vereinigung von RSHA II 113, gez. Heydrich, an den Reichsführer SS vom 15.12.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 868 RSHA II B 33, Richtlinien zur zukünftigen Bekämpfung der IBV vom 29. 2.1940 ( ebd.).

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mente[ n ]“ zu säubern.869 So verkündete Heydrich am 29. September 1939 in einer Amtschefbesprechung seines neu eingerichteten RSHA, dass „in dem Raum hinter Warschau und um Lublin ein ‚Naturschutzgebiet‘ oder ‚Reichs Ghetto‘ geschaffen werden soll, in dem all die politischen und jüdischen Elemente untergebracht werden“.870 Konkrete Gestalt nahmen derartige Gedankenspiele im Oktober 1939 mit der Deportation von einigen Tausend Juden aus Wien, Prag und Mährisch - Ostrau in ein Gebiet des nichtannektierten Restpolens an, der sogenannten Nisko - Aktion. Nach dem Scheitern dieses „Umsiedlungs“Versuches Adolf Eichmanns wollte Kolrep vorsichtiger vorgehen. Versuchsweise sollten zunächst 100 Familien deportiert werden. Denn es stand zu befürchten, dass diese „Umsiedlung“ in den USA wahrgenommen und „von den interessierten amerikanischen Kreisen in einen religiösen Kampf umgebogen werde“.871 Nach diesem Versuch wäre zu prüfen, „welche Vor - und Nachteile sich daraus ergeben“. Kolrep hoffte mit der „Umsiedlung“ zwei Probleme zu lösen, zum einen würde der „unheilvolle Einfluss der illegalen Tätigkeit der IBV auf die Bevölkerung endgültig ausgeschaltet“, zum anderen „durch die pazifistische Einstellung der Bibelforscher [...] die Möglichkeit der Zersetzung der nationalen Widerstandskraft der Polen geschaffen“. Zudem sei bei der notorischen Feindschaft der Bibelforscher zur katholischen Kirche ein stärkeres Gegengewicht zum katholischen Bevölkerungsanteil zu begrüßen. Flankieren wollte Kolrep diese Aktion mit „Aufklärungspropaganda innerhalb der deutschen Bevölkerung“. Diese sollte sich aber auf besonders gefährdete Gegenden beschränken, „wo durch die Eigenart der Bevölkerung der IBV stets gute Propagandamöglichkeiten gegeben“ waren und entsprechend „Gefahrenherde bestehen“. Bei reichsweiten Aufklärungsaktionen bestünde die Gefahr, dass „hierdurch wieder zahlreiche Personen auf die IBV aufmerksam“ würden.872 Angesichts der Umstände im überbevölkerten und kriegszerstörten Generalgouvernement wäre diese „Umsiedlung“ nichts anderes gewesen als die „Verurteilung zu einem langsamen, aber sicheren Untergang“.873 Diese Pläne wurden zwar in dieser Radikalität nicht weiter verfolgt, im November 1939 konnte jedoch der Gauleiter von Salzburg, Friedrich Rainer,874 seinen Verantwortungsbereich von Bibelforschern „säubern“ lassen. Bereits Ende September 1939 wurden auf dem Militärschießplatz Glanegg bei Salzburg zwei Bibelforscher wegen Eidesverweigerung hinge-

869 Seraphim ( Hg.), Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs, S. 98 f. 870 Zit. in Goshen, Eichmann und die Nisko-Aktion, S. 79; zu den Deportationen 1939/40 vgl. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 488-499. 871 Dies ist ein Beleg dafür, dass selbst noch in Kriegszeiten Rücksichtnahmen auch auf dem Gebiet der Bibelforscherbekämpfung notwendig waren. Vgl. die gegenteilige Aussage bei Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 525. 872 Vgl. RSHA II B 33, Richtlinien zur zukünftigen Bekämpfung der IBV vom 29. 2.1940 (BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert ). 873 So Seev Goshen zu den Umsiedlungsplänen Eichmanns im Oktober 1939. Vgl. Goshen, Eichmann und die Nisko - Aktion, S. 82. 874 Zu Friedrich Rainer (1903–1947) vgl. Williams, Gau, Volk und Reich.

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richtet.875 Dieses Exempel scheint aber nicht die erhoffte Wirkung gezeigt zu haben, denn im Oktober berichtet die Gestapo in Wien, dass „auf Grund des Verhaltens der in Salzburg wohnenden Bibelforscher ( Kriegsdienstverweigerung usw.) [...] der dortige Gauleiter schärfstens gegen dieselben vorgehen [ wird ], da die Gefahr besteht, dass im Falle eines großzügigen Verhaltens ein Mittelpunkt staatsfeindlicher Elemente geschaffen wird“.876 Himmler gab dem Drängen Rainers nach und ordnete die summarische Inschutzhaftnahme aller bei der Gestapo in Salzburg erfassten Bibelforscher bis zu 60 Jahren und deren Überstellung in ein KZ für fünf Jahre an.877 Nicht langfristige Beobachtung und Bearbeitung der Bibelforscher, wie sie Werner Best vorschlug, wurden Bestandteil der Repression, die kurzfristige Zerschlagung aller bekannt gewordenen Aktivitäten bildete das alleinige Mittel der Wahl. Diese Entwicklung korrespondierte mit einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses zwischen der Gegnerbeobachtung durch den SD und der Gegnerbekämpfung durch die Gestapo im Zuge der Errichtung und Konsolidierung des RSHA.

3.4

Die Zusammenfassung des Repressionsapparates

Am 27. September 1939 wurden die zentralen Dienststellen von Gestapo, SD und Kriminalpolizei zum „Reichssicherheitshauptamt“ ( RSHA ) zusammengefasst.878 Damit war eine Entwicklung hin zur Zusammenfassung und Vereinheitlichung der Kräfte des Polizeistaates abgeschlossen, die bereits 1933 mit der Unterwanderung und Übernahme der politischen Polizeien durch die SS begonnen hatte und seitdem konsequent fortgeführt worden war.879 Mit dem Sicherheitsdienst, der Geheimen Staatspolizei und der Kriminalpolizei verknüpfte das RSHA sowohl Einrichtungen des Staates als auch der Partei sowie Institutionen des Maßnahmen - und Normenstaates zu einer Behörde. Die neue Behörde besaß den Doppelstatus einer Ministerialbehörde und eines SS - Hauptamtes. Weder kann sie daher an traditionellen Kriterien von Staatlichkeit gemessen, noch als herkömmliche Polizeibehörde einer Diktatur zur Terrorisierung der eigenen Bevölkerung gedeutet werden.880 Die ehemalige Zentralabteilung II /1, zu der auch das Sektenreferat unter Hauptsturmführer Walter Kolrep gehörte, wurde mit der Zentralabteilung I /3 875 Vgl. Meldung der Stapoleitstelle Wien vom 28. 9.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I /1046, A. 8, Bl. 382). Vgl. Steininger ( Hg.), Vergessene Opfer, S. 12. 876 Meldung der Stapoleitstelle Wien vom 4.10.1939 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZB I /1046, A. 8, Bl. 383). 877 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 525. 878 Abdruck des Erlasses von Himmler vom 27. 9.1939 in Rürup ( Hg.), Topographie des Terrors, S. 71. 879 Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 214. 880 Vgl. Paul, „Kämpfende Verwaltung“, S. 43.

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(„Presse und Bibliothek“) zum Amt II vereinigt. Dieses mit „weltanschauliche Auswertung“ bezeichnete Amt hatte damit die theoretisch - propagandistische Arbeit bei der Bekämpfung der „weltanschaulichen Gegner“ zu leisten.881 Ursprünglich nur als kleines „wissenschaftliches“ Forschungsamt vorgesehen, plante der künftige Amtschef Six882 großzügiger : Mit seinen vier Abteilungen „Grundlagenforschung“, „Weltanschauliche Gegner“, „Inlandsprobleme“ sowie „Auslandsprobleme“ wäre ein solches Amt bei vollem personellen Ausbau ein neuer SD innerhalb des RSHA geworden. Es konnte allerdings in dieser Großzügigkeit nicht verwirklicht werden. Das RSHA war zwar in Zuschnitt und Form eine Institution des nationalsozialistischen Krieges,883 jedoch führte die Eröffnung der Kriegshandlungen noch vor der offiziellen Errichtung zu massiven Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten. Durch Einberufungen zur Wehrmacht oder zu den Einsatzgruppen,884 sowie wegen der massiven Ausweitung des zu „betreuenden“ Gebietes, musste man sich auf die „unumgänglichen Tätigkeiten“ (so Heydrich 1941) konzentrieren.885 Sowohl Gegnererforschung als auch Gegnerbekämpfung mussten in einzelnen Sachgebieten Tätigkeiten einschränken oder auch abgeben. Außer der Bekämpfung des Kommunismus und des Marxismus ( Referat II A ) sowie der Schutzhaftangelegenheiten ( Referat II D ) wurden im Gestapa ( dem künftigen Amt IV ) die Referate „Weltanschauliche Gegner“ ( II B ), „Rechtsbewegung“ (II C ), „Wirtschaftliche Angelegenheiten“ ( II E ), „Auskunft“ ( II F ), „Parteiangelegenheiten“ ( II H ) sowie „Presse“ ( II P ) ganz eingestellt oder massiv eingeschränkt.886 Auch die Zentralabteilung II /1 des SD - Hauptamtes ( Bestandteil des künftigen Amtes II ) schloss ganze Abteilungen oder gab deren Bearbeitung an die Gestapo ab. „Um jede Doppelarbeit auf dem Gebiet der Bekämpfung des weltanschaulichen Gegners zu unterbinden“, fielen die Sachgebiete „Freimaurerei“, „Judentum“ sowie „Bolschewismus“ komplett aus deren Verantwortungsbereich.887 In den Monaten nach Etablierung des RSHA kam es unter den Amtschefs zu Grabenkämpfen um den endgültigen Zuschnitt ihrer Arbeitsbereiche sowie um Mitarbeiter. Schon in der Organisationsplanung des Amtes II war von den vier Gruppenleiterstellen keine besetzt888 und spätestens im Frühjahr 1940 hatte Amtschef Six begriffen, dass ihm kaum noch fähiges Personal geblieben 881 Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 215. 882 Zu Standartenführer Prof. Franz Alfred Six (1909–1975) vgl. Hachmeister, Der Gegnerforscher. 883 Vgl. Paul, „Kämpfende Verwaltung“, S. 42. 884 Die Stapostelle Leipzig hatte 1940 zum Beispiel 101 Mitarbeiter, von denen jedoch 35 – mithin mehr als ein Drittel – ins Ausland abgeordnet waren. Vgl. Schmid, Gestapo Leipzig, S. 19. 885 Vgl. Kohlhaas, Die Mitarbeiter der regionalen Staatspolizeistellen, S. 232. 886 Vgl. Heydrich an Gestapa betr. Entlastung der Geheimen Staatspolizei vom 31. 9.1939 ( BArch, R 58, 243, Bl. 276 f.). 887 Der Leiter Amt II, betr. Arbeitseinschränkungen als Maßnahme in Spannungszeiten bzw. im Mob. - Falle vom 3. 9.1939 ( BArch, R 58, 7088, Bl. 93–100, hier 93 f.). 888 Vgl. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 367.

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war.889 Zwar hatte Heydrich noch im Januar bestätigt, dass die kirchenpolitische Abteilung unter Albert Hartl ( nun unter II B 3 firmierend, Kolreps Sektenreferat unter II B 33) „als Führungsreferat aller Kirchenfragen anzusehen“ sei,890 doch bereits ein halbes Jahr später plädierte der Nachfolger von Werner Best als Chef des Amtes I („Verwaltung“), Bruno Streckenbach, für eine Ausgliederung der Gegnererforschung aus dem Amt II und ihre engere Verbindung zur Gegnerbekämpfung. Nach dessen Vorschlag musste Six von vier geplanten Abteilungen drei ( Gegnererforschung, Inlandsprobleme, Auslandsprobleme ) an die Ämter III bis V abgeben.891 Das Amt II rückte als Amt VII an das Ende der Ämterskala und wurde zum Archiv - , Presse - und Auskunftsdienst reduziert.892 Im Herbst 1940 beauftragte Heydrich Albert Hartl, die kirchenpolitische Abteilung in das Amt IV zu überführen. Das einstmals große und politisch aktive Führungsreferat des SD wurde aufgelöst, die Mitarbeiter größtenteils zur Gruppe IV B über wiesen, deren Leitung Hartl übertragen wurde. Sowohl in Berlin als auch in den regionalen Dienststellen musste der SD das angesammelte Kirchenmaterial an die Gestapo übergeben.893 Doch auch im Amt IV erhielt die kirchenpolitische Abteilung nie mehr den Einfluss, den sie bis Anfang 1940 innerhalb des SD innehatte.894 Neben den sicher vorhandenen Misshelligkeiten zwischen den alten Gestapobeamten und den übernommenen SD - Mitarbeitern zeugt der Bedeutungsverlust der Forschungsabteilungen und hier insbesondere der kirchenpolitischen Abteilung von der Geringschätzigkeit, mit der in der Zeit des Krieges eine langfristige Gegnererforschung und - bearbeitung behandelt wurde.895 In Zeiten des Krieges gab es keine Zeit für weltanschauliche Planungen. Die Priorität lag eindeutig bei der Exekution des rassistischen Expansionsprogramms.

3.5

Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern

Noch in der Nacht des 27. Februar 1933 verhafteten SA und SS zahlreiche Kommunisten und Sozialdemokraten. Durch die am folgenden Tag verabschiedete „Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat“ wurde die Verhaftungswelle rechtlich legitimiert.896 Unter dem Vorwand, diese politischen Gegner zu Mit889 Vgl. Hachmeister, Der Gegnerforscher, S. 216. 890 Aktennotiz von Six vom 5.1.1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 535, A. 5, unpaginiert ). 891 Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 331. 892 Vgl. ebd., S. 373. 893 Nur die Sachakten verblieben zur „wissenschaftlichen Auswertung“ und blieben daher erhalten. Da von der Gestapo kaum Aktenmaterial überliefert ist, gibt es ab 1941 auch die Quellenfülle der Vorkriegszeit nicht mehr. Vgl. ebd., S. 493. 894 Vgl. ebd., S. 532 f. 895 Vgl. ebd., S. 412. 896 RGBl. 1933 I, S. 83. Bis zum Ende des Dritten Reiches bildete diese Verordnung die juristische Basis aller Verhaftungen ohne gerichtliches Verfahren sowie der unbegrenzten Haftdauer in Konzentrationslagern.

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gliedern der Volksgemeinschaft umerziehen zu wollen,897 wurden diese in Haftstätten eingeliefert, die sich nur in seltenen Fällen unter Kontrolle der ordentlichen Justiz befanden. Tatsächlich aber ging es um die Ausschaltung des politischen Gegners, sei es durch Isolation, sei es durch den Terror auf der Straße oder in den Lagern.898 Die Einrichtung von Konzentrationslagern war kein streng gehütetes Geheimnis, sondern ein von vornherein erwogenes Mittel, um einerseits die ins Auge gefassten Gegner auszuschalten und andererseits die (noch ) nicht Inhaftierten abzuschrecken.899 Für das Jahr der „Machtergreifung“ gehen Klaus Drobisch und Günther Wieland von etwa 70 Konzentrationslagern, 60 Folterstätten und 30 sogenannten Schutzabteilungen in Justiz - und Polizeigefängnissen aus.900 Johannes Tuchel unterscheidet dabei zwischen 1) Schutzhaft in Justiz - und Polizeigefängnissen; 2) staatlichen Konzentrationslagern, die auf Initiative oder unter maßgeblicher Beteiligung staatlicher Oberbehörden entstanden ( zum Beispiel die Moorlager, Lichtenburg, Sachsenburg ); 3) regionalen Lagern unter staatlicher Kontrolle, die durch regionale und lokale Behörden in abgetrennten Bereichen von Provinzial- oder Landesarbeitshäusern errichtet wurden ( zum Beispiel Moringen, Brauweiler, Kislau ); 4) Lagern, die durch regionale Herrschaftsträger aus den Reihen der NSDAP mit polizeilich - exekutiven Funktionen gegründet wurden (zum Beispiel Stettin, Kemna ) und 5) Lagern, die von den Parteiformationen SA und SS initiiert wurden ( zum Beispiel Oranienburg, Dachau ).901 Zu Beginn variierten noch die Bezeichnungen für die neu errichteten Lager : Sammel - , Anhalte - , Ausweich - , Durchgangs - , Gefangenen - oder Gefangenensammellager konkurrierten miteinander, bis sich schließlich der Begriff „Konzentrationslager“ durchsetzte. Auf dem Gelände einer stillgelegten Pulverfabrik in Dachau entstand das erste bayerische Konzentrationslager.902 Im Gegensatz zu anderen Reichsteilen lagen hier Einweisungsbefugnis, Polizeigewalt und Verwaltung der Konzentrationslager in einer Hand, wenn auch in unterschiedlicher Eigenschaft: Die NSDAP - Organisation SS, die die Wachtruppen stellte, war Heinrich Himmler als Reichsführer - SS unterstellt, die Polizeigewalt bzw. Einweisungsbefugnis hatte er dagegen als kommissarischer Polizeipräsident von München respektive Chef der BPP inne. Diese Verschränkung von Partei - und Staatsgewalt wurde weder im System der Konzentrationslager noch im Verhältnis von Gestapo und SD, auch im RSHA, bis zum Ende des Regimes aufgelöst. Die Festnahmen und Übergriffe waren „Ausdruck einer sich etablierenden Diktatur“. Entsprechend erreichten die Haftzahlen in den Konzentrationslagern 897 898 899 900 901 902

Vgl. Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“, S. 234. Tuchel, Konzentrationslager, S. 37. Vgl. Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“, S. 232–239. Drobisch / Wieland, System der NS - Konzentrationslager, S. 73 f. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 42 f. Vgl. Benz / Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors, Band 2 : Frühe Lager, Dachau, Emslandlager.

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im Sommer 1933 mit knapp 27 000 Personen einen ersten Höhepunkt, ehe sie bis Mai 1934 auf ein Viertel und bis Sommer 1935 auf weniger als 4 000 Personen absank. Nach einer terroristischen Phase hatte sich das NS - Regime etabliert. Es mehrten sich die Stimmen, die in der weiteren Internierung von politischen Gegnern in Lagern keine Dringlichkeit mehr sahen.903 In den Augen Heinrich Himmlers jedoch waren Konzentrationslager ein unverzichtbares Mittel. Daher forderte er nicht nur die Beibehaltung der Lager, sondern deren gezielten Ausbau.904 Mit seiner Ernennung zum Leiter des preußischen Gestapa setzte sich der „bayerische Weg“ gegenüber der rivalisierenden SA, der Ministerialbürokratie im Innen - und Justizministerium sowie den neuen Länderadministrationen durch. Mit der Reorganisation der über das Reichsgebiet verstreuten Schutzhaftlagerstätten beauftragte Himmler im Mai 1934 SS - Brigadeführer Theodor Eicke, zum damaligen Zeitpunkt Kommandant des KZ Dachau. Auf seinen Befehl hin fasste er die kleineren Lager zusammen und versah sie mit einer einheitlichen Leitung und Bewachung durch SS - Führer und - Mannschaften. Eicke übertrug seine in Dachau entwickelte Lagerkonzeption als sogenanntes „Dachauer Modell“ auf alle verbliebenen und neu errichteten KZ. Die Lager unterstanden nun der „Inspektion der Konzentrationslager und SS - Wachverbände“ ( IKL ).905 Verwaltungstechnisch dem SS - Amt unterstellt, agierte die IKL von Oranienburg aus. Die Phase der Reorganisation der Konzentrationslager war mit der Ernennung Himmlers zum Chef der deutschen Polizei, dem Dritten Gestapo - Gesetz sowie der Zusammenfassung von Politischer Polizei und Kriminalpolizei zum Amt „Sicherheitspolizei“ im Frühjahr 1936 abgeschlossen. Die KZ waren dem Zugriff „unbefugter“ Behörden entzogen.906 Angesichts der immer offensiver betriebenen Vorbereitungen auf einen Angriffskrieg lag die Bedeutung der Konzentrationslager vor allem in der Schaffung von Haftraum für verschärfte sicherheitspolizeiliche Maßnahmen im Kriegsfall. Zudem hegte Himmler Hoffnungen, mit billigen Arbeitskräften in den SS Betrieben einen Beitrag zum Vier - Jahres - Plan zu leisten. Daneben lagen dem Festhalten am System der Konzentrationslager nicht nur sicherheits - oder machtpolitische Erwägungen, sondern auch die Umsetzung des Prinzips der sozialrassistischen Generalprävention zu Grunde. Dieses auch von der Gestapo praktizierte Prinzip sah nicht mehr nur im politischen Gegner, sondern auch in der „physischen Degeneration“ Einzelner eine Gefahr für den „Volkskörper.907 Die Beschreibung der Häftlinge durch Himmler anlässlich einer Rede vor Wehrmachtsoffizieren im Januar 1937 fasst diese Sichtweise prägnant zusammen : „Es ist ein Abhub von Verbrechertum, von Missratenen. Es gibt keine lebendigere Demonstration für die Erb - und Rassegesetze als ein Konzentrationslager.“908 903 904 905 906 907

Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 24 f. Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 344. Vgl. Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager. Herbert / Orth / Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 26. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 33 f.; Tuchel, Konzentrationslager, S. 343 f. 908 Zit. in Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 44 ( FN 44).

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1936 leitete der Bau des Lagers Sachsenhausen Veränderungen im System der Konzentrationslager ein. 1937 folgte Buchenwald bei Weimar,909 1939 Flossenbürg in der Oberpfalz,910 nach dem Anschluss Österreichs 1938 Mauthausen und 1939 das Frauenlager Ravensbrück.911 Die neuen Lager entstanden nun nicht mehr in bereits vorhandenen Gebäuden, sondern in der Nähe von Produktionsstätten der Baustoffgewinnung, Granitsteinbrüchen oder Ziegelwerken. Hier wurden die Häftlinge als billige Arbeitskräfte eingesetzt.912 Obwohl die meisten Bibelforscher, die die Polizei 1933/34 wegen Weiterbetätigung aufgriff, vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt wurden, kamen doch einige wenige in Schutzhaft. Deren Zahl erhöhte sich, als nach der Nichtbeteiligung an der Volksabstimmung und der Reichstagswahl im November 1933 die Anweisung erging, alle diejenigen in Schutzhaft zu nehmen, die sich nachweisbar illegal betätigten.913 Carina Baganz nennt beispielsweise 60 Bibelforscher im KZ Burg Hohnstein und 20 in Colditz.914 Zu einem nennenswerten Bestandteil der „Häftlingsgesellschaft“ wurden die Bibelforscher ab 1935, als Hunderte Angehörige der Glaubensgemeinschaft nach Sachsenburg, Ester wegen und Moringen eingewiesen wurden. Im Sommer 1935 befanden sich beispielsweise ungefähr 400 Zeugen Jehovas in Sachsenburg.915 Bis zum Beginn des Krieges blieb ihr Anteil bei fünf bis zehn Prozent der Belegungsstärke, in einzelnen Lagern lag er aber auch weit darüber.916 Die inhaftierten Bibelforscher setzten auch in den Lagern ihre spezifischen Glaubenspraktiken fort. Sie verweigerten den Hitlergruß, teilweise auch andere Ehrenbezeugungen gegenüber den Wachmannschaften und lehnten „alles Militärische ab“.917 Da für die im KZ Moringen befindlichen Bibelforscherinnen Arbeiten für das Winterhilfswerk ( WHW ) – sie sollten Kleiderspenden ausbessern – eine direkte Unterstützung des nationalsozialistischen Regimes bedeuteten, verweigerten sie diese.918 Genauso lehnten sie die Mitarbeit und Teilnahme an zeremoniellen Anlässen ab. Im Frauenkonzentrationslager Lichtenburg folgten die Frauen der Aufforderung nicht, die Kommandantur zu Hitlers 909 910 911 912 913 914 915

Vgl. Benz / Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors, Band 3 : Sachsenhausen, Buchenwald. Vgl. Benz / Distel ( Hg.), Flossenbürg. Vgl. Strebel, Das KZ Ravensbrück. Vgl. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung. Vgl. Abschnitt II.1.6. Vgl. Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“, S. 142 f. Im Juli 1935 befanden sich insgesamt 538 Häftlinge in Sachsenburg. Vgl. ebd., S. 254 f. Hintergrund für die Zunahme waren verschiedene Richtlinien, die bei Ablehnung eines Haftbefehls für ergriffene Bibelforscher grundsätzlich Schutzhaft anwiesen, im Wiederholungsfalle oder bei Funktionären Lagerhaft. Vgl. Abschnitt II.2.7. 916 Für das KZ Fuhlsbüttel und Lichtenburg vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 8; für das KZ Ravensbrück vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 315 f. 917 Vgl. Deutschland - Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ( Sopade ) 1934–1940. Nachdruck in sechs Bänden, Salzhausen / Frankfurt am Main 1980, Band 4 (1937), S. 707 und 714. Zit. in Garbe, Der lila Winkel, S. 11; Lagerkommandant des KZ Sachsenburg an die IKL vom 25. 4.1935. Zit. in ebd., S. 12; Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 100 f. 918 Vgl. Harder / Hesse, Die Zeuginnen Jehovas, S. 53.

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49. Geburtstag zu schmücken. Regelmäßig blieben sie auch beim Abspielen des Horst - Wessel - Liedes sitzen und erschienen nicht zum Gemeinschaftsempfang von Führerreden über den Rundfunk.919 Nach den Grundsätzen ihres Glaubens handelnd, ließen es sich die Bibelforscher - Häftlinge nicht nehmen, den Mithäftlingen und teilweise sogar dem Wachpersonal ihre religiösen Vorstellungen und Hoffnungen zu predigen.920 Eine Folge der Missionsaktivitäten der Bibelforscher war deren verschärfte Kontrolle als Gruppe. Im Dezember 1935 ordnete der Lagerführer des KZ Sachsenburg an, darauf zu achten, dass Bibelforscher in ihrer freien Zeit nicht mit anderen Häftlingen sprechen.921 Darüber hinaus gingen die einzelnen Lagerleitungen ab 1935/36 unabhängig dazu über, die Häftlingsgruppen nach ihrem Einlieferungsgrund zu kennzeichnen. So wurden politische Häftlinge in Dachau mit blauen, Sicherheitsverwahrte mit grünen und Bibelforscher mit roten Stoffstreifen unterschieden. In Sachsenhausen wiederum hatten politische Häftlinge rote Streifen zu tragen. Erst 1937 wurde ein einheitliches System der Kennzeichnung mit farbigen Winkeln, die noch kombiniert werden konnten, eingeführt.922 Bibelforscher erhielten den lila Winkel. Diese der besseren Kenntlichmachung geschuldete exklusive Markierung hob die Bibelforscher aus der Häftlingsgesellschaft heraus : Sie waren die einzigen nach ihrer Religionszugehörigkeit gekennzeichneten KZ - Insassen.923 Zudem wurden den Bibelforscher in den meisten Lagern separierte Unterkünfte zugewiesen, um so die zur Mission zu nutzenden Kontaktmöglichkeiten auf ein Minimum zu beschränken.924 Die individuellen und kollektiven Verweigerungshandlungen beantworteten die Lagerleitungen mit einem abgestuften, sich aber immer weiter radikalisierenden Strafkatalog. In Moringen wurden die renitenten Bibelforscherinnen noch mit Einzelhaft sowie Post - und Geldsperre bedacht.925 Im nachfolgenden Frauenlager Lichtenburg folgten Essensentzug, Dunkelhaft im „Bunker“, körperliche Gewalt, die Verweigerung medizinischer Behandlung und mehrmonatige Postsperren.926 In den Männerlagern, wie Dachau und Sachsenhausen,

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Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 102–108. Vgl. Daxelmüller, Solidarität und Überlebenswille, S. 31. Zit. nach Garbe, Der lila Winkel, S. 9. Vgl. Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften Häftlingskleidung, S. 59–63. Zur Funktion der Kennzeichnung von Häftlingen für die SS vgl. Daxelmüller, Solidarität und Überlebenswille, S. 24 f. Geistliche der großen Kirchen wurden zumeist unter die politischen Häftlinge gerechnet. Nur Angehörige von nicht zur IBV gehörenden Bibelforschergruppen und der Siebenten - Tags - Adventisten ( Reformationsbewegung ) trugen auch den lila Winkel. Letztere stellten in den KZ ca. 50 Häftlinge. Vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 10. Vgl. ebd., S. 9; für Moringen vgl. Harder / Hesse, Die Zeuginnen Jehovas, S. 53 f. Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 81–85. Zu Frauen in Konzentrationslagern und der schrittweisen Verschärfung deren Behandlung von Moringen über Lichtenburg bis zu Ravensbrück und deren stetiger „Annäherung an die ‚Lebensumstände‘ in den Männer - KZ“ ( Hans Hesse ) vgl. Riebe, Frauen in Konzentrationslagern. Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 108–112.

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wurden die Zeugen Jehovas nicht nur obligatorisch in die Strafkompanien eingewiesen, in denen die Gefangenen zu Schwerstarbeiten gezwungen und besonders gequält wurden. Sie kamen auch in sogenannte Sonderlager, in denen die Betreffenden nicht nur von den anderen Häftlingen und der Außenwelt isoliert waren, und unterlagen dort besonders harten Haftbedingungen. Verstöße gegen die Lagervorschriften zogen regelmäßig Arrest - und Prügelstrafen nach sich.927 Wegen ihrer konsequent renitenten Haltung wurden Bibelforscher zu einem „besonderen Hassobjekt der SS“ ( Garbe ). Voraussetzung für diese Entwicklung war allerdings nicht das Verhalten der Bibelforscher, sondern die „kaum kontrollierte Bevollmächtigung der SS - Führer und Wachmannschaften, Herr über Leben und Tod der Häftlinge als ‚Untermenschen‘ zu sein“.928 Nicht wenige wollten feststellen, ob der in den Lagern gezeigte und in den Polizeidossiers oft als unbeugsam charakterisierte Glaube durch körperliche Misshandlungen gebrochen werden könnte.929 Hinzu kam die innerhalb der SS - Verbände propagierte Feindseligkeit gegenüber dem christlichen Glauben. Dieser wurde nicht nur wegen seiner jüdischen Wurzeln, sondern wegen seines Universalismus und der Betonung der Gleichheit vor Gott auch als frühe Form des Bolschewismus abgelehnt.930 Besonders die KZ - Wachmannschaften zeigten ihre antichristliche Haltung durch die Zerstörung von Kreuzen, Marienstatuen und Marterln in der Umgebung der Lager931 oder in der Verhöhnung von besuchsweise kommenden Geistlichen.932 In Mauthausen waren beispielsweise religiöse Handlungen untersagt und wurden hart bestraft.933 Gegenüber den Zeugen Jehovas äußerte sich diese Haltung nicht nur durch die Verspottung als „Bibelwürmer“, „Bibelbienen“, „Jordanscheiche“ oder „Paradiesvögel“.934 Bei der Ankunft in den Lagern und den regelmäßigen Verhören folgten jedem Bekenntnis zu ihrem Gott Misshandlungen, nicht selten mit dem Kommentar, im Lager an der Stelle Gottes zu stehen.935 Die exklusive und besonders harte Behandlung der Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern bestärkte diese in ihrer Sichtweise, in eine Situation der religiösen Bewährung gestellt zu sein, in der es in der Tradition der frühchristlichen Märtyrer standzuhalten galt. Diese Auffassung wurde dadurch verstärkt, dass Bibelforscherhäftlinge regelmäßig zur Lossagung von ihrem Glauben aufgefordert und ihnen dann eine baldige Entlassung aus der Haft in Aussicht

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Vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 12–15. Niethammer, Häftlinge und Häftlingsgruppen, S. 1051. Vgl. Niermann, Politische Straf justiz im Nationalsozialismus, S. 303 ( FN 391). Vgl. Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, S. 88–96; Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 123. Vgl. Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 192. Vgl. Daxelmüller, Kulturelle Formen und Aktivitäten, S. 998 f. Vgl. Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 272. Vgl. Kogon, Der SS - Staat : Das System der deutschen Konzentrationslager, S. 265; Milton, Deutsche und deutsch - jüdische Frauen, S. 14. Vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 13.

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gestellt wurde.936 Dieser Umstand hat in der Erinnerungsliteratur zur fälschlichen Annahme geführt, die Bibelforscher seien „freiwillige Gefangene“ gewesen, die sich mit einer Unterschrift selbst entlassen konnten.937 Bis Mitte Dezember 1937 bekamen Bibelforscherinnen in Moringen zu den regelmäßigen Haftprüfungsterminen eine Verpflichtungserklärung vorgelegt, die auch für andere Häftlingsgruppen galt : Wer unterschrieb, war verpflichtet, sich „jeder umstürzlerischen und staatsgefährdenden Tätigkeit“ zu enthalten und verzichtete auf Schadensersatzansprüche.938 Zeugen Jehovas verstanden sich immer als politisch neutral, konnten solche Erklärungen also ohne Gewissenskonflikte unterschreiben. Erst ab dem 20. Dezember 1937 sind in Moringen spezifisch für Bibelforscher formulierte Erklärungen nachweisbar. Diese enthielten den Zusatz, dass eine „Abkehr von der IBV“ erwartet würde. Auch diese Erklärung stellte kein besonderes Hindernis dar, da Bibelforscher dem „diesseitigen Werkzeug“ ihres Glaubens, der Internationalen Bibelforscher - Vereinigung als Religionsgemeinschaft, nicht dieselbe Bedeutung zumaßen wie dem Glauben an sich. Trotzdem wurden die Häftlinge eben nicht immer und sofort nach der Unterschriftsleistung entlassen.939 Ausschlaggebend war die innere Umkehr, die in Gesprächen mit der Lagerleitung sowie durch das alltägliche Verhalten kundgetan wurde. Erst die vereinheitlichte Fassung vom 24. Dezember 1938 stellte eine wirkliche Scheidemarke dar, weil nun der eigene Glaube als Irrlehre bezeichnet wurde und sich die Häftlinge verpflichteten, eigene Glaubensgenossen der Polizei auszuliefern.940 Erst jetzt war es Zeugen Jehovas unmöglich zu unterschreiben, wollte man nicht den eigenen Glauben verleugnen. Hesse und Harder ver weisen zudem darauf, dass sich das widerständige Verhalten der Bibelforscher nicht auf die verweigerte Unterschriftsleistung reduzieren lasse. Häftlinge, die die Unterschrift verweigerten, mussten sich nicht automatisch an anderen Verweigerungshandlungen im Lager beteiligen, wie umgekehrt Personen, die die Unterschrift leisteten, sich in der Freiheit wieder am illegalen Glaubensleben beteiligten.941 936 Vgl. Rahe, Die Bedeutung von Religion und Religiosität, S. 1019. 937 Vgl. Beispiele in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 70. Zu den Versionen von Verpflichtungserklärungen außerhalb der Lager vgl. Angela Kawell, „... ist es mir nicht möglich ...“. Die sog. Verpflichtungserklärungen des Gestapoaktenbestandes des HStA Düsseldorf, URL : http ://www.standhaft.org / forschung / forum / index.html (3. 2. 2008). 938 Wortlaut Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 66. 939 Umgekehrt gab es auch Entlassungen ohne die geforderte Unterschriftsleistung. Anlässlich der Entlassungsaktion zum 50. Geburtstag Hitlers wurden auch über 60 - jährige Bibelforscher entlassen, die „die Abgabe einer Loyalitätserklärung ver weigern“. Vgl. Anordnung Reinhard Heydrichs vom 5. 4.1939, betr. : Entlassung von Schutzhäftlingen anlässlich des Führergeburtstages ( BArch, Militärarchiv, MFB 1/ SF - 01/4085, unpaginiert ). 940 Wortlaut Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 70. Vgl. auch ähnliche Diskussionen um Verpflichtungserklärungen durch Kommunisten in Hirschinger, „Gestapoagenten, Trotzkisten, Verräter“, S. 298 f. 941 Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 99.

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In den ersten Kriegsjahren schnellte die Zahl der KZ - Insassen massiv in die Höhe. Von August 1939 bis zum Frühjahr 1942 hatte sich die Zahl der Häftlinge vervierfacht. Sie stieg von 21 000 auf 70 000–80 000.942 Mit der Einrichtung der sogenannten A - Kartei wurden schon frühzeitig die Voraussetzungen geschaffen, im Kriegsfalle tatsächliche, potentielle oder imaginierte Feinde in den Konzentrationslagern zu isolieren.943 Vertreter der Arbeiterbewegung und der polnischen Minderheit, Geistliche, aber auch Juden und der „Arbeitsbummelei“ Verdächtige wurden in die Lager eingewiesen. Der größte Teil der Neueingewiesenen aber waren Ausländer : Zum einen die in der sogenannten Nachtund- Nebel - Aktion ins Reich verschleppten nord - und westeuropäischen politischen Gegner, zum anderen wegen angeblicher Arbeitsbummelei von der Gestapo in die KZ eingewiesene polnische und sowjetische Zwangsarbeiter sowie gefangene Soldaten der Roten Armee. Seit Sommer 1940 waren die deutschen Häftlinge in den Lagern in der Minderheit, bis Sommer 1942 sank ihr Anteil auf ein Drittel.944 Da die SS - Totenkopf - Standarten verstärkt an der Front eingesetzt wurden, übernahmen ab Ende 1939 ältere und kriegsuntaugliche Mitglieder der Allgemeinen SS den KZ - Wachdienst. Der neue Leiter der IKL, Richard Glücks, sah sich im Januar 1940 gezwungen, die neuen Wachmannschaften zur Härte gegenüber den Häftlingen zu ermahnen und rücksichtslose Bestrafung von „Gefühlsduseleien“ anzudrohen.945 Diese Ermahnung widerspricht den reellen Lebensbedingungen der Häftlinge nach Kriegsbeginn. Wie in den Vorkriegsjahren wurden die Häftlinge in SS - Werkstätten, im Ausbau der Lager und in der Baustoffproduktion eingesetzt. Das verkündete Ziel, die Häftlinge einem Städtebauprogramm nutzbar zu machen, wurden nie erreicht, da die Produktivität sehr gering war. Insbesondere die Steinbruch - Arbeitskommandos wurden gezielt zur Tötung von Häftlingsgruppen genutzt.946 Parallel dazu verschlechterten sich die Haftbedingungen ab dem Kriegsbeginn immer mehr. Die Sterblichkeitsrate in den Lagern stieg massiv: In Buchenwald von 10 % 1938 auf 19 % 1941, in Dachau von 4 % 1938 auf 36 % 1942, in Mauthausen von 24 % 1939 auf 76 % 1940. Im KZ Sachsenhausen verstarben 1938 von 8 309 Häftlingen 229, 1941 dann von 11111 registrierten Häftlingen 1816.947 942 Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 97. 943 Anordnung Reinhard Heydrichs vom 7. 7.1938, betr. A - Kartei ( BArch, Militärarchiv, MFB 1/ SF - 03/16610, unpaginiert ). Zumindest 1937 wurden „maßgebliche Bibelforscher“ zu den „wirklich gefährlichen Staatsfeinden“ gezählt, die in die A - Kartei aufzunehmen seien. Vgl. Reinhard Heydrich an Stapostelle Köln vom 5. 2.1936 sowie vom 8.1.1937 ( BArch, R 58, 264, Bl. 195–197 bzw. Bl. 275–277). Zur A - Kartei vgl. Wysocki, Die Geheime Staatspolizei, S. 54–57. 944 Vgl. Herbert / Orth / Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 29; Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 103. 945 Inspekteur der IKL vom 22.1.1940. Abgedruckt in Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 65. 946 Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 107. 947 Zahlenangaben bei Herbert / Orth / Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 29 f.

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Zum Massensterben an Unterernährung und den Tötungen in den Strafkommandos kamen in dieser Phase der Konzentrationslager noch die gezielten Exekutionen. Abgesichert durch die „Grundsätze der inneren Staatssicherung während des Krieges“ von Anfang September 1939 erhielten die KZ offiziell die Funktion von Hinrichtungsstätten. Sowohl Zivilisten, als auch Schutzhäftlinge wurden hier unter Ausschaltung der Justiz erschossen und gehenkt.948 Zudem entwickelten sich die Lager zu Orten von Massentötungen. Von 1941 bis 1943 wurden mehrere tausend Häftlinge im Rahmen der „Sonderbehandlung 14f13“ getötet. Sie wurden in den „Euthanasie“ - Stätten Bernburg, Pirna - Sonnenstein und Hartheim vergast. Damit sollte der Anteil kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge in den Konzentrationslagern gesenkt werden. In diese Aktion wurden auch politisch oder anderweitig Missliebige und Juden einbezogen.949 Die auf Vernichtung zielenden Maßnahmen trafen nicht alle Häftlingsgruppen gleichermaßen. Vor allem sowjetische Kriegsgefangene, die wenigen jüdischen Häftlinge und die in den Strafkompanien Zusammengefassten wurden Opfer.950 Zu Letzteren gehörten Bibelforscher zumindest in der Anfangsphase des Krieges. In den Jahren 1939 und 1940 wurden die Bibelforscher in den Konzentrationslagern besonders brutal behandelt. Neben der Weigerung sich dem Willen der SS in den Lagern bedingungslos zu unterwerfen, lag dies vor allem an der Ablehnung der männlichen Häftlinge, sich zum Wehrdienst zur Verfügung zu stellen. Für die Lager Sachsenhausen und Flossenbürg951 sind öffentliche Exekutionen von wehrdienstver weigernden Zeugen Jehovas nachgewiesen. In Buchenwald drohte die Lager - SS eine Massenexekution dagegen nur an.952 Neue Bibelforscherhäftlinge wurden bei Ankunft in die KZ obligatorisch für drei Monate in die Strafkompanien eingewiesen, in Mauthausen verblieb die gesamte Bibelforschergruppe über Monate in der Strafkompanie. Der Bibelforscher Karl Siebeneichler beschrieb seine Erfahrungen in der Strafkompanie wie folgt : „In der Strafkompanie mussten wir zumeist zusammen mit Juden schwerste Arbeiten verrichten. Ich hatte zunächst Erde und Steine zu tragen. Es mussten immer zwei Mann an einer Trage arbeiten, und die damaligen Vorarbeiter ( Häftlinge und zwar Berufsverbrecher wie Politische ) taten ihr möglichstes, um uns das Leben schwer zu machen. Mit einer Trage von 1½ Zentner Gewicht mussten wir Laufschritt machen und wurden dabei mit Knüppeln angetrieben wie Tiere. Einige meiner Kameraden waren bei der Fuhrkolonne, d. h. sie mussten schwer 948 Vgl. Grundsätze der inneren Staatssicherung während des Krieges vom 3. 9.1939 (BArch, R 58, 243, Bl. 202–204); Rundschreiben des RSHA vom 20. 9.1939 ( ebd., Bl. 215); Durchführungsbestimmungen für Exekutionen vom 6.1.1943. Abgedruckt in Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager, S. 105–108. 949 Zur Aktion „14 f 13“ vgl. Grode, Die Sonderbehandlung "14f13"; für Ravensbrück vgl. Schäfer, Zum Selbstverständnis von Frauen im Konzentrationslager, S. 187 f; für Mauthausen vgl. Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 216– 247. 950 Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 112. 951 Auskunft des Leiters der KZ - Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skribeleit. 952 Vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 17.

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beladene Pferdewagen ziehen. Die Strafkompanie musste von früh bis abends spät schwer arbeiten, auch sonntags. An diesem Tag war für die anderen Häftlinge Mittags Arbeitsschluss und Appell. Die Strafkompanie musste stehen bleiben bis abends 7 oder 8 Uhr je nach der Laune des diensthabenden Scharführers, zu essen bekamen sie nichts.“953 Durch die Misshandlungen und gezielten Tötungen in den abgesonderten Strafkompanien, die Strafarbeit in den Steinbrüchen und die unzureichende Ernährung starben im Winter 1939/40 in Sachsenhausen mit 130 Bibelforschern jeder Vierte und im ersten Quartal 1940 in Mauthausen von 143 Häftlingen jeder Dritte.954 Für Mauthausen lässt sich der Zusammenhang mit der Kriegsdienstver weigerung gut nachweisen. Die Massentötungen begannen, als Ende Februar eine Musterungskommission im Lager erschien und ca. 35 Bibelforscher die Annahme des Wehrpasses verweigerten. Die Liquidierungen hörten erst auf, als im Frühsommer 1940 vermehrt ausländische – zumeist polnische – Häftlinge eingeliefert wurden, denen sich die Wachmannschaften nun zuwandten. Als im August 1941 erneut eine Musterungsaktion in Mauthausen begann und von den neuen zu musternden Bibelforschern keiner bereit war, seinen Wehrdienst anzutreten, war die Lager - SS gerade mit der Tötung holländischer Juden und der Zusammenstellung von Transporten in die „Euthanasie“ - Stätte Hartheim beschäftigt. Die Folgen waren daher glimpf licher.955 Im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück begann die Eskalation etwas später. Hier verweigerten Teile der Häftlingsgruppe die Mitarbeit an der Kriegsproduktion. Nachdem es im Laufe des Jahres 1941 schon zu vereinzelten Tötungen deswegen kam, eskalierte die Situation, als im Januar 1942 das Arbeitskommando „Angorazucht“ die Arbeit einstellte. Die Bibelforscherinnen glaubten zu wissen, dass die Wolle der Kaninchen für Heereszwecke genutzt würde. Andere Arbeitskommandos schlossen sich der Arbeitsniederlegung an. Nachdem viele der Arbeitsver weigerinnen durch Isolation und Essensentzug körperlich geschwächt waren, selektierten SS - Ärzte diese im Zuge der „14f13“- Aktion aus und ließen sie in Bernburg vergasen. 44 Bibelforscherinnen kamen auf diese Weise ums Leben. Von den sogenannten Extremen, also Bibelforscherinnen, die im Lageralltag kaum Kompromisse schlossen, wurden im März und im August 1942 über 100 Frauen nach Auschwitz deportiert, von denen nicht wenige dort getötet wurden.956 In der Zeit von 1939 bis 1942 kamen bis zu 164 Bibelforscherinnen, das sind ca. 20 Prozent, ums Leben.957

953 Erinnerungsbericht von Karl Siebeneichler, Buchenwald, vom 24. 4.1945 ( WTA, Dok 24/04/45). 954 Vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 15; Liste der Zeugen Jehovas, die in den Konz. - Lagern Dachau, Mauthausen und Gusen ihre Treue mit dem Tode besiegelten ( WTA, Dok 06/45 [1]). 955 Vgl. Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 218 und 281 f. 956 Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 165–172. 957 Vgl. ebd., S. 174 f.

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4.

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas 1933–1945

Auf lösung (1943–1945)

Angesichts der Kriegswende nach der deutschen Niederlage vor Stalingrad im Winter 1942/43 trat der Kampf gegen den „weltanschaulichen Gegner“ zunehmend in den Hintergrund.958 Der Zwei - Fronten - Krieg spiegelte sich zwar auch in der Propaganda wider : so wurden nun einerseits der Bolschewismus als grausame Judenherrschaft, andererseits die westliche „Plutokratie“ als Mittel des Weltjudentums zur Ausbeutung der Völker dargestellt.959 Die Bevölkerung war jedoch mit der Bewältigung des Alltags beschäftigt, die weltanschauliche Indoktrinierung mobilisierte das Volk recht wenig. Die antisemitische Trias aus Weltjudentum, Bolschewismus und Freimaurerei verlor gegenüber den Durchhalteparolen an Bedeutung. Der Widerspruch von Propaganda und Realität wurde immer evidenter. Die zerstörten Städte, die Listen gefallener Soldaten und Todesanzeigen in den Zeitungen sowie die bedrohlichen Meldungen über den Vormarsch der alliierten Kriegsgegner standen dem in der nationalsozialistischen Propaganda kolportierten Schicksalsglauben in Bezug auf den Kriegsausgang entgegen.960 Wer diesen Widerspruch artikulierte, geriet in Gefahr, der Zersetzung der Wehrkraft bezichtigt zu werden. Jede von den Durchhalteparolen abweichende Äußerung wurde in den Kontext des „Dolchstoßes“ von 1918 gestellt. Während die Verfolgung der noch in Freiheit lebenden Zeugen Jehovas einerseits angesichts der Intensität des nun auf die gesamte Bevölkerung ausgeweiteten polizeilich- präventiven Zugriffs ihren exemplarischen Charakter verlor, diese andererseits aber im Falle einer Verhaftung wie alle der „Zersetzung“ Bezichtigten mit härtesten Strafen rechnen mussten, kam es für die in den Konzentrationslagern festgehaltenen ( deutschen ) Bibelforscher zu einer gänzlich anderen Entwicklung. Der Zwang, nun auch die letzten Reserven zu mobilisieren, ließ den Wert der Häftlinge – zumal der KZ - erfahrenen, deutschsprechenden und ausgebildeten – steigen. Dieser Wandel verbesserte die Überlebenschancen der Betroffenen.

4.1

Der Wandel in den Konzentrationslagern

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und dem Scheitern der deutschen Kriegsstrategie im Winter 1942/43 fiel die Entscheidung für die totale Nutzung der KZ - Häftlinge für die Rüstungsproduktion. Himmler hatte dafür schon im März 1942 die Voraussetzungen geschaffen, als er die Inspektion der Konzentrationslager als „Amtsgruppe D“ in das neu gebildete SS - Wirtschafts Verwaltungshauptamt ( WVHA ) unter der Führung Oswald Pohls eingegliedert hatte. Im Zuge der sich verändernden Kriegslage bekam der Arbeitseinsatz der 958 Vgl. Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz, S. 373. 959 Vgl. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 429. 960 Vgl. Kershaw, Hitler, Band II, S. 797.

Auflösung

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Häftlinge eine ganz neue Bedeutung. Die SS nutzte die unter ihrer Gewalt stehenden Arbeitskräfte, um an dem immer wichtiger werdenden Rüstungsbereich beteiligt zu werden. Dabei verdeutlicht die Art des Arbeitseinsatzes, wie wenig Wert auf die effektive Nutzung der Häftlingsarbeit gelegt wurde. Die Wirtschaftsbetriebe der SS glichen eher Mord - als Arbeitsstätten. Das gewalttätige Antreiben durch die KZ - Aufseher, die äußerst kräftezehrende Arbeit sowie die minimale Verpflegung führte bereits innerhalb kurzer Zeit bei den meisten Gefangenen zur völligen Erschöpfung und Arbeitsunfähigkeit. Die Produktivität der Häftlinge war unter diesen Umständen minimal und erreichte nur etwa 10 Prozent derjenigen eines Arbeiters bei Daimler - Benz oder im Volkswagenwerk.961 Die geringe Produktivität sowie der Unwillen der Industrie, der SS die Kontrolle über die Rüstungsproduktion zu übertragen, waren die Gründe, warum die SS ab 1942/43 dazu überging, Häftlinge in großer Zahl kostenpflichtig zu vermieten. Zu diesem Zweck wurden bei den jeweiligen Arbeitsstätten eigene Außenlager errichtet. Damit wurden die großen Konzentrationslager zu Stammlagern und zu Drehscheiben und Durchgangsstationen für das schnell wachsende System von Außenlagern für KZ - Häftlinge. Doch auch unter den Bedingungen der Zwangsarbeit, in Kooperation mit der privaten und staatlichen Industrie, verbesserten sich die Überlebenschancen der eingesetzten Häftlinge nur wenig. Der Befehl Pohls vom 30. April 1942, dass „dieser Einsatz [...] im wahren Sinne des Wortes erschöpfend sein [ muss ], um ein Höchstmaß an Leistung zu erreichen“,962 wurde mit aller Konsequenz durchgesetzt. Die SS nutzte und verwertete die Menschen bedingungslos für ihre Zwecke. Am 26. Oktober 1943 ordnete Pohl in einem Schreiben an die KZ - Kommandanten an, dass künftig mit den Häftlingen anders umgegangen werden solle. Er wollte dies jedoch nicht als „Gefühlsduselei“ verstanden wissen, sondern als Beitrag der Gefangenen am deutschen Sieg. Nur dies rechtfertige eine Verbesserung der Lebensbedingungen.963 So wurde nun reichsdeutschen, später auch anderen Häftlingsgruppen der Empfang von Lebensmittelpaketen erlaubt.964 Es wurde teilweise Zivilkleidung verteilt oder auch Papier als Wärmedämmung unter der Häftlingskleidung gestattet. Aber abgesehen von der völlig mangelhaften Ernährung sowie der vollkommen unzureichenden medizinischen und hygienischen Versorgung der Gefangenen hatte sich das Verhalten der Lager - SS gegenüber den Häftlingen zumeist nicht verändert. Sie ignorierten nach Belieben die angeordneten Vergünstigungen und bestraften in einigen Lagern Häftlinge, die Papier unter der Kleidung trugen.965 Sie konnten oder wollten dem Funktionswandel der KZ nur bedingt folgen.966 Allerdings entsprach der auf die 961 962 963 964 965 966

Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 224. Zit. in Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 166. Zit. in Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften Häftlingskleidung, S. 72. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 194. Vgl. Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften Häftlingskleidung, S. 72. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 241.

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KZ - Insassen ausgeübte Terror zunehmend der ökonomischen Zielsetzung der Lager. Ihr Tod war noch immer einkalkuliert und zum Teil auch erwünscht. Doch sollte dieser nun Resultat des Arbeitseinsatzes unter geringstem Aufwand von anderweitigen Ressourcen sein und nicht unüberlegter Misshandlungen.967 Die Phase nach 1943 ist auch durch das massive Anwachsen der Häftlingszahlen gekennzeichnet. Diese stieg von 203 000 im April 1943 auf 524 000 im August 1944. Im Januar 1945 waren gar mehr als 700 000 Menschen in den Konzentrationslagern zusammengepfercht.968 Immer mehr Menschen wurden vor allem aus Osteuropa in die Konzentrationslager verschleppt, um die Kriegsproduktion unter brutalen Arbeitsbedingungen zu steigern. Die deutschen Häftlinge gerieten so im Laufe der Zeit in die Minderheit. Lag die Zahl der nichtdeutschen Häftlinge in Buchenwald beispielsweise bis zum Herbst 1941 bei einem Viertel, waren es im August 1942 bereits zwei Drittel, im Dezember 1943 83 Prozent und im Oktober 1944 dann 92 Prozent.969 Ausländische Häftlinge bekamen zumeist den roten Winkel der politischen Häftlinge zugewiesen. Daher ordnete sich die Häftlingsgesellschaft immer weniger an den von der SS vergebenen Kategorien, sondern entlang der Nationalitäten. Mit der zunehmenden Internationalisierung entwickelte sich eine rassistische Hierarchisierung der Gefangenengruppen. Aus der rassistischen Hierarchisierung und derjenigen im System der Selbstver waltung eines KZ entwickelte Wolfgang Sofsky eine „taxonomische Ordnung“ für die Spätzeit der Konzentrationslager. An der Spitze standen die „BVer“ ( Befristete Vorbeugehäftlinge ) und die deutschen politischen Häftlinge. Beide bildeten in den Lagern die Prominenz und lieferten sich Kämpfe um die wichtigsten Positionen. Das obere Mittelfeld stellten die deutschen „Asozialen“, die Bibelforscher, Tschechen und die West - sowie die Nordeuropäer, das untere Mittelfeld die deutschen Sicherheitsverwahrungshäftlinge, die Polen und Südeuropäer. Die sich durch nahezu totale Ohnmacht gegen Hunger, dauernde Repressalien und Mordaktionen auszeichnende Unterklasse in den KZ bildeten deutsche Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten, Sinti und Roma sowie Juden.970 An der Spitze der sich neu entwickelten Häftlingshierarchie standen also „reichsdeutsche“ Gefangene sowie west - und nordeuropäische Häftlinge. Diese rechnete die SS zum „deutschen Blut“. So forderte die Amtsgruppe D im WVHA die Lagerkommandanten am 2. Dezember 1942 auf, den Tod von reichsdeutschen Häftlingen zu verhindern, da deren hohe Sterblichkeit Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt hätte. Sie durften nun Lebensmittelpakete empfangen und nach einer Anweisung Himmlers war bei ihnen die Prügelstrafe nur zurückhaltend zu gebrauchen.971 Außerdem setzte die SS diese Häftlingsgruppen 967 968 969 970 971

Vgl. Freund, Häftlingskategorien und Sterblichkeit, S. 883. Vgl. Herbert / Orth / Dieckmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 30. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 103 f. Vgl. Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 149–151. Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 194.

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bevorzugt auf geschützten Arbeitskommandos ein. Da für den Ver waltungsdienst zudem gewisse bürokratische Fähigkeiten, Organisationstalent oder Sprachkenntnisse erforderlich waren, wurden deutschsprechende und erfahrene Häftlinge besonders häufig auf wichtige Funktionsstellen gesetzt.972 An dieser Entwicklung konnten auch die deutschen Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern teilhaben. Zumeist „erfahrene Konzentrationäre“ und geschickte Arbeiter wurden sie von der SS für die sogenannte Häftlingsselbstver waltung und die Lagerbewirtschaftung eingesetzt, was ihnen Zugang zu zusätzlichen Lebensmitteln, Medikamenten und besseren hygienischen Verhältnissen verschaffte. Nach Auswertung der Unterlagen aus dem Konzentrationslager Neuengamme kommt Detlef Garbe zu der Feststellung, dass Bibelforscher im Vergleich zu anderen deutschen Häftlingen „bemerkenswert“ von der Verbesserung der Existenzbedingungen profitierten. Garbe vergleicht die Zugehörigkeit zu Arbeitskommandos in der Zeit von 1940 bis 1942 und von 1943 bis 1945. Diesen Arbeitskommandos ordnet er gute, relativ gesicherte, schwierige sowie schlechte / sehr schlechte Existenzbedingungen zu.973 Arbeitete bis 1942 noch über die Hälfte der Zeugen Jehovas in Neuengamme in schlechten / sehr schlechten Arbeitskommandos, betraf dies ab 1943 nur noch 13 Prozent. Auch die Zahl derjenigen, die unter schwierigen Bedingungen arbeiteten, ging von 27 auf 18 Prozent zurück. Demgegenüber stieg die Zahl der relativ gesicherten Arbeitsplätze für Neuengammer Bibelforscher von 13,5 auf 54 Prozent. Gute Arbeitsplätze hatten ab 1943 15 Prozent gegenüber 2 Prozent in der Zeit davor inne.974 Diese spürbare Verbesserung war nicht nur wegen der vorher besonders brutalen Behandlung von Bibelforscherhäftlingen erstaunlich, auch im Vergleich zu der gesamten Gruppe der deutschen Häftlinge konnten die Zeugen Jehovas gewinnen.975 Die Gründe für den Wandel im Umgang mit den Zeugen Jehovas sind also nicht nur in ihrer KZ - Erfahrung und in ihrem „rassischen Wert“ zu suchen, über diese Eigenschaften verfügten andere deutsche Häftlingsgruppen auch. Zeugen Jehovas arbeiteten korrekt und waren vertrauenswürdig, d. h. sie beteiligten sich kaum an den Schiebungen und Intrigen im Lager. Vor allem aber erfüllten sie ihre Arbeitsleistung auch ohne Aufsicht und lehnten aus Glaubensgründen eine

972 Vgl. ebd., S. 105 f. 973 Arbeiten mit guten Existenzbedingungen : Bedienstete im SS - Lager, qualifizierte Fachleute und Spezialisten; Arbeiten mit relativ gesicherten Existenzbedingungen : Tätigkeiten im Lagerbereich, Einsatz in kleinen Außenkommandos bei Gewerbebetrieben, Landwirtschaft, Handwerkerkolonnen sowie Facharbeiter in der Produktion; Arbeiten mit schwierigen Existenzbedingungen : Bauarbeiten, Betonteilfertigung, Bombenräumkommando, Bestattungskommando; Arbeiten mit schlechten / sehr schlechten Existenzbedingungen : Masseneinsätze bei Erd - und Transportarbeiten, Gleisbau, Schilfrohrschneiden, Strafkompanie. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 486. 974 Vgl. ebd., S. 487. 975 Falk Pingel nimmt für die letzte Phase des KZ - Systems an, dass 15–20 % der deutschen Häftlinge auf „relativ gesicherten, bevorzugten Arbeitsplätzen“ beschäftigt waren. Vgl. Pingel, Häftlinge unter SS - Herrschaft, S. 168.

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Flucht aus der Lagerhaft ab.976 Daher wurden Zeugen Jehovas besonders signifikant in kleinen und fluchtgefährdeten Außenlagern eingesetzt. Zudem erkannte die SS, dass diese nur diejenigen Aufgaben ablehnten, die ihren Glaubensgrundsätzen widersprachen. Alle anderen Arbeiten erfüllten sie mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Am 6. Januar 1943 wies daher Himmler in einem Schreiben an Gestapochef Müller und WVHA - Chef Pohl an, dass „der Einsatz der Bibelforscher und Bibelforscherinnen in der Richtung zu lenken [ sei ], dass sie alle in Arbeiten kommen – in der Landwirtschaft z. B. –, bei denen sie mit Krieg und allen ihren Tollpunkten nichts zu tun haben. Hierbei kann man sie bei richtigem Einsatz ohne Aufsicht lassen; sie werden nie weglaufen. Man kann ihnen selbständige Arbeiten geben, sie werden die besten Verwalter und Arbeiter sein. [...] Nehmen wir die Bibelforscher doch als Personal in unsere Lebensbornheime, nicht als Pflegerinnen, aber als Köchinnen, Hausmädchen, Wäscherinnen und für derartige Aufgaben. Auch als Hausmeister, wo wir da und dort noch Männer haben, können kräftige Bibelforscherinnen genommen werden. [...] Auch mit sonstigen Vorschlägen, wie Abstellung einzelner Bibelforscherinnen in kinderreiche Haushalte bin ich sehr einverstanden.“977 Entsprechend wurden Bibelforscher auf landwirtschaftlichen Gütern eingesetzt. Zumeist profitierten von diesen billigen Arbeitskräften Personen, die zur nationalsozialistischen Elite gehörten oder ihr nahe standen. So arbeiteten auf dem Gut Hartzwalde des Himmler - Leibarztes Felix Kersten zehn Bibelforscherinnen (1943 kam auch noch ein Kommando männlicher Glaubensgenossen hinzu ). WVHA - Chef Pohl ließ sein Gut Comthurey in der Nähe des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück von bis zu fünfzig Bibelforschern betreiben. Auch die Witwe des 1942 getöteten RSHA - Chefs Heydrich forderte 15 Bibelforscher als Arbeitskräfte an.978 Himmler bot Bibelforscher als Erntehelfer aber auch Bauern an, deren Söhne an der Front standen und denen kein Ernteurlaub gewährt wurde.979 Gerne griffen SS - Führer auf die Arbeitsleistungen der Bibelforscher zurück. Sowohl der Kommandant von Dachau, später Sachsenhausen, Hans Loritz, als auch der Leiter des Zentralamtes im Amt D des WVHA, Arthur Liebehenschel, ließen sich ihre Villen von Bibelforschern errichten. Außenkommandos wurden auch in zentralen SS - Einrichtungen eingesetzt, so beim Ausbau des Erholungsheims Bayrischzell oder im Erholungsheim Hohenlychen.980 Wie 976 Zeugen Jehovas sahen in der Haft eine Prüfung Gottes, eine Flucht wäre dementsprechend ein Auf lehnen gegen Jehova gewesen. Zudem erwarteten sie das baldige Ende des „Systems der Dinge“, bei dem ihnen Jehova die Tore der Lager und Gefängnisse öffnen werde. 977 Schreiben vom 6.1.1943. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 71 f. 978 Vgl. Garbe, Der lila Winkel, S. 23 f., Schriftwechsel über den Einsatz von 15 Bibelforschern auf dem Heydrichschen Gut Jungfern - Breschan ( Archiv Ministerstva vnitra České republiky, Prag, AMV - 325–57–3, Bl. 21–36). Ich danke Dr. Jörg Osterloh für diesen Hinweis. 979 Vgl. Antwortschreiben Himmlers an Johann Marx, Tristenau b. Fischbachau / Obb. Abgedruckt in Heiber ( Hg.), „Reichsführer !“, S. 218. 980 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 454 f.

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von Himmler gefordert, wurden Bibelforscherinnen als Hauswirtschafterinnen bei kinderreichen SS - Familien ( zumeist aus den Reihen der Lagerbesatzung ), aber auch in Lebensbornheime, in die SS - eigene Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Pflege in Hausham sowie in das Entomologische Institut der Waffen - SS abgestellt.981 Sowohl die in einigen der landwirtschaftlichen Kommandos als auch die in SS - Familien in Auschwitz und Ravensbrück eingesetzten Bibelforscherinnen konnten sich frei bewegen. Die Letzteren bekamen Spezialausweise, um sich auch außerhalb des Lagergeländes aufhalten zu können. Himmler schlug in seinem Schreiben vom Januar 1943 vor, bei den für derartige Aufgaben „Halbfreigelassenen“ auf schriftliche Verpflichtungserklärungen zu verzichten, sondern die Verpflichtung nur per Handschlag vorzunehmen.982 Der Heydrich - Nachfolger im RSHA, Ernst Kaltenbrunner, schwächte den Vorstoß seines Vorgesetzten zwar ab, indem er die Entlassungen von Bibelforschern per Handschlag auf Ausnahmefälle und vor allem bei männlichen Bibelforschern auf solche im nicht mehr wehrfähigen Alter beschränkt sehen wollte.983 Es ist jedoch zumindest ein Fall bekannt, bei dem ein Bibelforscher im wehrfähigen Alter ohne das sonst erforderliche Abschwören vom Glauben aus einem KZ entlassen wurde, als er sich verpflichtete künftig in der Landwirtschaft zu arbeiten.984 Durch die Expansion des Außenlagersystems waren die Konzentrationslager von der Außenwelt noch weniger abgeschottet. Viele der Außenlager und - kommandos bestanden in Städten und Dörfern. Die Häftlinge arbeiteten mit deutschen Vorarbeitern und Meistern zusammen und hatten auch sonst häufiger Kontakt zur Bevölkerung.985 Obwohl Bibelforscher die Lagerordnung peinlich genau einhielten, nutzten sie die sich daraus ergebenden Kontaktmöglichkeiten zum Aufbau eines Kommunikationsnetzes zu nichtinhaftierten Glaubensgenossen und sogar in andere Konzentrationslager. Es gelang so, Literaturabschriften in die Lager zu schmuggeln und auf geschützten Arbeitsstellen, wie z. B. Schreibstuben, zu vervielfältigen. Die Übermittlung erfolgte durch die Außenkommandos über „tote Briefkästen“. Ein wichtiger Knotenpunkt für diese neuen überregionalen Aktivitäten war das Gut Hartzwalde. Himmlers Leibarzt Kersten war den Bibelforschern wohlgesonnen und schmuggelte bei seinen Besuchen in Schweden Wachtturm - Ausgaben nach Deutschland. Die dort eingesetzten Bibelforscher kamen auch in Kontakt mit illegalen Gruppen aus Berlin und Magdeburg. So gelangte einerseits das im Untergrund hergestellte „Mitteilungsblatt

981 Vgl. Engelhardt, Frauen im Konzentrationslager Dachau, S. 229–231. Weitere Beispiele in Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 456 f. 982 Vgl. Schreiben vom 6.1.1943. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 71 f. 983 Kaltenbrunner an Himmler vom 15. 6.1943. Abgedruckt in ebd., S. 446–448. 984 Vgl. Rammerstorfer, Nein statt Ja und Amen, S. 173 f., 182 f. 985 Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 242.

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der deutschen Verbreitungsstelle des W. T.“986 in die Lager, andererseits verfassten die Häftlinge selber Schreiben, die wiederum zusammen mit dem Mitteilungsblatt außerhalb der Lager verbreitet wurde.987 Diese Kontakte, die sowohl die Glaubensaktivitäten außerhalb und innerhalb der Lager mobilisierte, konnten auf Dauer nicht verborgen bleiben. Nachdem bereits 1942 in einer Durchsuchungsaktion im KZ Sachsenhausen Literaturabschriften entdeckt wurden und zudem aus beschlagnahmten Schriften der ausgedehnte Kontakt zwischen den Lagern und in die „Freiheit“ bekannt wurde, bemängelte WVHA - Chef Pohl am 10. September 1943 die „gleichgültige Nachlässigkeit“ in der Beaufsichtigung und Beobachtung der Bibelforscher. Denn diese schrieben Briefe über „Ereignisse im Lager und die Leiden der Bibelforscher [...], die von Lügen und Hass gegen das Reich nur so strotzen“.988 Die Nachlässigkeit sei wohl „durch die Tatsache entstanden, dass die Bibelforscher gute und her vorstechende Arbeitsleistungen zeigen, ganz gleich, wo sie eingesetzt werden“. Pohl ordnete an, dass „die in den Konzentrationslagern befindlichen Bibelforscher - Häftlinge auseinandergelegt werden“.989 In Kleinstgruppen wurden sie auf die verschiedenen Blocks in den Lagern verteilt, um so die illegalen Glaubensaktivitäten zu unterbinden. Doch auch diese „Zerstreuung“ verhinderte nicht die Kontaktaufnahme, die illegalen Treffen oder die Weitergabe von Abschriften. Zudem begannen die Bibelforscher nun verstärkt unter den Mithäftlingen ihrer Blocks zu missionieren.990 Im April und Mai 1944 kam es in den größeren Lagern zu koordinierten Durchsuchungsaktionen der Unterkünfte und Arbeitsstellen durch die Gestapo. Es wurden Schriften beschlagnahmt, Prügelstrafen verhängt, es kam zu Einweisungen in die Strafkompanie oder in den Zellenbau, das Lagergefängnis.991 Lange konnte die SS nicht auf die Arbeitskraft der Bibelforscher verzichten. Nach Berichten der Zeugen Jehovas konnten viele binnen kurzer Zeit wieder an ihre alten Arbeitsstellen zurückkehren, „nachdem die zuständigen Abteilungsleiter sie angefordert hatten“.992 Einer pragmatischen Kosten - Nutzen - Rechnung folgend, bestimmten nunmehr wirtschaftliche und organisatorische Erfordernisse den Umgang der SS mit den Bibelforschern. 986 Ein maschinenschriftliches Rundschreiben, dass im Untergrund hergestellt wurde, als der Kontakt ins Ausland abbrach und damit keine neuen Wachttürme mehr vervielfältigt werden konnten. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 330–334. 987 Vgl. Briefe. Nachrichten für die Zeugen Jehovas und ihre Gefährten. Teilweise abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 453–462. 988 Das Ignorieren der auch Pohl bekannten Tatsachen ist frappierend, bis 1943 starben in Ravensbrück mindestens 71 Bibelforscherinnen. Vgl. ebd., S. 173. 989 WVHA, Pohl, an die Kommandanten der KZ vom 10. 9.1943 ( BArch, NS 3/426, Bl. 147). Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 449. Garbe erinnert daran, dass die kritisierte Nachlässigkeit auch Pohl vorzuwerfen sei, denn sein Gut Comthurey war in das Kontaktnetz einbezogen. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 448 ( FN 516). 990 Ursprünglich war die Verhinderung von Missionsversuchen unter Mithäftlingen der Grund gewesen, warum die Bibelforscher seinerzeit in den KZ zusammengelegt wurden. 991 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 450 f. 992 Jahrbuch der Zeugen Jehovas (1974), S. 204.

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4.2

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Fantasien und Hintergründe

Mit Datum vom 21. Juli 1944 übermittelte Himmler an den RSHA - Chef, Obergruppenführer Kaltenbrunner, seine Gedanken über den Umgang mit den Teilen Russlands, deren Rückeroberung „im Laufe der nächsten Jahre bestimmt erfolgen wird“.993 In diesen Plänen spielten die Bibelforscher eine wichtige Rolle. Da dieser Entwurf in mehrfacher Hinsicht Höhepunkt und Abschluss der konzeptionellen Planung der Bibelforscherfrage im Nationalsozialismus war und zudem von interessierter Seite nach 1945 zur Auseinandersetzung mit der ungeliebten Religionsgemeinschaft genutzt wurde,994 soll er an dieser Stelle ausführlicher behandelt werden. Himmler schlug vor, gegenüber den in den ( rück - )eroberten Gebieten lebenden Völkern Religionsformen zu unterstützen, die pazifizierend wirken sollten. Für die Turkvölker war nach seiner Ansicht der Buddhismus einzuführen, „bei allen anderen die Lehre der Bibelforscher“. Himmler begründete diese Vorstellung mit den „unerhört positiven Eigenschaften“ : sie wären „unerhört nüchtern, trinken und rauchen nicht, sind von unerhörtem Fleiß und großer Ehrlichkeit, halten das gegebene Wort, sind ausgezeichnete Viehzüchter und Landarbeiter, sind nicht auf Reichtum und Wohlhabenheit aus“. Daher sollten Prüfungskommissionen in den Konzentrationslagern die „echten Bibelforscher“ von den „faulen sogenannten Bibelforschern“ scheiden. Sie sollten in Vertrauenspositionen eingesetzt und so „die Ausgangsbasis zum Einsatz dieser Bibelforscher in Russland in kommenden Zeiten“ geschaffen werden. Was ist von diesen „phantastisch anmutenden Plänen“,995 von dieser „Tertianerphantasie“996 zu halten ? Auf dem ersten Blick ist man geneigt, diese Gedanken als „triviales Phantastentum“997 vom Tisch zu wischen. Im Sommer 1944, zwei Wochen nach Landung der Westalliierten in der Normandie und wenige Tage vor dem Untergang der Heeresgruppe Mitte, war weder an ein Stoppen des alliierten Vormarsches noch an eine Rückeroberung des verlorenen Gebietes zu denken. Zudem sollte den als „bolschewistisch - asiatisches Untermen993 Zit. in Ritter, Wunschträume Heinrich Himmlers, S. 162–168. Zu den verschiedenen überlieferten Versionen des Schreibens vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 469 ( FN 604). 994 In der vom Ministerium für Staatssicherheit verfassten und 1970 im Urania - Verlag Leipzig erschienen Publikation „Die Zeugen Jehovas. Eine Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft“ wurde das Schreiben Himmlers als Beleg für die Instrumentalisierung der Zeugen Jehovas durch die „imperialistische psychologische Kriegsführung“ vor wie auch nach 1945 und damit gegen deren Status als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vorgestellt. Vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 204–213. Aber auch in der Bundesrepublik wurden die Zeugen Jehovas aufgrund der Himmlerschen Faszination an deren Opferbereitschaft kritisch betrachtet : „So muss es nachdenklich stimmen, wenn ein Mann wie Himmler den Fanatismus und die Opferbereitschaft der Zeugen Jehovas ausdrücklich bewundert.“ Vgl. Heuzeroth / Wille, Die unter dem lila – Winkel litten, S. 183. 995 Kater, Die Ernsten Bibelforscher im Dritten Reich, S. 190. 996 Ritter, Wunschträume Heinrich Himmlers, S. 166. 997 Fest, Hitler, S. 943 f.

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schentum“ entwerteten Russen, Weißrussen und Ukrainern998, die von „jüdischen Bolschewisten“ geführt wurden,999 ausgerechnet eine der Zersetzung zugunsten des „jüdischen Bolschewismus“ bezichtigten Religion1000 angedient werden. Der eklatante Widerspruch zur Realität und ebenso zur eigenen Ideologie und Propaganda ist evident. Dennoch ist dieser Brief Produkt jahrelanger Auseinandersetzung Himmlers mit den Bibelforschern. Er verdeutlicht die verbrecherische Konsequenz der nationalsozialistischen Ideologie. Als sich nach Kriegsbeginn Dutzende Bibelforscher dem Kriegsdienst verweigerten und dafür durch die Kriegsgerichtsbarkeit „ordentlich“ oder durch die SS in den KZ standrechtlich getötet wurden, forderte Himmler vom RSHA einen „Bericht über die Internationale Vereinigung der Ernsten Bibelforscher“ an. Dieser wurde ihm am 15. Dezember 1939 vorgelegt. Das Sektenreferat des SD schlug vor, den Bibelforschern „die unverdorbene Nachkommenschaft“ zu entziehen, jeden Versuch der illegalen Betätigung „von Grund aus [ zu ] zerschlagen“ sowie alle Bibelforscher, „die noch als Arbeitskräfte Verwendung finden können [...], in Arbeitslagern bzw. Konzentrationslagern unterzubringen“. Die Todesstrafe sei für sie kein wirkliches Abschreckungsmittel. Während Himmler mit den restlichen Vorschlägen einverstanden war, stieß er sich an der Ablehnung der Todesstrafe. Er merkte handschriftlich an : „ist so unbedingt nicht richtig“.1001 Zusammen mit RSHA - Chef Heydrich wollte er „die grundsätzliche Bekämpfung und die zu ergreifenden geistigen Gegenwirkungen“ besprechen.1002 Die Konsequenzen dieser Taktik wurden bereits geschildert. Bibelforscher wurden weiter durch die Militär - und Sondergerichtsbarkeit verurteilt und in den Konzentrationslagern erschossen oder zu Tode gequält. Ein neuer Gesichtspunkt kam im Januar 1942 hinzu. Eine Gruppe Bibelforscherinnen verweigerte, wie schon erwähnt, die Arbeit an der Angorazucht im KZ Ravensbrück. Für den 13. Januar vermeldet Himmlers Dienstkalender ein Telefonat mit Lagerkommandant Kögel über die „Meuterei“ der dortigen Bibelforscherinnen.1003 Anfang

998 Rede Himmlers am 21. 6.1944 in Sonthofen. Zit. in Kroll, Utopie als Ideologie, S. 216. 999 Vgl. Abschnitt II.1.1. 1000 Vgl. „Unser Heiliger Vater Joseph Stalin“. In : Das Schwarze Korps vom 18. 2.1937; „Die Bibel im Dienst der Weltrevolution. Die politischen Hintergründe der ‚Ernsten Bibelforscher‘“. In : Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage, 2 (1936) 34. Abgedruckt in Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland, S. 366–371 ( Dok. 30); Ernst Ludwig Illinger, Die Ernsten Bibelforscher als Sendboten des jüdischen Bolschewismus. In : Der Hoheitsträger, 2 (1938) 6, S. 12–15; P. E. Rings, Die ‚Ernsten Bibelforscher‘. Sendboten des jüdischen Bolschewismus. In : Westdeutscher Beobachter vom 21. 8.1938. 1001 Bericht über die Internationale Bibelforscher vereinigung von RSHA II 113, gez. Heydrich, an den Reichsführer SS vom 15.12.1939 ( mit handschriftlichen Anmerkungen ) ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, unpaginiert). 1002 Adjutantur des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an RSHA II/113 vom 29.12.1939 ( ebd.). Außerdem verlangte Himmler, das im Bericht angeführte „Russel’sche Fotodrama“ zu liefern. 1003 Vgl. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, S. 315 f. ( Eintrag vom 13.1. 1942).

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Februar 1942 traf er sich dann mit Kögel und Prof. Maximinian de Crinis.1004 De Crinis (1889–1945), Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie und Direktor der Klinik für Psychiatrische und Nervenkrankheiten der Charité Berlin, war einer der Aktivisten des nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Programms.1005 Sowohl Kögel als auch de Crinis wurden laut Dienstkalender als „Bibelforscherbearbeiter“ eingeladen. Im Jahr 1942 wurden Dutzende Bibelforscherinnen in Ravensbrück oder in der „Euthanasie“ - Anstalt Bernburg getötet oder nach Auschwitz deportiert, darunter vor allem Angehörige der „extremen“ Gruppe, d. h. derer, die fast jeden Kompromiss im Lager ablehnten.1006 Andererseits übermittelte Gestapo - Chef Müller einen Tag nach dem Telefonat mit Kögel dem Chef des RSHA - Amtes VII, Six, eine Anordnung Heydrichs, die in eine ganz andere Richtung lief. „Die radikale fanatische Einstellung der Bibelforscher, die lieber den Tod erleiden, als von ihren Grundsätzen abzulassen, ließe es wünschenswert erscheinen, diese Einstellung zum Positiven gegenüber dem Nationalsozialismus umzubiegen zu versuchen.“ Als mögliches Vorbild nannte Müller die Mennoniten, die „in ihrer Geschichte einmal aus dem Reich deswegen ausgewandert [ seien ], weil sie keine Waffen führen wollten“. Diese Haltung hätten diese jedoch aufgegeben, weil es gelungen sei, die Mennoniten dem Nationalsozialismus zuzuführen.1007 Heydrich ordnete die Erforschung der Geschichte der Glaubensgemeinschaft durch das Amt VII sowie die Kontaktaufnahme mit dem für Annäherung verantwortlichen Funktionär an.1008 Inwieweit die 1944 erschienene Broschüre „Die Mennoniten“ von Sturmbannführer Karl Götz die Frucht jenes Forschungsauftrages war, sei dahingestellt. Götz malt jedenfalls ein aus nationalsozialistischer Sicht außerordentlich positives Bild von den volksdeutschen Mennoniten.1009 1004 Vgl. ebd., S. 339 f. ( Eintrag vom 7. 2.1942). 1005 Vgl. Hinrich Jasper, Maximimian de Crinis. 1006 Zu dieser Gruppe im KZ Ravensbrück vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 156–172. 1007 Die Mennoniten hatten 1934 ihre strikte Verweigerungshaltung aufgegeben, die Entscheidung allerdings dem Gewissen des einzelnen Gläubigen überlassen. Die von Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 117 f. zitierten „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage“ von März 1938 zeichneten aber ein zu positives Bild. Das SD - Sektenreferat konstatierte im April desselben Jahres, dass die Glaubensgemeinschaft „in bewusstem Gegensatz zum Nationalsozialismus“ stünde, da sie sowohl den Rassegedanken als auch den Gedanken der Volksgemeinschaft der „Gemeinschaft des Evangeliums“ unterordnen wolle. SD - HA II /1134 an RuSHA vom 9. 4.1938 ( BArch, Sammlung Schumacher, 267/2, unpaginiert ). 1008 Es kann hier nur vermutet werden, dass mit diesem Funktionär Prof. Benjamin H. Unruh (1881–1960) gemeint ist, da in Karl Götz, Das Schwarzmeerdeutschtum. Die Mennoniten, Posen 1944, S. 11 ( BArch, Sammlung Schumacher, 267/2, unpaginiert ), ein Treffen von Himmler zusammen mit dem Leiter der „Volksdeutschen Mittelstelle“ (VoMi), Obergruppenführer Lorenz, sowie dem Chef des Russlandkommandos der VoMi, Brigadeführer Hoffmeyer, am 31.12.1942 mit Prof. Unruh im Führerhauptquartier erwähnt wird, „in der Haltung und Einstellung der Mennoniten vom ReichsführerSS gebilligt wurden“. 1009 Wie unausgegoren und bar jeder Realität die herbeigesehnten Parallelen von Mennoniten und Bibelforschern waren, zeigt die Tatsache, dass es auch nicht geringste Anzei-

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Himmler überließ seinem Leibarzt Felix Kersten seit Anfang 1942 Bibelforscher für dessen Gut Hartzwalde, damit er dort „die Frage der ernsten Bibelforscher von allen Seiten“ studieren könne.1010 Er kam Anfang 1943 in einem Schreiben an Gestapochef Müller und WVHA - Chef Pohl zu dem Schluss, dass diese „unerhört fanatische, opferbereite und willige Menschen“ seien. Wie Heydrich klagte Himmler, dass man „noch stärker als [...] heute wäre“, könnte man diesen „Fanatismus für Deutschland einspannen oder insgesamt für die Nation im Kriege einen derartigen Fanatismus beim Volk erzeugen“. Hier zeigen sich Tendenzen, bei den weltanschaulichen Gegnern Eigenschaften zu vermuten, die von den Deutschen angewandt, diesen zur Stärke gereichen würden. Beim Jesuitenorden wurde „die Forderung nach bedingungslosem Gehorsam, das elitäre Selbstverständnis und die totale Indienstnahme des Einzelnen für übergeordnete Prinzipien“ bewundert.1011 Über Stalin meinte Himmler nicht ohne einen Anklang von Achtung, dieser sei „ein brutaler Diktator, ein Gigant, ein aus dem Schoß Asiens Entspringender [, der ] im Verlaufe eines kurzen Menschenalters die Kräfte mobilisiert hat, sie in asiatischer Weise in Formen gepresst, gerüstet hat, um seinen Siegeszug nach dem Westen anzutreten“.1012 Selbst dem „Judentum“ sprach Rosenberg strenge rassische Abgeschlossenheit und ein Streben nach Reinhaltung seines Rassekerns zu,1013 Eigenschaften, die

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chen für eine Siedlungsbereitschaft bei den Zeugen Jehovas gegeben hat. Nach ihrer Glaubenslehre hatte die Mission absolute Priorität. Nicht zuletzt gab es Stimmen, die den Missionaren der Bibelforscherbewegung ( fälschlicher weise ) die Aufhetzung der Eingeborenen in Afrika gegen die weiße Oberschicht vor warfen. Vgl. Karstedt, Probleme afrikanischer Eingeborenenpolitik, S. 95–103. Eine Auffassung, die den Plänen Himmlers radikal widersprach. Zur dort erwähnten Kitawala - Bewegung vgl. Vorbichler, Kitawala, S. 446–451. Vgl. Himmler an Heinrich Müller und Oswald Pohl vom 6.1.1943. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 71 f. Auch Rosenberg berichtete über Kontaktaufnahmen Himmlers mit inhaftierten Zeugen Jehovas : „Ein zweites Mal, das war später, ich vermag aber nicht zu sagen, ob es vor oder nach Ausbruch des Krieges war, hat Himmler selbst mich angesprochen in der Angelegenheit der sogenannten Ernsten Bibelforscher [...]. Himmler erklärte mir nur, es sei ja unmöglich, dass man in diesem Zustand des Reiches eine Kriegsdienstverweigerung hinnehme, das müsste ja unabsehbare Folgen haben, und er erzählte weiter, dass er mit diesen Häftlingen oft persönlich gesprochen habe, um sie zu verstehen und eventuell sie zu überzeugen. Das sei aber unmöglich gewesen, da sie auf alle Fragen mit auswendig gelernten Zitaten, Bibelzitaten, antworteten, so dass nichts anzufangen sei.“ Vgl. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946, Nürnberg 1948, Band XI Verhandlungsniederschriften 8. April 1946–17. April 1946, Aussage vom 16. 4.1946, S. 563. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 224. Vgl. Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, S. 169 (3./4.1.1942). Rede Himmlers im April 1943 in Charkow. Zit. in Kroll, Utopie als Ideologie, S. 215. Vgl. den Tagebucheintrag von Goebbels vom 9. 8.1942, Josef Goebbels, Tagebücher, Band 4, S. 1824, Hitler, Monologe im Führerhauptquartier, S. 366 (26. 8.1942). Vgl. Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 119. Die Antisemiten dichteten den Juden alle negativen Rasseeigenschaften an und erklärten sie zur „Gegenrasse“. Das positive Gegenbild, der Arier, war dagegen anfällig für die „jüdische Zersetzung“. Vgl. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 99 f. Aus dieser Kon-

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im nationalsozialistischen Deutschland erst noch verankert werden mussten. Bei den Bibelforschern waren es nun ihre „Opferbereitschaft“ und ihr „Fanatismus“, die, ihres religiösen Inhaltes beraubt, bewundert wurden und instrumentalisiert werden sollten. Es mutet eher wie ein verschämtes Eingestehen eigener Defizite an, wenn Himmler im Oktober 1943 ankündigte, dass es „im Krieg und im Frieden – vor allem wird das im Frieden eine Erziehungsaufgabe sein – so werden [ muss ], dass wir SS - Männer keine schriftlichen Verträge mehr abschließen, sondern dass bei uns, so wie es früher üblich war, das gegebene Wort und der Handschlag den Vertrag bedeuten, und dass der Handschlag eines SS - Mannes – wenn es sein muss – Sicherheit für 1 Million oder mehr ist. Es muss so werden, dass der Handschlag oder das gegebene Wort eines SS - Mannes sprichwörtlich sicherer sind als die Hypothek auf den größten Wert eines anderen. So muss es werden !“1014 Gegenüber den Bibelforschern, die auf landwirtschaftlichen Gütern und in SS - Haushalten eingesetzt waren, wurde die Verpflichtung per Handschlag bereits praktiziert.1015 Himmler konnte sich sicher sein, dass diese ihr Versprechen einhalten würden.1016 Der Befehl Himmlers, Bibelforscher künftig nicht zu kriegsdienlichen Arbeiten heranzuziehen, ist einerseits eine bemerkenswerte Entwicklung. Bis dahin wurden die Zeugen Jehovas stets aufs neue herausgefordert, ihren Glauben gegen die Zumutungen des Regimes unter Beweis zu stellen ( Hitlergruß, Wahlbeteiligung, Organisationsmitgliedschaft, Kriegsdienst, Rüstungsarbeit ). Indem Himmler einen Dispens von der Rüstungsarbeit in den KZ befahl, folgte er einem klaren Kosten - Nutzen - Kalkül und stellte den praktischen Nutzen der Arbeit der Bibelforscher über ideologische Belange. Dieser Pragmatismus galt andererseits jedoch nur für die in der Verfügungsgewalt der SS befindlichen Zeugen Jehovas. Josef Goebbels berichtet im Juli 1943 in seinem Tagebuch von einer Äußerung Himmlers über die Bibelforscher: „Ihre Kriegsdienstverweigerung beruht meistenteils nicht auf Feigheit, sondern auf Prinzip. Deshalb vertritt auch Himmler mit Recht den Standpunkt : Kriegsdienstverweigerer, die über das entsprechende Alter hinaus sind, so dass sie für den Wehrdienst nicht mehr in Frage kommen, soll man hinter Schloss und Rie-

stellation ergibt sich daher keine Hierarchie mit den Extrempunkten „arischer Übermensch“ und „jüdischer Untermensch“, sondern eher zwei diametrale Prinzipien im tödlichen Kampf. 1014 Posener Rede Himmlers vom 4.10.1943. Abgedruckt in Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Band XXIX, Nürnberg 1948, IMT Dok. 1919–PS, S. 110– 173, hier 155. 1015 Vgl. „Merkblatt über die Behandlung von Bibelforscher - Häftlingen, die in Haushalten beschäftigt werden“. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 187. 1016 Zu den von Himmler bei der SS eingeforderten Tugenden wie Treue, Sittlichkeit und Sauberkeit vgl. Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, S. 149–155. Dass Himmler mit dem Ver weis auf die Beispielhaftigkeit des Jesuitenordens oder der Bibelforscher keinesfalls die Übernahme von deren inneren Werten meinte, zeigt Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 540.

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gel setzen, damit sie keine Anhänger werben können; Kriegsdienstverweigerer jedoch im wehrpflichtigen Alter müssen wegen Feigheit und Fahnenflucht zum Tode verurteilt werden. Ein Teil von ihnen nimmt die Todesstrafe mit absoluter Gelassenheit auf sich. Die älteren Ernsten Bibelforscher bewähren sich in den Konzentrationslagern als außerordentlich wertvolle und zuverlässige Arbeiter; sie geben am wenigsten Anlass zu Klagen.“1017 Während also die Bibelforscherhäftlinge in den Konzentrationslagern, wie die anderen reichsdeutschen Häftlinge auch, aus rassistischen wie aus pragmatischen Gründen an Wert gewannen und teilweise ihre Überlebenschancen steigern konnten, änderte sich die beabsichtigte Behandlung der noch in „Freiheit“ lebenden Glaubensgenossen nicht : sie sollten allesamt „hinter Schloss und Riegel“ oder aber zum Tode verurteilt werden. Es blieb dabei, in den Augen Himmlers war die Lehre der Gemeinschaft dadurch, dass sie „den Krieg ablehnt, derartig schädlich, dass wir sie nicht zulassen können, wenn wir nicht den größten Schaden für Deutschland haben wollen“.1018 Bereits 1940 hatte der damalige Sektenreferent des SD, Kolrep, vorgeschlagen, die Zeugen Jehovas in das Generalgouvernement zu deportieren, da sie einerseits für die Volksgemeinschaft verloren seien und ihr rassischer Wert nicht von Bedeutung wäre. Andererseits könnte „durch die pazifistische Einstellung der Bibelforscher [...] die Möglichkeit der Zersetzung der nationalen Widerstandskraft der Polen geschaffen“ werden, die für Deutschland „derart schädliche Lehre“ also zum Positiven gewendet werden. Die Ansichten, die Himmler im Sommer 1944 zum Besten gab, waren in ihrer praktischen Konsequenz ein erneuter Versuch der Exterritorialisierung des Bibelforscherproblems. Auch wenn er die Ansichten Kolreps über den rassischen Wert der Bibelforscher nicht mehr teilte, unterschieden sich beide Konzepte wenig. Angesichts der Behandlung, der die slawischen Volksgruppen der Sowjetunion durch die deutsche Besatzung und Ver waltung ausgesetzt waren,1019 und den Plänen einer „Friedensver waltung“ im „Ostland“1020 wären die Konsequenzen für die in den Osten deportierten Bibelforscher offensichtlich. Himmlers Pläne hatten sich also, von der pragmatischen „Aufwertung“ abgesehen, seit Kriegsbeginn nicht geändert. Sie sahen in letzter Konsequenz drei Alternativen für Zeugen Jehovas vor : den Tod wegen Kriegsdienstverweigerung, die Deportation in den Osten oder dauernde Zwangsarbeit in den Lagern der SS, bestenfalls als „Halbfreie“.

1017 Louis P. Lochner ( Hg.), Goebbels Tagebücher aus den Jahren 1942–1943, Zürich 1948, S. 108 ( Eintragung vom 28. 7.1943). Zit. in Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, S. 229 ( FN 194). 1018 Himmler an Pohl und Müller vom 6.1.1943. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 71 f. 1019 Vgl. Gerlach, Kalkulierte Morde; Dallin, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945. 1020 Vgl. Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut; Heinemann / Wagner ( Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung.

Auflösung

4.3

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„Rassisierung“ der Bibelforscherfrage ?

Während sich die Behandlung der deutschen Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern verbesserte und sich auch ihre rassische Bewertung durch die SSFührung grundlegend wandelte, schien diese Sichtweise in der kriminalbiologischen Forschung noch nicht rezipiert worden zu sein. In einem Schreiben an den Präsidenten des Reichsforschungsrates vom 6. März 1944 bat der Kriminalbiologe Dr. Robert Ritter um Sachbeihilfe „für Arbeiten auf dem Gebiete der Asozialenforschung und der Kriminalbiologie“. Er beschrieb die bereits geleistete Arbeit auf dem Gebiet der „erbcharakterologischen Untersuchung“ von „Asozialen“ und „Zigeunern“. Außerdem berichtete er über den Beginn einer neuen „Forschungsreihe“ : „Um über den Erbwert der Angehörigen von Bibelforscherfamilien ein Bild zu gewinnen, wurde im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eine Untersuchung über die Sippenherkunft der Ernsten Bibelforscher begonnen.“1021 Stand hier eine „Lösung der Bibelforscherfrage“ bevor, wie der Titel des entsprechenden Abschnitts bei Hans Hesse und Jürgen Harder vorgibt ?1022 Welchen Hintergrund und welche praktische Wirkung hatte ein solcher Forschungsantrag ? Kann man gar von einer „Rassisierung der Bibelforscherfrage“ sprechen, wie dies die Autoren meinen ? Robert Ritter (1901–1951),1023 Leiter des Kriminalbiologischen Instituts im Reichskriminalamt und seit 1943 Leiter der Kriminalbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes, war federführend in der sogenannten „Erbwert“ - Forschung an Sinti und Roma,1024 „Asozialen“ oder jugendlichen Rechtsbrechern. Für Ritter war kriminelles oder asoziales Verhalten erblich. Fanden sich bei den Vorfahren Anhaltspunkte für normabweichendes Verhalten, so war dieses auch bei deren Nachkommen zu erwarten. Für seine Probanden waren derartige Schlussfolgerungen fatal. Wer durch sein Raster fiel, wen er als minderwertig stigmatisierte, fiel zumeist der Vernichtung anheim. Kann aus diesen Umständen geschlussfolgert werden, dass nach Sinti und Roma, den Jenischen, „Asozialen“ und „Kriminellen“ nun die Bibelforscher in die Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten einbezogen werden sollten ? Diese Frage muss entschieden verneint werden. Wie Hesse und Harder richtig anmerken, lassen sich bislang weder von den potentiellen Opfern Ritters noch von Ritter selbst Berichte über derartige Forschungen finden. Zudem trifft die These von Hesse und Harder nicht zu, von Ritter seien keine „positiven Erbwertbestimmungen“ bekannt. Derartige „positiv ausgerichtete“ Forschungen1025 Ritters und seiner kriminal1021 Gesuch von Dr. Robert Ritter vom 6. 3.1944. Zit. in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 198. 1022 Ebd., S. 198–202. 1023 Zu Robert Ritter vgl. Hohmann, Robert Ritter; Wildt, Generation des Unbedingten, S. 316–319; zuletzt Harten / Neirich / Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie, S. 292–297. 1024 Vgl. Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. 1025 Unter dem Begriff „positiv ausgerichtet“ verstehe ich hier Untersuchungen, die nicht primär auf die kommende Vernichtung der Untersuchten ausgerichtet sind.

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biologischen Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt sind bekannt. Zu den Arbeitsgebieten Ritters gehörten auch Untersuchungen über die deutsch - baltische Bevölkerungsgruppe, die 1940/41 „heimgeholt“ und ab 1943 in den annektierten Ostgebieten angesiedelt werden sollte.1026 Auch wenn sie einer rassischen Untersuchung unterworfen wurde, stand ihr „positiver Erbwert“ außer Frage : sie waren größtenteils „deutschblütig“ und sollten durch Besiedlung der eroberten Gebiete diese auch „blutsmäßig“ für Deutschland gewinnen.1027 Das Kriminalbiologische Institut, dem Ritter vorstand, unterhielt zudem vor den Toren des Frauen - KZ Ravensbrück eine Außenstelle.1028 Auf der Suche nach neuen Forschungsobjekten lag es nahe, eine gut abgrenzbare Gruppe wie die Bibelforscherinnen ins Auge zu fassen. So lange sich keine weiterführenden Belege finden – zumal solche, die einen entsprechenden Auftrag an Ritter beinhalten –, sollte man das Ritter’sche Schreiben als das werten, das es augenscheinlich ist : die Akquise von Drittmitteln. Ritter nahm geschickt aktuelle Probleme wie die Kriegsdienst - und Kriegseinsatzverweigerung von Bibelforschern auf, um die Dringlichkeit und den praktischen Wert seiner Forschungsleistung zu belegen. Allerdings verdeutlicht das von Hesse und Harder vorgestellte Dokument auch die Pervertierung von Wissenschaft, die sich nicht nur von den nationalsozialistischen Machthabern für deren verbrecherische Politik instrumentalisieren lässt, sondern sich zudem der aktuellen rassistischen Ideologeme bedient, um die eigene Forschung und damit Karriere zu befördern. Ein weiteres Problem in den Ausführungen ist die These einer „Rassisierung der Bibelforscherfrage“. Hesse und Harder stellen den Forschungsantrag Ritters als Höhepunkt in eine Reihe von Zuschreibungen und Maßnahmen, die, angefangen von der Verunglimpfung von Bibelforschern als „unterwertige, rasselose Menschen“ in der NS - Presse,1029 über psychiatrische Gutachten, die von Gerichten angefordert wurden,1030 bis hin zu Zwangssterilisierungen,1031 darauf hinausliefen, die Zeugen Jehovas „als Rasse oder aus rassehygienischen Gründen“1032 zu verfolgen. Diese Annahme ist nicht korrekt, wenn sie allein auf die Bibelforscher bezogen wird. Rassisierung1033 meint den Prozess, der zur Naturalisierung und Uni1026 Vgl. Hohmann, Robert Ritter, S. 151. 1027 Die Deutschbalten galten im Vergleich zu den anderen volksdeutschen Gruppen rassisch als „überdurchschnittlich“. Bosse, Vom Baltikum in den Reichsgau Wartheland, S. 314. Vgl. Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut, S. 232–250; zuletzt auch Fiebrandt, „Auf dem Weg zur eigenen Scholle“. 1028 Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 200; Hohmann, Robert Ritter, S. 385. 1029 Vgl. „‚Verblendete‘ Volksgenossen und ‚harmlose‘ Menschen“. In : Der Hoheitsträger, 2 (1938) 8, S. 12–16; P. E. Rings, Die ‚Ernsten Bibelforscher‘. Sendboten des jüdischen Bolschewismus. In : Westdeutscher Beobachter vom 21. 8.1938. 1030 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 242 f. 1031 Vgl. ebd., S. 244 f. 1032 Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 198. 1033 Khyati Joshi, Racialization. In : Encyclopedia of Racism in the United States. Hg. von Pyong Gap Min u. a. London 2005, Band 2, S. 509 f., hier 509 : „Racialization is the

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versalisierung von Differenzen führt. Dieser Prozess begann in Deutschland gegenüber den politisch oder sozial als „anders“ wahrgenommenen gesellschaftlichen Gruppen bereits nach dem Ersten Weltkrieg. Zunächst noch als Werkzeuge einer imaginären jüdischen Weltverschwörung beargwöhnt, wurde allem Abweichenden, sei es politisch wie bei Kommunisten, religiös wie bei Bibelforschern oder sozial wie bei „Asozialen“, schon bald die Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ abgesprochen. Diesen „Abweichlern“ wurden Attribute ihrer angeblichen jüdischen Auftraggeber zugeordnet. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten beeinflusst dieser Diskurs zunehmend auch das staatliche, staatspolizeiliche und justitielle Handeln.1034 Nach dem Konzept der Rassenhygiene galten jene, die den Normen der „deutschen Volksgemeinschaft“ nicht zu entsprechen schienen, als minderwertig. Ob nun politische Gegner als „marxistisches Untermenschentum“,1035 Kranke als „unwertes Leben“1036 oder KZ Häftlinge als „Abhub von Verbrechertum, von Missratenen“1037 bezeichnet wurden, immer wurde abweichendes Verhalten als Ausdruck minderwertigen Blutes gewertet.1038 Diese biologistisch - organische Perspektive bestimmte das Vorgehen gegen die Bibelforscher wie gegen jede andere ins Auge gefasste Gruppe. Die Exklusion des Unerwünschten aus der „Volksgemeinschaft“ in Worten und Taten war konstitutiv für den Nationalsozialismus. Jedoch merken beide Autoren richtig an, dass sich zum Zeitpunkt des Forschungsantrages Ritters das Bild Himmlers von den Zeugen Jehovas gewandelt hatte. Allerdings hatte dieser Wandel nur Auswirkungen auf die Behandlung der Bibelforscher in den KZ.1039 Denn erst die pragmatische Neubewertung der KZInsassen bildete die Voraussetzung des gewandelten Umgangs mit den Bibelforschern. Angesichts der massenhaft eingelieferten nichtdeutschen Häftlinge und der wirtschaftlichen Ausbeutung der unter der Verfügungsgewalt der SS Stehenden gewannen die reichsdeutschen Häftlinge an Wert. Dies prädestinierte sie, Arbeiten zu verrichten, die kriegswichtig und / oder für die SS lukrativ waren.

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extension of racial meaning to a previously racially unclassified relationship, social practice, or group.“ Vgl. Mai, Rasse und Raum; Herbert, Best; Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Rosenberg, Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 477. Nicht nur Bibelforscher, sondern auch andere Gruppen wurden sprachlich und bildlich diffamiert. Vgl. Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften Häftlingskleidung, S. 144. So Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888–1939) am 27. 5.1934 in Weimar in einer Grundsatzrede vor der thüringischen Ärzteschaft zum Thema „Das Gesundheitswesen im Dritten Reich“ : „Wir wollen lebensuntüchtiges und unwertes Leben gar nicht erst entstehen lassen“. Abgedruckt in Wagner, Reden und Aufrufe, S. 35 f. Himmler in einer Rede vor Wehrmachtsangehörigen im Januar 1937. Zit. in Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 44. Zuletzt war selbst „Untreue“ ein Zeichen „schlechten Blutes“ und wurde mit Sippenhaftung und - auslöschung sanktioniert. Vgl. die Reden Himmlers am 3. 8.1944 in Grafenwöhr sowie die vor den Gauleitern in Posen am 3. 8.1944. Zit. in Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, S. 151 f. Wie geschildert, war für unbeugsame Bibelforscher, die noch auf freiem Fuß lebten, nur Haft oder Tod vorgesehen.

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Auch zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Lagern wurden vor allem deutsche Häftlinge herangezogen. Die Kategorisierung der Häftlinge nach „Delikt“ verlor an Bedeutung, die nach nationalen Gruppen wurde bestimmend. Unter der Kategorie „Reichsdeutsche“ wurden die vormals als minderwertig Qualifizierten quasi in die Volksgemeinschaft zurückgeholt. Ihre Arbeitskraft sollte nun geschützt, ihre Sterblichkeitsrate gesenkt und ihnen daher Lebensmittelpakete zugestanden werden.1040 Im Universum der Konzentrationslager rangierten deutsche Häftlinge innerhalb der nun ausschlaggebenden rassistischen Hierarchie ganz oben. Forschungen am Erbwert von Bibelforscherinnen waren unter diesen Umständen obsolet.1041

4.4

Justiz und Gestapo in der letzten Kriegsphase

Das RSHA bekam im Laufe des Weltkrieges, neben der Bekämpfung wirklicher und vermeintlicher Opposition im Reich sowie der Organisation und Realisierung des Massenmordes an den Juden, zusätzliche Aufgaben zugewiesen. Die Millionen von Fremd - und Zwangsarbeitern, die aus allen besetzten Ländern, besonders aber aus Osteuropa ins Land verschleppt wurden, führten zu einem Ausländeranteil in Deutschland, der weder vorher noch nachher auch nur annähernd wieder erreicht wurde.1042 Diese galt es nun zu überwachen und zu disziplinieren.1043 Die Ausweitung der Aufgaben wie auch des zu bearbeitenden Gebietes führte zu Zusammenlegungen in den bestehenden Abteilungen der Gestapo. So wurden in der Stapostelle Hannover beispielsweise der bislang in vier einzelnen Referaten bearbeitete Aufgabenbereich für Kirchen und Juden auf ein Sachgebiet reduziert und der früher zentrale Bereich „Kommunismus und Marxismus“ auf sechs Planstellen zusammengestrichen.1044 Gleichzeitig beschleunigte sich in der Gestapo der Prozess der Deprofessionalisierung und Dequalifizierung.1045 Die Verlagerung von Prioritäten führte ab Sommer 1942 im RSHA außerdem zu einem allmählichen Übergang von Sachreferaten zu regionalen Referaten, die im Frühjahr 1944 durch eine Neuordnung des Geschäftsplanes abgeschlossen wurde. Himmler verfügte 1943 die Auslagerung aller wichtigen Karteien und Unterlagen aus dem bombengefährdeten Berlin. Auch die einzelnen Dienst1040 Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 194 f. ( Anweisung von Glücks vom 2.12.1942). 1041 Wie problematisch die Thesen von Hesse und Harder sind, zeigt eine Publikation aus dem Umfeld der Schweizer Zeugen Jehovas, in der unhinterfragt der Antrag Ritters zum „Projekt“ erklärt wird, das „biologische Abartigkeiten“ von Zeuginnen Jehovas nachweisen sollte. Vgl. Zeitzeugen - Interview mit Antonia Grunow. In : Weinreich ( Hg.), Verachtet. Verfolgt. Vergessen, S. 139–141, hier 141. 1042 Vgl. Schmid, Gestapo Leipzig, S. 65. 1043 Vgl. Tuchel, Gestapa und Reichssicherheitshauptamt, S. 100. 1044 Vgl. Schmid, „Anständige Beamte“ und „üble Schläger“, S. 154. 1045 Vgl. Kohlhaas, Die Mitarbeiter der regionalen Staatspolizeistellen, S. 233.

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stellen des RSHA wurden nun evakuiert. Ende 1944 gab es über 30 Ausweichstellen. Die Referate der Gestapo ( Amt IV ) verteilten sich über kleinere Ortschaften in der Mark Brandenburg, andere kamen in der Sicherheitspolizeischule Drögen in der Nähe des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück unter. Die für Schutzhaftangelegenheiten zuständige Abteilung zog bereits 1943 nach Prag1046 und das RSHA - Forschungsamt VII war Anfang 1944 zu großen Teilen nach Schlesien verlegt worden.1047 Am 3. Februar 1945 folgte dieser organisatorischen Zersplitterung die endgültige Zerstörung des Sitzes des Gestapa in der Prinz - Albrecht - Straße 8 bei einem Bombenangriff.1048 Diese örtliche Fragmentierung des SS - geführten Repressionsapparates korrespondierte mit Diskrepanzen im Hinblick auf den weiteren Umgang mit den Zeugen Jehovas. Während Himmler seiner Bewunderung für vermeintlich nutzbare Tugenden der Bibelforscher Ausdruck verlieh und diese auf landwirtschaftlichen Gütern und später im Osten einsetzen wollte und WVHA - Chef Pohl zumindest den Arbeitswert eines Teils der deutschen Häftlinge erkannte und ihre Überlebensmöglichkeiten verbesserte, waren der Gestapo derartige Neubewertungen fremd. Himmler wies Pohl und Gestapo - Chef Müller im Januar 1943 an, Bibelforscherinnen großzügig in SS - Heimen, kinderreichen SS - Familien und in der Landwirtschaft einzusetzen. Bei den dafür ausgesuchten Halbfreigelassenen sollten ein „schriftliches Abschwören oder sonstige Unterschriften“ vermieden und dafür „die Verpflichtung auf Handschlag“ vorgenommen werden.1049 Ernst Kaltenbrunner, seit Januar 1943 Nachfolger Heydrichs als Leiter des RSHA, bremste den Vorstoß Himmlers ab. Freilassungen auf Handschlag würden „nur in ganz besonderen Ausnahmefällen“ vorgenommen. Kaltenbrunner konnte seinen Unmut selbst über einen „Arbeitseinsatz in halber Freiheit“ nicht verhehlen, denn für die Bibelforscher sei dies „ein Zeichen für die Wirksamkeit Jehovas zu ihrer endgültigen Befreiung und bestärkt sie in ihrer sturen Haltung“. Der RSHA - Chef teilte die Euphorie Himmlers betreffend der Bibelforscher nicht. Die Stimmung in der Bevölkerung machte ihm Sorgen. Durch die „seelischen Belastungen“ seien die einzelnen „Volksgenossen“ anfällig für Prophezeiungen und Weissagungen über den Ausgang des Krieges. Für diese Botschaften, die „defaitistisch und zersetzend und leider, besonders auf dem Lande, nicht ohne Eindruck auf eine ganze Reihe von Volksgenossen bleiben“, machte Kaltenbrunner die Bibelforscher verantwortlich.1050 Die Bedenken Kaltenbrunners vor verstärkten Aktivitäten unter den Gläubigen waren nicht unberechtigt. Zwar ist es sicher falsch, bei ihnen die Quelle für die religiös gefärbten Ängste in der Bevölkerung zu suchen, dafür sorgte der 1046 Vgl. Paul, „Kämpfende Verwaltung“, S. 80. 1047 Vgl. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 700 f. 1048 Vgl. ebd. sowie Wilhelm, Die Polizei im NS - Staat, S. 126; Tuchel, Gestapa und Reichssicherheitshauptamt, S. 100. 1049 Himmler an Pohl und Müller vom 6.1.1943. Abgedruckt in Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 71 f. 1050 Kaltenbrunner an Himmler, 15. 6.1943. Abgedruckt in ebd., S. 446–448.

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Kriegsverlauf alleine, richtig dagegen war die Wahrnehmung, dass sich die verstreuten Grüppchen wieder zu vernetzen begannen. Als nach dem Verrat des V- Mannes Hans Müller 1940 die Aktivisten um Ludwig Cyranek verhaftet wurden, gelang es Julius Engelhard zu fliehen. Drei Jahre lang konnte sich Engelhard in der Illegalität halten und aus dem Ruhrgebiet Verbindung nach München, Augsburg, Mannheim, Speyer, Dresden, Freiberg und Wien herstellen. Bis April 1943 konnten so monatlich bis zu 360 Wachtturm - Abschriften sowie unregelmäßig Exemplare der „Mitteilungsblätter der deutschen Verbreitungsstelle des W.T.“ und von Rutherford - Vorträgen zur Verteilung gelangen. Sogar in das KZ Niederhagen, in dem Bibelforscher - Häftlinge die zur SS - Ordensburg ausersehene Wewelsburg errichten sollten, konnten Abschriften verbracht werden. Erst als es der Gestapo Anfang 1943 gelang, die Essener Bibelforscher - Gruppe auszuheben, ging ihr auch Engelhard ins Netz. 83 Gläubige wurden vom OLG Hamm zu teilweise hohen Zuchthausstrafen und acht Bibelforscher vor dem VGH zum Tode verurteilt.1051 Zusammen mit Engelhard organisierte Narziso Riet, Sohn italienischer Eltern, die Vervielfältigung der Bibelforscher - Schriften. Er stellte auch die Verbindung in das Schweizer Bibelhaus sowie nach Österreich und die Tschechei her. Nach Engelhards Verhaftung gelang es ihm, den Abzugsapparat nach Sachsen zu bringen und die Bibelforschergruppen von dort aus zu beliefern. Riet, der ab Sommer 1943 die für die Vervielfältigung nötigen Texte aus dem italienischen Cernobbio lieferte, wurde im Dezember 1943 dort von der Gestapo verhaftet. Nach Aufenthalten im KZ Dachau, in Plötzensee und Brandenburg wurde er am 23. November 1944 vom 3. Senat des VGH zum Tode verurteilt. Er soll Anfang 1945 in der Haft verstorben sein.1052 Größere Gruppen konnten sich jedoch auch nach Riets Verhaftung bis ins Jahr 1944 halten. Die Aktivitäten der Bibelforscher um den Berliner Franz Fritsche und den Magdeburger Wilhelm Schumann reichten bis Ostpreußen und Pommern, in den Warthegau, nach Schlesien, Thüringen, Sachsen, in das Rheinland und in die KZ Sachsenhausen und Ravensbrück. Von Sachsen aus mit den vorgefertigten Matrizen versehen, wurden die Abschriften zuerst in einer Berliner Laubensiedlung und später in Magdeburg hergestellt. Zuletzt stellte die Gruppe sogenannte Rüstzeugpakete zusammen, die aus verschiedenen Wachtturmabschriften und dem „Mitteilungsblatt“ bestanden.1053 1051 Urteil des VGH vom 2. 6.1944 gegen Julius Engelhard und 7 Andere ( BArch, R 3017, [ alt R 60], II, 99, unpaginiert ). Zu Engelhard vgl. Koch, Julius Engelhard; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 337 f.; zu den Aktivitäten in Augsburg vgl. Anklageschrift des GStA von München gegen Georg Halder und 12 Andere sowie Therese Jaufmann und 8 Andere ( OJs 72/44) vom 29.11.1943 ( WTA, Dok 29/11/43); Hetzer, Ernste Bibelforscher in Augsburg, S. 641–643; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 340. 1052 Urteil des VGH gegen Narziso Riet vom 23.11.1944 (3 L 486/44) ( WTA, Dok 23/11/44); Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 339 f. 1053 Vgl. Anklageschrift des ORA beim VGH gegen Horst Schmidt und 10 Andere vom 16.10.1944 (7 J 110/44) ( BArch, R 3017, 7 J 110/44, Bl. 1–16); Garbe, Zwischen

Auflösung

205

Von Dezember 1943 bis ins Frühjahr 1944 gelang es der Gestapo noch einmal, viele der locker verbundenen Gruppen aufzudecken. Im April 1944 berichtete die Gestapo in einer Tagesmeldung, dass es der Stapostelle München gelungen sei, 254 Bibelforscher, darunter 17 Spitzenfunktionäre, festzunehmen. Weitere Festnahmen wurden erwartet.1054 76 Beteiligte des Berliner Netzes um Franz Fritsche wurden von der dortigen GStA angeklagt.1055 Auch in Dresden wurden in dieser Zeit ungefähr 300 Personen festgenommen.1056 Damit waren die letzten überregionalen Verbindungen zerschlagen. Den Drang der Bibelforscher, sich zum eigenen Glauben mit allen möglichen Konsequenzen zu bekennen, konnte die Gestapo wie schon früher nicht unterdrücken. Noch in den letzten Kriegswochen standen Bibelforscher vor der Frage, wie sie sich zu Einberufungen zum „Volkssturm“ oder zu Schanzarbeiten verhalten sollten. In Lippe verhaftete die Gestapo im Februar drei Bibelforscher, die den Dienst verweigerten. Auch hier zeigte sich, dass es keiner aktiven Gruppenzugehörigkeit bedurfte, um zu einer solchen Entscheidung zu finden. Zwei der Festgenommenen musste selbst die Gestapo eine passive Haltung und isolierte Position innerhalb der dortigen Bibelforschergruppe bescheinigen. Für diese beiden forderten die Stapobeamten eine „exemplarische“ Bestrafung, der sich selbst als aktiven Anhänger bezeichnende Zeuge Jehovas dagegen sollte „mit aller Härte ausgerottet werden“.1057 Lange Jahre war das Verhältnis von Polizei und Justiz durch Konflikte und Kompromisse geprägt. Oft hatten sich Gestapo und SD über die in ihren Augen zu milden Urteile der deutschen Straf justiz mokiert und eine größere Härte eingefordert. Mit dem Antritt von Otto Georg Thierack am 20. August 1942 als

1054 1055

1056

1057

Widerstand und Martyrium, S. 341 f. Umstritten ist die Rolle der Bibelforscherin Gertrud Grunwald in dieser Gruppe. In einer Vernehmungsabschrift von Wilhelm Schumann vom 11. 2.1944 erwähnt dieser den von „Gertrud“ kolportierten Meinungsumschwung Himmlers. Die MfS - initiierte „Dokumentation“ konstruierte daraus, dass Grunwald ( dort fälschlicherweise als Grunewald angegeben ) ein „Emissär Himmlers“ gewesen sei, um die Bibelforscher in eine unpolitische und für die Ansiedlungspläne bereite Richtung zu lenken. Damit wollte das MfS einen weiteren „Beweis“ für die Instrumentalisierung der Zeugen Jehovas durch den „Hitlerfaschismus“ wie auch später für den amerikanischen Imperialismus gefunden haben. Vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 204. Die Zielsetzung eines solchen Vor wurfes ist offensichtlich. Zudem verteilte die Gruppe um Schumann und Fritsche durchaus Schriften, deren Inhalte auf die aktuelle Lage Bezug nahmen und dabei mit Kritik am NS - Regime nicht sparten. Gertrud Grunwald wurde außerdem zusammen mit Schumann und Fritzsche vor dem VGH angeklagt. Tagesmeldung des Gestapa vom 21. 4.1944 ( WTA, Dok 21/04/44). Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 342. Franz Fritsche, Wilhelm Schumann und Johannes Schindler wurden zum Tode verurteilt, die Vollstreckung wegen nötiger Zeugenschaft in anderen Verfahren jedoch verschoben und durch das Kriegsende obsolet. Auskunft von Georg Bär, Leiter der IBV in Dresden. In : Werner Friedrich / Dorothea Nowak/ Sigrid Schneider / Ruth Nowak, Der Einbruch des Nationalsozialismus in das kirchliche Leben in Dresden, Seminararbeit, Pädagogisches Seminar der TH Dresden, WS 1948/49, S. 35 ( Landeskirchenarchiv Dresden, Best. 5, Nr. 710). Vgl. Riechert, Bibelforscher, S. 740 f.

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Nachfolger des im Januar 1941 verstorbenen Reichsjustizministers Franz Gürtner begann ein letzter Abschnitt für die Rechtsprechung im Nationalsozialismus.1058 In der zweiten Kriegshälfte verlor die Justiz endgültig ihr retardierendes Moment für die nationalsozialistische Herrschaft.1059 Die 1935 noch als Propaganda zu verstehende Drohung Freislers an Gegner des NS-Regimes, sie würden „unschädlich gemacht – letzten Endes, wenn nichts anderes hilft oder das Sauberkeits - und Sühnebedürfnis des Volkes es verlangt, durch Vernichtung“,1060 wurde nun Realität. Vom SD angeregt,1061 führte der neue Reichsjustizminister unverzüglich nach seinem Amtsantritt die „Richterbriefe“ ein. In diesen monatlich erscheinenden vertraulichen Rundschreiben wurden aus nationalsozialistischer Sichtweise vorbildliche Urteile in anonymisierter Form dargestellt, damit sich die Rechtsprechung entsprechend orientieren sollte. Außerdem installierte er sogenannte Vorschauen und Nachschauen. Danach hatten die Oberlandesgerichtspräsidenten mindestens alle 14 Tage in Strafverfahren von öffentlichem Interesse vor der Entscheidung durch das Gericht mit der Staatsanwaltschaft und dem Landgerichtspräsidenten, der dies der zuständigen Strafkammer weiterzuleiten hatte, zu erörtern, wie zu urteilen war.1062 Die Richtung, in die Thierack „lenken“ wollte, gab er in seinem Einführungsschreiben für die Richterbriefe unmissverständlich vor : Der Beruf des Richters wäre dem des Arztes ähnlich. Wie dieser muss der Richter „einen Krankheitsherd im Volke ausbrennen oder die Eingriffe eines Chirurgen machen können“.1063 1942, sechs Jahre nach der Einführung des Bildes vom „Arzt am Volkskörper“ für die Repressionspolitik von Polizei und SD, fiel in der Justiz die normenstaatliche Mimikry mehr und mehr. Wie weit sich die Justiz den nationalsozialistischen Machthabern angenähert hatte, verdeutlicht die Wiederaufnahme der Ergebnisse von gewaltsamen Vernehmungen in die Ermittlungsakten seit 1944. Nachdem 1936 Proteste aus der Justiz Heydrich zur Anordnung zwangen, Hinweise auf die „technische Vernehmung“ künftig aus den Ermittlungsunterlagen zu entfernen, konnte man sich nun des Wohlwollens der Gerichte gewiss sein.1064 Waren 1939 allein die Kriegsgerichte für Straftaten nach KSSVO § 5 zuständig,1065 wurde seit 1940 die Verantwortung für Verfahren gegen Zivilisten auch an Sondergerichte übertragen.1066 Mit dem 29. Januar 1943 wurde der Volks1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066

Vgl. Braun, Dr. Otto Georg Thierack. Vgl. Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 195. Freisler, Einige Gedanken über Willensstrafrecht, S. 162. Vgl. Boberach ( Hg.), Meldungen aus dem Reich, Band 1, S. 30 f. Vgl. Rundschreiben Thieracks vom 13.10.1942, Betr. Lenkung der Rechtsprechung im Kriege ( BArch, R 3016, 100, Bl. 99–101). Rundschreiben von Thierack vom 7. 9.1942 ( BArch, R 3016, 80, Bl. 12). Zu den Richterbriefen vgl. Boberach ( Hg.), Richterbriefe; Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, S. 1091–112. Vgl. Paul, Staatlicher Terror, S. 213. Kriegsstrafverfahrensverordnung vom 17. 8.1938/26. 8.1939, RGBl. I 1939, S. 1457. Art. 1 Ziff. 1, Art. VII der 7. Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Kriegsstrafverfahrensverordnung vom 18. 5.1940, RGBl. I, S. 787.

Auflösung

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gerichtshof für Fälle der öffentlichen Zersetzung der Wehrkraft und der vorsätzlichen Wehrdienstentziehung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 3 der KSSVO zuständig. Diese Kompetenz konnte auch an die Oberlandesgerichte abgegeben werden.1067 Mit der Verlagerung verschärften sich auch die Urteile. Roland Freisler drängte seine Kollegen immer wieder, den Begriff der Öffentlichkeit weiter zu fassen.1068 Wenn im Rahmen eines Gespräches mit der Geschwätzigkeit der Gesprächspartner gerechnet werden müsse, kein Vertrauen auf Verschwiegenheit bestehe oder besonders interessante Äußerungen fielen, bestehe eine „Ersatzöffentlichkeit“, die einer Äußerung in der Öffentlichkeit gleich komme. Diese Auslegung entsprach zwar dem § 2 Abs. 2 des Heimtückegesetzes vom 20. Dezember 1934,1069 war aber so in der KSSVO nicht enthalten. Diese schon vom Reichskriegsgericht formulierte Auslegung wurde vom VGH übernommen, als er die Zuständigkeit über die KSSVO erhielt.1070 Damit konnten auch religiöse Bekenntnisse von Zeugen Jehovas im Familienkreis oder im Gespräch als öffentliche Wehrkraftzersetzung geahndet werden. Zudem betrachtete der VGH die kritischen Ausführungen des Wachtturms und der Untergrundschriften zum NS - Regime, zur Kriegsführung oder zur Verfolgung der Gläubigen als Feindbegünstigung und nahm in solchen Fällen einen schweren Fall an.1071 Im Prozess gegen Julius Engelhard begründete das Gericht die Begünstigung der Kriegsgegner des Reiches damit, dass die IBV den Krieg verwerfe, aber in Wirklichkeit nur gegen jene Kriegsführung hetze, „die nicht jüdischen Interessen dient“. Alle acht Angeklagten wurden zum Tode verurteilt.1072 Doch zuweilen traf die kalte Schärfe der Justiz auch Einzelpersonen. Eine Hausangestellte aus Lübeck hatte wiederholt ein schreckliches Kriegsende „prophezeit“. Deutschland werde aufgeteilt und jeder, der nicht für 275 Tage Lebensmittel hätte, würde verhungern. Derartige Aussagen wären „defaitistisch“, machten deutschen Frauen „das Herz so schwer“ und „nagen an der Kampfkraft“. Martha Hopp wurde zum Tode verurteilt. Auch der Generalstaatsanwalt am Kammergericht Berlin forderte die Unterscheidung zwischen bloßer Mitgliedschaft in einer „wehrfeindlichen“ Vereinigung – was geringer sanktioniert wurde – und „zersetzender Tätigkeit“ aufzuheben, denn „jedes Mitglied der IBV, das noch jetzt in der vorausgeschrittenen Zeit des Krieges, in der die Vereinigung in dieser scharfen Form gegen den Krieg und gegen die kriegsführenden Staaten, insbesondere auch gegen das

1067 Verordnung zur Ergänzung und Änderung der Zuständigkeitsverordnung vom 29.1. 1943, RGBl. I, S. 76. 1068 Zuletzt : Freisler an RJM vom 29.1.1945 ( BArch, R 3016, 105, Bl. 222). 1069 „Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muss, dass die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde.“ RGBl. I, S. 1269. 1070 Vgl. Wagner, Der Volksgerichtshof, S. 277 f. 1071 Vgl. ebd., S. 279. 1072 Urteil des VGH vom 2. 6.1944 gegen Julius Engelhard und 7 Andere ( BArch, R 3017, [ alt R 60], II, 99, unpaginiert ).

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Reich und seine Führung Stellung nimmt, für diese Ziele der Vereinigung eintritt und sich für die Vereinigung betätigt“ wirkt wehrkraftzersetzend.1073 Doch nicht nur die 37 Todesurteile, die aus den disparaten Quellen belegt werden konnten,1074 zeigen die radikale Verschärfung der Rechtssprechung. In vielen Entscheidungen, in denen die Gerichte „minder schwere Fälle“ annahmen, wurden die Angeklagten dennoch mit hohen Zuchthausstrafen bedacht. Am 13. September 1944 verhandelte der 6. Senat des VGH gegen Dresdner Bibelforscher. Diese hatten von der Schumann - Fritsche - Gruppe Literaturabschriften erhalten und unter sich verteilt. Was die Anklage und das Gericht feststellten, war eigentlich erstaunlich. Die Angeklagten hatten ausschließlich religiöse Abschriften und keine wehrfeindliche oder wehrkraftzersetzende Literatur verbreitet. Sie arbeiteten teilweise in der Rüstungswirtschaft, die Söhne waren zumeist an der Front. Jeder von ihnen verneinte eine Feindschaft zum Nationalsozialismus und wollte die Distanz allein als Neutralität verstanden wissen. Obwohl sie also nicht „als sture Anhänger der Irrlehre angesehen werden“ konnten, verurteilte sie der VGH zu Zuchthausstrafen zwischen drei und sieben Jahren. Die Richter hielten an den einmal getroffenen Feststellungen fest. Die Bibelforschervereinigung sei eine „von Juden aufgezogene und von Juden geleitete Organisation, die unter religiöser Tarnung ihre Angehörigen in den Dienst der jüdischen Weltherrschaftspläne einspannt“. Und auch wenn es sich nur um religiöse Schriften gehandelt hatte, müsse die Verbreitung doch als öffentliche Betätigung angesehen werden, denn „sie dient der Beharrung in der Irrlehre, auch der Werbung, und steht so mittelbar im Dienste der zersetzenden Eignung des Irrglaubens“.1075 Bisweilen war auch der VGH zu abweichenden Entscheidungen in der Lage, wenn es „das gesunde Volksempfinden“ forderte. Der 1. Senat des VGH sprach am 30. August 1944 eine 74 - jährige Bibelforscherin trotz des Besitzes von Literatur frei. Auch das unzweifelhafte Festhalten der Frau an den Lehren ihrer Glaubensgemeinschaft wäre „an sich nicht strafbar“. Hintergrund dieses erstaunlichen Spruches waren Bedenken, dass sich bei einer Verurteilung der Frau deren drei an der Ostfront kämpfende Söhne „in ihrer Opferbereitschaft enttäuscht fühlen müssen“.1076 Am 9. November 1944 standen vor demselben Senat Bibelforscher aus dem Sudetengau bzw. dem Protektorat. Diese hatten Kontakt zu Narziso Riet und erhielten von diesem oder einem Abgesandten die neuesten deutschen Literaturabschriften, aber auch Abschriften von Abschiedsbriefen zum Tode Verurteilter. Zudem waren nicht wenige der Angeklagten schon 1940 von der Gestapo „verwarnt“ worden und hatten Anteil, „dass die 1073 Anklageschrift des GStA am Kammergericht Berlin vom 18.11.1944 gegen Robert Zielke und 13 Andere (12. O. Js. 549/44 C ) ( WTA, Dok 17/11/44). 1074 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 350. 1075 Anklageschrift des ORA beim VGH gegen Bernhard Schindler und 6 Andere vom 22. 7.1944 und Urteil des 6. Senats des VGH gegen Bernhard Schindler und 4 Andere vom 13. 9.1944 (6 L 189/44) ( BArch, R 3001, IVg 1/10724/44, Bl. 1–5, 7–13). 1076 Urteil des 1. Senats des VGH gegen Sophie Kirchner vom 30. 8.1944 (1 L 311/44) (BArch, R 3001, IVg 1/11562/44, Bl. 2–4).

Auflösung

209

Bibelforschertätigkeit im Protektorat wieder einen gewissen Aufschwung erfuhr“. Trotz dieser Vorwürfe nahmen die Richter nur einen minder schweren Fall nach KSSVO § 5 an, da „sich die Tätigkeit der Angeklagten auf einen zahlenmäßig begrenzten Personenkreis beschränkt hat und im Hinblick auf die Befreiung des tschechischen Volkes von der Wehrpflicht unsere Wehrkraft nicht unmittelbar beeinträchtigte“.1077 Während der Befragung am 12. April 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg durch seinen Anwalt Dr. Kurt Kauffmann versuchte RSHA - Chef Kaltenbrunner die Verantwortung für die Todesurteile gegen Bibelforscher den Militär - und Zivilgerichten zuzuschieben, die Gestapo hätte damit nichts zu tun gehabt. Kaltenbrunner ging sogar einen Schritt weiter. Durch Vorsprache bei Hitler, Himmler, Bormann und Thierack hätte er verlangt, „dass diese Art Rechtsprechung eingestellt werde“. Dadurch seien bereits gesprochene Urteile inhibiert worden, die Oberstaatsanwälte angewiesen worden, keine Todesstrafe mehr zu fordern und zuletzt Bibelforscher überhaupt nicht mehr vor Gericht gekommen.1078 Diese „dreiste Apologie“ ( Garbe ) entlarvt sich selbst. Und wenn es noch eines anderen Beweises bedarf, dann vielleicht eine Anordnung des Vorsitzenden des 2. Strafsenats des OLG München, OLG - Rat Dr. Zdaleck, vom 23. April 1945. Eine Woche vor dem Einmarsch der US - amerikanischen Truppen in München setzte er den Termin für die Hauptverhandlung gegen das Ehepaar Gerhardt und Maria Hempel, in deren Wohnung aus den Briefen des 1942 wegen Wehrdienstver weigerung hingerichteten Schwiegersohnes vorgelesen worden war, „auf Dienstag, den 1. Mai 1945, nachmittags 16½ Uhr im Gerichtsgefängnis Landshut“ an.1079

4.5

Der Zusammenbruch

Das prononcierte Diktum Detlef Garbes, nachdem die Bibelforscher in der zweiten Kriegshälfte unter der SS - Gewalt in den Lagern weniger Gefahren ausgesetzt waren, als diejenigen, die außerhalb der Lager in das Räderwerk der Justiz gerieten,1080 spiegelt reelle Tendenzen wider. Doch auch wenn sich die Überlebensbedingungen der Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern im Vergleich zu denen anderer Häftlingsgruppen verbessert hatte, starben Angehörige ihrer Gruppe weiterhin durch Strafen der Wachmannschaften, an Unter-

1077 Urteil des 1. Senats des VGH gegen Maria Teubel und 7 Andere vom 9.11.1944 (1 L 341/44) ( BArch, R 3016, [ alt R 60], I /242, unpaginiert ). 1078 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof, Nürnberg 14.11.1945–1.10.1946, Nürnberg 1947, Band XI Verhandlungsniederschriften 8. April 1946–17. April 1946, S. 323. 1079 Anklageschrift gegen Gerhardt Hempel und 2 Andere vom 28. 2.1945 ( WTA, Dok 28/2/45); Anordnung in der Strafsache gegen Hempel wegen Wehrkraftzersetzung (1 OJs Nr. 914/1944) ( WTA, Dok 23/04/45). 1080 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 351.

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ernährung, weil sie selektiert und mittels Giftspritzen oder bei medizinischen Experimenten getötet wurden.1081 Ab dem Winter 1944/45 verlor sich die vermeintlich größere Sicherheit angesichts des Zusammenbruchs jeglicher Ordnung in den Lagern. Die SS gab die Häftlinge auch in den letzten Wochen und Monaten des Krieges nicht frei. Sie „evakuierte“ die Lager vor der nahenden Front. Sie wollte weder Zeugen ihrer Vernichtungspolitik in die Hände der Alliierten fallen lassen, noch auf billige Arbeitskräfte verzichten und hoffte zudem bis zuletzt, mit den Häftlingen einen Faustpfand für Verhandlungen mit den Kriegsgegnern zu besitzen.1082 Zielorte der Evakuierungsmärsche waren die Lager im noch unbesetzten Reichsinnern. Ohne hinreichende Verpflegung wurden die Häftlinge erbarmungslos vorangetrieben. Wer sich auf dem Marsch als Hemmnis erwies, wurde erschossen. Vielfach töteten die Wachmannschaften in panischer Angst vor den herannahenden sowjetischen Truppen, ihr eigenes Leben war wichtiger als das der entkräfteten Häftlinge.1083 Diese Massentötungen entlang der Marschrouten wurden ebenso durch „Führertreue“, wie durch plötzliche Entscheidungskompetenzen angesichts zusammenbrechender Kommandostrukturen und die Angst vor Racheakten und Plünderungen durch die Häftlinge begünstigt.1084 Die besondere Geschlossenheit der Bibelforscher verbesserte ihre Überlebenschancen auf den Märschen. Sie waren gut organisiert und halfen sich untereinander, so dass auch die Entkräfteten und Kranken Schritt halten konnten. Dies kam dem Wunsch der SS nach schneller Flucht entgegen. Zudem bestand innerhalb des Bibelforscher - Blocks kaum die Gefahr, dass Gefangene fliehen oder plündern würden. Im Gegenteil, durch Kontakte zur Bevölkerung konnten die Häftlinge zusätzliche Nahrung und Unterkünfte in Scheunen organisieren.1085 Dieser Zusammenhalt konnte allerdings nicht verhindern, dass auf den Todesmärschen aus dem KZ Neuengamme mindestens zehn, nach anderen Berichten 38 Bibelforscher beim Untergang der „Cap Arcona“ und der „Thielbeck“ in der Ostsee ums Leben kamen.1086 In den vorläufigen Zielorten der Evakuierungsmärsche pferchte die SS die Angekommenen in Quarantänelagern zusammen. Neben den Stammlagern bildeten sich Sterbezonen. Hierhin kamen die ausgesonderten geschwächten, kranken und sterbenden Häftlinge und wurden ohne Hilfe und Schutz einem qualvollen Tod überlassen. Seit Januar 1945 schob die SS die selektierten Häftlinge aus dem Frauen - KZ Ravensbrück in das ehemalige Jugend - KZ Uckermark ab. 1081 Vgl. Garbe, „Gott mehr gehorchen“, S. 198; Liste der Zeugen Jehovas, die in den Konz.- Lagern Dachau, Mauthausen und Gusen ihre Treue mit dem Tode besiegelten, zusammengestellt und überprüft im Juni 1945 im K.L. Gusen ( WTA, Dok 06/45 [1]); Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 202 f. 1082 Vgl. Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 340. 1083 Vgl. ebd., S. 278 f. 1084 Vgl. Paul, „Diese Erschießungen haben mich innerlich gar nicht mehr berührt“, S. 546 und 564. 1085 Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 470–473. 1086 Vgl. ebd., S. 481.

Auflösung

211

Hier erhielten die Eingewiesenen nur die halbe Ration, keine Decken und verfügten über keinerlei medizinische Versorgung. Bibelforscherinnen, die ins Lager Uckermark verlegt wurden waren, berichteten von regelmäßigen Selektionsappellen.1087 Die Ausgesonderten wurden in einer provisorischen Gaskammer in Ravensbrück, durch Massenerschießungen oder durch Giftspritzen zu Tausenden getötet.1088 Das ehemalige „Vorzugslager“ Bergen - Belsen wurde nach dem Eintreffen verschiedener Evakuierungstransporte zu einem Sterbelager. Zwar gab es auch hier noch Bereiche, in denen insbesondere deutsche Funktionshäftlinge Privilegien genossen – so arbeiteten Bibelforscherinnen als Kindermädchen für SS - Familien. Die unhaltbaren Verhältnisse im Lager nivellierten die Unterschiede zwischen den Häftlingskategorien jedoch zusehends. Aus der Gruppe der aus Auschwitz evakuierten Bibelforscherinnen, die dort teilweise relativ sichere Arbeitsplätze inne hatten, starben beispielsweise mehrere Frauen nach kurzem Aufenthalt unter den Dahinsiechenden.1089 Die von Heinrich Himmler in den letzten Kriegsmonaten betriebene ambivalente Politik, die zwischen Massentötungen und Verhandlungen über die Übergabe ganzer Häftlingskontingente taumelte, spiegelte sich auch im Verhalten gegenüber den Bibelforschern wider. Während in vielen Lagern ihre Glaubensgenossen in den Strudel des Massensterbens gerieten, befahl Himmler Mitte Januar 1945 die „unbedingte Freiheit“ für die dreizehn auf dem Landgut der Witwe Reinhard Heydrichs in Jungfern - Breschan eingesetzten deutschen Zeugen Jehovas. Von dieser Aktion versprach er sich „beste politische Wirkung“ im Ausland.1090 Im Frühjahr 1933 zählten die Bibelforscher in Deutschland knapp 20 000 aktive Anhänger. Von diesen und den neu zur Glaubensgemeinschaft Gestoßenen wurden bis zum Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes ungefähr 10 000 unterschiedlich lange in Haft genommen. Mehr als 2 000 Gläubige litten in den Konzentrationslagern. Etwa 1 200 deutsche Bibelforscher mussten ihre Überzeugungen mit dem Leben bezahlen. Sie starben in den KZ, während der Gestapo - „Vernehmungen“, in der Justizhaft und nicht zuletzt nach Todesurteilen der zivilen und Militärgerichtsbarkeit.1091 Angesichts der Opfer kamen die nationalsozialistischen Machthaber ihrem Ziel, der Vernichtung der Bibelforscherbewegung in Deutschland, sehr nahe. Erst der völlige militärische Zusammenbruch konnte den Verfolgungseifer stoppen. Für die Überlebenden stellte sich der Ausgang anders dar. Ein V - Mann der Stapostelle Stuttgart meldete während des Krieges aus der Schweiz die Sicht1087 Vgl. Hesse / Harder, „Und wenn ich lebenslang“, S. 202 f. Die Gruppe der 16 Bibelforscherinnen entging durch das Kriegsende dem Tod. 1088 Vgl. Schäfer, Zum Selbstverständnis von Frauen im Konzentrationslager, S. 198–202. 1089 Vgl. Rahe, Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Bergen - Belsen, S. 110. 1090 Vgl. Skribeleit, Die Außenlager des KZ Flossenbürg, S. 205 f.; Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, S. 467. 1091 Vgl. ebd., S. 500.

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weise der Bibelforscher : „Die Heimsuchung der Bibelforscher in Deutschland sei keine Strafe für diese, sondern nur eine Prüfung und Läuterung, wobei die schwarzen Schafe von den weißen getrennt würden. Erfreulicherweise seien in Deutschland sehr wenig Brüder aus den Reihen der Ernsten Bibelforscher ausgeschieden. Wie damals bei den ersten Christen treffe man sich immer noch heimlich und trage seine Gesinnung noch weiter in das Volk. Die Ernsten Bibelforscher seien in Deutschland nicht schwächer, sondern stärker geworden. An Zahl sei man wohl kleiner geworden, aber an Stärke habe man zugenommen.“1092 Jetzt, nach der als Rettung durch Jehova für die Treugebliebenen verstandenen Befreiung aus Straf - und Lagerhaft, galt es, der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft erneut ihre Botschaft zu predigen.

1092 Bericht des V - Mannes „Wolfram“ vom 23.1.1941, als Anhang eines Schreibens der Stapoleitstelle Stuttgart an RSHA, Amt IV, vom 18. 2.1941 ( BArch, R 58, [ alt ZB I 1184] 5713, Bl. 238 f.).

III. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR 1.

Phase der Herrschaftsübernahme (1945–1956)

1.1

Wachstum als Gefahr

Abgesehen von den wenigen verstreuten Gegnern des Nationalsozialismus – die meisten von ihnen kehrten aus den Konzentrationslagern, den Zuchthäusern oder aus dem Exil zurück – war der 8. Mai 1945 für die Merheit der Deutschen kein Tag der Befreiung, sondern vielmehr ein Tag des Zusammenbruchs. Die vollen Auswirkungen der Katastrophe, die die Nationalsozialisten letztlich auch über Deutschland gebracht hatten, zeigten sich erst jetzt. Hunger, Zerstörung und die Konfrontation mit den Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft waren die unmittelbarsten Erfahrungen nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch Deutschlands. Diese Auf lösung der äußeren Ordnung begleitete ein dramatischer Verfall von Wertvorstellungen. Bei einem Großteil der Bevölkerung war das ganze Denken und Handeln angesichts der Lebensumstände in erster Linie auf die Befriedigung der notwendigsten menschlichen Bedürfnisse, auf die Beschaffung von Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung und sonstigen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens gerichtet. In Erinnerung an die permanente Indienstnahme für die politischen Ziele durch die nationalsozialistischen Machthaber ging das Interesse an Politik und Gesellschaft noch weiter zurück. Neben den aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern und dem Exil zurückgekehrten Hitlergegnern gab es aber auch eine Minderheit, bei der das Zusammenbruchserlebnis ein tiefes Bedürfnis nach weltanschaulicher und politischer Orientierung hervorrief. Das Verlangen nach neuen Werten und Zielen konnte unterschiedliche Formen annehmen. Das Spektrum reichte von der Suche nach religiösem Trost, der Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang oder der begeisterten Aufnahme des kommunistischen Gesellschaftsentwurfs. Obwohl die Kommunistische Partei in ihrem Gründungsaufruf vom 11. Juni 1945 eine „parlamentarisch - demokratische Republik mit allen Rechten und Freiheiten für das Volk“ propagierte, beruhte ihre Analyse der Vergangenheit weiter auf der Dimitroff’schen These, dass der „Faschismus“ ein diktatorischer, terroristischer und imperialistischer Finanzkapitalismus sei. Als „Anti - Faschismus“ musste entsprechend der revolutionäre Kampf des Proletariats gegen das „kapitalistisch - imperialistische Gesellschaftssystem“1 wie auch gegen die bürgerliche Demokratie gelten.

1

Vgl. Widera, Dresden, S. 418; François Furet, Brief an Ernst Nolte von August 1996. In: Furet / Nolte, Feindliche Nähe, S. 52 f.

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Die von den aus dem Moskauer Exil zurückkehrenden Kommunisten vorgesehene und mit dem Kreml abgestimmte Vorstellung von einer fundamentalen Umgestaltung der Gesellschaft beinhaltete ein Konzept der „Demokratie“, das dem parlamentarisch - demokratischen System entgegengesetzt war. Mit der Blockpolitik der „wirklich antifaschistischen Kräfte“ konzipierten die Exilkommunisten eine formaldemokratische Politik ohne Opposition. Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht wurde ein System der „simulierten Demokratie“2 installiert, in dem die „strategischen Höhen“, wie die Personalämter und die Polizei, später die Innenministerien von Kommunisten besetzt wurden, während bei den übrigen Fachressorts und den repräsentativen Posten streng darauf geachtet wurde, dass diese von sozialdemokratischen und bürgerlichen Kräften eingenommen wurden. Denn, wie der erste Sekretär der Bezirksleitung Sachsen der KPD, Hermann Matern, auf einem Referat vor Teilnehmern der ersten Parteischule der Kreisleitung Chemnitz der KPD am 22. September 1945 hervorhob, sei in Deutschland „zur Zeit aus verschiedenen Gründen die Diktatur des Proletariats nicht möglich. Wir sind deshalb für die Demokratie, aber diese ist eine besondere“.3 Die Vorstellung, dass alle von den Nationalsozialisten Verfolgten auch gleichberechtigte „Opfer des Faschismus“ ( OdF ) seien, bekam schon im Sommer 1945 einen ersten Dämpfer. Lange Jahre waren Kommunisten gemeinsam mit Juden, Zeugen Jehovas oder sogenannten Wehrkraftzersetzern in Konzentrationslagern und Zuchthäusern inhaftiert gewesen. Doch der Berliner Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ legte auf seiner ersten Vollsitzung am 23. Juni 1945 fest, dass als fürsorgeberechtigte OdF nur diejenigen gelten könnten, die „heldenmütig für die Freiheit des deutschen Volkes kämpften“. Der Titel „Opfer des Faschismus“ sei ein Ehrentitel. Zwar seien auch „Juden, Mischlinge, Bibelforscher, die meisten Fälle der Wehrkraftzersetzung, Meckerer usw.“ Opfer, aber das sei die Mehrheit des deutschen Volkes, die Heim und Besitz oder als Soldat das Leben verlor, ebenso und so weit könne der Rahmen nicht gezogen werden. Damit wurden die sogenannten passiven Opfer von den vorgesehenen Fürsorgeleistungen, wie erhöhten Lebensmittelzuteilungen, Wohnraum - und Arbeitsvermittlung, medizinischer Betreuung oder Kleidung, ausgeschlossen.4 Besonders jüdische Vertreter in den jeweiligen OdF - Ausschüssen, wie z. B. Julius Meyer, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Berlin, oder der jüdische Kommunist Heinz Brandt verwiesen auf die fatale Wirkung für die Aufklärung über das verbrecherische Wesen der nationalsozialistischen Ideologie gerade in Bezug auf die Vernichtung der Juden, wenn „passive“ Opfer nicht anerkannt werden sollten. Den entscheidenden Anstoß gab jedoch die Sichtweise der westlichen Alliierten, in deren Augen in erster Linie die verfolgten Juden Opfer des Faschismus waren.5 Sie machten ihre Anerkennung des Berliner OdF - Verban2 3 4 5

Schmeitzner, Zwischen simulierter Demokratie und offener Diktatur, S. 139–154. Zit. nach Behring, Die Zukunft war nicht offen, S. 166. Vgl. Haury, Antisemitismus von links, S. 306. Vgl. Reuter / Hansel, Das kurze Leben der VVN, S. 82–85.

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des von der Anerkennung der jüdischen Opfer abhängig. Da die kommunistisch dominierten OdF - Verbände in allen Besatzungszonen Einfluss gewinnen wollten, mussten sie sich „schweren Herzens“ einer Ausweitung des Opferbegriffs anschließen.6 Mit der Einbeziehung der Opfer der Nürnberger Gesetzgebung, endgültig beschlossen auf der Leipziger Konferenz der OdF - Ausschüsse der SBZ am 27. und 28. Oktober 1945, kamen auch verfolgte Zeugen Jehovas und wegen geringerer politischer Vergehen, wie die im NS - Jargon diffamierend genannten „Rundfunkverbrecher“, „Meckerer“ oder „Arbeitssaboteure“, dazu. In der Anerkennungspraxis wurde jedoch an der Unterteilung in Kämpfer gegen den Faschismus und Opfer des Faschismus festgehalten.7 Dies hatte nicht nur eine ideelle Unterscheidung zur Folge, sondern auch den Ausschluss der bloßen „Opfer“ von Betreuungsmaßnahmen, wie ärztlicher Fürsorge, Zahnersatz, Ausbildungsbeihilfen oder Zusatzrenten. Diese Ausgrenzung resultierte aus dem besonderen Faschismusbild der KPD, das im Antikommunismus das Wesen des Nationalsozialismus sah, während die „passiven Opfer“ nur wegen der zur Ablenkung propagierten Gründe verfolgt wurden.8 Noch aber waren die Sowjets und ihre ostdeutschen Partner darauf bedacht, ihre langfristigen Ziele nicht durch eine sofortige Stalinisierung zu gefährden. Dies hätte bei den westlichen Alliierten Protest hervorgerufen und damit die auf Gesamtdeutschland ausgerichteten politischen und ökonomischen Ziele gefährdet. Außerdem wären viele nichtkommunistische Hitlergegner abgestoßen worden, die auf der Basis einer noch nicht gesicherten Machtposition als zeitweilige Bündnispartner umworben wurden. Zu diesen potentiellen Bündnispartnern gehörten auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften. In der Annahme, dass die Kirchen in Deutschland relativ immun gegenüber dem Nationalsozialismus geblieben waren, hatten die Siegermächte diese als integre Gruppe anerkannt. Dieser Standpunkt wurde zunächst auch von der sowjetischen Besatzungsmacht übernommen, die damit an die guten Erfahrungen mit der Einbindung der russisch - orthodoxen Kirche in die eigenen Kriegsanstrengungen anknüpfen wollte.9 Von dieser anfänglichen Toleranz konnten auch die Zeugen Jehovas profitieren. Die aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern zurückgekehrten Gläubi-

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Vgl. Haury, Antisemitismus von links, S. 308. Vgl. Richtlinie für die Herausgabe der Ausweise, gez. Vizepräsident der Landesverwaltung Sachsen, Fritz Selbmann, vom 31. 5. 1946 : Unter die Kategorie OdF fallen unter anderem : „Die aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen Verfolgten (Katholiken, Protestanten, Bibelforscher ). Es sind dies alle Personen, die aus religiösen oder weltanschaulichen vom Faschismus verfolgt wurden, ohne dass sie selbst aktiv am Kampf gegen das Hitlerregime teilgenommen haben. Die Verfolgung geschah, weil sie trotz Einschränkung der Glaubens - und Gewissensfreiheit und Verbot ihrer Organisation (Bibelforscher) sich zu ihrer Weltanschauung bekannten und ihre Organisation illegal aufrechterhielten“ ( StAD, Stadtverordnetenversammlung, Dezernat Sozial - und Wohnungswesen, Nr. 25, unpaginiert ). Vgl. Haury, Antisemitismus von links, S. 309. Vgl. Goerner, Die Kirche als Problem der SED, S. 30 f.

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gen gingen sofort daran, die Glaubensgemeinschaft wieder aufzubauen. In Magdeburg, dem früheren Sitz des für Deutschland zuständigen Zweigbüros, versammelten sich frühere Funktionäre. Schon im Juli 1945 erging von hier ein Aufruf, die Verkündigung wieder aufzunehmen.10 Unter Führung des wiedereingesetzten Leiters der Religionsgemeinschaft, Erich Frost, wurde am 9. September 1945 die „Internationale Bibelforscher - Vereinigung, Deutscher Zweig, eingetragener Verein“ in Magdeburg gegründet und am selben Tage beim dortigen Vereinsregister angemeldet.11 Bald zeigte sich, dass die Missionsanstrengungen starke Zuwächse nach sich zogen. In den Augen der Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung bewies der „Sieg“ über ihre Verfolger, dass Jehova selbst sie aus dem „Feuerofen“12 der Konzentrationslager errettet habe. Viele geistig entwurzelte Menschen fanden in der Sicherheit des in sich geschlossenen Weltbildes, wie es die Zeugen Jehovas verkündeten, Halt und Geborgenheit. Ausgehend von der vom 1942 verstorbenen WTG - Präsidenten Rutherford geäußerten Erwartung, dass der Zweite Weltkrieg in die „Schlacht von Harmagedon“ münde, meinten die Gläubigen nun, Jehova gewähre noch ein wenig Zeit, um den „Menschen guten Willens“ die Botschaft von seinem Königreich zu predigen, ehe diese Gnadenfrist abgelaufen sei. Diese Auffassung, die natürlich zu weiteren Aktivitäten animierte, wurde durch Publikationen der Glaubensgemeinschaft geschürt.13 Die nun mittlerweile anerkannte Stellung der Zeugen Jehovas als verfolgte Glaubensgemeinschaft versuchte die Magdeburger Zentrale durch die „Richtlinien für die Einrichtung des Bezirksdienstes“, nach denen in erster Linie anerkannte Opfer des Faschismus als Leiter der örtlichen Gemeinden eingesetzt werden sollten, weiter zu verstärken.14 Da die IBV in Deutschland außer den Zentralbüros keine eigenen Immobilien besaß, mussten für die Versammlungen und öffentlichen Veranstaltungen Räumlichkeiten angemietet werden. Im Gegensatz zu den Verhältnissen vor 1933 standen den Zeugen Jehovas nun aber nicht nur Räume in Gasthäusern, sondern auch kommunale Gebäude offen. So trafen sich Versammlungen in Schulen oder im Gebäude der örtlichen Kranken-

10 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 91. 11 Die Eintragung durch das Amtsgericht Magdeburg erfolgte dann am 22. 9.1945. Vgl. ebd., S. 94, sowie Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 63. 12 Vgl. die WTG - Broschüre aus dem Jahr 1947 „Jehovas Zeugen im Feuerofen“, S. 16 : „Jehovas Zeugen haben in dieser Zeit feuriger Prüfungen den Beweis erbracht, dass sie an der Lauterkeit festgehalten haben und sich nicht schämen, ihren Gott zu bekennen und für ihn und sein gerechtes Reich unter Christus Jesus Zeugnis abzulegen. Stets sind sie entschlossen, die Verkündigung in seinem Namen fortzusetzen, indem sie um seines Namens willen leiden und sein Wort predigen bis zum Ende der Nachkriegszeit und bis die Endschlacht von Harmagedon einsetzt.“ Der Begriff „Feuerofen“ entstammt Daniel 3, 1–30. 13 Vgl. „Harmagedon ist nahe“. In : Trost vom 1. 6. 1945. Zit. in Manfred Gebhard, Vor (mehr als ) 50 Jahren. Was 1945 Wahrheit war, URL : http ://www.manfred - gebhard. de/ 1945.htm (29. 9. 2003). 14 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 96 f.

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kasse.15 In Dresden stellte sogar die katholische Herz - Jesu - Kirche ihren Gemeindesaal zur Verfügung.16 Während die ostdeutsche Verwaltung nach 1945 mühselig wieder arbeitsfähig gemacht werden musste und der Aufbau der nichtkommunistischen Parteien argwöhnisch durch die sowjetische Besatzungsmacht beobachtet wurde, konnten die Zeugen Jehovas relativ rasch ihre hierarchischen Strukturen reproduzieren und schnell innerdeutsche und internationale Kontakte herstellen. Angeleitet wurde der deutsche Zweig der Glaubensgemeinschaft vom Schweizer Zweigbüro in Bern. 1947 wurde dann auch eine regelmäßige Verbindung zur Brooklyner Zentrale eingerichtet. Dabei kam zugute, dass die deutsche Wachtturm - Gesellschaft die Tochter eines in den USA eingetragenen Vereins war. So konnten die Zeugen Jehovas die amerikanische Militärpost sowie die Kabellinien benutzen.17 Auch materiell konnten die ostdeutschen Zeugen Jehovas von den schnell geknüpften internationalen Verbindungen profitieren. Aus den von Kriegszerstörungen weniger betroffenen europäischen Ländern sowie aus den USA kamen Lebensmittel - und Bekleidungslieferungen, seit 1947 auch Care - Pakete.18 Vorerst wurde die für das Glaubensleben so wichtige Literatur wie Bibeln, erklärende Schriften sowie die Zeitschriften Wachtturm und Trost ( seit 1946 Erwachet !) aus der Schweiz eingeführt. Da die sowjetische Militäradministration keine generelle Druckgenehmigung für die Zentrale in Magdeburg geben wollte, organisierte ein Büro in Berlin den Druck in den westlichen Sektoren.19 Den Schwierigkeiten, die aus der Teilung Deutschlands in Besatzungszonen entstanden, versuchte die Religionsgemeinschaft zu entgehen, indem sie in Wiesbaden ein für die drei westlichen Zonen zuständiges Büro einrichtete. Dass der wieder eingesetzte deutsche Zweigdiener, Erich Frost, in Wiesbaden residierte und sein Stellvertreter, Ernst Wauer, in Magdeburg, zeigt allerdings die Wichtigkeit, die den jeweiligen Büros eingeräumt wurde. Die Zeugen Jehovas antizipierten damit die erst zum Jahreswechsel 1946/47 offen zu Tage tretende Spaltung der ehemaligen Alliierten. Zunächst hatten die Zeugen Jehovas zur östlichen Besatzungsmacht ein gutes Verhältnis. Wie andere Kirchen auch20 berichten einige Funktionäre der Gemeinschaft von „schon fast freundschaftlichen Verhältnissen“.21 Schon einen Monat nach der Eintragung ins Vereinsregister bestätigte das Magdeburger 15 Vgl. Hacke, Zeugen Jehovas in der DDR, S. 21; Dirksen, Keine Gnade, S. 96. 16 Vgl. Bericht der 16. Kriminaldienststelle Dresden über eine Versammlung der Zeugen Jehovas am 19. 3. 1947 in der Herz - Jesu - Kirche vom 20. 3. 1947( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 98). 17 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 105. 18 Vgl. ebd., S. 103. Hierin unterschieden sich die Zeugen Jehovas nicht von anderen, vor allem aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Religionsgemeinschaften. 19 Vgl. ebd., S. 100 f. sowie 111 f. 20 Vgl. Besier, Kommunistische Religionspolitik, S. 122, Goerner / Kubina, Die Phasen der Kirchenpolitik der SED, S. 627. 21 Dirksen, Keine Gnade, S. 107.

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Schulamt, dass „die Internationale Bibelforscher - Vereinigung, Deutscher Zweig e. V., von der russischen Militär - Administration für gottesdienstliche Betätigung zugelassen“ sei.22 Dennoch kam es schon ab Herbst 1945 zu ersten Konflikten. Mitte November wurden in Brandenburg missionierende Zeugen Jehovas verhaftet und erst nach mehrfachen Verhören freigelassen. Auch im späteren Sachsen - Anhalt und in Sachsen kam es zu Übergriffen. Vorträge wurden verboten und Prediger festgenommen. Auch hier kamen die Betroffenen nach einigen Tagen mit dem Schrecken davon. Meistens mussten nicht genehmigte Einladungszettel oder die angebliche Verbreitung von Panikstimmung unter der Bevölkerung als Begründung für das Vorgehen herhalten.23 In Wittenberg wurde im Dezember ein Prediger, der an den Haustüren Wachttürme verteilt und Gebete gesprochen hatte, von Soldaten der örtlichen Kommandantur verhaftet und „den Organen der Smersch“ übergeben. Hier schien der Sitz der Gemeinschaftsleitung in den USA die Gefährlichkeit des Aufgegriffenen zu belegen.24 Der Willkür der NKWD Festnahmekommandos entgingen, wie viele andere Deutsche, auch Zeugen Jehovas nicht. Eine Zeugin Jehovas aus Brandenburg wurde im Februar 1946 verhaftet und verschwand spurlos. Wie in anderen Fällen verweigerte die SMAD jegliche Auskunft. Erst 1947 wurde bekannt, dass die Frau ins Lager Jamlitz - Lieberose verschleppt worden war, wo sie wegen der katastrophalen Versorgungslage verstarb. Auch in Mecklenburg verhaftete die Polizei drei Prediger, angeblich weil sie ein 1928 von der WTG herausgegebenes Buch nutzten, und übergab sie den sowjetischen Stellen. Während ein Zeuge Jehovas nach dem Verhör entlassen wurde, kamen die beiden anderen in ein Speziallager, aus dem einer von beiden erst 1948 entkam, während der andere dort ums Leben kam.25 Betrafen diese Maßnahmen „nur“ einzelne Angehörige der Glaubensgemeinschaft, sorgten regionale Verbote, wie das im thüringischen Gera oder im sächsischen Freiberg im Frühjahr 194626 für große Unsicherheit. Wie bei vielen ihrer Handlungen liegen auch hier die Entscheidungswege der sowjetischen Besatzungsbehörden weitgehend im Dunkeln. Unverständnis gegenüber der örtlichen religiösen Landschaft bei der Militäradministration bzw. Rivalitäten zwischen den verschiedenen Ebenen der Besatzungshierarchie, aber auch das „forsche Vorgehen“ ( Dirksen ) verschiedener Prediger der Religionsgemeinschaft und nicht zuletzt der Tenor der Berichte ostdeutscher Sicherheitsinstanzen sowie der KPD / SED - Gliederungen verhärteten den gegenseitigen Umgang. Die für Kirchen zuständigen Besatzungsoffiziere brachten aus ihrer Heimat ein „gegenüber den Kirchen der Reformation und der römisch - katholischen Kir-

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Schreiben der Stadtverwaltung Magdeburg vom 13. 10. 1945. Zit. nach ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 107 f. Vgl. Hilger / Schmeitzner / Schmidt, Widerstand und Willkür, S. 238. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 109. Vgl. ebd., S. 111.

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che unterschiedliches Kirchenverständnis – nämlich das in der Orthodoxie dominierende Verständnis von ‚Kultkirche‘“ – mit.27 Entsprechend wiesen die Militärbehörden immer wieder darauf hin, dass sich Verkündiger jeglicher politischer Äußerungen zu enthalten hätten. Wie andere Glaubensgemeinschaften bezogen sich die Zeugen Jehovas jedoch in ihren Predigten auf aktuelle politische Ereignisse. Während sich die Großkirchen das Recht vorbehielten, zu Fragen Stellung zu nehmen, die die Stellung des Christen in der Gesellschaft betrafen,28 wollten die Zeugen Jehovas damit auf die angeblichen Belege für ihre Endzeiterwartungen hinweisen. Da die unteren und mittleren Besatzungsinstanzen zumindest in der ersten Nachkriegszeit weitgehend eigenständig handeln konnten, hatte auch die politische und religiöse Einstellung der betreffenden Kommandanturoffiziere großen Einfluss auf die vor Ort getroffenen Entscheidungen. Zwar verloren die unteren Einheiten der Befehlsstruktur mit der Zeit das Recht zu unmittelbaren Eingriffen, doch war dies auf Grund der häufig mündlich weitergegebenen Befehle ein schwer zu kontrollierender Vorgang.29 Zwischen den verschiedenen Ebenen der Besatzungshierarchie wie auch den einzelnen Fachabteilungen konnten sich Interessenskonflikte und Konkurrenzdenken herausbilden.30 So musste Major Wassiljew, Vorgesetzter des in der Informationsabteilung der SMAD für Kontakte zu den Kirchen zuständigen Leutnants Jermolajew, in einem Gespräch mit dem amerikanischen Rechtsberater der Zeugen Jehovas, Hayden Covington, am 19. Juni 1947 zugeben, dass „die unteren Kommandanturen nicht die richtige Haltung eingenommen hätten und die Sache nicht verstünden“.31 Zu Missverständnissen und Fehlentscheidungen trugen ebenso mangelnde Kommunikation zwischen den Ebenen wie auch die unzureichende Weitergabe von Absprachen mit den deutschen Stellen an die unteren und mittleren Besatzungsinstanzen und Geheimbefehle bei.32 Auch das Auftreten verschiedener Prediger der Zeugen Jehovas gestaltete sich mancherorts als schwierig. Ähnlich wie die aus Gefängnissen, Konzentrationslagern und dem Exil zurückgekehrten Kommunisten beherrschte die glaubensstark gebliebenen Zeugen Jehovas „das triumphierende Gefühl der Genugtuung gegenüber den überwältigten Peinigern“.33 Angesichts ihrer Wahrnehmung der Nationalsozialisten als Antichristen sahen sie sich als die wahren Antifaschisten und „Opfer des Faschismus“. Das Sendungsbewusstsein der Gläubigen, angestachelt durch die Hoffnung auf das baldige Erscheinen des Heilands und die starken Zuwächse, ließ kaum Raum für Rücksichtnahmen auf politische Forderungen. Dies wurde durch die Meinung, vor allem die Großkirchen 27 28 29 30 31 32 33

Dähn, Grundzüge der Kirchenpolitik, S. 150. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (1990), S. 45. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 129–131. Ebd., S. 121. Vgl. Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (1999), S. 309. Vgl. Ranke, Linke Unschuld, S. 103.

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seien „Verursacher ihrer Schwierigkeiten“,34 nur noch weiter gestärkt. Erst spät sah die Zentrale der Zeugen Jehovas in Magdeburg die Gefahr heraufziehen und verordnete ihren Funktionären Anfang 1948, dass diese „mit Taktgefühl und nicht herausfordernd gegenüber den sowjetischen Kommandanturen auftreten sollten“.35 Da der für die Überwachung von Religionsgemeinschaften zuständige Apparat der Propagandaabteilungen mit der Aufgabe der flächendeckenden Kontrolle aller anfallenden Versammlungen restlos überfordert worden wäre, mussten die wenigen hier eingesetzten Offiziere auf der Basis von Polizeiberichten die geforderten Einschätzungen für die vorgesetzten Dienststellen erstellen. Damit aber bekamen die führenden Kader der deutschen Polizei und der Innenverwaltung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die sowjetische Politik. Durch entsprechende Auswahl und Akzentuierung von Informationsmaterial konnten sie so die Sicht auf die angesprochenen Probleme so lenken, dass sie der eigenen (kommunistischen ) Wahrnehmung entsprach.36 Daher vermutet Dirksen meines Erachtens richtig, dass die zunehmenden Spannungen zwischen den Zeugen Jehovas und der östlichen Besatzungsmacht auch auf interessierte ostdeutsche Kreise zurückzuführen sind.37 Die Politik der ostdeutschen Kommunisten gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften nach 1945 war Goerner und Kubina folgend von vier Determinanten geprägt. Im Gefolge der sowjetischen Politik war auch die der KPD / SED potentiell auf ganz Deutschland ausgerichtet. Trotz der langfristig angelegten Umwälzungen der Gesellschaft nach kommunistischen Vorstellungen sollte die Politik von SMAD und KPD / SED für die westlichen Alliierten und das politische Spektrum in allen Besatzungszonen akzeptabel bleiben. Zudem gingen die Kommunisten davon aus, in der Bevölkerung eine Massenbasis, also auch unter christlichen Arbeitern, zu erringen. Sogar in ihren eigenen Reihen gehörte die Mehrzahl der Mitglieder gleichzeitig auch einer Kirche an. Außerdem gab es durch die gemeinsame Vergangenheit von Kommunisten und Christen in nationalsozialistischen Gefängnissen und Lagern ein gewisses gegenseitiges Grundvertrauen in die persönliche Integrität des anderen.38 Auch aus taktischen Gründen kam in der Phase der „antifaschistisch - demokratischen Umwälzung“ keine kirchenfeindliche Haltung in Frage. Besonders bei „Gruppen oder Personen, die eine ganz andere Geschichte, Biographie und Sozialisation besaßen“ als die 34 Dirksen, Keine Gnade, S. 116. 35 Ebd., S. 128. 36 Vgl. Widera, Dresden, S. 213, sowie eine an das sächsische Dezernat K 5 adressierte Abschrift eines Berichts des Bautzner Kommissariats K 5 an die dortige SMA - Kommandantur „Tätigkeit der Sekte ‚Zeugen Jehovas‘“ vom 23. 5. 1949, welcher mit den Worten schließt : „Aus diesem Grund muss daher diesen Feinden einer besseren Zukunft für unser Volk und darüber hinaus für die gesamte Menschheit mit aller Konsequenz der Kampf angesagt werden, und ihrem Treiben ein Ende gesetzt werden.“ ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3190, Akte 1, Bl. 41–45). 37 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 132. 38 Vgl. Goerner / Kubina, Die Phasen der Kirchenpolitik der SED, S. 629 f.

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Vertreter der Kommunisten, kam die Zustimmung einer Legitimation ihrer Politik gleich.39 Diese taktische Zurückhaltung musste naturgemäß in Kollision mit den strategischen Zielvorstellungen der KPD / SED geraten. Langfristig wurde das Verschwinden der Religion erwartet, da dass Ziel der Kirchenpolitik die Befreiung der Menschen von ihren religiösen Vorurteilen war.40 Schon der VI. Weltkongress der Komintern hatte 1928 beschlossen, dass der Kampf gegen die Religion „hartnäckig und systematisch geführt werden“ müsse. „Die proletarische Macht muss jede staatliche Unterstützung der Kirche, die eine Agentur der einst herrschenden Klassen ist, aufheben, jede Einmischung unterbinden und die konterrevolutionäre Tätigkeit kirchlicher Organisationen schonungslos unterdrücken. Die proletarische Macht lässt die Freiheit des Bekenntnisses zu, führt aber gleichzeitig mit allen ihr zugänglichen Mitteln eine antireligiöse Propaganda, vernichtet die Vorzugsstellung der früheren Staatsreligion und gestaltet das ganze Erziehungs - und Bildungswesen auf der Grundlage der wissenschaftlich - materialistischen Weltanschauung um.“41 Diese Vorstellungen waren nach 1945 nicht verschwunden. Sowohl in der KPD als auch bei Sozialdemokraten waren Traditionen des Freidenkertums mit einer stark antireligiösen und antikirchlichen Komponente lebendig.42 Besonders in den neuen Polizeiverbänden waren diese Traditionen virulent. Schon Ende 1945 waren in der sächsischen Polizei 95,7 % der Angehörigen Mitglied der KPD und der SPD, aus bürgerlichen Parteien stammten 1,5 %, während 2,8 % parteilos waren.43 Im Gesamtbestand der Dresdner Polizei ( außer Feuerwehr und Kriminalpolizei ) fanden sich lediglich ein Mitglied der CDU und eines der LDP.44 Auch Herkunft und Altersstruktur der „Volkspolizisten“ sprechen für eine Sozialisation im proletarischen Freidenkermilieu. Da die Herkunft aus der „Arbeiterklasse“ im kommunistischen Denken auch die politische Zuverlässigkeit garantierte, setzte sich die neue Polizei vor allem aus „im Klassenkampf bewährten Antifaschisten“ zusammen. Da sich Millionen junger Männer zudem noch in alliierter Kriegsgefangenschaft befanden, war die ostdeutsche Polizei verhältnismäßig alt.45 Schon in der Weimarer Republik hatten sich proletarische Freidenkerverbände mit dem Problem der Sekten und im Besonderen mit den damaligen Bibelforschern beschäftigt. Grund dafür waren nicht nur die massiven Zuwächse, die die Bibelforscher nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland erringen konnten und die nicht ins Bild von der „absterbenden Religion“ passten, sondern vor allem, dass diese Erfolge in den Reihen der von den Kirchen entfremdeten Arbeiter errungen wurden. Das sprunghafte Anwachsen der Zeugen Jehovas nach 39 40 41 42 43 44 45

Dähn, Grundzüge der Kirchenpolitik, S. 156. Vgl. Thumser, Kirche im Sozialismus, S. 15. Zit. nach Goerner / Kubina, Die Phasen der Kirchenpolitik der SED, S. 621. Vgl. Hartweg ( Hg.), SED und Kirche, Band 1, S. 3. Vgl. Bessel, Polizei zwischen Krieg und Sozialismus, S. 521. Vgl. Widera, Dresden, S. 194. Vgl. Bessel, Polizei zwischen Krieg und Sozialismus, S. 522 f.

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1918 und besonders nach 1930 beruhte auch auf dem Zerfall traditioneller Milieubindungen, dem Verschwinden der Bindungskraft der traditionellen Institutionen Staat und Kirche und der sozialen Isolierung auf Grund ökonomischer Not.46 Während der Religionsgemeinschaft von kirchlichen und konservativen Kritikern wegen deren volkstümlicher Beschreibung baldigst zu erwartender paradiesischer Zustände Propagierung kommunistischer Ziele47 und Freundschaft mit den „Spartakisten“ vorgeworfen wurde,48 sahen sozialdemokratisch wie auch kommunistisch orientierte Freidenker verbände gerade darin die Gefährlichkeit dieser Glaubensgemeinschaft. Sie werteten die Aktivitäten der Bibelforscher nicht nur als Konkurrenz um die Gunst der Arbeiterschaft. Der Glaube an die „Umkehrung der bisherigen Ordnung der Dinge [...] durch eine übernatürliche Intervention von außen“,49 war in ihren Augen nur als gezielte Instrumentalisierung der Gemeinschaft zu deuten, die Volksmassen vom Klassenkampf abzuhalten. Mit ihrer „glühende[ n ] Kirchenfeindschaft“ versuche die Religionsgemeinschaft nur „das unbelehrbare Volk [...] bei der Stange zu halten – für die Ausbeuter des Volkes“. Damit sollte der Arbeiter gelähmt werden, „selbst Hand [ anzulegen ] beim Bau einer neuen, besseren Gesellschaftsform“.50 Auch die „proletarischen Freidenker“ machten sich Gedanken, wer denn die aufwendigen und teilweise Aufsehen erregenden Kampagnen der Zeugen Jehovas finanzierte, um festzustellen, „dass recht kapitalkräftige Kreise im Interesse der Sekte ziemlich tief in ihren Brustbeutel“ greifen.51 Nun, als es nach 1945 darum ging, unter dem Schutz sowjetischer Gewehrläufe die deutsche Gesellschaft nach kommunistischer Vorstellung zu gestalten und dafür um die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit zu ringen, geriet die expandierende Glaubensgemeinschaft wiederum ins Fadenkreuz. Daher überrascht es nicht, dass es im Vorfeld des „Volksentscheids über die Enteignung der Nazi - und Kriegsverbrecher“ in Sachsen am 30. Juni 1946 zu den ersten nachweisbaren Auseinandersetzungen zwischen SED bzw. den von ihr geführten Sicherheitsinstanzen und der Glaubensgemeinschaft kam. Der Volksentscheid sollte nicht nur die bereits vollzogenen Enteignungen nachträglich als antifaschistische Maßnahmen legalisieren. Mit der Kampagne vor dem Entscheid versprach man sich auch einen Testlauf für die neugegründete SED. Nicht zuletzt

46 Roser, Widerstand und Verweigerung, S. 32 f. Die Parallelität von steigender Verarmung und Zuwachsraten bei den Zeugen Jehovas werden auch für andere Länder bestätigt. Vgl. Köppl, Die Zeugen Jehovas, S. 173. 47 Vgl. Scheurlen, Die Sekten der Gegenwart (1930), S. 103. 48 Busch, Das Sektenwesen, S. 93. 49 Köppl, Die Zeugen Jehovas, S. 32 und 34. 50 „Der sozialistische Freidenker“, Nr. 8/1930. Zit. in Manfred Gebhard, Alter Kaufmannstrick, URL : http ://www.manfred - gebhard.de /19302Kaufmanstrick.htm (2. 3. 2004). Zur antikirchlichen Stimmung in den Hochburgen der Linken in Sachsen und Thüringen ( die auch die der Bibelforscher waren ) vgl. Winkler, Der Schein der Normalität, S. 640–642. 51 Efferoth, Himmel Fimmel, S. 52.

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wollte man ein Bild der Stimmung in der Bevölkerung gewinnen.52 In einem Klima, in dem der sächsische Innenminister Kurt Fischer „Gemeinden, Städte[ n ] und Stadtteile[ n ], wo man eine Demonstration macht, für die Kriegsverbrecher und für die Nazis, in dem man sich an der Abstimmung schwach beteiligt und in großem Maße mit Nein stimmt“ mit Säuberungen in der Verwaltung und Einengung der Ernährungsbasis drohte,53 stieß die abstinente Haltung der Zeugen Jehovas schnell auf Kritik. Wurde auf der Sekretariatssitzung der SED - Landesleitung Sachsen am 7. Juni 1946 noch gefordert „mit Hilfe der CDU gegen die Bibelforscher“ vorzugehen, da diese „gegen den Volksentscheid Stellung“ nähmen,54 verbot die sowjetische Kommandantur in Chemnitz nach einem kritischen Bericht des Kriminalamtes der Stadt55 am 11. Juni 1946 die Religionsgemeinschaft.56 Es gelang, durch Vorsprache führender Funktionäre der Gemeinschaft bei der SMAD die Aufhebung des Verbotes am 4. Juli 1946 zu erreichen,57 doch wurde nun erstmals durch das LKA die Frage eines Verbotes in ganz Sachsen ventiliert und entsprechende Berichte bei den Kriminalämtern eingeholt.58 Es gingen wohl keine „positiven Berichte“ der jeweiligen Kriminalämter ein, denn ein landesweites Verbot kam nicht zustande. Im August 1946 ersuchte jedoch das Referat Kirchenangelegenheiten der Landesver waltung Sachsen das Landesnachrichtenamt und die Polizeiabteilung, der Tätigkeit der Bibelforscher erhöhte Beachtung zu widmen, „um vor Überraschungen gesichert zu sein“.59 Noch gab es keine flächendeckende Überwachung. Die Grundlagen dafür wurden jedoch gelegt. Die Kommunal - bzw. Kreistags - und Landtagswahlen im September und Oktober 1946 waren die ersten und die letzten Wahlen in der SBZ / DDR, die trotz Behinderungen der bürgerlichen Parteien als demokratisch gelten konnten. Anders als bei den Plebisziten und nichtkompetetiven Wahlen stand die SED hier in direkter Konkurrenz zur CDU und der LDP, weshalb sie weniger in etwaigen Wahlverweigerern als in Stimmen für den politischen Gegner eine Gefahr sah. Daher tauchen in den Protokollen des Sekretariats der sächsischen SED Beschwerden über „faschistische Methoden“ im Wahlkampf, besonders 52 Vgl. Braun, Wahlen und Abstimmungen, S. 383. 53 Richter / Schmeitzner, Einer von beiden, S. 89 f. 54 Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung vom 7. 6. 1946 ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, A /778, Bl. 76–98, hier 83). Interessanterweise wurde in der Aussprache die Befürchtung geäußert, dass „eine administrative Maßnahme zur Frage der Bibelforscher [...] gerade das Gegenteil erzielen [ würde ]. In der Nazizeit war niemand so stur wie die Bibelforscher“ ( ebd., Bl. 94 f.). 55 Vgl. Bericht des Kriminalamtes Chemnitz, Zentralstelle H, vom 10. 6. 1946 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 129 f.). 56 Vgl. Kriminalamt Chemnitz, Zentralstelle H, an Leiter der Zentralstelle H beim Landeskriminalamt vom 11.6 1946 ( ebd., Bl. 128). 57 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 117. 58 Vgl. Chef der Polizei im Bundesland Sachsen, Landeskriminalamt, Zentralstelle H, vom 12. 6. 1946 an das Kriminalamt Dresden, Zentralstelle H ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 127). 59 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 135.

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durch die LDP, auf. Wahlverweigerer im Allgemeinen oder Zeugen Jehovas im Besonderen werden aber nicht erwähnt.60 Besonders die Kreistags - und Landtagswahlen vom 20. Oktober 1946 brachten für die SED enttäuschende Ergebnisse. In keinem der fünf Länder erreichte sie die absolute Mehrheit. Im Vergleich zu den unter erheblich größeren Behinderungen vollzogenen Gemeindewahlen konnten die beiden bürgerlichen Parteien ihren relativen wie auch absoluten Stimmanteil vergrößern. Alarmierend für die SED war, dass besonders Frauen „sich mehrheitlich nicht von der SED, sondern von LDP und CDU vertreten“ sahen.61 Wie die LDP - Zeitung „Sächsisches Tageblatt“ für Dresden errechnete, waren „von 100 Wählern der SED [...] 45 Männer und 55 Frauen. Von 100 Wählern der LDP waren 36 Männer und 64 Frauen. Von 100 Wählern der CDU waren nur 30 Männer und 70 Frauen !“62 Aus der Befürchtung heraus, bei neuerlichen Wahlen erneut eine große Anzahl von Stimmen an die CDU zu verlieren, initiierte die SED Anfang 1947 die Gründung des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands ( DFD ).63 Genauso wichtig aber musste es sein, diejenigen Institutionen zu kontrollieren, in denen Frauen überproportional vertreten waren : Religionsgemeinschaften. Am 27. Januar 1947 forderte das inzwischen beim Sächsischen Volksbildungsministerium angesiedelte Referat für Kirchenangelegenheiten bei den Stadt - und Landkreisen Berichte über die Tätigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften und insbesondere über eventuelle Schwierigkeiten zwischen den Gemeinschaften und den deutschen Verwaltungen an.64 Auch die Abteilung Vereinswesen versuchte, sich ein Bild der verschiedenen Veranstaltungen und Versammlungen von religiösen Gruppen zu machen. Eine neue Qualität erreichte die Überwachung jedoch im Februar 1947, als die Fachabteilung VI im Dresdner Kriminalamt angewiesen wurde, „sämtliche Sekten und Vereinigungen zu über wachen“.65 Diese Fachabteilung VI war aus der Sonderstelle bzw. Abteilung N im Dresdner Polizeipräsidium entstanden. Nach außen als Sonderabteilung bzw. Auswertungsstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen bezeichnet, war diese im Sommer 1945 gegründete Abteilung der Nukleus einer politischen Polizei.66 Bereits im Februar / März 1946 kam es auf Anordnung der SMAS im sächsischen LKA bzw. den Kriminalämtern der fünf großen sächsischen Städte Dresden, Chemnitz, Leipzig, Bautzen und Zwickau zur Einrichtung von Zentralstellen, von denen die mit „H“ bezeichnete mit der „Bearbei60 Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung vom 3. 9. 1946 ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, A /778, Bl. 191–201), Beschluss - Protokoll Nr. 37 der Sekretariatssitzung des Landesvorstands Sachsen der SED vom 21. 10. 1946 ( ebd., Bl. 232–238). 61 Widera, Begrenzte Herrschaft, S. 177 f. 62 Sächsisches Tageblatt vom 5. 9. 1946. Zit. nach ebd., S. 178. 63 Vgl. Widera, Dresden, S. 363 f. 64 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 138. 65 Direktion des Kriminalamtes Dresden vom 12. 2. 1947 an die Fachabteilung VI ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 88). 66 Zur Entwicklung der Polizei - / Geheimpolizeistrukturen in Dresden und Sachsen vgl. Widera, Dresden, S. 183–230.

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tung von Aufträgen der Besatzungsbehörden und der Landesverwaltung“ einen offen politischen Charakter hatte. Nach einer erneuten Umstrukturierung im LKA existierten ab der zweiten Hälfte 1946 8 Fachabteilungen, von denen die Fachabteilung VI die Aufgabe der früheren Zentralstelle H übernahm. Nachdem am 30. Juli 1946 die Deutsche Verwaltung des Innern ( DVdI ) gegründet wurde, kam es Anfang 1947 zu einer Angleichung der kriminalpolizeilichen Strukturen. Den sieben Referaten der Abteilung Kriminalpolizei in der DVdI entsprachen sieben Dezernate der Landeskriminalämter und sieben Kommissariate in den Kriminalämtern. Das Referat K 5 war für „Straftaten anderer Art“ bzw. „Straftaten, die den Neuaufbau unserer jungen Demokratie gefährden“, zuständig.67 Hatten das K 5 und seine Vorläufer 1945/46 hauptsächlich politische Gegner im engeren Sinne, so aus der CDU und der LDP, vor allem aber aus den Reihen der ehemaligen SPD „bearbeitet“, gestaltete sich die Überwachung der ostdeutschen Gesellschaft ab 1947 flächendeckend. Mit den neugeschaffenen Arbeitsgruppen C - 3 k - s ( zuständig für „Schumacher - Leute [ k ], linke Abweichung [ l ], CDU [ m ], LDP [ n ], Massenorganisationen [ o ], Sekten und Religionsgemeinschaften [ p ], Umsiedler [ q ], Nationaldemokratische Partei [ r ], Bauernpartei [ s ] und Druckschriften [ Dr ]“) zeigte sich der totalitäre Anspruch der SED, den gesamten gesellschaftlich - politischen Raum zu kontrollieren.68 Die immer intensivere Bekämpfung und Über wachung potentieller oder tatsächlicher politischer Gegner forderte personelle Konsequenzen. 1948 waren von den 2 300 Mitarbeitern im sächsischen LKA 32 Prozent beim K 5. Im zunehmenden Maße fungierte nicht mehr allein die sowjetische Besatzungsmacht, sondern auch die SED als Auftraggeber.69 Die zentralen Landes - oder Zonenbehörden griffen für ihre Berichte an die Besatzungsorgane und die SED - Instanzen zumeist auf die Meldungen der örtlichen Verwaltungen und Überwachungsapparate zurück. Dabei wurden jedoch Einzelaussagen überhöht und auch verfälscht. Fasst man die einzelnen Berichte und Stellungnahmen zusammen, kristallisieren sich drei Kritikpunkte heraus, die den Bibelforschern schon in der Weimarer Republik von Freidenkerverbänden vorgeworfen wurden : Verbreitung von politischer und gesellschaftlicher Inaktivität, Ausgreifen auf politisches Gebiet bzw. eine besondere Aktivität und Wachstum. Die Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk im Zentralsekretariat der SED beobachtete, dass die Handlungen der Gemeinschaft „die schon vorhandene, weit verbreitete Inaktivität der Menschen in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten“ fördern und vergrößern.70 Die mangelnde Mobilisierungsfähigkeit und fehlende Legitimierung versuchte auch die Abteilung Frauen des 67 68 69 70

Vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 210–220. Vgl. Schmeitzner, Ein deutscher Tschekist, S. 184 f. Vgl. ebd., S. 183. Verbreitung und Tätigkeit religiöser Sekten in der SBZ, Bericht der Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk im Zentralsekretariat der SED vom 16. 8. 1948 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/2.022/13, Bl. 222).

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SED - Landesvorstands Sachsen - Anhalt zu kaschieren, indem sie darauf verwies, dass es sich bei den Sekten „offenkundig darum [ handelt ], die Menschen von aktiver Teilnahme am politischen und öffentlichen Leben abzuhalten“.71 Die Kritik an der politischen Inaktivität meinte allein das fehlende Engagement im Rahmen der durch die SED vorgegebenen „antifaschistisch - demokratischen Umwälzungen“. Schon 1947 stellte Wilhelm Pieck fest : „Die Kirche kann sich selbstverständlich einer Stellungnahme zu den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen entziehen und sich lediglich auf die Pflege des Gottesglaubens beschränken. Wo das geschieht, wird es keine Konflikte zwischen der Partei und der Kirche geben. Wo aber die Kirche in diesem Kampf eine Stellungnahme bezieht, die sich gegen die von der Partei gestellten Aufgaben und verfolgten Ziele wendet, muss das zu einer ernsten Auseinandersetzung [...] führen.“72 Da nach Lehre der Zeugen Jehovas Teile der biblischen Prophetie für die Jetztzeit bestimmt sind, werden diese mit tagespolitischen Ereignissen synchronisiert. Das gesamte Interesse der Gläubigen konzentriert sich auf die Frage, wann das „System der Dinge“ durch Gott zerstört wird. Deshalb verweisen sie auf die „Zeichen der Zeit“, wie Kriege, Unsicherheit, Hungersnöte oder sittlichen Verfall, um zu belegen, dass nun die letzten Tage gekommen seien.73 Zwar gelangte beispielsweise ein Bericht der Abteilung Information der Militärkommandantur Dresden zu dem Ergebnis, dass „die Prediger [...] in der Regel die gegenwärtigen politischen Ereignisse mit Geschehnissen aus der Bibel [ vergleichen ] und [...] Analogien mit ihnen [ ziehen ]“.74 Bei der Bewertung dieses Faktes konnten die Berichterstatter aber ihre parteipolitische Sichtweise nicht ablegen. Akribisch wurden die Aktivitäten der Zeugen Jehovas mit denen der bürgerlichen Parteien verglichen und festgestellt, dass die Religionsgemeinschaft doppelt so viele Veranstaltungen wie die LDP und fünf - bis sechsmal so viele wie die CDU in Dresden durchführe.75 Schnell wurden Gottesdienste zu Versammlungen deklariert, Verkündigung zu „Hauspropaganda“ und aus Missionaren wurden „Agitatoren“.76 Auch deutsche Darstellungen hoben die Parallelen zu politischen Organisationen her vor, „da es sich bei den Führern dieser Sekten um fanatische Kämpfer handelt, die ihre Anhänger fest im Griff halten“. Die Zeugen Jehovas seien „in den Stadtgebieten und in der Umgebung von Dresden am meisten verankert und [ werden ] also von einer guten Organisation 71 72 73 74

75 76

Bericht des SED - Landesvorstands Sachsen - Anhalt, Abteilung Frauen, an das SED - Zentralsekretariat vom 27. 8. 1948 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/17/17, Bl. 19). Zit. nach Onnasch, Die Rolle der Kirchen, S. 18. Vgl. Köppl, Die Zeugen Jehovas, S. 43–45. Bericht des Leiters der Abteilung Information der Verwaltung der Militärkommandantur der Stadt Dresden, Major Kirpitschew, an den Leiter der Abteilung Information der SMA Sachsen, Oberst Kusmin, „Über die Tätigkeit der Sekte ‚Zeugen Jehovas‘ in der Stadt Dresden“ vom 25. 10. 1948 ( GARF, f. 7212, op. 1, d. 235, l. 97–101). „So hielt diese Sekte im Juli [1948] 102 Versammlungen ab, dagegen kam die LDP auf 50 und die CDU nur auf 19 Versammlungen. Im August hielt die LDP 45 Versammlungen ab, die CDU 16, aber die Zeugen [ Jehovas ] 101.“ ( ebd., Bl. 98). Vgl. ebd.

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gestützt“.77 Der Bericht über eine Kreisversammlung der Zeugen Jehovas in Cottbus attestierte „einen organisatorischen Aufbau [...] auf einer recht beachtlichen Höhe [...], dass sich die Parteien ein Beispiel nehmen können“.78 In einem Klima, das vom Absterben der Religion ausging, musste eine aktive und expandierende Religionsgemeinschaft auf besonderes Misstrauen stoßen. Für die großen Kirchen konnte zwar festgestellt werden, „dass der religiöse Auftrieb, der in den ersten Monaten des Jahres 1945 zu beobachten war, im Allgemeinen zum Stillstand gekommen“ sei.79 Aber „weit wichtiger und zugleich auch gefährlicher ist die Sektenbewegung. Sie hat in den letzten Monaten einen ziemlichen Aufschwung erfahren. [...] Als besonders stark und deshalb auch gefährlich tritt die Sekte ‚Zeugen Jehovas‘ ( früher ‚Internationale Bibelforschervereinigung‘ ) in Erscheinung. Ihr gegenüber treten alle anderen weit in den Hintergrund“.80 Auf sie entfielen im Jahr 1948 ein Viertel aller registrierten religiösen Veranstaltungen in Dresden. Die Zahl der dort aktiven Versammlungen oder Gruppen verdoppelte sich im gleichen Jahr auf 28.81 Besonders hellhörig wurden die Behörden, wenn sich der Einfluss der Gemeinschaft auch auf die Jugend erstreckte, denn dies sahen sie als gegnerischen Zugriff auf ein entscheidendes Potential für die geplante Gesellschaftstransformation.82 Nur wenige Berichte versuchten, die wirklichen Ursachen für den Erfolg der Religionsgemeinschaft in der „gegenwärtigen Not“ bzw. traditionellen religiösen Einstellungen der Bevölkerung zu finden.83 Bezeichnenderweise fanden derartig differenzierte Betrachtungen in den zusammengefassten Berichten der nächsthöheren Verwaltungsebene keinen Eingang. Vertreter der Zeugen Jehovas erhielten in Verhandlungen mit der SMAD am 13. Mai 1947 die Auskunft, dass ihre Gemeinschaft zu den in der SBZ aner77 Bericht über die Sektentätigkeit innerhalb der Stadt Dresden und Umgebung, Kriminalamt Dresden, Fachabteilung VI, vom 27. 3. 1947 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz Hoppegarten, ZA, 3181, A. 14, Bl. 101 f.). 78 Bericht des Informationsdienstes des Landes Brandenburg über eine Kreisversammlung der Zeugen Jehovas an den Leiter der Abt. Staatliche Verwaltung im ZK der SED, Anton Plenikowski, vom 19. 11. 1949. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 206 f. 79 „Zur religiösen und kirchlichen Lage“, Hans Joachim Mund, Abt. Kultur und Erziehung im Zentralsekretariat der SED, o. D. ( vermutlich Anfang November 1946). Abgedruckt in Goerner / Kubina, Die Phasen der Kirchenpolitik der SED, S. 705 f. ( Dok. 1). 80 Zentralsekretariat der SED, Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk, „Allgemeine Information über die Tätigkeit und Verbreitung der Kirchen und Sekten in der SBZ“ vom 29. 4. 1948 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/17/17, Bl. 1–10, hier 2 f.). 81 Bericht des Leiters der Abteilung Information der Verwaltung der Militärkommandantur der Stadt Dresden, Major Kirpitschew, an den Leiter der Abteilung Information der SMA Sachsen, Oberst Kusmin, „Über die Tätigkeit der Sekte ‚Zeugen Jehovas‘ in der Stadt Dresden“ vom 25. 10. 1948 ( GARF, f. 7212, op. 1, d. 235, l. 97–101). 82 Vgl. z. B. Schreiben an das Jugendsekretariat beim ZK der SED vom 18. 10. 1948 ( ohne Absender ) ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, A /939, Bl. 19–28. 83 Vgl. 2. Bericht über die Tätigkeit der „ZJ“ ( Bibelforscher ), Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Abteilung Allgemeine Volkserziehung, Referat Religionsgemeinschaften, vom 10. 5. 1948 ( SächsHStAD, LRS, Ministerpräsident, Nr. 1355, Bl. 213–218, hier 217).

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kannten Religionsorganisationen gehören würde und dass Gottesdienste ohne jede Erlaubnis ausgeübt werden könnten. Auch die Informationspflicht über geplante Veranstaltungen wurde eingeschränkt. Die Gruppendiener sollten bei den Kommandanturen nur noch angeben, wie oft und in welcher Stärke ihre Versammlungen laufend zusammenkommen würden. Am 24. Juni 1947 erhielt die Gemeinschaft dann von der Abteilung für Information auch die schriftliche Bestätigung, dass sie sich „unter den in der sowjetischen Besatzungszone erlaubten Sekten befindet“.84 Nachdem jedoch die Gefährlichkeit der Zeugen Jehovas in Berichten der verschiedenen Ver waltungs - und Parteiinstanzen beschworen wurde, verschärfte sich insbesondere in Sachsen, der Hochburg der Religionsgemeinschaft und dem Modell der gesellschaftlichen Umwälzungen in der SBZ, das Verhältnis zwischen sowjetischen bzw. deutschen Behörden und der Gemeinschaft. In nicht wenigen Kreisen und Städten Sachsens bestanden die örtlichen Kommandanturen darauf, dass jede einzelne Veranstaltung angemeldet und auch die Predigtmanuskripte zur Freigabe eingereicht werden müssten. Alle nicht ausdrücklich genehmigten Versammlungen wurden verboten. Im Vertrauen auf die Zusicherungen der SMAD von Mai und Juni 1947, aber auch im Bestreben, den selben Status wie etablierte Glaubensgemeinschaften zu erringen, widersetzten sich mancherorts Funktionäre der Zeugen Jehovas dem Ansinnen der örtlichen Besatzungsorgane. Diese ließen die Versammlungen durch die ostdeutsche Polizei auf lösen und die verantwortlichen Prediger mit Geld - oder Haftstrafen belegen. In einigen Gebieten Sachsens kam es auch zu zeitlich befristeten Tätigkeitsverboten.85 Dass die Besatzungsmacht nicht nur die nötigen Informationen von den ostdeutschen Stellen erhielt, sondern bei der Einschränkung der missliebigen Gemeinschaft eng mit diesen zusammenarbeitete, belegt ein Schreiben des Leiters der Abteilung Kirchenwesen der Präsidialkanzlei des Landes Sachsen Anhalt, Dr. Reinhard Kunisch ( CDU ). Angesichts der „Propaganda an den Haustüren“, bei der auf einen „zu erwartenden Weltuntergang“ hingewiesen und die auch „Gläubige und Anhänger“ fände, hielt es Kunisch „deshalb durchaus für richtig, sobald als möglich Maßnahmen zu erwägen, wie dem unzulässigen Treiben dieser Sekte Einhalt geboten werden“ könne. Eine Möglichkeit wäre, „die Betätigung der Sekte in den Gebieten, in denen sie sich unzulässiger Methoden und Mittel bedient hat, durch die SMA verbieten zu lassen“.86 In Sachsen verboten die Sowjets kurzerhand die „unzulässige Methode“ der Werbung an den Haustüren, eine Art der Verkündigung, die als besonders gefährlich weil erfolgreich eingeschätzt wurde.87 Die Einschränkung der Aktivi84 Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 121. 85 Vgl. ebd., S. 121–131. 86 Reinhard Kunisch an Innenminister Robert Siewert vom 5. 3. 1948. Zit. nach ebd., S. 154. Kunisch verwarf diesen Vorschlag allerdings, da er befürchtete, die Zeugen Jehovas könnten nach einem Verbot durch die SMA „aus gewissen Teilen der Bevölkerung neuen Zustrom erhalten“. 87 Vgl. ebd., S. 178.

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täten der Glaubensgemeinschaft und deren Renitenz, diese Vorgaben auch umzusetzen, führten schon zu Beginn des Jahres 1948 zu einer Verhärtung des Verhältnisses. Die Haltung der Zeugen Jehovas „zur Besatzungsmacht ist, solange sie ungehindert arbeiten konnten, nicht zu kritisieren gewesen. Allerdings hat sich das jetzt, seitdem sämtliche Rededispositionen und Versammlungen von der örtlichen Kommandantur genehmigt werden müssen, sehr geändert. Z. B. hat sich in Chemnitz gezeigt, dass man unter allen Umständen, auch unter Umgehung der gesetzlichen Vorschriften zusammenkommt, und wenn es in den Privatwohnungen einzelner Sektenmitglieder ist.“88 Trotz anfänglichem Bonus als „Opfer des Faschismus“ wurden die Zeugen Jehovas nur wenige Jahre nach Ende der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu einer Gefahr erklärt, die in keiner Relation zu ihrer realen Bedeutung stand. Die Gefahrenzuschreibungen sagen mehr über die Ängste und Vorstellungen ihrer Verfasser aus. Trotz Wachstum traten die Zeugen Jehovas nie aus dem Schatten kleinerer Gemeinschaften heraus. 1948 gab es in der SBZ etwa 15 000 Mitglieder.89 Das aktive und enthusiastische Auftreten der Gläubigen verwies aber oft genug auf die Defizite in der Mobilisierungskraft der SED und ihrer Massenorganisationen. Außerdem passte dieses Verhalten nicht ins Bild von Vertretern der absterbenden Religion. Der geheimpolizeiliche Apparat hatte schon die Zuständigkeit übernommen. Das Instrumentarium, das bisher bei der Bekämpfung politischer Gegner angewandt wurde, stand nun auch für andere Feindgruppen bereit. Noch im April 1948 wusste das Zentralsekretariat der SED nicht genau zu sagen, ob die Zeugen Jehovas „bewusst oder unbewusst [...] ein großes Hindernis in der Umerziehung der Deutschen zu wirklich demokratischen Menschen sind“.90 Diese Frage sollte sich bald klären. In einer Zeit, in der eine organisierte politische Opposition mehr und mehr ausgeschaltet wurde, übernahmen die Kirchen diese Rolle. Die Zeugen Jehovas blieben bei ihrer politischen Abstinenz. Aber die Thematisierung tagespolitischer Ereignisse für ihre Missionsanstrengungen musste unter diesen Umstände umso gefährlicher wirken. Der beginnende Kalte Krieg lieferte die Begründung für ein Ausgreifen der Verfolgung auch auf religiöses Gebiet. Der Grund dafür war er nicht.

88 Zentralsekretariat der SED, Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk, „Allgemeine Information über die Tätigkeit und Verbreitung der Kirchen und Sekten in der SBZ“ vom 29. 4. 1948 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/17/17, Bl. 1–10, hier 4). 89 Vgl. Informator [ monatliches Informationsblatt für aktive Zeugen Jehovas ] von Februar 1949. 90 Zentralsekretariat der SED, Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk, „Allgemeine Information über die Tätigkeit und Verbreitung der Kirchen und Sekten in der SBZ“ vom 29. 4. 1948 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/17/17, Bl. 1–10, hier 4).

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Eskalation im Zeichen des Kalten Krieges

Das seit 1946 spannungsgeladene Verhältnis zwischen den ehemaligen Alliierten verschärfte sich spätestens ab 1948. Die Machtübernahme der Kommunisten in der ČSR im Februar 1948 und die faktische Einbeziehung des Landes in den „volksdemokratischen Block“ ließ für die Zukunft der SBZ Ähnliches erwarten. Mit dem Bruch im Alliierten Kontrollrat durch die Sowjetunion im März 1948 sowie der Unterbrechung des Güterverkehrs und der Stromversorgung nach West - Berlin im Zuge der getrennten Währungsreformen in Ost - und Westdeutschland ab Juni 1948 kam es zu einer ersten Eskalation auch in Deutschland. Fast gleichzeitig zu dem Konflikt um Westberlin brach innerhalb des kommunistischen Blocks der Konflikt zwischen Tito und Stalin auf. Am 27. Juni 1948 veröffentlichte das Kommunistische Informationsbüro ( Kominform ) eine Resolution, in der Tito und weiteren Funktionären der jugoslawischen KP eine vom Marxismus - Leninismus abweichende Linie in der Innen - und Außenpolitik, speziell ein „kleinbürgerlicher Nationalismus“ vorgeworfen wurde. Der Bruch mit Tito wurde im gesamten Ostblock zum Auftakt einer beispiellosen Säuberungswelle innerhalb und außerhalb der kommunistischen Parteien und beschleunigte die schon angelaufene Stalinisierung.91 Noch Ende 1946 stellte die Abteilung Bildung und Kultur im Zentralsekretariat der SED befriedigt fest, dass das 1945 beobachtete Interesse an den Kirchen nachließ. „Das Anhalten der schlechten sozialen Lage [ habe ] nun bei Vielen Enttäuschung oder auch Gleichgültigkeit her vorgerufen, so dass das religiöse Interesse zumindest zum Stillstand gekommen [ sei ]. Darüber hinaus haben die Kirchen auch nicht jenen inneren Schwung besessen, um wirklich ein neues zu schaffen, sondern bewegen sich meist in Problemstellungen, die als überholt angesehen werden müssen.“92 Doch diese Abwärtsbewegung betraf gleichermaßen auch SED und ihre Massenorganisationen. Zunehmend als Erfüllungsgehilfe der russischen Besatzungsmacht entlarvt, gelang es den Kommunisten immer weniger, die Massen zu mobilisieren. Selbst die eigenen Parteimitglieder, vor allem ehemalige Sozialdemokraten, blieben den SED - Versammlungen immer häufiger fern. Für 1947 sprechen Richter / Schmeitzner gar von einer „Absetzbewegung an der SED - Basis“.93 Die Geschehnisse um die bis Mai 1949 anhaltende Blockade des westlichen Berlins taten ihr Übriges, um die ostdeutschen Kommunisten weiter zu diskreditieren.94 Während die SED - gelenkten Massenmedien an Glaubwürdigkeit und damit auch an Leserschaft verloren, erhöhte sich der bis Sommer 1948 legale Absatz

91 Vgl. Hirschinger, „Gestapoagenten“, S. 127–136. 92 „Zur religiösen und kirchlichen Lage“, Hans Joachim Mund, Abt. Kultur und Erziehung im Zentralsekretariat der SED, o. D. ( vermutlich Anfang November 1946). Abgedruckt in Goerner / Kubina, Die Phasen der Kirchenpolitik der SED, S. 705 f. ( Dok. 1). 93 Richter / Schmeitzner, Einer von beiden, S. 107. 94 Vgl. Suckut, Die Entscheidung zur Gründung der DDR, S. 129 f.

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westlich lizenzierter Schriften, vorrangig sozialdemokratischer Publikationen wie der Telegraf.95 Häufig meldeten die Berichterstatter, dass sich die Mobilisierungsdefizite auf besonders umworbene Bevölkerungsgruppen bezogen. In diesem Zusammenhang meldeten Behörden und Parteidienststellen, dass die Zeugen Jehovas bei ihren Veranstaltungen mehr Zuhörerinnen mobilisierten als der Demokratische Frauenbund Deutschlands ( DFD ).96 Deren Zuhörer würden sich „aus allen Schichten der Werktätigen zusammen[ setzen ]“97 und die von den verschiedenen Religionsgemeinschaften gewonnenen Jugendlichen reihenweise aus der FDJ austreten.98 Um die fehlende Legitimation in der Bevölkerung auszugleichen, war die SED - Führung in der Folgezeit bestrebt, die Massen für das Ziel der deutschen Einheit zu mobilisieren. Längst waren der „besondere deutsche Weg zum Sozialismus“ zu den Akten gelegt und die Grundlagen für eine „quasi - staatliche Organisation der SBZ“99 geschaffen worden. An die Stelle der „simulierten Demokratie“ trat nun die nationale Parole. Diese Wende in der Propaganda, auch in den anderen Ostblockländern vollzogen, sollte „die mangelnde Anziehungskraft des kommunistischen Modells durch die ideologische Zusatzressource ‚Nation‘“ ausgleichen „und die eigene Moskauabhängigkeit“ kaschieren.100 Ausgehend von der Angst der Bevölkerung vor einem neuen Krieg propagierte die SED gegenüber den westlichen Zonen bzw. der BRD „einen sich überschlagenden Nationalismus“. Diesen Nationalismus verband sie mit einem extrem manichäischen Weltbild. Dem „werktätigen“ bzw. „schaffenden“ Volk wurde der Kapitalismus, als eine internationale Verschwörung von Finanzkapitalisten personifiziert, entgegengesetzt.101 Deren Vertreter in Deutschland, „die sich als Deutsche bezeichnen, es in Wirklichkeit aber nicht mehr sind, sind Agenten der feindlichen imperialistischen Kräfte, die versuchen, die Massen durch einen unerhörten Betrug irrezuführen“.102 „Nationaler Notstand“ zur Verhinderung der „größten Katastrophe, nämlich [ der ] Auslöschung der deutschen Nation“103 ging nun einher mit einer „Verschärfung des Klassenkampfes“. Als

95 Vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 249. 96 Vgl. 2. Bericht über die Tätigkeit der „ZJ“ ( Bibelforscher ) vom 10. 5. 1948 ( SächsHStAD, LRS, Ministerpräsident, Nr. 1355, Bl. 213–218, hier 214). 97 Vgl. Schreiben des SED - Kreisvorstandes Dresden, Abt. Information, vom 13.12.1948 „Erscheinungsformen des Klassenkampfes im Kreis Dresden“ ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, A /316, Bl. 32–36, hier 35 f.). 98 Vgl. SED - Landesvorstand Sachsen an das Zentralsekretariat der SED vom 3. 2. 1948, betr. Vorbereitung zu FDJ - Leitungswahlen ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/16/218, Bl. 377–381). 99 Halder, Deutsche Teilung, S. 79. 100 Pohlmann, Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus, S. 119. 101 Haury, Antisemitismus von links, S. 430. 102 Stenographische Niederschrift über die 22. (36.) Tagung des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands am 4. 10. 1949, Redebeitrag von Wilhelm Pieck. Zit. in Suckut, Die Entscheidung zur Gründung der DDR, S. 147 ( Dok I ). 103 Ebd.

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hassenswürdige Gegner galten nun gleichermaßen Imperialismus und Reaktion.104 Die Tätigkeit der „inneren Feinde“ wurde extensiv ausgelegt. Diese konnte offen oder geheim sein. Jedes Feuer oder jede Explosion könne Werk von Saboteuren sein. Der Feind konnte sich auch hinter der Förderung von „Arbeitsbummelantentum“ oder „nichtdiszipliniertem Verhalten“ tarnen.105 In diesem Klima ver wundert es nicht, dass ab 1948 zunehmend auch Kirchen und Religionsgemeinschaften ins Visier der Sicherheitsorgane gerieten.106 Während sich die großen Kirchen nicht, wie von der SED erhofft, in fromme Beschaulichkeit zurückzogen, sondern zunächst über Fragen der Schul - und Jugendpolitik in Streit mit der Staatspartei gerieten,107 gab es diese Konfliktlinien bei den gesellschaftlich randständigen Zeugen Jehovas nicht. Diese standen, wie beschrieben, vor allem wegen ihrer erfolgreichen missionarischen Aktivitäten im Fadenkreuz der Behörden. Spätestens mit dem „Volksbegehren für einen Volksentscheid über die Einheit Deutschlands“ vom 23. Mai bis zum 13. Juni 1948 und den, mit einer Art Plebiszit über die deutsche Einheit verbundenen Delegierten - „Wahlen“ zum 3. Deutschen Volkskongress am 15. und 16. Mai 1949 besaßen Abstimmungen im Osten Deutschlands nur noch akklamatorischen Charakter. Kritik an Form wie auch zur Abstimmung stehenden Fragen wurde als „antisowjetische Haltung“ gewertet.108 Die abstinente Haltung der Zeugen Jehovas bei derartigen Veranstaltungen sahen Partei und Behörden nun in klassisch totalitärer Manier: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das gesellschaftliche Klima beschreibt der Verlauf einer Zusammenkunft von Vertretern von Glaubensgemeinschaften und Parteien am 13. Mai 1949 im Rathaus zu Bautzen : Diese Versammlung hatte, so der Bericht des dortigen K 5, „den Zweck zu erfüllen, auch die Religionsgemeinschaften davon zu überzeugen, dass das Abgeben ihrer ‚Ja - Stimme‘ zur Wahl am 15. und 16. Mai als friedliebende Menschen geradezu Christenpflicht sei“. Als der Vertreter der Zeugen Jehovas auf die Frage, ob er wählen gehen werde, antwortete, jeder könne machen, was er wolle, entgegnete der SED - Kreisvorstandsvorsitzende, „dass eben in dieser Zeit nicht jeder machen könnte, was er will“.109 Ohne dass eine explizite Gegnerschaft festgestellt werden konnte, wurde den Zeugen Jehovas diese jedoch zugeschrieben. „Offen wird gegen den heutigen Staat nicht Stellung genommen. Die Bibelforscher lehnen jedoch jede Staatsform ab, also auch

104 105 106 107 108 109

Vgl. Naimark, Die Russen in Deutschland, S. 462. Mielke am 15. 10. 1948, „Die Aufgaben der Volkspolizei“. Vgl. ebd., S. 464. Vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 243 f. Vgl. Schroeder, SED - Staat, S. 105. Vgl. Widera, Dresden, S. 375 f. Bericht des Kriminalamtes Bautzen, Kommissariat K 5 vom 13. 5. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3190, Akte 1, Bl. 47 f.)

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die jetzige Staatsform in der Ostzone.“110 Auch die Nichtmitgliedschaft in Massenorganisationen wie der FDJ konnte nur Ausdruck einer „Kontraststellung“ sein, „wenn dies nicht der Fall wäre, müssten die Mitglieder der christlichen Sekten Mitglieder der FDJ sein“.111 War das Hoffen auf ein baldiges Eingreifen Gottes noch vor kurzem „nur“ als Abhalten vom gesellschaftlichen Engagement gewertet worden, bekam die eschatologische Erwartung der Gläubigen nun eine völlig andere Konnotation : Die Hoffnung auf eine „Neuordnung der Welt, wie sie unter der Herrschaft Jehovas stattfinden wird, [...] bedeutet eine Missachtung der politischen Zielsetzung und Ausrichtung des politischen Neuaufbaues und eine Befehdung der an verantwortlicher Stelle stehenden Persönlichkeiten“.112 Nach den verschiedenen Berichten, die das Zentralsekretariat der SED aus den Ländern bzw. aus der Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk erreichten, beschäftigten sich dessen Mitglieder auf ihrer Sitzung vom 14. September 1948 erstmals mit den Zeugen Jehovas. „In kürzester Frist“, so wurde beschlossen, sollte eine Broschüre „über die reaktionäre politische Tätigkeit der Sekten, die sich gegen die fortschrittlichen Kräfte, den demokratischen Aufbau und gegen die Sowjetunion richtet“, zusammengestellt werden.113 Der Beschluss des Zentralsekretariats hatte zur Folge, dass der Hauptreferent der Personalpolitischen Abteilung im Zentralsekretariat, Bruno Haid, am 22. September die Landesvorstände der SED sowie auch die jeweiligen Dezernate K 5 mit der Sammlung von Informationen und Material beauftragte.114 Doch Ende 1948 waren noch nicht alle K 5 - Dezernate in der SBZ der Auffassung, dass es sich bei den Zeugen Jehovas um eine gesetzwidrige oder staatsgefährdende Tätigkeit handeln würde.115 Allein die sächsischen Geheimpolizisten, schon traditionell der übrigen Besatzungszone in punkto Diktaturdurchsetzung voraus,116 sahen in richtiger Interpretation der aktuellen Politbürobeschlüsse,117 „dass die Sekte der ‚Zeu110 Über wachungsbericht der Sektentätigkeit der Sekte „Zeugen Jehovas“ des Kriminalamtes Bautzen, Dienststelle Kamenz, K 5, vom 31. 12. 1948 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 91). 111 Bericht des SED - Landesvorstands Sachsen, Jugendsekretariat zur Jugendarbeit vom 18.10.1948 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/16/218, Bl. 209–216, hier 210). 112 Bericht des sächsischen Dezernates K 5 vom 30. 4. 1949. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 176. 113 Protokoll Nr. 109 ( II ) der Sitzung des Zentralsekretariats am 14. 9. 1948 ( BArch SAPMO, DY 30/ IV 2/2.1/230, Bl. 1–3). Vgl. auch Dirksen, Keine Gnade, S. 168 f. Diese Broschüre konnte bislang nicht nachgewiesen werden. 114 Vgl. ebd., S. 169–171. 115 Vgl. ebd., S. 172 f., mit Beispielen aus Thüringen und Mecklenburg. 116 Vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 266. 117 Vgl. Beschluss des Zentralsekretariat der SED vom 20. 9. 1948 „Über die Verstärkung des Studiums der ‚Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ( Bolschewiki ) – Kurzer Lehrgang‘“ : „Die Initiative der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Aufbau einer demokratischen Friedenswirtschaft ist vom Klassengegner mit einer Verschärfung des Klassenkampfes beantwortet worden. Die feindlichen Elemente haben nicht nur ihre antisowjetische und antisozialistische Hetze ins Maßlose gesteigert, sondern sie sind zur offenen Kriegsprovokation, zur Zersetzungsarbeit und zur direkten Sabotage übergegangen.“ Abgedruckt in Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band II, Berlin ( Ost ) 1952, S. 128–130, hier 128.

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gen Jehovas‘ bei der fortschreitenden politischen Entwicklung und [ der ] Zuspitzung des Klassenkampfes ihre sogenannte unpolitische Haltung bei jeder, ihnen geeignet erscheinenden Gelegenheit aufgeben“.118 Wenn die Aktivitäten der renitenten Glaubensgemeinschaft eingeschränkt werden sollten, musste es also vorrangige Aufgabe sein, einerseits alle rechtlichen Möglichkeiten des repressiven Einschreitens zu eruieren und zu nutzen, andererseits Material über die vermeintlichen „Handlager der imperialistischen Kriegshetzer“119 zu sammeln, um so das Vorgehen begründen zu können. Ein probates Mittel, um gegen die vielfältigen Veranstaltungen der Zeugen Jehovas vorgehen zu können, war die Verhängung von Redeverboten gegen bekannte und aktive Prediger der Glaubensgemeinschaft. Diese Verbote waren zeitlich befristet oder bestanden „bis auf Weiteres“.120 Wurden die Verfügungen zunächst von den örtlichen Kommandanturen der Besatzungsmacht erlassen, sprachen ab 1949 auch deutsche Stellen derartige Verbote aus. Offenbar wollten einige lokale K 5 - Kommissariate sichergehen und beantragten Redeverbote bei ihren Kommandanturen und zugleich beim sächsischen Dezernat K 5 in Dresden.121 In den Vorträgen der Zeugen Jehovas ließen sich oft genug Aussagen finden, die nach Meinung der Protagonisten verdächtig waren.122 Wenn also ein Prediger in Analogie mit den Fluten des Roten Meeres, in denen die ägyptischen Verfolger Israels ertranken, von „der Roten Flut“ sprach, in der die Menschen in naher Zeit umkommen würden, war „ohne Zweifel der Kommunismus gemeint“. Auch die Aussage, dass die Nationen in Gefahr seien, „weil der Teufel regiert“, bezogen gewissenhafte K 5 - Mitarbeiter auf die kommunistische Welt.123 Zumeist wurden die Verbote mit der Kontrollratsdirektive 38 begründet, nach deren Artikel III A III auch die „Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte“, die „den Frieden des deutschen Volkes und insbesondere den

118 Bericht des sächsischen Dezernats K 5 vom 7. 1. 1949. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 174. 119 Entschließung der Gesellschaft für deutsch - sowjetische Freundschaft, Ortsgruppe Zittau, vom 19. 7. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 192). 120 Vgl. VPKA Dresden, Kommissariat K 5/ C III, an LBdVP Sachsen, Dezernat K 5/ C III vom 22. 9. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten ZA VI, 3168, Bl. 8) bzw. Polizeiliche Verfügung des Polizeipräsidiums Dresden, Kommissariat K 5/ C III, an den Prediger Ernst Pietzko vom 24. 5. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI /3181, Akte 14, Bl. 12). 121 Ersuchen um Redeverbot des Predigers Richard Wittig durch Kommissariat K 5 in Zittau vom 28. 7.1949 an Landespolizeibehörde, Dezernat K 5, dasselbe Schreiben geht auch an die SMA - Kommandantur in Zittau ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 193). 122 Dazu setzte das K 5 frühzeitig V - Leute ein, die in die Versammlungen eingeschleust wurden, um unerkannt berichten zu können. Vgl. Bericht des Kreispolizeiamtes Zittau, Kommissariat K 5 an die Landespolizeibehörde Sachsen, Dezernat K 5, vom 22. 7. 1949 ( ebd., Bl. 183). 123 Ebd.

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Aufbau einer demokratischen Staatsordnung untergraben“ unter Strafandrohung standen.124 Noch gefährlicher als die internen Versammlungen der Zeugen Jehovas erschien den ostdeutschen Kommunisten deren öffentliches Auftreten, d. h. die öffentlichen Bibelvorträge und die Hausmission, da hier neue Anhänger gewonnen werden konnten. Ziel musste es sein, die relativ einfache Genehmigungspraxis für kirchliche Veranstaltungen der ersten Nachkriegsjahre zu ändern. Dazu eignete sich einerseits die von den Russen geforderte Einreichung von Redemanuskripten, die von den Zeugen Jehovas regelmäßig versucht wurde zu umgehen. Mit der von der DVdI am 1. 7. 1949 erlassenen Anordnung über die Anzeigepflicht von Veranstaltungen wurden zwar Veranstaltungen in kircheneigenen Räumen oder in angemieteten, in denen aber nur religiöse Handlungen stattfinden, von der Anmeldepflicht freigestellt.125 Für die Zeugen Jehovas, die außer ihrer Zentrale in Magdeburg in der SBZ über keine eigenen Immobilien verfügten, stand damit fest, dass ihre Veranstaltungen durchgängig meldepflichtig waren. Diese Anzeigepflicht wurde aber immer häufiger als Genehmigungspflicht ausgelegt und entsprechend Versammlungen und Vorträge, deren Durchführung lediglich angemeldet war, durch die Polizei aufgelöst. Wie stark die Stimmung inzwischen aufgeheizt war, zeigt ein Vergleich der beiden verbotenen Kreiskongresse in Dresden im Januar 1948 und in Döbeln im Mai 1949. Während des durch die sächsische SMA verbotenen Kreiskongresses in Dresden am 23. Januar 1948 kooperierten die Zeugen Jehovas noch mit den Polizeibehörden und halfen dabei, die Ankommenden über das Verbot zu informieren und so „Ansammlungen und Demonstrationen zu vermeiden“.126 Im Mai 1949 wurde erstmals ein Kreiskongress der Zeugen Jehovas durch die Polizei gewaltsam aufgelöst. Der Aufforderung zum Verlassen des Saales widersetzten sich die Gläubigen, „man würde die Befehle der SMA sowie der Polizei nicht anerkennen, da ihr Vorgesetzter Jehova sei“. Daher wurde „auf Grund der entstandenen Situation [...] der Saal mit Gewalt geräumt“.127 Doch schien ein derartiges Vorgehen in der Öffentlichkeit noch nicht opportun gewesen zu sein. Nach Vorsprache der leitenden Funktionäre der Religionsgemeinschaft bei der SMA in Sachsen durfte der Kongress wiederholt werden.128 Der Besuch der Bevölkerung in deren Häusern und das Vortragen der Botschaft der Zeugen Jehovas alarmierten die ostdeutschen Kommunisten und auch

124 Vgl. Polizeiliche Verfügung des Polizeipräsidiums Dresden, Kommissariat K 5/ C III, an den Prediger Ernst Pietzko vom 24. 5. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 12). Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 178 f. Die KRD 38 ist abgedruckt in Rößler ( Hg.), Entnazifizierungspolitik der KPD / SED, S. 97–124. 125 Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 184 f. 126 Vgl. Bericht des Kriminalamts Dresden, Kommissariat K 5, „Veranstaltung der ‚Ernsten Bibelforscher‘ am 23., 24. und 25. Jan. 1948 in Dresden“ vom 24. 1. 1948 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 118). 127 Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 186 f. 128 Vgl. ebd., S. 187 f.

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die sowjetische Besatzungsmacht besonders. Diese Form der Mission erinnerte sie an die eigenen Agitationsformen. Wie stark die „Propagandaarbeit“ der Zeugen Jehovas sei, sähe man daran, dass diese allein in Dresden über 400 „Agitatoren“ verfüge, die in nur einem Monat „3 500 Agitationseinsätze“ durchführte.129 Daher überrascht es nicht, dass die Abteilung Information der SMA Sachsen das Verbot der Hauspropaganda forderte, da sich die Gemeinschaft so der Kontrolle von Polizei und Besatzungsbehörde entzöge. Doch noch kam es zu keiner klaren Regelung dieser Frage. Im November 1948 berichtete das sächsische Dezernat K 5, dass es in Sachsen keine Verordnung gäbe, die eine Bestrafung der Hauswerbung vorsieht. Man könne sich nur auf ein Telefonat der Dresdner Zentralkommandantur mit dem dortigen Polizeipräsidium beziehen, in welchem das Verbot ausgesprochen wurde.130 Dagegen meinte der Inspekteur der Volkspolizei Lust im Sommer 1949, die Zentralkommandantur Dresden habe schon im Juli 1948 die Anweisung gegeben, dass laut Befehl der SMA Sachsen von September 1947 Zusammenkünfte religiöser Art in Privatwohnungen sowie Hauspropaganda der Zeugen Jehovas verboten sei. Bei den ergriffenen Missionaren sollten die Personalien festgestellt werden.131 Das Dresdner K 5 wollte sich mit der mündlichen Verwarnung von aufgegriffenen Predigern nicht begnügen. Nur einen Tag nach dem Schreiben des Inspekteurs der Volkspolizei forderte sie, dass es „dringend angebracht [ wäre, ] dem Treiben [= der Hauswerbung ] wirksamen Einhalt zu gebieten“. Es könne nicht angehen, dass die betroffenen Personen lediglich mündlich verwarnt würden. Mindestens bei mehrmals Angetroffenen, „wäre es zweckmäßig, die Abstrafung vorzunehmen, denn eine bloße Verwarnung [...] verfehlt vollkommen die Wirkung“.132 In Absprache mit dem sächsischen Landesarbeitsamt in Dresden wies das Dezernat K 5 die ihm unterstellten K 5 - Abteilungen C III an, bei aufgegriffenen Predigern nicht allein die Personalien festzustellen, sondern auch zu überprüfen, inwieweit ein voll ausgelastetes Arbeitsverhältnis vorläge. Falls die Betreffenden nicht oder nur in Teilzeit beschäftigt waren, sollten das zuständige Arbeitsamt und die Landeskriminalpolizeiabteilung informiert werden. Da zudem selbst die anerkannten Prediger der Zeugen Jehovas beim Bezug von Lebensmittelkarten nur in die Kategorie IV ( Angestellte und Nichtberufstätige)133 statt wie die hauptamtlichen Geistlichen der beiden großen Kirchen in die Stufe III

129 Bericht über die Tätigkeit der Sekte „Zeugen Jehovas“ im Land Sachsen vom 9. 1. 1948, gez. im Auftrag des Leiters der Abteilung Information der Verwaltung der SMAD im Land Sachsen, Oberstleutnant Milstein ( GARF, f. 7212, op. 1, d. 232, Bl. 67–69). 130 Schreiben des sächsischen Dezernats K 5 „Propagandistische Tätigkeit der Sekten“ vom 19. 11. 1948 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 235). 131 Abteilungsleiter Volkspolizei, Inspekteur der Volkspolizei Lust, an die Hauptabteilung K, Referat K 5, vom 29. 6.1949 ( BArch, DO 1, 11.0, 860, Bl. 117). 132 Polizeipräsidium Dresden, Kreiskriminalpolizeiabteilung, Kommissariat K 5/ C III p, an die Landespolizeibehörde Sachsen, Dezernat K 5/ C III p vom 30. 6. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 2). 133 Vgl. Rückert, Schulsemmel und Rübensirup, S. 243.

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(Arbeiter ) eingestuft wurden,134 hoffte das hiesige K 5, damit eine Voraussetzung geschaffen zu haben, „dem Sektenwesen formal einen Riegel vorzuschieben“.135 Im April 1949 hatte die Abteilung Parteischulung, Kultur und Erziehung im ZK der SED dem Kleinen Sekretariat eine Beschlussvorlage erarbeitet, nach der Kirchen und Sekten „eine außerordentliche Tätigkeit entfalten und ihren Einfluss, vor allem auf Frauen, Jugendliche und Umsiedler, wesentlich verstärkt“ hätten. Dem sollte einerseits durch eine verstärkte „Verbreitung der wissenschaftlich - materialistischen Weltanschauung“, andererseits durch eine strikte Trennung von Staat und Kirche entgegengetreten werden. Dabei sollte jedoch „jeder antireligiöse Charakter der Propaganda und jedes offene Auftreten gegen Religion und Kirche“ vermieden werden, „um der Reaktion keinen Anlass zur politischen Hetze gegen die SMAD und die SED zu geben“.136 An der SED Basis gewannen jedoch jene Kräfte die Oberhand, die in der Zurückhaltung in religiösen Fragen lediglich ein kurzfristiges Manöver sahen. Sie konnten dabei an einen weitverbreiteten, oft militanten Atheismus in der Mitgliedschaft anknüpfen und antireligiöse und antikirchliche Haltung daselbst nutzen.137 Immer häufiger riefen Ortsverbände der SED bzw. ihre Massenorganisationen, aber auch regionale Verwaltungen nach einem schärferen Vorgehen. So bat der Kreisverband des Kulturbundes in Zittau die sächsische Landesregierung angesichts der Weigerung der Zeugen Jehovas, sich an einer „offenen Aussprache“ zu beteiligen, doch „hierzu einmal Stellung zu nehmen“, denn „das Sektierertum der Zeugen Jehovas untergräbt gerade das, woran wir unsere ganze Kraft setzen“, die demokratischen Erneuerung Deutschlands.138 Die Zittauer Ortsgruppe der „Gesellschaft für deutsch - sowjetische Freundschaft“ ging in einer Entschließung noch weiter. Um „alle noch abseits Stehenden“ für den „demokratischen Aufbau und den Frieden“ zu gewinnen, sei „es notwendig, die Kriegshetzer und die Saboteure am demokratischen Aufbau zu entlarven, indem man ihnen die Maske vom Gesicht reißt. Unter dem Deckmantel der Religionsausübung betreiben die sogenannten ‚Zeugen Jehovas‘ ein frevelhaftes Spiel als Handlanger der imperialistischen Kriegshetzer durch eine bewusste Antikriegshetze.“ Die Zittauer Gruppe forderte von der sächsischen Landesregierung, „dass endlich mit der Duldsamkeit gegenüber diesen Elementen Schluss 134 Rat der Stadt Dresden, Handel und Versorgung, Abt. Einstufung, an die Kreiskriminalpolizei - Abteilung Dresden vom 14. 1. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Akte 14, Bl. 20). 135 Landeskriminalpolizeiabteilung Sachsen, Dezernat K 5, an die Kreiskriminalpolizei Abteilungen K 5/ C III vom 1. 2. 1949 ( ebd., Bl. 21). 136 Vorlage für das Kleine Sekretariat vom 6. 4. 1949, betr. Maßnahmen zur Zurückdrängung der Kirche ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/6, Bl. 12 f.). Vgl. Goerner, Die Kirche als Problem der SED, S. 57, und Dirksen, Keine Gnade, S. 175. 137 Vgl. Hartweg ( Hg.), SED und Kirche, S. 23. 138 Kreissekretariat des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands an die Landesregierung Sachsen, Ministerium des Innern, vom 22. 7. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 189).

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gemacht wird [...] und dagegen geeignete Maßnahmen“ ergriffen werden.139 Auch für das Informationsamt beim Kreisrat Pirna war der Feind klar umrissen, als es in einer Meldung an die zuständige K 5 - Abteilung in Bautzen die Meinung kundtat, „dass diesem antideutschen Treiben, welches lediglich im Auftrag einer amerikanischen Zentrale betrieben wird, ein Ende gemacht“ werden solle. Dass diese Forderung der mangelnden Legitimität und damit der Furcht entsprang, die Bevölkerung könnte sich einem derart abweichenden Verhalten anschließen, zeigt die am Ende des Schreibens gegebene Begründung, „da es tatsächlich noch viele Menschen gibt, die auf diesen Blödsinn hereinfallen“.140 Die örtlichen Partei - und Verwaltungsinstanzen wurden durch das Auftreten der Zeugen Jehovas und „der politischen Unreife eines großen Teiles unserer Bevölkerung“141 merklich in der Umsetzung der zentralen Vorgaben nach massenhafter Unterstützung der gesellschaftlichen Umwälzungen behindert. Bei ihren Beschwerden griffen sie die ideologischen Versatzstücke des Kalten Krieges auf, um über eigene Defizite hinwegzutäuschen. Wie weit sich diese Schuldzuschreibungen von der Realität entfernt hatten, verdeutlicht eine Analyse der „Gegnertätigkeit“ anlässlich der „Wahlen“ zum 3. Deutschen Volkskongress im Mai 1949. Für das ausgesprochen schlechte Ergebnis – insgesamt votierte ein Drittel der Stimmberechtigten gegen die Einheitsliste des „demokratischen Blocks der antifaschistischen Parteien“, in Dresden gar fast die Hälfte142 – wurde „die Propaganda der Gegner, ihre Tätigkeit mit dem Ziel der Sabotage und die Einwirkung auf die Wahlen“ verantwortlich gemacht.143 Interessanterweise tauchen in einer Aufstellung besonders charakteristischer Ereignisse dieser „Feindtätigkeit“ die Zeugen Jehovas mit zwei Fällen, in denen für eine Nichtteilnahme an den Wahlen geworben bzw. auf einen baldigen und unvermeidlichen Krieg hingewiesen wurde, gleich nach dem angeblichen Diebstahl von Wählerlisten durch den Intendanten der Weimarer Landes - Rundfunk - Station an prominenter Stelle auf. Offenbar war die aus nichtpolitischen Beweggründen offen propagierte und vollzogene Wahlablehnung in den beiden Regionen, aus denen die Berichte kamen ( Flöha in Sachsen und Emsdorf in Thüringen ), schon so aufsehenerregend, dass die Fälle von dort weitergeleitet wurden.144 Für die Hauptabtei139 Entschließung der Gesellschaft für deutsch - sowjetische Freundschaft, Ortsgruppe Zittau, vom 19. 7. 1949 ( ebd., Bl. 192). 140 Abschrift eines Berichtes des Informationsamtes beim Kreisrat Pirna an das Kriminalamt Bautzen, Kommissariat K 5/ C III, vom 17. 6. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz- Hoppegarten, ZA VI, 3190, Bl. 53). 141 Vgl. Kriminalamt Bautzen, Kommissariat K 5/ C III, an die Landeskriminalpolizei - Abteilung Sachsen, Dezernat K 5/ C III, betr. Monatliche Meldung über die Tätigkeit der Sekten vom 5. 4. 1949 ( ebd., Bl. 32). 142 Vgl. Widera, Dresden, S. 382. 143 Grotewohl wie auch Ulbricht machten auch die Zeugen Jehovas dafür verantwortlich. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 192 f.; Wolf, Die „Bearbeitung“ der Kirchen, S. 188; Suckut ( Hg.), Blockpolitik in der SBZ / DDR, S. 409. 144 Eine entsprechend aktive Gruppe von Gläubigen konnte die Wahlbeteiligung und Stimmengewichtung durchaus „negativ“ beeinflussen, bei plebiszitären Abstimmungen, deren Ergebnisse durch die Zentrale vorgegeben wurden, durchaus ein Problem für die lokalen Repräsentanten der Partei.

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lung K der DVdI waren solche lokalen Vorkommnisse Grund genug, die Zeugen Jehovas in eine Reihe mit erklärtermaßen politischen Gegnern wie der „SPD und ihrer Jugendorganisationen ‚Falken‘, Parteigängern von Schwennicke LDP [ sic !], Parteigänger Kaisers von der CDU [...], Umsiedlern und faschistischen Elementen“ zu stellen.145 Die ohnehin angespannte Lage in Sachsen wurde durch einen spektakulären Mordfall in der Gemeinde Belmsdorf bei Bischofswerda und die nachfolgenden Unruhen in der näheren Umgebung weiter verschärft. Ein aus der Kriegsgefangenschaft mit schweren Kopfverletzungen heimgekehrter Arbeiter hatte Ende Mai 1949 im Zustand geistiger Verwirrung seiner Frau die Kehle durchgeschnitten.146 Er hatte einige Veranstaltungen der Zeugen Jehovas besucht und nach der Tat von einem „Opfer für Jehova“ gesprochen. Auch wenn sich Vertreter der Religionsgemeinschaft von der Tat distanzierten und auf die Auswirkungen der schweren Kriegsverletzungen verwiesen, kam es bald zu tumultartigen Ausschreitungen im Kreisgebiet. Auf Flugblättern wurde den Zeugen Jehovas unterstellt, den Mord an Greisen und Kindern zu propagieren und „deutsche Dienststellen“ aufgefordert, „diese Mordorganisation“ aufzulösen. Auch die lokalen Ausgaben der SED - Zeitungen „Sächsische Zeitung“ und „Lausitzer Rundschau“ beteiligten sich mit tendenziösen Berichten an dieser Kampagne. Als Angehörige der Glaubensgemeinschaft Mitte Juni 1949 eine „Aufklärungsaktion“ durchführen wollten, wurden sie durch die erregte Bevölkerung geschlagen und durch die Stadt getrieben. Dabei wurden auch Schaufenster mit ausgelegter religiöser Literatur zerschlagen und der angemietete Versammlungsraum der Zeugen Jehovas verwüstet. Den Aufruhr nutzend erließ der Leiter des Kreispolizeiamtes Bautzen am 20. Juni 1949 ein Verbot jeder öffentlichen Agitation für die Religionsgemeinschaft „im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung [ und ] unter Berücksichtigung der Vorkommnisse des letzten Monats“.147 Die Lage beruhigte sich jedoch auch jetzt nicht. Die Behörden erhielten „aus Kreisen der Bevölkerung und Betrieben des Landkreises Bautzen“ Resolutionen. Dies war für gewöhnlich ein probates Mittel der SED, um Druck auf Justiz - oder Ver waltungsbehörden auszuüben. Ihre Wirkung entfalteten sie vor allem durch ihre Veröffentlichung in der parteieigenen Presse. Dieser von ihr 145 Analyse „Tätigkeit des Gegners im Zusammenhang mit den Wahlen zum Volkskongress“ des Leiters der Hauptabteilung K in der DVdI vom 17. 5. 1949, als Anlage durch den Präsidenten der DVdI, Kurt Fischer, an den Chef der Verwaltung des Innern der SMAD, Generalmajor Gorochow, am 20. 5. 1949 gesandt ( BArch, DO 1, 7.0, 48, Bl. 357–360). Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 192 f. Carl - Hubert Schwennicke (1906–1992), Landesvorsitzender der LDP in Berlin, löste sich im Februar 1948 mit seinem Landesverband von der LDP und wechselte zur westdeutschen FDP, gründete 1948 das Ostbüro der FDP. Jakob Kaiser (1888–1961), Mitbegründer der CDU in der SBZ, wurde im Dezember 1947 zusammen mit Ernst Lemmer von der sowjetischen Besatzungsmacht als Vorsitzende der CDU in der SBZ abgesetzt. 146 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 188–191, und Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 77–81. 147 Abschrift der Verfügung des Kreispolizeiamtes Bautzen vom 20. 6. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 19).

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organisierte „virtuelle“ Volkszorn verschaffte der SED eine scheinbare Legitimität. In diese Protestkampagne mischten sich jedoch auch Tendenzen eines realen Volkszorns, denn in diesen Resolutionen wurde nicht nur ein sofortiges Verbot gefordert, sondern „teilweise mit Gewalt gedroht“.148 Am 9. Juli 1949 wurde die Tätigkeit der Zeugen Jehovas im Kreisgebiet gänzlich verboten.149 Mit Schreiben vom 25. Juli bat das sächsische Dezernat K 5 seine vorgesetzte Dienststelle in Berlin um Material über „Wahnsinnserscheinungen oder irgendwelche Abarten von besonderen Taten, die durch religiöse Beeinflussung der betreffenden Person entstanden sind“.150 Es sollte wohl auch um eine nachträgliche Legitimierung des Verbotes gehen. Doch mit einem derart radikalen Vorgehen war die Bautzner Polizei über das politisch Gewollte und zum aktuellen Zeitpunkt Mögliche hinausgeschossen. Die Proteste der Rechtsabteilung der WTG und der verschiedenen örtlichen Prediger bei sächsischen Zentralinstanzen bargen die Gefahr einer unkontrollierbaren Publizität der Ereignisse.151 Noch aber war die Haltung der Besatzungsmacht ausschlaggebend. Daher wurde das Verbot noch bis Mitte November 1949 aufrecht erhalten, weil „es ja auch nach Absprache mit der anderen Dienststelle erfolgte“.152 Die Geschehnisse in Belmsdorf und Bischofswerda stehen – mit den vollzogenen, aber auch den angedrohten Gewaltausbrüchen aus der Bevölkerung – einzigartig in der Geschichte des Vorgehens gegen die Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR.153 Den „Volkszorn“ als Begründung repressiver Maßnahmen zu nutzen, hatte sicher einige Vorteile. Allerdings barg dies auch Gefahren. Derartige Gefühlsausbrüche ließen sich schwer steuern und konnten eine nichtintendierte Wirkung in der Öffentlichkeit entfalten. Um Druck aufzubauen, Handlungsbedarf vorzutäuschen und Legitimität durch den Volkswillen vorzutäuschen, reichte auch eine gut kontrollierte „virtuelle“ Version durch vorformulierte „Resolutionen“ aus der Bevölkerung in den Medien. Vor allem musste die Frage landesweit und nicht auf Kreisebene geklärt werden. Die Ereignisse im Kreis Bautzen zeigen im Kleinen auch die künftige Spirale der Konfrontation : Je schärfer gegen die Zeugen Jehovas vorgegangen wurde, desto vehementer forderten diese ihre

148 Vgl. Landespolizeibehörde Sachsen an die SMA Sachsen vom 27. 6. 1949. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 190. 149 Vgl. Verbotsverfügung des Kreispolizeiamtes Bautzen vom 9. 7. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 81). 150 Sächsisches Dezernat K 5 an die DVdI, HA K, Referat 5, vom 25. 7. 1949 ( ebd., Bl. 24). 151 Vgl. Chef der Volkspolizei im Lande Sachsen, Johannes Dick, an den Leiter des Kreispolizeiamtes Bautzen, VP - Kommandeur Bergmann, vom 11. 8. 1949 (ebd., Bl. 31). 152 Unadressiertes Schreiben des sächsischen Dezernats K 5/ C III p vom 9. 11. 1949 ( ebd., Bl. 80). Eine „andere“ oder „zuständige Dienststelle“ war eine DDR - typische Umschreibung für Institutionen wie hier die SMA oder später vor allem das MfS. 153 Sie erinnern stark an die in einem Memorandum der Zeugen Jehovas an das polnische Innenministerium erwähnten Ausschreitungen gegen die Gläubigen. Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 359 f., der dabei aus „Erwachet !“ vom 22. 2. 1949 zitiert.

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Rechte ein. Das jedoch bestätigte scheinbar die Gefährlichkeit und rief nach neuen Maßnahmen. Als der Bezirkskongress der Zeugen Jehovas für die SBZ Ende Juli auch massiv behindert wurde, gingen diese erstmals in die Öffentlichkeit. Bereits im Sommer 1948 war ein für Leipzig genehmigter Bezirkskongress verboten worden. Dass daraufhin diese Bezirksversammlung ins blockierte Westberlin verlagert wurde und zudem bis zu 25 000 Besucher kamen, die meisten aus der SBZ, zeigte in den Augen der ostdeutschen und sowjetischen Behörden die Stellungnahme der Zeugen Jehovas für die Sache des „Klassenfeindes“.154 Doch noch konnten die Gläubigen mit Sonderzügen der Reichsbahn nach Berlin reisen. Ein Jahr später wurden die Sonderzüge kurzerhand von der Reichsbahn zurückgezogen, „da es sich bei den Bibelforschern nicht um eine erlaubte Organisation handele“155 und die bereits gezahlten Gelder verspätet zurückgezahlt. Da sich die DVdI im Klaren war, dass sich die Gläubigen nicht von der Reise nach Berlin abhalten lassen würden, wurden am 27. Juli 1949 die fünf Chefs der Landespolizeibehörden angewiesen, dafür zu sorgen, auf den Zufahrtswegen nach Berlin „sämtliche Fahrzeuge sorgfältig darauf kontrollieren zu lassen, wem dieselben gehören und von welchen Stellen die Fahraufträge ausgestellt wurden“. Außerdem sollten die aus Berlin zurückkehrenden Kongressbesucher auf etwaige „verbotene Literatur“ durchsucht werden.156 Auf dem Kongress wurde eine scharfe Protestresolution gegen die Behandlung der Zeugen Jehovas in der SBZ angenommen. In seinem einleitenden Vortrag griff Zweigdiener Frost „die Kommunisten“ vehement an : „Ist der Bolschewismus schöner als andere Systeme ? Glauben die Kommunisten, dass das, was Hitler begonnen hat, von ihnen vollendet werden müsse ? Wir fürchten die Kommunisten genau sowenig, wie wir die Nazi gefürchtet haben !“157 Die Protestresolution wurde sowohl an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Ost und West übersandt als auch im RIAS verlesen. Schon am 2. August hatte das Ost - Berliner SED - Blatt „Berliner Zeitung“ auf den Kongress reagiert und die Auftraggeber für die „Wühlereien“ der „Sekte“ in „einem gewissen Lande jenseits des Atlantik und [ bei ] einigen seiner Einwohner, deren oberste Gottheit nicht Jehova, sondern Mammon heißt“, verortet.158 154 Diese Sichtweise wurde durch die scheinbar bevorzugte Behandlung der Religionsgemeinschaft durch die amerikanischen Besatzungsbehörden noch verstärkt. So nutzte die WTG für die interne Korrespondenz in die Zentrale nach Brooklyn die Militärpost bzw. die Kabellinien für Telegramme. 155 Bericht der DVdI, HA K, vom 3. 8. 1949, betr. Tagung der Bibelforscher in der Zeit vom 29.–31. 7. 1949 in Berlin ( Waldbühne ) ( BArch, DO 1, 7.0, 44, Bl. 165 f.). Knapp einen Monat vorher hatte der Inspekteur der Volkspolizei noch zugeben müssen, dass die Zeugen Jehovas und ihre juristischen Körperschaften bei deutschen sowie sowjetischen Stellen „rechtlich fundiert“ seien. Abteilungsleiter VO im DVdI, Lust, an die HA K, Referat 5, vom 29. 6. 1949 ( BArch, DO 1, 11.0, 860, Bl. 117). 156 Vgl. ebd. 157 Abgedruckt im „Wachtturm“ vom 1. 4. 1950, S. 109. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 195. 158 Zit. in Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 73.

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Dieser öffentliche Protest schien dem Politbüro der SED so gravierend, dass es auf seiner Sitzung am 13. September 1949 einem von Walter Ulbricht vorgelegten Zehnpunkte - Plan gegen die Zeugen Jehovas zustimmte. Da es sich bei diesem um eine „besonders raffinierte Propaganda des amerikanischen Monopolkapitalismus“ handeln würde, die „zu Spionagezwecken“ Verwendung fände und der Mitgliederzuwachs bei dieser Organisation in den letzten Monaten rapide gestiegen sei, was sich vor allem in den „demokratischen Massenorganisationen“, z. B. DFD und FDJ, zum Teil auch schon in der SED bemerkbar mache, sei „gegen diese Entwicklung aufzutreten und die heimtückische Propaganda zu bekämpfen“.159 Im Einzelnen wurden die Presse und der Rundfunk angewiesen, gegen die Religionsgemeinschaft vorzugehen. Nicht in der SBZ lizenzierte Druckschriften sollten beschlagnahmt und sämtlichen Behörden angewiesen werden, keine Räume zur Verfügung zu stellen. Parteien und Massenorganisation durften keine Zeugen Jehovas mehr aufnehmen bzw. mussten diejenigen, die aktiv als solche auftraten, ausschließen. Die FDJ sollte konkrete Maßnahmen erarbeiten, „um [...] in den Gebieten, in denen der Einfluss der Bibelforscher auf die Jugend besonders stark ist, auftreten zu können“. Die Anmeldepflicht von nicht rein kirchlichen Veranstaltungen160 sollte restriktiv durchgesetzt werden und, „um eine Überprüfung und Überwachung [ der ] Funktionäre zu ermöglichen“, sei von den Kirchenabteilungen bei den Volksbildungsministerien „eine Aufstellung aller Funktionäre dieser Organisation mit Namen, Wohnort, Wohnung anzufertigen“. Dieser Maßnahmeplan war jedoch nur die Festschreibung schon längst praktizierten Vorgehens der Behörden „vor Ort“. Wie die schon seit Mai 1949 erstellten Namenskarteien von Zeugen Jehovas in

159 Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 44 über die Politbürositzung vom 13. 9. 1949 „Über die Maßnahmen gegen die Organisation ‚Zeugen Jehovas‘“ ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/2/44). Die Vorlage des Kleinen Sekretariats für das Politbüro um zwei Punkte ( Nr. 9: Ausarbeitung von Maßnahmen des DFD unter Frauen der ZJ bzw. Nr. 10 : Entfernung von ZJ aus Massenorganisationen ) erweitert, Protokoll Nr. 52, Anlage Nr. 4 ( BArch SAPMO, DY 30/ IV 2/3/52, Bl. 15). 160 Am 1. 7. 1949 erließ der Präsident der Deutschen Verwaltung des Innern in der SBZ, Kurt Fischer, die „Anordnung über die Anzeigepflicht von Veranstaltungen“. In Abschnitt 2 § 2 heißt es : „Desgleichen sind kirchliche Kulthandlungen, soweit sie in kircheneigenen Gebäuden oder gemieteten Räumen, welche ausschließlich zu kultischen Zwecken Verwendung finden, dieser Anordnung nicht unterworfen.“ Zit. nach Höllen, Loyale Distanz, S. 186 f. Diese Anzeigepflicht wurde von den Behörden schon bald als Genehmigungspflicht ausgelegt. Vgl. Hutten, Christen hinter dem Eisernen Vorhang, Band II, S. 31 f. Die ZJ waren von dieser Verordnung besonders betroffen, da sie außer dem jährlichen Gedächtnismahl keinerlei „rein kultische“ Handlungen durchführten und kaum eigene Räumlichkeiten besaßen.

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Dresden161 oder Räumungen von gemieteten Versammlungsräumen unter fadenscheinigen Gründen wie in Hoyerswerda162 und Zittau163 zeigen. In den verschiedenen Anweisungen zu Berichten über die Tätigkeit der Kirchen und „Sekten“ wurde routinemäßig auch nach etwaigen Spionagehinweisen gefragt, doch zeigen die Berichte lokaler Polizeiabteilungen, dass Derartiges nicht festgestellt werden konnte.164 Der Politbürobeschluss vom 13. September 1949 markiert eine Zäsur. Erstmalig wurde die Religionsgemeinschaft zur Spionageorganisation erklärt. Damit waren die Richtung der künftig zu ergreifenden Maßnahmen und auch deren Begründung festgelegt.

1.3

Die Entwicklung zum Verbot

Nachdem nun das Politbüro beschlossen hatte, dass die Zeugen Jehovas eindeutig in die Kategorie der zu bekämpfenden Gruppen einzuordnen sei, musste diese Vorgabe auch den unteren Parteiebenen und den Massenorganisationen vermittelt werden. Daher veröffentlichte das „Neue Deutschland“ bereits am 16. September 1949 einen Artikel, der die neue Marschroute aufzeigte, aber auch mit einigen „Irrtümern“ aufräumte. Denn „die [ Zeugen Jehovas ] waren niemals eine antifaschistische Organisation“, was missverständlicherweise aus ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus geschlossen werden konnte. Vielmehr waren sie „stets [ !] ein Propagandaverein für das amerikanische Monopolkapital“ und damit „Saboteure und Feinde unseres Kampfes um die Erhaltung unserer nationalen Existenz, Saboteure und Feinde der Nationalen Front“.165 Derartig mit den gängigen Floskeln des Kalten Krieges begründet, wurde der Politbüro - Beschluss an die Basis weitergereicht. Es ging darum, den Genossen Argumentationsmaterial in die Hand zu geben, damit sie auch in den Massenorganisationen einheitlich der „gegen unseren antifaschistisch - demokratischen Aufbau gerichteten Propaganda der Zeugen Jehovas“ entgegentreten könnten.166 161 Vgl. Lahrtz, Maulwürfe, S. 72 f. Vgl. auch Schreiben des VVN - Kreisvorstands Dresden an das Dresdner Kommissariat K 5 vom 31. 5. 1949, welchem eine Liste von der VVN bekannten Zeugen Jehovas beilag ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3181, Bl. 31–39). 162 Vgl. Gruppe Hoyerswerda der ZJ an das Amtsgericht in Hoyerswerda vom 16. 8. 1949 (SächsHStAD, LRS, MdI, Nr. 1911, unpaginiert ); Kreisprediger der ZJ Paul Condé an den Ministerpräsidenten des Landes Sachsen vom 18. 8. 1949 ( ebd.). 163 Vgl. Leiter des sächsischen Dezernates K 5 an den sächsischen Minister des Innern vom 4. 8. 1949 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI, 3168, Bl. 187). 164 Noch im August 1950 musste die Hauptver waltung Volkspolizei im Ministerium des Innern zugeben, dass der Verdacht der Spionagetätigkeit nicht bewiesen werden konnte. Vgl. Schreiben der Hauptverwaltung der Volkspolizei vom 11. 8. 1950 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 860, Bl. 140 f.). 165 Stefan Heymann, Zeugen der Wall Street. In : Neues Deutschland vom 16. 9. 1949. 166 Frauenabteilung beim Parteivorstand der SED an alle Landesfrauenabteilungen der SED in der sowjetischen Besatzungszone und Berlin vom 21. 9. 1949 ( BArch- SAPMO, DY 30/ IV 2/17/17, Bl. 21–23).

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Neben einer argumentativen Koordinierung sollten die Genossen aber auch befähigt werden, die Polizeikräfte tatkräftig zu unterstützen. Daher bekamen sie die Aufgabe, festzustellen wie die Zeugen Jehovas gegen „den Aufbau unserer Friedenswirtschaft“ argumentieren und wo westliche Verbindungen bestehen.167 Dass sich das Politbüro nach der Beschlussvorlage für das Kleine Sekretariat vom April 1949 über die „Maßnahmen zur Zurückdrängung der Kirche“ überhaupt noch einmal dezidiert mit den Zeugen Jehovas beschäftigte, belegt die Furcht der SED vor einem angeblichen Einfluss der Religionsgemeinschaft auf die Bevölkerung.168 Angesichts der im folgenden Jahr anstehenden Wahlen zur Volkskammer und der Angst vor einer Wiederholung des debakulösen Ergebnisses der „Wahlen“ zum 3. Deutschen Volkskongress eine nachvollziehbare, wenn auch irreale Vorstellung. Nachdem die für Herbst 1948 angesetzten Kommunalwahlen in der SBZ unter fadenscheinigen Gründen durch die Besatzungsmacht verschoben wurden, standen nun ein Jahr später eigentlich die Wahlen für die Kommunal - , Kreis- und Landesparlamente an. Ebenso wurde diskutiert, ob, wann und wie Wahlen zu einer Volkskammer zusammen mit der Staatsgründung stattfinden müssten. Bei diesen Wahlen sollte sich entscheiden, ob die DDR eine parlamentarische Republik mit Mehrparteiensystem und kompetitiven Wahlen – so im Verfassungsentwurf vorgesehen – oder vielmehr eine Volksdemokratie wäre. In Anbetracht der Wahlniederlage der SED 1946 konnte es kaum Zweifel geben, dass die SED an Wahlen mit konkurrierenden Listen nicht interessiert war. Dafür sprach auch, dass der schon bestehende „Anti - SED - Effekt“ ( Suckut ) im Land nach der gerade erst beendeten Berlin - Blockade noch verstärkt wurde.169 In einem Gespräch mit Stalin hatte Pieck schon im Dezember 1948 angekündigt, dass „es in der Ostzone keine Wahlen geben“ würde, „wenn im Block [ der antifaschistisch - demokratischen Parteien ] keine Übereinkunft über Einheitslisten erzielt“ würde.170 Einen ersten Vorstoß der SED im Oktober 1949 wiesen CDU und LDP noch zurück und hofften sich mit ihrem Bestehen auf konkurrierende Listen durchsetzen zu können. Wie von Pieck angekündigt, fanden anlässlich der Gründung der DDR keine Volkskammerwahlen statt. Diese wurden zusammen mit den anderen anstehenden Wahlen angesichts des „nationalen Notstandes“171 auf den Oktober 1950 verschoben. Die anstehende Zeit 167 Religionsfreiheit, die „Zeugen Jehovas“ und andere Sekten. In : Der Parteifunktionär : Funktionärorgan der SED. Hg. von der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Landesverband Brandenburg, 4 (1950) 1, S. 13 f. 168 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 200. 169 Suckut, Die Entscheidung zur Gründung der DDR, S. 129 f. 170 Aufzeichnung eines Gesprächs des Gen. I. V. Stalin mit den führenden Vertretern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands W. Pieck, O. Grotewohl und W. Ulbricht am 18. Dezember 1948. Abgedruckt in Scherstjanoi / Semmelmann, Die Gespräche Stalins, S. 160. Realistischer weise kündigte Pieck die Durchsetzung der Einheitsliste für das Frühjahr 1950 an. 171 So Pieck auf der 21. Sitzung des Deutschen Volksrates am 5. 10. 1949. Vgl. Suckut, Die Entscheidung zur Gründung der DDR, S. 131.

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musste also dazu genutzt werden, die Gegner der geplanten Einheitswahlen umzustimmen oder auszuschalten. Die Durchsetzung und Absicherung der ersten Wahlen in der DDR hatte bei der Bekämpfung politischer Gegner absolute Priorität. Im Vorfeld kam es zum abgestimmten Vorgehen von SED - Parteiapparat, Staatsapparat, Volkspolizei, Staatssicherheit und Besatzungsmacht.172 Nicht nur für die bürgerlichen Parteien in der DDR sollte deren Haltung zu den Einheitswahlen die Probe aufs Exempel ihrer Einstellung zum neuen Staat werden, auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften mussten in dieser Frage Stellung beziehen, waren es doch gerade sie, die nach dem Wegfall der parteipolitischen Opposition auf die Wahrung von Mindeststandards an Demokratie drängten. Je größer der Druck auf die Bürger wurde, sich durch eine offene Stimmenabgabe für die Kandidatenliste zum neuen Staat zu bekennen, desto deutlicher kritisierten die Kirchen diese Praxis, da Wahlenthaltung und Gegenstimmen mit öffentlichen Diffamierungen verbunden waren. Damit auch allen klar wurde, was die Gegner der Einheitswahlen bekämpften, stellte die SED im Sommer 1950 fest, dass bei den Wahlen „über die großen Lebensfragen der Nation [ entschieden würde ], über den Kampf um den Frieden, um die demokratische Einheit Deutschlands, um den Abschluss eines Friedensvertrages und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Deutschlands, über den Aufbau der Friedenswirtschaft und die Verbesserung der Lebenslage“.173 Diese Diffamierungen sollten die prinzipiell wahlabstinenten Zeugen Jehovas im verstärkten Maße treffen. Gegen ihre Versammlungen und öffentlichen Veranstaltungen ging die Volkspolizei schon seit 1948 und 1949 vor. Waren gewaltsame Methoden bei der Verhinderung des öffentlichen Auftretens bis dahin die Ausnahme gewesen, war das 1950 die Regel. In allen Landesteilen wurden Kongresse kurzfristig verboten und die sich versammelnden Gläubigen gewaltsam auseinandergetrieben.174 Sollte sich dennoch ein Wirt bereit finden, den Zeugen Jehovas Räumlichkeiten zu vermieten, drohte ihm der Entzug der Lizenz175 oder er wurde gar festgenommen.176 Inzwischen aber setzten sich die Gläubigen aktiv zur Wehr. Sie versammelten sich demonstrativ in der Öffentlichkeit, um die Versammlungen weiterzuführen oder gegen das Vorgehen der Polizei zu protestieren. Je mehr die Aktivitäten der Gemeinschaft eingeschränkt wurden, umso stärker artikulierte diese ihren Protest in der Öffentlichkeit. Das versetzte die Polizei in ein Dilemma. Einerseits waren die Vorgaben nach Beschränkung des öffentlichen Auftretens der Zeugen Jehovas unmissverständlich, andererseits sollte daraus kein öffent-

172 Vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 260. 173 Entschließung auf dem 3. Parteitag der SED ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 1/ III /7, Bl. 154 f.). 174 HVDVP, HA K, an die HVDVP, HA VA, Bericht über die Tätigkeit der „Zeugen Jehovas“, die das Eingreifen der Kriminalpolizei notwendig machte, vom 11. 8. 1950 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 860, Bl. 140 f.). Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 215–227. 175 Vgl. Beschluss - Protokoll Nr. 33 der Sekretariatssitzung der Landesleitung Sachsen vom 1. 8. 1950 ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, Nr. A /790, Bl. 80–100, hier 90–92). 176 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 222 f.

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liches Aufsehen entstehen. Immer mehr stieß die Polizei mit diesem Vorgehen an ihre Grenzen.177 Einen eigenständigen Versuch im Vorgehen gegen die Religionsgemeinschaft starteten die Justizbehörden Sachsens und Brandenburgs. Um die Missionsanstrengungen, aber auch die Betreuung der Gläubigen einzuschränken, versuchten die Behörden die hauptamtlichen Prediger zwangsweise in Arbeitsstellen einzuweisen. Bis 1948 wurde ihnen von den sowjetischen wie auch deutschen Verwaltungen der Status von Kultusdienern nach SMAD - Befehl Nr. 153 zugestanden, die sie von der Arbeitspflicht nach SMAD - Befehl Nr. 3 befreite. Ab 1950 bezog das MdI der DDR und nachfolgend auch die Arbeitsämter diese Regelung allein auf Geistliche von Gemeinschaften, die den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts hatten. Das Arbeitsamt Chemnitz sprach daraufhin einem hauptamtlichen Prediger der dortigen Zeugen Jehovas einen Strafbefehl über 150 Mark aus, weil dieser drei Arbeitseinweisungen nicht Folge geleistet hatte. Nach einem Einspruch des Predigers bestätigte das Amtsgericht Chemnitz die Entscheidung, da „die Zeugen Jehovas keine anerkannte Religionsgemeinschaft darstellen, sondern lediglich eine registrierte“.178 Eine andere Möglichkeit, juristische Schritte gegen die einzelnen Gläubigen einzuleiten, war deren Verwendung von Literatur, die nicht von der SMAD bzw. den deutschen Behörden lizenziert war. Die östliche Besatzungsmacht hatte bekanntlich eine allgemeine Drucklizenz für die Magdeburger Druckerei verweigert. Daher wurden die für das Glaubensleben wichtigen Schriften aus Westdeutschland bzw. West - Berlin bezogen. Lange Zeit war das kein Problem, hatten sich die vier Alliierten mit der Kontrollratsdirektive Nr. 55 vom 25. Juni 1947 doch darauf geeinigt, den freien Austausch von Zeitungen, Zeitschriften, Filmen und Büchern zwischen den Besatzungszonen zu genehmigen. Mit dem SMAD - Befehl 105 vom 9. Juni 1948 wurde der Zugang zu westlich lizenziertem Schrifttum faktisch unterbunden. Unter dem Titel „Verbesserung des Vertriebs von Zeitschriften in der SBZ“ wurde der Vertrieb allein beim Postzeitungsamt Berlin konzentriert. Dies richtete sich zu dieser Zeit in erster Linie gegen die Zeitungen der westdeutschen Parteien, vornehmlich der SPD, die einen rapiden Absatz in der SBZ fanden.179 Die WTG versuchte, neuen Problemen aus dem Weg zu gehen, indem sie allen Druckschriften den Vermerk „Unverkäuf liches Eigentum der Watch Tower Bible and Tract Society“ beifügte. Die Schriften wurden kostenlos abgegeben oder auch nur verliehen. Seit Beginn 1950 wurde jedoch auch diese Art der Weitergabe als Vertrieb gewertet, die aufgefundene Literatur beschlagnahmt oder eingezogen und teilweise Strafbefehle 177 Vgl. Landesver waltung für Staatssicherheit Sachsen - Anhalt an das Ministerium für Staatssicherheit vom 11. 8. 1950 ( WTA, O - Dok 11/08/50). 178 Vgl. Bericht der Amtsanwaltschaft Chemnitz über die am 23. 6. 1950 stattgefundene Verhandlung vor dem Amtsgericht Chemnitz vom 24. 6. 1950 ( BArch, DP 1, VA, 1110, Bl. 339 f.). Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 251–254. 179 Vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 249. Der SMAD - Befehl 105 wurde in den Ländern durch Regierungs - ( Sachsen ) bzw. Polizeiverordnungen ( Brandenburg ) umgesetzt.

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ausgesprochen. Während es in Sachsen nur zu einem Fall der gerichtlichen Bestätigung eines solchen Strafbescheides kam,180 verurteilten in Brandenburg die Amtsgerichte im Sommer 1950 in Serienprozessen Zeugen Jehovas zu Geldstrafen. Schon die Einsprüche gegen die ausgesprochenen Strafbefehle zeigten, dass mit Geldstrafen einzelner Amtsgerichte gegen die Prediger der Zeugen Jehovas nichts ausgerichtet werden konnte. Ein koordinierteres Vorgehen und umfassendere Ansätze waren gefragt. Wurde den Zeugen Jehovas schon vorher vorgeworfen, mit ihren Predigten vom nahen Ende der Welt nur einen von den „amerikanischen Imperialisten“ angezettelten 3. Weltkrieg zu meinen, bestätigte sich diese Sicht scheinbar, als sich die meisten Gläubigen der Unterschriftensammlung zum Stockholmer Appell für ein Verbot der Atomwaffen181 entzogen. Die SED entfachte eine breite Kampagne, um die um sich greifende Kriegsangst in der Bevölkerung zur Mobilisierung für das östliche „Friedenslager“ und zur Verurteilung der westlichen „Kriegstreiber“ zu nutzen. „Reaktionäre Elemente, bei denen einwandfrei feststeht, dass sie sich konsequent weigerten, den Aufruf zur Ächtung der Atomwaffe zu unterschreiben, müssen vor der gesamten breiten Öffentlichkeit entlarvt werden.“182 Dieser Vorwurf richtete sich vor allem gegen die Zeugen Jehovas, weil diese sich geschlossen verweigerten.183 Wie bei vorherigen Akklamationen konnten sie gerade in ländlichen Gebieten die Unterschriftsergebnisse negativ beeinflussen. Wichtig war aber vor allem, dass sich hier ein Angriffspunkt gegen die Zeugen Jehovas herauskristallisierte, denn „wer nicht für den Frieden ist, ist gegen den Frieden und damit für den Krieg“.184 Durch eine militärische Offensive des kommunistischen Nordkoreas in den südlichen Teil der Halbinsel spitzte sich 1950 die internationale Lage zu. Das militärische Eingreifen der USA in Ostasien band beide deutsche Staaten noch 180 Vgl. Urteil des Amtsgerichts Chemnitz vom 12. 4. 1950 (44 Es 21/50). 181 Vom 15.–19. 3. 1950 tagte der Ständige Ausschuss des Weltfriedens - Kongresses in Stockholm und beschloss u. a. einen Aufruf, in dem alle Menschen aufgerufen wurden, sich durch ihre Unterschrift für ein Verbot der Atomwaffen auszusprechen. Die Weigerung vieler ZJ, diese Unterschrift zu leisten, wurde als „Kriegshetze“ diffamiert. Doch in deren Augen war die Unterschriftensammlung ein politischer Akt wie auch Wahlen und angesichts des vorhergesagten „Endes dieses bösen Systems der Dinge in der Schlacht von Harmagedon“ nutzlos. 182 Beschluss - Protokoll Nr. 33 der Sekretariatssitzung der Landesleitung Sachsen vom 1. 8. 1950 ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, Nr. A /790, Bl. 80–100, hier 90–92). 183 Vgl. Rede von Heinz Willmann, Generalsekretär des Deutschen Komitees der Kämpfer für den Frieden, „Die Vorbereitung des deutschen Friedenskongresses und des Weltfriedenskongresses“ auf der Sitzung des Bundesvorstandes des DFD am 13. 9. 1950 : „Diejenigen, die die Unterschrift am stursten auch in der DDR verweigerten, sind die Anhänger der sogenannten ‚Zeugen Jehovas‘, der Ernsten Bibelforscher. Hier haben wir es schon nicht mehr mit Leichtgläubigen zu tun, sondern hier hat man es mit Menschen zu tun, die bewusst Ver wirrung in Menschenhirne tragen. Hier hat man es selbstverständlich auch mit einem Kreis von Halbverrückten zu tun, aber es wäre verkehrt, die Mitglieder dieser Sekte als Geisteskranke abzutun. Unter ihnen sind bewusste Agenten und Verbrecher, die im Auftrage von amerikanischen und englischen Leitstellen arbeiten.“ ( BArch - SAPMO, DY 31, 107, Bl. 13–43, hier 20). 184 Urteil des Landgerichts Erfurt vom 9. 12. 1950 ( StKs. 13/50).

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stärker in den jeweiligen Hegemonialbereich. Unter der Bevölkerung stieg die Kriegsangst. Die SED wurde einerseits in die um sich greifenden Ängste einbezogen, andererseits nutzte sie die Umstände für die Abgrenzung von der westdeutschen „Marionettenregierung“185 sowie zu Säuberungen in den eigenen Reihen und in der DDR - Gesellschaft. Schon am 20. Juni 1950 wies das Politbüro der SED Innenminister Steinhoff an, Material über die Tätigkeit amerikanischer Agenten in den Kirchen zusammenzutragen.186 In diesem Klima der Hatz auf Spione in allen Bereichen der Gesellschaft fand im Juli 1950 der III. Parteitag der SED statt. Das Treffen des angeblich höchsten Gremiums der Partei schloss mit der Verabschiedung eines neuen Statuts die formelle Umwandlung der SED in eine bolschewistische Partei ab.187 Gleichzeitig wurde auf dem Parteitag zu „revolutionärer Wachsamkeit“ gegen die „von den imperialistischen Geheimdiensten und Agenturen in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik entsandten oder hier angeworbenen Spione, Saboteure und Agenten“ aufgerufen. Die reaktionären „Kirchenführer“ ständen ebenfalls „in der Front der Kriegshetzer und Reaktionäre und erfüllen die Aufträge der anglo - amerikanischen Imperialisten“. Auch „Vertreter verschiedener religiöser Sekten“ würden die „verfassungsmäßig garantierte Glaubensfreiheit für reaktionäre und kriegerische Propaganda“ ausnutzen, daher müsse ihnen mit „Schärfe entgegengetreten werden“.188 Auch weiterhin kam es zu Übergriffen der Polizei bei Veranstaltungen der Religionsgemeinschaft. Als zudem zwei führende Mitarbeiter der Magdeburger Zentrale von der Polizei festgenommen wurden und immer häufiger Gläubige wegen ihrer politischen Abstinenz die Arbeitsstelle verloren,189 entschloss sich die WTG, an die Öffentlichkeit zu gehen. Am 10. Juli 1950 sandte sie von ihrem Westberliner Büro eine Petition an alle Behörden, Organisationen und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der DDR. In sechs Punkten brachten sie ihre Beschwerden und Proteste mit Verweis auf die verletzten Verfassungsbestimmungen vor.190 Die Petition endete mit den Worten : „Wenn dieser Ter185 186 187 188

Ulbricht am 3. 8. 1950 im „Berliner Rundfunk“. Zit. in Schroeder, SED - Staat, S. 97. Vgl. Goerner, Die Kirchen als Problem der SED, S. 66. Vgl. Malycha, Partei von Stalins Gnaden, S. 117 f. Entschließung des III. Parteitags der SED vom 20.–24. Juli 1950 „Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. In : Protokoll des III. Parteitags der SED, Band 2, Berlin ( Ost ) 1951, S. 225–275, hier 248–250. Interessanterweise ist in einem Entwurf der Entschließung der Verweis auf die „Sekten“ noch nicht zu finden ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 1/ III /7, Bl. 63–137). Auf Blatt 48 f. findet sich dann aber die handschriftliche Ergänzung der Redaktionskommission, die dann auch Eingang in die veröffentlichte Entschließung fand. 189 Vgl. Jahrbuch 1974, S. 225. 190 1. gegen die Entfachung von religiösem Hass gegen die ZJ und die Behauptung, sie seien eine amerikanische Sekte im Dienste imperialistischer Politiker ( Art. 6 : „Bekundung von Glaubenshass“); 2. gegen die Verweigerung der Gleichberechtigung der vollberuf lich tätigen Prediger der Religionsgemeinschaft gegenüber Geistlichen der Großkirchen ( Art. 6 „Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten“); 3. gegen die Verweigerung der Nutzung öffentlicher Räume als Versammlungsort ( siehe 2.); 4. gegen das Verbot von Bibelstudien in Privatwohnungen ( Art. 8 „Unverletzlichkeit der Woh-

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ror mit seiner Verfolgung gegen uns zugelassen wird, so wird es der Weltöffentlichkeit offenbar werden, dass eine demokratische Ordnung der Freiheit innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik nicht errichtet worden und dass auch die letzte Spur von Freiheit dort verschwunden ist. Die Missstände, gegen die wir Beschwerde erheben, zeigen ein Wiederauf leben von Nazimethoden.“191 Diese Kritik musste die SED an ihrer empfindlichsten Stelle treffen. Gerade der „Antifaschismus“ – als Legitimationsmythos von entscheidender Bedeutung im Dogmengebäude der Partei – wurde mit diesem Vergleich angegriffen.192 Da zudem für Ende September 1950 ein neuer Bezirkskongress der Zeugen Jehovas in West - Berlin angekündigt worden war, bei dem man erneute Angriffe gegen Partei und Staat erwartete, harrte das Problem seiner endgültigen Lösung. Alle Versuche der Verhinderung und Auf lösung von Veranstaltungen der Glaubensgemeinschaft hatte gezeigt, dass die Volkspolizei nicht in der Lage war, diese Aufgabe ohne größeres öffentliches Aufsehen zu erfüllen. Diesen Auftrag sollte nun das neugegründete Ministerium für Staatssicherheit übernehmen. Bereits Ende Dezember 1948 hatte das ZK der KPdSU auf Bitten der SED - Führung die Gründung einer eigenständigen ostdeutschen Geheimpolizei beschlossen.193 Im Laufe des Jahres 1949 firmierte diese aus Tarngründen erst als Dezernat D und später als Verwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft, ehe sie im Februar 1950 nach Beschluss der provisorischen Volkskammer offiziell die Arbeit aufnahm.194 Obwohl nach eigener Sprachregelung die operative Bearbeitung von Spionage, Sabotage, Untergrundbewegung oder Diversionsakten durch Agenten des Ostbüros, des amerikanischen, englischen und französischen Geheimdienstes oder noch unbekannter Auftraggeber Aufgabe der neuen Politischen Polizei sein sollte,195 blieb das MfS bis zum Verbot der Zeugen Jehovas zumeist im Hintergrund. Mitte August musste die Hauptabteilung K der

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nung“) und die Auf lösung von Gottesdiensten durch die Polizei ( Art. 43 „Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften“); 5. gegen die Beschlagnahmung von Druckerzeugnissen ( Art. 9 „Verbot der Pressezensur“); 6. gegen die Entlassung von Gläubigen wegen ihres religiösen Bekenntnisses ( Art. 15 „Recht auf Arbeit“ und Art. 42 „Die Ausübung privater oder staatsbürgerlicher Rechte oder die Zulassung zum öffentlichen Dienst sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis“). Abgedruckt in Yonan, Jehovas Zeugen, S. 105–110. Vgl. ähnliche Reaktionen nach dem Hirtenbrief des Berlin - Brandenburgischen Bischofs Otto Dibelius zu Pfingsten 1949. Vgl. Goerner, Die Kirchen als Problem der SED, S. 56 f. Vgl. Engelmann, Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit, S. 56. Auf ihrem Treffen mit Stalin am 18. 12. 1948 konnte die SED - Führung die Entscheidung zugunsten eines eigenständigen Geheimapparates herbeiführen. Vgl. Aufzeichnung eines Gesprächs des Gen. I. V. Stalin mit den führenden Vertretern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands W. Pieck, O. Grotewohl und W. Ulbricht am 18. Dezember 1948. Abgedruckt in Scherstjanoi / Semmelmann, Die Gespräche Stalins, S. 163. Zum Aufbau des MfS in Sachsen vgl. Schmeitzner, Formierung eines neuen Polizeistaates, S. 252–259. Vgl. Schmeitzner, Ein deutscher Tschekist, S. 188.

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HVDVP zugeben, dass noch immer keinerlei Beweise für eine vermutete Spionagetätigkeit durch die Glaubensgemeinschaft vorlagen.196 Auch ein ebenfalls im August des Jahres erarbeiteter Bericht des MfS konnte die Spionagevorwürfe nicht bestätigen, forderte aber dennoch angesichts der Unterstützung der Zeugen Jehovas für einen amerikanischen „Atombombenausrottungskrieg“, diese „Feinde der Menschheit“ zu verbieten.197 Das weitere Vorgehen gegen die renitente Religionsgemeinschaft sollte zur ersten großen Bewährungsprobe für das junge MfS werden.198 Zwar sprechen das faktische Unterstellungsverhältnis der ostdeutschen „Tschekisten“ unter die sowjetische Besatzungsmacht und das auch im Sommer 1950 vollzogene Verbot der Gemeinschaft in Polen für ein koordiniertes Vorgehen. Bis jetzt konnte jedoch keine schriftliche Anweisung zu einem Verbot durch sowjetische Stellen aufgefunden werden. Gerade die zeitliche Nähe des polnischen und ostdeutschen Verbotes spricht für eine enge Absprache mit den sowjetischen Stellen. Die operative Federführung scheint dagegen allein beim MfS gelegen zu haben. Trotz dem beschworenen Bedrohungspotential sahen die Russen in der Verfolgung der Zeugen Jehovas wohl „nicht viel mehr als eine Spielwiese für das MfS und die deutsche Justiz“.199 Am 30. August 1950 um 4.00 Uhr stürmten Angehörige des Staatssicherheitsdienstes den Bürokomplex der Zeugen Jehovas in Magdeburg. Die männlichen Mitarbeiter des Bibelhauses wurden überwältigt und festgenommen. Etwa sechzig Zentner Schriftgut, darunter die komplette Mitgliederkartei beschlagnahmte das MfS. Einen Tag später, am 31. August, beschloss die Provisorische Regierung der DDR das Verbot der Religionsgemeinschaft. Innenminister Steinhoff informierte am selben Tag das in Westberlin befindliche WTG - Büro über das Verbot der Gemeinschaft auf dem Gebiet der DDR : „‚Jehovas Zeugen‘ und deren in ihrer Gesellschaft bestehende Ver waltung werden mit dem heutigen Tage aus der Liste der erlaubten Religionsgemeinschaften im Bereich der Deutschen Demokratischen Republik und in Großberlin gestrichen und somit verboten.“ Als Begründung gab Steinhoff an, dass die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in den letzten 10 Monaten klar bewiesen hätte, dass „diese den Namen einer Religionsgemeinschaft fortgesetzt für verfassungswidrige Zwecke missbrauchen“. Sie hätten „eine systematische Hetze gegen die bestehende demokratische Ordnung“ getrieben, fortlaufend illegales Schriftenmaterial eingeführt, damit „gegen die Bestrebungen zur Erhaltung des Friedens“ verstoßen und

196 Vgl. HVDVP, HA K, an die HVDVP, HA VA, Bericht über die Tätigkeit der „Zeugen Jehovas“, die das Eingreifen der Kriminalpolizei notwendig machte, vom 11. 8. 1950 (BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 860, Bl. 140 f.). 197 Gesamtbericht des MfS, Abt. VI, „Tätigkeit der Zeugen Jehovas in der DDR“ vom 24. 8. 1950. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 235 f. 198 Die Angabe, dass der Prozess des Obersten Gerichts der DDR gegen die Deutsche Continental - Gas - AG ( DCGG ) Resultat einer Zusammenarbeit zwischen MfS, Politbüro und Staatsanwaltschaft gewesen sei ( vgl. Fricke, Zur politischen Strafrechtssprechung, S. 15) konnte Klawitter, Die Rolle der ZKK, S. 40 widerlegen. 199 Weber, Justiz und Diktatur, S. 298 f.

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wären schließlich „dem Spionagedienst einer imperialistische Macht dienstbar“.200 Noch aber wurde dieses Verbot der Öffentlichkeit nicht bekannt gegeben. Wie auch vor und während der Prozesse gegen die sogenannten Textilschieber von Glauchau - Meerane Ende 1948 und die DCGG im April 1950 sollte das Vorgehen gegen missliebige Personen oder Gruppen mit Aufforderungen aus dem Volk legitimiert werden. Der „Zorn des Volkes“ gegen seine Feinde musste allerdings gut vorbereitet werden, aus der mangelhaften Beteiligung der Arbeiterschaft der westsächsischen Textilindustrie an Protestkundgebungen201 hatte die SED gelernt. Aber auch unkontrollierbare gewaltsame Ausbrüche wie im ostsächsischen Bischofswerda mussten vermieden werden. Dazu wurden Partei und Massenorganisationen angewiesen, „Kundgebungen u[ nd ] Resolutionen, die sich gegen die Tätigkeit der Bibelforscher wenden“, durchzuführen.202 Bereits Ende August hatten einige Zeitungen – vor allem solche der CDU – begonnen, sich auf die Zeugen Jehovas einzuschießen.203 Nach dem, der Bevölkerung noch unbekannten, Verbot berichteten alle ostdeutschen Medien über reale oder fiktive Protestresolutionen und - telegramme aus Betrieben,204 von Parteien205 und Massenorganisationen oder von gerade stattfindenden Tagungen.206 Nach fünf Tagen massierter Hetze wurde dann endlich das Verbot veröffentlicht, als sei dieses erst nach Forderungen aus der Bevölkerung erfolgt.207 Diese propagandistische Finte wurde in der Folgezeit aber auch als Legitimierung nach innen benutzt.208 Trotz allen Berufens auf des „Volkes Stimme“ musste das Verbot wie die nachfolgenden Verhaftungen auch formal legitimiert werden. Wie in anderen Fällen wurde hier auf das Instrument des Strafrechts zurückgegriffen.209 Das 200 Innenminister der DDR, Karl Steinhoff, an die WTG vom 31. 8. 1950 (BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 3). 201 Vgl. Klawitter, Die Rolle der ZKK, S. 31–34. 202 Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 296. 203 Vgl. „Nihilismus im religiösen Gewande“. In : Neue Zeit vom 25. 8. 1950; „Maulwürfe unter religiöser Tarnung“. In : Die Union vom 26. 8. 1950; „Propagandisten des Krieges“. In : Neue Zeit vom 26. 8. 1950. 204 Vgl. ADN - Meldung Nr. 809 vom 1. 9. 1950 mit der Forderung von „11 500 Werktätigen des elektrochemischen Kombinats Bitterfeld“, „‚Jehovas Zeugen‘ – Agenten des USA Imperialismus. Die Werktätigen der Magdeburger Großbetriebe fordern Verbot der Sekte der Bibelforscher“. In : Volksstimme vom 31. 8. 1950. 205 Beispielsweise „Wühler gegen die Weltfriedensbewegung – Weiteres Tatsachenmaterial über die Umtriebe der ‚Zeugen Jehovas‘“ ( mit einer Stellungnahme der CDU Sachsen ) und „Abwehrmaßnahmen gefordert“ ( Entschließungen von Betriebsgruppen ). In : Die Union vom 5. 9. 1950; „Religiös getarnte Untergrundbewegung“ ( mit einer Stellungnahme von Otto Nuschke, CDU - Vorsitzender ). In : Neue Zeit vom 6. 9. 1950. 206 Vgl. Dirksen, „Nie wieder Ravensbrück“, S. 26. 207 „Endlich : ‚Zeugen Jehovas‘ verboten“. In : Abendblatt. Das Blatt für Politik, Kultur und Wirtschaft für Mitteldeutschland vom 5. 9. 1950. Zit. in Westphal, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas, S. 284. 208 Vgl. GStA Thüringen an alle OStA im Lande vom 4. 9. 1950 ( BStU, ZA, HA XX/4, 294, Bl. 4). 209 Vgl. Werkentin, Scheinjustiz in der frühen DDR, S. 348.

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Verbot berief sich auf Artikel 6 der DDR - Verfassung. Dessen umstrittene Anwendung im konkreten Fall sowie die Übertragbarkeit auf ähnlich gelagerte Fälle musste jedoch noch geklärt werden. Über das Prozedere waren sich die Verantwortlichen in Partei und Staatssicherheit noch nicht im Klaren. Vorerst ermittelte die Landesverwaltung für Staatssicherheit Sachsen - Anhalt für einen Prozess gegen führende Vertreter der Zeugen Jehovas vor dem Landgericht in Halle. Mitte September fiel dann aber die Entscheidung für einen Musterprozess vor dem Obersten Gericht der DDR.210 Einerseits mussten die in der Verbotsverfügung vorgebrachten Vorwürfe wie Spionage „bewiesen“, andererseits auch die verschiedentlich geäußerten Bedenken aus der Justiz über den Sinn und die Berechtigung eines strafrechtlichen Vorgehens zerstreut werden. Dazu eignete sich ein Grundsatzurteil des Obersten Gerichts allemal besser als viele – sich möglicherweise widersprechende – Urteile der unteren Instanzen. Außerdem warteten nach den republikweiten Verhaftungen im September Hunderte von Gläubigen in den Untersuchungshaftanstalten auf ihre Aburteilung.211 Eile tat also Not. Das 1949 eingerichtete Oberste Gericht der DDR führte 1950 vier erstinstanzliche Verfahren als Schauprozesse durch : Drei Wirtschaftsstrafverfahren,212 in deren Zusammenhang die ökonomischen Umwälzungen in der Republik begründet sowie missliebige Politiker sozialdemokratischer oder bürgerlicher Herkunft entfernt werden sollten und den Prozess gegen die Zeugen Jehovas im Oktober 1950. Der am 27. September 1950 vom MfS übergebene Abschlussbericht wurde am 30. September vom Generalstaatsanwalt Melsheimer nahezu unverändert als Anklageschrift ausgefertigt. Melsheimer beschuldigte die Angeklagten, „durch Agitation gegen den Stockholmer Appell zur Ächtung der Atomwaffe die friedliche Entwicklung des deutschen Volkes und den Frieden der Welt erheblich gefährdet zu haben.“ Sie hätten „im Auftrage des amerikanischen Imperialismus fortgesetzt Spionage, Boykotthetze und Kriegspropaganda getrieben“ und „mit betrügerischen Mitteln versucht [...] die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik von den Volkswahlen [...] abzuhalten“. Außerdem hätten sie „verleumderisch gegen die Völker der Sowjetunion und die volksdemokratischen Länder gehetzt und damit das freundschaftliche und friedliche Verhältnis zu diesen Völkern gestört“.213 Wurde Melsheimer beim Prozess gegen die DCGG vom Vorsitzenden der zentralen Parteikommission der SED, Fritz Lange, noch gerügt, „dass dieser die Materie nicht völlig beherrscht, son210 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 313 f. 211 Vgl. ebd., S. 322. 212 Der Prozess gegen die Deutsche Continental - Gas - Gesellschaft ( DCGG ) im April 1950, der Moog - Prozess ( u. a. gegen den ehemaligen thüringischen Finanzminister Moog ) im Dezember 1950 und der Solvay - Prozess ebenfalls im Dezember 1950. Vgl. Klawitter, Die Rolle der ZKK; Kos, Politische Justiz in der DDR; Beckert, Die erste und letzte Instanz, S. 73–97. 213 Stenographische Mitschrift der Anklageverlesung am 3. 10. 1950. Zit. nach Politische Straf justiz in der früheren DDR, S. 58.

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dern sich in oberflächlichster, unpolitischster Art in öligen Phrasen und Theaterdonner ergeht. Es gab einfach niemanden, dem dieses leere Wortgetöse und Phrasengeschmetter nicht peinlich aufgefallen ist“,214 störten die Ausbrüche des Generalstaatsanwaltes der DDR im Prozess gegen die neun angeklagten Zeugen Jehovas niemanden. Waren in den Wirtschaftsprozessen zumindest rudimentäre Kenntnisse der zu behandelnden ökonomischen Fragen notwendig, um die dort Angeklagten zu überführen, durften Fragen der Glaubenslehre und Glaubenspraxis in diesem Verfahren gerade keine Rolle spielen. Jede religiöse Betätigung konnte ja nur Tarnung sein, wenn die Gemeinschaft, wie vorgeworfen, „ein seit Jahrzehnten ausgeklügeltes [...] Spionagesystem“ darstellte, welches „die systematische Zersetzung unseres Staates mit dem Ziele seiner Vernichtung“ anstrebte.215 Schauprozesse waren auch Mittel der Agitation. Dazu wurden zeitlich wie räumlich ausgedehnte Verschwörungsverbindungen „aufgedeckt“. Diese Verschwörungstheorien wurden immer dann propagiert, wenn es galt, einen potentiellen innenpolitischen Gegner auszuschalten. Wie schon im DCGG - Prozess füllte ein riesiges Schaubild den Hintergrund des Gerichtssaals, auf dem die Organisationsstruktur der Religionsgemeinschaft veranschaulicht werden sollte. Damit sollten die krakenhaften Verschlingungen deutlich gemacht werden, mit deren Hilfe es der „Agentenorganisation“ gelänge, „bis in die kleinsten Zellen des Staates einzudringen“.216 Erschienen ZKK - Chef Lange im DCGG- Prozess Verweise auf die Londoner City und die Wallstreet217 auf dem Schaubild noch „übereifrig“, konnten sich die Verschwörungsphantasien der ostdeutschen Machthaber im Prozess am 3. und 4. Oktober 1950 gegen die Zeugen Jehovas voll ausleben : In der Mitte des abgebildeten weitverzweigten Netzes saß wie eine Spinne die „Watch Tower Bible and Tract Society, Brooklyn New York, USA“. Das Oberste Gericht unter Vorsitz von Hilde Benjamin folgte in seinem Urteil den Anklagepunkten und stützte sich dabei, wie von Melsheimer vorgebracht, auf die Kontrollratsdirektive Nr. 38, Artikel III, Teil A, Abschnitt III ( KRD 38)218

214 Bericht der ZKK über den ersten Prozesstag, den 24. 4. 1950. Zit. in Klawitter, Die Rolle der ZKK, S. 53. 215 Anklageschrift des GStA der DDR vom 30. 9. 1950 ( GenSta 4/50) ( BStU, ZA, HA XX/4, 825, Bl. 116–146). 216 Abbildung des Schaubildes in Dirksen, Keine Gnade, S. 340. Zur Ver wendung eines Schaubildes im DCGG - Prozess vgl. Klawitter, Die Rolle der ZKK, S. 47 f. 217 Vorschlag des ZKK - Mitarbeiters Röbsteck an Lange am 3. 3. 1950 : „Da es sich bei diesem Prozess im weiteren Sinne um einen Angriff gegen das angloamerikanische Monopolkapital handelt“. Zit. in ebd. 218 Diese von allen vier Alliierten am 12. 10. 1946 erlassene Direktive teilte die deutsche Bevölkerung in fünf Kategorien ( Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete ) ein. Für belastete Personen ( nochmals untergliedert in Aktivisten, Militaristen bzw. Nutznießer ) ordnete sie gewisse Sühnemaßnahmen an. Vgl. Beckert, Die erste und letzte Instanz, S. 23. Abschnitt II des Artikels III A III bezog sich auf Aktivitäten nach 1945 : „Aktivist ist auch, wer nach dem 8. Mai 1945 durch Propaganda für den Nationalsozialismus oder Militarismus oder durch Erfindung und Verbreitung ten-

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und den Artikel 6 der DDR - Verfassung von 1949.219 Im Einzelnen sah es das Gericht als erwiesen an, dass die Zeugen Jehovas Spionage betrieben, indem sie für ihre Haus - zu - Haus - Mission Gebietskarten bzw. Handzettel mit Notizen über die Reaktionen der angesprochenen Personen anfertigten, Adressen von Personen des öffentlichen Lebens sowie Informationen für ihre Zeitschrift „Erwachet“ sammelten. Diese Spionage, zusammen mit der Ablehnung der Unterstützung für den Stockholmer Appell und dem „Gerede vom gerechten Krieg“, erfüllte den Tatbestand der „Kriegshetze“, da dadurch die Vorbereitung des „imperialistischen Lagers“ auf eine militärische Auseinandersetzung unterstützt würde. Die Verbreitung der Petition vom 10. Juni 1950, die „Abhaltung der Bürger von den Volkswahlen“ und die Vorbereitung der Religionsgemeinschaft auf das drohende Verbot waren nach Meinung des Gerichtes Boykotthetze.220 Angesichts der marginalen Stellung der Glaubensgemeinschaft in der ostdeutschen Gesellschaft leuchtet deren „Behandlung“ vor dem Obersten Gericht der DDR auf den ersten Blick nicht ein. Selbst wenn die Landesverwaltung Thüringen im Oktober 1950 glauben machen wollte, dass mit dem Verbot der Zeugen Jehovas der größte religiöse Gegner der Volkskammer wahlen ausgeschaltet war,221 beeinflusste doch das Verbot und der nachfolgende Prozess das Wahlverhalten der Zeugen Jehovas sowie auch der Bevölkerung insgesamt in keiner Weise.222 Auch konnte aus diesem Prozess kein Vorteil gegen angebliche politische Gegner in Staat und Verwaltung gezogen werden. Die Genossen wussten nur zu gut, dass die Botschaft der Gemeinschaft nahezu überall auf Ablehnung stieß. Kein missliebiger Politiker konnte ernsthaft der Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas oder der Sympathie für diese bezichtigt werden. Wichtig war vielmehr, an dieser zwar als gefährlich eingestuften, dennoch einflusslosen Gruppe höchstrichterlich die Anwendung des Artikels 6 der Verfassung für die strafrechtliche Verfolgung exemplarisch aufzuzeigen. Die Zeugen Jehovas konnten nicht auf Zuspruch aus der Bevölkerung rechnen. Das Risiko, kritische Stimmen hervorzurufen, war also gering. Das Oberste Gericht wirkte hier „rechtsschöpferisch“ und schuf so für viele politische Verfahren in den fünfziger Jahren einen folgenschweren Präzedenzfall.223 Vergegenwärtigt man sich die massiven

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220 221 222 223

denziöser Gerüchte den Frieden des deutschen Volkes oder den Frieden der Welt gefährdet hat oder möglicherweise noch gefährdet.“ In : Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 11 vom 31. 10. 1946, S. 184. Artikel 6 Absatz 2 : „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens - , Rassen - , Völkerhass, militaristischer Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.“ GBl. der DDR 1949, S. 5–16. Vgl. Wortlaut des Urteils vom 4. 10. 1950 in Neue Justiz, (1950), S. 452; auch Unrecht als System, Band I, S. 23. Vgl. Wolf, Die „Bearbeitung“ der Kirchen, S. 186. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 525. Vgl. Schuller, Geschichte und Struktur, S. 35–66.

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Verfolgungen, denen die Zeugen Jehovas unter den Nationalsozialisten ausgesetzt waren, kann die Härte der Bestrafung – fünf Angeklagte erhielten eine Zuchthausstrafe von 8 bis 15 Jahren, zwei weitere gar lebenslänglich – nur erschrecken. Weder Staatsanwaltschaft, Gericht noch einige Verteidiger enthielten sich in dem Prozess diffamierender Äußerungen gegenüber den Angeklagten. Die Zeugen Jehovas seien „Menschen, die es unternommen haben, unsere Jugend [...] zu verpesten“,224 ihre Glaubensgemeinschaft „ein Fremdkörper im Staate“225 und „Krebsschaden“,226 dessen „Gift weiterfrisst“, wenn dem nicht durch das Urteil vorgebeugt würde.227 Die Beschwörung einer angeblichen Bedrohung durch „Spione und Agenten“ hatte offensichtlich ausgrenzende und disziplinierende Funktionen. Einerseits sollten loyale Bevölkerungskreise aber auch die Ver waltungs - und Parteiinstanzen im Kampf gegen die Gegner des sozialistischen Aufbaus mobilisiert und motiviert werden. Andererseits sollten auch etwaige Wahlverweigerer sowie andere, vor allem kleine Religionsgemeinschaften gewarnt werden, es den Zeugen Jehovas gleich zu tun. Der Ausschluss der als „Feinde“ Deklarierten, hier der Zeugen Jehovas, aus der Gemeinschaft der „anständigen Menschen“, deren Entmenschlichung228 und die Ankündigung ihrer Vernichtung229 weist Anleihen am genuin stalinistischen Vokabular eines Wyschinski auf. Auch hier sollten die Verfolgungsinstanzen motiviert werden, gegen den „Gegner“ mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorzugehen. Dass die ostdeutschen Repressionsorgane dies in den folgenden Jahren rücksichtslos taten, aber bei der wirklichen Zerschlagung der Glaubensgemeinschaft scheiterten, will der nächste Abschnitt verdeutlichen.

1.4

Die Verbotsdurchsetzung

In ihrer traditionellen Kirchenfeindschaft durch das Einordnen der Zeugen Jehovas in die aktuellen Feindbilder des Kalten Krieges noch bestärkt, gingen MfS und Polizei in der gesamten DDR gegen bekannte Angehörige der Religionsgemeinschaft vor. Das MfS hatte zwar eigenständig und bewusst ohne Hinzuziehung der Volkspolizei230 das Magdeburger Bibelhaus überfallen, zu einer lan-

224 225 226 227 228

Aus dem Plädoyer Melsheimers. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 332. Aus der mündlichen Urteilsverkündung durch Benjamin. Zit. in ebd., S. 336. Aus dem Plädoyer der Pflichtverteidigerin des Angeklagten Heinicke. Zit. in ebd., S. 333. Aus der mündlichen Urteilsverkündung durch Benjamin. Zit. in ebd., S. 337. Die Anklageschrift schrieb dem Angeklagten Heinicke u. a. eine „hündische Ergebenheit“ gegenüber seinen Auftraggebern zu ( BStU, ZA, HA XX /4, 825, Bl. 116–146, hier 124). 229 Urteil des Landgerichts Eberswalde vom 2. 3. 1951 (2 St.Ks. 34/50) : „Derartige Verderber des deutschen Volkes müssen vernichtet werden“ ( BStU, ZA, Allg. S. 183/76, Bl. 118–126, hier 126). 230 Vgl. Chef der Volkspolizei des Landes Sachsen - Anhalt, Chef inspekteur der Volkspolizei Paulsen, an den Chef der HVDVP, Karl Maron, vom 2. 9. 1950 ( BArch, DO 1, 11.0 HVDVP, 860, Bl. 158–160).

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desweiten Aktion war es personell keineswegs in der Lage.231 Noch am 1. September 1950 hatten Polizeichef Maron und der stellvertretende Leiter der Hauptabteilung Polit - Kultur, Grünstein, die Volkspolizei - Kreisämter angewiesen, „allen bekanten Spitzenfunktionären“ eine Abschrift der Verbotsverfügung zuzustellen bzw. diese bei Verstoß gegen das Verbot strafrechtlich zu belangen. Gleichzeitig waren „alle Materialien und Unterlagen [...] sicherzustellen“, was nichts anderes als eine flächendeckende Durchsuchungsaktion bedeutete.232 Dieser Befehl sanktionierte eine seit den Morgenstunden des 30. August laufende „Aktion Zeugen Jehovas“,233 bei der mindestens 317 Zeugen Jehovas verhaftet wurden234 und bei der zentner weise Druckschriften in die Hände der Polizei fielen. Dabei gingen Polizei und MfS nach vorbereiteten Listen vor, die sie aus eigenen Ermittlungen der vergangenen Jahre bzw. aus Informationen der Parteien und Massenorganisationen ( vor allem der VVN ) zusammengestellt hatten. Bei den Verhaftungen beschlagnahmten die Ermittler auch regionale Karteikarten der verbotenen Gemeinschaft,235 die sie für weitere Durchsuchungen nutzten. Die Polizeiführung wies in ihrem Befehl noch einmal darauf hin, dass sich die Aktion nicht gegen eine Religionsgemeinschaft richte – und auch andere Gemeinschaften im Hinblick auf die anstehenden Volkskammer wahlen nicht einbezogen werden dürften –, sondern gegen Verfassungsfeinde, die sich „hinter religiösem Mantel verstecken“.236 Eine ( Geheim - )Polizei, die nicht nur das Gemeinwesen zu schützen, sondern gleichzeitig den Klassenfeind zu bekämpfen hatte,237 musste nicht erst zu einem verschärften Vorgehen animiert werden, da die Zeugen Jehovas „nur als Verbrecher anzusehen“ seien.238 Ausgehend vom Vorbild der russischen „Tschekisten“ prägten nun wahrheitswidrige Pressemeldungen, indoktrinierte Feindbilder239 und angebliche „Forderungen aus dem Volk“ den weiteren Umgang mit den Verhafteten. Mindestens in zwei Fällen kostete die Praxis des institutionalisierten „Volkszorns“ verhafteten Zeugen Jehovas das Leben.240 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240

Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 87. Befehl Nr. 132/50 der HVDVP vom 1. 9. 1950 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 1 f.). Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 294. Vgl. ebd., S. 869. Bis zum 6. 9. 1950 steigerte sich die Zahl auf 373 ( BStU, ZA, HA XX /4, 825, Bl. 46). Im gesamten Jahr 1950 wurden 825 Zeugen Jehovas verhaftet. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 868. Vgl. Bericht der Verwaltung für Staatssicherheit Groß - Berlin vom 5. 9. 1950 ( BStU, ZA, HA XX /4, 825, Bl. 32–38, hier 34). Befehl Nr. 132/50 der HVDVP vom 1. 9. 1950 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 1 f.). Der Befehl belegt aber auch die Bedenken der Führung vor unkontrolliertem Ausweiten der Aktion angesichts der internen Religionsfeindschaft. Vgl. Wolf, Die „Bearbeitung“ der Kirchen, S. 177. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 296. Vgl. Baule, Die politische Freund - Feind - Differenz, S. 171. Erich Poppe wurde nach seiner Verhaftung von Passanten mit völlig entstelltem Körper aufgefunden und verstarb kurz darauf im Krankenhaus ( WTA, Biografie Erich Poppe ). Demgegenüber behauptete die Polizei, dass Rudolf Schroll in der Untersuchungshaft Selbstmord begangen habe. Bei einer ( heimlichen ) Begutachtung wurden jedoch ein völlig zerschlagener Leichnam bezeugt. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 470. Beide Beerdigungen fanden unter massiver Überwachung durch die Polizei statt.

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Ein besonderer Verhaftungsgrund für die sächsische politische Polizei war die Ankündigung von Gläubigen, sich dem Verbot zu widersetzen und dabei die „in der Illegalität während der Nazizeit gesammelten Erfahrungen wieder anzuwenden“.241 Auch der Vergleich des Vorgehens von Volkspolizei und Gestapo gegen die Religionsgemeinschaft wurde sorgsam registriert und als besonderer Anklagepunkt aufgeführt.242 Gerade der Kampf gegen den Nationalsozialismus und der Sieg über diesen hatte zu einer Vielzahl neuer Anhänger und Sympathisanten sowie zu einer Regeneration der ideologischen Glaubensbereitschaft geführt.243 Der Vorwurf dem ideologischen Antipoden „Faschismus“ ähnlich zu sein, traf den ideologischen Nerv der Kommunisten an der Wurzel. Im Verständnis der SED meinte „Antifaschismus“ keineswegs nur Anti - Faschismus. Der Begriff enthielt zugleich als wichtigen Bestandteil den Aufbau des Sozialismus/ Kommunismus als einziger ideologischer und praktischer Alternative zum Faschismus.244 Das Konzept von den „eigentlich Schuldigen“ am „Faschismus“ ermöglichte es, das alte kommunistische Feindschaftsverhältnis zum Nationalsozialismus und die neuen Feindstellungen gegen die „imperialistischen Besatzungsmächte“ und die „nationalen Verräter“ in Bonn unter einem Begriff – dem „Antifaschismus“ – zusammenzufassen. Seit 1948 wurden immer mehr aktuelle politische und ideologische Kriterien an die Widerstandsgeschichte angelegt, was zu einer Ausgrenzung immer größerer Gruppen aktiver oder passiver Gegner und Opfer des nationalsozialistischen Regimes führte.245 Für die Zeugen Jehovas bedeutete dies die Entfernung der als Verfolgte des Naziregimes ( VdN ) anerkannten aus den Reihen der VVN. Auch diese war in ihrem Selbstverständnis bereits 1949 ins „fortschrittliche Lager“ eingeschwenkt. Ausdruck fand das im neuen Anerkennungskriterium der „positiven Einstellung zur fortschrittlichen Entwicklung der DDR“.246 Entsprechend solchen Richtlinien wurden Zeugen Jehovas nicht nur aus der VVN ausgeschlossen, sondern ihnen wurde auch ihre Anerkennung als VdN entzogen. Vielerorts mussten Zeugen Jehovas in den jeweiligen VdN - Büros Stellung zur DDR und ihrer Religionsgemeinschaft nehmen. Bei entsprechend „reaktionären“ Antworten entzog man ihnen ihre VdN - Ausweise.247 Allein im Kreis 241 Zwischenbericht der MfS - Verwaltung Sachsen vom 11. 9. 1950 ( BStU, ZA, HA XX /4, 825, Bl. 88–105, hier 91). 242 Vgl. Anklageschrift der MfS - Verwaltung Thüringen gegen Karl Foedisch und 15 Andere vor dem LG Erfurt vom 23. 10. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 46–70, hier 63). Intern klagte die SED jedoch, dass Kriminalpolizei einen schrecklichen Ruf habe, wie es bei der Gestapo der Fall war. Vgl. Naimark, Die Russen in Deutschland, S. 454; Melis, Entnazifizierung in Mecklenburg - Vorpommern, S. 275. 243 Vgl. Pohlmann, Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus, S. 103. 244 Vgl. ebd., S. 107. 245 Vgl. Groehler, Zur Genesis der Widerstandsforschung, S. 515. 246 Vgl. Reuter / Hansel, Das kurze Leben der VVN, S. 303. In den Richtlinien für die Anerkennung als VdN vom 10. 2. 1950 wurde unter § 1 Abs. 10 Personen anerkannt, „die sich gegen Zwangsmaßnahmen des Naziregimes wandten und deswegen mehr als 18 Monate in Haft waren, sofern sie auch nach 1945 eine einwandfreie antifaschistischdemokratische Haltung bewahrt haben.“ GBl. der DDR 1950, S. 92 f. 247 Vgl. Reuter / Hansel, Das kurze Leben der VVN, S. 302 f.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

Dresden wurde bis Frühjahr 1951 205 Zeugen Jehovas wegen „Zusammenarbeit mit den amerikanischen Imperialisten“ die Aberkennung ausgesprochen.248 Die Entfernung der ehemals und nun wieder Verfolgten aus der VVN und die Aberkennung deren OdF - Status’ hatte nicht nur mit dem Entzug von Vergünstigungen zu tun, weil sich „die ‚Zeugen Jehovas‘ [...] in ihrer gesamten Einstellung dieses ihnen zuteil gewordenen Entgegenkommens in keiner Weise Wert gezeigt“ hätten.249 Vielmehr ging es auch darum, eine unbequeme Vergangenheit zu tilgen, die bei der Binnen - und Außenlegitimierung der Verfolgung nur stören konnte. Um also Kritik am Vorgehen gegen „Opfer des Faschismus“ zu umgehen,250 mussten diese von Opfern zu ( Mit - )Tätern erklärt werden. Dabei reichte es nicht aus zu verkünden, dass die Handlungen der Zeugen Jehovas nach 1945 als „neo - faschistisch“ zu bewerten seien,251 dass sich der „profit und raubgierige Imperialismus“ mit den Zeugen Jehovas „eine ‚Fünfte Kolonne‘ nach faschistischem Muster“ aufbaue252 oder dass sich „Faschisten [...] der Bibelforschersekte zur Tarnung ihrer faschistischen, der Völker verständigung feindlichen Propaganda bedienten“.253 Es ging auch darum, ihr Verhalten vor 1945 zu diskreditieren. Schon im September hatte Stefan Heymann254 im „Neuen Deutschland“ festgestellt, dass die Zeugen Jehovas „niemals eine antifaschistische Organisation“ waren.255 Die Führung der Wachtturm - Gesellschaft habe die Gläubigen selbst „der Willkür der Nazis“ preisgegeben,256 ja zum Teil eigenhändig ausgeliefert.257 Das Verbot der Glaubensgemeinschaft 1933 beruhte vielmehr auf einem Missverständnis, die Führung habe sogar versucht, um die

248 Vgl. Arbeitsbericht für das Jahr 1950 der VVN Kreis Dresden vom 1. 3. 1951, S. 2 f. (SächsHStAD, SED - BPA Dresden, Nr. A /2000, unpaginiert ). 249 Vgl. Urteilsabschrift ( StKs. 14/50), LG Erfurt vom 14. 12. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 120–132, hier 122). 250 Diese Kritik oder Bedenken wurden vereinzelt auch geäußert. Vgl. Weber, Justiz und Diktatur, S. 298 und 300 f. 251 Vgl. GStA Thüringen an alle OStA im Lande vom 4. 9. 1950 ( BStU, ZA, HA XX/4, 294, Bl. 4). „Jehova oder Wallstreet“. In : Das Volk vom 8. 11. 1950 : „Bei einigen der Angeklagten besteht der sehr begründete Verdacht, dass sie unter der Maske der Sektiererei neofaschistische Ziele verfolgten.“ Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 421 ( FN 364). 252 Urteil des Landgerichts Potsdam (7 St Ks. 18/51) gegen Schulze u. a. vom 15. 3. 1951 (BArch, DP 1/ SE /1046/1, Bl. 516–522, hier 520). 253 Stellungnahme des Generalsekretariats der VVN vom 21. 9. 1949 ( BArch - SAPMO, DY 55/ V 278/2/14, unpaginiert ). 254 Stefan Heymann (1896–1967), KPD / SED - Funktionär, Häftling in den KZ Dachau, Buchenwald und Auschwitz, später im diplomatischen Dienst der DDR. 255 Stefan Heymann, Zeugen der Wall Street. In : Neues Deutschland vom 16. 9. 1949. 256 Vgl. Schilderung meines „legalen“ und „illegalen“ Kampfes gegen die Naziherrschaft, ohne Autor vom 15. 2. 1948 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 862, Bl. 45–53, BArch, DO 4, 734, unpaginiert ). Der Verfasser bezeichnet sich als Generalbevollmächtigter und Syndikus der WTG für 1933, damit dürfte das Schreiben von Hans Dollinger stammen. 257 Vgl. die Vorwürfe gegen die Zweigdiener Frost und Franke in Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 173–194. Siehe auch Hirch, Operativer Vorgang „Winter“, S. 584–592.

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„Gunst der Nazis“ zu werben.258 Unausgesprochen wurde die Verfolgung nach 1933 sogar für folgerichtig erklärt, da die Organisation „ein seit Jahrzehnten [!] ausgeklügeltes Spionagesystem“ wäre259 und „deshalb wurden die Mitglieder der Zeugen Jehovas auch [ von den Nationalsozialisten ] verfolgt, weil sie letzten Endes auch Spionage getrieben hatten“.260 Außerdem konnten aus dem Wissen um das wirkliche Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus und möglichen Spielräumen für das Handeln Einzelner gegenüber einer Diktatur politische wie auch propagandistische Gefahren erwachsen.261 Dass die Zeugen Jehovas angeblich seit „Jahrzehnten“ für den westlichen Imperialismus spionierten, wurde schon erwähnt. Auch die im Kriege weitgehend unzerstörten Gebäude der Wachtturm - Gesellschaft in Magdeburg mussten nun als Beweis für die langfristige Steuerung der Gemeinschaft durch die USA herhalten. Denn „dass diese Bauten inmitten einer zerbombten Stadt von jeglicher Zerstörung verschont blieben, [ sei ] nicht ver wunderlich, wenn man weiß, dass sie mit dem Gelde amerikanischer Monopolkapitalisten errichtet wurden und wenn man an den Zweck denkt, dem sie nach Beendigung des Krieges seit 1945 zu dienen bestimmt waren : Vorbereitung des Dritten Weltkrieges im Auftrag amerikanischer Imperialisten“.262 Die Verteilung von Care - Paketen innerhalb der Versammlungen der Glaubensgemeinschaft diente als Lohn für die Spionagetätigkeit. Diese finanziellen Aufwendungen würden verständlich, „wenn man sich vergegenwärtigt, dass die weit verzweigte Organisation ‚Zeugen Jehovas‘ für die Monopolkapitalherren und die USA und ihre Regierung in ihrem Spionagedienst eine willkommene Möglichkeit bietet, für verhältnismäßig billiges Geld bis in die intimsten Einzelheiten der Verhältnisse eines Landes einzudringen und darüber Nachrichten sicherstellen zu lassen.“ Dabei griff die SED auch die Mär von den jüdischen Finanziers der Bibelforscher ( nun schamhaft „amerikanisches Finanzkapital“ genannt ), wie sie vor und nach 1933 von Gegnern der Bibelforscherbewegung vorgebracht wurden, wieder auf.263 In diesem Klima wurden auch unsinnigste Behauptungen kritiklos aufgenommen. So stellte das Landgericht Magdeburg zwar richtiger weise fest, dass die Zeugen 258 Vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 158–170; vgl. auch Garbe, Gesellschaftliches Desinteresse, S. 307 f. 259 Vgl. Anklageschrift der MfS - Verwaltung Thüringen gegen Karl Foedisch und 15 Andere vor dem LG Erfurt vom 23. 10. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 46–70, hier 50). 260 Aus der mündlichen Urteilsverkündung vor dem Obersten Gericht der DDR vom 4. 10. 1950 durch die Vorsitzende Hilde Benjamin. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 338. Vgl. auch Bericht über den Prozess vor dem Obersten Gericht in der „Deutschen Woche“, Organ der NDPD, Nr. 42/1950, dass der Angeklagte Friedrich Adler „in diesem Sine seit mehr als 30 Jahren [ !] seine verbrecherische Tätigkeit ausgeübt [...] hat“ ( BStU, ZA, HA XX /4, 49, Bl. 31). 261 Vgl. Tenfelde, Soziale Grundlagen von Resistenz und Widerstand, S. 799. 262 „Von der USA - Agentenzentrale zum Kinderkrankenhaus“. In : Volksstimme vom 20. 11. 1950. Abgedruckt in Herkt, Der Münchner Platz, S. 130. 263 Vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 92 : „Es kommen jene in Frage, die hinter dem politischen Zionismus gestanden haben bzw. stehen, nämlich die Gruppe Rothschild, Hirsch, Warburg, Kuhn, Loeb und Rockefeller.“

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Jehovas jeder Gesellschaftsordnung fremd gegenüberstehen, „gleich ob sie vom Imperialismus bestimmt ist oder, wie heute, unsere Regierung der DDR eine friedliche Politik betreibt“. Dies jedoch würden sie im Auftrag der „amerikanischen Spionagezentrale“ tun.264 Gingen Gläubige auf’s Land, um unter der dortigen Bevölkerung zu missionieren, geschehe dies in der „verbrecherischen Absicht, Einfluss unter der Landbevölkerung zu gewinnen, sie antidemokratisch und staatsfeindlich zu beeinflussen und damit die Erreichung der Friedenshektarerträge unmöglich zu machen“.265 Setzten sich die verhafteten Gläubigen zum Unwillen der Behörden vor allem aus arbeitenden Volksschichten zusammen, konnte das nur Beleg dafür sein, „dass diese Agenten in allen Schichten der Bevölkerung Fuß zu fassen versuchten“.266 Mit dem Urteil vor dem Obersten Gericht der DDR im Oktober 1950 war der Startschuss für die weitere juristische Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR gegeben. Dieser galt für die verschiedenen regionalen Gerichte als Musterprozess. Schon einen Monat vor diesem Prozess hatten Justizminister Fechner und Generalstaatsanwalt Melsheimer in einer gemeinschaftlichen Rundverfügung mit Verweis auf die Schauprozesse gegen Rajk in Ungarn und Kostoff in Bulgarien auf die „Planmäßigkeit und Skrupellosigkeit des westlichen Imperialismus“ verwiesen, um als „Beweis für eine erhöhte Agenten - und Sabotagetätigkeit“ „auf die unheilvolle Tätigkeit der ‚Zeugen Jehovas‘ hinzuweisen“.267 Um zusätzlich sicher zu gehen, dass sich die verschiedenen Gerichte an die Vorgaben hielten, wurden in den Ländern noch einmal richtungsweisende Prozesse ( so für Sachsen )268 durchgeführt bzw. in jedem Landgerichtsbezirk im „ersten und bedeutendsten Verfahren“ durch den für politische Verfahren zuständigen Staatsanwalt die Anklage selbst vertreten, „um hinsichtlich der Strafanträge sowie aber auch der politischen Bedeutung der Sache Rechnung tragend, für die nachgeordneten Behörden richtungsweisend zu sein“.269 Anklage wie auch Gerichte richteten sich bei Strafanträgen und - auswurf sowie in den Anklagepunkten am Prozess vor dem Obersten Gericht aus. Da außer in Sachsen – hier „durfte“ die Staatsanwaltschaft den vom MfS vorgelegten Ermittlungsbericht 264 Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 491 f. 265 So das Landgericht Mühlhausen. Zit. in ebd., S. 448. 266 Gemeinschaftliche Rundverfügung des Ministers der Justiz und des Generalstaatsanwalts der DDR vom 14. 9.1950, betr. : Verstärkung des Kampfes gegen Verbrechen, die gegen die demokratische Gesetzlichkeit und die Grundlagen der antifaschistisch - demokratischen Ordnung in der DDR gerichtet sind ( SächsHStAD, LG Zwickau, Generalakten, 42, Bl. 123–126, hier 125). 267 Gemeinschaftliche Rundverfügung des Ministers der Justiz und des Generalstaatsanwalts der DDR vom 14. 9. 1950, betr. : Verstärkung des Kampfes gegen Verbrechen, die gegen die demokratische Gesetzlichkeit und die Grundlagen der antifaschistisch - demokratischen Ordnung in der DDR gerichtet sind ( SächsHStAD, LG Zwickau, Generalakten, 42, Bl. 123–126, hier 123). 268 Vgl. Erstbericht des GStA von Sachsen vom 2. 11. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 185/76, Bl. 58). 269 Bericht des GStA von Thüringen an den GStA der DDR vom 8. 11. 1950 (BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 12).

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selbständig in eine Anklageschrift übernehmen – in allen Ländern die Anklage vom ermittelnden Ministerium für Staatssicherheit erstellt wurde,270 und diese dann wiederum fast wortwörtlich Eingang in das Urteil fand, sind in den verschiedenen Verfahren kaum Besonderheiten zum zentralen Musterprozess zu finden. Bis Anfang 1951 wurden die in der Phase nach dem Verbot der Glaubensgemeinschaft Verhafteten abgeurteilt.271 Auch in den Ländern hatten die Prozesse gegen die Zeugen Jehovas im Umgang mit Andersdenkenden Vorbildcharakter. In Thüringen waren beispielsweise von 93 Angeklagten, die 1950 auf der Grundlage von Artikel 6 der DDR - Verfassung und der Kontrollratsdirektive 38 verurteilt wurden, nur 12 keine Angehörigen der Glaubensgemeinschaft.272 Die harte Bestrafung der verhafteten Zeugen Jehovas sollte auch eine abschreckende Wirkung auf die noch verbliebenen Gläubigen haben. Dazu war es aber angezeigt, vorrangig höhere Funktionäre der Glaubensgemeinschaft zu verurteilen, denen eine entsprechend schwere Straftat nachgewiesen werden konnte. Auch MfS - Vize Mielke kritisierte die unkontrollierten Verhaftungen durch die Kreisdienststellen des Ministeriums. Kuriere, Wanderprediger, Westdeutsche bzw. West - Berliner sowie ausgesprochene Spione und Agenten dürften jedoch weiterhin festgenommen werden. Aber diese Einschränkung war in der Praxis keine. Jeder Angehörige der Glaubensgemeinschaft war ein potentieller Straftäter, weil er Funktionen Verhafteter übernehmen oder sich und seine Gruppe mit Literatur aus West - Berlin versorgen konnte. Zwar verzeichnen die Berichte aus den Ländern durchaus einige Verfahrenseinstellungen „weil es sich um Mitläufer der Sekte handelt“,273 unter den Verurteilten finden sich jedoch nicht wenige einfache Mitglieder, denn „die Tätigkeit in der verbotenen Org[ anisation ] der Zeugen Jehovas stellt bereits durch die Zugehörigkeit [...] ein Verbrechen dar“.274 Gerade nach den ersten größeren Prozessen in den Ländern waren kaum noch höhere Funktionäre „greifbar“. Daher handelte es sich bei den Angeklagten zumeist um einfache Mitglieder ( Verkündiger ) oder solche mit niedrigen Funktionen, wie Buchstudiendiener oder Hilfsgruppendiener.275 Ein Bericht aus Mecklenburg zeigt den Rahmen der ausgeworfenen Strafen auf : „Das allgemeine Maß bei der Verurteilung war für ‚Gruppendiener‘ 10 Jahre und für ‚Verkündiger‘ etc. 8 Jahre Zuchthaus.“ Bei „nachgewiesener“ Spio270 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 515 f. 271 In Mecklenburg wurden 100 Personen verurteilt ( BStU, ZA, Allg. S. 186/76, Bl. 3), in Brandenburg 76 Personen ( BStU, ZA, Allg. S. 183/76, Bl. 3 f.), in Sachsen - Anhalt 120 Personen ( BStU, ZA, Allg. S. 184/76, Bl. 23 f.), in Sachsen 58 Personen ( BStU, ZA, Allg. S. 185/76, Bl. 93–100), in Thüringen 115 Personen ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 2–9). 272 Vgl. Petra Weber, Justiz und Diktatur, S. 302. 273 Bericht des GStA von Sachsen - Anhalt an den GStA der DDR vom 19. 3. 1951 ( BStU, ZA, Allg. S. 184/76, Bl. 23 f.). 274 Urteil des Bezirksgerichtes Suhl (1 Ks 102/54) vom 9. 6. 1954. 275 Vgl. Bericht des Aufsichtsführenden OStA nach Befehl 201 vom 2. 11. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 186/76, Bl. 7–12).

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nage, der Betreffende hatte Karten von dem von ihm zu betreuenden Gebiet angefertigt, erhöhte sich das Strafmaß auf 15 Jahre Zuchthaus.276 In Wirklichkeit waren bei Strafmaß Willkür Tür und Tore geöffnet. Stellte sich ein Angeklagter während des Prozesses als „unbelehrbarer Fanatiker“ heraus, war er „für unsere Gesellschaftsordnung [...] verloren“ und musste entsprechend höher bestraft werden. Auch die Ankündigung, sich nicht an das Tätigkeitsverbot halten zu wollen, galt als strafverschärfend, bedeute dies doch, dass die Angeklagten „im Falle ihrer Freilassung eine erhebliche Gefahr für die D.D.R. bilden“.277 Unterschiedlich bewerteten die Gerichte das Alter der Angeklagten. So bekam ein 73 - jähriger Gruppendiener „nur“ 6 Jahre Zuchthaus. Einen jugendlichen Verkündiger, für den die Staatsanwaltschaft 8 Jahre Zuchthaus beantragte, verurteilte das Landgericht Erfurt „nur“ zu 3 Jahren, weil dieser „noch verhältnismäßig jung ist und in erster Linie von seiner Mutter und Großmutter beeinflusst wurde“.278 Jugendliche Zeugen Jehovas konnten dagegen sogar noch schärfer behandelt werden, damit „diese Angeklagten nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe in solch einem Alter stehen, dass sie nicht mehr besonders gefährlich werden können“.279 Ähnlich konnte sich eine Verfolgung vor 1945 in unterschiedlicher Weise auswirken. So konnte einerseits KZ - Haft als strafmindernd ausgelegt werden,280 andererseits die Tatsache, dass ein Angeklagter „aus der ca. 9 Jahre langen Inhaftierung [ vor 1945] keine Lehren gezogen hat“ strafverschärfend wirken.281 Trotz aller Vorbereitungen und Anleitungen verliefen die Prozesse dennoch nicht ganz ohne Probleme. Vor allem ließ sich in den meisten Fällen selbst für die willfährigen DDR - Gerichte der Nachweis einer angeblichen Spionage nicht erbringen. So bedauerte der Generalstaatsanwalt von Sachsen - Anhalt, dass selbst bei Funktionären aus dem Bibelhaus in Magdeburg, obwohl diese „bestens in ihrer Funktionärstätigkeit über die Verbindungen der Sekte orientiert waren [...] kaum persönliche Schuldbeweise zu erbringen [ waren ], so dass lediglich unter Stützung auf das Berliner Urteil Schuldbeweise und Strafanträge

276 Ebd., Bl. 8. 277 Urteil des Landgerichts Erfurt ( St.Ks 14/50) vom 14. 12. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 120–132, hier 129). 278 Bericht des GStA von Thüringen an den GStA der DDR vom 10. 4. 1951 ( ebd., Bl. 18 f.). GStA Schmuhl kommentierte diese Entscheidung mit den Worten : „Selbst wenn man diese Umstände berücksichtigt, kann man keinesfalls davon sprechen, dass die ausgesprochene Freiheitsstrafe dem Unrechtsgehalt der Tat gerecht wird. Wollte man den Feinden unserer antifaschistisch - demokratischen Ordnung solche Zugeständnisse machen, wie sie das Gericht dem Angeklagten einräumte, so würde dadurch unsere friedliche Aufbauarbeit auf das Schwerste gefährdet.“ 279 Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 18. 12. 1950. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 492. Die Angeklagten waren 20 Jahre alt. 280 Vgl. Bericht des GStA von Sachsen - Anhalt an den GStA der DDR vom 13. 2. 1951 ( BStU, ZA, Allg. S. 184/76, Bl. 36 f.). 281 Urteil des Landgerichts Cottbus vom 15. 12. 1950. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 394.

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begründet wurden“.282 Auch das Landgericht Erfurt verneinte in seinem Musterprozess für das Land Thüringen, dass die Angeklagten der Spionage schuldig seien, da es „im Wesen jeder Spionageorganisation [ läge ], dass der Kreis der Wissenden klein gehalten wird, um Verrätereien und Aufdeckungen usw. zu verhindern“.283 Generalstaatsanwalt der DDR Melsheimer erwog das Urteil der Großen Strafkammer 201 des Landgerichts Erfurt kassieren zu lassen, da seiner Auffassung nach die Mitgliedschaft in einer als verbrecherisch eingestuften NS - Organisation und einer vermeintlichen Spionageorganisation gleichzusetzen seien. Jeder, der einer solchen Organisation angehöre oder auch nur in Verbindung stehe, könne als Spion vor Gericht gestellt werden.284 Obwohl die ostdeutsche Justiz 1950 durch Kaderaustausch, Säuberungen und Justizanleitung schon weitgehend reines Herrschaftsinstrument zur Diktaturdurchsetzung war, kam es in Einzelfällen285 zu Diskrepanzen zwischen den Anträgen der Staatsanwaltschaft und den Urteilen der Gerichte. Vor allem Richtern, die einer bürgerlichen Partei angehörten, wurde vorgeworfen, zu weich zu sein und Sympathie mit den angeklagten Personen zu Tage treten zu lassen.286 Im Juni 1951 sah sich das inzwischen zur Hauptabteilung Justiz degradierte ehemalige Justizministerium Sachsens veranlasst, ihre im vorigen Jahr herausgereichte Rundverfügung Nr. 141/50 „in Erinnerung zu rufen“. Die Verfügung kritisierte, dass „ein großer Teil der Richter bei der Strafzumessung von dem Grundsatz ausgeht, stets unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu bleiben“. Dies sei ein unhaltbarer Zustand, der nicht der Stellung der Staatsanwaltschaft in der DDR entspräche, da diese längst dazu übergegangen seien, auch diejenigen Umstände zu berücksichtigen, die für den Angeklagten sprächen. Ausdrücklich wurde auf „vorbildlich“ geführte Prozesse verwiesen, bei denen die Gerichte „entsprechend den sorgfältig abgewogenen Anträgen“ der Staatsanwaltschaft entschieden. Dies beachtend, wäre es „eine gesunde Entwicklung“ wenn es „bei einigen Gerichten zu einer Erhöhung des Strafmaßes führen“ würde.287 Einige wenige Richter und Staatsanwälte äußerten Bedenken wegen der Durchführung von Strafverfahren gegen die Zeugen Jehovas, vor allem wegen 282 Bericht des GStA von Sachsen - Anhalt an den GStA der DDR vom 13. 2. 1951 ( BStU, ZA, Allg. S. 184/76, Bl. 36 f.). 283 Urteil des Landgerichts Erfurt ( StKs 12/50) vom 3. 11. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 77–97, hier 90). 284 Vgl. Petra Weber, Justiz und Diktatur, S. 301. 285 MfS - geführte Verfahren endeten ungeachtet gelegentlicher Abweichungen vom avisierten Strafmaß durch die Gerichte fast immer mit einer Verurteilung des Delinquenten – im Jargon der DDR - Sicherheits - und Justizorgane wurden die Verfahren daher auch als „UnA ( Urteil nach Antrag ) – Verfahren“ bezeichnet. Es lassen sich bei den Verfahren gegen Zeugen Jehovas in der Anfangszeit sogar eine Anzahl von Prozessen feststellen, bei denen die Richter über die Anträge der Staatsanwaltschaft noch hinausgingen. 286 Vgl. Bericht des GStA von Thüringen an den GStA der DDR vom 27. 11. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 142); Petra Weber, Justiz und Diktatur, S. 301. 287 Rundverfügung Nr. 41/51 des Geschäftsbereichs des Ministerpräsidenten des Landes Sachsen, HA Justiz, an alle Gerichte und Staatsanwaltschaften, betr. Strafzumessung vom 14. 6.1951 ( SächsHStAD, StA beim OLG Dresden, 112, unpaginiert ).

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deren Verfolgung vor 1945.288 Andere versuchten, sich den anstehenden Prozessen zu entziehen. Dabei machten sie sich Zuständigkeitsprobleme zunutze. Eigentlich waren für Angeklagte nach der Kontrollratsdirektive 38 III A III nur die Kleinen Kammern zuständig, da es sich hier um „Belastete“ handelte und nicht um „Hauptverbrecher“, für die die Großen Kammern zuständig waren. Da aber gerade die letzteren mit „zuverlässigen“ Richtern mit Erfahrungen in politischen Prozessen besetzt waren, entschied man sich in Berlin, die Prozesse gegen die Angehörigen der Zeugen Jehovas hier durchzuführen.289 Verschiedene Vorsitzende Richter versuchten nun, die Zuständigkeit der Großen Strafkammern und damit die Eröffnung der Verfahren abzulehnen. Zumeist wurden die Richter gerügt und der Vorsitz angepassten Richtern übertragen.290 Besonders spektakulär war die Flucht des Beisitzers im 1. Strafsenat am Obersten Gericht der DDR, Alfred Trapp, im August 1952 in die Bundesrepublik. Trapp war an den großen Schauprozessen, unter anderen auch an dem gegen die Zeugen Jehovas, beteiligt. Trapp begründete seine Flucht mit den „barbarischen Strafen gegen die schon in der NS - Zeit grausam verfolgten ‚Zeugen Jehovas‘“.291 Der Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR im Oktober 1950 wurde als Schauprozess durchgeführt. 1949 meinte der „Monat“ zu dieser Form der Agitation : „Wenn die Verhandlung wie eine sorgfältig angelegte Theaterinszenierung292 in eine bestimmte Bahn gelenkt werden kann, wenn sie mit Hilfe von Film, Rundfunk und Presse auch den entlegensten Teilen des Landes zugänglich gemacht wird und das Nachrichtenmonopol der Regierung jeden Zweifel und jede Kritik an den Behauptungen der Anklage ausschaltet, dann bietet sich damit den Machthabern eine unvergleichliche Möglichkeit, das Volk von irgendetwas zu überzeugen.“293 Dieses Ziel konnten die ostdeutschen Machthaber mit den Prozessen gegen die Zeugen Jehovas jedoch nicht erreichen. Auch in den Ländern wurden öffentliche Prozesse durchgeführt, um der „werktätigen Bevölkerung“ die Gefährlichkeit der Religionsgemeinschaft und die Notwendigkeit des Vorgehens gegen diese vor Augen zu führen. Die Beteiligung der Öffentlichkeit meinte allerdings keinen freien Zugang zum Prozess. Die sächsische Hauptabteilung Justiz wies ausdrücklich auf die Probleme von „Strafverfahren in erweiterter Öffentlichkeit“ hin : „Besonders wichtig ist die Ausgabe von Besucherkarten. Sie muss so erfolgen, dass der Charakter der Öffentlichkeit gewahrt bleibt. Sie soll aber vorzugsweise an solche Personenkreise erfolgen, die durch die Straftaten besonders betroffen worden sind und in erster Linie an die Werktätigen, die ja doch die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Die Ausgabe erfolgt 288 So der Erfurter Oberstaatsanwalt Hermann Senge ( SED ). Vgl. Petra Weber, Justiz und Diktatur, S. 298. 289 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 361. 290 Beispiele : Landgericht Leipzig ( Vorsitzender Richter Achtelick ) ( BArch, DP 1, SE, 1045/2, Bl. 331 f.), Landgericht Mühlhausen ( Oberrichter Kleinspehn ) ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 25). 291 Fricke, DDR - Juristen im Konflikt, S. 217. 292 Der DCGG - Prozess fand im Dessauer Theater statt ! 293 „Wie führt man Schauprozesse ?“ In : Der Monat, 2 (1949) 14, S. 217–219.

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daher am besten durch den FDGB und die BGLen der Betriebe.“294 Trotz dieser kontrollierten Kartenausgabe gelang es Angehörigen der Zeugen Jehovas immer wieder, in großer Anzahl in den Verhandlungssaal zu gelangen und allein durch die Anwesenheit oder gar durch Beifallsäußerungen die Angeklagten zu bestärken.295 Diese Probleme wie auch das Verhalten der Angeklagten vor Gericht, die in den seltensten Fällen ihre „Schuld“ eingestehen wollten, veranlassten die verschiedenen Landesjustizbehörden auf Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu drängen, gerade weil die Angeklagten versuchten, ihre „religiöse Tarnung“ aufrechtzuerhalten. Dies „hätte [...] eine etwa vorhandene gefühlsmäßige Einstellung bei den Zuhörern, die die Grundsätze demokratischer Wachsamkeit noch nicht genügend beherrschen und die Durchtriebenheit des politischen Gegners noch nicht zu erkennen vermögen, hervorgerufen“.296 Den erhofften Propagandaeffekt erzielten die Prozesse nicht. Zu offensichtlich war die Präsentation von Sündenböcken, zu abstrus waren die Vorwürfe, die den Angehörigen dieser kleinen Glaubensgemeinschaft unterstellt wurden. Ja, die offen repressiven Maßnahmen der Justiz entfremdeten die Bevölkerung eher vom politischen System. Daher wurden zukünftig nur noch selten Prozesse vor erweiterter Öffentlichkeit in Szene gesetzt.297 Ein Grund für den fehlgeschlagenen Propagandaerfolg war auch die „falsche“ soziale Zusammensetzung der Angeklagten. Diese kamen aus der „werktätigen Bevölkerung“, waren zumeist Arbeiter oder Handwerker. So stellte der sächsische Generalstaatsanwalt fest : „Bedauerlicher weise stellte sich bei der Vernehmung zur Person heraus, dass sämtliche Angeklagten, ohne Ausnahme, Kinder von Handarbeitern sind, und darüber hinaus die Angeklagten selbst ebenfalls fast ausnahmslos als Handarbeiter tätig sind.“298 Auch der Vorwurf, dass Zeugen Jehovas „gesellschaftsfeindlich und asozial“ seien, wenn sie wegen ihrer Missionsanstrengungen nicht voll beschäftigt waren,299 kann anhand von Prämien für gute Arbeitsleistungen300 oder Arbeitszeugnissen, in denen die erzwungene

294 Rundverfügung Nr. 25/51 – Allgemeines Strafrecht, betr. : Aufgaben der Richter und Staatsanwälte bei der Durchführung von Strafverfahren in erweiterter Öffentlichkeit (SächsHStAD, StA beim OLG Dresden, 112, unpaginiert ). 295 Vgl. Sitzungsbericht des GStA von Sachsen an das MdJ der DDR vom 5. 12. 1950 (BArch, DP 1, SE, 1045/2, Bl. 813). Der Vorsitzende Richter wertete „diesen spontanen Beifallsausbruch“ als „besten Beweis für die Unbelehrbarkeit und Gefährlichkeit dieser Sekte“. 296 Zwischenbericht des Aufsichtführenden Staatsanwalts nach Befehl 201 beim Landgericht Schwerin vom 2. 11. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 186/76, Bl. 7–12, hier 10). 297 Vgl. Petra Weber, Justiz und Diktatur, S. 249. 298 Sitzungsbericht der Generalstaatsanwaltschaft Dresden vom 27. 11. 1950 über die Hauptverhandlung gegen Gottfried Klenke und 21 Andere vor dem Landgericht Dresden am 23.–25. 11. 1950 ( BArch, DP 1, SE, 1045/2, Bl. 859–867, hier 859). 299 Urteil des Landgerichts Erfurt ( StKs. 14/50) vom 14. 12. 1950 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 120–132). 300 Urteil des Bezirksgerichts Dresden gegen Alwin Engel und 2 Andere vom 30. 10. 1957 (1a Ks 84/57).

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Entlassung von „fleißigen und gewissenhaften“ Beschäftigten bedauert wird,301 widerlegt werden. Die in dieser ersten Phase des juristischen Vorgehens gegen Angehörige der Glaubensgemeinschaft verhängten Zuchthausstrafen sollten „alle die, die den Zeugen Jehovas noch folgen wollen, eindringlich warnen, und zwar sowohl die, die ihnen bereits gefolgt sind, wie auch die, die in der Illegalität weiterarbeiten wollen“.302 Der Thüringische Generalstaatsanwalt hoffte, dass die ausgesprochenen Strafen ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlen würden. Diese Annahme sah er darin bestätigt, dass Anfang des Jahres 1951 keine weiteren Fälle anhängig wurden.303 Die Zeugen Jehovas dachten jedoch nicht daran, sich dem Verbot zu unterwerfen. Dies hätten die ostdeutschen Machthaber wissen können. Die Ankündigung, sich dem Verbot nicht zu unterwerfen, war in den verschiedenen Staatssicherheit - und Justizberichten thematisiert worden. In den Reihen von Partei und Verwaltung waren genug „Opfer des Faschismus“, die aus eigener Anschauung die Renitenz der Gläubigen hätten beschreiben können und dies zum Teil auch getan haben.304 Durch die Verschärfung des Verhältnisses zu den DDR Machthabern, aber auch durch das Verbot der Religionsgemeinschaft in Polen im Sommer 1950 gewarnt, bereiteten sich die Zeugen Jehovas langfristig auf eine mögliche illegale Tätigkeit vor.305 Kurz nach dem Verbot fand in Westberlin eine Besprechung wichtiger Funktionäre statt. Hier wurde eine den Bedingungen angepasste Organisationsstruktur beschlossen. Die einzelnen Versammlungen sollten vollkommen selbständig sein und sich zur besseren Tarnung in kleine Studiengruppen, die sich zu Hause oder in geeigneten Verstecken trafen, aufgeteilt werden. Zwischen den einzelnen Versammlungen, ja sogar zwischen den Studiengruppen wurde jeder Kontakt vermieden, um niemanden zu gefährden. Die Versammlungen waren auch für die Beschaffung der Studienliteratur aus Westberlin und die Überbringung der Monatsberichte über den Predigtdienst und die gesammelten Spendengelder306 zuständig. Zu diesem Zweck ent301 Beispielsweise Zeugnis der Wittenberger Bekleidungs - Werkstätten für Ilse Reetz vom 3. 6. 1953 ( WTA, O - Dok 03/06/53). 302 Urteil des Landgerichts Magdeburg (11 St.Ks. 4/50) vom 23. 1. 1951 gegen Liebetrau u. a. ( BArch, DP 1, SE, 1045/2, Bl. 426–434, hier 434). 303 GStA Thüringen an Melsheimer, statistische Angaben über Verfahren in Thüringen bis 16. 3. 1951 ( BStU, ZA, Allg. S. 182/76, Bl. 2–9). 304 Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung der SED - Landesleitung Sachsen am 7. 6. 1946. Die Leiterin der Frauenabteilung des Landesvorstands der SED Sachsen, Gertrud Glöckner, meinte : „Eine administrative Maßnahme zur Frage der Bibelforscher würde gerade das Gegenteil erzielen. In der Nazizeit war niemand so stur wie die Bibelforscher.“ (SächsHStAD, SED - BPA Dresden, A /778, Bl. 76–98, hier 94 f.). Konsequenzen hatte dieser realistische Gedanke keine. 305 Vgl. Abschrift aus einem Notizbuch mit Hinweisen zur illegalen Arbeit ( BStU, ZA, HA XX /4, 825, Bl. 173–175). 306 Für die sogenannte „Gute - Hoffnung - Kasse“ wurde in den Versammlungen gesammelt. Die Beträge gingen zum größten Teil an das Westberliner ( später Wiesbadener ) Büro. Aus dieser Kasse wurden die Ausgaben für die in Illegalität lebenden Diener, für die

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stand ein Kuriersystem. Die Rolle der Kreisdiener wurde in der Besprechung besonders her vorgehoben. Diese sollten die verschiedenen Versammlungen ihres Einzugsbereiches mindestens zweimal im Jahr besuchen. Dabei hatten sie die Aufgabe, die Versammlungs - und Studiengruppendiener anzuleiten, besondere Ausweise für die Leiter der Versammlungen, auch Gruppendiener genannt, und die Kuriere auszugeben.307 Wie aus Ermittlungsberichten des MfS hervorgeht, lebten Kreisdiener mitunter in der Illegalität. Sie hatten keinen festen Wohnsitz, sondern pendelten stetig zwischen Westberlin und den einzelnen Versammlungen. Eine wichtige Rolle für die weitere illegale Arbeit spielte die besondere Stellung Westberlins als „freie Insel“ mitten in der DDR. Das mit der Koordinierung der Arbeit in der DDR beauftragte Büro hatte hier seinen Sitz. Es besaß auch als Anlaufpunkt für die Kuriere der einzelnen Versammlungen Bedeutung. Westberlin wurde, wie schon seit 1949 erprobt, Ort der für die DDR- Gläubigen organisierten Kongresse. Die Möglichkeit, diese Veranstaltungen durchzuführen und zu besuchen, war für das Glaubensleben der Zeugen Jehovas im östlichen Teil Deutschlands äußerst bedeutsam, gab es hier doch die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu treffen und Erfahrungen auszutauschen, frei den eigenen Glauben zu bekennen und, was besonders wichtig war, sich mit Literatur einzudecken. Schon im September 1950 erreichten die Behörden die ersten Meldungen über illegale Versammlungen der Zeugen Jehovas.308 Die Hoffnungen der Justiz, dass mit der Welle von Prozessen gegen Gläubige, die sie bis Mitte 1951 beschäftigte, der Komplex abgeschlossen werden könnte, erfüllten sich nicht. Im März 1951 musste der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg nach Berlin melden, dass nach Bericht der Verwaltung für Staatssicherheit wegen der illegalen Arbeit „weitere Verhaftungen vorgenommen [ wurden ], so dass demnächst weitere Verfahren anhängig werden“.309 Der Frust und das Unverständnis über die unerwartete Renitenz der Gläubigen spricht aus dem Bericht des Generalinspekteurs der Volkspolizei, Seifert : „Übereinstimmend kommt in den Berichten der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei zum Ausdruck, dass die Anhänger der ‚Zeugen Jehovas‘ in ihrem Fanatismus, aufgestachelt durch ihre Auftraggeber, alles auf eine Karte setzen. Es kümmert sie weder, dass sie sich persönlich ins Unglück bringen. Bei Befragen, ob sie keine Befürchtungen hätten, wenn sie für die verbotene Sekte der ‚Zeugen Jehovas‘ öffentlich tätig Kuriere, aber auch für Familien von Inhaftierten bestritten. Die DDR - Justiz ahndete diese Praxis als Devisenvergehen, Zahlenangaben über diese Verfahren liegen nach Auskunft der ZJ allerdings nicht vor. Vgl. auch Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 263– 265. 307 Vgl. Ausführungen über die Sekte „Zeugen Jehovas“ vom 10. 2. 1957 ( BStU, Ast. Dresden, AS 16, 17, 18/60, Bl. 128–133, hier 131). 308 Vgl. Chronikbericht Nr. 17 des sächsischen Amtes für Information vom 27. 9. 1950 (SächsHStAD, LRS, Ministerpräsident, Amt für Information, Informationskontrolle, Nr. 4056, unpaginiert ). 309 Bericht des GStA von Brandenburg an den GStA der DDR vom 18. 3. 1951 ( BStU, ZA, Allg. S. 183/76, Bl. 3–9).

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sind, wird in den meisten Fällen zur Antwort gegeben, dass sie im Auftrage Gottes handeln und dass sie ja nichts zu verlieren hätten. Der Glaube an ihre ‚Berufung‘ stände ihnen höher als ihre Familie.“310 Obwohl sich die Zeugen Jehovas von anderen Gemeinschaften strikt getrennt hielten, gerieten diese nach deren Verbot unter Generalverdacht. Im Falle der Zeugen Jehovas habe sich gezeigt, wie geschickt sich der westliche Imperialismus „der Sekten als billiges und besonders geeignetes Werkzeug“ bediene. Beachtung müssten also diejenigen „Sekten“ finden, deren Leitung sich im westlichen Ausland befände. Als Gefahr sah es die ostdeutsche Innenbehörde, dass „die Taktik der nunmehr verbotenen ‚Jehovas Zeugen‘ [...] zweifellos dahin [gehe ], ihre Mitglieder in andere Sekten einzubauen. Die beste Möglichkeit besteht bei denen, die gleiche oder ähnliche Tendenzen in ihrer Lehre haben, selbst aus der ehemaligen ‚Vereinigung ernster Bibelforscher‘ hervorgegangen sind oder in irgendeiner anderen Weise durch den anglo - amerikanischen Imperialismus beeinflusst und gelenkt werden können.“ Entsprechend wurden Abspaltungen von den Zeugen Jehovas, wie die „Allgemeine Bibellehr - Vereinigung“ oder „Freie Bibelgemeinden“ argwöhnisch über wacht. Auch Gemeinschaften, die missionarisch aktiv waren, wie die Neuapostolische Kirche,311 oder in gewisser Weise an der Naher wartung festhielten, wie die Siebenten - Tags Adventisten,312 wurde unterstellt, als Unterschlupf für die Zeugen Jehovas zu dienen. Dieser Vorwurf unterstreicht die damalige Unwissenheit in den Repressionsorganen. Wie später zu zeigen sein wird, versuchte das MfS ab Ende der fünfziger Jahre vergeblich, gerade einen solchen Unterschlupf zu schaffen, um Zeugen Jehovas eine religiöse Heimat jenseits der bekämpften illegalen Organisation zu bieten.313 Während die Angehörigen der Zeugen Jehovas sich im organisatorischen Aufbau oder auch in der Art der Verkündigung den neuen Gegebenheiten anpassten, blieben sie in Situationen, in denen von außen ein gewisser Entscheidungs310 Bericht des Generalinspekteurs der VP Seifert vom 18.12.53 (BArch, DO 1, 11.0 HVDVP, 867, Bl. 400–402, hier 401). Diese Haltung nahmen Angehörige anderer 1951 verbotener Gemeinschaften, wie der „Kirche des Reiches Gottes“ („Tendenzen der Zeugen Jehovas“), der „Christian Science“ ( Verstoß gegen das Heilpraktikergesetz von 1939) oder des „Christliche Gemeinschaftsverband der Deutschen Pfingstbewegung“ („Unterstützung von Rassen - und Völkerhass“) nicht ein. Übereinstimmend wird berichtet, dass „andere verbotene Religionsgemeinschaften nicht aktiv“ seien ( BArch, DO 1, 11.0 HVDVP, 860, Bl. 27 und 61 bzw. BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/65, Bl. 8–18). 311 Vgl. Tätigkeitsbericht der Religionsgemeinschaften und Sekten, o. D. ( ca. 1951) : „Die N.A.K. hat nach dem Verbot der ‚Zeugen Jehovas‘ sowie der ‚Kirche des Reiches Gottes‘ an Mitgliederzahl im gesamten Land Sachsen - Anhalt stark zugenommen. Es wird vermutet, dass ehm. Anhänger von verbotenen Religionsgemeinschaften dort Unterschlupf gefunden haben.“ ( BArch, DO 1, 11.0 HVDVP, 864, Bl. 28–32, hier 30). 312 Vgl. Bericht der Bezirksleitung der SED Leipzig, Abt. Staatliche Organe, an das ZK der SED, Abt. Staatliche Organe / Sektor Kirchen, vom 8. 1. 1954, betr. Arbeit der Kirche : „Besondere Aufmerksamkeit wird der Gemeinschaft der STA geschenkt, da vermutet werden muss, dass Anhänger der verbotenen ‚ZJ‘ dort untergeschlüpft sind und ihre Tätigkeit dort fortsetzen“ ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/51, Bl. 251–255). 313 Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 495.

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druck auferlegt wurde, konsequent. Derartige Situationen waren neben Verhören bei der Polizei oder der Staatssicherheit vor allem die Wahlen und Volksabstimmungen oder - befragungen. Angesichts der überwachten Stimmabgabe und - auszählung bedeutete die weitgehend konsequente Weigerung, sich zu beteiligen, eine Preisgabe der religiösen Gesinnung und einen Verlust an schützender Anonymität. Entsprechend berichten die Wahlanalysen der SED über Nein - Stimmen und Abstimmungsver weigerer anlässlich der „Volksbefragung gegen die Remilitarisierung Deutschlands und für den Abschluss eines Friedensvertrages“ 1951 neben solchen „Feindgruppen“ wie Sozialdemokraten, Großbauern oder reaktionären Pfarrern immer wieder vom starken Einfluss der Zeugen Jehovas auf das Abstimmungsergebnis.314 Auch für das schlechte Ergebnis der „Volksbefragung für einen Friedensvertrag und Abzug der Besatzungstruppen oder für die EVG, Generalvertrag und Belassung der Besatzungstruppen auf 50 Jahre“ 1954 machten die Behörden Zeugen Jehovas für das schlechte Wahlergebnis verantwortlich.315 Ziel der Bearbeitung der illegalen Organisation der Zeugen Jehovas durch das MfS in den fünfziger Jahren war deren Zerschlagung. Nachdem die Verhaftungswelle im vierten Quartal 1950 nicht zum gewünschten Erfolg führte, versuchte MfS - Vize Mielke die Verhaftungspraxis zu koordinieren. Es sollte nicht mehr wahllos verhaftet werden, sondern „nur noch“ Kuriere, Wanderprediger, Westdeutsche bzw. West - Berliner sowie ausgesprochene Spione und Agenten sollten unter die von den Kreisdienststellen zu Verhaftenden gehören.316 Dieser Befehl zeigt die für die DDR typischen Widersprüche auf. Einerseits sollte die Zahl der Festnahmen beschränkt werden, andererseits konnte unter die dargelegten Kriterien jeder aktive Zeuge Jehovas fallen. Dennoch versuchte das MfS aus der Annahme heraus, dass mit der Ausschaltung des Funktionärskörpers auch „die gesamte örtliche Untergrundtätigkeit zum Erliegen“ kommt, der Kreis - und der Gruppendiener habhaft zu werden. Mit der Aktion „Dienerschaft“ im September zielte man vor allem auf die Gruppendiener.317 Der Plan, der hinter dem seit 1951 laufenden Gruppenvorgang „Gesindel“ stand, war es, in das Büro der Wachtturm - Gesellschaft in der WestBerliner Brunnenstraße einzudringen und dort die Kartei über die Funktionäre in der DDR zu entwenden. Dies sollte dabei helfen, die illegalen Gruppen zu zerschlagen. Gleichzeitig war vorgesehen, „den Leiter des Büros d[ er ] Sekte ZJ

314 Vgl. Analysen der Neinstimmen zur Volksbefragung 1951 ( SächsHStAD, SED - BPA Dresden, Nr. A /917, Bl. 24–155). Zum Abstimmungsverhalten von ZJ vgl. auch Informationsbericht des Amts für Information Nr. 334/51 vom 2. 6. 1951 bzw. Schreiben an das Amt für Information Berlin vom 5. 6. 1951 ( SächsHStAD, LRS, Ministerpräsident, Nr. 4044, unpaginiert ). 315 Vgl. Analyse über das Ergebnis der Volksbefragung vom 16. 7. 1954 ( StAD, Stadtverordnetenversammlung, Sekretariat d. OB, Nr. 400, unpaginiert ). 316 Dienstanweisung Mielkes DA 1/51/ V vom 9. 1. 1951. Abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen und Katholiken, S. 150 f. ( Dok. 14). 317 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 526.

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Wauer nach gut vorbereitetem Plan nach dem demokratischen Sektor Berlins zu bringen“.318 Zur Realisierung der Ziele „bearbeitete“ man die Zeugen Jehovas seit 1951 im Referat D der für Oppositionsgruppen zuständigen Abteilung V. 1952 wurden die Sachgebiete Kirchen, Sekten, aber auch CDU und LDPD, die bis dahin in den Zuständigkeitsbereich der Abteilung VI fielen, ebenfalls dieser Abteilung unterstellt.319 Mit der Zusammenlegung der bisherigen Abteilungen V und VI entstand 1953 die Hauptabteilung V ( HA V ). Im Dezember 1954 ordnete der Chef des inzwischen zum Staatssekretariat degradierten Staatssicherheitsdienstes ( SfS ) Wollweber die Errichtung einer eigenen Kirchenabteilung aus dem ehemaligen Referat Kirchen und Sekten an, da „in vielen Fällen, besonders in letzter Zeit, die Agentenzentralen und Geheimdienste die Kirchen und Sekten für ihre verbrecherische Tätigkeit gegen die DDR“ benutzten und die operative Arbeit der Organe des Staatssekretariats für Staatssicherheit zur Durchkreuzung der Feindtätigkeit der Kirchen und Sekten noch unzulänglich wäre.320 Innerhalb dieser Abteilung HA V /4 bearbeitete das Referat Sekten zukünftig die verbotenen Zeugen Jehovas. Nach Aussagen ehemaliger MfS - Mitarbeiter soll bis Mitte der fünfziger Jahre kaum Personal vorhanden gewesen sein, „um sich intensiv um die Kirchen zu kümmern“. Das Hauptaugenmerk des MfS wären „schwerpunktmäßig auf die Sekte ‚Zeugen Jehovas‘ konzentriert“ gewesen.321 Auch der Stellenplan der Abteilung V /4 belegt diese Prioritätensetzung. Für die Evangelische wie auch für die Katholische Kirche waren jeweils 10 Planstellen und für die „Sekten“ nur 5 Stellen vorgesehen, doch nur im letzteren Referat war das Plansoll auch erfüllt.322 Besonders die Kongresse in Westberlin waren ein beliebtes Erkundungsziel der „Tschekisten“, da festgestellt wurde, dass danach eine erhöhte illegale Tätigkeit zu verzeichnen war.323 Dabei sollten von den eingesetzten Agenten der Kongressablauf, Besucher aus der DDR, geheime Besprechungen von Funktionären und eventuelle Quartiere im Ostsektor Berlins ausspioniert werden.324 Bei der Feststellung nach Berlin fahrender Personen, konnte sich das MfS aber auch auf 318 Handschriftliche Zusammenfassung des Gruppenvorgangs „Gesindel“, Reg. Nr. des Vorgangs 64/51 (5. 9.1951–17.10.1955), vom 26. 7. 1989 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 75). Nach vier Jahren vergeblicher Planung wurde der Gruppenvorgang eingestellt. 319 Vgl. Dienstanweisung Nr. 6/52V / E vom 17. 9. 1952. Abgedruckt in Besier / Wolf, Pfarrer, Christen, Katholiken, S. 156–163 ( Dok. 18). 320 Befehl Wollwebers vom 21. 12. 1954. Abgedruckt in ebd., S. 189–192 ( Dok. 25). Zur Entwicklung der kirchenpolitischen Abteilung des MfS vgl. Vollnhals, Die kirchenpolitische Abteilung, S. 81–98. 321 Dietrich Anders / Wolfgang Schmidt / Manfred Terpe, Das politische Wirken der Kirchen in der DDR und die Reaktionen des MfS, URL : http ://www.mfs - insider.de / Abhandlungen / Kirche.htm (5. 5. 2004), gekürzte Fassung in Deutschland Archiv, 27 (1994) 4, S. 374–391. 322 Vgl. Vollnhals, Die kirchenpolitische Abteilung (1997), S. 6. 323 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 564. 324 Vgl. Dienstanweisung Nr. 3/51/ V vom 8. 2. 1951. Abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen, Katholiken, S. 152 f. ( Dok. 16).

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die „demokratischen Massenorganisationen“ stützen. Der FDGB über wachte z. B. die Urlaubstermine verdächtiger Zeugen Jehovas, um zu verhindern, dass diese Kongresse besuchten.325 Mit der 2. SED - Parteikonferenz vom Juli 1952 erreichte der Stalinisierungsprozess in der DDR seinen Höhepunkt. Unter der Parole des „verschärften Klassenkampfes“ richtete sich der Verfolgungsdruck der staatlichen Behörden in der Folgezeit gegen alle Bevölkerungsgruppen, die dem forcierten Transformationskurs im Wege standen. Dazu zählten neben Mitgliedern der Jungen Gemeinde, Groß - und Kleinbauern, Mittelständlern sowie Grundstücksbesitzern auch all jenen Personen, die in den Untergrund gegangen waren, um die SED - Diktatur mit illegalen, teilweise auch gewaltsamen Aktionen zu bekämpfen. Die Angehörigen der Zeugen Jehovas wurden ebenso zu dieser Gruppe gezählt.326 Für das MfS, welches die Aufgabe hatte, alle „Feinde der Arbeiter - und Bauernmacht“ aufzuspüren, zu zermürben und auszuschalten, war die Ermittlungsarbeit im Wesentlichen auf die „Erarbeitung“ von Geständnissen gerichtet. Unter enger Anleitung der sowjetischen Instrukteure zielten sowohl die Unterbringung als auch die physische und psychische Behandlung der Häftlinge darauf ab, ein Klima des Terrors, der Angst und der Willkür zu schaffen, um die Gefangenen im Hinblick auf den bevorstehenden Strafprozess vor einem der politischen Strafsenate der DDR - Gerichte gefügig zu machen und ihre uneingeschränkte Kooperation zu erzwingen. Zu den probaten Methoden der Arbeit des Staatssicherheitsdienstes in den fünfziger Jahren gehörte ein umfangreiches Arsenal an körperlichen und psychischen Grausamkeiten, das von tatsächlichen Schlägen über die Androhung des Einsatzes von Polizeihunden bis zur Drohung mit einer standrechtlichen Erschießung reichen konnte. Mangelndes Fachwissen, das Vorbild der sowjetischen „Berater“, aber auch die Forderung nach „klassenbewusster Härte“ trugen dazu bei, „sich auf primitive geheimpolizeiliche Methoden, wie Verhaftung, Geständniserpressung und Gewalt zu konzentrieren“.327 Nach dem Aufstand der ostdeutschen Bevölkerung um den 17. Juni 1953 kam es zu einer weiteren Verschärfung der Ermittlungstätigkeit des MfS. Der neue Staatssekretär für Staatssicherheit Ernst Wollweber orientierte seine Mitarbeiter auf „konzentrierte offensive Schläge gegen die feindlichen Organisationen“. Für eine Verhaftung genüge ein Anfangsverdacht, der dann bei den ersten Verneh-

325 Dieses geheime Schreiben an verschiedene Betriebe wurde von ZJ in einem Betrieb unbeobachtet gelesen und nach Westberlin übermittelt. ( Kopie im Archiv des Verfassers, freundlicherweise vom Informationsdienst der ZJ, Bereich Geschichtsarchive zur Verfügung gestellt ). 326 Im „Bericht über die Verschärfung des Klassenkampfes nach der II. Parteikonferenz“ vom 1. 2. 1953 vermeldete das MfS stolz, dass zwischen August und Dezember 1952 über 175 „Sektenangehörige“ als Agenten festgenommen wurden. Vgl. Wolf, Die „Bearbeitung“ der Kirchen, S. 180 f. 327 Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 139. Vgl. auch Engelmann, Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit, S. 57.

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mungen erhärtet werden sollte. Im SfS sei kein Platz für „knieweiche Pazifisten und Mondgucker“.328 Konnte vor dem Verbot durch Beobachtung und Überwachung der legalen Veranstaltungen der Zeugen Jehovas festgestellt werden, wer wichtige Funktionen innerhalb der Glaubensgemeinschaft innehatte und was dort besprochen wurde, war dies für MfS und Polizei nach dem 31. August 1950 nicht mehr möglich. Informanten in die ideologisch relativ abgeschlossene Glaubensgemeinschaft einzuführen, erwies sich wegen der daraus resultierenden persönlichen Konsequenzen in Lebensführung und Glaubenspraxis als äußerst schwierig. Um wirklich über Organisationsstrukturen und - pläne informiert zu sein, musste die Staatssicherheit auf Informanten aus den Reihen der Zeugen Jehovas zurückgreifen. Das Hauptrekrutierungsfeld waren Verhaftete, denen man entweder Haftverschonung oder - minderung versprach oder die aus eigener Überlegung bzw. ideologischer Bearbeitung an ihrem Glauben zu zweifeln begannen. Dennoch wurden 1955 nur etwa 20 Prozent aller Verhaftungen des MfS aufgrund von Berichten von „Geheimen Mitarbeitern“ ( später IM ) vollzogen. Weitaus wichtiger in dieser Phase waren mit 30 bis 50 Prozent spontane Hinweise aus der Bevölkerung.329 Dies konnte durch Denunziation aus dem Verwandtenkreis geschehen330 oder auch durch Hinweise aus der staatsloyalen Bevölkerung. Besonders häufig wurden missionierende Zeugen Jehovas in den Wohnungen von Angehörigen der SED oder der Volkspolizei festgehalten und dann verhaftet.331 Auch der Bezirksvorstand der CDU Halle fühlte sich berufen, über illegale Aktivitäten der Zeugen Jehovas zu berichten.332 Obwohl die Verfahren gegen Angehörige der Glaubensgemeinschaft nach 1951 im Vergleich zur übrigen Bevölkerung an Bedeutung verloren und nur noch selten statistisch ausgewiesen wurden,333 gab es bis 1954 pro Jahr weit über 300 Verurteilungen.334 Neben der vom Obersten Gericht vorgegebenen Urteilsbegründung fand nun vor allem illegale Betätigung für die Zeugen Jehovas Eingang in die Urteile. Aus den Urteilsbegründung spricht die Erkenntnis des Scheiterns, wenn z. B. das Bezirksgericht Suhl klagt, „dass das Oberste Gericht damals lediglich die Spitzen dieser Org[ anisation ] bestrafte, während alle anderen Anhänger straffrei blieben [ sic !]“. Inzwischen hätten die Angeklagten jedoch „aus eigenem Antrieb ihre hetzerische Tätigkeit gegen unsere Ordnung fortgesetzt“. Gerade die Zuwiderhandlung gegen das Verbot – „Durch328 Zit. aus Referaten von Wollweber und Hermann Matern auf der Zentralen Dienstkonferenz am 11. und 12. 11. 1953 in Schumann, Parteierziehung in der Geheimpolizei, S. 37 f. 329 Vgl. Gieseke, Zur Geschichte der DDR - Staatssicherheit, S. 323. 330 Vgl. Beispiel in Dirksen, Keine Gnade, S. 523. 331 Vgl. ebd., S. 564. Vgl. auch Bericht des Generalinspekteurs der VP Seifert vom 18. 12. 1953 ( BArch, DO 1, 11.0 HVDVP, 867, Bl. 400–402). 332 Bericht des BV Halle CDU an Parteileitung in Berlin vom 23. 12. 1955 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/250, Bl. 272). 333 Vgl. Petra Weber, Justiz und Diktatur, S. 300. 334 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 868.

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kreuzen von Anordnungen unserer Regierung, die im Interesse der Werktätigen liegen“ – beweise die „besondere Gesellschaftsgefährlichkeit“.335 Obwohl 1954 die Richterin am Obersten Gericht, Helene Kleine, und der Referent des Justizministers, Walter Krutzsch, in der „Neuen Justiz“ erneut feststellten, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer „verbrecherischen Organisation“ einen Angriff auf die sozialistische Ordnung darstelle und somit strafbar sei,336 meinten nun selbst die Staatsanwaltschaften, dass die Zeugen Jehovas zwar in der ersten Zeit der Illegalität Spionagedienste für westliche Mächte ausführten, sich nun aber auf die ideologische Beeinflussung der ehrlichen und friedliebenden Bevölkerung beschränkten, um dadurch den Plänen der Kriegstreiber Vorschub zu leisten.337 Hintergrund dieser neuen Sichtweise war das – natürlich nicht offen geäußerte – Eingeständnis, dass seit 1950 kein Zeuge Jehovas der Spionage überführt werden konnte.338 Mehr und mehr gelangten jedoch die mit der „Bearbeitung“ der Zeugen Jehovas betrauten Mitarbeiter und Partei und MfS zu der Erkenntnis, dass mit der Verhaftung von Gläubigen dem Problem der illegalen Arbeit nicht beizukommen wäre, ja das dies eher zu einem verstärkten Zusammenhalt unter den Gläubigen führte. Einerseits wurden die Funktionen Verhafteter immer aufs Neue besetzt. Andererseits brachte die Bevölkerung den Verhaftungen „kein Verständnis entgegen [...], da die Festgenommenen als ‚ehrliche, einfache‘ Menschen diesen Bevölkerungsschichten bekannt waren“.339 Schon 1953 hatte die Bezirksver waltung Leipzig des MfS darauf hingewiesen, dass Verhaftungen nur kurzzeitig zu Einschränkungen der illegalen Arbeit führten und daher ein Versuch gestartet werden sollte, die Zeugen Jehovas den westlichen Einflüssen zu entziehen.340 Auch die SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt – in diesem Bezirk konzentrierten sich besonders viele Gläubige – meinte im selben Jahr, es sei „unmöglich, jeden Anhänger dieser Sekte, der von Haus zu Haus agitiert, zu verhaften und zu bestrafen“. Stattdessen forderten die Genossen eine breite Aufklärung in Presse und durch die Wohngruppen der SED.341

335 Urteil des Bezirksgerichts Suhl (1 Ks 102/54) gegen Hans - Joachim Hesse und 5 Andere vom 9. 6. 1954. 336 Vgl. Helene Kleine / Walter Krutzsch, Die strafrechtliche Beurteilung von Staatsverbrechen. In : Neue Justiz, (1954), S. 74. 337 Anklageschrift des Staatsanwalts des Bezirkes Dresden ( I B 29/55) vor dem Bezirksgericht Dresden gegen Johannes Gündel und 3 Andere vom 9. 3. 1955. 338 Bericht des MfS an das ZK der SED vom 1. 9. 1956, betr. Die Sekte der Zeugen Jehova in Westdeutschland und ihre illegale Tätigkeit im Gebiet der DDR ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/250, Bl. 276–286). 339 Ebd. 340 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 601; Wolf, Die „Bearbeitung“ der Kirchen, S. 189 f. 341 SED - Bezirksleitung der SED Karl - Marx - Stadt an das ZK der SED, Abt. Staatliche Organe / Sektor Kirchen, vom 30. 10. 1953, betr. Informationsbericht über die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/52, Bl. 38–45, hier 38–40).

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Nachdem die SED in Zusammenarbeit mit dem MfS alle Ansätze von Fundamentalwiderstand ausgeschaltet hatte, ging die offene Repression gegen Ende der fünfziger Jahre spürbar zurück. Noch bevor es 1956 infolge der Chruschtschow - Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU zu einer innerparteilichen Diskussion über die stalinistischen Exzesse und einer damit verbundenen Amnestie von politischen Häftlingen kam, hatte sich MfS - Chef Wollweber bereits intern für eine Milderung der Inhaftierungspraxis eingesetzt. Ausdruck fand diese neue Herangehensweise in Bezug auf die Zeugen Jehovas in der „Aktion Zerfall“. Grundlage war die Annahme, dass eine wirklich nachhaltige Zerstörung des Organisationsgefüges der Zeugen Jehovas nur durch die Ausschaltung der Funktionärsebene erreichbar wäre. Die Anhänger der Glaubensgemeinschaft wurden „intellektmäßig“ in drei Kategorien eingeteilt : Die erste Kategorie umfasste die höheren und mittleren Funktionäre. Nach Einschätzung des MfS zählten zu dieser Gruppe ca. 600 Zeugen Jehovas. Die zweite Kategorie bestand aus den Studiengruppenleitern und den Kurieren. Sie galten als kritiklose Ausführungsorgane der Versammlungsdiener. Diese Gruppe unterer Funktionäre sollte ca. 2 500–3 000 Personen umfassen. Die breite Masse setzte sich nach Meinung der kirchenpolitischen Abteilung des MfS vorrangig „aus älteren, primitiven Menschen zusammen“, die durch die Literatur der WTG und die Funktionäre „zu wirklichkeitsfremden und weltabgeschiedenen Menschen erzogen“ würden. Ohne diese „Indoktrinationen“ würden diese ihre Glaubenstätigkeit einstellen.342 Noch war aber der Nachweis der „Spionage im Auftrag des amerikanischen Imperialismus“ wichtiger Bestandteil der Aktion. Dennoch war dieser Plan zusammen mit dem Versuch, den ehemaligen Zweigdiener Frost mittels der aufgefundenen Protokolle der Gestapovernehmungen, als GM anzuwerben,343 ein erstes Zeichen, die Bekämpfung der Glaubensgemeinschaft langfristiger zu gestalten und dabei von außen Einfluss zu nehmen. Die neue Eiszeit nach den Ereignissen in Polen und Ungarn 1956 konterkarierte jedoch sowohl die Pläne der „Aktion Zerfall“ als auch die Vorschläge an das ZK der SED. Erst nach Abschluss der durch die Entstalinisierung ausgelösten Krise des DDR - Staatssicherheitsdienstes 1957/58 sollte es wieder Überlegungen nach einer Neuorientierung des Umgangs mit den Zeugen Jehovas geben. Am Ende der Krise hatte der ewige MfS - Vize Mielke seinen Vorgesetzten Wollweber beerbt und nutzte die Gunst der Stunde, um den Ausbau des Apparates voranzutreiben. Gleichzeitig griff er Ulbrichts Kampfansage gegen den „Revisionismus“ auf und entwickelte daraus ein „Generalprogramm“ der flächendeckenden geheimdienstlichen Präsenz. Unter dem Schlagwort der „politisch - ideologischen Diversion“ beanspruchte das MfS fortan ein Definitionsmonopol über alle „Staatsverbrechen“.

342 Vgl. Zusammengefasster Bericht über die Entwicklung der Organisation „ZJ“ und ihre Untergrundtätigkeit gegen die DDR vom 30. 11. 1959 ( BStU, Ast. Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 5–22). 343 Vgl. Hirch, Operativer Vorgang „Winter“, passim; Dirksen, Keine Gnade, S. 584–592.

Phase der Herrschaftssicherung

2.

Phase der Herrschaftssicherung (1957–1970)

2.1

Ein neues Konzept zur Bekämpfung des Gegners

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Mit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und seiner Auswertung auf der 3. Parteikonferenz der SED im Folgemonat wurde nicht nur der Personenkult um Stalin kritisiert und beendet. Mit der Schilderung einiger Verbrechen, aufgrund von „Entgleisungen“ durch die Geheimpolizei verübt, wurden auch der administrativen Repressionspraxis und den Methoden des „verschärften Klassenkampfes“ engere Grenzen gesetzt. Die Enthüllungen Chruschtschows und die nachfolgende Eliminierung Stalins aus den Reihen der marxistisch - leninistischen Klassiker stürzten SED und MfS wie die gesamte kommunistische Bewegung in erhebliche Schwierigkeiten344 und „Glaubenszweifel“.345 Obwohl Ulbricht alle „rückwärtsgewandten Fehlerdiskussionen“ abzuwehren suchte, kam das ZK der SED im Sommer 1956 nicht umhin, vormals als Spione und Agenten verfemte Parteiführer politisch zu rehabilitieren, über 11 000 Personen zu begnadigen und bis Oktober 1956 ca. 21 000 Häftlinge aus den Zuchthäusern zu entlassen. Entgegen allen früher getroffenen Richtlinien, rief die Partei nun zur Über windung des „Dogmatismus“ auf allen Gebieten des geistigen Lebens auf.346 Parallel zu diesen ideologischen Erschütterungen verringerte sich auch die nationale Emphase, mit der die SED gegen den westlichen Konkurrenzstaat und vor allem gegen Gegner im Innern der DDR vorging. 1955 hatte die DDR von der Sowjetunion die „volle Souveränität“ erhalten. Seit Sommer 1955 vertraten Sowjetunion und DDR zudem die These von der Existenz zweier deutscher Staaten, wenn auch die DDR allein die Zukunft Deutschlands verkörpere. Unter dem Schlagwort der „friedlichen Koexistenz“ sollte sich nun der Kampf zwischen den Gesellschaftssystemen auf dem Gebiet der Wirtschaft, Technik und Politik abspielen. Es galt, die Legitimationsansprüche weniger auf die Vertretung „nationaler Interessen“ als auf den „sozialistischen Aufbau im souveränen sozialistischen Staat“ zu beziehen.347 Waren aber nicht mehr nationale, sondern vielmehr ideologische Kriterien ausschlaggebend für die Definition der Eigen und der Fremdgruppe, konnte auch zwischen den Gegnern stärker differenziert werden. Die Vorstellung von einer „Umzingelung“ oder eines beträchtlichen Feindpotentials im eigenen Lande wurde durch eine Differenzierung zwischen der Bevölkerung mit mehr oder weniger entwickeltem sozialistischen Bewusstsein und einer kleinen Zahl von Feinden abgelöst.348 Der unüberbrückbare Freund - Feind - Gegensatz, der national aufgewertet bis in die Mitte der 344 Vgl. Haritonow, Ideologie als Institution, S. 205. 345 Wolle, Die DDR zwischen Tauwetter und Kaltem Krieg, S. 303 f. 346 Vgl. Wunschik, Ein Regenmantel für Dertinger; Engelmann, Lehren aus Ungarn und Polen. 347 Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 148. 348 Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 285 f.

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1950er Jahre allen ausgemachten Feinden eine existentielle Bedrohung des „deutschen Volkes“ unterstellte, wich einer abgestufteren Herangehensweise. Diese neue Sichtweise änderte nichts an der Tatsache, dass beispielsweise die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas eine „Feindorganisation“ blieb, konnte den einzelnen Gläubigen aber vom Verdikt des zu eliminierenden Schädlings befreien. Im Gegensatz zu späteren Zeiten war es in dieser Phase dem MfS möglich, die bisherige Strategie im Umgang mit den Zeugen Jehovas ( kritisch ) zu reflektieren. Ausgehend von den Misserfolgen der vergangenen Jahre kamen verschiedene Berichterstatter zu dem Schluss, dass undifferenzierte Festnahmen zum einen nicht zur Einstellung der illegalen Aktivitäten führten, zum anderen dadurch bei den Gläubigen selbst eine gewisse Märtyrerhaltung zu beobachten wäre.349 Da ohne Unterschied einfache Gläubige und Funktionäre wegen angeblicher „Boykotthetze“ zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, entstand bei diesen, aber auch in der Bevölkerung die Meinung, sie seien nicht wegen bestimmter Handlungsweisen, sondern wegen des Glaubens festgenommen worden.350 Es galt also, künftig erstens stärker zu differenzieren, zweitens die Verhaftungen einzuschränken und sich drittens auf die Spionagezentralen in Wiesbaden und West - Berlin zu konzentrieren.351 Grundlage der Überlegungen war die Annahme, dass eine wirklich nachhaltige Zerstörung des Organisationsgefüges der Zeugen Jehovas nur durch die Ausschaltung der Funktionärsebene erreichbar wäre. Daher wurde von den MfS - Mitarbeitern erwartet, dass sie ihr Verhalten abhängig von der Stellung des Gläubigen in der Hierarchie der Religionsgemeinschaft gestalteten. Der Schwerpunkt der operativen Arbeit betraf den „höheren Funktionärsstamm“. Dies seien alle von der Wachtturm-Gesellschaft eingesetzten Funktionäre bis hinunter zum Gruppendiener. Bei ihnen handelte es sich „vorwiegend um Arbeiter, die intelligent, mit den politischen Tagesproblemen vertraut und in der illegalen Arbeit erfahren“ wären. Ein „mittlerer Funktionärsstamm“ umfasste die Verantwortlichen unterhalb der Ebene des Gruppendieners. Diese waren eher für die Werbung als IM vorgesehen, da sie oft die verhafteten Funktionäre ersetzten. Waren diese beiden Ebenen erst einmal ausgeschaltet oder neutralisiert, würde die „breite Masse“ „ratlos“ dastehen und die „Tätigkeit nach außen“ einstellen.352

349 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 619. 350 Bericht des MfS an das ZK der SED vom 1. 9. 1956, betr. Die Sekte der Zeugen Jehova in Westdeutschland und ihre illegale Tätigkeit im Gebiet der DDR ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/250, Bl. 276–286, hier 282). 351 Diese Vorgabe korrespondierte mit der vorrangigen Ausrichtung der operativen Arbeit des MfS unter Wollweber auf das „Operationsgebiet“, sprich die Bundesrepublik und West - Berlin, was auch den Wünschen der Sowjetunion entsprach. 352 Zusammengefasster Bericht über die Entwicklung der Organisation „ZJ“ und ihre Untergrundtätigkeit gegen die DDR vom 30. 11. 1959 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 46–83, hier 55–57).

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Doch nicht allein durch die unterschiedliche Herangehensweise an die einzelnen Hierarchieebenen verringerten sich die Verhaftungszahlen. Nach Meinung des Chefs der MfS - Bezirksverwaltung Dresden, Rolf Markert,353 ging die rückläufige Entwicklung auch auf die Verunsicherung der „Tschekisten“ nach der 3. Parteikonferenz der SED, die die Beschlüsse des XX. Parteitages der KPdSU umsetzte, zurück.354 Die Abt. V /4 der Bezirksverwaltung Dresden kam zu dem Schluss, dass die illegale Tätigkeit der Zeugen Jehovas seit den Jahren 1955/56 intensiviert worden sei. Aufgrund der zurückgegangenen Festnahmen wären diese der Meinung, sie könnten wieder legal werden.355 Auch die Zeugen Jehovas registrierten Veränderungen. Der Leiter des West - Berliner Büros, Willi Pohl, meinte im Sommer 1956 im RIAS, dass „die Verhaftungen im großen Ausmaß [...] nachgelassen“ hätten. Auch sei „der Hass der einzelnen Beamten“ nicht mehr so stark wie zu Beginn der Verfolgung.356 Zu diesem geänderten Umgang trug auch wesentlich der schrittweise Rückzug der sowjetischen Geheimpolizei aus der direkten Anleitung des MfS bei. Bis 1958 ging die Zahl der „Berater“ des KGB auf 32 zurück, diese wurden zudem auf den Status von Verbindungsoffizieren zurückgestuft.357 Die Abkehr von der biologistischen Sichtweise der 1940er und frühen 1950er Jahre, die vielfältige Parallelen zu den Feinddefinitionen der Nationalsozialisten aufwies, war gleichermaßen entscheidend für einen Strategiewechsel, der für die nachfolgenden Jahrzehnte der DDR beispielhafte Wirkung zeigen sollte : Sah man sich vorher einem omnipotenten Gegner gegenüber, der in einem existentiellen Kampf durch seine Agenten wühlend und zersetzend den Bestand des deutschen Volkes gefährdete und dem man nur mit brachialen „Abwehrmaßnahmen“ begegnen konnte, implizierte das neue, abgestufte und ausdifferenzierte Vorgehen gegen Feinde die Möglichkeit, unter diesen „Unsicherheit und Zersplitterung“ zu säen. Für diese Herangehensweise prägte sich schnell der Begriff der „Zersetzung“. Erich Mielke meinte im Februar 1956, aus Berichten geheimer ( inoffizieller) Mitarbeiter entnehmen zu können, dass zwischen der Leitung der Zeugen Jehovas in West - Berlin bzw. der Bundesrepublik und den Gläubigen in der DDR sowie zwischen diesen selbst Widersprüche herrschten. Um diese erhofften Widersprüche auszunutzen, wollte das MfS mit seiner Aktion „Zerfall“ 353 Rolf Markert (1904–1995), eigentlich Helmut Thiemann, 1953–1981 Leiter der BV Dresden des MfS, zuletzt Generalmajor. 354 Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 211. 355 Analyse der BV Dresden des MfS, Abt. V /4, über die Tätigkeit der Sekten und ihre Bearbeitung im Jahre 1957 vom 3. 12. 1957 ( BStU, Ast. Dresden, AS 16, 17, 18/60, Bl. 134– 137, hier 135). 356 Sendung „Die Zeit im Funk“, RIAS Berlin am 19. 7. 1956, Abschrift des Staatlichen Rundfunkkomitees, Abt. Information ( BArch, DO 4, 267, unpaginiert ). 357 Vgl. Engelmann, Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit, S. 64. Der stellvertretende Abteilungsleiter der HA XX /4, Klaus Roßberg, meint, die kirchenfeindliche Haltung der Hauptabteilung in den 1950er Jahren dem starken Einfluss der sowjetischen Berater des KGB zuschreiben zu können. Vgl. Roßberg, Das Kreuz mit dem Kreuz, S. 53 f.

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Unsicherheit und Misstrauen in die illegalen Gruppen streuen. Dazu sollte größter Wert auf die Anwerbung von neuen Informanten gelegt werden.358 In einem Bericht an das ZK der SED von September 1956 ging das MfS noch weiter. Da einerseits in den Schriften und Kongressen der Zeugen Jehovas der letzten Zeit auf „aggressive Hetzreden“ verzichtet wurde, andererseits bisherige Festnahmen keine Schwächung der illegalen Tätigkeit nach sich zogen, habe man die Verhaftungen auf ein Mindestmaß reduziert und sich vor allem darauf beschränkt, Unsicherheit zu erzeugen. Das Ministerium schlug dem ZK vor, in Zukunft nur noch bei Spionageverdacht zu inhaftieren und aufgegriffene Verkünder der Zeugen Jehovas mit einer Geldstrafe zu belegen.359 Der im Spätherbst 1956 beginnende schrittweise Abbruch der „Entstalinisierung“ konterkarierte die in den Plänen zur Aktion „Zerfall“ geforderte Konzentration auf das Schüren von „Unsicherheit und Zersplitterung“ bei gleichzeitiger Verringerung der Inhaftierungen. Dem MfS wurde von Ulbricht auf dem 29. Plenum des ZK im November 1956 vorgeworfen, dass „manche Genossen der Staatssicherheit [ nach dem XX. Parteitag der KPdSU ] so vorsichtig wurden, dass sie nicht mehr die Kraft hatten, gegen bestimmte Feinde des Staates energisch vorzugehen“. Auf dem reichlich zwei Monate später stattfindenden 30. Plenum ging Ulbricht noch weiter : Die Staatssicherheit habe „lange Zeit überhaupt niemanden mehr verhaftet“. Solche Erscheinungen seien „nicht normal“ und der Gegner habe das auszunutzen versucht; er sei „frech geworden“.360 Nach derartigen Angriffen war an eine Einschränkung der Festnahmen natürlich nicht zu denken. Ohne an die Forderung Ulbrichts nach mehr Verhaftungen zu erinnern, resümierte ein Bericht, dass „die Schwäche der Aktion ,Zerfall‘“ eben darin bestanden habe, „wahllos einfache Mitglieder und Kuriere“ festzunehmen.361 Als zudem zur selben Zeit unter kommunistischen Intellektuellen und Studenten sowie Künstlern Forderungen nach einer weitergehenden „Entstalinisierung“ und einem „demokratischeren und liberaleren Sozialismus“ aufkamen,362 witterte die Parteiführung Ketzerei und Verschwörung. Seit jeher gegen linke Abweichungen von der „Generallinie“ allergisch, betrachtete sie derartig „revisionistische“ Gedanken als vom westlichen Imperialismus infiltrierte „ideologische Zersetzung“. Nach den Enthüllungen der Chrustschow’schen Geheimrede und ihren Auswirkungen hatte besonders Walter Ulbricht um seine Macht zu

358 Vgl. Maßnahmeplan für die Aktion „Zerfall“. Die Anwendung neuer Methoden in der Bekämpfung der illegalen Sekte „Zeugen Jehova“, gez. Erster Stellvertreter des Ministers, Erich Mielke, vom 13. 2. 1956 ( WTA, O - Dok 13/02/56). 359 Bericht des MfS an das ZK der SED vom 1. 9. 1956, betr. Die Sekte der Zeugen Jehova in Westdeutschland und ihre illegale Tätigkeit im Gebiet der DDR ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/250, Bl. 276–286, hier 282). 360 Zit. in Engelmann / Schumann, Kurs auf die entwickelte Diktatur, S. 13 f. und 29 f. 361 Bericht über den bisherigen Verlauf der Aktion „Zentrum“ der HA V /4, o. D. ( nach 1959) ( WTA, O - Dok 02/60). 362 Vgl. Ihme - Tuchel, Die SED und die Schriftsteller, S. 8–10.

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fürchten. Die Auseinandersetzungen mit der Intelligenz nutzte er darum auch als Stellvertreterkrieg gegen eine innerparteiliche Fronde um den Leiter der Abteilung Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen im ZK der SED, Karl Schirdewan, und den Staatssicherheitsminister, Ernst Wollweber. Diese Gruppe – bei ihrer Ausschaltung 1957/58 wurde ihr „Fraktionstätigkeit“ vorgeworfen – kritisierte den Führungsstil Ulbrichts und plädierte für Kurskorrekturen in der Industrie - und Handelspolitik sowie für den Abbau des Zentralismus und mehr Eigenverantwortlichkeit auf den verschiedenen Parteiebenen.363 Ungeachtet der Frage, ob sich aus der Kritik an den Hochschulen und bei Künstlern bzw. innerhalb der Partei reelle Gefahren für die eigene Machtposition ergaben, ergriff Ulbricht die Chance, im Windschatten der Niederschlagung des Ungarn - Aufstands seinen innenpolitischen Kurs zu verschärfen.364 Das Ministerium für Staatssicherheit geriet wegen der vorrangigen Ausrichtung der operativen Arbeit auf die Bundesrepublik und West - Berlin, „nachlassender Wachsamkeit“ sowie den Auseinandersetzungen zwischen Wollweber und Ulbricht in die Kritik. Ulbricht forderte vom MfS im Februar 1957, wieder härter zuzuschlagen und sich auf die diagnostizierten neuen Methoden des „Klassenfeindes“ zur „ideologischen Zersetzung“ durch „revisionistische, opportunistische und liberalistische Anschauungen“ einzustellen.365 Mielke, seit November 1957 Nachfolger des „krankheitshalber pensionierten“ Wollweber, griff diese Forderungen auf und entwickelte mit dem Leitbegriff „politisch - ideologische Diversion“ ( PID ) aus den Vorgaben nach Überwachung und Kontrolle des parteiinternen und - nahen intellektuellen Lagers eine neue Doktrin von der „präventiven“ Sicherung der gesamten Gesellschaft. Nach dieser neuen Doktrin hätten die westlichen Urheber der PID das Ziel, „die ideologische Substanz und die politischen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft von innen heraus zu zersetzen“. Die Wirkung der PID reiche von der „Störung der sozialistischen Bewusstseinsbildung“ bis hin zur „Stimulierung und Aktivierung staatsverbrecherischer Handlungen“.366 Markus Wolf, Vizeminister des MfS und Chef der HVA, bezeichnete den Begriff ( im Herbst 1989) als „verschwommenen Kautschukterminus, der [...] die Möglichkeit schuf, jede Abweichung von der Politik der Partei - und Staatsführung, die mit irgendwelchen Absichten westlicher Stellen zu korrespondieren schien, zu kriminalisieren und zum Gegenstand operativer Maßnahmen zu machen“.367 Unterschiedslos galt jeder Bürger als anfällig, dem Einfluss der PID zu erliegen. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass sich die Aufgabenfelder und Aktionsräume des MfS in der Folge strukturell unbegrenzt ausweiteten.368 Damit eignete sich das ideologische Konstrukt nicht nur zur Legitimierung des flächen363 364 365 366 367 368

Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 165. Vgl. ebd., S. 9 f. Vgl. Engelmann / Schumann, Kurs auf die entwickelte Diktatur, S. 13 f. Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 39 f. Wolf, Zur bisherigen Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 133. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 536.

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deckenden Anspruchs der Staatssicherheit, die sich damit zur „Universalbehörde für alle Fragen staatlicher Sicherheit“ transformierte,369 sondern auch zur Begründung eines generalpräventiven Vorgehens. Wenn also „staatsverbrecherische Handlungen“ aus der „Störung der sozialistischen Bewusstseinsbildung“ entstanden, welche wiederum von westlichen Einflüssen ausgelöst wurde,370 konnte die Aufgabe des MfS nur darin bestehen, präventiv einzugreifen, ehe die „gestörte Bewusstseinsbildung“ zu „staatsverbrecherischen Handlungen“ führte oder noch besser, ehe die gezielten westlichen Einflussnahmen im Bewusstsein der Bürger Wirkung zeigten. Mit dem Theorem PID gelang es Mielke einerseits, das stalinistische Muster der Suche nach Agenten und Spionen zu modifizieren. Disziplinierung, Rationalisierung und Bürokratisierung drängten Irrationalität und Emotionalisierung auch im Bereich der Repression mehr und mehr in den Hintergrund.371 Andererseits gelang es dem ostdeutsche Sicherheitsapparat so, trotz der Krise der Entstalinisierung das überkommene Feindbild zu konser vieren. Die „Zwei Lager - Theorie“ blieb entgegen der propagierten „friedlichen Koexistenz“ aktuell. Mit den abzuwehrenden westlichen „Diversionsversuchen“ konnten auch Perzeptionen des „Kalten Bürgerkrieges“ weiter gepflegt werden und bildeten bis zum Ende der DDR einen zentralen Bezugspunkt bei der internen Normenvermittlung und Selbstdefinition.372 An diesem Festhalten an stalinistischen Feindorientierungen änderte auch die „Verfachlichung“373 und Flexibilisierung der Feindbekämpfung nichts. Die Arbeit des MfS stand weiterhin unter dem Vorzeichen eines manichäischen Freund - Feind - Denkens und barg damit auch „das Potential eines verschwörungstheoretischen Irrationalismus“.374

2.2

Die praktische Umsetzung des Konzeptes bis 1961

Im Maßnahmeplan der Aktion „Zerfall“ im Februar 1956 wurde vom damals noch stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, eine „systematische Zersetzungsarbeit“ unter den Zeugen Jehovas gefordert.375 Dazu bedurfte es aber erst der Anwerbung informierter Inoffizieller Mitarbeiter ( IM), „um in das komplizierte, für Kommunisten schwer durchschaubare Phänomen

369 Vgl. ebd., S. 240. 370 Im MfS - Jargon wurde diese Beziehung knapp „ohne PID [ politisch - ideologische Diversion ] keine PUT [ politische Untergrundtätigkeit ]“ zusammengefasst. Zit. in Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 20. 371 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 25. 372 Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 287. 373 Ebd., S. 347. 374 Meuschel. Legitimation und Parteiherrschaft, S. 133. 375 Vgl. Maßnahmeplan für die Aktion „Zerfall“. Die Anwendung neuer Methoden in der Bekämpfung der illegalen Sekte „Zeugen Jehova“, gez. Erster Stellvertreter des Ministers, Erich Mielke, vom 13. 2. 1956 ( WTA, O - Dok 13/02/56).

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– Kirche und Religion – einzudringen“.376 Im Sommer 1956 gelang eine solche Anwerbung mit der Verpflichtung des ehemaligen Zeugen Jehovas Dieter Pape zur inoffiziellen Tätigkeit. Pape,377 im Oktober 1952 wegen seiner Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, wandte sich schon im Zuchthaus vom Glauben ab. 1956 machte er aus eigenem Antrieb Vorschläge, wie man effektiver gegen die Zeugen Jehovas vorgehen könnte.378 Das MfS griff begierig zu, immerhin standen die Mitarbeiter unter dem Druck, endlich „qualifizierte“ IM anzuwerben. Kurze Zeit darauf wurde Pape aus der Haft entlassen. Nachdem es dem neu gewonnenen Informanten nicht gelang, in die Reihen der Zeugen Jehovas zurückzukehren – ehemalige Mithäftlinge erkannten den Apostaten auf einem Kongress und warnten die Leitung379–, wurde Dieter Pape zu einem wichtigen Faktor in der Bearbeitung seiner ehemaligen Glaubensgeschwister. Neben der Verhaftung von Funktionären, der Etablierung von IM innerhalb der illegalen Organisation zur Informationsgewinnung und Beeinflussung ( d. h. der „Zersetzung“ von innen ), kam das MfS – ob aus eigener Erkenntnis oder angeregt durch Ideen Papes sei dahingestellt – zu dem Schluss, auch mittels zersetzender Schriften und einer „Oppositionsbewegung“ von außen auf die Zeugen Jehovas einzuwirken. Alle drei Vorgehensformen wurden – zumindest bis in die Mitte der sechziger Jahre – kombiniert. Besonders aktive und verantwortliche Gläubige sollten durch Verhaftung oder durch in die Religionsgemeinschaft getragene Querelen entfernt werden. Auch die Verbindungswege zur Leitung in der Bundesrepublik bzw. West - Berlin galt es zu unterbrechen und die betreffenden Kuriere auszuschalten, wozu das MfS die entsprechenden Informationen aus dem Innern der Glaubensgemeinschaft benötigte. Doch mit der direkten Repression und dem Säen von Zwietracht in den Versammlungen war es nicht getan : die Zeugen Jehovas sollten im Glauben unsicher und in ihrer Haltung gegenüber der eigenen Leitung erschüttert werden, damit sie sich von der organisierten illegalen Tätigkeit zurückziehen. Doch dazu musste man sich mit ihnen auf der Basis des Glaubens auseinandersetzen. Bei dieser Form der Auseinandersetzung sollte Pape eine herausragende inhaltliche wie auch koordinierende Rolle spielen. Durch die Anwerbung Papes war es dem MfS möglich, mangelndes Fachwissen auszugleichen. Die Mitarbeiter der kirchenpolitischen Abteilung HA V /4 ( ab 1964 HA XX /4) hatten keine theologische Ausbildung genossen, sondern lediglich ein Studium des Marxismus-Leninismus. Zusammen mit anderen IM arbeitete Pape seit den sechziger Jahren in sogenannten Auswertergruppen („Institut Wandlitz“), wo er neben der Arbeit an den Zeugen Jehovas auch 376 Aufzeichnung des Abteilungsleiters der HA XX /4, Franz Sgraja. Zit. nach Vollnhals, Die kirchenpolitische Abteilung (1996), S. 84. 377 Zur Person und Entwicklung Dieter Papes vgl. Gursky, Zwischen Aufklärung und Zersetzung. 378 Vgl. Auskunftsbericht vom 15. 8. 1960 ( BStU, ZA, A 185/85, Bl. 245–247). 379 Vgl. Auskunftsbericht der Abt. V /4 des MfS, BV Halle, vom 27. 1. 1959, betr. „IM Wilhelm“ ( ebd., Bl. 204–206).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

„über eine Reihe legal in der DDR existierender Sekten380 erstmalig zusammenfassende Einschätzungen“ erstellte und „so Voraussetzungen für eine op[ erative ] Bearbeitung“ schuf.381 Mit Pape warben die ostdeutschen „Tschekisten“ gleichsam einen „Übersetzer“ an, der ihre Angriffe und Vorwürfe gegen die illegale Organisation und ihre Leitungen in Brooklyn und Wiesbaden für Zeugen Jehovas verständlich „biblisch“ unterfütterte. Dazu erhielt er Einblick in die neueste Literatur der Religionsgemeinschaft, aber auch in Verhörprotokolle der Gestapo, darunter auch die von Erich Frost382 und Konrad Franke. Die Akten stammten aus Beständen der Gestapo, des Sicherheitsdienstes der SS und des Reichskirchenministeriums, die der Öffentlichkeit vorenthalten und für die „operative Arbeit“ genutzt wurden.383 Diese Verhörprotokolle bildeten die Grundlage der Verdächtigungen von Funktionären als „Gestapohandlanger“.384 Pape verfasste auf deren Grundlage einige Flugschriften, die die damaligen Leiter der Religionsgemeinschaft in der Bundesrepublik diskreditieren und die „einfachen Gläubigen“ gegen diese aufhetzen sollten.385 Die von Pape erarbeiteten Artikel bildeten auch die Grundlage eines an den „Spiegel“ lancierten Berichtes über die angeblichen Verstrickungen Frosts,386 welcher den Verfälschungen des MfS387 im Nachhinein Seriosität verschaffte.388 Papes Rolle sollte nicht, wie André Gursky richtig meint, bagatellisiert werden.389 Ebenso gilt aber auch festzuhalten, dass Pape das weitere Vorgehen des MfS eben nicht „grundlegend“ bestimmte.390 Er blieb ein Geschöpf, ein Instrument der Staatssicherheit. Er wurde nur auf den Gebieten eingesetzt, die das MfS bestimmte und beispielsweise in die direkte Repression nicht einbezogen. Wie das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer wirklich war, verdeutlicht die Tatsache, dass noch 1962 – das MfS 380 Dies betraf die Neuapostolische Kirche, die Evangelische Gemeinschaft, die Evangelische Christengemeinschaft und die Evangelisch - methodistische Kirche. 381 HA XX /4, Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem GI „Wilhelm“ vom 3. 9. 1966 (ebd., Bl. 313–315, hier 313); handschriftlicher Auskunftsbericht, gez. Oltn. Seltmann vom 9. 11. 1960 ( ebd., Bl. 248 f.). 382 Vgl. die ( unvollständigen ) Vernehmungsprotokolle von Erich Frost ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZB I, 561, Bl. 1–18 und ZB 1, 1279, Bl. 22–33). 383 Vgl. zum „NS - Archiv“ Muregger / Winkler, Quellen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 384 Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 173–194. 385 Vgl. Einschätzung der HA V /4 über den GI „Wilhelm“ vom 15. 12. 1959 ( BStU, ZA, A 185/85, Bl. 209 f.). 386 Vgl. „Väterchen Frost“. In : Spiegel, 15 (1961) 30, S. 38 f. 387 Ostdeutsche „Tschekisten“, die sich als konsequente Antifaschisten verstanden, mussten wissen, wie die Gestapo zu Vernehmungsergebnissen gelangte. Kommunisten und Bibelforscher waren gleichermaßen Betroffene „verschärfter Vernehmungen“. Dennoch belegen vielfältige Zeitzeugen aus den frühen 1950er Jahren, dass Vernehmer des MfS, in Tradition ihrer sowjetischen Vorbilder bei der Erpressung von Aussagen ebenso wenig Skrupel hatten wie ihre „Kollegen“ von der Gestapo. 388 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, 270 f. 389 Vgl. Gursky, Zwischen Zersetzung, S. 69. 390 Ebd.

Phase der Herrschaftssicherung

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befürwortete im gleichen Schreiben Papes Wunsch nach Eintritt in die SED – die von Pape geleisteten Dienste „als Faustpfand“ bezeichnet wurden.391 Derartige „Faustpfänder“ seien geeignet, „den GI [ Geheimer Informator ] völlig in unserer Abhängigkeit zu halten“.392 Ein augenfälliger Beleg, wie sehr sich die Sichtweise auf „den Gegner“ und die Methoden seiner Bekämpfung gewandelt hatten, ist die Instrumentalisierung religiöser Gemeinschaften, um die einzelnen Zeugen Jehovas in ihren Glaubensvorstellungen zu ver wirren und ihnen gleichzeitig eine religiöse Alternative anzubieten. Gerade diese Gruppierungen, die sich vor 1950 aus persönlichen und / oder Glaubensgründen von den Zeugen Jehovas getrennt hatten, wurden nach deren Verbot 1950 wegen der angeblichen Gefahr ihrer Unterwanderung durch ihre früheren Mitgläubigen an der Weiterexistenz gehindert. Nun sollten sie möglichst viele Angehörige der verbotenen Gemeinschaft ansprechen und zu sich hinüberziehen.393 Die Idee, die Zeugen Jehovas zu beeinflussen und sie damit „von ihren Irrlehren zu bekehren“, kam schon Werner Best. Dieser hatte 1940 vorgeschlagen, V - Männer in die Reihen der Gläubigen zu senden, damit diese „gesprächsweise“ eine Umkehr bewirkten. Wie seinerzeit der Sektenreferent im RSHA, Walter Kolrep, glaubte auch der neugewonnene „Experte“ Pape, dass ein Versuch, mittels geeigneter Personen innerhalb der Glaubensgemeinschaft diese inhaltlich zu manipulieren, scheitern müsse, da sich die Zeugen Jehovas „grundsätzlich von derartigen Personen zurückziehen und jede weitere Diskussion mit ihnen ablehnen“ würden.394 Möglicherweise sah die Situation aber bei Gruppen ehemaliger Zeugen Jehovas anders aus. Wäre es dem MfS möglich, Widersprüche zwischen den früheren Glaubensgenossen für die „operative Arbeit“ auszunutzen ? Der nationalsozialistische Verfolgungsapparat sah sich zu einer solchen Instrumentalisierung nicht in der Lage. Die wenigen noch existenten Gruppen ehemaliger Angehöriger der Internationalen Bibelforschervereinigung wurden entweder im Zuge des Verbots der Zeugen Jehovas 1933 oder im Verlauf der „Liquidierung“ kleinerer Religionsgemeinschaften ab 1935 ausgeschaltet. Die NS - Justiz ging gegen jede Übertretung der Verbote unnachgiebig vor und für die am „Volksfeindkonzept“ orientierten Apparate der Gestapo und des SD hätte die Instrumentalisierung derartiger, ebenfalls auf der Basis „jüdisch - bolschewistischen“ Gedankenguts stehender Gemeinschaften bedeutet, den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben.

391 HA V /4, Perspektivplan über die Zusammenarbeit mit dem GI „Wilhelm“ vom 18. 7. 1962 ( BStU, ZA, A 185/85, Bl. 276–278, hier 277). 392 HA V /4, Auskunftsbericht über den GI „Wilhelm“ vom 5. 10. 1961 ( ebd., Bl. 261–264, hier 263). 393 Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 495. 394 Vermerk des Sektenreferenten, Kolrep im RSHA II B 33, vom 6. 3. 1940 ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten, ZR 890, Akte 1, unpaginiert ); vgl. Gursky, Zwischen Aufklärung, S. 69.

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Schon im Februar 1952 schlug MfS - Vize Mielke vor, die aus ehemaligen Bibelforschern bestehende „Allgemeine Bibel - Lehrvereinigung“ ( ABL ) genauestens „aufzuklären“ und deren „Ablehnung den Zeugen Jehovas gegenüber“ für die eigene Arbeit zu nutzen.395 Die ABL wurde 1945 vom ehemaligen Reichsdiener der IBV, Paul Balzereit, in Magdeburg gegründet.396 Neben der „Verbreitung der Bibel“ und der „Bezeugung des in ihr enthaltenen Evangeliums“ bezeichnete es die neugegründete Religionsgemeinschaft schon in den 1940er Jahren als ihre Hauptaufgabe, Angehörige der Zeugen Jehovas für sich zu gewinnen und die Lehre ihrer ehemaligen Glaubensgemeinschaft als Irrlehre anzuprangern. Ja, die Vereinigung bot sich für die ideologische Bearbeitung der ehemaligen Glaubensgenossen geradezu an. Auf die Frage nach seinem Verhalten in Bezug auf das Verbot der Zeugen Jehovas erklärte der ehemalige Syndikus der WTG in Deutschland und Gründungsmitglied der ABL, Dollinger, „dass es zweckmäßig erscheint, die ‚irregeführten‘ Anhänger der verbotenen Sekte durch geeignete Zirkel im Rahmen der allgemeinen Bibellehrvereinigung zusammenzufassen, um sie von der Falschheit ihrer früheren Ansichten zu überzeugen. Diese ‚Umstellungen‘ sollen nach Ansicht des Herrn D. evtl. unter entsprechender staatlicher Aufsicht durchgeführt werden.“397 Schon frühzeitig waren die ostdeutschen Behörden über das gespannte Verhältnis der ABL zu den Zeugen Jehovas informiert. 1948 fasste Dollinger seine Erfahrungen aus der Zeit vor 1945 zusammen. Er beschuldigte darin die Führung der WTG, die Gläubigen den Nationalsozialisten „ans Messer geliefert“ zu haben, um ihren Besitz in Deutschland zu retten, statt juristisch gegen die Einschränkung der Religionsfreiheit vorzugehen.398 Dass sich ausgerechnet die Mehrzahl der Gründungsmitglieder der ABL den Forderungen des nationalsozialistischen Regimes weitgehend unterwarf, verschwieg Dollinger wohlweislich. Obwohl den ostdeutschen Behörden die Distanz der ABL zu den Zeugen Jehovas bekannt war, musste die Religionsgemeinschaft 1950 ihre Tätigkeit einstellen, als im Nachklang der DDR - Gründung der Versuch unternommen wurde, sich des „Sektenproblems“ zu entledigen. Alle nicht bei den zentralen

395 Vgl. Dienstanweisung des Staatssekretärs im MfS, Mielke, Nr. 5/52 V / D an die Verwaltung für Staatssicherheit Brandenburg vom 29. 2. 1952, betr. Allgemeine Bibel - Lehrvereinigung. Abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen, Katholiken, S. 153–156 (Dok. 17). 396 Zur Allgemeinen Bibel - Lehrvereinigung vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 385–390; Hacke, Zeugen Jehovas, S. 70 f. 397 Landesbehörde der Volkspolizei Mecklenburg, Abt. Pass - und Meldewesen, Bericht über Religionsgemeinschaften und Sekten, welche im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik die Zulassung durch eine SMA des Landes bzw. deutsche Dienststelle erhalten haben, o. D. ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/247, Bl. 140–145, hier 145). 398 Vgl. Schilderung meines „legalen“ und „illegalen“ Kampfes gegen die Naziherrschaft, ohne Autor vom 15. 2. 1948 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 862, Bl. 45–53, BArch, DO 4, 734, unpaginiert ). Der Verfasser bezeichnet sich als Generalbevollmächtigter und Syndikus der WTG für 1933, damit dürfte das Schreiben von Hans Dollinger stammen.

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sowjetischen oder ostdeutschen Behörden registrierten und genehmigten Gemeinschaften fielen unter das Verdikt. Auch wenn Balzereit und die Leiter von örtlichen Gemeinden immer neue Anträge stellten und bei den Behörden vorsprachen, änderte sich nichts an ihrer Lage. Ja mehr noch, einige Angehörige, die den organisatorischen und religiösen Zusammenhalt bewahren wollten, wurden nach den einschlägigen Paragraphen des politischen Strafrechts abgeurteilt.399 Die Pläne Mielkes mit der ABL scheiterten mit der „Verschärfung des Klassenkampfes“ nach der 2. Parteikonferenz 1952. Nun wurden Zeugen Jehovas und ABL unterschiedslos als „Agentensekten“ aufgeführt.400 Grund dafür war die Furcht der für die Zulassung von Religionsgemeinschaft zuständigen Innenbehörde, es hier mit der „vorsichtigeren und besser getarnteren Richtung der Bibelforscher“ zu tun zu haben, die als „Unterschlupf“ für Zeugen Jehovas dienen könnte.401 Denn, so das Ministerium des Innern, „die Taktik der nunmehr verbotenen ,Jehovas Zeugen‘ geht zweifellos dahin, ihre Mitglieder in andere Sekten einzubauen. Die beste Möglichkeit besteht bei denen, die gleiche oder ähnliche Tendenzen in ihrer Lehre haben, selbst aus der ehemaligen ‚Vereinigung ernster Bibelforscher‘ hervorgegangen sind oder in irgend einer anderen Weise durch den anglo - amerikanischen Imperialismus beeinflusst und gelenkt werden können.“402 Angesichts der Vorschläge aus dem Innenministerium, neben den 12 Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts waren, im Höchstfalle zehn weitere Gemeinschaften zuzulassen,403 399 Vgl. Prozessbericht der BdVP Chemnitz, Abt. PM, Referat 2, an HVDVP, HA PM, vom 10. 3. 1953, Verhandlung vor dem Bezirksgericht Chemnitz am 4. 3. 1953 gegen Herbert Wiederhold ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 862, Bl. 86–89). Vgl. Gebhard, Geschichte der Zeugen Jehovas, S. 495 f. 400 Vgl. Bericht über die Verschärfung des Klassenkampfes nach der II. Parteikonferenz vom 1. 2. 1953. Zit. in Wolf, Die „Bearbeitung“ der Kirchen, S. 190. 401 Vgl. Staatssekretär im MdI, Warnke, an Mielke vom 28. 2. 1951 ( BArch, DO 4, 734, unpaginiert ). 402 Ministerium des Innern, HA Staatliche Verwaltung, Bericht über das Sektenwesen vom 29. 12. 1950 ( BArch - SAPMO, ZK der SED, Abt. Kirchenfragen, DY 30/ IV 2/14/247, Bl. 10–13). 403 Vgl. MdI, HA Staatliche Verwaltung vom 1. 11. 1950, Vorschlag über die Zulassung von Religionsgemeinschaften und Sekten : Die 12 Körperschaften des öffentlichen Rechts sollten anerkannt, alle anderen, egal ob schon einmal genehmigt, neu überprüft werden. Bei Gemeinschaften mit „Verbindung zum Auslande, spiritistischer Tendenz oder Gesundbeterei sowie Predigen einer Weltuntergangsstimmung“ wurde keine Zulassung befürwortet. Damit wären im Höchstfalle 10 weitere Religionsgemeinschaften zu genehmigen. Zum Verbot wurden vorgeschlagen : Christliche Wissenschaft ( Christian Science), Neuapostolische Kirche, Hirt und Herde, Mormonen, Weißenberger, Katholisch - Apostolische Kirche, Siebenten - Tags - Adventisten, Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus – Apostelamt Juda, Darbysten, Mennoniten, Mission der Wiedergeburt, Mission des Welterwachens, Apostelamt Jesu Christi / Apostelamt Simeon, Reformiert - apostolischer Gemeindebund, Internationale Theosophische Verbrüderung, Theosophische Gesellschaft, Deutsche Kosmisch - religiöse Vereinigung, Johannis - Gemeinde, Reorganisierte Mormonen, Gemeinde Gottes, Freie christliche Gemeinschaft, Deutsche Evangelische Freikirche in Birkenwerder, Evangelische Bibelgemeinschaft im Deutschen Reiche e. V., Kirche des Reiches Gottes. Die Zulassung wurde befürwortet bei : Lorenzianern, Chris-

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kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Chance zur Abwicklung einer der unliebsamen religiösen Kleingruppen beim Schopfe gepackt wurde. Erst nach 1956/57 gelang es dem MfS, sich mit seinen Plänen gegen die Polizeibehörde, aber auch gegen regionale Parteistellen durchzusetzen. Die ABL wurde unter dem Namen „Vereinigung freistehender Christen“ ( VfC ) reaktiviert und durfte ab 1958 eine Zeitschrift unter dem Titel „Nachdenkliches aus Leben und Christentum“ herausgeben.404 Dass dies nicht ohne Widerstände geschah, belegt eine Beschwerde der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt über die Polizei, weil diese nicht gegen eine Sekte einschreite, nur „weil aus Berlin eine Weisung gekommen sei, Veranstaltungsmeldungen anzunehmen“. Es „fehlt nur noch, dass die Sekte ‚ZJ‘ einen ebensolchen Antrag stellt.“405 Auch die Polizeiführung gab zwischen den Zeilen ihr Missfallen an dem Prozedere kund. In einem Vermerk teilte der eigentlich zuständige Leiter der Abteilung Erlaubniswesen mit, dass „von der Polizeiführung [...] entschieden [ wurde ], dass die Gruppen der ‚freistehenden Christen‘ stillschweigend zu dulden sind ( wie es vom MfS gewünscht wird )“.406 Innenminister Maron ging in einem Schreiben an Mielke noch weiter. Sei es, dass er die taktische Linie nicht gut hieß, sei es, dass er nicht kampf los Kompetenzen an das MfS abtreten wollte, Maron wollte sich „nicht damit einverstanden erklären, dass zur angeblichen Einschränkung bzw. Unterbindung der Tätigkeit der verbotenen Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas neue Religionsgemeinschaften in der Deutschen Demokratischen Republik gebildet werden, deren Tätigkeit zu berechtigten Zweifeln darüber Anlass gibt, ob sie die Politik unserer Partei und Regierung unterstützen“.407

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tengemeinschaft, Christlicher Gemeinschaftsverband der deutschen Pfingstbewegung, Quäker, Bund freireligiöser Gemeinden ( dazu die Anmerkung : „von der Falschheit des Weges überzeugen“, handschriftlich daneben „Sektierertum auf lösen“), Allgemeine Bibel - Lehrvereinigung ( Anmerkung : „Zulassung nur aufgrund der feindlichen Einstellung gegenüber ZJ“) ( BArch, DO 4, 1505, unpaginiert ). Diese Vorschläge wurden so nicht umgesetzt, zeigen aber die radikalen Vorstellungen. Vgl. HVDVP, Erlaubniswesen, Leiter der Abt., Oberst der VP Lust, Aktennotiz : Betr. : Vereinigung freistehender Christen vom 15. 9. 58 : „Das Ministerium für Staatssicherheit und das Staatssekretariat für Kirchenfragen legen Wert darauf, dass die Tätigkeit der Vereinigung freistehender Christen zu dulden ist. Sie sollen zwar nicht offiziell anerkannt, aber ihre Veranstaltungsanmeldungen entgegengenommen werden. Das ZK – Abt. für Kirchenfragen, Gen. Bellmann, hat zugestimmt. [...] Sie erhalten außerdem die Genehmigung, eine Zeitschrift herauszugeben.“ ( BArch DO 1, 11.0 HVDVP, 865, Bl. 1). Bezirksleitung der SED Karl - Marx - Stadt an das ZK der SED, Sektor Kirche, vom 15. 2. 1958 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/52, Bl. 166–172). Auch die SED- Stadtleitung Karl - Marx - Stadt forderte eine härtere Gangart. Sie wünschte eine „größere Wachsamkeit, um zu verhindern dass [ die Zeugen Jehovas ] ihre Wühlarbeit durchführen können. Das erfordert aber auch ein härteres Zugreifen der staatlichen Organe, wenn festgestellt wird, dass illegale Zusammenkünfte stattfinden.“ SED - Stadtleitung Karl Marx - Stadt, Abt. Staatliche Organe, Bürovorlage über die Arbeit mit den christlich gebundenen Kreisen der Bevölkerung und der Tätigkeit der Kirche in unserer Stadt vom 23. 7. 1957 ( WTA, O - Dok 23/07/57). Handschriftlicher Vermerk vom 2. 6. 1959 ( BArch DO 1, 11.0 HVDVP, 865, Bl. 1). Innenminister Maron an Minister für Staatssicherheit Mielke, betr. Vereinigung freistehender Christen, Magdeburg und „Bund freier Christen“, vom 24. 1. 1959 (ebd., Bl. 5– 7, hier 7).

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Der stellvertretende Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK der SED, Rudi Bellmann, hatte aber die Genehmigungsverfahren in die Hände des MfS gelegt, da „seit dem Verbot der Zeugen Jehovas [...] die Arbeit unter den noch illegal tätigen Gruppen keine Angelegenheit der Kirchenpolitik, sondern der Sicherheitsorgane [ wäre ], denn das Verbot erfolgte auf Grund staatsgefährdender Dinge“.408 Somit lag also nicht nur die unmittelbare Bekämpfung der Zeugen Jehovas in den Händen des MfS, sondern auch die Genehmigung der für die Bekämpfung geeigneten religiösen Gruppen. Die Kompetenzen des MfS gingen aber schon weiter. Das Ministerium war faktisch der Träger der „Oppositionsbewegung“. Als der Sohn und kurzzeitige Nachfolger des VfC - „Gründers“, Paul Balzereit, das Angebot des MfS, statt der geplanten 500 Exemplare seiner Zeitschrift 2 000 auf Staatskosten herstellen zu lassen, ablehnte, weil „er dann nicht mehr der Träger dieser Sache“ wäre, antwortete ihm sein Führungsoffizier unverblümt, dass das MfS auch Träger sei, „wenn er die 500 Exemplare selbst drucken“ ließe.409 Die örtlichen Behörden konnten aber über die wirklichen Beweggründe für die Wiederzulassung nicht informiert werden. Als der Leiter des Amts für Kirchenfragen in Karl - Marx - Stadt noch im Dezember 1958 gegen die Tätigkeit der dortigen Gemeinde einschritt, „weil er noch keine amtliche Zusage aus Berlin vom Staatssekretär für Kirchenfragen“ hatte, musste diese – vom MfS mit „Offizieren im besonderen Einsatz“ ( OibE ) durchsetzte410 – Dienststelle mitteilen, dass die VfC zwar nicht republikweit zugelassen wäre, „aus Gründen, auf die wir hier nicht näher eingehen können, in insgesamt 8 Gemeinden“ tätig werden könnte.411 Kaum war die Tätigkeit der VfC in einigen Städten der DDR erlaubt worden, spaltete sich ausgehend von Dresden ein Teil der Bewegung ab und gründete den „Bund freistehender Christengemeinden“ ( BfC ). Anlass für die Trennung waren neben Glaubensfragen – der BfC wollte nicht länger an den Lehren des WTG - Gründers Charles Taze Russell festhalten – wohl auch persönliche Animositäten. Der Leiter der größten Gemeinde im neu entstandenen Bund, der Dresdner Alfred Diener, versuchte schon nach 1945 eine eigenständige Gemeinschaft, die „Freie Bibelgemeinde Dresden“, zu etablieren und war, wie häufig in Kreisen religiöser Konventikel, nicht willens, sich einer anderen Leitung unterzuordnen. Obwohl auch der BfC „keine behördlich zugelassene Religionsgemeinschaft“ war, sondern nur zu denen gehörte, „die den örtlichen Behörden bekannt“ war,412 konnte er nach 1959 eine eigene Zeitschrift „Unser Glaube“ 408 Aktenvermerk von Rudi Bellmann vom 5. 1. 1959 ( ebd., Bl. 4). 409 Treffbericht GI „Max“, unterschrieben Seltmann ( BStU, ZA, AIM P 2103/61, Band II, Bl. 21 f.). Abgedruckt in Hirch, Ehemalige Zeugen Jehovas, S. 49 f. 410 Vgl. Boyens, Das Staatssekretariat für Kirchenfragen, S. 127 f. 411 Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abteilungsleiter Kusch, an den Rat des Bezirkes Karl- Marx - Stadt, Referat Kirchenfragen, vom 27. 12. 1958 ( BArch, DO 4, 734, unpaginiert ). 412 Staatssekretariat für Kirchenfragen, Anlage II zum Bericht über die Durchführung des Dienstreiseauftrages im Bezirk Karl - Marx - Stadt am 4. 7.–5. 7. 1960 vom 26. 7. 1960 (Anlage II vom 1. 8. 1960), gez. Hasslinger ( BArch, DO 4, 733, Bl. 145–154).

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herausbringen. Stärker als die VfC war der Bund vom MfS unter wandert. In Dresden wurden die Aktivitäten der Gemeinschaft zur Beeinflussung von Zeugen Jehovas – es sollen sich von 120 Mitgliedern ca. 40 an der „Arbeitsgruppe gegen die Zeugen Jehovas“ beteiligt haben – vom MfS unterstützt, indem die aktuellen Adressen von Zeugen Jehovas zugespielt wurden.413 Auch eine sich 1970/71 vom BfC abgespaltene Kleingruppe um den Prediger Heinz Bolze wurde in die „operative Bearbeitung“ der Zeugen Jehovas integriert. Die lediglich 20 bis 25 Mitglieder umfassende Gruppe unter dem Namen „Freie Christengemeinde“ stand in enger Verbindung zum MfS und konnte ab 1980 ebenfalls eine eigene Zeitschrift „Weggefährte“ veröffentlichen. Trotz der organisatorischen, infrastrukturellen und finanziellen Unterstützung durch das MfS ( und seiner faktischen Außenstelle, dem Staatssekretariat für Kirchenfragen ) gelang es keiner der drei Religionsgemeinschaften, einen nennenswerten Einbruch in die Reihen der Zeugen Jehovas zu erreichen. Dies hatte zwei Gründe : Zum einen verstießen diese Gruppen allein durch ihre Existenz gegen entscheidende Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas. Sie waren außerhalb der „Neuen - Welt - Gesellschaft“ organisiert und vertraten als Gemeinschaft einen mehr oder weniger festgelegten Glaubenskanon. Von den Zeugen Jehovas wurde dieser nicht nur wegen bestimmten, d. h. von eigenen Dogmen abweichenden Lehren abgelehnt, sondern vor allem, weil es ein Glaubenskanon außerhalb „der Wahrheit“ und damit „ein Teil der [ abzulehnenden] Welt“ war. Zum anderen konnten diese Gruppen überhaupt kein religiöses Eigenleben führen. Sie waren Instrumente des MfS, ihre Aufgabe bestand in der Zersetzung der Zeugen Jehovas.414 Weder sie selbst noch die von ihnen herausgegebenen Druckerzeugnisse sollten „der Organisierung neuer oder der Wiederbelebung verbotener religiöser Gruppierungen dienen“.415 Letzten Endes sollten diese Religionsgemeinschaften allein auf die Verbreitung ihrer Schriften an Zeugen Jehovas reduziert werden.416 Daher beschränkte sich ihr Kontakt in die religiöse

413 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 391 f. 414 MfS, HA V, Bericht vom 7. 2. 1959, Betr. : „Vereinigung freistehender Christen“ Magdeburg und „Bund freier Christen“ Dresden : „Die weitere Tätigkeit dieser Gruppen war in der Richtung geplant, indem sie in immer offenerer Form gegen die ‚Zeugen Jehovas‘ auftreten und für die DDR und den Aufbau Stellung nehmen. Dadurch wird erreicht, dass diese Gruppen sich selbst in einem laufenden Zersetzungsprozess befinden und in ihrer Mitgliederstärke immer beschränkt bleiben. [...] Mit den Leitern dieser Gruppen besteht unsererseits Verbindung, die darin zum Ausdruck kommt, dass sie nichts unternehmen, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben.“ ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/ 12/111, unpaginiert ). 415 Aktenvermerk des Leiters der Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK der SED vom 5. 1. 1959 ( BArch, DO 1, HVDVP 11.0, 865, Bl. 4). 416 Handschriftliche Einschätzung des GI „Max“ [ Paul Balzereit jun.] vom 15. 12. 1959 (BStU, ZA, AIM P 2103/61, Band I, Bl. 50 f.). Abgedruckt in Hirch, Ehemalige Zeugen Jehovas, S. 49 f.

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Umwelt auf die Zeugen Jehovas und sich selbst. Missionarisches Verhalten war ihnen nicht gestattet. Wenn sie Eigeninteressen anmeldeten und sich den staat[ssicherheit ]lichen Forderungen verweigerten – wie die VfC 1964/65, die in ihrer Zeitschrift keine politischen Themen behandeln wollte – wurde ihnen die Unterstützung schnell entzogen.417 Das MfS war mit seinem Latein aber noch nicht am Ende. Mit der „Studiengruppe ,Christliche Verantwortung‘“ schuf es sich eine Institution, die einerseits nach außen auftreten konnte, andererseits, weil sie eben keine Religionsgemeinschaft war,418 eine größere Wirksamkeit bei Zeugen Jehovas erreichen konnte. Die „Studiengruppe“ gab eine gleichnamige Zeitschrift heraus, die mit finanzieller und logistischer Hilfe des MfS an Angehörige der verbotenen Glaubensgemeinschaft versandt wurde. Sie wurde zwar von der weitaus größeren Mehrheit der Angeschriebenen nicht gelesen, die Lektüre konnte aber von der Gemeinschaft nicht kontrolliert werden. Es brauchten keine anderen Glaubensdogmen übernommen, sondern nur einzelne Artikel als „interessant“ empfunden werden. Ein Zeuge Jehovas, der schon von Zweifeln geplagt war,419 konnte durch die Zeitschrift darin bestärkt werden und sich so Schritt für Schritt aus der bisherigen Glaubenswelt „heraushangeln“. Für ihren Auftraggeber war es auch von Bedeutung, dass die „Studiengruppe“ darauf verzichtete, ein religiöses Eigenleben zu führen, auf das das MfS keinen Einfluss nehmen konnte. Aus den Vorfällen mit der „Vereinigung freistehender Christen“, die sich in den sechziger Jahren weigerte, in ihrer Zeitschrift „politisch positiv zu gesellschaftlichen Fragen in der DDR Stellung zu nehmen“420, hatten die „Tschekisten“ gelernt. Die „Studiengemeinschaft ‚Christliche Verantwortung‘“ bestand Anfang der 1960er Jahre aus 26 Personen, die alle als „GHI - Gruppe“ registriert waren,421 einige wurden, wie der „Gründer“ Willy Müller, als Inoffizielle Mitarbeiter angeworben bzw. schon als solche in die „Studiengruppe“ eingeschleust.422 Sie war ein Geschöpf des Staatssicherheitsministeriums. Willy Müller, seit 1920 in Kontakt mit den Zeugen Jehovas, ließ sich 1946 in Magdeburg taufen. Nach dem Verbot wurde Müller als Gruppendiener eingesetzt. 1953 verurteilte das Bezirksgericht Gera Müller zu acht Jahren Zuchthaus, aus dem er wegen seines stark angegriffenen Gesundheitszustandes 1957 vorzeitig entlassen wurde. Obwohl seine Strafe nur auf Bewährung 417 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 388. 418 „CV verfolgt [...] keine Bildung einer neuen Religionsgemeinschaft.“ Konzeption zur politisch - ideologischen Beeinflussung der Anhänger der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ durch die Studiengruppe „Christliche Verantwortung“ ( CV ) in der DDR, Dezember 1974 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 67–87, hier 69). 419 „Zersetzung [ konnte ] nur gelingen, wenn sie auf fruchtbaren Boden fällt.“ So Dieter Pape in einem Interview 2000 in Gursky, Zwischen Aufklärung und Zersetzung, S. 61. 420 Zit. in Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 388. 421 Vgl. ebd., S. 222. 422 Das MfS hatte selbst in dieser Gruppe noch Angst, dass „negative politisch - ideologische Einflüsse“ Wirkung erzielen, daher musste auch die „Studiengruppe“ durch „zuverlässige IM abgesichert werden“, so ein Arbeitsplan des MfS, BV Gera, vom 18. 7. 1969. Zit. in ebd., S. 247.

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ausgesetzt war, nahm er sofort wieder Kontakt zu seinen Mitgläubigen auf, lehnte allerdings eine höhere Funktion als die eines Hilfsgruppendieners mit Verweis auf seine Bewährungszeit ab.423 Nach einer Denunziation durch einen Geheimen Informator ( GI ) verhaftete das MfS Müller am 10. März 1959 erneut. Durch die lange Haft körperlich und sicher auch seelisch geschwächt, begann er im April dem Druck der Vernehmer nachzugeben.424 Er übernahm die Argumentation seiner Peiniger und distanzierte sich von der angeblichen Spionagetätigkeit seiner Glaubensgemeinschaft. Die Mitarbeiter des MfS beauftragten Müller mit der Ausarbeitung von kritischen Pamphleten gegen die Leitung der Zeugen Jehovas. Diese fielen zu ihrer Zufriedenheit aus. Deshalb schlugen sie Müller am 29. Mai 1959 zur Anwerbung als Geheimen Mitarbeiter ( GM ) vor,425 ehe sie auch das Ermittlungsverfahren am 3. Juni einstellten. Das ursprüngliche Ziel, mit dem Aufbau einer Oppositionsgruppe die äußerst aktive Gruppe Gera - Nord der Zeugen Jehovas zu zerschlagen, wich jedoch bald einer umfassenderen Strategie. Diese zielte auf die Trennung der Zeugen Jehovas von deren legaler bzw. illegaler Leitung und auf eine Hinwendung zu den schon existierenden Abspaltungen ab. Das MfS wusste, dass die Gläubigen durch normale Kommunikationsmittel, wie Rundfunk, Zeitungen oder Bücher, ebenso wenig wie durch Kontakte zu Massenorganisationen oder andere Religionsgemeinschaften zu einem Umdenken bewegt werden konnten. Ihr Glaube ließ derartige Beziehungen nicht zu. So blieb nur die Methode, sie mit einer Schrift anzusprechen, die ihnen persönlich zugestellt wurde. Überdies waren die Zeugen Jehovas eine „literarische“ Religionsgemeinschaft, d. h. an die Arbeit mit Schriften und die Belehrung durch Schriften gewöhnt.426 Daher wurde Müller beauftragt, regelmäßig Briefe an Zeugen Jehovas zu verfassen. Das inhaltliche „Gerippe“ wurde vom MfS gestellt, Müller musste nur noch die biblische Untermauerung einbauen.427 Auch die gesamte Logistik stellte das MfS zur Verfügung, Müller erhielt die neueste Literatur der WTG, einen Abzugsapparat, Geld für Papier und – was besonders wichtig war – die Adressen der potentiellen Empfänger.428 423 Vgl. Schlussbericht vom 6. 5. 1959 ( BStU, Ast. Gera, AU 25/59 I, Bl. 85–91, hier 89 f.). 424 Das MfS gibt an, dass Müller „unter Druck“ angeworben wurde. Vgl. Beurteilung über IM Rolf vom 30. 4. 1960 ( BStU, Ast. Gera, AIM 269/70, P I, Bl. 116 f.). 425 In der am gleichen Tag unterschriebenen Verpflichtungserklärung Müllers ist das Ziel, eine Opposition aufzubauen, enthalten, „weil die Hetze [ in den Schriften der WTG ] das Friedenslager u. unseren Glauben schädigt“. Müller wählte den konspirativen Namen „Rolf“. Vgl. Verpflichtungserklärung vom 25. 5. 1959 ( ebd., Bl. 111). 426 Konzeption zur politisch - ideologischen Beeinflussung der Anhänger der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ von Dezember 1974 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 67–87, hier 70). 427 Treffbericht vom 26. 8. 1959 ( BStU, Ast. Gera, AIM 269/70, A I, Bl. 46–49, hier 46). 428 Dass es dabei immer wieder zu „Unfällen“ kam, d. h. falsche Adressen weitergereicht wurden, war für Müller ein Ärgernis. Die BV des MfS, besonders in den Bezirken mit hoher ZJ - Konzentration, wurden immer wieder angehalten, neue Adressen nach Gera zu liefern. So standen die im Jahre 1982 versandten 317 Exemplare der CV in den Bezirk Dresden in keinem Verhältnis zu den dort agierenden 7 000 ZJ, angestrebt wurde ein

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Das Ziel, eine Oppositionsgruppe innerhalb der Zeugen Jehovas aufzubauen, stieß schon von Anfang an auf Grenzen. Zwar gab es im Bekanntenkreis Müllers einige Mitgläubige, die den Konfrontationskurs der Leitung nicht in jeder Konsequenz mittragen konnten oder wollten, doch der Zuspruch auf die Briefe blieb denkbar gering. Nach ersten Kontaktbesuchen versammelten sich nur sechs Personen zu Bibelkreisen beim neuangeworbenen GM des MfS. 1962 hatte Müller einen Mitarbeiterstab von 26 Personen, die im selben Jahr als „Geheime Hauptinformator - Gruppe“ ( GHI - Gruppe ) unter Führung von GM „Rolf“ registriert wurde.429 Bis Ende der sechziger Jahre stieg die Zahl der Mitarbeiter allerdings nicht nennenswert an. 1967 waren es 30 Personen. Das MfS sah sich genötigt, die eigenen Dienststellen mit der Suche nach geeigneten IM für die Mitarbeit zu beauftragen.430 Dabei war es nötig, unter allen Umständen die Konspiration zu wahren, damit die Zeugen Jehovas keine Beweise in die Hand bekamen, dass hinter der „Christlichen Verantwortung“ das MfS stand.431 1965 hatte sich die „Studiengruppe ‚Christliche Verantwortung‘“ als Verein konstituiert, der die Briefe nun als Periodikum herausgab. Seit Mai 1968 bekam die „Studiengruppe“ in Gera Büroräume gestellt. Am 8. Februar 1968 wurde Müller für „hervorragende Dienste im Kampf gegen die Feinde der Deutschen Demokratischen Republik und bei der Sicherung und Festigung des Friedens“ mit der Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee in Silber ausgezeichnet.432 Bis 1967 belohnte ihn das MfS neben der Kostenerstattung für die Auslagen mit Sondergratifikationen in Höhe von 6110 Mark, danach wurde er Hauptamtlicher IM mit einem monatlichen Gehalt von 350 Mark, was sich bis 1970 auf 11 550 Mark summierte.433 Da die ersten Nummern der „CV“ parallel zu der Verhaftung führender Funktionäre der Zeugen Jehovas in der DDR erschienen, setzte das MfS große Hoffnungen in die zersetzende Wirkung ihrer Schriften. Die „CV“ war auch die einzige Zeitschrift in der DDR, die über die Verhaftungsaktion, wenn auch mit einjähriger Verspätung, berichtete. „Wie wir von den Angehörigen und Bekannten der verantwortlichen Brüder aus Leipzig, Erfurt und Dresden erfahren,

429 430 431 432 433

Verhältnis 1 :4. Vgl. Schwerpunktaufgaben zur Bearbeitung der „Zeugen Jehovas“ im Bezirk Dresden vom 2. 3. 1982 ( BStU, Ast. Dresden, Abt. XX, 9190, Bl. 1–5, hier 5). Registrierung von Personen, die GM „Rolf“ bei der Zersetzung der illegalen Sekte „Zeugen Jehovas“ im Gebiet der DDR aktiv unterstützen, vom 1. 8. 1962 ( BStU, Ast. Gera, AIM 269/70, A IV, Bl. 61–64). Anforderungsschreiben der Abt. XX /4 der BV Rostock vom 11.11. ( ohne Jahresangabe). Abgedruckt in Staatssicherheit in Rostock, S. 140 und 144 f. Vgl. MfS, BV Dresden, Abt. V /4, an KD Sebnitz, Betr. Systematische Zersetzung der verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ vom 17. 7. 1961 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz - 2006, Bl. 469 f.). Vgl. Befehl Nr. K 139/68 vom 8. 2. 1968 ( BStU, BV Gera, AIM 269/70, P I, Bl. 158) und Vorschlag zur Auszeichnung des GM „Rolf“ vom 20. 11. 1967 ( ebd., Bl. 159–161). Vgl. Rechnungsbeleg der an GM „Rolf“ zwischen 7. 7. 1959 und 14. 7. 1967 bzw. 15. 6. 1967 und 16. 2. 1970 gezahlten Beträge ( BStU, BV Gera, AIM 269/70, P II, Bl. 6).

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besteht seit November 1965 in der DDR keine Leitung mehr. Die Brüder haben sich gerichtlich zu verantworten.“ Die Verantwortung an den Inhaftierungen wurde der Wiesbadener Zentrale zugeschoben.434 Auch mit der Zeitschrift „CV“ versuchte das MfS, die Gläubigen von den Funktionären ihrer Gemeinschaft zu entfremden. Dazu wurde ihnen suggeriert, sie seien von der gesellschaftsfeindlichen Leitung irregeführt worden. Die einfachen Gläubigen sollten „zu einer bewussten Haltung als christliche Bürger der DDR“ geführt werden.435 Dass es den Staatssicherheits - Mitarbeitern und ihren IM nicht um das Seelenheil der Gläubigen ging, hatte die Instrumentierung der ABL / VfC zum Zwecke der Zersetzung der Zeugen Jehovas eindrücklich bewiesen. Daher verwundert es auch nicht, dass sich die „CV“ nicht wirklich der Aufklärung widmete, sondern versuchte, Zwietracht in die Versammlungen zu tragen. Leserbriefe wurden fingiert, um missliebige Funktionäre zu desavouieren. Aus jahrelanger DDR - Haft entlassenen und zwangsweise in die Bundesrepublik abgeschobenen Zeugen Jehovas wurde unterstellt, sie würden sich nun ein gutes Leben gönnen, weil sie eine Haftentschädigung zugesprochen bekommen hatten.436 Angesichts der offensichtlichen Verunglimpfung von Angehörigen der Zeugen Jehovas und ihrer Glaubensvorstellungen scheint es offensichtlich, dass die „CV“ innerhalb der Religionsgemeinschaft im Allgemeinen keine nennenswerten Auswirkungen hatte.437 Die Zeitschrift erreichte die anvisierte Zielgruppe nicht im erhofften Maße. Die Möglichkeit, in der DDR eine religiöse Zeitschrift herauszugeben, noch dazu gegen eine verbotene Religionsgemeinschaft und diese dann per Post den einzelnen Gläubigen zuzusenden, zeigte offensichtlich die Verbindung zu staat[ ssicherheit ]lichen Stellen. Außerdem griff die Zeitschrift die Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas zu direkt an, als dass sie von Gläubigen akzeptiert werden konnte.438 Größeren Einfluss errang die Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ innerhalb des kirchlichen Lagers und besonders unter ehemaligen Zeugen Jehovas. Die „Studiengemeinschaft“ stellte Verbindungen zu Einzelpersonen und Gruppen im In - und vor allem im ( westlichen) Ausland her, vernetzte und versorgte diese mit „Informationsmaterial“. Die im Auftrag der Staatssicherheit erstellten zersetzenden Schriften, Halbwahrheiten und Lügen wurden so weltweit verbreitet.

434 „Strategie der WT zusammengebrochen“. In : Christliche Verantwortung, Nr. 6, November 1966. 435 Rechenschaftsbericht der BV Gera, Abt. XX, vom 12. 10. 1967. Abgedruckt in Yonan, Christliche Verantwortung, S. 170 f. 436 Vgl. „Mietlinge, für 30 000 Westmark“. In : Christliche Verantwortung, Nr. 2, Februar 1966. Zit. unter URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / CV2.htm (20. 3. 2004). 437 Vgl. Kirchner, Die Freikirchen und Religionsgemeinschaften, S. 994. 438 Lageeinschätzung der Abt. XX der BV Dresden zur operativen Bearbeitung der nichtzugelassenen Organisation der „Zeugen Jehovas“ im Bezirk Dresden 1988 vom 19. 10. 1988 ( BStU, Ast. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9188, Bl. 1–3, hier 2).

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Das MfS begnügte sich jedoch nicht nur mit der kontinuierlichen Herausgabe einer Zeitschrift, sondern versuchte auch mit dem Druck und der Verbreitung von Büchern Einfluss zu nehmen. 1961 erschien im Deutschen Zentralverlag in Ostberlin eine DDR - Version von Günter Papes „Ich war Zeuge Jehovas“. Diese Ost - Ausgabe hat aber außer Titel und Autorenangabe mit dem Original wenig gemein. Wirklicher Autor dieses Buches war Papes Bruder Dieter, als hauptamtlicher IM angestellt in der Auswertergruppe am konspirativen Objekt „Wandlitz“ in Pankow, der im Untertitel schamhaft „Bearbeiter“ und „Gestalter“ genannt wurde. An der Urheberschaft kann kein Zweifel bestehen.439 Im Vorfeld hatte das MfS allerdings einige Schwierigkeiten auszustehen, meinte doch das Staatssekretariat für Kirchenfragen, es sei politisch nicht taktvoll, das Buch, wie ursprünglich vorgesehen, im CDU - eigenen „Union“ - Verlag herauszugeben. Andererseits hatte auch der ( im SED - Besitz befindliche ) Zentralverlag Bedenken. Das Buch passte angeblich nicht ins Profil des Verlages, da im Buch ausgiebig Lehren der Zeugen Jehovas ausgebreitet würden, „ohne dass eine marxistische Zerschlagung erfolgt“.440 Um sein Ziel zu erreichen, kaufte das MfS die Hälfte der Auf lage auf, um sie durch Mitarbeiter an bekannte Zeugen Jehovas zu verteilen. Diese wurden angehalten, das Buch zu lesen und „Stellungnahmen“ zu schreiben.441 Auch Inhaftierte wurden gezwungen, das Buch zu studieren und ihre Ansichten darzulegen. Die restliche Auf lage kam in den „Schwerpunktkreisen“ der DDR - Südbezirke in den freien Buchhandel. Außerdem wurde allen operativen Mitarbeitern empfohlen, „das Buch [...] zu lesen, weil es eine gute Grundlage zur politisch - operativen Arbeit bildet“.442 Da die Zeugen Jehovas nach Angaben des MfS in den Jahren von 1961 bis 1965 einen Zuwachs von ungefähr 5 000 Anhängern erreicht haben sollten, griff die kirchenpolitische Abteilung des Ministeriums Ende der sechziger Jahre erneut auf ein Manuskript Dieter Papes zurück. Unter dem Titel „Die Zeugen Jehovas. Eine Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft“ erarbeitete ein 439 Vgl. Abt. V /4 der BV Dresden an die KD Sebnitz vom 23. 8. 1961, Betr. Verbreitung des Buches „Ich war Zeuge Jehovas“ : „Vom VEB Deutscher Zentralverlag wurde das Buch ‚Ich war Zeuge Jehova[ s ]‘ herausgegeben. Dieses Buch ist vom Verfasser auf der Grundlage nachweisbarer Dokumente und eigener Erfahrungen geschrieben worden. Es soll in der politisch - operativen Arbeit auf der Linie ‚Zeugen Jehova[ s ]‘ mit dazu beitragen, den Zersetzungsprozess unter der breiten Masse der Mitglieder weiter zu vertiefen und beschleunigen zu helfen“ ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 466 f.). Vgl. auch Treffbericht vom 24. 9. 1965 : „Dabei erklärte GM ‚Rolf‘, dass ihm aufgefallen sei, dass Pape bei seinem ersten Buch, was er herausgegeben hat, nicht seinen Vornamen, sondern den Vornamen seines Bruders, welcher in Westdeutschland lebt, benutzt hat“ (BStU, BV Gera, AIM, 269/70, A V, Bl. 142). 440 Mitteilung der HA V /1/ IV vom 8. 11. 1960 ( BStU, ZA, A 185/85, Bl. 285). 441 Vgl. KD Sebnitz an die BV Dresden, Abt. V /4, Betr. Verbreitung des Buches „Ich war Zeuge Jehovas“ vom 23. 8. 1961 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 656) und vom 1. 12. 1961 ( ebd., Bl. 655). 442 Vgl. BV Dresden, Abt. V /4, an die KD Sebnitz, Betr. Verbreitung des Buches „Ich war Zeuge Jehovas“ vom 23. 8. 1961 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 466 f.).

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MfS - Team „mit Hilfe unwiderlegbarer Fakten“ eine Schrift, die den einfachen Zeugen Jehovas, aber auch der Öffentlichkeit die Bindung der Wachtturm Gesellschaft „zum USA - Großkapital und die Rolle, die die WTG im Rahmen der psychologischen Kriegsführung der USA“ hatte, aufdecken sollte. Zweifellos war dabei auch an eine innere Zersetzung gedacht. Einfache Gläubige sollten gegen die Leitung der Gemeinschaft aufgebracht werden, denn im Buch wurde dem „unerhörten Missbrauch, den die WTG mit der Glaubensbereitschaft ihrer Anhänger betreibt“, nachgespürt. Ebenso war daran gedacht, innerhalb der Leitung „eine Welle des Misstrauens“ auszulösen, „welche sie in ihrer Aktionseinheit hemmen“ würde.443 Wichtiger als die Wirkung nach innen war den ostdeutschen „Tschekisten“ die Wirkung nach außen. So sollten die „Oppositions“ - Gruppen „in ihrem Kampf gegen die WTG“ unterstützt werden, staatliche Institutionen, „wie Sicherheitsorgane, Justizbehörden ( Richter, Staatsanwälte ), aber auch [...] entsprechende Stellen der NVA“ angeleitet und die Partei und ihre Massenorganisationen informiert werden.444 Denn längst hatte sich die geheimpolizeiliche Bearbeitung der Religionsgemeinschaft von deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit abgekoppelt. Selbst MfS - Mitarbeiter hatten mitunter Schwierigkeiten, die angeblich antikommunistische Betätigung der Wachtturm - Gesellschaft einheitlich zu begründen445 und damit das Verbot zu legitimieren. Besonders misslich für die ostdeutsche Führung war der Umstand, dass mit den Zeugen Jehovas eine im Nationalsozialismus verfolgte Gruppe „bearbeitet“ wurde. Daher verfolgte das Autorenkollektiv im umfangreichsten Abschnitt des Buches das Ziel, nachzuweisen, dass die Religionsgemeinschaft erstens zu Unrecht verfolgt wurde und zweitens alles andere als ein Opfer des Nationalsozialismus, sondern vielmehr Kollaborateur war. In Wirklichkeit meinte das 1933 ausgesprochene Verbot angeblich eine kleine Gruppierung namens „Wahrheitsfreunde“, welche in einem Flugblatt „die antisemitischen und antikommunistischen Verbrechen der Nazis anprangerte“. Nur durch eine Verwechslung sei dieses Flugblatt den Bibelforschern zugeschrieben worden.446 Diese hingegen hätten sich bei den Nazis angebiedert, ja sich auch an „der Vorbereitung der

443 Vgl. Konzeption zu dem Buch „Theokratie – Illusionen – Fanatismus – Verbrechen“ (Die Watch - Tower und ihre Zeugen ) [ so der Arbeitstitel ], o. D. ( BStU, ZA, HA XX/4, 932, Bl. 189–201). Vgl. Hirch, Erarbeitung einer „Dokumentation“, S. 59. 444 Ebd., S. 60. 445 In den frühen ( von der HA V /4/3 verfassten ) CV - Briefen galten die Zeugen Jehovas erst seit 1949 als antikommunistisch, weil sie damals einem westlichen Verbot wegen Nähe zu den Kommunisten entgehen wollten. Vgl. Willy Müller, Reinheit der Organisation wiederherstellen, o. D. Abgedruckt in Yonan, Christliche Verantwortung, S. 95 f. In der „Dokumentation“ von 1970 wurde verkündet, dass die WTG schon Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der psychologischen Kriegsführung spielte, weil sie „ein durchaus brauchbares Instrument gegen das Aufbegehren der hungernden Massen“ war, Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 73 f. 446 Vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 153–158.

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faschistischen Judenpogrome“ beteiligt.447 Für ihre Argumentation bedienten sich die Herausgeber Lagebeurteilungen der Gestapo und des SD und übernahmen dabei auch die angeblichen Beweise einer Steuerung durch jüdische Hintermänner. Waren es erst zionistische Gruppierungen, die hinter den Bibelforschern standen, handelte später die WTG angeblich im Namen des USGroßkapitals, „der deutsch - amerikanischen Bankiersgruppe Kuhn, Loeb, Warburg“.448 Damit übernahm das MfS direkt die antisemitischen Verschwörungskonstruktionen der NS-Bewegung. Auch die illegale Arbeit der Zeugen Jehovas nach 1934 musste diskreditiert werden, denn die Parallelen zum Handeln der ostdeutschen Gläubigen nach 1950 waren für den Beobachter offensichtlich. Daher wurden aus Verhörprotokollen der Gestapo und Gnadengesuchen von Funktionären einzelne Passagen aus dem Zusammenhang gerissen und so der Eindruck erweckt, dass es sich bei der WTG - Führung in Wirklichkeit um „faschistisch kompromittierte religiös politische Abenteurer“ handelte, die um die „Gunst der Nazis“ buhlten und zum „massenweisen Verrat der eigenen Glaubensbrüder an die Gestapo“ bereit waren.449 Da über die Zeugen Jehovas kaum quellengesättigte Literatur vorhanden war, avancierte das Buch schnell zum „Standardwerk“: Wie wichtig dem MfS die interne Schulung über die angebliche Gefährlichkeit der Zeugen Jehovas war, zeigt, dass von 20 000 gedruckten Exemplaren fast die Hälfte für staatliche und Parteiinstitutionen reserviert wurden. 1 500 Exemplare bekamen die Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK der SED bzw. das Staatssekretariat für Kirchenfragen und die untergeordneten Ebenen in den Kreisen und Bezirken der DDR. Eine ebenso große Menge erhielten die MfS - Hauptabteilungen XX /4 (Kirche ), HA I ( Wehrkreiskommandos ), HA VII ( Strafvollzug ) und HA IX (Untersuchungsabteilung ). 7 000 Bücher wurden für die Mitarbeiter des MfS aufgekauft.450 Die interne Wirkung der „Dokumentation“ lässt sich aus den Akten nicht rekonstruieren. Verbot und geheimpolizeiliche Bearbeitung der Zeugen Jehovas mussten im MfS sicher nicht legitimiert werden, denn auch außerhalb des Zirkels der „Tschekisten“ galten die unter dem Ideologem PID zusammengefassten Verschwörungstheorien. Dieser ideologische Rahmen musste also nur noch praktisch gefüllt werden. Auch wurden Vorgaben des MfS selten hinterfragt. Weitaus wichtiger scheint der Wunsch nach einer verbesserten Zusammenarbeit der verschiedenen Verfolgungsinstanzen bzw. zwischen Partei und MfS gewesen zu sein. Das Ziel, durch das Buch die parteiloyalen 447 Vgl. Konzeption zu dem Buch „Theokratie – Illusionen – Fanatismus – Verbrechen“ (Die Watch - Tower und ihre Zeugen ) [ so der Arbeitstitel ], o. D. ( BStU, ZA, HA XX /4, 932, Bl. 189–201); Hirch, Erarbeitung einer „Dokumentation“, S. 61. 448 Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 87–98. 449 Vgl. Garbe, Gesellschaftliches Desinteresse, S. 307 f. 450 Vgl. MfS, HA XX vom 5. 1. 1971, Bearbeitung und Verbreitung des Buches „Die Zeugen Jehovas – Eine Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft“ ( BStU, ZA, HA XX /4, 932, Bl. 122–126, hier 124 f.). 1971 erschien dann zudem in der Bundesrepublik eine Lizenzausgabe und wurde dort weitgehend unkritisch rezipiert. Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 308–310.

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Bevölkerungskreise in die ideologische Auseinandersetzung mit Angehörigen der Glaubensgemeinschaft einzubeziehen, schlug aber fehl. Die Bearbeitung blieb beim MfS konzentriert. Das Wissen über die Religionsgemeinschaft und den Grund ihres Verbotes schwand in der Bevölkerung wie auch in den meisten Institutionen von Partei und Staat immer mehr.

2.3

Differenzierungsstrategien

1959 kam das MfS zu dem Ergebnis, dass die Existenz von 18 000 Zeugen Jehovas in der DDR, davon 12 000 Aktiven, die „Verseuchung“ Tausender von Menschen mit deren „menschenfeindlicher Ideologie“ bedeute. Diese Menschen würden dann „vom bewussten Aufbau des Sozialismus abgehalten werden“. Außerdem wäre es der Zentrale in Brooklyn durch die Berichterstattung der ostdeutschen Gläubigen über ihre Aktivitäten möglich, „nicht nur Hetzartikel zu verfassen, sondern auch eine Einschätzung über die Entwicklung des Landes auf den verschiedensten Gebieten vorzunehmen“. Daher sei es Aufgabe des Ministeriums, „in kürzester Frist die Organisation ‚ZJ‘ so zu zersetzen, und in ihrer illegalen, feindlichen Tätigkeit einzuschränken, dass sie keine Rolle mehr im Gebiet der DDR spielt“.451 Die ideologische Beeinflussung der Gläubigen konnte aber nur eine Seite der Bekämpfung sein. Sie musste durch die „Operative Bearbeitung“ ergänzt werden. Denn nach wie vor galt es, die Verbindungen der Gläubigen zu den Büros in der Bundesrepublik und in West - Berlin zu stören, Kurierfahrten bzw. die Literatureinfuhr zu verhindern. Besonders aktive Mitglieder – Funktionäre oder sogenannte Pioniere – mussten ausgeschaltet werden. So gedachte man den einfachen Gläubigen Vorbild und Anleitung sowie die als Grundlage des Glaubens wichtige Literatur zu entziehen und damit „reif“ für die Zersetzungsarbeit zu machen. Die wichtigste Voraussetzung, um die Ziele des MfS in der Arbeit mit allen nicht gleichgeschalteten Zusammenschlüssen erreichen zu können, war die Platzierung von IM, vor allem in Schlüsselpositionen. War die langfristige Etablierung von einflussnehmenden IM schon in den protestantischen Landeskirchen auf Grund deren demokratischen Strukturen schwierig, erwies sich dies bei den Zeugen Jehovas als noch komplizierter. Nichtgläubigen war der Eintritt in die Religionsgemeinschaft schwer zuzumuten, sie durchdrangen die besonderen Glaubensinhalte und deren Folgen für das praktische Leben selten. Die besondere hierarchische Struktur der Zeugen Jehovas, d. h. die völlige Abhängigkeit und Absetzbarkeit von Funktionären jeder Ebene vom jeweiligen Zweigbüro, erschwerte auch eine langfristige Arbeit mit IM aus den Reihen der Gläubigen. 451 Zusammengefasster Bericht über die Entwicklung der Organisation „ZJ“ und ihre Untergrundtätigkeit gegen die DDR vom 30. 11. 1959 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz - 2006, Bl. 5–22, hier 10 und 22).

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Bei geringsten Unstimmigkeiten oder Verdachtsmomenten konnten sie durch eine Weisung der Leitung ausgetauscht werden. Zudem war es für die „Tschekisten“ schwer, gläubige Zeugen Jehovas „aus der Konspiration herauszubrechen“. Diese standen zumeist zu ihrem Glauben und belasteten Glaubensgenossen nur so weit, wie es dem MfS schon bekannt war. Nach der MfS - Diktion standen sie unter dem „ideologischen Einfluss der Funktionäre“ und berichteten „unehrlich“. Offenbarte sich ein angeworbener IM gegenüber den Funktionären, galt das als „Dekonspiration“ und „Verrat“.452 Zeugen Jehovas, die sich vom Glauben abgewandt hatten, waren demgegenüber selten zu einem Verbleib in den Reihen der Gemeinschaft zu bewegen. Das MfS arbeitete seit seinem Bestehen mit inoffiziellen oder, wie es in den fünfziger Jahren noch hieß, geheimen Mitarbeitern. Sie sorgten dafür, dass genügend Beweismaterial und Informationen für eine Zerschlagung der ins Visier gerückten Gruppen vorlagen. Hierin unterschieden sie sich nicht von V - Leuten der Gestapo, wie dem V - Mann Hans Müller, der sich mit Kriegsbeginn 1939 in die verschiedenen illegalen Gruppen der Zeugen Jehovas einschlich und mit dessen Hilfe viele Gruppen im mitteldeutschen Raum zerschlagen wurden. Nach diesem Prinzip arbeiteten auch die meisten IM in den fünfziger Jahren. Sie galten als erfolgreich, wenn mit ihrer Hilfe höhere Funktionäre dingfest gemacht werden konnten. Eine Aufstellung der „auf Linie Zeugen Jehovas“ arbeitenden IM der MfS - Bezirksver waltung Dresden verdeutlicht zudem die mangelnde Qualifikation der Spitzel. In dem Bezirk, der nach dem Bezirk Karl - Marx - Stadt die meisten Gläubigen aufwies, gab es nur 22 „Geheime Mitarbeiter“ bzw. „Geheime Informatoren“. Davon hatte nur die Kreisdienststelle Dresden einen Funktionär im Bestand, alle anderen waren ohne Funktion oder sogar außerhalb der Zeugen Jehovas angesiedelt.453 Erst ab Mitte der sechziger Jahre sollte es gelingen, höhere Funktionäre anzuwerben bzw. vorhandene IM in höhere Funktionen zu lancieren. Mit dem Beginn des Zersetzungskonzepts entwickelte das MfS einen breitgefächerten IM - Bestand. Es gab Spitzel, die die nötigen Informationen für die „operative Arbeit“, d. h. die Zerschlagung von Gruppen oder der konspirativen Infrastruktur beschafften, solche, die innerhalb der Religionsgemeinschaft Zersetzung betrieben, solche, die die Zersetzung in den sogenannten Oppositionsgruppen organisierten und schlussendlich solche, die in höheren Funktionen der Religionsgemeinschaft über organisatorische und strategische Veränderungen berichteten. Dieses System von Informanten erlaubte es dem MfS, im Voraus über „illegale“ Handlungen im Bilde zu sein und diese – ohne selbst erkennbar in Erschei452 Leutnant Jürgen Bartnik, Die Beachtung der Feindhandlungen, Struktur und menschenfeindlichen Lehre der Zeugen Jehovas bei der Auswahl und Gewinnung geeigneter inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung der staatsfeindlichen Tätigkeit der verbotenen Organisation Zeugen Jehovas, Fachschularbeit 1977 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–889/76, S. 18 und 31). 453 Vgl. MfS, BV Dresden, Abt. V, an das SfS, HA V /3, vom 22. 7. 1954 ( BStU, BV Dresden, AS 16, 17, 18/60, Bl. 289–300).

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nung zu treten – zu verhindern. Als beispielsweise im Jahre 1963 ein als Wochenendhaus getarntes Schulungsobjekt für den „Bezirk West“ der illegalen Gemeinschaft gebaut werden sollte, wusste das MfS schon im Vorfeld Bescheid. Daher lancierte es einen IM in die Nähe des als Bauherr auftretenden Gebietsdieners der dortigen Zeugen Jehovas und streute Verdächtigungen aus. Das Ergebnis waren Zer würfnisse innerhalb der Versammlung und die Verhinderung des Neubaus.454 Das Ziel, vorbeugend einzugreifen, nicht erkennbar als MfS aufzutreten, zersetzend in die Reihen der Gläubigen zu wirken und dabei die Schwelle der strafrechtlichen Verfolgung nicht zu überschreiten, konnte in diesem Falle erreicht werden. Musste sich das MfS nach 1956 von der offenen Gewaltausübung bei Verhaftung und Vernehmung verabschieden, d. h. sich in der Wahl der Mittel der Bearbeitung begrenzen, stand die ostdeutsche Geheimpolizei bald vor der Aufgabe, auch die Wirkung seiner Aktivitäten zu bedenken. Sollte bei der Aktion „Zerfall“ ab 1956 bei den einzelnen Gläubigen „nur Unsicherheit“ aber keine „Angst“ erzeugt werden,455 konkretisierten sich die Forderungen der SED kurz vor dem Mauerbau. Obwohl die Praktiken von Partei und Staatssicherheit die Fluchtwelle nach Westdeutschland immer weiter anheizten, forderte die kirchenpolitische Abteilung der Bezirksverwaltung Dresden von ihren untergeordneten Kreisdienststellen Zurückhaltung bei der offenen Kontaktierung von ehemaligen Häftlingen der Zeugen Jehovas, um sie als Informanten anzuwerben. Es dürften daraus „keine Republikfluchten unter diesen Mitgliedern entstehen“.456 Diese „von außen“ gezogenen Grenzen werden in den Folgejahren den Spielraum des MfS stetig einschränken. Aber auch das ausgefeilte Spitzelsystem brachte neue Grenzen. Es wurde immer schwieriger, die eingegangenen Informationen praktisch umzusetzen. In der konspirativen Abschirmung der Religionsgemeinschaft waren Informationen nur einer klar umrissenen Zahl von Funktionären zugänglich. Jedes Eingreifen, seien es nun Verhaftungen, die Auf lösung von heimlichen Treffen oder die Verhinderung geplanter Aktionen konnte die Informationsquelle verraten und damit „dekonspirieren“. Deren Anwerben, Einschleusen und Platzieren aber war so aufwendig, dass das MfS alle Hebel in Bewegung setzte, um diesen „worst case“ zu verhindern. Die seit Ende der fünfziger Jahre differenzierte und rationalere Herangehensweise der für die Bearbeitung der Zeugen Jehovas zuständigen Hauptabteilung XX /4 des MfS hatte allerdings nur auf die operative Arbeit Auswirkungen. Handelte es sich darum, Glaubensinhalte oder Strukturen der Zeugen Jehovas zu erkennen und für die eigene Arbeit zu nutzen, konnte das MfS das durch Experten wie Dieter Pape vermittelte Wissen anwenden. Ging es jedoch um die Einschätzung der Ursachen für die Existenz einer solchen Religionsgemeinschaft in 454 Vgl. Fincke, Zwischen Widerstand, S. 226. 455 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 605–607. 456 MfS, BV Dresden, Abt. V /4, an KD Sebnitz vom 17. 7. 1961 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz - 2006, Bl. 469 f.).

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der sozialistischen DDR oder die Folgen für die einzelnen Gläubigen bzw. die Gesellschaft, hielten Staatssicherheit und SED bis zuletzt an der These der „pseudoreligiösen antikommunistischen Hetz - und Wühltätigkeit im Auftrage des amerikanischen Imperialismus“ fest. Die neue „Sachlichkeit“ stand einem Festhalten an stalinistischen Feindorientierungen, wie dem „Wallstreet - Syndrom“, nicht grundsätzlich entgegen.457 Die Lehre der Zeugen Jehovas stellte in den Augen des MfS ein stark genutztes „Werkzeug der Imperialisten“ dar.458 Der Glaubensgemeinschaft wurde unterstellt, ihre missionarischen Aktivitäten mit der „imperialistischen psychologischen Kriegsführung“ gegen die sozialistischen Länder abzustimmen. Besonders vor dem 17. Juni 1953 und der „Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls“ 1961 sei diese Zusammenarbeit zu erkennen gewesen.459 Dieses Festhalten an den alten Feindbildern war geradezu konstitutiv für eine „erfolgreiche“ Bearbeitung der angeblichen Gegner. Wie auch das Rassekonzept und die Vorstellung vom „Volksfeind“ bei Gestapo und SD hatte das tschekistische Feindbild des MfS drei hauptsächliche Funktionen : Das Feindbild sollte die Mitarbeiter dazu befähigen, Ziele, Methoden und Kräfte des „Feindes“ richtig einzuschätzen. Zusätzlich konnte so das eigene Handeln legitimiert und das des Gegners kriminalisiert werden. Die marxistisch - leninistische Geschichtsideologie lud den Freund - Feind - Gegensatz moralisch auf.460 Außerdem hatte eine derartige Sichtweise vom Gegner eine motivierende Funktion, da so zu verstärktem Hass auf diesen und damit auch zu „höheren Leistungen“ bei dessen Ausschaltung verholfen werden konnte.461 Da die Zeugen Jehovas mit der illegalen Fortführung ihres Glaubenslebens eine „politische Untergrundorganisation“ bildeten,462 stand die strafrechtliche Bearbeitung der Gläubigen nach wie vor im Vordergrund. Doch auch auf dem Gebiet des politischen Strafrechts äußerte sich das veränderte politische Verständnis : Bis 1956 galt den DDR - Machthabern jede Straftat als Ausdruck einer „feindlichen Haltung“ und damit als vom westlichen Imperialismus gesteuert.463 Nun jedoch wollte die Parteiführung zwischen „Staatsverbrechern“ und solchen Personen unterschieden wissen, „die, obwohl sie gegen unsere Gesetze verstießen, doch nicht als außerhalb unserer sozialistischen Ordnung stehend betrach-

457 Vgl. Meuschel, Legitimität und Parteiherrschaft, S. 133. 458 Deutsches Institut für Zeitgeschichte Berlin, „Jehovas Zeugen“ – Gutachten unter Verwendung entsprechender Fachliteratur von 1964 ( BStU, Ast. Dresden, Abt. XX, 9192, Bl. 4). 459 Deutsches Institut für Zeitgeschichte Berlin, Gutachten über die Schriften und Druckerzeugnisse der Sekte „Zeugen Jehovas“ von 1966 ( BStU, Ast. Dresden, Abt. XX, 9193, Bl. 1–59, hier 5–7). Vgl. auch Dirksen, Keine Gnade, S. 725. 460 Vgl. Baule, Die politische Freund - Feind - Differenz, S. 171. 461 Vgl. ebd., S. 177. 462 Analyse der politisch - ideologischen und religiösen Grundkonzeption der Organisation „Zeugen Jehovas“ und ihrer heutigen Variante vom 16. 3. 1966 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 88–100, hier 90 und 98). 463 Vgl. Raschka, Justizpolitik im SED - Staat, S. 36 f.

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tet werden können“.464 Aus diesem Grund enthielt das im Dezember 1957 beschlossene Strafrechtsergänzungsgesetz ( StEG ) auch die Strafnorm der „bedingten Verurteilung“ und des „öffentlichen Tadels“. Ziel war es, die Zahl der zu kurzfristigen Haftstrafen Verurteilten zu senken. Aber auch in der Gruppe der „Staatsverbrecher“ wurde nun differenziert. Während reelle oder vermeintliche politische Gegner der SED bisher unter dem Begriff der „Boykotthetze“ ( Artikel 6 der DDR - Verfassung ) zusammengefasst und entsprechend zusammen mit der Kontrollratsdirektive 38 ( KRD 38) verurteilt wurden, unterschied die im Gesetz enthaltene „Ergänzung zum Besonderen Teil des Strafgesetzbuches“ nun zwischen den Straftatbeständen „Spionage“ ( § 14), „Sammlung von Nachrichten“ ( § 15), „Verbindung zu verbrecherischen Organisationen“ ( § 16), „staatsgefährdenden Akten“ ( § 17), „staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ ( § 19), „Staatsverleumdung“ ( § 20), „Verleiten zum Verlassen der DDR“ ( § 21), „Diversion“ ( § 22) und „Schädlingsarbeit und Sabotage“ ( § 23).465 Dem neuen Gesetz lag nicht nur der Wunsch nach einer Ablösung der Generalklausel „Boykotthetze“ und einer eindeutigen Beschreibung der einzelnen Straftatbestände zugrunde. Mit der Übertragung der „Souveränität“ durch die Sowjetunion mit dem „Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR“ vom September 1955 wurde auch die Kontrollratsdirektive 38 abgeschafft. Eine zeitlang half sich die ostdeutsche Justiz mit der alleinigen Anwendung des Artikels 6 der Verfassung für die Abstrafung politischer Delikte.466 Wie Justizministerin Hilde Benjamin in ihrer Begründung des Gesetzentwurfes für das Politbüro der SED zudem beklagte, gab es „seit der Aufhebung der Kontrollratsgesetze [...] in Berlin überhaupt kein Gesetz, auf Grund dessen ein Verbrechen gegen den Staat bestraft werden kann“.467 Zwar war es nach der geltenden Strafprozessordnung von 1952 möglich, die Beschuldigten in eine außerhalb Berlins befindliche Untersuchungshaftanstalt zu verbringen, um sie „am Ort ihres Aufenthaltes“ anzuklagen. Misslich war die Situation allemal.468 Die neue Differenzierung betraf auch den justitiellen Umgang mit den Zeugen Jehovas. Die gegen sie verwandten Strafbestimmungen waren die §§ 14–16 und 19. Es galt nun zu klären, unter welche Straftatbestände die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft, die Übermittlung der Arbeitsberichte der einzelnen Versammlungen, die Kuriertätigkeit oder die Annahme einer Funktion innerhalb der illegalen Organisation fielen. In den anleitenden Seminaren in den Bezirken und Kreisen der DDR kam zum Ausdruck, dass bei den einzelnen Gerichten darüber durchaus Differenzen bestanden. In Auswertung der „Zwei464 33. Tagung des ZK der SED am 16. 10. 1957. Zit. in ebd., S. 37. 465 Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches vom 11. 12. 1957, GBI. der DDR I, S. 643– 647. 466 Vgl. BG Cottbus (1 Ks 350/55) gegen Alfred Bauer und 2 Andere vom 21. 12. 1955. 467 MdJ der DDR, Vorlage für das Politbüro, betr. Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuches vom 20. 1. 1956 ( BArch, DP 1, VA, 245, Bl. 15–17, hier 16). 468 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 630.

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felsfragen“ legte die Hauptabteilung Gesetzgebung im MdJ fest, dass mit der bloßen Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas keinesfalls schon die Vorbereitung der Spionage, sondern „in der Regel Verbindungsaufnahme ( § 16) oder gegebenenfalls § 15“ [ Sammlung von Nachrichten ] vorläge.469 Dass diese neue Einschränkung keine generelle Abkehr vom Spionagevorwurf war, bewies ein Urteil des Obersten Gerichts vom 28. Februar 1958, das den Revisionsantrag eines vor dem Bezirksgericht Leipzig nach § 19 StEG zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilten 55 - jährigen Gläubigen abwies. Das Oberste Gericht meinte sogar, dass sowohl wegen des „verbrecherischen Charakters“ der Religionsgemeinschaft als auch wegen der Art und Weise der Berichterstattung ( teils mündliche, teils verschlüsselte schriftliche Berichte ) der Angeklagte neben dem § 19 auch wegen Spionage nach § 14 zu verurteilen sei. Entsprechend erhöhte das Oberste Gericht den Urteilsspruch des Leipziger Bezirksgerichtes für den Mann auf vier Jahre.470 1960 revidierte das Oberste Gericht erneut das Urteil eines Bezirksgerichts. Ein niederer Funktionär der Glaubensgemeinschaft war vom Bezirksgericht Leipzig wegen Spionage – er hatte Berichte über die geleisteten Missionsstunden, die Zusammenkünfte seiner Gruppe bzw. die eingesammelten Spendengelder geschrieben – zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Das Oberste Gericht revidierte nicht nur die Strafhöhe auf zweieinhalb Jahre Zuchthaus, sondern verwarf auch die Meinung der nächst unteren Instanz, dass jedwede Berichterstattung den Straftatbestand der Spionage ( § 14) erfülle. Zwar bleibe die Charakterisierung der Zeugen Jehovas durch das höchstrichterliche Urteil aus dem Jahre 1950 nach wie vor gültig, doch bestünde die Tätigkeit der „Feindorganisation“ nicht allein aus Spionage. Daneben betreibe die „verbrecherische Organisation“ aber auch „Wühltätigkeit der verschiedensten Art, insbesondere staatsfeindliche Propaganda und Hetze“. Daher könnten die verschiedenen Berichte auch unterschiedlichen Zwecken dienen. Bedenkt man, dass der Spionagevorwurf eine wichtige Begründung für das Verbot und den Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR war, ist dies augenscheinlich eine verblüffende Entwicklung. Ohne den Spionagevor wurf selbst zurückzunehmen, wurde er immer seltener angewandt. Schon Mitte der 1950er Jahre galten die von Missionaren der Zeugen Jehovas angefertigten Gebietskarten, die 1950 der Beweis par excellance für die Spionagetätigkeit waren, nur noch dem Zweck, „ein Zusammentreffen mit fortschrittlichen Menschen“ zu vermeiden.471 Bei Bedarf, 469 MdJ, HA Gesetzgebung, Zweifelsfragen aus den Seminaren in den Bezirken und Kreisen vom 31. 1. 1958 ( BArch, DP 1, VA, 245, Bl. 442). Dabei ist interessant, dass die Zeugen Jehovas im Abschnitt Staatsverbrechen als einzige „zweifelhafte“ Tätergruppe aufgeführt wurde. 470 Vgl. Urteilsspruch des BG Leipzig vom 8. 2. 1958. Abgedruckt in Neue Justiz, (1958), S. 177 f., Urteilsspruch des OG vom 28. 2. 1957. Abgedruckt in ebd., S. 248 f. Vgl. auch Unrecht als System, Band III, S. 116. 471 Vgl. SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt an das ZK der SED, Abt. Staatliche Organe / Sektor Kirche, Betr. Informationsbericht über die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 30.10. 53 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV 2/14/52, Bl. 38–45, hier 38).

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vor allem wenn das Verbot intern oder nach außen legitimiert werden musste, wurde auf die angebliche Spionagetätigkeit der Zeugen Jehovas zurückgegriffen. Um den untergeordneten Gerichten die Unterscheidung zu erleichtern – immerhin widersprach die neuerliche Revision dem eigenen Urteilsspruch von Februar 1958 –, griff das Oberste Gericht auf die auch schon im MfS vorgenommene Differenzierung der Gläubigen in drei Gruppen zurück. Während die erste Gruppe aus „der großen Anzahl der Anhänger“ bestand, die „fanatisch zu der ihnen vermittelten Religionslehre“ stünden, war die zweite Gruppe schon etwas gefährlicher. Sie bestand vor allem aus untergeordneten Funktionären und Gruppendienern. Bei diesen müssten die Richter fallabhängig entscheiden, da hier nicht grundsätzlich Spionage vorläge. Die dritte Gruppe waren „die unmittelbaren Vertrauenspersonen der Leitung“, deren „Anstrengungen auf die Durchsetzung des Gesamtprogramms der ‚Zeugen Jehovas‘, also auf Spionage und sonstige Wühltätigkeit“ gerichtet wären. Diese Kategorie würde zumeist auf Funktionäre ab der Ebene eines Kreisdieners zutreffen.472 Trotz aller Differenzierung fällt auf, dass selbst die „Handlungen“ der einfachen Gläubigen „rechtlich als Verstoß gegen § 19 StEG zu beurteilen“ seien. Wie das Bezirksgericht Karl - Marx - Stadt entschied, erfüllte auch das „bloße Zusammenkommen“ von Zeugen Jehovas den Tatbestand der „Hetze“.473 Die Haftzahlen erreichten gegen Ende der fünfziger Jahre zwar nicht mehr die Ausmaße der frühen Verfolgung, doch wurden im Zeitraum von 1957 bis 1960 immerhin noch jährlich zwischen 78 und 101 Zeugen Jehovas inhaftiert.474 Da die DDR - Behörden jedoch in der gleichen Zeit daran gingen, verurteilte Zeugen Jehovas vorzeitig aus der Haft zu entlassen, stieg die Gesamtzahl der Inhaftierten nicht mehr. Statt wie zu Beginn der 1950er Jahre, als die Gläubigen zum großen Teil zu mehr als zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurden, pegelte sich nun das Strafmaß bei drei bis vier Jahren Haft ein.475 Doch behielt sich die SED weiterhin vor, jede Glaubensäußerung eines Zeugen Jehovas strafrechtlich zu ahnden, da sich „die westlichen Imperialisten [...] in ihrer feindlichen Tätigkeit auf die Gruppen der Sekte [...] stützen“ konnten.476

2.4

Die versuchte „Enthauptung“ des konspirativen Apparates

Der seit Gründung der DDR vorhandene Flüchtlingsstrom stieg 1960 massiv an. Im Zuge der Zwangskollektivierungen 1959/60 und wirtschaftlichen Probleme im Zusammenhang mit der „Störfreimachung“ der ostdeutschen Wirtschaft von der Bundesrepublik suchten immer mehr Menschen ihr Heil in der Flucht in den Westen. Auch der erneut angeheizte Streit zwischen den USA und 472 473 474 475 476

Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 655–658. Bezirksgericht Karl - Marx - Stadt vom 14. 8. 1958 (1 BS 164/58). Vgl. ebd., S. 645. Vgl. ebd., S. 868. Vgl. ebd., S. 872. Urteil des Bezirksgerichts Leipzig ( la Bs 4/60) vom 3. 2. 1961. Zit. in ebd., S. 663.

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der Sowjetunion über den Status von West - Berlin tat sein Übriges. Die Reaktionen der SED – harte Repressionen gegen „verbrecherische Menschenhändler“ und Fluchtwillige – waren nicht dazu angetan, das Problem zu entschärfen. Vor allem Menschen im arbeitsfähigen Alter, fünfzig Prozent davon Jugendliche unter 25 Jahren, kehrten ihrer Heimat den Rücken.477 Als die Fluchtbewegung im Sommer immer bedrohlichere Züge annahm, Kennedy im Juli klarstellte, dass für die USA „nur“ die Anwesenheit westlicher Truppen in und der ungehinderte Zugang nach Westberlin unverzichtbar sei, kamen Anfang August 1961 die Ersten Sekretäre der Kommunistischen Parteien der Warschauer Vertragsstaaten überein, dem „Mauerbau“ zuzustimmen. In der Nacht vom 12. zum 13. August sperrten Verbände der NVA, der Volkspolizei und der paramilitärischen Betriebskampfgruppen die Zugänge nach Westberlin ab, errichteten Stacheldrahtverhaue und in den folgenden Tagen eine Mauer.478 Der DDR - Bevölkerung war damit der Zugang nach Westberlin ver wehrt und die Zeugen Jehovas von ihrem Zweigbüro abgeschnitten. Die Auswirkungen für das SED - Regime waren ambivalent. Einerseits wurde die „Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles“ als Erfolg gefeiert, denn neben dem schleichenden Exodus der Bevölkerung und in diesem Zusammenhang der Arbeit der „verbrecherischen Menschenhändlerbanden“ habe damit der direkte Einfluss der „kriegstreiberischen“ westlichen Geheimdienste und Untergrundorganisationen eingeschränkt und unterbunden werden können.479 Nur fünf Tage nach dem Mauerbau realisierte die SED denn auch die schon längere Zeit geplante allgemeine Wehrpflicht. Entzogen sich vor 1961 viele Jugendliche, vor allem Studenten, einer „freiwilligen“ Verpflichtung zur 1956 geschaffenen NVA, blieb ihnen dieser Fluchtweg nun versperrt.480 Andererseits wäre das MfS nicht „Schild und Schwert“ der SED, wenn es nicht vor der Illusion gewarnt hätte, dass damit der Feindarbeit in der DDR die Grundlage entzogen worden wäre. Im Gegenteil müsse das Ministerium nun umso wachsamer alle unerkannten Einflusswege des Feindes in den sozialistischen „Arbeiter - und Bauernstaat“ ermitteln und bekämpfen. Ja, eigentlich komme es nun zu einer erneuten „Verschärfung des Klassenkampfes“, da nun feindliche und unzufriedene Elemente die DDR nicht mehr verlassen könnten und so die Basis der gegnerischen Untergrundtätigkeit sogar stabilisiert werden könnte.481 Vor diesem Hintergrund verwundert die Repressionswelle, die in den Monaten nach dem 13. August 1961 durch die DDR lief, nicht. 6 041 Personen wurden in den ersten drei Wochen nach dem Mauerbau festgenommen, die Justiz verkündete im zweiten Halbjahr 1961 mehr als 18 000 Urteile wegen angeblicher Staatsverbrechen. Nach außen diente der Terror der „schnellstmöglichen Liquidierung aller feindlichen Stützpunkte“,482 galt aber in Wirklichkeit vor allem der widerspens477 478 479 480 481 482

Vgl. Zilch, „Republikflucht“; Skyba, Massenorganisation ohne Massen. Vgl. Steininger, Der Mauerbau; Otto, Weichenstellung für den Mauerbau. Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 231. Vgl. Widera, Die evangelischen Kirchen in der DDR, S. 55. Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 231. Vgl. ebd.

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tigen Jugend, ehemaligen Grenzgängern, echten oder vermeintlichen Arbeitsbummelanten, sich der Zwangskollektivierung verweigernden Bauern, oder dem „ideologischen Grenzgängertum“, d. h. Bürgern, die ihre Informationen neben den SED - kontrollierten auch aus westlichen Medien bezogen. Dem Schock in der Bevölkerung begegnete die SED mit präventivem Terror, der offen ausgeübt wurde, da die mit dem Mauerbau sichtbar gewordene Bankrotterklärung kaum überboten werden konnte. Vieles was im Herbst und Winter 1961 an Repression praktiziert wurde, war aus den fünfziger Jahren bekannt. Es galt dem Volk zu zeigen, „wer der Herr im Lande war“. Die in der Bevölkerung um sich greifende Resignation sollte aufgegriffen, verstärkt und in Anpassungsbereitschaft verwandelt werden.483 Diese offene Repression konnte allerdings nicht lange praktiziert werden. Spätestens 1962 – auch im Zuge der zweiten Entstalinisierungswelle in der Sowjetunion nach dem XXII. Parteitag der KPdSU – forderte die Parteispitze vom MfS, auf extralegale Maßnahmen zu verzichten und sich auf die „wirkliche Feindtätigkeit“ zu konzentrieren. Der „Dogmatismus“ der letzten Monate müsse mit allen Konsequenzen bekämpft werden, von einer „Periode des verschärften Klassenkampfes“ könne keine Rede sein.484 Das Beispiel der Zeugen Jehovas verdeutlicht anschaulich die zwiespältigen Folgen des Mauerbaus. Die kirchenpolitische Abteilung des MfS verband mit dem Mauerbau zunächst die Hoffnung, durch das Abschneiden der Verbindung zum Zweigbüro das Wirken der Religionsgemeinschaft nachhaltig zu stören, wenn nicht gar lahm zu legen. Für kurze Zeit riss der Kontakt der ostdeutschen Gläubigen zum West - Berliner Büro bzw. nach Wiesbaden wirklich ab. Die in der konspirativen Arbeit erfahrenen Gläubigen konnten sich aber schnell auf die neue Lage einstellen. Dabei half es, dass 1961 führende Funktionäre in der DDR an Schulungskursen, den sogenannten „Königreichsdienstschulen“, teilnahmen, die sie auf eine größere Eigenverantwortlichkeit vorbereiten sollten.485 Auf das mögliche Abschneiden der Verbindungswege wurden Funktionäre auch auf dem letzten „halblegal“ für Zeugen Jehovas aus der DDR erreichbaren Kongress im Juli 1961 in Hamburg vorbereitet, wo sie Funktionäre der verbotenen Zweigorganisationen ihrer Gemeinschaft aus Polen, Jugoslawien und Ungarn trafen, um von deren Erfahrungen zu lernen.486 Fünf Bezirksdiener und ein DDR - Verantwortlicher wurden eingesetzt und das Westberliner Büro aufgelöst. Dessen Mitarbeiter arbeiteten nun von Wiesbaden aus. Mit dem dortigen Zweigbüro hielt das DDR Führungsgremium über Deckadressen postalisch Verbindung.487 Bald wurden 483 484 485 486

Vgl. Werkentin, Politische Straf justiz in der Ära Ulbricht, S. 250. Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 232 f. Vgl. Wachtturm vom 1. 5. 1992, S. 26–29. Vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 267 f. Der Fakt, dass sich die ZJ seit längerem auf den Notfall vorbereiteten, bewies in den Augen ihrer Verfolger, dass sie eine enge Verbindung zu US - Geheimdiensten hatten. 487 Dabei wurden Briefe mit Wasserdruckverfahren und Tarntext oder Filmfolien unter der Briefmarke verwendet. Vgl. Ermittlungsbericht des MfS über die ZJ an den Ministerrat der DDR vom 10. 2. 1966 ( BStU, Ast. Chemnitz, XX – 738 Bl. 1–25, hier 18).

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aber auch Kontakte über tote Briefkästen in Interzonenzügen oder direkte Kontakte an Transitstrecken oder über Rentnerreisen in die Bundesrepublik bzw. von Westberlin in den Ostteil der Stadt nach dem Passierscheinabkommen hergestellt. Auf diesen Wegen erfolgte auch die Einfuhr der Literatur.488 Meist wurde die entsprechende Literatur von Matrizen oder Mikrofilmen vervielfältigt, die einzelnen Verkündiger schrieben dann die Artikel mit Hand oder Schreibmaschine für den eigenen Gebrauch ab.489 Die monatlichen Berichte der einzelnen Versammlungen gingen zunehmend komprimierter von den Gruppendienern bis zu den Bezirks - oder Umgegenddienern. Dabei wurde ein besonderes Verschlüsselungssystem angewandt.490 Die Neu - und Reorganisation des illegalen Apparates der Zeugen Jehovas in der DDR war nach Analyse des MfS bis Anfang oder Mitte 1962 abgeschlossen. Für den Staatssicherheitsdienst ergaben sich damit neue Probleme, da er bald feststellen musste, „dass heute in allen illegalen Gruppen aktiv gearbeitet wird und die Anweisungen der Zentrale Wiesbaden konsequent durchgesetzt werden“.491 Mehr noch, das bis dahin vorhandene Wissen über Aufbau und Aktionen der Zeugen Jehovas ging durch deren schnelle Umstellung auf die neue Situation verloren.492 Daher überrascht es nicht, dass die HA V /4/3 einen Befehl Mielkes vom 18. Mai 1962 schnell aufgriff, um dieses Defizit auszugleichen. Mielke hatte in seinem Befehl 264/62 angeordnet, dass „zur Lösung der Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit zur Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik [...] mit aller Konsequenz die Spionage - Agenturen der westlichen Geheimdienste und die Agenten der feindlichen Zentralen zur Organisierung der Untergrundtätigkeit und der ideologischen Diversion in der deutschen Demokratischen Republik aufzudecken und unschädlich zu machen“ sind.493 Da sich zudem seit der gesetzlichen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Januar 1962 mit der bekannten strikten Wehrdienstverweigerung der Zeugen Jehovas ein neuer Konfliktstoff ankündigte, musste das Problem um so dringender angegangen werden.494 488 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 142 f. 489 Vgl. ebd., S. 143 f. 490 Dies soll angeblich ein abgelegter Schlüssel des BND gewesen sein und damit ein weiterer „Beweis“ für die DDR - Behörden, es mit einer geheimdienstlich geführten Spionageorganisation zu tun zu haben. Vgl. Information Nr. 3/63 des MfS, BV Dresden, vom 15. 3. 1963 ( BStU, Ast. Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 500–510, hier 502). 491 Ebd., Bl. 503. 492 „Dieser illegale Kopf [ verantwortlicher Funktionär in der DDR ] ist uns namentlich noch nicht bekannt“ ( ebd., Bl. 501). „Über den Verbindungsweg von der Zentrale Wiesbaden zu dem Hauptfunktionär im Gebiet der DDR liegen noch keine konkreten Beweise vor.“ ( ebd., Bl. 502). 493 Zit. in Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 252. Der Befehl führt weiter aus, dass das MfS „vollständige Kenntnis aller feindlichen Kräfte“ in der DDR, sowie „der Organisatoren der feindlichen Tätigkeit“ außerhalb des Landes besitzen müsse. 494 Vgl. Information Nr. 11 des MfS, BV Dresden, Leiter Rolf Markert, vom 15. 2. 1962 (BStU, BV Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 464 f.).

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Bereits im Oktober 1961 konnte von der Abteilung M der Bezirksverwaltung Dresden, verantwortlich für die Postkontrolle, ein Brief aus der DDR abgefangen werden, der einen mit Geheimtinte geschriebenen verschlüsselten Text enthielt. Nach der Entschlüsselung der Botschaft stellte es sich heraus, dass dieser den monatlichen Bericht über die Aktivitäten der Zeugen Jehovas enthielt.495 Dies bedeutete aber, dass die illegalen ostdeutschen Versammlungen wieder arbeiteten, neu strukturiert waren und auch über Verbindungswege zur westdeutschen Zentrale verfügten. Das musste die ostdeutschen „Tschekisten“ alarmieren, zerstoben doch alle Hoffnungen auf eine schnelle Zerschlagung und Zersetzung nach dem Mauerbau. Es stand fest, dass die illegale DDR - Führung der Glaubensgemeinschaft schnellstens aufgeklärt und zerschlagen werden musste. Im Februar 1962 wurden alle untergeordneten Kreisdienststellen von der MfS - Bezirksverwaltung Dresden über den neuen Stand unterrichtet. Bis dahin war nur bekannt geworden, dass in der DDR fünf bis sieben Bezirksdiener existieren müssen, die hauptamtlich eingesetzt seien und ihrem Beruf nur scheinbar nachgingen. Ihnen stünde zudem ein Auto zur Verfügung. Da die Literaturver vielfältigung zumeist über Fotokopien vonstatten ging, wurden die Kreisdienststellen angehalten, in ihrem Gebiet nach Zeugen Jehovas zu suchen, die als Funktionäre und / oder als Fotografen bekannt bzw. motorisiert waren. Alle laufenden „politisch - operativen Maßnahmen“ wie „Desorganisation, öffentliche Auswertung, Aktionen zur Zerschlagung einzelner Gruppen usw.“ durften nur nach Rücksprache mit der Abteilung der Bezirksverwaltung durchgeführt werden. Denn das Ziel bestand darin, „nicht nur einzelne Mitglieder zu verhaften, sondern durch eine gute operative Arbeit die Verbindung bis zu dem sogenannten Bezirksdiener aufzuklären“.496 In einem Sachstandsbericht musste die HA XX /4/3 im Januar 1963 die bis dato mangelnden Kenntnisse und das Scheitern der Abkoppelung vom westdeutschen Zweigbüro einräumen. Weder war bekannt geworden, wer der verantwortliche DDR - Funktionär war, noch hatte irgendeine der illegalen Gruppen ihre Tätigkeit eingestellt oder war ohne Kontakt zur Leitung der Religionsgemeinschaft. Da den Zeugen Jehovas unterstellt wurde, verstärkt Einfluss auf die Bevölkerung zu nehmen, galt es den „illegalen Kopf“ schnellstens aufzuklären und auszuschalten.497 Um diesem Ziel näher zu kommen, wurde im Februar 1963 ein Zentraler Operativer Vorgang ( ZOV ) „Sumpf“ mit sieben Teilvorgängen in verschiedenen Bezirksverwaltungen eröffnet, in deren Verantwortungsbereich man Bezirksdiener vermutete. Alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt, um der Funktionäre

495 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 680 f. 496 Information Nr. 11 des MfS, BV Dresden, Leiter Rolf Markert, vom 15. 2. 1962 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 464 f.). 497 Sachstandsbericht über die Bearbeitung der verbotenen Organisation der Sekte „Zeugen Jehova“ im Gebiet der DDR vom 8. 1. 1963 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 64–73).

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habhaft zu werden. Es begann nun eine flächendeckende Über wachung von aktiven Gläubigen, von denen man annahm, dass sie in irgendeiner Weise Funktionen ausübten. Zunächst galt es, besonders aktive Zeugen Jehovas im jeweiligen Arbeitsgebiet der Kreisdienststellen ausfindig zu machen. Das fiel nicht schwer, offenbarten die einzelnen Gläubigen doch in bestimmter Weise immer wieder ihre Haltung. Kriterien, die eine besondere Obser vation von Zeugen Jehovas auslösten, waren z. B. Wahlverweigerung, Kontakte zu anderen Gläubigen, offenes Auftreten für die eigenen Glaubensinhalte bei Missionsversuchen bzw. im persönlichen Umfeld oder frühere Inhaftierungen.498 Diese so erfassten Mitglieder wurden durch hauptamtliche oder geheime MfS - Mitarbeiter, zuständige Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei ( ABV ) oder in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende SED - Mitglieder überwacht.499 Akribisch sammelten diese Daten über Besucher, notierten ankommende Autonummern oder versuchten in der Zeit, in der die monatlich anfallenden Berichte an die nächst höhere Funktionärsebene übermittelt bzw. die neuen Studienschriften verteilt wurden, den verschiedenen Verbindungen auf die Schliche zu kommen. Auch die schon oben erwähnten „Königreichsdienstschulen“ konnten bei der Erkennung von Funktionären hilfreich sein, indem ermittelt wurde, wo und wann in Frage kommende Verdächtige ihren Jahresurlaub verbrachten.500 Aus allen Dienststellen wurden Schriftproben bekannter aktiver Zeugen Jehovas angefordert, um diese mit den abgefangenen Briefen vergleichen zu können. Als endlich im Herbst 1963 ein Dresdner Funktionär als verantwortlicher DDR - Funktionär entdeckt wurde,501 heftete sich das MfS an seine Fersen, um seine Kontakte zu ermitteln. Bis Anfang 1964 konnten die Namen des DDR - Leitungsgremiums und die der Bezirksdiener festgestellt werden. Nun sollte aber auch ermittelt werden, wie die Verbindungswege zwischen der westdeutschen Zentrale und der DDR verliefen. Zudem stand der Nachweis der „staatsfeindlichen Tätigkeit“ durch die verschiedenen Funktionäre aus. Der ZOV „Sumpf“ entwickelte sich zu einer feingesponnenen Kombination aus Festnahmen, innerer und äußerer Zersetzung, Anwerbung von inoffiziellen Mitarbeitern, Diskreditierung „fanatischer“ Funktionäre und dem Lancieren bereits vorhandener IM auf verantwortliche Posten. Da die Wachtturm - Gesellschaft nach der Inhaftierung der DDR - Leitung auf die Ebene der Kreisdiener zurückgreifen müsse, sah ein Maßnahmeplan aus dem Jahre 1964 vor, die bekannten Kreisdiener entweder als Verräter zu verleumden oder sie anzuwerben. Mit dem Ausschalten besonders renitenter Funktionäre gedachte man freie 498 Vgl. Schreiben der KD Sebnitz vom 7. 9. 1962 ( BStU, BV Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 512–517). 499 Vgl. Aktenvermerk der KD Sebnitz vom 16. 5. 1963, betr. Absicherung der Zeugen Jehova ( ebd., Bl. 519). 500 Vgl. Abt. V /4 des MfS, BV Dresden, an die KD Sebnitz vom 7. 8. 1963 ( ebd. Bl. 458 f.). 501 Werner Liebig war schon 1950 vom Landgericht Dresden zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden und kam erst 1960 im Zuge eines „Gnadenaktes“ wieder in Freiheit. Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 147.

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Posten für eigene inoffizielle Mitarbeiter zu erhalten, aus deren Reihen sich schließlich die neue DDR - Leitung zusammensetzen könnte. Parallel zu der Lähmung, die die Verhaftung der führenden Funktionäre nach sich ziehen sollte, war geplant, „die Versendung von Flugschriften und anderen zersetzenden Materialien gegen die Sekte [...] verstärkt“ aufzunehmen, um so „eine Kompromittierung der Organisation bei denjenigen Personenkreisen zu erreichen, die zu dieser illegalen Sekte Kontakt erhalten haben“.502 Für Ermittlungsverfahren war innerhalb des MfS - Apparates die Hauptabteilung IX zuständig. Ihre Einschätzung und Genehmigung war für die Durchführung der geplanten Aktion notwendig. Im Spätsommer 1965 gab sie ihre Einwilligung, gegen die illegale Führung der Religionsgemeinschaft vorzugehen. Die Schriften der Gemeinschaft würden staatsgefährliche Propaganda und Hetze beinhalten. Auf Weisung der westdeutschen Zentrale würden die einfachen Gläubigen durch die Funktionäre zum Boykott sämtlicher politischer Aktivitäten aufgefordert. Daher wäre die Tätigkeit der Zeugen Jehovas verfassungswidrig. Gegen die zur Verhaftung vorgesehenen Funktionäre könnten Ermittlungsverfahren wegen der „Teilnahme an staatsfeindlichen Verbindungen“ ( § 129 StGB) und „staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ ( § 19 StEG ) – nicht Spionage ! – eingeleitet werden. Allerdings gab die Untersuchungsabteilung des MfS zu bedenken, dass „durch eine umfangreiche Aktion keinesfalls das Ansehen der staatlichen Organe geschädigt werden“ dürfe. Auch befürchtete die HA IX /2 negative Auswirkungen in Bezug auf die im Oktober 1965 stattfindenden Kommunalwahlen.503 In den Morgenstunden des 23. November 1965 war es dann soweit. 17 Bezirks - und Kreisdiener wurden festgenommen, Hausdurchsuchungen bei diesen und 16 weiteren Zeugen Jehovas vorgenommen und „zur Beschaffung offizieller Beweise“504 insgesamt 31 Personen zeugenschaftlich vernommen. Nach mehrmonatiger Untersuchungshaft wurde den Inhaftierten ab Sommer 1966 der Prozess gemacht. Grundlage war ein Ermittlungsbericht zum ZOV „Sumpf“, den das MfS im Februar 1966 vorlegte.505 Gegen drei Funktionäre, darunter der DDR - Verantwortliche Werner Liebig, wurde im Juli 1966 vor dem Dresdner Bezirksgericht Anklage erhoben. Dieser Prozess diente auch der Anleitung für die noch folgenden Verfahren. Daher nahmen Mitarbeiter der HA XX /4 und der Bezirksverwaltungen des MfS, verschiedene „Offiziere im besonderen Einsatz“ ( OibE ), Mitarbeiter der Innenbehörden sowie Staatsanwälte der Bezirke, in denen weitere Verfahren stattfinden sollten, an der Verhandlung teil. Diese fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Selbst die oben erwähnten Beobachter hielten sich in einem Nebenraum auf.506 502 Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 684 f. 503 Vgl. ebd., S. 687 f. 504 Dies bedeutete, dass die Informationen aus inoffizieller Quelle stammten. Zum Schutz der IM mussten diese durch Aussagen und Geständnisse „offizialisiert“ werden. 505 Vgl. MfS, Ermittlungsbericht vom 10. 2. 1966 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 85–109). 506 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 696.

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Noch bevor der Prozess überhaupt begann, stellten sich die ersten Schwierigkeiten ein. Der als Richter vorgesehene Dresdner Bezirksgerichtsdirektor weigerte sich, in den Handlungen der Angeklagten eine hetzerische und aufwieglerische Zielstellung zu erblicken. Als dieser nicht von seiner Meinung abrückte, beschlossen Staatsanwaltschaft und MfS, das Verfahren mit einem anderen Richter durchzuführen.507 Zumindest mit dem Urteil des Bezirksgerichts Dresden war das Ministerium für Staatssicherheit zufrieden. Am 5. August 1966 wurden Werner Liebig, Paul Nickel und Eberhard Kasperzack zu 12 bzw. je 8 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das waren verglichen mit Urteilen gegen Zeugen Jehovas in den Jahren zuvor sowie mit denen anderer kommunistischer Regimes ausgesprochen harte Strafen. Wie ein Prozessbericht vermeldete, war das MfS jedoch mit der Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters Lange, aber auch des Bezirksstaatsanwaltes Adam alles andere als glücklich. Dem Bezirksstaatsanwalt Adam warf der MfS - Berichterstatter unsachliches Auftreten gegenüber den Angeklagten vor : er hatte ausgerechnet den von ihren Betrieben ob ihrer Arbeitsleistungen belobigten Angeklagten die „Verminderung der Arbeitsproduktivität“ nachweisen wollen. Dagegen habe Oberrichter Lange die Problematik des Prozesses in keiner Weise begriffen und beispielsweise die missionarischen Aktivitäten als „religiöse Betätigung“ statt, wie vom MfS gefordert, als „hetzerische und nachrichtendienstliche Tätigkeit“ gewertet. Trotz neuerlicher Anleitung von Richtern und Staatsanwaltschaft durch Mitarbeiter des Ministeriums kam es zu keiner grundsätzlichen Änderung der Verhandlungsführung.508 In sieben weiteren Verfahren vor verschiedenen Bezirksgerichten der DDR wurden die restlichen Inhaftierten zu Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren verurteilt.509 Diese hohen Strafen standen keineswegs im Widerspruch zur seit Mitte 1962 von der SED durchgesetzten milderen strafpolitischen Vorgehensweise. In Fällen, in denen operative Interessen des MfS im Spiele waren, wurde auch weiterhin nach „traditioneller“ Art und Weise „Recht“ gesprochen.510 Wenn, wie der Ermittlungsbericht des MfS vom Februar 1966 glauben machen wollte, der Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR 1950 die Richtigkeit des Verdachts nachweisen sollte, der zum Verbot der Religionsgemeinschaft führte ( die nachfolgenden Landgerichtsverfahren sollten diesen Nachweis auf regionaler Ebene führen ),511 kam den Verfahren des Jahres 1966 die Aufgabe zu, die Notwendigkeit der geheimpolizeilichen und strafrechtlichen Bekämp507 Vgl. ebd. 508 Vgl. Prozessbericht vom 15. 8. 1966; Kopie freundlicherweise von Hans - Hermann Dirksen zur Verfügung gestellt. 509 Die meisten Verurteilten wurden 1969 in die Bundesrepublik abgeschoben. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 712. 510 Vgl. Werkentin, Politische Straf justiz in der Ära Ulbricht, S. 277. 511 Vgl. MfS, Ermittlungsbericht vom 10. 2. 1966 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 85–109, hier 86).

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fung der Zeugen Jehovas zu begründen. Damit jedoch scheiterte das MfS auf ganzer Linie : Betrachtet man die anvisierten Ziele, Prozessverlauf und Ergebnisse des ZOV, geriet die Aktion zu einem ziemlichen Desaster. Nach fast fünf Jahren Ermittlungstätigkeit durch das MfS konnten die in ihrer Beweisführung sicherlich nicht phantasielosen DDR - Gerichte nur einen Funktionär der Spionage „überführen“. Zwar wollte das Bezirksgericht Dresden, dass die ausgeworfenen Haftstrafen allen Zeugen Jehovas als „Warnung“ dienten,512 doch sollte dies ein frommer Wunsch bleiben. Außer vagen Andeutungen aus der „Christlichen Verantwortung“ ( und die lasen die Gläubigen verständlicherweise eher selten ) erfuhren die Öffentlichkeit und damit auch die Zeugen Jehovas aus den DDR - Medien nichts über die Prozesse. Selbst in der juristischen Fachzeitschrift „Neue Justiz“ wurden die Urteile nicht erwähnt. Offensichtlich erkannten SED und MfS, dass in der Öffentlichkeit keinerlei Verständnis für derartige Verfahren vorhanden war. Daher konnten die neuerlichen Strafprozesse nur intern zur Legitimation des geheimpolizeilichen Vorgehens genutzt werden. Die Kritik des MfS an der Prozessführung im Verfahren vor dem Bezirksgericht Dresden wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stellung der Justiz im Gefüge der Repression. Ständig auf der Hut vor neuerlichen strafpolitischen Kurskorrekturen konnten die Gerichte den Spagat zwischen „Dogmatismus“ und „Liberalismus“ nicht meistern. Sie schwankten in den Urteilsbegründungen – nicht in der Strafhöhe ! – zwischen unsachlicher Härte513 und scheinbarem Verständnis hin und her. Außerdem überblickten die Richter und Staatsanwälte die konspirative Bearbeitung und deren Zielsetzungen in keiner Weise. Ein derartiges Wissen konnte das MfS auch in den „fachlichen Anleitungen“ nicht genügend vermitteln. Diese Problematik sollte sich in den folgenden Jahren noch verstärken. In ihrer Tätigkeit blieb das MfS immer auf den „Einsatz von gesellschaftlichen Kräften“514 angewiesen. Dies konnten Staatsanwälte, Mitarbeiter der Abteilungen Inneres und Kultur der Räte der Bezirke und Kreise, Polizeiangehörige oder SED - Mitglieder sein. Doch auch diese loyalen Kräfte (unabhängig, ob zur inoffiziellen Mitarbeit verpflichtet oder nicht ) durften nur teilweise in ihre Aufgabenstellung eingeweiht werden. Damit wurde verhindert, dass die Betreffenden, „operativ bedeutsame Maßnahmen des MfS dekonspirie512 Urteil des BG Dresden gegen Werner Liebig und 2 Andere vom 5. 8. 1966 (1 BS 17/1966). 513 An die abstrusen Konstruktionen der frühen fünfziger Jahre erinnerte beispielsweise die Sentenz des Bezirksgerichts Leipzig, dass „die Angeklagten haben erreichen wollen, dass die bestehende Arbeiter - und Bauern - Macht beseitigt wird und eine allgemeine Weltregierung, letzten Endes unter kapitalistischer Führung, und der imaginären Leitung Jehovas entstehen soll“. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 709. 514 Major Gerfried Wenzlawski / Major H. - Jochen Kleinow, Aufgaben der Kreisdienststellen zur Aufdeckung der subversiven Tätigkeit der Funktionäre der WTG mit dem Ziel ihrer Einschränkung und der Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge [ Diplomarbeit ]. In Auszügen abgedruckt in URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / KleinowWenzlawski.pdf (28. 7. 2004).

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ren“.515 Und da die ostdeutschen „Tschekisten“ die Verfolgung der verbotenen Glaubensgemeinschaft wie die anderer „Gegner“ immer weiter an sich zogen, waren in der Öffentlichkeit, aber auch in den anderen Staatsorganen kaum noch Kenntnisse über den Grund des Verbotes und der Verfolgung vorhanden. War aber dieses in der Gesellschaft unklar, konnte schlechterdings kein Engagement bei der „ideologischen Zurückdrängung“ der Religionsgemeinschaft erwartet werden. Vor allem aber gelang es dem MfS nicht, mittels einer „Enthauptungsstrategie“ die illegale Tätigkeit der Zeugen Jehovas nachhaltig zu stören. Nach allerlei zweckoptimistischen Meldungen musste 1969 in einer „operativen Information“ festgestellt werden, dass bereits unmittelbar nach den Inhaftierungen der bisherige Leiter der „Königreichsdienstschulen“ im Auftrag der Wiesbadener Zentrale die Leitung der Organisation übernahm, die beiden nichtverhafteten Bezirksdiener kontaktierte, überprüfte und auswechselte sowie schon Anfang 1966 die neuernannten Bezirksdiener in die konspirative Leitungstätigkeit einweihte. Durch Lehrgänge in den „Königreichsdienstschulen“ konnte auch bald für ein ausreichendes Reser voir an Funktionären gesorgt werden.516 Zwar gelang es der ostdeutschen Geheimpolizei, einige wichtige IM anzuwerben und zu platzieren, doch konnten die Verunsicherung und die organisatorische Krise, die nach der Verhaftungswelle entstanden waren, weder durch innere noch äußere Zersetzungsaktionen genutzt werden. Obwohl mit den Verhaftungen der ZOV „Sumpf“ eigentlich hätte abgeschlossen sein sollen, erging im August 1966 eine „Arbeitsdirektive zur Fortführung der operativen Bearbeitung im ZOV ,Sumpf‘“. Allein die Notwendigkeit, dass der ZOV weitergeführt werden musste, widerlegt die darin eingangs dargelegten Ergebnisse der Bearbeitung bis 1966 : Die aktive Leitung der Religionsgemeinschaft, ihre Verbindungen zur westdeutschen Zentrale seien liquidiert sowie deren ökonomische Basis vernichtet worden. Ein breiter Zersetzungsprozess habe in der ganzen Organisation begonnen. Ausgehend von dieser zweckoptimistischen Einschätzung wurden für die kommenden Jahre – denn diese Direktive sollte „für eine längere Periode Gültigkeit“ besitzen – verschiedene Ziele angepeilt : Alle Verbindungen in die DDR und zur Zentrale in Wiesbaden galt es, „sofort durch entsprechende operative Maßnahmen zu liquidieren“. Die noch in der DDR befindlichen Funktionäre sollten so bearbeitet werden, dass sie ihre feindliche Tätigkeit aufgaben. Desgleichen sah die Direktive vor, dass aktive Gruppen und Personen in ihrer Tätigkeit einzuschränken seien. Neben der Anwerbung von Funktionären für die inoffizielle Tätigkeit sollte auch der „Oppositionsbewegung“ und der Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ größ515 Oberleutnant Hans - Jürgen Wollenburg, Der zielgerichtete Einsatz inoffizieller Mitarbeiter zur Entwicklung einer wirksamen Oppositionsbewegung im Rahmen der Zersetzung der auf dem Gebiet der DDR illegal tätigen Wachtturmgesellschaft, Fachschularbeit 1978 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–615/79, S. 26 f.). 516 Vgl. Operative Information vom 30. 12. 1969 ( BStU, BV Karl - Marx - Stadt, C - XX - 734, Bl. 3–7).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

te Unterstützung gewährt werden. „Geeignete gesellschaftliche Organisationen und Kräfte“ müssten zur systematischen Beeinflussung der Gläubigen animiert und nicht zuletzt die totale Wehrdienstverweigerung durch Zeugen Jehovas weitgehendst verhindert werden.517 In einem System der Pläne, Verpflichtungen und Erfüllungsberichte wie der DDR ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass derartig konkrete Zielstellungen nicht wirklich kontrolliert wurden. Schon in der Aktion „Zentrum“ war die Ausschaltung des Funktionärskörpers propagiert worden, so dass angeblich „bis Ende 1960 [...] die illegale Organisation ‚Zeugen Jehovas‘ innerhalb der DDR keine wesentliche Rolle mehr“ spiele.518 Wie dieser wurde auch jener neue Plan nicht erfüllt. Weder konnten die Kontakte nach Westdeutschland, die Wehrdienstverweigerung oder das aktive Glaubensleben ernsthaft eingeschränkt werden, noch gelang es, aktive Funktionäre in nennenswerter Zahl auszuschalten oder die (loyale ) Bevölkerung für die Bekämpfung der Religionsgemeinschaft zu gewinnen. Einzig die IM - Arbeit und die Unterstützung der selbst geschaffenen „Opposition“ wurde im Parteijargon „stetig vervollkommnet“. Als es im Vorfeld des ZOV „Sumpf“ 1961 darum ging, erste Informationen über „die unter strengster Konspiration abgelaufene Umstrukturierung“ zu erlangen, musste sich das MfS noch mit drei „qualifizierten“, d. h. auskunftsfähigen IM begnügen.519 Mit der Verhaftungswelle im November 1965 gelang es aber, in IM „Hans Voss“ einen Funktionär für die inoffizielle Mitarbeit zu gewinnen, der bald in die Funktion eines Bezirksdieners aufstieg und bis zum Ende der DDR über wichtige organisatorische Entscheidungen der Zeugen Jehovas berichtete.520 Mit Hilfe seiner Auftraggeber gelang es auch dem IM „Albert“, sich über die Funktion eines stellvertretenden Kreisdieners bis zum Vertreter des für den Thüringer und Westsächsischen Raum zuständigen Bezirksdieners zu „qualifizieren“. Damit war das Ministerium für Staatsicherheit in der Lage, einen großen Teil des Schriftverkehrs zwischen der DDR - Leitung und der Zentrale in Wiesbaden zu kontrollieren.521 Ein Werbe - und Qualifizierungsplan der HA XX /4 aus dem Jahr 1969 sah die Anwerbung des Leiters der Religionsgemeinschaft in der DDR, eines Bezirksdieners, sowie zweier stellvertretender Bezirksdiener vor. Dies war allerdings nur Plan und wurde so nicht verwirklicht, verdeutlicht aber die Hypertrophie der Staatssicherheit.522 Doch wie zu zeigen 517 HA XX /4, Arbeitsdirektive zur Fortführung der operativen Bearbeitung im ZOV „Sumpf“ vom 10. 8. 1966 ( BStU, ZA, HA XX /4, 891, Bl. 1–8). 518 Bericht über den bisherigen Verlauf der Aktion „Zentrum“ der HA V /4, o. D. (zwischen August 1959 und Februar 1960) ( WTA, O - Dok 02/60). 519 Auskunftsbericht zum ZOV „Sumpf“, Bearbeitungszeitraum 1963–1965, Bearbeitung der illegalen Leitung der Organisation „Zeugen Jehova“ in der DDR, o. D. ( nach 1966) ( BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 138–147, hier 140). 520 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 723. 521 Vgl. ebd., S. 733–737. 522 Vgl. Werbungs - und Qualifizierungsplan der HA XX /4 für die Jahre 1969 und 1970 über die Erweiterung und Qualifizierung des IM - Netzes vom 10. 2. 1969. Abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen, Katholiken, S. 274–283, hier 281 ( Dok. 51).

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sein wird, konnte das MfS das inzwischen immer besser ausgebaute Spitzel - System nicht mehr für die praktische Arbeit nutzen. Nicht nur, dass es mit „operativen Maßnahmen“ seine Informanten gefährdete, nach der „Liquidierung“ eines Verbindungsnetzes knüpften die Zeugen Jehovas sehr schnell neue Kontaktmöglichkeiten, die dann nicht mehr bekannt waren. In Anbetracht der Vorgaben der Staatspartei entschied sich die Geheimpolizei, nur noch im Ausnahmefall zuzuschlagen, um so einen steten Informationsfluss über die illegalen Aktivitäten der Glaubensgemeinschaft zu gewährleisten. Die Kombination von operativer Bearbeitung und „Zersetzung von innen heraus“ bei den Zeugen Jehovas wurde im Verlauf der sechziger Jahre immer weiter verfeinert. Auch wenn, außer bei den Wehrdienstverweigerern aus den Reihen der Gläubigen, die „Bearbeitung“ nun unterhalb der strafrechtlichen Schwelle erfolgte, blieb die Zerschlagung der renitenten Glaubensgemeinschaft Ziel aller Pläne. Wie Sandra Pingel - Schliemann konstatierte, wurde die Strategie der Zersetzung erst in den siebziger Jahren auf die ( wirklich ) politische Oppositionsszene angewandt.523 Dennoch verdeutlichte die obige Darstellung, dass diese Form der Bearbeitung schon Ende der fünfziger Jahre entwickelt und in den 1960er Jahren perfektioniert werden konnte. Auf dem eigentlich randständigen Gebiet der „Sektenbekämpfung“ konnten Erfahrungen gesammelt werden, wie durch das koordinierte Zusammenspiel von inoffiziellen Mitarbeitern innerhalb der zu bearbeitenden Gruppe, in deren Umfeld und in staatlichen Institutionen, sowie freiwilligen Helfern aus Partei und Massenorganisationen bestimmte als gefährlich eingestufte Handlungen „vorbeugend“ verhindert werden konnten. Die Zersetzungsmaßnahmen gegen die Zeugen Jehovas waren systematisiert und wurden einerseits gegen einzelne Funktionäre, andererseits aber immer gegen die gesamte illegale Glaubensgemeinschaft eingesetzt. Zwar finden sich im Aktenbestand des MfS keine Hinweise auf eine direkte Vorbildwirkung der HA XX /4/3, das Konzept der Zersetzung war auf jeden Fall ausgefeilt524 und musste später nur noch den Bedingungen einer wirklich politischen Opposition angepasst werden. Das konnte der ostdeutschen Geheimpolizei nicht wirklich schwer fallen, galt doch die verbotene Religionsgemeinschaft als „religiös - politischer Untergrund“.525 Der Wechsel im Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas seit dem Verbot 1950 kann nicht stark genug betont werden. Ausgehend von wahllosen Verhaftungen bis Mitte der 1950er Jahre, über die Konzentration auf Funktionäre und aktive Gläubige in der Aktion „Zerfall“ ab 1956, 1959 mit der Aktion „Zentrum“ dann auf den oberen Funktionärsstamm, beschränkte sich das MfS bei den Inhaftierungen im ZOV „Sumpf“ allein auf die Ebene der illegalen DDR - Leitung. Mit 523 Vgl. Pingel - Schliemann, Zersetzen, S. 93–99. 524 Der These, dass „die Zersetzung [...] als Methode [ vor den 1970er Jahren ] auch noch nicht ausreichend entwickelt“ gewesen wäre ( ebd. S. 97), muss widersprochen werden. 525 Analyse der politisch - ideologischen und religiösen Grundkonzeption der Organisation „Zeugen Jehova“ und ihrer heutigen Variante vom 16. 3. 1976 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 88–98, hier 98).

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der Arbeitsdirektive zur Fortführung des ZOV „Sumpf“ wollte die HA XX /4 zwar einerseits weitere Festnahmen nicht ausschließen und bestand lediglich auf eine vorherige Absprache. Andererseits wurden mit der Forderung, dass alle „politisch - operativen Maßnahmen [...] in ihrer Gesamtheit auf die Stärkung der DDR und ihre politisch - moralische Einheit ausgerichtet sein müssen“,526 den ostdeutschen „Tschekisten“ stärkste Zurückhaltung auferlegt. Von den Verurteilungen wegen Wehrdienstver weigerung abgesehen, sollten die Festnahmen im November 1965 die letzten ihrer Art sein. Doch hieße es, den repressiven Charakter der SED - Diktatur zu verschleiern, wollte man aus dem Rückgang der Strafverfahren auf eine Abnahme der politischen Verfolgung schließen. Die Praxis der Zersetzung wurde „zum funktionalen Äquivalent des bekennenden Terrors der fünfziger Jahre“.527 Das Konzept der Zersetzung und das Prinzip der Generalprävention – eigentlich als Ergänzung der operativen Bearbeitung entwickelt – setzte sich durch die Vorgaben der Staatspartei bald als fast ausschließliche Form der Bearbeitung durch. Dem MfS gelang es nach den Verhaftungen im November 1965 immer „qualifiziertere“ inoffizielle Mitarbeiter in die Reihen der Glaubensgemeinschaft einzuschleusen, womit sie die Zersetzung zu perfektionieren verstand und über alle wichtigen Informationen verfügte. Obwohl die für die Bearbeitung der Kirchen und Religionsgemeinschaften verantwortliche Hauptabteilung V /4 ( seit 1964 HA XX /4) trotz Personalausbau in anderen Bereichen unverändert blieb,528 erreichte sie im Vergleich zu den fünfziger Jahren einen Qualitätssprung. Erst jetzt kam es zu einer nachhaltigen Verbesserung der prekären Bildungslage.529 Der Bildungsgrad der Mitarbeiter stieg spürbar. Durch entsprechende IM aus den Kirchen und Religionsgemeinschaften konnten sich die Mitarbeiter nun auch das nötige Fachwissen aneignen. Praktische Ergebnisse konnte die Arbeit der kirchenpolitischen Abteilung in Bezug auf die Zeugen Jehovas aber immer weniger vor weisen. Der Schutz der Informationsquellen und die Vorgabe, weitgehend unterhalb der strafrechtlichen Schwelle zu agieren, setzten den Möglichkeiten der „Tschekisten“ immer neue Grenzen. Die eigentlich als Ergänzung und Verbesserung der Bekämpfung von politischen Gegnern entwickelte Zersetzungsstrategie entpuppte sich bald als einzige Alternative angesichts immer schmaler werdender Spielräume der Repression. Dies soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.

526 Arbeitsdirektive zur Fortführung der operativen Bearbeitung im ZOV „Sumpf“ vom 10. 8. 1966 ( BStU, ZA, HA XX /4, 891, Bl. 1–8, hier 7 f.). 527 Werkentin, Politische Straf justiz in der Ära Ulbricht, S. 299. 528 Vgl. Vollnhals, Die kirchenpolitische Abteilung (1996), S. 90. Auch der IM - Bestand der HA XX /4 erreichte nie mehr als ein Prozent des Gesamtbestandes des MfS ( ebd. S. 109). 529 Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 542.

Phase der voll funktionierenden Herrschaft

3.

Phase der voll funktionierenden Herrschaft (1971–1985)

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Utopieverlust

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Auf der 16. Tagung des ZK der SED am 3. Mai 1971 bat Walter Ulbricht, ihn „aus Altersgründen“ von seiner Funktion als 1. Sekretär der SED zu entbinden und Erich Honecker zu seinem Nachfolger zu ernennen. Obwohl nach außen der Eindruck vermittelt wurde, es handele sich um eine einvernehmliche Machtübergabe in jüngere Hände, markierte der Wechsel in der Führung der SED und der DDR einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der DDR. Bis 1961 stand die SED - Führung vor der Aufgabe, ihre ideologischen Normen und Ziele durchzusetzen. Nach dem Mauerbau beherrschten „Sachzwänge“ die Tagesordnung: Die Partei der Arbeiterklasse musste sich mit der gesellschaftlichen Realität und besonders mit den ökonomischen Zwängen auseinandersetzen.530 Ulbricht strebte im Zeitalter der „wissenschaftlich - technischen Revolution“ eine Reform des ineffizienten Systems an und wurde dabei von wissenschaftlichen Beratern und Fachleuten unterstützt. Die eingeleiteten Wirtschaftsreformen – die „materielle Interessiertheit“ der Arbeiter und Betriebe, vulgo das Gewinnstreben, sollte zu höheren Leistungen anspornen und das System somit effektiver machen – wurden von zaghaften Liberalisierungstendenzen in der Jugend - und Kulturpolitik begleitet.531 Mit den Projekten „Wissenschaftlich - technische Revolution“ und der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ versuchte Ulbricht, die revolutionäre Dynamik der 1940er und 1950er in eine Phase der Stabilisierung hinüberzuretten. Durch die Verbindung von wissenschaftlich - technischer Revolution und kommunistischer Utopie gelang es noch einmal Kräfte zu mobilisieren und so Produktivität und Lebensniveau in der DDR zu erhöhen. Doch nicht nur dem Erhalt der Mobilisierungskraft der herrschenden Staatspartei galt diese „Ersatz“ - Utopie.532 Sie war nun nach der Eindämmung des offenen Terrors gleichzeitig auch ein Angebot an die ostdeutsche Gesellschaft zur Mitarbeit und damit zur Erhöhung der Legitimität der eigenen Herrschaft.533 Mit Honecker setzte sich 1971 die reformunwillige und - feindliche Fraktion endgültig im Politbüro durch, die diese Veränderungen schon in den 1960er Jahren bekämpft hatten, weil sie dadurch das Machtmonopol der Partei und auch ihre eigene Position gefährdet sahen.534 Die in den 1960er Jahren unter Verbindung von technokratischer Effizienz und „sozialistischer Menschengemeinschaft“ konstruierte „Ersatz“ - Utopie wurde nun mangels Verwirklichungschancen auf unbestimmbare Zeit vertagt. Doch angesichts des Verlusts teleologischer 530 Vgl. Weber, Die DDR, S. 57. 531 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 184 f.; Schuster, Mut zum eigenen Denken, S. 147–180; Ohse, Jugend nach dem Mauerbau, S. 64–81. 532 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 230. 533 Vgl. ebd., S. 210 f. 534 Vgl. Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

Legitimitätsansprüche stand die SED - Führung unter Honecker vor der Aufgabe, diesseits der Utopie für Sinnstiftung zu sorgen.535 Dies geschah auf zweierlei Weise : Zum einen versuchte die Partei, Teile der Utopie wie soziale Gleichheit, Sicherheit und Wohlstand in die Gegenwart zu holen. Im „realexistierenden Sozialismus“ sollten die „realen Prozesse des gesellschaftlichen Lebens“ insbesondere „der Mensch mit seinen materiellen und geistigen Bedürfnissen“ im Mittelpunkt stehen. Anstelle der Hoffnung auf eine Gesellschaft der Gleichen und Freien, der Klassenlosigkeit und der Herrschaftsfreiheit trat die „harmonische, optimal proportionale Entwicklung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens“.536 Mit dem Schritt „vom Morgen zum Heute“537 wurden aber die Versprechen eines kontinuierlichen Fortschritts einer Leistungskontrolle durch die Gesellschaft ausgesetzt.538 Die „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ war Ausdruck des Dilemmas der Parteiführung : Sie war nicht mehr auf zukünftige Früchte des Sozialismus / Kommunismus gerichtet, sondern an nachprüfbare Verbesserungen im materiellen Wohlergehen gekoppelt. Gleichzeitig nahm die Partei den Druck auf die Bürger zurück, wenn sich deren Werthaltungen nicht direkt gegen ihre Herrschaft richteten.539 Zum anderen musste die Partei ihre ideologischen Anstrengungen verstärken, denn aufkommende Zweifel hätten das gesamte Weltbild und den Glauben an die Partei erschüttert und große Teile der eigenen Biographie und Person in Frage gestellt.540 Der totalitäre Anspruch der SED blieb bestehen, wenn auch statt der Utopie nun im „realexistierenden Sozialismus“ die „gelebte Lüge“ praktiziert wurde. Die alten Rituale wurden in einer „hölzernen Sprache“, die die Mentalität der Parteifunktionäre zunehmend prägte, weiter gepflegt.541 Der Spagat zwischen Legitimationssuche durch Verbesserungen im materiellen Wohlergehen und zwanghaftem Festhalten am ideologischen und gesellschaftlichen Status quo wurde mit der Entspannungsphase Anfang der 1970er Jahre im Zuge des deutsch - deutschen Grundlagenvertrages bzw. ab 1975 mit der KSZE - Konferenz noch deutlicher. Zum einen konnten die Vereinbarungen mit der westlichen Seite durchaus als Erfolg der Anerkennungspolitik der SED verbucht werden. Zum anderen konnte für die DDR - Führung friedliche Koexistenz nicht Annäherung oder Aussöhnung, sondern nur Verschärfung des ideologischen Klassenkampfes bedeuten. Entsprechend ihrem paranoiden Bedrohungsgefühl führte die neue außenpolitische Lage zu einer grotesken Wahrnehmung : Die Entspannung in den Ost - West - Beziehungen erzeugte eine verstärkte Bedrohung der inneren Sicherheit der DDR. Die zunehmenden Kontakte von DDR - Bürgern zu Westdeutschen – zwischen 1973 und 1982 fuhren 535 536 537 538 539 540 541

Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, 230 f. Vgl. ebd., S. 233. Staritz, Geschichte der DDR, S. 276. Vgl. ebd., S. 281. Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 238. Vgl. Haury, Antisemitismus von links, S. 433. Vgl. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, S. XXV.

Phase der voll funktionierenden Herrschaft

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jährlich ca. 40 000 DDR - Bürger in die Bundesrepublik, während umgekehrt fast fünf Millionen Westdeutsche und West - Berliner in die DDR einreisten542 – lösten umfangreiche innenpolitische Sicherungsmaßnahmen aus, um sie unter Kontrolle zu halten. Damit stand, wie Minister Mielke 1972 meinte, das MfS „vor der schwierigen Aufgabe der ständigen Verfolgung der aus den vielfältigen und umfangreicher gewordenen Kontaktmöglichkeiten resultierenden negativen politisch - ideologischen Auswirkungen auf einen bestimmten Teil unserer Bürger“.543 Unter den Bedingungen der Entspannungspolitik entwickelte sich das MfS daher zum wichtigsten Garanten innenpolitischer Stabilität. Der Apparat der ostdeutschen Geheimpolizei erlebte folgerichtig gerade in den 1970er Jahren einen massiven Wachstumsschub. Hatte sich die Mitarbeiterzahl des Ministeriums zwischen 1961 und dem Machtantritt Honeckers 1971 von 20 000 auf 45 500 verdoppelt, erreichte sie 1982 mit 81 500 mehr als den vierfachen Wert. Auch beim Etat konnte das MfS in der ersten Hälfte der 1970er Jahre jährliche Wachstumsraten von über 100 Millionen Mark verzeichnen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts überstiegen diese sogar die 200 Millionen - Marke.544 Dem Ausbau des Staatssicherheitsdienstes zu umfassenden verdeckten Steuerungs - und Manipulationsfunktionen „nicht nur in allen wichtigen Bereichen von Staat und Gesellschaft, sondern bis in [...] persönliche Beziehungen hinein“,545 stand die Vorgabe der Staatspartei gegenüber, dass ihr „Schild und Schwert“ nichts unternehmen dürfe, was das Renommee der SED nach außen und innen beeinträchtigen konnte. Dass seit den 1970er Jahren auch endgültig mit der offenen Repression gebrochen wurde, hing also keineswegs mit neu entdeckter Liberalität zusammen. Mit der „Verknöcherung und Ritualisierung“, mit dem Niedergang der Ideologie und dem Verlust jeglicher mobilisierender Utopie546 verlor sich auch der Glaube, angesichts mangelnder Legitimität „Gewalt bei den Herausforderungen an der Peripherie des Systems“547 anwenden zu können. Bei der in der Richtlinie 1/76 „zur Entwicklung und Bearbeitung operativer Vorgänge“ erstmals einheitlich vollzogenen Orientierung der Arbeit des MfS auf Methoden, die die strafrechtliche Ahndung mit Haft und Urteil ersetzten oder ergänzten, handelte es sich keineswegs nur um eine Perfektionsstrategie, sondern zugleich um eine defensive Reaktion auf die immer kleiner werdenden Spielräume der Repression.548 Der Verzicht auf die Abschreckungswirkung harter Repressionsmaßnahmen musste sich auf die Mitarbeiter der Staatssicherheit in einem Moment, da der „Klassenfeind“ in ihren Augen die weltpolitische Lage zur „Intensivierung sei-

542 543 544 545 546 547 548

Vgl. Gieseke, Mielke - Konzern, S. 87. Erich Mielke auf der Zentralen Dienstkonferenz am 16. 11. 1972. Zit. in ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 70. Henke, Zur Nutzung und Auswertung, S. 585 f. Vgl. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, S. XXXV. Ebd., S. IX. Vgl. Gieseke, Die Geschichte der Staatssicherheit, S. 121.

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ner konterrevolutionären, subversiven Tätigkeit“ nutzte,549 problematisch auf die Motivation auswirken. Gerade die Vorzugsstellung, die die SED dem Frieden und der gemeinsamen Sicherheit als Voraussetzung sozialen Fortschritts einräumte, schob den Klassenkampfgedanken tendenziell zurück. Die frühere Annahme, dass man, um den Frieden zu sichern, erst einmal den Kapitalismus bezwingen müsse, wurde nun in Frage gestellt.550 Für das MfS konnte dies nur bedeuten, seinen militanten Wertehorizont auch unter dem Einfluss der zivileren innen - und außenpolitischen Lage beizubehalten und „kraft militärischer Dienstverfassung, Generationensymbiose, Vermittlung unmittelbarer Apparatinteressen und ideologisch ‚richtiger‘ Vermittlung praktischer Tätigkeit nicht zuletzt auch jüngere Mitarbeiter in das tschekistische Milieu“ einzubinden und „damit den ‚kalten Bürgerkrieg‘ als Daseinsberechtigung“ zu konservieren.551 Denn gerade dieses an den manichäischen Grundzügen des Stalinismus orientierte Feindbild war die „entscheidende Legitimation für die Existenz, den Umfang und die Wirkungsbreite“ des MfS.552 Daneben war es besonders die auf Planerfüllung und militärischen Gehorsam ausgerichtete Arbeit des MfS, die mögliche Zweifel und Kritik an Zielen und Methoden unterdrückte. Ähnlich wie innerhalb der SED war es auch im MfS in einem Klima der „langsamen aber stetigen Verbesserung der Wirklichkeit“ nicht mehr möglich, den Sinn der eigenen Arbeit kritisch zu hinterfragen und damit – wie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre – einen möglicher weise erfolgversprechenden Strategiewechsel zu erreichen. Die mit der Zeit kumulierenden Systemdefizite im SED - Staat konnte auch das MfS nicht mehr beheben. Allein auf die Erhaltung des Status quo orientiert, blieb dem Sicherheitsapparat nur noch die Aufgabe, die öffentliche Artikulation von Problemen und die Frage nach grundlegenden Veränderungen mittels immer mehr Überwachung zu verhindern.553 Wie am Beispiel der Zeugen Jehovas zu zeigen ist, stießen präventive und zersetzende Repressionsmethoden unterhalb der Ebene des Strafrechts angesichts der neuen „Möglichkeiten für die Aufrechterhaltung und den Ausbau nachrichtendienstlicher Verbindungen“ schnell an ihre Grenzen. Während die konspirativ agierende Glaubensgemeinschaft durch den von der WTG propagierten neuen Endzeittermin 1975 in ihren Aktivitäten beflügelt und von zunehmender Literatureinfuhr aus dem Westen und paralleler Zurücknahme der offenen Repression durch die östlichen Sicherheitsorgane zusätzlich motiviert wurde, konnte das MfS sein Instrumentarium für verdeckte Aktionen immer weiter verfeinern. Gleichzeitig verengte sich jedoch der Spielraum, die gewonnenen Kenntnisse operativ nutzen zu können. Paradoxerweise zeitigten 549 Vgl. Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit, Teil VII. Hg. JHS, Lehrstuhl Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des MfS, 1980. Zit. in Gieseke, Mielke - Konzern, S. 86. 550 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 295 und 297. 551 Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 292. 552 Vgl. ebd., S. 462. 553 Vgl. ebd., S. 547.

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die jahrelangen Vorarbeiten im Hinblick auf angeworbene oder platzierte Inoffizielle Mitarbeiter ( IM ), auf gewonnene Kenntnisse über den organisatorischen Aufbau und das durch hauptamtliche IM vermittelte Verständnis der Glaubensinhalte der Zeugen Jehovas genau in jenem Moment Ergebnisse, als diese wegen der Vorgaben durch die Staatspartei nicht mehr für die „Liquidierung“ des „religiös - politischen Untergrundes“554 angewendet werden konnten.

3.2

Formen der „stillen“ Repression

Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, waren Zersetzungsmaßnahmen keine Erfindung der 1970er Jahre. Sie waren auch schon vor dem Mauerbau auch bei der Bekämpfung der Zeugen Jehovas entwickelt und eingesetzt worden. Nun jedoch stand die gesamte Gegnerbekämpfung in der DDR im Blickpunkt. Die Anwendung des Strafrechts gegen „Bürger des nichtsozialistischen Auslands“ oder „Bürger der DDR mit nationalem und internationalem Ansehen und Beziehungen“ konnte den „innen - und außenpolitischen Interessen der DDR mehr schaden als nutzen“. Wie auch in den späten 1950er Jahren bei den Zeugen Jehovas konstatierte die ostdeutsche Geheimpolizei, dass durch Zersetzungsmaßnahmen zur Untätigkeit gezwungene und in Freiheit befindliche „feindlich tätige Personen [...] weit weniger gefährlich als inhaftierte ‚Märtyrer‘“ seien.555 Die für die Zersetzungsmaßnahmen des MfS maßgebliche Richtlinie 1/76 nennt zwölf Methoden, um durch psychologische Manipulationen die gegnerische Tätigkeit einzuschränken : die Diskreditierung des öffentlichen Rufes, die Organisierung von Misserfolgen in der beruf lichen Entwicklung und bei sozialen Kontakten, das Untergraben von Überzeugungen und das Schüren von Zweifeln, das Entfachen von persönlichen Rivalitäten und gegenseitigen Verdächtigungen in den Gruppen, die Zuweisung von weit entfernten Arbeitsplätzen, die Verbreitung kompromittierender Fotos, Briefe, Telegramme u. ä., das Ausstreuen von Gerüchten bzw. fingierten Indiskretionen und die scheinbar unmotivierte Vorladung bei staatlichen Stellen, die einschüchtern oder den Eindruck einer IM - Tätigkeit erwecken sollten.556 Die Anwendung dieser Zersetzungsmethoden wurde in der tschekistischen „Forschungsliteratur“ geradezu detailversessen auf die Anwendbarkeit bei Zeugen Jehovas geprüft und dann in

554 Vgl. MfS, HA XX /4, Analyse der politisch - ideologischen und religiösen Grundkonzeption der Organisation „Zeugen Jehova“ und ihrer heutigen Variante vom 16. 3. 1976 (BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 88–98, hier 98). 555 Vgl. Lehrmaterial der Hochschule des MfS zum Thema : Anforderungen und Wege für eine konzentrierte, rationelle und gesellschaftlich wirksame Vorgangsbearbeitung. 11. Kapitel : Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung in der Bearbeitung Operativer Vorgänge, Dezember 1977. Zit. in Gieseke, Mielke - Konzern, S. 188. 556 Vgl. Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge. Abgedruckt in Gill / Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 346–402.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

der Praxis auch angewandt.557 „Operative Vorgänge“ sollten eigentlich mit dem Nachweis strafbarer Handlungen abgeschlossen werden, um sie dann der Hauptabteilung IX zur Eröffnung eines offiziellen Ermittlungsverfahrens zu übergeben. Dennoch entwickelte sich die Zersetzung in Fällen, in denen „aus politischen und politisch-operativen Gründen im Interesse der Realisierung eines höheren gesellschaftlichen Nutzens nicht mit strafrechtlichen Maßnahmen abgeschlossen werden“558 sollten, schnell zum universalen Instrumentarium. Gerade in einer Zeit, in der die staatlichen Sanktionsmöglichkeiten schrumpften, wurde ein Instrument wie die Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ immer wichtiger. Diese im Auftrag und unter materieller wie auch inhaltlicher Unterstützung des MfS vom ehemaligen Funktionär der Zeugen Jehovas Willy Müller, alias IM „Rolf“, gegründete Zeitschrift entwickelte sich zunehmend zum wichtigsten Instrument der „inneren Zersetzung“. In einer Konzeption der kirchenpolitischen Abteilung des MfS wurde das Themenspektrum der Zeitschrift im Kampf gegen die Zeugen Jehovas wie folgt erläutert : – „Auseinandersetzung mit dem antisozialen, inhumanen, gesellschaftsfeindlichen, antikommunistischen und antisowjetischen Bibelmissbrauch seitens der WTG [ Wachtturm - Gesellschaft ], – Entlarvung der illegalen bzw. Untergrundpraxis der WTG, Orientierungen auf Verlassen von Illegalität und Untergrund, Bedingungen für eine verfassungsmäßige Existenz der ZJ [ Zeugen Jehovas ] als Christen in der DDR, – Fortlaufende kritische Einschätzung aller Beiträge der WTG für die ZJ in ihrer Hauptzeitschrift ‚Der Wachtturm‘ im Sinne der CV - Zielsetzung, sowie in den anderen aktuellen Materialien der WTG, – Fortlaufende kritische Einschätzung der WTG - Sendungen über RIAS - Westberlin für die ZJ in der DDR im Sinne der CV - Zielstellungen, – Aufdeckung aller Unglaubwürdigkeiten, Haltlosigkeiten und Widersprüche in Theorie und Praxis der WTG bzw. ZJ, – Darlegungen für christliche Neuorientierung unter den Bedingungen der sozialistischen Gesellschafts - und Staatsordnung der DDR sowie für positives gesellschaftspolitisches und sozialpolitisches Verhalten als Christ in dieser Hinsicht, – Darstellungen, Selbstdarstellungen der verschiedenen freien christlichen Gemeinden / Gemeinschaften ehemaliger ZJ als mögliche Alternative, als Neuorientierung,

557 Vgl. beispielsweise Leutnant Heinz Bergner, Die Erarbeitung geeigneter Anknüpfungspunkte für die Ausarbeitung und Anwendung von Zersetzungsmaßnahmen bei Gruppen mit antisozialistischer Zielsetzung. ( Am Beispiel der in der DDR illegal tätigen Organisation „Zeugen Jehova“). Zit. in Hirch, Die wissenschaftliche Darstellung der Zersetzung, S. 30. 558 Richtlinie 1/76. Abgedruckt in Gill / Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 346–402.

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– Erziehung zu religiöser Toleranz und Achtung anderer Christen und Andersdenkender, – Zweckdienliche Kurzinformationen, Mitteilungen, Leserbriefbeantwortungen, Literaturhinweise.“559 Diese ausführliche Darstellung verschweigt allerdings, dass sich das Blatt neben der systemkonformen Auseinandersetzung mit den Lehren der Zeugen Jehovas vor allem mit dem Hereintragen von Verwirrung und Unfrieden beschäftigte. Von seinen Auftraggebern mit den nötigen Informationen versorgt, griffen die Herausgeber – entgegen der beschriebenen „Toleranz“ – jede noch so kleine Verfehlung einzelner Zeugen Jehovas heraus, um diese dann an die Öffentlichkeit zu zerren. Fanden die MfS - Mitarbeiter in besonders aktiven Versammlungen keine Angriffspunkte, wurden eben welche konstruiert. So versandte das MfS zwei Briefe mit fingierten Skandalnachrichten aus Jena. „Der Brief an das Bibelhaus Wiesbaden wird in Jena abgestempelt und 8 Tage später wird der gleiche Brief an [ geheimen Mitarbeiter ] ‚Rolf‘ gesendet und im CV 5 mit ausgewertet. [...] Zur Zeit ist der Zersetzungsprozess in der ‚ZJ - Versammlung‘ Jena am weitesten fortgeschritten. In dieser Versammlung verdächtigen sich die Brüder im Brüderkomitee gegenseitig. Der Gebietsdiener [...] äußerte, dass es über seine Kräfte geht und er am Ende wäre. Seine Nerven würden diese Verräterei nicht mehr länger ertragen.“560 Dennoch erreichte die Zeitschrift ihre größte Wirkung nicht unter Zeugen Jehovas, die in den seltensten Fällen die Herkunft der Schrift verkannten. Weitaus erfolgreicher war die „Christliche Verantwortung“ außerhalb der Glaubensgemeinschaft. Diese Ausweitung der Leserbasis wurde zunächst nur als Bestätigung der eigenen Arbeit gesehen. Seit den 1970er Jahren aber erkannte das MfS, wie vorteilhaft es wäre, wenn die eigenen Fälschungen und Halbwahrheiten in anderen Publikationen weiterverbreitet würden. Dies verschob nur das Bild der Glaubensgemeinschaft weiter ins Negative. Die Veröffentlichung in anderen – vornehmlich westlichen – Medien „adelte“ die eigenen Meldungen geradezu. Bei der weiteren Verbreitung der aus den Verhörprotokollen der Gestapo kompilierten Geschichte über eine angebliche Kollaboration mit den Nationalsozialisten durch den früheren Leiter des deutschen Zweiges der Zeugen Jehovas, Erich Frost, war beispielsweise immer der 1961 veröffentlichte Spiegel- Artikel561 wichtigster Beleg. Eben diesen Artikel aber hatte das MfS dorthin lanciert. Um jedoch diese Aufgabe übernehmen zu können, benötigte die „Christliche Verantwortung“ einen seriöseren Anstrich. Nach außen trat die CV als „repu559 MfS, HA XX /4, Konzeption zur politisch - ideologischen Beeinflussung der Anhänger der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ durch die Studiengruppe „Christliche Verantwortung“ ( CV ) in der DDR von Dezember 1974 ( BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 67–87, hier 73). 560 Schreiben der BV Gera, Abt. XX /4, vom 23. 5. 1966 ( BStU, BV Gera, AIM 269/70, A VI, Bl. 97). 561 Vgl. „Väterchen Frost“. In : Spiegel, 15 (1961) 30, S. 38 f.

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blikweite Studiengruppe ehemaliger Zeugen Jehovas auf, die ihre gleichnamige Monatszeitschrift besonders für derzeitige Zeugen Jehovas herausgibt“.562 Um auch ein gewisses „Innenleben“ vor weisen zu können, wurde seit 1977 ein „Arbeitskreis“ gebildet, der in regelmäßigen Abständen zusammentrat. Ein wichtiges Problem, dass es zu klären galt, war die Finanzierung der Arbeit der „Studiengruppe“. Bislang wurde sie – in ausreichendem Maße – vom Ministerium für Staatssicherheit alimentiert. Die nie klar genannten finanziellen Quellen mussten jedoch bei Außenstehenden, aber auch bei möglicherweise Interessierten den Verdacht aufkommen lassen, dass hinter der Zeitschrift das MfS stehe.563 Daher machte sich das MfS auf die Suche nach Finanzquellen und entdeckte bei der CDU564 einen „Fond für die politisch - ideologische Arbeit der CDU mit kleinen Religionsgemeinschaften“.565 Das MfS - gesteuerte Staatssekretariat für Kirchenfragen griff schließlich der „Christlichen Verantwortung“ unter die Arme und zahlte monatlich 1 000 Mark auf deren Bankkonto.566 Derartig abgesichert gingen die hauptamtlichen CV - Mitarbeiter daran, auch auf internationalem Parkett zu reüssieren. Anlass dazu war die Weltkonferenz „Religiöse Vertreter für die Rettung der heiligen Gabe des Lebens vor einer nuklearen Katastrophe“ im Jahre 1982 in Moskau. Neben der Selbstdarstellung vor ausländischem Publikum wollten die Herausgeber dort auch ihre Sichtweise zur Rolle der Zeugen Jehovas verbreiten : „Zur Vorbeugung einer Atomkatastrophe gehört auch die Aufdeckung und Zurückweisung aller Kriegs - und Untergangspsychosen, die Willen und Kraft zerstören, ‚nach Frieden zu trachten mit jedermann‘, die Krieg und Untergang als unvermeidlich hinstellen. Eine Hauptinstitution, die das unter Missbrauch des christlichen Glaubens weltweit tut, ist der internationale religiöse Medienkonzern ‚Wachtturm - , Bibel - und Traktat Gesellschaft‘ in Brooklyn, New York, USA, die leitende Körperschaft der Organisation der sog. Zeugen Jehovas, die inzwischen weltweit eine beachtliche religiöse Macht darstellt.“567 Im Laufe der Jahre wurde die Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ Ansprechpartnerin für organisierte ehemalige Zeugen Jehovas in der östlichen 562 „Wer und was ist die ‚Christliche Verantwortung‘?“ In : Christliche Verantwortung 229/1988, unpaginiert. 563 Vgl. Oberleutnant Hans - Jürgen Wollenburg, Der zielgerichtete Einsatz inoffizieller Mitarbeiter zur Entwicklung einer wirksamen Oppositionsbewegung im Rahmen der Zersetzung der auf dem Gebiet der DDR illegal tätigen Wachtturmgesellschaft, Fachschularbeit 1978 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–615/79, S. 11). 564 Zur Rolle der CDU in der DDR vgl. Richter / Rißmann ( Hg.), Die Ost - CDU. 565 Vgl. MfS, HA XX /4, Information. Aktivierung der Tätigkeit von „Christliche Verantwortung“ ( CV ) zur Zurückdrängung des Einflusses der „Zeugen Jehovas“ in der DDR vom 16. 10. 1974 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 284–286). Aus den Quellen wird nicht ersichtlich, ob diese Pläne weiter gediehen. 566 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 336–341. 567 Beitrag der CV zur Weltkonferenz „Religiöse Vertreter für die Rettung der heiligen Gabe des Lebens vor einer nuklearen Katastrophe“, Moskau 10.–14. 5. 1982 : „Christen müssen Friedensstifter sein. Gegen die Verbreitung von Kriegs - und Untergangspsychose“ (BArch, DO 4, 1173, unpaginiert ).

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und der westlichen Hemisphäre. Aber auch für an dieser Religionsgemeinschaft interessierte Historiker, „Sektenkundler“ und Pfarrer entwickelte sich die Zeitschrift zu einem unentbehrlichen Informationsorgan. Da aus den weitgehend abgeschotteten Kreisen der Zeugen Jehovas kaum Nachrichten nach draußen gelangten, griffen viele Interessierte auf die Informationen der „Christlichen Verantwortung“ zurück. Eigentlich hätten die Umstände – eine Zeitschrift, die in einem kommunistischen Land über eine verbotene Glaubensgemeinschaft berichtete – stutzig machen müssen. Nur Wenige bewahrten angesichts der nun zugänglichen Informationen ihren kritischen Blick auf die Quelle. Bei den vom MfS getragenen „Oppositionsgruppen“, die sich in Form von Religionsgemeinschaften organisierten, gab es einige Veränderungen : Die aus der „Allgemeinen Bibel - Lehr - Vereinigung“ ( ABL ) her vorgegangene „Vereinigung freistehender Christen“ ( VfC ) war für das MfS nicht länger von Interesse. Zunehmend überaltert – als Institution von Gnaden der DDR - Staatssicherheit war ihr das Missionieren im organisierten Rahmen untersagt – stellte sie schrittweise die scharfe Polemik gegenüber den Zeugen Jehovas ein. Ja, die Funktionäre der Gemeinschaft wiesen sogar die ihnen regelmäßig zugesandte Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ zurück.568 Über die weitere Entwicklung geben die Akten nur spärlich Auskunft : Das Staatssekretariat für Kirchenfragen gab 1978 die Zahl der Mitglieder mit 210 an569 und vermeldete 1988, dass die Gemeinschaft ihre „Existenz aufgegeben“ habe.570 Der „Bund freier Christengemeinden“ ( BfC ) hatte ebenfalls seine beste Zeit schon hinter sich. 1970/71 spaltete sich in Leipzig eine Kleingruppe um den Prediger Heinz Bolze ab. 1978 scheint der BfC nur 60 Mitglieder umfasst zu haben.571 Auch ein Versuch des MfS, die Gruppen ehemaliger Zeugen Jehovas unter den Lesern der Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ zu propagieren und damit „als Alternativ - Gemeinschaft für die verbotenen ZJ“ zu aktivieren, scheiterte völlig.572 Dies kann nicht ver wundern, denn in den 1970er Jahren wurden in den Versammlungen der Gemeindemitglieder nur noch Bibelbesprechungen, aber keine Vorträge mehr durchgeführt. Das konnte weder für die Gläubigen, geschweige denn für Zeugen Jehovas attraktiv sein. Auch in Dresden spaltete sich eine „Freie Christengemeinde“ unter der Leitung von Martin Hänsel vom BfC ab. Sie soll in den 1980er Jahren mit 30 Mit568 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 389. 569 Vgl. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abt. I, Barbara Janott, Information über in der DDR registrierte und tätige kleine Kirchen und Religionsgemeinschaften vom 14. 6.1978 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV B 2/14/169, Bl. 89–92). 570 Vgl. Staatssekretariat, Abt. II, vom 19.1.1988, Vorlage an die Dienstbesprechung am 25. 1. 1988, Thema : Information zur politischen Entwicklung in Kirchen und Religionsgemeinschaften seit dem Gespräch vom 6. 3. 1978 und zu Möglichkeiten für eine Aktivierung ihrer Friedensarbeit ( BArch, DO 4, 1505, unpaginiert ). 571 Vgl. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abt. I, Langfristige Konzeption der politischen Einflussnahme auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR außer der evangelischen und katholischen Kirche vom 20. 7.1978 ( BArch - SAPMO, DY 30/ IV B 2/14/169, Bl. 94–106, hier 105 f.). 572 Vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 393.

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gliedern573 die größte Gruppe ehemaliger Zeugen Jehovas in der DDR gewesen sein. Allerdings scheint sie sich nicht intensiv genug an der Bekämpfung ihrer vormaligen Glaubensgeschwister beteiligt zu haben, denn im Gegensatz zu ihnen wurde die Leipziger Gruppe um Bolze – sie konstituierte sich auch als „Freie Christengemeinde“ – als „politisch wichtigste“ Gruppe genannt.574 Das lag wohl daran, dass sie sich schnell in die „operative Bearbeitung“ der Zeugen Jehovas integrierte. Obwohl lediglich 20 bis 25 Mitglieder umfassend, konnte sie ab 1980 ebenfalls eine eigene Zeitschrift „Weggefährte“ veröffentlichen. Doch auch hier kollidierten staatspolitische Interessen mit den Eigeninteressen und religiösen Meinungen des Herausgebers Bolze. Dieser wandte sich in seinen Texten nämlich nicht nur gegen die Zeugen Jehovas, sondern auch gegen seine ehemaligen Mitstreiter. Diese wären seiner Meinung nach – weil sie an den Lehren des Gründers der Bibelforscher, Russel, festhielten – weiterhin Zeugen Jehovas, wenn auch von der Wachtturm - Gesellschaft losgelöste. In seiner Zeitschrift sprach er von ihnen als „Extremisten und fanatische [...] Verfechter sektiererischer Ansichten“. Er selbst und seine Anhänger aber wären Anhänger Jesu Christi. Aus diesem Grund – und weil er aus den Kreisen „Freier Christen“ kritisiert wurde – beantragte er für 1988 die Umstellung seiner Lizenz auf einen „Lehrbrief der ‚Schule Jesu Christi‘ – Studienschrift ohne Konfessionsbindung“. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen – und im Hintergrund das MfS – musste wider willig die Zustimmung erteilen und das Projekt finanziell unterstützen. Sie konnten nicht auf ein Medium zur Verwirrung von Zeugen Jehovas und zur Motivationsstärkung der abtrünnig Gewordenen verzichten. Bolzes Gesprächspartner im Staatssekretariat, Stephan, dämpfte jedoch dessen Hoffnung, mit der Schrift ein theologisches Konzept zu kreieren, das auch Interesse bei anderen Religionsgemeinschaften fände.575 Nach allen Versuchen zur Instrumentalisierung von religiösen Gruppen ehemaliger Zeugen Jehovas musste das Staatssekretariat für Kirchenfragen in den 1980er Jahren konstatieren, dass „die Gemeinden Freier Christen in der DDR auf ein paar Dutzend Anhänger geschrumpft [ sind ]. Die Ursachen dieses Schrumpfungsprozesses liegen in der Überalterung der Mitglieder, in der fehlenden Argumentationskraft gegenüber den Z[ eugen ] J[ ehovas ] und in der Differenzierung ihrer Mitglieder durch die ZJ. Bei den Freien Christengemeinden handelt es sich nicht um religiöse Gemeinden, wie wir sie beispielsweise in den Kirchen und Religionsgemeinschaften unseres Landes finden. Bei diesen Grup573 Vgl. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Der unterschiedliche Entwicklungsstand der einzelnen kleinen Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR und daraus abgeleitete Maßnahmen und Schlussfolgerungen für eine differenzierte Führung, o. D. (BArch - SAPMO, DY 30/ IV B 2/14/173, Bl. 80–120, hier 126). 574 Vgl. Information über „Jehovas Zeugen“ ( auch als „Watch Tower Bible and Tract Society“ – Wachtturm Bibel - und Traktat - Gesellschaft, kurz : Wachtturm - Gesellschaft, abgekürzt WTG, ausgewiesen ) unter besonderer Berücksichtigung ihres Wirkens in der DDR, o. O., vom 10. 7. 1986 ( BArch, DO 4, 1178, unpaginiert, [ interne Zählung S. 9]). 575 Vgl. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Bericht Stephans über ein Treffen mit Heinz Bolze am 13. 10. 1987 vom 14. 10. 1987 ( BArch, DO 4, 1183, unpaginiert ).

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pen handelt es sich um Gläubige, die sich z. B. anlässlich von Bibellesungen in bestimmten zeitlichen Abständen zusammenfinden. Einen anderen organisatorischen Zusammenhalt als den des subjektiven Interesses an dem jeweiligen Gegenstand der Zusammenkunft gibt es nicht. Die Beziehungen der Gläubigen zur Gemeinde sind entsprechend mehr oder weniger intensiv ausgeprägt. Es gibt keinen größeren festen Kreis von Personen, die regelmäßig an den Versammlungen teilnehmen.“576 Eine Religionsgemeinschaft ohne eigenes Gemeindeleben war aber nicht lebensfähig. Der Glaube der Angehörigen dieser Gemeinschaften spielte für das MfS im Kampf gegen die Zeugen Jehovas keine Rolle. Neben dem – für die Gläubigen nicht sehr attraktiven – Angebot, zu den wenigen noch bestehenden Gruppen ehemaliger Zeugen Jehovas zu wechseln, offerierten die MfS - Mitarbeiter immer wieder die Möglichkeit einer Neuzulassung der Gemeinschaft, wenn sie sich denn von den westlichen Zentralen und von deren „antikommunistischer Hetze“ abwenden würde. Dieses Angebot wurde nicht nur in den verschiedenen „Vorbeugegesprächen“ mit Funktionären der Zeugen Jehovas geäußert, sondern in regelmäßigen Abständen auch von der Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ verbreitet. Derartige Versprechungen wurden zur Zersetzung eingesetzt, weil sie geeignet schienen, zwischen den Gläubigen in der DDR und dem Zweigbüro in Westdeutschland Zwietracht zu säen. Interessant ist, dass bald auch die MfS - Mitarbeiter nicht mehr zwischen ihrer eigenen Propaganda und realen Plänen zu unterscheiden wussten. „Die Gesamtaufgabenstellung des MfS bei der Bekämpfung der WTG“ – so beispielsweise ein Schulungspapier der „Juristischen Hochschule“ des MfS aus dem Jahre 1978 – „besteht darin, durch den Aufbau und die Entwicklung einer wirkungsvollen Opposition durch Mitglieder bzw. ehemalige Mitglieder der WTG zur allmählichen Auf lösung der gesellschaftsfeindlichen Organisation und zu ihrer Wiederzulassung als Religionsgemeinschaft im Rahmen unserer gesellschaftspolitischen Entwicklung zu gelangen.“577 Mitte der 1970er Jahre erstellte die kirchenpolitische Abteilung des MfS gar eine „Einsatzkonzeption zur Etablierung und Absicherung einer Oppositionsbewegung innerhalb der Organisation [ Zeugen Jehovas ] in der DDR“. In drei Etappen wollte man zum Ziel gelangen : Nachdem die geeigneten Kandidaten, aber auch mögliche „reaktionäre Kräfte“ in den einzelnen Versammlungen „aufgeklärt“ waren, sollten kleinere Gruppen gebildet werden. Deren Aufgabe war es, einheitliche Standpunkte zu erarbeiten, Flugblätter zu verbreiten und „besonders fanatische 576 Staatsekretariat für Kirchenfragen, Informationen über „Jehovas Zeugen“ ( auch als „Watch Tower Bible and Tract Society“ – Wachtturm Bibel - und Traktat - Gesellschaft, kurz : Wachtturm - Gesellschaft, abgekürzt WTG, ausgewiesen ) unter besonderer Berücksichtigung ihres Wirkens in der DDR, o. D. ( zwischen 1984 und 1986) ( BArch, DO 4, 1174, unpaginiert ). 577 Major Gerfried Wenzlawski / Major H. - Jochen Kleinow, Aufgaben der Kreisdienststellen zur Aufdeckung der subversiven Tätigkeit der Funktionäre der WTG mit dem Ziel ihrer Einschränkung und der Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge [ Diplomarbeit ]. In Auszügen abgedruckt in URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / KleinowWenzlawski.pdf (28. 7. 2004).

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Funktionäre“ zu diskreditieren. Noch sollten allerdings diese Gruppen nicht an die Öffentlichkeit treten. Erst in einer dritten Phase war vorgesehen, dass die Vertreter beim Staat vorsprechen und ihre Statuten zwecks offizieller Gründung zur Genehmigung vorlegen.578 Derartige Pläne waren irreal. Sie wurden auch nicht ansatzweise umgesetzt. Das MfS war zwar in der Lage, einzelne Gläubige aus der Gemeinschaft „herauszubrechen“, doch setzte es diese dann bevorzugt als IM zur Bespitzelung und Zersetzung der ehemaligen Glaubensbrüder ein. Diese Widersprüche zwischen eigenen Analysen und Zielvorgaben können nur aus der Verschränkung von MfS - typischer konspirativer Abschottung, Vorgaben der SED nach „Rückgewinnung fehlgeleiteter Bürger“ und dem DDR - immanenten System aus Planvorgabe und Planabrechnung erklärt werden. Um an die nötigen Informationen über die Zeugen Jehovas zu gelangen oder die Zersetzung in die Versammlungen zu tragen, benötigte das MfS ein dichtes Netz an IM. Das Ministerium unterschied zwischen IM in den Reihen der Glaubensgemeinschaft und denen, die an der Peripherie agierten. An der Peripherie meinte vor allem solche Informanten, die im Wohn- oder beruflichen Umfeld der zu bespitzelnden Person wirkten, von dort informierten, Nachrichten verbreiteten oder ihre Wohnungen für konspirative Treffs zur Verfügung stellten. Auch die „Partner des operativen Zusammenwirkens“ ( POZW ) unterstützten das MfS bei seiner „operativen Arbeit“. Aus allen Bereichen des beruf lichen, staatlichen, politischen, gesellschaftlichen oder medizinischen Lebens konnte die Geheimpolizei über ihre dort tätigen Spitzel oder auf offiziellem Wege Informationen oder praktische Unterstützung anfordern.579 IM aus dem Bereich des Staatsapparates, und hier besonders aus den Abteilungen Inneres bzw. Kultur waren geeignet, im Auftrag des MfS „zielgerichtete Gespräche zu führen oder Kontakte [...] aufzunehmen“. Sie sollten außerdem Zersetzungsmaßnahmen, wie Ordnungsstrafmaßnahmen, unterstützen. Inoffizielle Mitarbeiter aus der Deutschen Volkspolizei – Kriminalpolizei, Verkehrspolizei, Erlaubniswesen und die Abschnittsbevollmächtigten – wurden vor allem für die Kontrolle und Überwachung, Gesprächsführung, Ermittlung oder bei Anzeigen eingesetzt. Das MfS benötigte die aus dem Bereich der Justiz rekrutierten Spitzel vor allem zur Ahndung von „Gesetzesverletzungen“ oder zur Anordnung und Durchführung von Hausdurchsuchungen.580

578 Vgl. HA XX /4, Einsatzkonzeption zur Etablierung und Absicherung einer Oppositionsbewegung innerhalb der Organisation ZJ in der DDR vom 21. 5. 1976 ( BStU, ZA, HA XX/4, 891, Bl. 251–253). 579 Vgl. Gieseke, Mielke - Konzern, S. 156. 580 Vgl. Major Baenz, Die Gestaltung der Auftragserteilung und Instruierung an inoffizielle Mitarbeiter, die zur Durchführung von Maßnahmen der Zersetzung in der Vorgangsbearbeitung gegen staatsfeindliche Gruppen der verbotenen WTG ( Zeugen Jehovas ) zum Einsatz gelangen, Fachschularbeit 1976 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–560/75, S. 20 f.).

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Das wichtigste Instrument aber blieben die Informanten in den Reihen der Glaubensgemeinschaft. Hier vor Ort präsent zu sein, erforderte große Anstrengungen. Es gab zwei Möglichkeiten, zu den gewünschten Informationsquellen zu gelangen : das „Herausbrechen aus der Konspiration“, d. h. die Anwerbung von Gläubigen, die sich schon in den Reihen der Zeugen Jehovas befanden, und das „Eindringen in die Konspiration“, d. h. das Einschleusen von IM. Beide Möglichkeiten wurden in den verschiedensten „wissenschaftlichen“ Arbeiten der „Hochschule“ des MfS im Detail analysiert, weil beide Vorteile, aber auch gravierende Probleme mit sich brachten. Für das „Herausbrechen“ sprach die Tatsache, dass sich die IM - Kandidaten bereits den Regeln der Religionsgemeinschaft unterworfen hatten. Sie mussten also nicht mehr aufwendig angelernt werden. Frauen und ältere Menschen fielen aus dem Raster, da die ersteren kaum mit Funktionen betraut wurden, die letzteren wiederum keine Perspektive auf eine „Karriere“ innerhalb der Funktionärsklasse mehr hatten. Von Vorteil war es in den Augen des MfS, junge Zeugen Jehovas, die schon eine Funktion innehatten oder aus einer Funktionärsfamilie stammten, anzuwerben. Dies schien erfolgreich, wenn diese wegen Verstößen gegen bestimmte Verhaltensnormen der Gemeinschaft oder kriminellen Delikten erpressbar waren.581 Ebenso konnte aber auch das Streben junger Zeugen Jehovas nach einer qualifizierteren Ausbildung oder die Gewissenhaftigkeit am Arbeitsplatz für erste Anknüpfungsgespräche, die später ausgebaut wurden, genutzt werden.582 Den Vorteilen standen einige gravierende Nachteile gegenüber. Durch ihre religiösen Bindungen an die Zeugen Jehovas waren die Kandidaten zum einen schwerer anzubinden, denn Zeugen Jehovas wurden innerhalb der Glaubensgemeinschaft auf Werbeversuche vorbereitet. Zum anderen standen sie in der Gefahr, „rückfällig“ zu werden und sich den Funktionären zu offenbaren. Dies waren ungünstige Voraussetzungen für ein „Vertrauensverhältnis“ zwischen MfS-Mitarbeitern und ihren Informanten. Paradoxerweise war es von Nachteil, wenn sich die Angeworbenen „fortschrittlich“ entwickelten. Bei auftretenden Meinungsverschiedenheiten mit Funktionären wären die Inoffiziellen Mitarbeiter dann entweder „dekonspiriert“ oder aber sie würden bei der Vergabe von Funktionen nicht bedacht. Viele Zeugen Jehovas, die sich innerlich von den Dogmen der Glaubensgemeinschaft gelöst hatten, wollten sich ganz zurückziehen. Das musste der Führungsoffizier eines IM unbedingt ver581 Vgl. Oberleutnant Gerhard Kownatzki, Die Zersetzung der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ im Kreisgebiet durch Zurückdrängung und Einschränkung des Einflusses der Funktionäre der Organisation auf die Mitglieder der WTG. Schlussfolgerungen für die systematische und zielgerichtete Zersetzung der Organisation „Zeugen Jehova“, Fachschularbeit 1979 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–998/79, S. 18 f.). 582 Vgl. Hauptmann Eberhard Hinze, Einige Erfahrungen aus der politisch - operativen Arbeit zur Schaffung von zielgerichteten, dauerhaften und schwerpunktbezogenen inoffiziellen Kontakten zu ausgewählten Kandidaten aus der verbotenen WTG ( Zeugen Jehova ) mit der Zielstellung der Erweiterung der inoffiziellen Basis des MfS, Fachschularbeit 1978. Zit. unter URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / Hinze.pdf (9. 8. 2004).

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hindern. Deshalb galt es, die Informanten einerseits „aufzuklären“, um sie von der Gemeinschaft zu lösen, sie andererseits aber nicht „vom Glauben abfallen“ zu lassen.583 Noch viel schwieriger gestaltete sich das sogenannte Eindringen in die Konspiration. Dazu war es notwendig, von einem Zeugen Jehovas geworben zu werden, was sich selbst für das MfS nicht leicht „organisieren“ ließ. Am geeignetsten schienen Bürger, die selbst von Funktionären angesprochen wurden, da diese häufiger in Funktionen aufstiegen. Der Kandidat musste seine Lebensgewohnheiten und Grundsätze aufgeben und die rigorosen Vorstellungen der Zeugen Jehovas übernehmen. Es würde Jahre brauchen, bis ein solcher IM voll einsatzfähig war, weil er von den Zeugen Jehovas nach seinen Lebensgewohnheiten, aber natürlich auch auf etwaige Kontakte zum MfS kontrolliert würde. Seine Freizeit hätte er mit dem Literaturstudium zu verbringen. Um den Repressalien des SED - Staates zu entgehen – diese wollte das MfS seinen IM dann wohl doch nicht zumuten –, sollten die Kandidaten bereits ihre beruf liche Ausbildung abgeschlossen haben. Ihr obligatorischer Austritt aus den Massenorganisationen hätte sonst zu negativen Konsequenzen geführt. Auch verheiratete IM - Kandidaten waren ungeeignet, würde doch von ihnen erwartet, dass sie ihrer Lebenspartnerin den Glauben näher bringen. Von solchen „Erfolgen“ hing u. U. die Verwendung auf höheren Funktionen ab.584 Dasselbe galt ebenso für eigene Kinder. Die Probleme, die aus der Notwendigkeit entstanden, in „feindlich - negativen Gruppen“ Informanten zu etablieren, waren auch aus anderen Milieus bekannt. So hatte das MfS beträchtliche Schwierigkeiten geeignete Spitzel in die jugendliche Subkultur einzuschleusen. Entweder fanden Jugendliche aus linientreuen Elternhäusern keinen Zugang zu den Gruppen oder sie übernahmen die Lebens- und Denkgewohnheiten ihrer Umgebung und wurden so selbst zu „unsicheren Kantonisten“.585 Angesichts dieser Tatsachen überrascht es, dass es dem MfS überhaupt gelang, in die Reihen der Zeugen Jehovas einzudringen, doch darf man die kriminelle Energie der „Tschekisten“ bei der Anwerbung von IM - Kandidaten nicht unterschätzen. Während die Angehörigen des MfS vielfach Druck bei ihren Werbeversuchen anwandten, standen sie selbst auch unter Druck : mittels Monats - , Quartals - und Jahresplänen war detailreich vorgegeben, wie viele neue Infor583 Vgl. Major Gerfried Wenzlawski / Major H. - Jochen Kleinow, Aufgaben der Kreisdienststellen zur Aufdeckung der subversiven Tätigkeit der Funktionäre der WTG mit dem Ziel ihrer Einschränkung und der Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge [ Diplomarbeit ]. In Auszügen abgedruckt in URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / KleinowWenzlawski.pdf (28. 7. 2004). 584 Vgl. Major Gerfried Wenzlawski / Major Hans - Jochen Kleinow, Erkenntnisse und Erfahrungen zur Durchführung wirksamer operativer Maßnahmen gegen die Tätigkeit der in der DDR verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wachtturmgesellschaft ) zur Bekämpfung ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit [ Hausarbeit ] ( BStU, ZA, JHS VVS 001– 901/75, S. 67–69). 585 Vgl. Gieseke, Mielke - Konzern, S. 145 f.; Mampel, Das Ministerium für Staatsicherheit, S. 341 und 343 f.

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manten eine Dienststelle anzuwerben hatte. Diese „Tonnenideologie“ prägte nicht nur die DDR - Wirtschaft, sondern auch die Arbeit des MfS. Darunter musste natürlich die Qualität der Informationen leiden. Deshalb hatte das MfS zwar mit den Spitzen - IM „Hans Voss“ und „Albert“ wichtige Quellen, doch gelang es nie, so tief in die Reihen der Glaubensgemeinschaft einzudringen, dass diese zersetzt oder gar gesteuert werden konnte. Wie beschrieben wurde, konnte sich das MfS bei seinen Zersetzungsmaßnahmen auf eine Vielzahl an staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen stützen. Viele dieser Einrichtungen, vor allem im beruf lichen wie auch im schulischen Bereich, waren aber gleichermaßen in die Disziplinierungsmaßnahmen des SED- Staates eingebunden, die vor oder ergänzend zu Zersetzungsaktionen der Staatssicherheit zur Wirkung kamen. Da gerade Kinder von Zeugen Jehovas vielfältigen staatlichen Indoktrinationsversuchen in Schule und Freizeit ausgesetzt waren, sollen diese hier kurz dargestellt werden. Wie auch Kinder von Eltern anderer christlicher Bekenntnisse hatten sie eine breite Palette von marxistisch - leninistischen Unterweisungen im Heimatkunde, Geschichts - , Musik - und natürlich im Staatsbürgerkundeunterricht, aber auch in den naturwissenschaftlichen Fächern über sich ergehen zu lassen. Hier eine andere Meinung als die vorgegebene zu vertreten, erforderte Mut, bedeutete dies doch neben schlechten Noten eine gewisse Isolierung im Klassenverband. Noch gravierender war der Druck, der auf Kinder der Zeugen Jehovas bei deren Weigerung, an den obligatorischen Fahnenappellen bzw. in den höheren Klassen am Wehrunterricht an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, ausgeübt wurde. Die Mitgliedschaft in der Pionierorganisation und später in der „Freien Deutschen Jugend“ ( FDJ ) sowie die Teilnahme an deren Zeremonien galten als „sichtbarer Ausdruck der Zugehörigkeit zum sozialistischen Staat“. Die wenigen Kinder, die sich dem Eintritt und den Ritualen verweigerten, wurden ausgegrenzt. Durch die Uniformierung in den Schulen ( Pionierhalstuch und FDJ - Hemden ) fielen diese Kinder noch mehr auf.586 Bedeutender noch war der Umstand, dass die Kinder keine höhere Bildung erreichen konnten. In der Regel legten die Zeugen Jehovas keinen großen Wert auf die Hochschulreife und ein anschließendes Studium.587 Doch immer wieder gab es Ausnahmen, sei es, weil das Kind schulisch sehr begabt war, sei es, dass es aus einem Elternhaus stammte, dass nicht der Glaubensgemeinschaft angehörte. Die Hochschulreife erlangte man in der DDR durch den Besuch der „Erweiterten Oberschule“ ( EOS ) oder durch eine Berufsausbildung mit Abitur. Zu beiden Bildungsarten wurde man „delegiert“. Voraussetzungen waren in der Regel nicht nur sehr gute schulische Leistungen, sondern auch ein den kommunistischen Vorgaben angepasstes Sozialverhalten. Dazu zählten nicht nur eine 586 Vgl. Dirksen / Dirksen, Die Kinder der Zeugen Jehovas, S. 251. 587 „Mit allem, was du erwirbst, erwirb Verständnis“. In : Wachtturm vom 15. 5. 1970, S. 308: „Die Wachtturm - Gesellschaft ermuntert allerdings niemand zu einem Studium an einer höheren Schule oder Universität, um eine sogenannte akademische Bildung zu erwerben.“

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„politisch - moralische Reife“ und gesellschaftliche Aktivität. Auch die Haltung der Eltern zum sozialistischen Staat fand Eingang in die Entscheidung. Da weder die Kinder noch die Eltern die Vorgaben erfüllten, wurde „Kindern von [ Zeugen Jehovas ], die selbst diesen Glauben vertreten, [ die ] Erlangung der Hochschulreife ( Abitur ) verwehrt“.588 Die Begründungen variierten jeweils. Teilweise wurden die sogenannten Kopfnoten, d. h. die Zensuren für Betragen, Mitarbeit und Ordnung, herabgestuft, weil die Schüler beim „Wehrunterricht“ „unentschuldigt“ fehlten. Anderenorts wiederum wurde die Nichtteilnahme an der Jugendweihe bzw. die im kommunistischen Jugendverband als ausschlaggebend angegeben.589 Auch wenn sich Jugendliche während des Besuches der EOS oder einer Hochschule der Glaubensgemeinschaft anschlossen, waren sie von den geschilderten Repressalien der ostdeutschen Behörden betroffen.590 Selbst in den 1980er Jahren, als auch in der sozialistischen Schule abweichendes Verhalten nicht mehr so scharf sanktioniert wurde wie früher, waren Kinder von Zeugen Jehovas obligatorisch von jeder höheren Bildung ausgeschlossen. Konnten die Benachteiligungen in der schulischen Ausbildung durch gute Leistungen zumindest bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden, zog die Nichtteilnahme an der vormilitärischen Ausbildung während der beruf lichen Lehre vor 1982 meistens und seit dem 1. September 1982, als diese vorgeschriebener Bestandteil des Ausbildungsprogramms wurde, obligatorisch den Verlust der Lehrstelle nach sich. Dies betraf auch die Mädchen, die in der Zivilverteidigung eine „Sanitätsausbildung“ erhielten, die sich nur in der Schärfe von der militärischen der Jungen unterschied. In vielen Fällen konnten die Jugendlichen die Lehrstelle gar nicht erst antreten, weil schon im Ausbildungsvertrag die Teilnahme festgeschrieben wurde. Nur wenige private Handwerksbetriebe wagten es – Zeugen Jehovas waren als fleißige Arbeiter bekannt und daher begehrt –, sich den Vorgaben zu entziehen und durch Zusätze im Lehrvertrag die Forderung nach der vormilitärischen Ausbildung zu umgehen.591 Daher ähneln sich die Biographien von jüngeren Zeugen Jehovas : Nach dem Abschluss der allgemeinbildenden Schule traten sie ungelernt eine Arbeitsstelle an, um einige Jahre später im Zuge der Erwachsenenbildung an der Abendschule eine nachträgliche Berufsausbildung zu absolvieren. Diese Folgen von Ausgrenzung und Schikane tauchten in den Akten selten auf, da sie als „normale“ Konsequenzen des ideologischen Monopolanspruches der SED erschienen. Dennoch beeinflussten sie

588 MfS, HA XX /4, Bericht über Reaktionen der „Z. J.“ zum Wehrkundeunterricht vom 28. 6. 1983 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 1 f., hier 2). 589 Vgl. Dirksen / Dirksen, Die Kinder der Zeugen Jehovas, S. 259. 590 So wurde „durch operative Einflussnahme [...] verhindert, dass der [...] wie beabsichtigt promovieren konnte. Ebenfalls wurde ein Einsatz an der TU Dresden unterbunden.“ MfS, KD Dresden - Stadt, Ref. XX /4, Abschlussbericht zum OV „Läufer“ – Reg. - Nr. XII 2146/73 vom 5. 9. 1980 ( BStU, BV Dresden, KD Dresden - Stadt, 91013, Bl. 1–3, hier 2). 591 Vgl. Rat des Bezirkes Karl - Marx - Stadt, Abt. Berufsbildung und Berufsberatung, Informationen über den Abschluss von Lehrverträgen vom 30. 3. 1971. Zit. in Dirksen / Wrobel, „Im Weigerungsfall“, S. 238.

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das Leben der Kinder, indirekt auch das der Eltern, in einem wichtigen und prägenden Zeitabschnitt nachhaltig. Besonders abstoßend muss es wirken, dass der SED - Staat die Schuld für die verbauten Bildungschancen den Zeugen Jehovas selbst zuschob : durch ihre Taufe würden sie sich verpflichten, „jede Tätigkeit, welche über die beruf liche hinausgeht abzulehnen [ und ] keine beruf liche Qualifizierung zu absolvieren“.592 Gerade diese Tatsache sollte genutzt werden, um den Ruf der Religionsgemeinschaft in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. So würde die Gemeinschaft ihre „im Widerspruch zur sozialistischen Bildungspolitik“ stehende Beeinflussung betreiben, „um die Anhängerschaft im Interesse ihres Glaubensmissbrauchs weiter auf einem relativ niedrigen Bildungsniveau zu halten, wie auch, um einen hörigen und willfährigen Kadernachwuchs aus den eigenen Reihen zu gewährleisten“.593 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geriet die Glaubensgemeinschaft in eine schwere Krise. Grund waren nicht die verbissenen Anstrengungen des MfS, sondern der Anspruch der „Leitenden Körperschaft“ der Zeugen Jehovas, aus der Bibel auch den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte errechnen zu können. Seit 1966 verkündeten Schriften der Zeugen Jehovas – insbesondere der „Wachtturm“ –, dass im Jahre 1975 6 000 Jahre seit dem Ende der Schöpfung ( bzw. dem Beginn des Ruhetages Jehovas ) abgelaufen seien und danach die 1 000 Jahre andauernde Friedensherrschaft Christi beginnen würde.594 Als sich die Hoffnungen der Gläubigen nicht erfüllten, gingen die Zahlen der aktiven Zeugen Jehovas in der DDR zurück. Diese Rückgänge korrespondieren mit der Entwicklung im Weltmaßstab. Selbstverständlich blieben diese Vorkommnisse auch dem MfS nicht verborgen. Nach ihrer Meinung wäre die Gemeinschaft durch ihre Endzeitausrichtung jetzt in einer existentiellen Krise. Tausende würden die Organisation verlassen.595 1977 meinte ein Absolvent der sogenannten Juristischen Hochschule des MfS, dass keine von außen kommende Bedrohung die Existenz der Organisation infrage stellen konnte. Dagegen wären „Lehrstreitigkeiten ( Glaubenslehre ), wie z. B. die nicht eintretende Endzeitprophezeiung von 1874, 1878, 1914, 1925, 1975“ umso gefährlicher. „Noch zersetzender wirk592 MfS, HA XX /4, Bericht über Reaktionen der „Z. J.“ zum Wehrkundeunterricht vom 28. 6. 1983 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 1 f., hier 2). 593 MfS, HA XX /4, Analyse der politisch - ideologischen und religiösen Grundkonzeption der Organisation „Zeugen Jehovas“ und ihrer heutigen Variante vom 16. 3. 1976 (BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 88–98, hier 94). 594 „Ein Erntewerk unter allen Menschen“. In : Wachtturm vom 1. 8. 1970, S. 469 : „Doch gemäß der biblischen Chronologie, nach der Adam im Herbst des Jahres 4026 v. u. Z. erschaffen wurde, wären im Jahre 1975 u. Z. 6 000 Jahre Menschheitsgeschichte vergangen, und dann stünden uns noch 1 000 Jahre der Königreichsherrschaft Christi bevor. Wenn wir auch das Datum für das Ende dieses Systems der Dinge nicht kennen, wissen wir doch genau, dass die verbleibende Zeit verkürzt ist und dass es nur noch etwa sechs Jahre sind bis zum Ende der 6 000 Jahre Menschheitsgeschichte. (1. Kor. 7 :29).“ Weitere Belege vgl. Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 159 f. 595 Vgl. MfS, HA XX /4, Analyse der politisch - ideologischen und religiösen Grundkonzeption der Organisation „Zeugen Jehovas“ und ihrer heutigen Variante vom 16. 3. 1976 (BStU, ZA, HA XX /4, 294, Bl. 88–98, hier 90 und 95).

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ten die Intrigen und Machtkämpfe der Jahre 1917–1919 oder um 1931 herum. Wenn beides zusammenkam, wie 1878 und 1917, war der ganz große Krach da. Dann war die Organisation im Kern gefährdet, von Spaltungen bedroht, ihr Weiterbestand fraglich.“596 Es musste sich also gerade in einer derartigen Krisensituation zeigen, ob das Konzept der Zersetzung wirklich tragfähig war. Es galt nun, die Ver wirrung und Enttäuschung über die nicht eingetretene Ankündigung in den Reihen der Zeugen Jehovas zu nutzen und die Intrigen und Streitigkeiten von außen hinein zu tragen. Die Strategie des MfS scheiterte jedoch auf ganzer Linie. Zwar gingen die Zahlen der aktiven Zeugen Jehovas von 20 600 im Jahre 1976 auf 18 500 im Jahre 1982 zurück, doch der Abwärtstrend konnte durch vermehrte Mobilisierungskampagnen seitens der Leitung der Glaubensgemeinschaft gestoppt werden. 1983 wurden schon wieder 19 200 aktive Verkündiger gezählt.597 Das MfS war nicht in der Lage zu erkennen, dass auch sein Vorgehen die Binnenkohäsion der Gemeinschaft verstärkte und so zur Überwindung der Krise beisteuerte. Aber es häuften sich die Stimmen innerhalb des MfS, die die Konzeption der Zersetzung nicht für der Weisheit letzten Schluss hielten.

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Forderungen nach härterem Vorgehen

Die weitgehende Konzentration der Gegnerbekämpfung auf Methoden unterhalb der Ebene des Strafrechts stieß in den Reihen des MfS nicht überall auf ungeteilte Zustimmung. Die Ausrichtung der Verfolgung nach politischen Zweckmäßigkeiten statt nach strafrechtlichen Gegebenheiten missfiel.598 Immer wieder mussten die MfS - Mitarbeiter feststellen, dass keine Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, obwohl genügend „Beweismaterial“ für Gesetzesverstöße vorlagen. So fand beispielsweise im September 1974 in Bad Doberan im Bezirk Rostock ( heute Mecklenburg - Vorpommern ) eine umfangreiche „Zersetzungsaktion“ gegen die dort ansässigen Gläubigen statt. Bei lokalen Funktionären wurden überraschend Hausdurchsuchungen durchgeführt. Um jedoch von der Staatsanwaltschaft die notwendige Anordnung zur Durchsuchung und Beschlagnahme zu erhalten, konnte ein laufendes Ermittlungsverfahren gegen „Unbekannt“ genutzt werden. Im Betrieb eines Funktionärs waren Gegenstände und Materialien entwendet worden. Der betreffende Zeuge Jehovas wurde in einen 596 Leutnant Jürgen Bartnik, Die Beachtung der Feindhandlungen, Struktur und menschenfeindlichen Lehre der Zeugen Jehovas bei der Auswahl und Gewinnung geeigneter inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung der staatsfeindlichen Tätigkeit der verbotenen Organisation Zeugen Jehovas, Fachschularbeit 1977 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–889/76, S. 24). Auf die Idee, dass auch die Arbeit des MfS eine solche „Bedrohung von außen“ wäre, kam der Kursant nicht. 597 Zahlenangaben aus Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 161. 598 Vgl. Pingel - Schliemann, Zersetzen, S. 103.

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durch nichts begründeten konstruierten Zusammenhang mit diesen Diebstählen gebracht. Die Mitarbeiter des MfS konnten bei der Durchsuchung „umfangreiches nichtlizenziertes und ungesetzliches Schriftgut und andere Materialien der illegalen Sekte ‚Zeugen Jehova‘ zufällig“ aufspüren.599 Nach diesem „überraschenden Fund“ wurden die entdeckten Materialien beschlagnahmt und Ordnungsstrafverfahren gegen die Funktionäre der Glaubensgemeinschaft eingeleitet. Wie in ähnlich gelagerten Fällen wurde die durchgeführte Aktion als „voller Erfolg“ abgerechnet : Sie „traf die ZJ - Organisation völlig unvorbereitet“, es „konnten umfangreiche Mengen“ an Literatur und technischen Materialien beschlagnahmt werden, die örtlichen IM hatten sich als zuverlässig erwiesen und die gewonnenen „operativen Kenntnisse“ boten die Voraussetzung „für die Vorbereitung und Durchführung weiterer wirksamer Aktionen“. Außerdem hätte sich die „Unsicherheit und das Misstrauen in den einzelnen Studiengruppen“ verstärkt und – angesichts der Vorgaben der Staatspartei besonders wichtig – die Bestrafung sei mittels Ordnungsstrafverfahren „auf der Grundlage unserer sozialistischen Gesetzlichkeit“ erfolgt.600 Bis dahin unterschied sich dieser Report in nichts von anderen Planerfüllungsmeldungen unterer Diensteinheiten des MfS. Doch mischten sich in die letzten Seiten der Bad Doberaner Darstellung ungewohnt skeptische Töne : Nach kurzer Zeit habe sich – trotz anfänglicher Inaktivität der verunsicherten Zeugen Jehovas – die Arbeit in den einzelnen Studiengruppen wieder stabilisiert. Das notwendige Studienmaterial sei wieder in genügendem Ausmaße vorhanden gewesen und in Auswertung des MfS - Übergriffs seien schnell praktische Schlussfolgerungen für eine verbesserte konspirative Absicherung der illegalen Strukturen gezogen worden. In ungewohnter Selbstkritik führte der Leiter der Kreisdienststelle, Major Gerfried Wenzlawski, viele der Unzulänglichkeiten auf die fehlende strategische Gesamtkonzeption in seiner Diensteinheit zurück. Diese Selbstkritik war aber völlig fehl am Platz, denn eine strategische Gesamtkonzeption im Vorgehen gegen die Glaubensgemeinschaft gab es auch im Ministerium selbst nicht. Seine Erfahrungen bei dieser Aktion nutzte Wenzlawski gemeinsam mit Major Hans - Jochen Kleinow aus der Kreisdienststelle Grevesmühlen für eine Hausarbeit an der „Juristischen Hochschule“ ( JHS ) des MfS.601 Diese Arbeit kann als grundlegende Kritik der einseitigen Konzentration auf eine „Zersetzung von innen“ wie auch an der ungeklärten Rechtslage in Bezug auf die Bekämpfung der Zeugen Jehovas interpretiert werden. Nun sind kritische Haus599 MfS, KD Bad Doberan, Einschätzung des Ablaufs und der Ergebnisse der am 9. 9. 1974 im Stadtgebiet Bad Doberan durchgeführten Zersetzungsaktion gegen die in der DDR verbotene Sekte „Zeugen Jehovas“ vom 5. 12. 1974 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1029, Bl. 2– 11, hier 5 f.). 600 Ebd., Bl. 2 f. 601 Major Gerfried Wenzlawski / Major Hans - Jochen Kleinow, Erkenntnisse und Erfahrungen zur Durchführung wirksamer operativer Maßnahmen gegen die Tätigkeit der in der DDR verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wachtturmgesellschaft ) zur Bekämpfung ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit [ Hausarbeit ] ( BStU, ZA, JHS VVS 001–901/75).

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arbeiten – so selten sie auch im MfS sein mögen – nicht unbedingt ein Zeichen für Unzufriedenheit in den Reihen des MfS. Die Thesen der beiden Majore wurden jedoch dadurch „geadelt“, dass ihre im Jahre 1978 fertiggestellte Diplomarbeit602 zum Schulungsmaterial deklariert wurde. Grundsätzlich stellten Wenzlawski und Kleinow fest, dass eine Zersetzung wie in anderen feindlichen Gruppen nicht möglich sei. Zersetzungsmaßnahmen hätten konspirativ zu erfolgen, das MfS dürfe also nicht als Urheber erkennbar sein. In der Regel sei dies aber so. Außerdem verfüge die illegale Organisation über langjährige Erfahrungen in der konspirativen Arbeit. Gerade im Zusammenhang mit dem Abschluss der operativen Bearbeitung in Bad Doberan habe es sich gezeigt, dass eine Zersetzung der Organisation mit den bisherigen Mitteln und Methoden in der bereits Jahrzehnte währenden Bekämpfung nicht durchführbar sei. Das Vorgehen gegen die „besonders aktiven und fanatischen“ Funktionäre brachte nur kurzfristige Erfolge, da das MfS es hier mit einer straffen Organisation zu tun habe. Daher seien die im Schulungsmaterial der JHS über die Zersetzung dargestellten Prinzipien hier gar nicht anwendbar. Entgegen allen anderslautenden Bekundungen hielten beide Autoren alle Maßnahmen, die an der Unhaltbarkeit der Glaubensdogmen rührten, für ungeeignet. Überhaupt, meinten beide, sei eine „Zersetzung und entscheidende Einschränkung der Organisation insgesamt [...] bei der gegenwärtigen Praxis der politischoperativen Arbeit nicht [...] möglich. Hierzu [ sei ] eine zentrale Führung und Koordinierung aller Maßnahmen gegen die Organisation erforderlich“.603 Und gerade hier lag das Problem : Aus Gesprächen, Untersuchungen und Konsultationen mit „Tschekisten“ aus der Praxis glaubten die Verfasser, die Ursache für „die größten Probleme und Schwierigkeiten im Prozess der operativen Bearbeitung der feindlichen Tätigkeit der Organisation ‚Zeugen Jehova‘ im Nichtvorhandensein einer Bearbeitungskonzeption“ zu finden.604 Bisher gebe es nur einige grundsätzliche Befehle des Ministers sowie die Orientierung der Hauptabteilung XX und der Leiter der Bezirksverwaltungen. Zwar mussten auch Wenzlawski und Kleinow akzeptieren, dass „die Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen des dringenden Verdachtes von Staatsverbrechen aus strafpolitischen Erwägungen im Prinzip nicht möglich sein wird“.605 Da aber deswegen keine Ermittlungsverfahren mehr eingeleitet werden könnten, wür602 Major Gerfried Wenzlawski / Major H. - Jochen Kleinow, Aufgaben der Kreisdienststellen zur Aufdeckung der subversiven Tätigkeit der Funktionäre der WTG mit dem Ziel ihrer Einschränkung und der Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge [ Diplomarbeit ]. In Auszügen abgedruckt in URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / KleinowWenzlawski.pdf (28. 7. 2004). 603 Major Gerfried Wenzlawski / Major Hans - Jochen Kleinow, Erkenntnisse und Erfahrungen zur Durchführung wirksamer operativer Maßnahmen gegen die Tätigkeit der in der DDR verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wachtturmgesellschaft ) zur Bekämpfung ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit [ Hausarbeit ] ( BStU, ZA, JHS VVS 001–901/75, S. 78–81). 604 Ebd., S. 70. 605 Ebd., S. 71.

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den „gerade bei jungen operativen Mitarbeitern im erheblichen Maß Unklarheiten“ über die Zeugen Jehovas bestehen. Deren Anhänger seien eben keine „Himmelskomiker“, „durch nichts zu bessernde abartige Fanatiker“, „geistig unterentwickelte alte Leute“ oder „abnorme Sonderlinge“, sondern Mitglieder einer politischen Untergrundorganisation. Diese organisiere „eine gefährliche staatsfeindliche Tätigkeit gegen die sozialistische Staats - und Gesellschaftsordnung“ und gehe dabei „mit konspirativen Mitteln und Methoden, die im Wesentlichen denen imperialistischer Geheimdienste gleichen“, vor.606 Angesichts der Erkenntnis, dass Funktionäre der Zeugen Jehovas, solange sie solche sind, staatsfeindliche Handlungen begingen, sei es falsch, die Ermittlungen nur mit Ordnungsstrafmaßnahmen zu beenden. Sobald als möglich müssten „die gegenwärtigen Erscheinungen der ungesetzlichen [...] Nichtanwendung des sozialistischen Rechts [...] überwunden werden“.607 Funktionäre sollten so lange „bearbeitet“ werden, bis sie ihre Funktion verloren hätten, verstorben oder in Haft seien.608 Dafür sei es nötig, ständig den Nachweis zu erbringen, dass verdächtige Funktionäre „Staatsverbrechen und Verbrechen bzw. Vergehen der allgemeinen Kriminalität sowie andere Rechtsverletzungen“ begingen. Die zu Tage gekommenen Materialien für die konspirative Arbeit, inklusive der privaten Fahrzeuge, sollten permanent beschlagnahmt werden. Zudem sollten ermittelte Funktionäre solange kompromittierend und zersetzend bearbeitet werden, bis sie ihre Funktion wieder verlieren. Durch gesellschaftliche Kräfte in den Wohngebieten und am Arbeitsplatz galt es, vorbeugend und politisch ideologisch erziehend auf die Zeugen Jehovas einzuwirken. Außerdem schlugen Wenzlawski und Kleinow vor, grundsätzlich Ermittlungsverfahren gegen Funktionäre einzuleiten, „mit dem Ziel ihrer Anklage und Verurteilung, insbesondere wegen Verbrechen und Vergehen der allgemeinen Kriminalität und, unter Beachtung der strafpolitischen Erfordernisse, gegebenenfalls auch wegen der von ihnen begangenen Staatsverbrechen“.609 Um zu ermitteln, wo die Zeugen Jehovas ihr konspiratives Material lagern, herstellen und ver vielfältigen, sollten Ermittlungsverfahren nach § 146 StGB (Verbreitung von Schund - und Schmutzerzeugnissen ) eingeleitet werden. Dies würde sich anbieten, weil die Literatur der Zeugen Jehovas „Verhaltensweisen und Leitbilder propagiere und verherrliche, die mit der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend unvereinbar sind“.610 Ziel der Einleitung derartiger Verfahren musste es sein, „in gesetzlicher Weise Beweismaterial zu erarbeiten und zu 606 607 608 609 610

Ebd., S. 54 f. Ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 65 f. Ebd., S. 64 f. Verordnung zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vom 26. 3. 1969 ( GBl. der DDR II, Nr. 32). Auf den möglichen Einwand, dass es sich bei der Literatur der Zeugen Jehovas um Hetz - und keineswegs um Schund - und Schmutzliteratur handele, sollte mit dem Hinweis reagiert werden, dass aus strafpolitischen Gründen die Bekämpfung in der Regel nach Strafbestimmungen der allgemeinen Kriminalität erfolgen müsse. Vgl. Major Gerfried Wenzlawski / Major Hans - Jochen Kleinow, Erkenntnisse und Erfahrungen zur

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sichern“. Nach der erfolgten Entdeckung wären die entsprechenden Ermittlungsverfahren wieder einzustellen und die Vorgänge an die örtlichen Volkspolizeikreisämter zur Ahndung mit einer Ordnungsstrafe weiterzuleiten. Das Volkspolizeigesetz erlaube es weiterhin, das Material der Zeugen Jehovas entschädigungslos zu beschlagnahmen. Außerdem biete sich auch die Verordnung über die Registrierung von Vereinigungen und die Anordnung über das Genehmigungsverfahren zur Herstellung von Druck - und Vervielfältigungserzeugnissen zur „Abstrafung der Delinquenten mit einer Ordnungsstrafe bis zu 1 000,– Mark“ an. In besonders krassen Fällen, „insbesondere dann, wenn der [...] Funktionär aus den bis dahin gegen ihn getroffenen Ordnungsstrafmaßnahmen keine Lehren gezogen hat und seine feindlichen Aktivitäten unvermindert fortsetzt“, sollte eine Anklage und Aburteilung des „Unverbesserlichen“ nach § 146 des StGB ( „Schund - und Schmutzliteratur“ ) in Erwägung gezogen werden. Darüber hinaus gab es nach Meinung der Verfasser mit dem § 256 StGB ( Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung ) die Möglichkeit, auch bei Funktionären, eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Bislang würden nur die Täter einer Ver weigerung bestraft. Doch seien diese Strafbestimmungen ebenso gegen diejenigen, die zu derart „strafbaren Handlungen“ anstiften würden, anwendbar.611 Auch wenn die meisten der in dieser Arbeit – und wie erwähnt auch in einer späteren als Schulungsmaterial klassifizierten Diplomarbeit – vorgeschlagenen Strafverschärfungen angesichts der immer kleiner werdenden Spielräume für die operative Arbeit nicht in die Realität umgesetzt wurden, verdeutlichen sie doch ein ausgeprägtes Unbehagen in den Reihen des MfS. Angesichts der auch weiterhin vertretenen These, dass es sich bei der Religionsgemeinschaft um eine staatsfeindliche Organisation handele – offiziell sei der Straftatbestand der „staatsfeindlichen Hetze“ ( § 106 StGB ) und der „Sammlung von Nachrichten“ (§ 98 StGB) erfüllt612 –, war es den operativ arbeitenden MfS-Mitarbeitern kaum noch vermittelbar, wieso dann nicht gegen diese „Feinde“ vorgegangen würde. Die widersprüchliche Generallinie der SED in puncto Bekämpfung von politischen Gegnern überzeugte immer weniger und wirkte daher demotivierend.613 Der bis in die Mitte der 1970er Jahre geäußerte Optimismus, die Glaubensgemeinschaft mittels innerer Zersetzung so zu lähmen, dass sie keine Rolle mehr spiele bzw. dass es gelingen würde, eine von der Wachtturm - Gesellschaft getrennte und unter der Kontrolle der DDR - Sicherheitsorgane stehende Religionsgemeinschaft zu schaffen, wich Ende des Jahrzehnts der Ernüchterung. Durchführung wirksamer operativer Maßnahmen gegen die Tätigkeit der in der DDR verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wachtturmgesellschaft ) zur Bekämpfung ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit [ Hausarbeit ] ( BStU, ZA, JHS VVS 001–901/75, S. 72). 611 Vgl. ebd., S. 72–78. 612 Vgl. MfS, HA XX /4, Die Gesellschaftsgefährlichkeit in der Tätigkeit der Religionsgemeinschaft der „Zeugen Jehovas“, o. D. ( nach 1973) ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 135– 141, hier 138). 613 Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 434 f.

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Sichtbarsten Ausdruck fand diese Auffassung im verstärkt repressiven Vorgehen gegen aktive Zeugen Jehovas durch koordinierte Aktionen mit der Volkspolizei, dem Zoll und den Wehrkreisämtern. Dem Ziel, das Glaubensleben der Zeugen Jehovas damit einzuschränken, kam die DDR aber auch jetzt nicht näher, denn im Gegensatz zu den Forderungen nach einer „zentralen Führung und Koordinierung aller Maßnahmen“ lehnte die Partei - und Staatsführung aus Angst um ihre außenpolitische Reputation alle „Kampagnen“ – das heißt alles, was Aufsehen erregen könnte – strikt ab. Wie in den vorherigen Abschnitten beschrieben, war der Versuch, die Aktivitäten der Zeugen Jehovas durch Ordnungsstrafverfahren ( OSV ) einzuschränken, nicht neu. Schon im Sommer 1950 sprach die Volkspolizei im Land Brandenburg Strafbescheide wegen der Verbreitung nichtlizenzierter Literatur aus. 1956 schlug das MfS dem ZK der SED vor, aufgegriffene Missionare der Zeugen Jehovas mit einer Geldstrafe zu belegen.614 Angesichts des Scheiterns der „inneren Zersetzung“ auch während der schweren inneren Krise der Gemeinschaft nach dem Nichteintreten des vorausgesagten Weltendes 1975 wurde wieder verstärkt auf „staatliche Zwangsmaßnahmen“ zurückgegriffen. Bei OSV war kaum ein Eingreifen aus politischen oder Glaubensgründen nachweisbar. Da diese von der Volkspolizei, den Abteilungen Inneres der Kommunalverwaltungen oder der Zollbehörde ausgesprochen wurden, tauchte das Ministerium für Staatssicherheit als verantwortliche Stelle überhaupt nicht auf. Damit konnte einerseits der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ und den Forderungen der Parteiführung, andererseits aber auch dem Wunsch in den eigenen Reihen nach einer Abstrafung der renitenten Gläubigen Genüge getan werden. Grundlage war das am 12. Januar 1968 erlassene „Gesetz zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten“,615 das Strafen von 10 bis 300 Mark und im Wiederholungsfalle bis zu 1 000 Mark androhte. In den 1970er Jahren ging die Volkspolizei ( im Auftrage des MfS ) mittels verschiedener Ver - und Anordnungen gegen Zeugen Jehovas vor. Eine operative Information des MfS aus dem Jahre 1972 legte fest, welche Personen belangt werden sollten : aktive Missionare, Teilnehmer am Literaturstudium, Personen, die ihre Wohnung für Treffs zur Verfügung stellten, Voll - und Freizeitpioniere ( d. h. Gläubige, die sich verpflichtet hatten, eine vorgeschriebene Stundenzahl für die Verbreitung des Glaubens zu nutzen ) und Personen, die Literatur der Gemeinschaft verbreiteten.616 Diese Aufstellung verdeutlicht, dass die angedrohten Strafen jeden aktiven Zeugen Jehovas – je nach Grad des Mobilisierungspotentials der Gemeinschaft mithin bis zu 95 Prozent

614 Vgl. Bericht des MfS an das ZK der SED vom 1. 9. 1956, betr. Die Sekte der Zeugen Jehova in Westdeutschland und ihre illegale Tätigkeit im Gebiet der DDR ( BArch SAPMO, DY 30/ IV 2/14/250, Bl. 276–286, hier 282). 615 GBl. der DDR I 1968, S. 101. 616 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 789.

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der Gläubigen617 – treffen konnten. Das Vorgehen war allerdings noch nicht koordiniert. So wurde beispielsweise von den zuständigen Volkspolizeikreisämtern nach 1) der Verordnung über Ordnungswidrigkeiten vom 16. Mai 1968,618 die die „Störung des sozialistischen Zusammenlebens“ sanktionierte, 2) der „Verordnung zur Registrierung von Vereinigungen“ vom 22. Dezember 1967, 3) der „Anordnung über das Genehmigungsverfahren für die Herstellung von Druck - und Vervielfältigungserzeugnissen“ vom 20. Juli 1959, 4) der „Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen“ vom 26. November 1970 und 5) der „Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen“ vom 16. November 1975 bestraft.619 Erst 1982 gelang es, eine Vereinbarung zwischen der Hauptabteilung Schutzpolizei des Innenministeriums der DDR, der Abteilung HA VII /9 des MfS – verantwortlich für die Koordinierung der Zusammenarbeit mit dem Innenministerium – und der kirchenpolitischen Abteilung des MfS, der HA XX /4 zu treffen, die die einheitliche Anwendung der „Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen“ aus dem Jahre 1975 regelte. Zwecks Vereinheitlichung war der Text der Ordnungsstrafverfügungen und sogar der der Zurückweisung von möglicherweise eingelegten Rechtsmitteln im Detail vorgegeben. Der offiziell angegebene Grund für die Ordnungsstrafe war die „Beteiligung an einem Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzeswidriger Ziele“. Die Ablehnung von eingelegten Rechtsmitteln wurde mit der Tätigkeit „für eine in der Deutschen Demokratischen Republik staatlich nicht erfasste Religionsgemeinschaft, deren Ziele den Grundsätzen der Verfassung und anderer Rechtsvorschriften widersprechen“, begründet.620 Nach außen – so gegenüber westlichen Vertretern621 –, aber auch intern wurde immer wieder behauptet, Gläubige würden nicht wegen ihrer bloßen „Zugehörigkeit zur Organisation ‚Zeugen Jehova‘ zur Verantwortung gezogen“.622 Die einheitlich festgelegten Formulierungen überführen derartige Aussagen der Lüge und entlarven sie als semantischen Trick : Natürlich war in den angeführten Strafverfügungen nicht explizit die Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas geahndet worden, aber die Tätigkeit und Beteiligung an einer 617 Vgl. MfS, HA XX, Information, Situation und Entwicklung der „Zeugen Jehova“ in der DDR im 1. Halbjahr 1981 vom 29. 6. 1981 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 175 f.). Nach dieser „Information“ nahmen 95 % aller Zeugen Jehovas regelmäßig an den wöchentlichen Zusammenkünften teil. Vgl. MfS, HA XX /4, Operative Information über Pläne, Absichten und Aktivitäten der Feindzentrale der Organisation „Zeugen Jehova“ ( ZJ ) gegen die DDR vom 19. 8. 1986 ( BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 112–118), darin wird die Zahl der 1968 inaktiven Gläubigen mit 4 % angegeben. 618 GBl. der DDR II 1968, S. 359. 619 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 787–792. 620 Texte abgedruckt in ebd., S. 792 f. 621 So z. B. gegenüber Vertretern des US - amerikanischen State Department. Vgl. stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Nier, an Staatssekretär für Kirchenfragen, Gysi, vom 5. 6. 1986 ( BArch, DO 4, 4902, unpaginiert ). 622 HA XX /4/ III an HA XX /4 vom 20. 12. 1988, Information über geahndete Rechtsverletzungen gegenüber Angehörigen der verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ im Jahre 1987 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 9–11).

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nicht zugelassenen – d. h. verbotenen – Vereinigung. Wenn aber jede Glaubensaktivität unter Strafe gestellt wird, sei es nun die Mission, das Literaturstudium oder die Beteiligung am jährlichen Gedächtnismahl, dann erscheint der Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit und Ordnungsstrafverfahren evident. Trotz aller Absprachen – auch die „Arbeitsrichtung I“ der Kriminalpolizei (die sogenannte K I, die unter anderem auch für Religionsgemeinschaften zuständig war und unter besonderer „Betreuung“ durch das MfS stand ) und die Untersuchungsabteilung des MfS, die HA IX, wurden inzwischen mit einbezogen623 – gab es 1983 zunächst einige Anlaufschwierigkeiten. In der gesamten DDR wurden „nur“ 96 Ordnungsstrafverfahren eingeleitet. Besonders die regionale Verteilung der ausgesprochenen Strafen ließ zu wünschen übrig. Im Bezirk Karl - Marx - Stadt, dem Bezirk mit der größten Anzahl an Zeugen Jehovas, wurden nur 9 Gläubige abgestraft, in Berlin, Gera, Erfurt und Leipzig überhaupt keiner. Allein im Bezirk Dresden scheinen die neuen verschärften Richtlinien umgesetzt worden zu sein : 35 Gläubige wurden hier zu Geldstrafen verurteilt.624 Es war offensichtlich, dass die verantwortlichen Volkspolizisten eingehender mit der „Gefährlichkeit“ der Religionsgemeinschaft vertraut gemacht werden mussten. In einer Kurzauskunft über die Wachtturm - Gesellschaft von Mai 1984, die zusammen mit Erläuterungen für die Bearbeitung von Rechtsmitteln durch die Zeugen Jehovas an alle Bezirksverwaltungen des MfS versandt und zusammen mit der Volkspolizei ausgewertet wurde, legten die Mitarbeiter der kirchenpolitischen Abteilung nochmals das „antidemokratische und antikommunistische“ Wesen der Wachtturm - Gesellschaft dar. Schon seit 1881, so die krude Denkweise im MfS, weise sie antikommunistische Tendenzen auf und würde – neben der bekannten Verweigerung des Wehrdienstes und der Wahlen – sogar gegen die „deutsch - sowjetische Freundschaft“ oder die „staatliche Bündnispolitik mit christlichen Bürgern“ kämpfen.625 Dass bei der Polizei derart hanebüchene Begründungen geglaubt wurden, darf bezweifelt werden. Die Kritik zeigte dennoch Wirkung : 1984 stieg die Zahl der bestraften Zeugen Jehovas auf 269 und 1985 auf 324.626 Das MfS erkannte realistischerweise, dass es sich bei den geahndeten Aktivitäten nur um einen Bruchteil des tatsächlichen Umfangs handelte. Die ostdeutsche Geheimpolizei war aber schon lange nicht mehr in der Lage, alle Aktivi623 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 793. 624 Vgl. Übersicht über die durchgeführten Ordnungsstrafverfahren gegen „Zeugen Jehovas“ aufgeschlüsselt nach Bezirken, als Anhang zu : MdI, HA Schutzpolizei, Abt. III, vom 21. 5. 1986, Informationen über geahndete Rechtsverletzungen gegenüber Mitgliedern der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ im Jahr 1985 ( BStU, ZA, HA XX/4, 818, Bl. 347–350, hier 350). 625 Vgl. MfS, HA XX /4, 21. 5. 1984, Kurzauskunft ( ebd., Bl. 84 f.). 626 Vgl. Übersicht über die durchgeführten Ordnungsstrafverfahren gegen „Zeugen Jehovas“ aufgeschlüsselt nach Bezirken, als Anhang zu : MdI, HA Schutzpolizei, Abt. III, vom 21. 5. 1986, Informationen über geahndete Rechtsverletzungen gegenüber Mitgliedern der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ im Jahr 1985 ( BStU, ZA, HA XX/4, 818, Bl. 347–350, hier 350).

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täten zu unterbinden und zu bestrafen. Die konspirative Absicherung des Glaubenslebens aber auch die Vorgaben der SED verhinderten größere Übergriffe. Aus diesem Grunde versuchten die „Tschekisten“, die Ordnungsstrafen einerseits gegen besonders aktive Gläubige und Funktionäre, andererseits aber auch zu Zersetzungszwecken einzusetzen. Besonders rege Funktionäre wurden explizit nicht bestraft, um den Verdacht der inoffiziellen MfS-Tätigkeit zu streuen. Nach 1985 aber stieß die Taktik, mittels Geldstrafen die Aktivitäten der Zeugen Jehovas einzuschränken, an ihre Grenzen. In den beiden Folgejahren konnten die Zahlen nicht weiter erhöht werden, sondern blieben mit 310627 bzw. 317628 konstant. Für 1988 war sogar ein Absinken auf 89 Verfahren zu verzeichnen.629 Dieser Rückgang hatte zwei Ursachen : Zum einen war einer der häufigsten Anlässe, Ordnungsstrafen gegen Gläubige zu verhängen, das jährliche Gedächtnismahl. An diesem Tag versammelten sich Zeugen Jehovas und auch Interessierte zum Gedenken an das letzte Mahl von Jesus und seinen Aposteln vor seiner Hinrichtung. Das Treffen fand unter den Bedingungen der Illegalität naturgemäß im kleinen, meist im Familienrahmen statt, seit der Abschwächung des offenen Terrors – besonders in den 1980er Jahren – wurden die Feiern jedoch immer weniger konspirativ durchgeführt. Ein Vorgehen gegen derartige Zusammenkünfte musste mit der Maßgabe, jeden „Aktionscharakter“ zu vermeiden, kollidieren. Die polizeiliche Auf lösung hätte in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt, zumal die Treffen erkennbar religiösen Charakter hatten. Immer wieder wurde angemahnt, „keine Kampagnen gegen diese Tätigkeit“ durchzuführen. Daher wies die Hauptabteilung XX alle MfS - Bezirksver waltungen im Vorfeld des Gedächtnismahles im Jahre 1988 an, „im Wesentlichen [...] keine polizeilichen Maßnahmen“ durchzuführen.630 Zum anderen konnten missionierende Zeugen Jehovas nur „auf frischer Tat“ gestellt werden. Dazu aber war ein Zusammenwirken mit den „Partnern des operativen Zusammenwirkens“ – im Stasi - Deutsch POZW – notwendig. Das MfS war trotz seines riesigen Apparates ohne die Hilfe anderer Sicherheitsorgane und die der staatsloyalen Bevölkerung aus Parteien und Massenorganisationen überhaupt nicht in der Lage, die Aktivitäten der Gläubigen flächendeckend zu überwachen. Schon Anfang der 1980er Jahre hatte sich das MfS an den Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK der SED, Rudi Bellmann, 627 Vgl. Übersicht über die durchgeführten Ordnungsstrafverfahren gegen „Zeugen Jehovas“ aufgeschlüsselt nach Bezirken, als Anhang zu : MdI, HA Schutzpolizei, Abt. III, vom 9. 6. 1987, Informationen über geahndete Rechtsverletzungen gegenüber Mitgliedern der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ im Jahr 1986 ( ebd., Bl. 471–473, hier 473). 628 Vgl. Übersicht über die durchgeführten Ordnungsstrafverfahren gegen „Zeugen Jehovas“ aufgeschlüsselt nach Bezirken, als Anhang zu : HA XX /4 vom 20. 12. 1988, Informationen über geahndete Rechtsverletzungen gegenüber Mitgliedern der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ im Jahr 1987 ( ebd., Bl. 529–531, hier 531). 629 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 802. 630 HA XX /4, 29. 4. 1987, Information zu den durchgeführten Maßnahmen zum sogenannten Gedächtnismahl der „Zeugen Jehovas“ am 12. 4. 1987 ( Abschlusseinschätzung ) (BStU, ZA, HA XX /4, 668, Bl. 288–292, hier 291).

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mit der Bitte gewandt, „durch eine geeignete Orientierung des ZK an die Bezirksleitungen unserer Partei, die politisch - ideologische Arbeit breiter gesellschaftlicher Kräfte, u. a. der Nationalen Front, mit den Mitgliedern der ‚Zeugen Jehova‘ zu verstärken.“631 Auch wenn die Wortwahl dies suggeriert, glaubte das MfS natürlich nicht an eine „Rückgewinnung“ der Gläubigen für die sozialistische Gesellschaft. Es konnte nur darum gehen, geeignete Kräfte zum Aufspüren der von Tür zu Tür ziehenden Missionare zu finden. Und dies war schwierig, denn „diese illegale Organisation ist in der Regel in der Öffentlichkeit der DDR als solche nicht bekannt, auch das Verbot aus den 50er Jahren nicht“.632 Das MfS stand also vor der Aufgabe, den eigenen Genossen vermitteln zu müssen, welche Gefahren von den Zeugen Jehovas ausgehen, ohne die eigene Rolle bei der Bekämpfung der Gemeinschaft zu „dekonspirieren“. Jetzt rächte es sich, dass das MfS stetig alle anderen Institutionen aus der Bearbeitung der verbotenen Glaubensgemeinschaft herausgedrängt hatte. Selbst in den eigenen Reihen war die Abschottung so groß, dass die Hauptabteilung Kader und Schulung gebeten wurde, den MfS - Mitarbeitern Hinweise für das richtige Verhalten bei etwaig auftauchenden Missionaren zu erteilen : Sie sollten sich nicht als Angehörige der Sicherheitsorgane zu erkennen geben, sich auf keinerlei Diskussionen einlassen und eine ablehnende Haltung einnehmen, klären, von welcher Religionsgemeinschaft die Betreffenden kommen und schließlich die Personalien feststellen, um sie der Polizei zu übergeben.633 Für die Bekämpfung der Zeugen Jehovas in der DDR durch das MfS blieben Ordnungsstrafverfahren bis 1989 das Mittel der Wahl. Ein weiteres, noch ungelöstes Problem für die ostdeutsche Geheimpolizei waren die trotz aller Schwankungen immer intensiven Kontaktmöglichkeiten zwischen der illegalen Organisation der Glaubensgemeinschaft in der DDR und der Zentrale der Zeugen Jehovas in der Bundesrepublik. Daher mussten die Reiseerleichterungen im Gefolge einer gewissen Entspannung zwischen Ost und West zu weiteren Problemen führen. Das Streben der SED - Führung nach internationaler Anerkennung konnte in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Wirkung erzielen. Zwar hatte die DDR schon vor dem Grundlagenvertrag, der die Souveränität und die Grenzen des ostdeutschen Teilstaates anerkannte, diplomatische Beziehungen zu Staaten der Blockfreien - Bewegung aufnehmen können, aber nach Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Dezember 1972 wurde die DDR auch international akzeptiert. Zu diesem Vertragsabschluss kam es allerdings erst, als die SED - Führung mit der Unterzeichnung des „Abkom631 MfS, HA XX /4/ III, Information, o. D. ( wahrscheinlich 2. Halbjahr 1981) ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 158–160). 632 Oberleutnant Alexander Koepke, Erfahrungen zur Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung bei der Bearbeitung Operativer Vorgänge, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–735/80, S. 6). 633 Vgl. MfS, HA XX /4 an HA Kader und Schulung vom 5. 5. 1987, Information zu kirchlichen Aktivitäten ( BStU, ZA, HA XX /4, 818, Bl. 466 f.).

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mens über den Transitverkehr zwischen der BRD und Berlin ( West )“ vom 17. Dezember 1971 und dem Vertrag über Fragen des Verkehrs vom 26. Mai 1972 den Zugang von und nach West - Berlin kontrolliert öffnete. Mit diesen beiden Einigungen, aber auch mit der Vereinbarung über Erleichterung und Verbesserung des Reise - und Besucherverkehrs vom 20. Dezember 1974, waren die Möglichkeiten der „negativen politisch - ideologischen Beeinflussung“ der DDRBürger durch die Einfuhr von Schriften und Tonträgern, aber auch durch den persönlichen Kontakt enorm gestiegen. Auch die für die Bekämpfung der Zeugen Jehovas zuständige Abteilung des MfS konstatierte den „Missbrauch der gebotenen großzügigen Erleichterungen im Reiseverkehr“ und eine Erhöhung der Kurierverbindungen „zur Einschleusung von Literatur und anderen Materialien“.634 Mussten nach dem Mauerbau die für das Glaubensleben der Zeugen Jehovas wichtigen Schriften, wie der Wachtturm oder die aktuellen bibelerklärenden Publikationen, mühselig von Matrizen bzw. Mikrofilmen oder gar handschriftlich vervielfältigt werden,635 gelang es nun, alle nötigen Materialien im Original einzuführen und an die verschiedenen Studiengruppen weiterzuleiten. Damit konnte die Gefährdung der konspirativ arbeitenden Gruppen erheblich vermindert werden, denn das entsprechende Material für die Vervielfältigung herbeizuschaffen, hatte sich als äußerst schwierig und gefährlich erwiesen. In einem Land, in dem selbst Schreibpapier Mangelware war, musste der Kauf großer Mengen Papier oder Fotopapier und - ausrüstung auffallen und den Argwohn der Über wachungsinstanzen her vorrufen.636 Die Unterbindung der vom MfS als „Materialschleusen“ bezeichneten Literatureinfuhr stellte für die ostdeutschen „Tschekisten“ einen wichtigen Bestandteil innerhalb ihrer Strategie gegenüber den Zeugen Jehovas dar, weil mit der Verknappung des Studienmaterials erschwerte Bibelstudien - sowie Missionsmöglichkeiten einher gingen. Genauso wichtig war, den organisatorischen Einfluss der bundesdeutschen Zentrale auf die Gläubigen in der DDR einzuschränken, um so die DDR - Funktionäre der Kontrolle und Anleitung durch das Zweigbüro zu entziehen und damit selber Einfluss auf Entscheidungen und Stellenbesetzungen zu bekommen. Die Personenkontrollen an den Grenzübergangsstellen waren schon seit dem Ansteigen des deutsch - deutschen Besucherverkehrs Anfang der siebziger Jahre ausgebaut worden. Bei Verdachtsmomenten oder tatsächlich gefundenen Materialien wurde die Einreise aus westlicher Richtung bzw. die Ausreise von DDR-

634 Unterleutnant Jürgen Prescher, Die erfolgreiche Anwendung politisch - operativer Maßnahmen des MfS bei der Zerschlagung von Kurierverbindungen des Ostbüros der Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wiesbaden / BRD ) in die DDR zur Unterbindung ihres Einflusses auf die „Zeugen Jehova“ in der DDR, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–843/79, S. 4). 635 Vgl. Hacke, Die Zeugen Jehovas, S. 62. 636 Beispiele für die illegale Einfuhr von Material vgl. Gebhard ( Hg.), Die Zeugen Jehovas, S. 271–274; vgl. auch Information Nr. 3/63 des MfS, BV Dresden, vom 15. 3. 1963 (BStU, Ast. Dresden, KD Sebnitz – 2006, Bl. 500–510, hier 505).

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Bürgern rigoros unterbunden. Die Kuriere, seien sie nun ost - oder westdeutscher Herkunft, wurden in den wenigsten Fällen an den Grenzübergangsstellen zufällig entdeckt. In langwierigen Ermittlungen versuchte das MfS den Verbindungswegen auf die Spur zu kommen. Dazu nutzte sie IM - Informationen über neuverteilte Literatur, Hinweise aus Kreisen der staatsloyalen Bevölkerung über Materiallieferungen, Überprüfungen der für den Reiseverkehr zuständigen MfSHauptabteilung VI – und hier besonders die Abteilung Speicherführung, die systematisch nach häufigen Einreisen und Korrelationen mit eintreffenden Literaturlieferungen suchte – und spionierte den Bekanntenkreis schon bekannter Kuriere aus, um hier mögliche „Nachfolger“ zu ermitteln.637 Wie die Akten belegen, scheute sich das MfS auch nicht, die Unterlagen der Gestapo und des SD, die sich seit den 1950er Jahren in seinem Besitz befanden und die schon zur Diskreditierung von Funktionären der Zeugen Jehovas wegen deren angeblicher Gestapo - Kollaboration ver wendet wurden, auch für die Fahndung nach noch unbekannten Angehörigen der Glaubensgemeinschaft zu nutzen. Akribisch wurden alle in den NS - Akten erwähnten Personen ab einem bestimmten Geburtsjahr registriert, damit – wie im Falle der Witwe eines im nationalsozialistischen Deutschland aktiven Funktionärs – bei Entscheidungen über Aus - und Einreiseanträge auch mögliche Kuriere identifiziert werden konnten.638 Doch nicht nur Kuriere standen im Fokus der MfS - Überwachung. Auch die Besuche von DDRBürgern – vornehmlich Rentnern – bei den Kongressen der Zeugen Jehovas in der Bundesrepublik und in West - Berlin behinderten die „Abwehrarbeit“ der Geheimpolizei. Die Erlebnisse der Kongresse lösten bei den Besuchern selbst, aber auch bei den nach der Rückkehr informierten Mitgläubigen „starke Emotionen aus“ und mobilisierten so auch zu verstärkten Aktivitäten.639 Um dieser Gefahren Herr zu werden, wurden die einmal ermittelten Kuriere an den Grenzübergangsstellen „auf frischer Tat“ gestellt. Natürlich durfte die Rolle des MfS nicht bekannt und der die Informationen liefernde Inoffizielle Mitarbeiter nicht gefährdet werden. Daher sollte „von einer zielgerichteten Suche nach versteckter Literatur und anderen Materialien abgelenkt werden“. „Fingierte, aber begründete“ Anlässe ermöglichten eine „Tiefenkontrolle“ des Autos, bei der dann „zufällig“ das vorher inoffiziell ermittelte Material entdeckt würde. Als Vorwand konnten Tonträger, Prospekte oder Zeitschriften dienen, die nicht eingeführt werden durften. Aber auch der Besitz von DDR - Geld sowie

637 Vgl. Unterleutnant Jürgen Prescher, Die erfolgreiche Anwendung politisch - operativer Maßnahmen des MfS bei der Zerschlagung von Kurierverbindungen des Ostbüros der Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wiesbaden / BRD ) in die DDR zur Unterbindung ihres Einflusses auf die „Zeugen Jehova“ in der DDR, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–843/79, S. 12). 638 Vgl. Schreiben des Leiters des Zentralarchivs des MfS vom 21. 6.1963 ( SächsHStAD, SG Freiberg, 2Js / SG 155/37, Bl. 15). 639 Vgl. MfS, HA XX /4, Operative Information über eine neue Taktik der amerikanischen Hauptleitung der Organisation „Zeugen Jehova“ gegenüber der DDR vom 30. 12. 1986 (BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 173–190).

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Unregelmäßigkeiten auf der Zollerklärung konnten derartige Vor wände liefern.640 Waren erst einmal Kuriere entdeckt worden, gab es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie weiter verfahren wurde. Zum einen bestand die Möglichkeit, den betreffenden Kurier als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben, um so „tiefer in die Konspiration des Gegners“ eindringen zu können. Allerdings konnte dies nur bei DDR - Bürgern gelingen, waren doch Personen aus der Bundesrepublik dem Einfluss des MfS weitgehend entzogen. Daher favorisierten die MfS - Mitarbeiter auch Strafmaßnahmen, um von weiteren Kurierfahrten abzuschrecken. Dazu stand ein umfangreiches Maßnahmepaket zur Verfügung: So konnten Ermittlungsverfahren ohne Haft mit Strafverfügungen bis zu 6 000,– DM oder Zoll - und Devisenverfahren bis zu 10 000,– DM eingeleitet werden. Einreisesperren in die DDR bis zu zehn und Transitreisesperren bis zu fünf Jahren, die Beschlagnahme des Fahrzeugs und die Einziehung der aufgespürten Literatur komplettierten die zur Verfügung stehenden Mittel.641 Der zuständigen MfS - Abteilung war bekannt, dass „bei Anwendung strafrechtlicher Maßnahmen gegenüber Kurieren des Ostbüros der Organisation ‚Zeugen Jehova‘, [...] entsprechend dem Zusammenhang zwischen strafrechtlichen Entscheidungen und rechtspolitischer Situation ein differenziertes Herangehen erforderlich“ war. Dies bedeutete in der Praxis, dass keine Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Dennoch schlug der Autor einer Fachschularbeit „zur Erhöhung der Wirksamkeit unserer Maßnahmen gegenüber dem Ostbüro sowie zur Verunsicherung“ vor, „in begründeten ausgewählten Fällen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft in Erwägung“ zu ziehen. Durch erhöhte Strafverfügungen „bis zu 20 000,– Mark oder bis zur fünffachen Höhe des Wertes der rechtswidrig transportierten Waren bzw. durch die Verurteilung mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren“ könnte die Kuriertätigkeit vielleicht doch noch zurückgedrängt werden.642 Diese Forderungen verdeutlichen, dass die immer wieder abgerechneten „Erfolge“ nichts als Wunschdenken waren. Auch wenn die jeweiligen Berichte mit ständig höheren Zahlen an beschlagnahmten Materialien sowie aufgegriffenen Kurieren glänzten643 und konstatierten, „dass es der Feindzentrale der ‚ZJ‘ in der BRD auch 1987 nicht gelungen ist, ihre Zielstellung zur Erhöhung ihres 640 Vgl. Unterleutnant Jürgen Prescher, Die erfolgreiche Anwendung politisch - operativer Maßnahmen des MfS bei der Zerschlagung von Kurierverbindungen des Ostbüros der Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wiesbaden / BRD ) in die DDR zur Unterbindung ihres Einflusses auf die „Zeugen Jehova“ in der DDR, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–843/79, S. 26). 641 Vgl. ebd., S. 37 f. 642 Ebd. 643 Vgl. den Bericht, nach dem sich die Menge des beschlagnahmten Materials zwischen 1983 und 1986 mehr als verdoppelt und sich vor allem die Zahl der aus dem sozialistischen Ausland aufgegriffenen Kuriere erhöhte. HA XX /4/ III an HA XX /4 vom 11. 12. 1987, Operative Information. Wirksamkeit der eingeleiteten Sachfahndung UUY 4722 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 5–8).

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Einflusses auf die Angehörigen der ‚ZJ‘ in der DDR zu erreichen“,644 hing dies doch vielmehr mit der erhöhten Literatureinfuhr der Zeugen Jehovas zusammen und war also eher Zeichen des Scheiterns als des Erfolges. Angesichts der Entwicklungen im Ostblock orientierte die Zentrale in Selters auch die Zeugen Jehovas in der DDR darauf, aktiver zu sein, die Studiengruppen zu vergrößern und alle Gruppen mit der nötigen Originalliteratur zu versorgen.645 Ein weiterer Grund für das vergrößerte Literaturaufkommen war der Bau einer modernen Druckerei im neuen Zweigbüro in Selters. Hier konnten die speziellen Sonderausgaben des „Wachtturms“ und der Studienbücher für die DDR in größerem Umfang und verbesserter Qualität hergestellt werden. Ähnliches galt auch für die Herstellung von Tonbandkassetten mit Vorträgen oder „Königreichsliedern“.646 Auch an anderer Stelle geriet das MfS an seine Grenzen : Aus konspirativen Gründen trat das MfS bei den Grenzkontrollen nicht in Erscheinung, sondern überließ diese Aufgabe den Zollorganen. Diese waren zwar auch dem MfS unterstellt, besaßen „jedoch keinerlei Sachkenntnisse über politisch - operative Zusammenhänge“. Aus diesem Grund konnten bei den an den Grenzübergangsstellen durchgeführten Verhören keine Details behandelt werden.647 Zudem berichteten die in die Bundesrepublik zurückgewiesenen Kuriere an das Ostbüro über die Befragungen, die daraus Rückschlüsse über die Kenntnisse des MfS sowie mögliche Verbesserungen in der konspirativen Absicherung ziehen konnten. Die Geheimhaltungsmanie im MfS führte häufig dazu, dass wegen „ungenügender Einweisung der Genossen Kontrolleure des Grenzzollamtes“ Kuriere unentdeckt blieben und damit neue Literaturlieferungen in der DDR eintrafen.648 Grundsätzlich musste bei der Zerschlagung von Kurierwegen auch beachtet werden, dass sofort neue Verbindungen von den Zeugen Jehovas aufgebaut wurden, welche „nicht oder noch nicht bekannt“ waren.649 Das MfS

644 Unterleutnant Jürgen Prescher, Die erfolgreiche Anwendung politisch - operativer Maßnahmen des MfS bei der Zerschlagung von Kurierverbindungen des Ostbüros der Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wiesbaden / BRD ) in die DDR zur Unterbindung ihres Einflusses auf die „Zeugen Jehova“ in der DDR, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–843/79, S. 34). 645 Vgl. MfS, HA XX /4, Operative Information über Pläne, Absichten und Aktivitäten der Feindzentrale der Organisation „Zeugen Jehova“ ( ZJ ) gegen die DDR vom 19. 8. 1986 ( BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 112–118), nach der alle Bezirke der DDR ausreichend mit Literatur versorgt seien. 646 Vgl. Hacke, Die Zeugen Jehovas, S. 84. 647 Vgl. Unterleutnant Jürgen Prescher, Die erfolgreiche Anwendung politisch - operativer Maßnahmen des MfS bei der Zerschlagung von Kurierverbindungen des Ostbüros der Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wiesbaden / BRD ) in die DDR zur Unterbindung ihres Einflusses auf die „Zeugen Jehova“ in der DDR, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–843/79, S. 25). 648 Vgl. ebd., S. 32. 649 Vgl. Oberleutnant Alexander Koepke, Erfahrungen zur Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung bei der Bearbeitung Operativer Vorgänge, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–735/80, S. 26).

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stand also vor der schwierigen Aufgabe zu entscheiden, ob es eher repressiv vorgehen oder durch seine Inoffiziellen Mitarbeiter vielmehr die Kontrolle über die bestehenden Ein - und Ausfuhrwege und damit auch über die ein - und ausgehenden Materialien und Informationen behalten wollte. Ein bislang wenig erforschtes Gebiet ist die Einbeziehung der Zeugen Jehovas in den sogenannten Vorbeugekomplex des Ministeriums für Staatssicherheit. Schon Ende der 1960er Jahre erließ MfS - Chef Mielke die Direktive 1/67, nach der im sogenannten Spannungsfall nicht nur Bürger von etwaigen Feindstaaten interniert, sondern darüber hinaus auch namentlich erfasste DDR - Bürger isoliert werden sollten.650 Im „Vorbeugekomplex“ wurden getrennt nach Kennziffern die entsprechenden Namenslisten aufgestellt und ständig aktualisiert. Für die Kennziffer 4.1.1., unter die Personen, welche wegen Staatsverbrechen, Verbrechen gegen die Volkswirtschaft, die allgemeine Sicherheit, die staatliche Ordnung bzw. Militärstraftaten verurteilt wurden, sowie Angehörige der politischen Opposition fielen, war die Festnahme vorgesehen. Die Kennziffer 4.1.2. umfasste alle ausländischen Personen, die auch nach der Genfer Konvention in Lagern interniert werden durften. „Personen, die [ als ] Träger der politisch - ideologischen Diversion“ galten, sowie solche, „die zu reaktionären klerikalen Kräften und anderen inneren Feinden in der DDR bzw. zu feindlich- negativen Einrichtungen und Kräften im Operationsgebiet [ d. h. der Bundesrepublik und WestBerlin ]“ Kontakt hielten, wurden unter der Kennziffer 4.1.3. geführt und sollten in Lagern isoliert werden. Während „unzuverlässige staatliche Leiter“, sprich Personen in Schlüsselpositionen in Staat, Wirtschaft und Landesverteidigung, die aber als potentiell unzuverlässig galten und unter der Kennziffer 4.1.4. geführt wurden, ausgetauscht werden sollten, fielen unter die Kennziffer 4.1.5. alle bis dato noch nicht erfassten Personen mit „feindlich - negativer Grundhaltung“, darunter auch „Angehörige verbotener Religionsgemeinschaften“. Diese sollten zunächst einmal „nur“ erfasst werden.651 Angehörige der Zeugen Jehovas fielen also zunächst erst einmal unter die zu erfassenden Personen. In den Akten sind allerdings auch eigens befohlene Einordnungen zu finden. So ordnete die MfS - Bezirksver waltung Erfurt im Jahre 1987 die Aufnahme eines Funktionärs in den Vorbeugekomplex an, weil er „zum Potential des Gegners zählt“. Dieser hatte sich „erdreistet“, in einem sogenannten Vorbeugegespräch, die an ihn herangetragenen Forderungen nach Einstellung der Glaubensaktivitäten harsch zurückzuweisen.652 Auch wenn in dem geschilderten Fall nicht erwähnt wird, unter welche Kennziffer der betreffende Funktionär eingeordnet wurde, erscheint es hier wahrscheinlich, dass besonders

650 Auerbach, Vorbereitung auf den Tag X. 651 Vgl. Anhalte für die Aufnahme von Personen in die Kennziffern 4.1.1., 4.1.3., 4.1.4. und die Kennziffer 4.1.5. der Arbeitsgruppe des Ministers vom 20. 1. 1986. Abgedruckt in Auerbach, Vorbereitung auf den Tag X, S. 18–23 ( Dok. 2). 652 Vgl. MfS, BV Erfurt, Abt. XX /4, Bericht über ein Vorbeugegespräch vom 27. 8. 1987 (BStU, ZA, HA XX /4, 668, Bl. 329–332, hier 332).

Auflösung

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„fanatische“ Funktionäre auch unter die Kategorie 4.1.3. fielen. 1986 wurden von den Bezirksver waltungen der Staatssicherheit 71 662 Personen im „Vorbeugekomplex“ erfasst, 1988 waren es schon 88 572. Hinzu zu zählen sind noch die durch die einzelnen Hauptverwaltungen im Berliner Ministerium aufgeführten 2 222 Personen.653 Bis in den Herbst 1989 hinein blieben die SED - Führung und ihr Sicherheitsapparat den Kategorien des Kalten Krieges verhaftet. In gewisser Weise war das Festhalten am „harten Durchgreifen“ im Spannungs oder Krisenfall sogar ein – wenn auch fiktiver – Ersatz für den immer geringer werdenden Stellenwert der harten Repression im operativen Alltag.654 Auf einer Dienstkonferenz zur „Mobilmachungsarbeit“ am 26. Februar 1988 im Ministerium für Staatssicherheit verwies Mielke auf „die fortgesetzten und gesteigerten Versuche gegnerischer Zentren, Einrichtungen und Kräfte [...], mittels der politisch - ideologischen Diversion, der Wühl - und Zersetzungsarbeit und anderer subversiver Aktivitäten feindlich - negativer Kräfte in der DDR und anderen sozialistischen Staaten zu antisozialistischen Handlungen zu inspirieren, politische Untergrundarbeit zu organisieren und die Lage im Inneren unserer Länder möglichst zu destabilisieren“.655 Zu diesen „feindlich - negativen Kräften“, die es auszuschalten galt, zählte bis zuletzt auch die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas.

4.

Auf lösung (1985–1989)

Die wachsende ökonomische Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik schränkte den Spielraum der Repression massiv ein. Die Widersprüche der von Erich Honecker propagierten „Einheit von Wirtschafts - und Sozialpolitik“ führten in der DDR seit Mitte der 1970er Jahre zu einer schweren Verschuldung. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit reichte nicht aus, um das hohe Niveau der Versorgung aufrecht zu erhalten. Die zur Kompensation notwendigen Kreditaufnahmen in der Bundesrepublik unterhöhlten gerade das, was der ostdeutsche Staat auf außenpolitischem Gebiet erreicht zu haben glaubte : seine international anerkannte Selbständigkeit von der Bundesrepublik. Hatte die DDR bis 1971 Kredite von ca. einer Milliarde Dollar aufgenommen, erhöhten sich die Schulden bis 1981 auf zehn Milliarden. Gleichzeitig stiegen die Rohstoffpreise 653 Vgl. Auerbach, Vorbereitung auf den Tag X, S. 23–38. 654 Vgl. Gieseke, Mielke - Konzern, S. 182. 655 Zit. in ebd., S. 117. Für die Gemeinde Frohnau ist eine Liste aus dem Jahr 1978 überliefert, die im Spannungsfall durch den Bürgermeister oder in seiner Abwesenheit durch den Sekretär der WPO der SED zu öffnen war. Darin waren 29 Bewohner aufgeführt, darunter 6 Zeugen Jehovas, die in einem solchen Fall als gefährlich galten. Bei den ZJ wurden die Mitgliedschaft, die Nichtwahl sowie die Wehrdienstverweigerung als Grund angegeben. Andere Gründe waren Pazifismus, Rückkehr aus der Bundesrepublik, Gegnerschaft zur Umgestaltung der Landwirtschaft, nichtsozialistische Einstellung, aber auch asoziales Verhalten, Alkoholmissbrauch oder Körper verletzung ( WTA O - Dok 25/10/78).

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auf dem Weltmarkt stärker als die der Halb - und Fertigerzeugnisse, wie sie die rohstoffarme DDR vorrangig exportierte. Als 1981 die Sowjetunion zudem die ( hochsubventionierten ) Erdölexporte in die DDR um mehr als zehn Prozent kürzte, sprach Honecker gegenüber den sowjetischen Vertretern vom Untergang der DDR.656 Der DDR - Führung blieb nichts anderes übrig, als weitere Schulden bei westlichen Banken zu machen. Diese jedoch waren durch die wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Probleme Polens und Rumäniens alarmiert und zögerten. Erst der vom bayerischen Ministerpräsident, Franz Josef Strauß, vermittelte und von der Bundesregierung verbürgte Milliardenkredit entspannte die ökonomische Lage für die DDR etwas.657 Diese – von der Sowjetunion misstrauisch beobachtete – Anlehnung an den Westen führte zu einem wachsenden Einfluss der Bundesrepublik auf den SED - Staat. Honecker blieb aber gar nichts anderes übrig, betrachtete er doch die Sicherung der materiellen Versorgung als existentiell für die SED - Herrschaft. Zudem zeigte das Beispiel Polens, wie fragil die kommunistische Herrschaft sein kann, wenn die finanziellen Engpässe mittels Preiserhöhungen und Abbau von Sozialleistungen beseitigt werden. Die Fähigkeit und die Bereitschaft, das immer noch zur Verfügung stehende Instrumentarium an Sanktionsmitteln anzuwenden, nahmen in den 1980er Jahren zunehmend ab.658 Die SED stand also vor dem Dilemma, dass sie einerseits gegen potentielle Unruheherde in der DDR nicht mehr – in ihren Augen – adäquat vorgehen konnte. Andererseits bröckelte die ohnehin schmale Basis, auf die sich die SED in der DDR bisher stützen konnte, angesichts einer Wirtschaftspolitik, auf deren Prioritätenliste die Exportsteigerung, die Drosselung der Importe, der Vorrang der Verkaufsmöglichkeiten nach Westen vor der Versorgung im Innern und die Unterlassung reproduktiver Investitionen stand. Mit der Ausreisebewegung und den Friedens - , Menschenrechts - und Umweltgruppen entstanden nicht nur potentielle, sondern reale „Unruheherde“. Zudem dominierte die personale Herrschaft Honeckers, immer weitere Politikfelder. Die Konzentration der Entscheidungsprozesse auf den SED - Generalsekretär, der stur an „seinem“ Sozialismus festhielt, trug wesentlich zur Erstarrung des Systems bei.659 Diese drei Determinanten prägten auch den Umgang mit der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in den 1980er Jahren : zunehmende Unruhe unter der Bevölkerung, erzwungene „Liberalisierung“ im Innern und ein starres Festhalten an einmal getroffenen Entscheidungen.

656 Vgl. Raschka, Justizpolitik im SED - Staat, S. 208 f. 657 Vgl. Staritz, Geschichte der DDR, S. 314 f. 658 Raschka belegt, dass die neuen Abhängigkeiten und nicht etwa die Paraphierung der KSZE - Schlussakte im Jahre 1975 Grund für die Zurücknahme der Repression in der DDR war, vgl. Justizpolitik im SED - Staat, S. 203–207. 659 Vgl. ebd., S. 298.

Auflösung

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Neben den bereits geschilderten Einschränkungen am kurz zuvor noch als Mittel der Wahl gepriesenen Ordnungsstrafverfahren war die Einstellung der militärgerichtlichen Bestrafung der meisten männlichen Zeugen Jehovas wegen ihrer totalen Wehrdienstverweigerung der sichtbarste Ausdruck der von außen aufgezwungenen Zurückhaltung.

4.1

Wehrdienstverweigerung durch die Zeugen Jehovas

Am 24. Januar 1962 erließ die Volkskammer ein – nur fünf Tage nach dem Mauerbau im Nationalen Verteidigungsrat beschlossenes – „Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht“. In einer Vielzahl von Veranstaltungen gingen Agitatoren der SED, der NVA und der Massenorganisationen gegen etwaige pazifistische Tendenzen in der ostdeutschen Bevölkerung vor. Dabei waren sie gezwungen, gewisse argumentative Anstrengungen zu unternehmen, hatten sie doch jahrelang versucht, Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik als „Tat für den Frieden“ im innerdeutschen ideologischen Kampf zu instrumentalisieren. Entsprechend meinte z. B. das Ostberliner SED - Organ „Berliner Zeitung“ : „Wir unterstützen alle Jugendlichen in Westdeutschland, die den Dienst mit der Waffe verweigern, denn sie schwächen die imperialistische NATO - Armee. In der DDR kann und wird es keine Wehrdienstverweigerung geben, da wir den Frieden und den Sozialismus schützen.“660 Pazifistische Neigungen waren in den Augen der Machthaber nicht nur egoistisch, schädlich und gefährlich, sondern auch Verrat an der eigenen Klasse und der eigenen Nation. Dieser Argumentation schlossen sich alle DDR - Blockparteien an. Besonders die CDU - Führung fühlte sich bemüßigt, den kirchlichen Tendenzen zu Pazifismus und Wehrdienstver weigerung entgegenzutreten.661 Die schrille Polemik gegen alle pazifistischen Reaktionen konnten auf Dauer nicht kompromisslos weitergeführt werden. Die Argumente der SED von der „Friedensarmee“ fanden besonders in christlichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung wenig Glauben. Auch der Fahneneid mit seiner Forderung nach „unbedingtem Gehorsam“ stieß vielerorts auf Ablehnung. Am 12. März 1962 gab die Partei - und Staatsführung einer Bitte der Konferenz der evangelischen Bischöfe in der DDR zu einem Gespräch über Fragen, die sich für die Kirche und für die Gemeindemitglieder nach Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes ergeben haben, statt. Immerhin erklärten sich die Staatsvertreter bereit, „zwischen einer pazifistischen Grundhaltung aus echter religiöser Gewissensüberzeugung [...] und einem Pazifismus, der aus einer politischen Antihaltung her-

660 Berliner Zeitung vom 24. 1. 1962. Zit. nach Eisenfeld, Kriegsdienstverweigerung in der DDR, S. 41. 661 Vgl. ebd. S. 43.

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rühre und böswillig dazu missbraucht werde, um die Verteidigungsmaßnahmen der DDR zu durchlöchern“, zu differenzieren.662 Der Begriff „politische Antihaltung“ schien aber in den Augen der DDRBehörden im besonderen Maße auf die Zeugen Jehovas zuzutreffen, um deren Gründe für die Kriegsdienstverweigerung aus der Sicht der DDR - Behörden zu charakterisieren. Schon in den fünfziger Jahren verwarfen Zeugen Jehovas den Begriff Pazifismus für ihre eigene Haltung. In ihren Augen waren sie Verweigerer aus Gewissensgründen, sie beteiligten sich nicht an den Händeln dieser Welt, bekämpften aber ebenso wenig den Krieg, denn das hätte bedeutet, Stellung für eine politische Sache einzunehmen.663 Um dem Konflikt mit den Kirchen über die Wehrdienstfrage allgemein und der Vereidigung auf einen atheistischen Staat im Besonderen die Spitze zu nehmen – immerhin stieg die Zahl der registrierten Wehrdienstver weigerer bis Anfang 1964 auf etwa 1 550 Personen –, führte die DDR als einziger Staat im Ostblock im September 1964 für diejenigen Wehrpflichtigen, „die aus religiösen oder ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe“ ablehnten, den waffenlosen Dienst als Bausoldat in der NVA ein.664 Diese sogenannte BausoldatenAnordnung verlagerte die Entscheidung – um „die der Wehrdienstverweigerung zugrunde liegende Infragestellung [ des ] parteiideologischen Friedensbegriffs zu entpolitisieren“665 – von der Ebene politischer Grundsatzfragen auf die der persönlichen Gewissensentscheidung. Doch den Zeugen Jehovas, die auch diesen waffenlosen Dienst ablehnten, wurde eine solche Gewissensentscheidung abgesprochen. „Uneinsichtig“ würden sie „böswillig die Ableistung des Grundwehrdienstes“ verweigern.666 Ihr Handeln stelle somit einen Angriff auf die Verteidigungsbereitschaft der DDR dar.667

662 Rundschreiben des Thüringer Landesbischofs Mitzenheim an die Pfarrer seines Kirchengebietes über das Gespräch vom 26. 3. 1962. Zit. nach Dähn, Konfrontation oder Kooperation, S. 93. 663 Vgl. „Warum Jehovas Zeugen keine Pazifisten sind“. In : Wachtturm ( Ostausgabe ) vom 15. 3. 1951, S. 84–87; „Pazifismus und Einwände aus Gewissensgründen – Besteht ein Unterschied ?“ In : ebd., S. 88–93. 664 Die Dienstzeit betrug ebenfalls 18 Monate und statt des Fahneneides wurde ein Gelöbnis abgelegt, dessen Inhalt aber dem des Eides entsprach. Die staatlich sanktionierte Alternative zum Waffendienst bedeutete allerdings keineswegs die rechtliche Gleichstellung der jungen Männer, die dieses Recht für sich in Anspruch nahmen. Erst mit der Einberufung erfuhren die Antragsteller, ob ihrem Gesuch stattgegeben wurde. Auch nach der Ableistung des Wehrdienstes hatten sie Benachteiligungen zu ertragen. Vor allem Studienzulassungen wurden häufig nicht erteilt oder wieder zurückgezogen. Zu Bausoldateneinheiten vgl. Koch, Die Baueinheiten der Nationalen Volksarmee der DDR; Koch / Eschler, Zähne hoch – Kopf zusammenbeißen; Schicketanz, Die Errichtung von Baueinheiten; Widera ( Hg.), Pazifisten in Uniform; Pausch, Waffendienstverweigerung in der DDR. 665 Ebd., S. 57. 666 Gerichtsakte Militärgericht Erfurt, Az. : S 88/64 MG - Er. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 766. 667 Vgl. Gerichtsakte Militärgericht Dresden, Az. : S 11/80 MG - Dr. Zit. in ebd., S. 777.

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Der Versuch der SED zur Lösung der Konflikte mit den Wehrdienstverweigerern scheiterte : Mit der Einführung der Bausoldatenabteilungen endete die relative Zurückhaltung der Behörden gegenüber den Totalverweigerern.668 Am 5. November 1964 wurden auf einen Schlag 142 Zeugen Jehovas wegen Ablehnung des Wehrdienstes verhaftet, ihre Haftzeit verbrachten sie größtenteils in Arbeitslagern. Betrugen vor dieser Masseninhaftierung die Strafen für Wehrdienstverweigerung bis zu einem Jahr, waren es danach zumeist 20 Monate.669 Verweigerer des Reservedienstes mussten für sechs Monate ins Gefängnis. Die Verhandlungen dauerten mitunter nur wenige Minuten, meistens wurde weder Anklageschrift noch ein Urteil ausgehändigt. So konnte der Leiter des Militärobergerichts Leipzig, Oberst Arlt, 1973 beispielsweise melden: „Die Verfahren wurden konzentriert und ohne Vorkommnisse durchgeführt. Die Inhaftierungen erfolgten am 2.11. 73, die Eröffnung der [ Hauptverfahren] wurde am 3.11. 73 vorgenommen und die Durchführung der [ Hauptverfahren] erfolgte vom 5. bis 7. 11. 1973. Sämtliche Urteile sind rechtskräftig. [...] Die konzentrierte Durchführung der Verfahren in Karl - Marx - Stadt ( gegen 70 Täter) hat sich bewährt. [...] Die eingesetzten Genossinnen der [ Militärgerichte ] Dresden, Halle und des [ Militärobergerichts ] Leipzig haben sich durch fleißige Arbeit und hohe Einsatzbereitschaft in Durchführung der Verfahren besonders ausgezeichnet.“670 Ihre Haftzeit verbrachten die Zeugen Jehovas oftmals zusammen mit Schwerkriminellen. Auch im Gefängnis „bearbeitete“ das MfS diese Häftlingsgruppe, um ihren Willen zu brechen und sie zu demoralisieren.671 Die DDR schien von der massenhaften Ver weigerung nach dem in ihren Augen großzügigen Entgegenkommen jedoch überrascht gewesen zu sein. Zumindest hatte sie kein Konzept, wie mit den verurteilten Verweigerern umgegangen werden sollte. Als Ende 1964 die verurteilten 150 Zeugen Jehovas in das Haftarbeitslager Berndsdorf bei Ückermünde eingeliefert wurden, kamen sie in ein Militärstraflager und sollten entsprechend auch militärisch ausgebildet werden. Nachdem sich die jungen Männer auch brutalen Druckmitteln nicht beugten, wurden sie im Sommer 1965 in die Strafvollzugsanstalt Bautzen I verlegt.672 Ab 1964 wurden alle 18 Monate durchschnittlich 150 Zeugen Jehovas wegen 668 Über die Zahl der vor 1964 wegen Wehrdienstverweigerung inhaftierten ZJ liegen kaum Zahlenangaben vor. Fricke nennt 31 verurteilte ZJ, vgl. Selbstbehauptung und Widerstand, S. 98. Dirksen spricht von über 40 Fällen, vgl. Keine Gnade, S. 754. Zu Fallbeispielen von Verurteilungen vor 1964 vgl. ebd., S. 755–778. 669 Vgl. ebd.; Eisenfeld, Kriegsdienstverweigerung, S. 72; ders., Spaten - Soldaten, S. 22. Um das Abschreckungspotential zu erhöhen, konnten sich die Haftzeiten aber auch auf bis zu 24 Monate belaufen. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 766; Knechtel / Fiedler ( Hg.), Stalins DDR, S. 159; Haase / Oleschinski ( Hg.), Das Torgau - Tabu, S. 225. 670 Militärobergericht Leipzig, Übersicht über die in der Zeit vom 2.11. bis 7. 11. 1973 getroffenen gerichtlichen Maßnahmen gegen Personen nach § 32 Wehrpflichtgesetz, Bereich Militärobergericht Leipzig vom 30. 11. 1973 ( BArch, Militärarchiv Freiburg, DVW 9, AZN 19, Bl. 217–219, hier 219). 671 Vgl. Knechtel / Fiedler, Stalins DDR, S. 159, Haase / Oleschinski, Das Torgau - Tabu, S. 225. 672 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 767 f.

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Wehrdienstverweigerung verurteilt. Damit stellten sie 90 Prozent der verurteilten Totalverweigerer.673 Doch bei diesen direkt der Verweigerung folgenden staatlichen Maßnahmen blieb es nicht. Die Möglichkeit, juristisch sanktioniert gegen die Zeugen Jehovas vorzugehen, wurde auch von der HA XX /4 für ihre Arbeit genutzt. Wehrdienstverweigerer wurden angehalten, in ihrem Antrag zu „beweisen“, dass sie dieser Religionsgemeinschaft angehören. Die schriftlichen Bekenntnisse wurden dann von den Wehrkreiskommandos der kirchenpolitischen Abteilung des MfS zur Auswertung überlassen.674 Auch von den Militärstaatsanwälten eingeleitete Ermittlungsverfahren sollten auf Vorschlag der HA XX /4 stärker für fingierte Hausdurchsuchungen o. ä. genutzt werden.675 Darüber hinaus schlugen Kursanten der „Juristischen Hochschule“ des MfS in den 1970er Jahren vor, auch Funktionäre der Religionsgemeinschaft in die Ermittlungen wegen Wehrdienstverweigerung einzubeziehen, seien sie es doch, die zur Verletzung der Strafnormen aufriefen.676 Die „anfallenden“ Verweigerer aus den Reihen der Zeugen Jehovas sortierten die MfS - Bearbeiter so, „dass immer diejenigen ZJ einberufen werden konnten, die am aggressivsten und fanatischsten gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung auftraten“.677 So erwiesen sich auch die Verurteilungen durch Militärgerichte im SED - Staat als Instrument der politischen Repression. In den 1980er Jahren veränderte sich die Lage : Obwohl die DDR - Behörden Wehrdienstverweigerung weiterhin gerichtlich ahndeten, begannen sie Einberufungsbefehle für Totalverweigerer zurückzustellen. Dies hatte vor allem mit der ideologischen Unterstützung der Friedensbewegung in der Bundesrepublik zu tun, deren Glaubwürdigkeit durch eine rigide Behandlung der DDR - Pazifisten geschmälert worden wäre. Zwar bildeten die Zeugen Jehovas immer noch den größten Teil der Totalverweigerer, der Anteil der Anhänger einer sich zunehmend politisierenden unabhängigen Friedensbewegung in der DDR vergrößerte sich jedoch immer mehr.678 Diese nicht aus den Reihen der Zeugen Jehovas kommenden Verweigerer waren vernetzt und wurden zumeist von den protes673 Vgl. ebd., S. 783 f. 674 Vgl. handschriftliche Notiz vom 15. 5. 1964 in der MfS - Akte des ZJ Fritz K. ( BStU, Ast. Chemnitz, 19222/91/ AU2–R0, unpaginiert ), Kopie freundlicherweise von Herrn Fritz K. zur Verfügung gestellt. 675 Vgl. HA XX /4 an die BV Dresden vom 2. 3. 1982 zu Schwerpunktaufgaben zur Bearbeitung der „Zeugen Jehovas“ im Bezirk Dresden ( BStU, Ast. Dresden, Abt. XX, 9190, Bl. 1–5, hier 5). 676 Vgl. Major Gerfried Wenzlawski / Major Hans - Jochen Kleinow, Erkenntnisse und Erfahrungen zur Durchführung wirksamer operativer Maßnahmen gegen die Tätigkeit der in der DDR verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wachtturmgesellschaft ) zur Bekämpfung ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit [ Hausarbeit ] ( BStU, ZA, JHS VVS 001– 901/75, S. 77). 677 Abschlussbericht zum Operativvorgang „Stock“ der KD Dresden - Stadt vom 3. 12. 1976 ( BStU, BV Dresden, KD Dresden - Stadt, 91013, Bl. 4–11, hier 10). 678 Schon 1978 musste der Leiter des Militärobergerichtes Leipzig, Oberst Arlt, feststellen, „dass der Anteil der Täter, die aus politischen Gründen ( gegnerische Einstellung zur DDR, Antragsteller, [...] ) dem Einberufungsbefehl nicht Folge leisteten, größer geworden ist. Vergrößert hat sich ebenfalls die Anzahl der Täter, die der evangelisch - luthe-

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tantischen Kirchen betreut. Die Zahl der Wehrdienstverweigerer wurde 1982 durch die neue „Auffüllungsordnung“ der NVA noch einmal ungewollt in die Höhe getrieben. Waren in der Bausoldatenanordnung „ähnliche Gründe“ wie die religiösen als Anerkennungsgrund genannt, beschränkte die Auffüllungsordnung diese allein auf religiöse Gründe. Diese neue Ermessensgrundlage war allerdings nicht veröffentlicht worden. Daher wurden junge Männer, die sich zum Bausoldatendienst bereit erklärt hatten, zum Waffendienst eingezogen und im Ver weigerungsfall wegen Wehrdienstver weigerung verurteilt. Den Militärgerichten waren die Hände gebunden, da sie die Entscheidungen der für den Einberufungsbescheid zuständigen Wehrkreiskommandos nicht prüfen durften.679 Damit geriet die SED in eine peinliche Lage. Bei ausschließlicher Anerkennung „religiöse Gründe“ für den waffenlosen Wehrdienst würden nur noch kirchlich gebundene Männer unter die Bestimmung fallen. Da als Beweis einer religiösen Gesinnung nur die Kirchenmitgliedschaft, der Taufschein oder die Kirchensteuererklärung in Frage kamen, triebe dies in den Augen der Beteiligten die Opposition in die Kirchen. Jede andere Regelung hätte eine Art Gewissensprüfung eingeführt und diese war gerade in der Bundesrepublik heiß umstritten.680 Eigentlich sollte die SED der Herausforderung schnell Herr werden, indem sie die Bausoldatenanordnung überarbeitete und dann veröffentlichte.681 Da aber diese Anordnung nie veröffentlicht wurde, weil man nicht auf diese Möglichkeit hinweisen wollte, verbot sich dieser Ausweg von selbst. Um die steigende Zahl von Totalverweigerungen zu begrenzen, schlug Generalmajor Lothar Penndorf, Vizepräsident des Obersten Gerichts der DDR und Vorsitzender des Militärkollegiums des OG,682 im Januar 1983 vor, zur Abschreckung die Strafen drastisch zu erhöhen. Bis dahin hatte es sich eingebürgert, mit zwanzig Monaten Haft nur etwas höher als die Wehrdienstzeit zu bestrafen, obwohl eine Bestrafung bis zu fünf Jahren möglich gewesen wäre. Damit sollte sichergestellt werden, die betreffenden Personen mit dieser hohen Strafe nicht vom Wehrdienst auszuschließen. Allerdings war auch Penndorf bekannt, dass eine Verschärfung von Urteilen über Zeugen Jehovas keine abschreckende Wirkung erzielen würde. Aus Gleichbehandlungsgründen verbot sich aber eine geringere Bestrafung. Demnach muss es schon in dieser Zeit Überlegungen gegeben haben, diesen Personenkreis nicht mehr einzuziehen. Penndorf meinte: „Wenn diese Personen nicht in den Strafvollzug kommen sollen, dürfen sie nicht

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rischen bzw. katholischen Glaubensrichtung angehören.“ Militärobergericht Leipzig, Übersicht über die in der Zeit vom 4. bis 10. Mai 1978 getroffenen gerichtlichen Maßnahmen gegen Personen nach § 32 Wehrpflichtgesetz, 2. 6. 1978 ( BArch, Militärarchiv Freiburg, DVW 9, AZN 19, Bl. 119–121, hier 121). Vgl. Schreiben des Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR vom 3. 1. 1983 (BArch, DO 4, 1017, unpaginiert ). Vgl. Handschriftliche Notizen o. O., o. D. (1983) ( ebd.). So der Vorschlag des Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR vom 3. 1. 1983 ( ebd.). Vgl. Froh / Wenzke, Die Generale und Admirale, S. 157.

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einberufen werden. Diese Entscheidung liegt jedoch außerhalb der Kompetenzen der Militärjustizorgane.“683 Das Problem durfte gerade im Lutherjahr 1983 nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Daher kam es erstmal zu keinen Einberufungen von bekannten Wehrdienstverweigerern. Auch im folgenden Jahr wurden zunächst keine Einberufungen durchgeführt. Standen doch im Mai 1984 Wahlen in der DDR an, in deren Vorfeld man jede Unruhe vermeiden wollte. Erst nach dem 35. Jahrestag der Republikgründung sollte wieder gegen Wehrdienstverweigerer vorgegangen werden. Ausgerechnet die Zeugen Jehovas – von den bekannten und erwarteten 250–300 Ver weigerern waren 200 aus den Reihen der verbotenen Glaubensgemeinschaft – sollten von dieser Regelung ausgeschlossen bleiben, weil die in der DDR zugelassenen Kirchen und Religionsgemeinschaften sich für diese nicht einsetzen würden.684 Daher war vorgesehen, die Betreffenden schrittweise im Juli, August und September einzuberufen und zu verurteilen.685 1985 lagen die Dinge wieder anders : Im Herbst wurden 50 Personen, die bei ihren Musterungen die totale Verweigerung angekündigt hatten, verhaftet. Sie kamen alle aus dem Jahrgang 1950 und wären ohne Einberufung mit Erreichen des 36. Lebensjahres aus der Wehrpflicht ausgeschieden. Eigentlich umfasste der ins Auge gefasste Personenkreis bis zu 170 Männer, von denen aber 75 bis 80 Prozent Zeugen Jehovas waren und bei denen „die Weisung ausdrücklich erteilt wurde [...] nicht einzuziehen“. Der verbleibende Rest kam „aus dem Bereich der Glieder der evangelischen Kirchen“ oder stand „diesen Kreisen nahe“. In einem vertraulichen Vermerk des Staatssekretariats für Kirchenfragen, in dem die Fragen behandelt wurden, stand als Prämisse des ganzen Vorgangs : „Die Wehrgesetzgebung wird konsequent durchgesetzt, aber Konfrontationen sind zu vermeiden.“686 Beide Vorgaben konnten nicht erfüllt werden, sie ließen sich auch gar nicht vereinbaren. Die Wehrgesetzgebung konnte mit dem Zurückstellen der Zeugen Jehovas nicht „konsequent durchgesetzt“ werden. Die Konfrontation aber schuf sich die SED mit der Verhaftung der übrigen Verweigerer selbst, denn neben den Protesten in den Kirchen schalteten sich auch die informierten Westmedien ein. Deren Veröffentlichungen bewogen die Parteiführung möglicher weise zum Einlenken : Im November 1985 wurden die Verhafteten ohne Prozess wieder entlassen.687 Aus welchen Gründen die DDR - Führung 1985 begann, keine Zeugen Jehovas mehr einzuberufen, ist nicht geklärt. Vor allem die unterschiedliche Behandlung der Angehörigen der Glaubensgemeinschaft und der anderen Verweigerer 1984 und 1985 verblüfft, waren doch die Begründungen für die jeweilige 683 Schreiben des Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR vom 3. 1. 1983 ( BArch, DO 4, 1017, unpaginiert ). 684 So Verteidigungsminister Hoffmann im Mai 1984. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 781. 685 Vgl. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abt. II, Information vom 1. 6. 1984 ( BArch, DO 4, 1017, unpaginiert ). 686 Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abt. II, Vertraulicher Vermerk über ein Gespräch mit Generalmajor Patzer, Ministerium für Nationale Verteidigung, am 18. 9. 1985 vom 20. 9. 1985 ( ebd.). 687 Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 577.

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Behandlung in beiden Jahren entgegengesetzt. 1984 kamen die Zeugen Jehovas in Haft, eben weil sie keine Lobby hatten und ihre Verurteilung daher kaum Aufsehen hervorrufen konnte. Im Folgejahr wurden sie im Gegensatz zu den sonstigen, von den Kirchen betreuten, Verweigerern nicht verhaftet. Wie HansHermann Dirksen richtig feststellt, gab es keinen endgültigen Beschluss, „Jehovas Zeugen diesbezüglich nicht mehr zu verfolgen“.688 In der Praxis bedeutete dies bis 1989 eine andauernde Rechtsunsicherheit und die permanente Drohung, Wehrdienstverweigerer doch noch zu inhaftieren. Richtig ist aber auch, dass die SED - Führung das Problem vor sich her schob, bis sie gar nicht mehr anders handeln konnte. Mit jedem Jahr erhöhte sich die Zahl der potentiellen Verweigerer, darunter auch die Zahl derer, die ab einem bestimmten Stichtag nicht mehr einberufen werden konnten, weil sie dann die Wehrpflichtaltersgrenze erreichten. Allein in der Altersgruppe der 18 - bis 25 - Jährigen waren laut einer Meldung des neuen Verteidigungsministers, Heinz Keßler, an Honecker vom 8. Januar 1988 1 060 Personen – darunter 830 Zeugen Jehovas – bekannt, die jeglichen Wehrdienst verweigern wollten.689 Auch wenn die von ehemaligen MfS - Mitarbeitern kolportierten Zahlen, nach denen die Anzahl der Totalver weigerer zuletzt auf ungefähr 2 000 Personen eines Einberufungsjahrganges stieg,690 wohl zu hoch gegriffen sind, wurde die Problematik Wehrdienstverweigerung im Vergleich zu den früheren Jahren zum Massenphänomen, als Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR zunehmend auch den Wehrdienst ablehnten, um der DDR keinen Grund zu geben, sie als „Geheimnisträger“ von der Ausreise auszuschließen. Insofern muss Dirksen energisch widersprochen werden, wenn dieser meint, die Behandlung der Zeugen Jehovas hing in Bezug auf die Wehrdienstverweigerung nicht mit dem Vorgehen gegenüber anderen Verweigerern zusammen.691 Die DDR konnte es sich angesichts der außenpolitischen Abhängigkeiten und der wachsenden innenpolitischen Unruhe nicht mehr leisten, im größeren Maße strafrechtlich gegen die umfangreiche Gruppe der Zeugen Jehovas, aber auch gegen die stetig wachsende Gruppe der anderen Verweigerer vorzugehen. Der Verlust des letzten drakonischen Mittels gegen die Zeugen Jehovas war mithin auch ein „Nebenprodukt“ der veränderten Sichtweise auf die Problematik „Wehrdienstver weigerung“. Mit der zunehmenden Akzeptanz dieser Form des Friedensdienstes im westlichen Ausland – die DDR registrierte „UNO - Aktivitäten im Zusammenhang mit Wehrdienstverweigerern“692 – war es der SED nicht mehr möglich, die strafrechtliche Verfolgung der Zeugen Jehovas als normale, in fast allen Ländern ebenso vorhandene Sanktion eines gesetzwidrigen Deliktes darzustellen. Erst die allgemeine moralische Aufwertung des Prinzips der Wehr688 689 690 691 692

Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 786 f. Vgl. ebd., S. 786. Vgl. Anders / Schmidt / Terpe, Das politische Wirken der Kirchen. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 786. Verteidigungsminister Heinz Keßler an Erich Honecker vom 8. 1. 1988. Zit. in ebd., S. 786.

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dienstverweigerung zwang die ostdeutschen Kommunisten, auch die letzte noch vorhandene Möglichkeit zur Inhaftierung von Zeugen Jehovas aufzugeben.

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Alternativstrategien in Polen

Neben dieser innenpolitischen Entwicklung geriet die SED - Führung auch durch den veränderten Umgang mit den Zeugen Jehovas in Ostmitteleuropa unter Druck. Die Religionsgemeinschaft war bereits Ende der 1940er Jahre in allen Staaten des Ostblocks ins Visier der Repressionsorgane geraten. Zwar gibt es keinerlei Beleg für ein koordiniertes Vorgehen, dennoch fällt auf, dass zwischen 1948 und 1950 die Gemeinschaft im gesamten sowjetischen Machtbereich verboten wurde. Zu einer Zusammenarbeit der Geheimpolizeien bei der Bekämpfung der illegalen Glaubensgemeinschaft scheint es nur in Ausnahmefällen gekommen zu sein. Der Inoffizielle Mitarbeiter des MfS und ehemalige Zeuge Jehovas, Dieter Pape, wurde beispielsweise 1960 nach Polen gesandt, um dort in die Rolle eines Beauftragten des westdeutschen Zweigbüros der Gemeinschaft zu schlüpfen. Es gelang ihm, das Vertrauen der polnischen Untergrundleitung zu erlangen und die nötigen Informationen zu beschaffen, damit das dem Innenministerium unterstellte Komitee für öffentliche Sicherheit die illegale Zentrale ausheben konnte. Für den eigenen Auftraggeber brachte Pape nützliche Vorschläge aus Polen mit, so den einer periodisch erscheinenden Zeitschrift als Mittel zur ideologischen Beeinflussung der Gläubigen.693 Dennoch war diese Zusammenarbeit nicht so eng, wie es Waldemar Hirch zu glauben meint. Die gegenseitige Hilfe blieb eine Ausnahme. Dies trifft nach derzeitiger Aktenkenntnis auch für die anderen Ostblockstaaten zu. Allein die Kooperation zwischen dem MfS und dem KGB nahm konkretere Züge an. Das hing damit zusammen, dass die ostdeutsche Geheimpolizei die aus der Überwachung der westdeutschen und US - amerikanischen Zentrale der Zeugen Jehovas gewonnenen Informationen ihrem sowjetischen Vorbild mitteilte. Der KGB war auf diese Hilfe angewiesen, wollte man doch die Einfuhr von Literatur in die Sowjetunion verhindern. Das MfS besaß jedoch bessere Möglichkeiten, passende „Agenturen“ zu platzieren. Noch 1986 führte eine Kooperationsvereinbarung des MfS und des KGB die Zeugen Jehovas als eine „unter religiösem Deckmantel subversiv gegen sozialistische Staaten wirkende Organisation“, die es zu bekämpfen galt.694 Doch weiterführende Kooperationen lassen sich nicht nachweisen.695 Die „tschekistische Internationale“ lässt sich zumindest für die Zeu693 Vgl. Hirch, Zusammenarbeit, S. 84–95. 694 Zur MfS - KGB - Vereinbarungen von 1979 vgl. Vollnhals, Die kirchenpolitische Abteilung (1996), S. 113. Die Vereinbarung zwischen MfS und KGB für den Zeitraum 1986–1990 ist abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen, Katholiken, S. 458–465 (Dok. 92). 695 Grundsätzlich lässt sich einschätzen, dass Fragen der geheimpolizeilichen Zusammenarbeit im Ostblock noch immer ein Forschungsdesiderat sind, auch jüngste Veröffent-

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gen Jehovas nicht nachweisen.696 Die Glaubensgemeinschaft scheint kein Thema bei den regelmäßigen Treffen der Staatsorgane für Kirchenfragen gewesen zu sein.697 Auch das „System der vereinigten Erfassung von Daten über den Gegner“, wie das östliche Datenerfassungssystem SOUD auf Deutsch hieß, brachte keine Hilfe für die Bekämpfung der Glaubensgemeinschaft.698 Dies hing mit der Sorge der „Tschekisten“ um ihren Quellenschutz zusammen. Die Eingabe der vorhandenen Informationen wurde von den MfS - Hauptverwaltungen nur in begrenztem Maße durchgeführt. Aufwand und Nutzen des hochfliegenden Projektes standen so in keinem Verhältnis. Abgesehen von dieser „Spezifik geheimdienstlicher Arbeit“ gingen die ostmitteleuropäischen Staaten nach einer Phase vergleichbaren stalinistischen Terrors höchst unterschiedlich mit der Glaubensgemeinschaft um. Die polnischen Behörden ließen beispielsweise ab Mitte der 1950er Jahre die Inhaftierten frei. 1963 entschied der dortige Oberste Gerichtshof sogar, dass die organisierte Tätigkeit der Zeugen Jehovas zwar untersagt sei, die individuelle oder private Religionsausübung allerdings nicht unter dieses Verbot falle. Seit Ende der sechziger Jahre trafen sich die Gläubigen zuerst in kleinen, später in immer größeren Gruppen unter stillschweigender Duldung durch die Behörden zu den sogenannten „Waldkongressen“, einer Form der Kreiskongresse unter illegalen Bedingungen. Auch in der ČSSR wurden die dortigen Zeugen Jehovas nach einer Generalamnestie 1960 aus den Gefängnissen entlassen. Die Polizei ging nur noch sporadisch gegen einzelne Verkündiger vor. Durch diese Zurückhaltung begünstigt – nach Angaben des MfS besaßen die tschechoslowakischen Zeugen Jehovas sogar ein Zweigbüro in Prag699 – verdoppelte sich die Zahl der Gläubigen von 1965 bis 1975 auf etwa 20 000 bis 25 000. Die Sicherheitsorgane, so teilte der damalige Botschafter der DDR, Gerd König, aus Prag mit, hätten einen genauen Überblick, würden aber nur die Wehrdienstverweigerung ahnden. Ansonsten hätten die Arbeitskollektive und die „Nationale Front“ die Aufgabe, Zeugen Jehovas individuell „zu bearbeiten“. Daneben gebe es spezielle

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lichungen wie Georg Herbstritt, Bundesbürger im Dienst der DDR - Spionage. Eine analytische Studie, Göttingen 2007, lassen die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen KGB unberücksichtigt, so dass man nichts über die Art von dessen Anfragen und Aufträgen und über den Umfang einer koordinierten „Aufklärung“ erfährt. Vgl. Vollnhals, Die kirchenpolitische Abteilung (1997), S. 30–36. Vgl. die Information der Arbeitsgruppe Kirchenfragen über die Beratung internationaler kirchenpolitischer Probleme am 24. 8. 1973 in Budapest vom 31. 8. 1973 ( BArch SAPMO, DY 30/ IV 2/2.036/36, Bl. 28–33); die Information über die Verhandlungen mit dem Rat für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR am 20. und 21. 11. 1973 in Moskau vom 11. 12. 1973 ( ebd., Bl. 35–43) bzw. die Information über die Tagung der Staatsämter für Kirchenfragen am 4. bis 6. 6. 1974 vom 13. 6. 1974 ( ebd., Bl. 62–79). Vgl. Wegmann / Tantzscher, SOUD, S. 71. Vgl. MfS, HA XX /4, Politische Konzeptionen der „Wachtturm - , Bibel - und Traktat Gesellschaft“ ( WTG ), USA, für die gegenwärtige internationale Aktivität der „Zeugen Jehovas“ ( ZJ ) von Dezember 1978 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 215–226, hier 224).

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Kurse für Lehrer, die Kinder von Zeugen Jehovas unterrichteten.700 Diese Vorgehensweise, die in Polen wie auch in der ČSSR zu einem massiven Wachstum der Glaubensgemeinschaft führte, musste die Mitarbeiter des MfS alarmieren.701 Im Dezember 1977 konnte erstmals eine Delegation der Brooklyner Zentrale unter Leitung des WTG - Präsidenten, Frederic William Franz, nach Polen einreisen. Sie nahm dort Kontakte zu den Versammlungen auf und traf während eines erneuten Besuches ein Jahr später sogar mit Vertretern des zuständigen Amtes für religiöse Angelegenheiten zusammen. Wie wenig koordiniert die Religionspolitik im Ostblock war, verdeutlicht die Tatsache, dass das MfS über diese Besuche im Vorfeld nicht unterrichtet worden war und auch keine Informationen über die Gesprächsinhalte besaß.702 Seitdem konnten bestimmte Kontingente von Gläubigen zu den jährlichen Kongressen in Österreich, Dänemark oder Frankreich reisen. Auch das im Dezember 1981 ausgerufene Kriegsrecht beeinträchtigte diese Phase der Verbesserung der Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaft nicht wesentlich. Kleinere Kongresse durften nun sogar in Polen durchgeführt und seit 1984 sogar offiziell Literatur importiert werden. Um die Einfuhr zu erleichtern, gestatteten die Behörden, eine gerichtlich anerkannte Gesellschaft namens „Wachtturm – Verlag der Religion Jehovas Zeugen in Polen“ zu gründen. Dies war eine faktische Legalisierung der Tätigkeit, der im Mai 1989 die Genehmigung der „Wachtturm Bibel - und Traktatgesellschaft, eingetragene Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Polen“ folgte. Über die Ursachen dieses neuen Umgangs mit den Zeugen Jehovas können nur Spekulationen angestellt werden. Offensichtlich gestattete die polnische Staatsführung der immer noch illegalen Glaubensgemeinschaft wie auch anderen kleineren Gemeinschaften größere Freiräume, um so der starken Stellung der Katholischen Kirche – die Kommunismus wie auch Zeugen Jehovas gleichermaßen feindlich gegenüberstand – ideologisch entgegenzutreten.703 Falls sich die Behörden diesbezüglich Hoffnungen machten, wurden diese schon bald durch strikte Ablehnung einer Instrumentalisierung durch die Zeugen Jehovas enttäuscht. Für das MfS standen diese Annäherungen im Zusammenhang mit einer neuen Verschärfung des internationalen Klassenkampfes. Die neue Richtung der Zeugen Jehovas sei angepasst an die Koexistenz - Politik der US - Administration. Die Religionsgemeinschaft nutze „komplizierte innere Prozesse“ in den Ostblockstaaten aus, um das sozialistische Lager und ihre Parteien zu spalten. 700 Vgl. Botschafter Gerd König an Paul Markowski, Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK der SED, vom 25. 2. 1975 ( BArch, DO 4, 4716, Bl. 33–35). 701 Vgl. Auskunftsbericht, o. D. ( nach 1985) ( BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 284–295, hier 289). 702 Vgl. Information. Präsident der Organisation „Zeugen Jehova“ Franz vom 23. 12. 1977– 5. 1. 1978 in der VR Polen, o. D. ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 162 f.). 703 So zumindest die Meinung der ostdeutschen Botschaft in Polen. Vgl. Botschaft der DDR in Polen, Abt. Politischer Bereich an das Staatssekretariat für Kirchenfragen vom 25. 11. 1985 ( BArch, DO 4, 4890, Bl. 1–12, hier 8).

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„Das schrittweise Vorgehen der WTG bedeutet die Schaffung ideologischer Widersprüche und Elemente zur Destabilisierung durch eine in ihrem Wesen und in ihren Klassenpositionen unveränderte reaktionäre Tätigkeit im religiösen Bereich der sozialistischen Länder.“ Es sei „von erheblicher kirchenpolitischer und damit innenpolitischer Bedeutung und Konsequenz, wenn eine derartig antikommunistisch und antisowjetisch eingesetzte Gruppe wie die WTG in einem sozialistischen Land zur Neuentfaltung kommt, ohne ihre bisher betriebene antikommunistische Subversions - und Hetztätigkeit zu widerrufen, verurteilen und sich davon distanzieren zu müssen“.704 Für das MfS ergaben sich zweierlei Schwierigkeiten : Zum einen zeigte das Beispiel Polens, dass ein pragmatischer Umgang mit den Zeugen Jehovas auch in einem sozialistischen Land möglich war. Alle Planspiele für die Legalisierung einer „nationalen religiösen Vereinigung“, d. h. einer Gemeinschaft aus Zeugen Jehovas, die sich von der Wachtturm - Gesellschaft und dem Einfluss der westlichen Zweigbüros freigemacht hat, waren damit nach Ansicht des Staatssicherheitsdienstes gegenstandslos geworden. Zum anderen bot sich nun den Zeugen Jehovas aus der DDR die Möglichkeit, an den Kongressen in Polen teilzunehmen. Diese Gefahren erkannte das MfS auch sofort : Die Verhinderung derartiger Kongressbesuche wurde schon bald eine der Hauptaufgaben des MfS, vermutete die HA XX /4 dahinter doch „Pläne der Feindzentrale der Z.J.“, das internationale öffentliche Interesse zu wecken.705 Deshalb wurden den Volkspolizeikreisämtern Listen von namentlich bekannten Zeugen Jehovas mit der Maßgabe übergeben, ihnen die Ausreise in das östliche Nachbarland zu verweigern.706 Schon ausgestellte Reisegenehmigungen sollten widerrufen, ausgewählten Funktionären gar die Personalausweise eingezogen werden.707 Das Ziel, den Besuch von Kongressen zu verhindern, überschritt jedoch die Möglichkeiten des MfS : Im Sommer 1989 besuchten allein 150 Gläubige aus dem Bezirk Karl Marx - Stadt die internationalen Kongresse der Zeugen Jehovas in Polen.708 Das MfS wusste um die enthusiasmierende Wirkung der Veranstaltungen für die

704 MfS, HA XX /4, Politische Konzeptionen der „Wachtturm - , Bibel - und Traktat - Gesellschaft“ ( WTG ), USA, für die gegenwärtige internationale Aktivität der „Zeugen Jehovas“ ( ZJ ) von Dezember 1978 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 215–226). 705 Vgl. Operative Information der HA XX /4 vom 10. 1. 1989 über die Verhinderung der Teilnahme von DDR - Bürgern an Kongressen der „Zeugen Jehovas“ 1989 in der VR Polen ( BStU, Ast. Chemnitz, XX – 599, Bl. 3 f., hier 3). 706 Vgl. Rundschreiben BV Schwerin an alle KD vom 11. 4. 1989. Abgedruckt in Besier / Wolf ( Hg.), Pfarrer, Christen, Katholiken, S. 796–807, hier 800 ( Dok. 177). 707 Operative Information der HA XX /4 vom 10. 1. 1989 über die Verhinderung der Teilnahme von DDR - Bürgern an Kongressen der „Zeugen Jehovas“ 1989 in der VR Polen ( BStU, Ast. Chemnitz, XX – 599, Bl. 3 f., hier 4). Rechtliche Grundlage für den ablehnenden Bescheid war der § 14 Absatz 1g der Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland ( unwahre Angaben im Antragsverfahren ), GBl. der DDR I 1988, S. 271. 708 Vgl. Aktennotiz der Abt. XX der BV Karl - Marx - Stadt vom 1. 8. 1989 ( BStU, Ast. Chemnitz, XX – 599, Bl. 99).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

Angehörigen der Glaubensgemeinschaft709 und konnte dennoch nicht mehr in ausreichendem Maße gegensteuern.

4.3

Verhinderung von „Öffentlichwirksamkeit“

Spätestens mit der endgültigen Verlagerung der Repression auf zersetzende Maßnahmen sowie Ordnungsstrafverfahren stand das Ministerium für Staatssicherheit vor der Notwendigkeit, die Behandlung des Problems „Zeugen Jehovas“ auf breitere Schultern zu legen. Dies betraf einerseits die operative Arbeit selbst, denn „insbesondere dort, wo die inoffiziellen Kräfte des MfS nicht ausreichen bzw. nicht den Anforderungen entsprechen, sind die Möglichkeiten des Zusammenwirkens mit der DVP [ Deutsche Volkspolizei ], dem VPKA [ Volkspolizei - Kreisamt ] und den Abschnittsbevollmächtigten, einschließlich zuverlässiger freiwilliger Helfer, sowie mit gesellschaftlichen Kräften, wie Mitgliedern der SED und anderen zuverlässigen Personen, vor allem Hausfrauen und Rentner, zu prüfen“. Diese müssten aber durch den operativen Mitarbeiter angeleitet und zur Lösung der Aufgabe befähigt werden.710 Andererseits lag es auch nahe, bestimmte, seit den 1970er Jahren „entdeckte“ und stärker betonte Kritikpunkte – an Spionage und Kriegshetze glaubten selbst die treuesten Genossen nicht mehr –, wie die Ablehnung von Bluttransfusionen, die „Verbreitung von Wissenschaftsfeindlichkeit und Aberglauben“ sowie von „Existenzangst kapitalistischen Ursprungs“ in der Öffentlichkeit zu verwenden. Auch die „Behinderung höherer Schulbildung“ – erinnert sei an die Anstrengungen des SED - Staates, Zeugen Jehovas die Berufsausbildung zu verweigern, wenn sie die vormilitärische Ausbildung ablehnten711 – sollte thematisiert werden. Denn, so glaubte beispielsweise der seit 1979 als neuer Herausgeber der Zeitschrift „Christliche Verantwortung“ fungierende Werner Struck – alias IME ( IM im besonderen Einsatz) „Rolf“, alias „Henry Werner“ ( so sein Herausgeberpseudonym ) – es sei „notwendig, die ZJ - Problematik aus dem gesellschaftlichen Tabu herauszunehmen. Die Gefährlichkeit dieser Sekte müsse dargestellt werden. Dies würde die effektive Auseinandersetzung mit den ZJ nachdrücklich befördern“.712 Diese Sichtweise war nicht neu. Schon 1961 kritisierte die Bezirksleitung der SED Karl - Marx - Stadt die einseitig konspirative Bearbeitung der Zeu709 Vgl. MfS, HA XX /4, Operative Information über eine neue Taktik der amerikanischen Hauptleitung der Organisation „Zeugen Jehova“ gegenüber der DDR vom 30. 12. 1986 (BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 173–190). 710 Major Gerfried Wenzlawski / Major H. - Jochen Kleinow, Aufgaben der Kreisdienststellen zur Aufdeckung der subversiven Tätigkeit der Funktionäre der WTG mit dem Ziel ihrer Einschränkung und der Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge [ Diplomarbeit ]. In Auszügen abgedruckt in URL : http ://www.manfred - gebhard.onlinehome.de / KleinowWenzlawski.pdf (28. 7. 2004). 711 Vgl. auch Hirch, Die wissenschaftliche Darstellung der „Zersetzung“, S. 29. 712 Staatssekretariat für Kirchenfragen, Vermerk von E. Stephan vom 30. 9.1989 über ein Gespräch mit Dieter Pape und Henry Werner ( CV ) ( BArch, DO 4, 1173, unpaginiert ).

Auflösung

361

gen Jehovas. Nach Meinung des Berichterstatters hätte so „ein noch größerer und zwar von außen erfolgreicher Einbruch in diese Sekte erzielt werden können, wenn sie stärker individuell betreut und wenn mit ihnen persönlich mehr gesprochen würde“.713 Aus Sicht des MfS verbot sich jedoch eine solche „Popularisierung“ der Abwehrarbeit. Das Ministerium schätzte richtig ein, dass die Religionsgemeinschaft „in der Regel in der Öffentlichkeit der DDR als solche nicht bekannt“ war. Dies betraf auch das Verbot aus dem Jahre 1950. Jede öffentliche Behandlung des Themas könnte dann aber „zum unbeabsichtigten Interesse der Bevölkerung führen“ und dies käme „der Erreichung der Zielstellung der [ Wachtturm- Gesellschaft ] sogar gleich“.714 Zudem war den nicht dem abgeschlossenen Zirkel des MfS zugehörigen Genossen die Aufrechterhaltung des Verbotes nach den hergebrachten Begründungen nicht mehr zu vermitteln. Das Feindbild „Zeugen Jehovas“ entstammte noch der Zeit des „Kalten Bürgerkrieges“. Dieses Relikt aus Zeiten des offenen Terrors zur Diktaturdurchsetzung erinnerte an die eigene stalinistische Vergangenheit und diese sollte – zumindest in der Öffentlichkeit – ausgespart bleiben.715 Für die „Tschekisten“ stand im Interesse ihres eigenen Apparates wie auch der Vorgaben durch die SED fest, „gegen eine Organisation, die offiziell nicht besteht, kann nicht offiziell vorgegangen werden“.716 Angesichts der kumulierenden Systemdefizite der SED - Politik in den 1980er Jahren war es Aufgabe des MfS, den Status quo zu verteidigen und den Schein von Normalität aufrechtzuerhalten.717 Durch immer mehr Überwachung galt es zu verhindern, dass „feindlich - negatives Gedankengut“ öffentlich artikuliert wurde. Oberste Direktive allen Handelns war damit die Verhinderung von „Öffentlichwirksamkeit“.718 Den „Schein der Normalität“ torpedierten die Zeugen Jehovas nach Meinung des MfS nicht nur durch ihr „konfrontatives Auftreten“, wie öffentliche Werbung, die im Laufe der 1980er Jahre immer größer werdenden Zusammenkünfte, das Einlegen von Rechtsmitteln gegen Ordnungsstrafen und nicht zuletzt durch die Informationsweitergabe an die westdeutsche

713 SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt, Einschätzung der Wahlbeteiligung und Meinung der religiös gebundenen Bevölkerung im Bezirk Karl - Marx - Stadt, o. D. (1961) (BArch SAPMO, DY 30/ IV 2/14/22, Bl. 132–139, hier 138). 714 Oberleutnant Alexander Koepke, Erfahrungen zur Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung bei der Bearbeitung Operativer Vorgänge, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–735/80, S. 8). 715 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 303 f. 716 Oberleutnant Alexander Koepke, Erfahrungen zur Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung bei der Bearbeitung Operativer Vorgänge, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–735/80, S. 6). 717 Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 375. 718 MfS, BV Erfurt, Abt. XX /4, Ergänzung der „Konzeption zur zielgerichteten und langfristigen Verunsicherung und nachhaltigen Disziplinierung der im Verantwortungsbereich der BV Erfurt wirksam werdenden Funktionäre der verbotenen Organisation ‚Zeugen Jehova‘“ vom 5. 6. 1986 ( BStU, HA XX /4, 668, Bl. 1–5, hier 1 f.).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

Zentrale der Religionsgemeinschaft.719 Auch „demonstrative Handlungen“ wie die Wehrdienstver weigerung, die Nichtteilnahme an Wahlen, die Ablehnung politisch vorgegebener Solidaritätsleistungen oder die Nichtunterzeichnung von „Friedensappellen“ spalteten angeblich die „Einheit von Partei und Bevölkerung“. Sie zerstörten den Schein der Loyalität in der Bevölkerung und waren damit geeignet, „vom Gegner für seine Angriffe gegen die DDR bewusst genutzt [ zu ] werden und für die Inspirierung für weitere [ sic !] negativ - feindliche Aktivitäten Anwendung [ zu ] finden“.720 Wenn aber verhindert werden sollte, dass die Existenz der Glaubensgemeinschaft öffentlich wird, dann galt das auch für die Arbeit des MfS. Die „Verhinderung der Öffentlichkeitswirksamkeit“ bedeutete nun auch, dass Maßnahmen des MfS nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürften. Während sich also die „Tschekisten“ in Übereinstimmung mit der Parteiführung – angesichts der zunehmenden Insuffizienz des eigenen Staates richtigerweise – stärker denn je von äußeren und inneren Feinden bedroht fühlten,721 konnten sie die zur Abwehr notwendigen Mittel nicht mehr einsetzen : Auch dies wäre „öffentlichwirksam“ gewesen.

4.4

Westlicher Druck

In einer Zeit wachsender ökonomischer und innenpolitischer Probleme schien es für die DDR - Führung, insbesondere für Erich Honecker, wichtig, die Beziehungen zu den USA zu normalisieren. Auch der Wunsch Honeckers, seine politische Karriere mit einem Empfang in Washington zu krönen, dürfte eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Die politischen Beziehungen der DDR zu den USA waren wegen Differenzen in Menschenrechts - und Vermögensfragen getrübt. Eine Folge war die Nicht - Gewährung der Meistbegünstigungsklausel durch die US - Regierung.722 Sie zu erhalten, wurde für die DDR in den achtziger Jahren aus ökonomischen, aber auch aus Prestige - Gründen wichtig. Um für diese Pläne eine Lobby in den USA zu erhalten, war die SED sogar bereit, auf dem Gebiet der Kirchenpolitik gravierende Zugeständnisse zu machen. Zwei Religionsgemeinschaften unterstellte die SED - Führung – faktisch in Umkehrung ihrer intern gepflegten Verschwörungstheorien – besonderen Einfluss auf die US - Administration : der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letz-

719 Vgl. MfS, BV Magdeburg, Abt. XX /4, Bericht über eine Aussprache mit einem Funktionär am 10. 4. 1987 vom 18. 4. 1987 ( ebd., Bl. 267). 720 Oberleutnant Gerhard Kownatzki, Die Zersetzung der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas“ im Kreisgebiet durch Zurückdrängung und Einschränkung des Einflusses der Funktionäre der Organisation auf die Mitglieder der WTG. Schlussfolgerungen für die systematische und zielgerichtete Zersetzung der Organisation „Zeugen Jehova“, Fachschularbeit 1979 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–998/79, S. 6). 721 Vgl. Raschka, Justizpolitik im SED - Staat, S. 301. 722 Vgl. Gaida, USA - DDR, S. 383–397; Große, Amerikapolitik und Amerikabild der DDR.

Auflösung

363

ten Tage, den Mormonen,723 sowie den jüdischen Verbänden. Die Mormonen durften in Freiberg in Sachsen den einzigen Tempel im Ostblock bauen, was für diese auf Tempeldienst ausgerichtete Glaubensgemeinschaft ungemein wichtig war. Nachdem sich Honecker 1988 auch mit dem „2. Ratgeber der Ersten Präsidentschaft“ der Mormonen, Thomas S. Manson, traf,724 waren plötzlich überraschende Durchbrüche möglich : Es erhielten nicht nur Missionare der Gemeinschaft aus den USA und der Bundesrepublik Einreisevisa in die DDR, es war nun auch möglich, dass ( ausgewählte ) Jugendliche für zwei Jahre Missionsarbeit im nichtsozialistischen Ausland leisten durften.725 Dies war möglich, weil die Mormonen in den Augen der Genossen „in den höchsten Regierungsämtern der USA tätig“ waren.726 Nach jahrzehntelanger stiefmütterlicher Behandlung der wenigen Juden in der DDR durch den „antifaschistischen“ deutschen Staat waren auch hier auf einmal spektakuläre Verbesserungen möglich. Neben den verschiedenen Treffen mit ausländischen jüdischen Vertretern wie dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, dem Präsidenten der „Jewish Claims Conference“, Israel Miller, oder dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Miles Bronfman, und dem Beginn des Baues am „Centrum Judaicum“ in Ostberlin, erregte besonders die Berufung eines Amerikaners als Rabbiner für die ostdeutschen jüdischen Gemeinden Aufsehen. Die Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED sprach sich aus politischen Gründen für einen Rabbiner aus Ungarn aus. Doch die positive Resonanz der jüdisch amerikanischen Öffentlichkeit war in diesem Fall wichtiger als politische Bedenken der eigenen Genossen.727 Der Vorschlag wurde vom damaligen Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, mit folgenden – in ihrer Offenheit entlarvenden – Worten an Honecker herangetragen : „Im Hinblick auf die Lage und Bedürfnisse unserer jüdischen Gemeinden in Berücksichtigung des Einflusses des Kongressmannes Lehman und des AJC ( Amerikanisches Jüdisches Komitee) in den USA und auch mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten und Auswirkungen einer Verweigerung bitte ich um die Bestätigung zur Anstellung eines 723 Zuletzt zum Thema Kuehne (Hg.), Mormonen und Staatsbürger. 724 Vgl. Gesprächsvermerk über die Begegnung des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, mit Präsident Manson (Generalautorität und 2. Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft der Kirche Jesu der Heiligen der letzten Tage ) und weiteren in - und ausländischen Persönlichkeiten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage am 28. 10. 1988 im Staatsrat ( BArch, DO 4, 1114, Bl. 14–18). Vgl. auch Hacke, Die Zeugen Jehovas, S. 96. 725 Vgl. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Information an Staatssekretär Kurt Löff ler vom 22. 3. 1989, Stand der Realisierung der Bitten der Mormonen auf der Grundlage der Zusage des Genossen Erich Honeckers bei dem Gespräch mit der internationalen Kirchenleitung am 26. 10. 1988 ( BArch, DO 4, 987, Bl. 40 f.). 726 ZK der SED, Arbeitsgruppe Kirchenfragen, Information über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage ( Mormonen ) vom 24. 8. 1988 ( BArch, DO 4, 1114, Bl. 11– 13). 727 Vgl. Offenberg, „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“, S. 208–234; zur Berufung des neuen Rabbiners Isaac Neumann vgl. ebd., S. 213–222.

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

jüdischen Rabbiners amerikanischer Staatsbürgerschaft. Außerdem haben wir keine bessere Option und eine Lobby in den USA brauchen wir auch.“728 Nach verschiedenen Vorstößen der US - Diplomatie war die DDR sogar zur schrittweisen Rücknahme des Betätigungsverbotes der Religionsgemeinschaft „Christliche Wissenschaft“ ( Christian Science ) bereit. Diese war 1951 im Zuge der damals angedachten „Generalbereinigung“ der religiösen Landschaft wegen der angeblichen Zuwiderhandlung gegen das Heilpraktikergesetz von 1939 verboten. Nach einem Vorstoß der damaligen Botschafterin der USA in der DDR, Rozanne Ridgway, – selber Mitglied bei Christian Science – im Jahre 1984, wurde namentlich aufgeführten Personen gestattet, die notwendige Literatur für den persönlichen Gebrauch einzuführen. Dies betraf ungefähr 800 Anhänger der Gemeinschaft. Seit Anfang 1989 wurden im Staatssekretariat für Kirchenfragen inoffizielle Gespräche mit Vertretern der Mutterkirche in Boston geführt. Da nach Meinung des Staatssekretärs zum einen angesichts „der Zahl der Anhänger der [ Christlichen Wissenschaft ] in der DDR von ca. 1 000 Gläubigen der jetzige Zustand der Duldung und Teillegalisierung nicht auf Dauer aufrechterhalten werden kann“, zum anderen aber auch „die Gründe, die 1951 zur Streichung der [ Christlichen Wissenschaft ] angeführt wurden, heute nicht mehr als zutreffend gesehen werden“, schlug Löff ler vor, die Gemeinschaft bis Anfang 1990 zuzulassen.729 Auch dieses Entgegenkommen „wäre [...] von beträchtlicher außenpolitischer Bedeutung und sollte insbesondere in den USA, wo die [ Christliche Wissenschaft ] auch eine bestimmte Lobby in der US - amerikanischen Administration hat, für die außenpolitische Propaganda genutzt werden“.730 Von den Vertretern der USA wurde auch die Frage der Zeugen Jehovas angesprochen. So berichtete der damalige Staatsekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, 1983 über einen Vorstoß des Chefs der Abteilung deutschsprachige Staaten im State Department, John Kornblum, später Botschafter im vereinigten Deutschland. Auch US - Botschafterin Rozanne Ridgway im Jahre 1984 und der Leiter der politischen Abteilung der US - Botschaft, Clark, im Jahre 1986 sprachen bei Vertretern des Auswärtigen Amtes der DDR vor, inwieweit das Verbot der Zeugen Jehovas aufgehoben werden könnte. Alle diese Konsultationen wurden brüsk abgewiesen : Das Verbot erfolge nicht auf Grund religiöser Belange, „sondern wegen der Ablehnung der Anerkennung jeder staatlichen Gesetzlichkeit“. Zudem bestehe in der DDR für jeden Bürger die Möglichkeit, „nach seinem Glauben [ zu ] leben“. Dies betreffe „auch die Zeugen Jehovas – soweit es ihre religiösen Vorstellungen angeht. Sie haben aber nicht das Recht oder die Möglichkeit, sich zu organisieren.“ Da das Verbot zudem durch das Oberste 728 Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, an Erich Honecker, 15. 6. 1987 ( BArch, DO 4, 998, unpaginiert ). 729 Kurt Löff ler an Werner Jarowinsky, Sekretär des ZK der SED und Mitglied des Politbüros der SED, Information über die Aktivitäten der Anhänger der Christlichen Wissenschaft zu ihrer Wiederzulassung als Religionsgemeinschaft in der DDR vom 10. 5. 1989 (BArch, DO 4, 999, unpaginiert ). 730 Ebd.

Auflösung

365

Gericht der DDR rechtskräftig geworden sei, sei dies Sache des Obersten Gerichts und nicht die des Staatssekretärs für Kirchenfragen.731

4.5

Starres Festhalten am Verbot

Ein Grund für das bis zum Zusammenbruch des SED - Regimes andauernde Verbot war das „strikt neutrale“ Verhalten der Zeugen Jehovas, „die als Gruppe bis zum Ende der DDR bezüglich ihrer biblisch begründeten Ansichten und Verhaltensweisen keine Kompromisse machten“. Darin hat Hans - Hermann Dirksen recht.732 Sicher waren sie mit der ihnen typischen Verquickung von Lebens- und Glaubenswelt weitaus kompromissloser als andere Christen. Die Tätigkeit der Zeugen Jehovas wurde daher vom MfS auch als „Förderung und Erhaltung sog[enannter ] ‚Randgruppen‘ der Gesellschaft“ angeprangert. Sie „bedingt immer wieder eine bestimmte Art ‚Untergrundtätigkeit‘, da zu Staat und Gesellschaft nur eine ‚bedingte Loyalität‘ propagiert wird, deren Bedingungen durch eine ausländische, westliche, bürgerliche, hier US - amerikanische imperialistisch und antikommunistisch ausgerichtete Organisation ( die WTG ) diktiert werden“.733 Diese „bedingte Loyalität“ war ein wichtiger, aber nicht der einzige Grund für das strikte Festhalten am Verbot. Als die Strategie des MfS gegenüber der verbotenen Glaubensgemeinschaft aus West und Ost unter Druck geriet, machten dessen Mitarbeiter deutlich, was eine Änderung des Vorgehens in ihren Augen bewirken würde : Die von verschiedenen Funktionären der Zeugen Jehovas in Gesprächen mit den ostdeutschen Behörden als unverzichtbare Elemente ihres Glaubensleben genannten Punkte – unbehinderte öffentliche Betätigung, die Möglichkeit zur Erwerbung von Eigentum, die uneingeschränkte Verbreitung von Publikationen, das Recht auf Wehrdienstverweigerung und Wahlabstinenz – bedeuteten in den Augen des MfS „die völlige Kapitulation der sozialistischen Staatsorgane“. Die Annullierung der staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Verbote komme einer Anerkennung der Unrechtmäßigkeit aller bisherigen Zwangsmaßnahmen gleich und heiße zudem, „anzuerkennen, dass die Tätigkeit der ZJ in der Vergangenheit wie in der Gegenwart auf verfassungsmässiger Grundlage erfolgte und erfolgt“. Desgleichen bedeute die Unbeschränktheit hinsichtlich der Tätigkeit die „Einrichtung unkontrollierbarer amerikanischer Stützpunkte mit den dazugehörigen materiellen und personellen Voraussetzungen, die hinsichtlich 731 Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, an den stellvertretenden Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Kurt Nier, vom 23. 6. 1986 ( BArch, DO 4, 4902, unpaginiert). 732 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 857. 733 MfS, HA XX /4, Das Feindbild der „Zeugen Jehovas“. Nachweis der gesellschafts - , verfassungs - , staats - und parteifeindlichen bibel - und glaubensmissbräuchlichen Aktivität der „Zeugen Jehovas“ unter Leitung der US - amerikanischen „Wachtturm - , Bibel - und Traktat - Gesellschaft“ in der DDR ( Entwurf ) von März 1987 ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 37–39, hier 39).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

Unantastbarkeit und Anerkennung dem Status ausländischer Vertretungen gleichkommen“.734 Diese Aussage entlarvt das tschekistische Denken nicht nur als striktes Festhalten an einmal getroffenen Richtlinien, weil Zugeständnisse an Systemkritiker dem Gegner in die Hände spielen und zu einer Verstärkung von dessen Arbeit führen würden, sondern als ein rigoros antireformerisches Denken. Sie verdeutlicht auch, dass „kraft militärischer Dienstverfassung, Generationensymbiose, Vermittlung unmittelbarer Apparatinteressen und ideologisch ‚richtiger‘ Vermittlung praktischer Tätigkeit [...] der ‚Kalte Bürgerkrieg‘ als Daseinsform und -berechtigung“735 bis zuletzt prägendes Merkmal der Theorie und Praxis des MfS blieb. Nachdem seit den 1970er Jahren trotz allen Ausbaus des Überwachungsstaates der Spielraum der ostdeutschen Geheimpolizei immer enger geworden war, hätte aber ein Hinterfragen der aus der Zeit des stalinistischen Terrors stammenden Feindbilder auch die „entscheidende Legitimation für die Existenz, den Umfang und die Wirkungsbreite der Staatssicherheit“736 gefährdet. In Auswertung ihrer Erfahrung mit den Entwicklungen in Polen begannen die Zentralen der Zeugen Jehovas in Brooklyn und Selters ab Mitte der 1980er Jahre, sich Gedanken über die Modalitäten einer Legalisierung der Religionsgemeinschaft in der DDR zu machen. Dies taten sie einerseits, weil sie nach den Erfahrungen im übrigen Ostmitteleuropa, auch in der DDR eine gewisse Normalisierung anstrebten, andererseits waren auch die Erwartungen innerhalb der ostdeutschen Versammlungen gewachsen. Schon 1979 berichtete die Kreisdienststelle Dresden des MfS von der Hoffnung einiger Zeugen Jehovas, dass es ebenso wie in Polen möglich wäre, eine Delegation zu den zuständigen Behörden zu senden, wenn die staatlichen Stellen „einigermaßen günstig darauf reagieren würden“.737 Obwohl das dem Zweigbüro in Selters angeschlossene Ostbüro vor zu hohen Erwartungen warnte, keimten während der achtziger Jahre immer wieder Hoffnungen auf eine Tolerierung oder gar eine Legalisierung der Religionsgemeinschaft auf. Auch in Polen gaben die Behörden lange Zeit ihre Versuche einer Instrumentalisierung der Zeugen Jehovas gegen die katholische Kirche und die Streikbewegung – an der sich die Gläubigen, wie an allen politischen Veranstaltungen nicht beteiligten – nicht auf. Noch immer war keine juristische Regelung erreicht, weiterhin waren Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung in Haft. Daher

734 Politische Konzeptionen der Wachtturm - , Bibel - und Traktat - Gesellschaft ( WTG ), USA, für die gegenwärtige internationale Aktivität der „Zeugen Jehovas“ ( ZJ ) von Dezember 1978 ( BStU, ZA, HA XX /4, 83, Bl. 215–226, hier 225 f.). 735 Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 292. 736 Ebd., S. 462. 737 Information der KD Dresden, Referat XX /4, vom 9. 7. 1979 ( BStU, Ast. Dresden, KD Dresden 91016, Bl. 32 f.).

Auflösung

367

fasste die Leitung den Beschluss, in der DDR „zweigleisig zu fahren“.738 Nach außen sollte eine Körperschaft aufgebaut werden, die als Gesprächspartner für den Staat fungierte. In den Augen der Zeugen Jehovas bestand nach wie vor die Gefahr, dass die Geheimpolizei bei Verhandlungen die mögliche Offenlegung des klandestinen Apparates zur Zerschlagung desselben nutzen könnte. Für das MfS war dies natürlich „ein heimtückisches Manöver zur Täuschung des Staates“.739 Diese Vorsicht war nicht unberechtigt. Die MfS - Mitarbeiter hatten ihre Pläne zur Etablierung einer von ihnen kontrollierten Religionsgemeinschaft noch immer nicht aufgegeben. Nach wie vor konnte „nicht eine teilweise oder vollständige Legalisierung der in der DDR verbotenen Organisation“ Gesprächsgegenstand sein, sondern „die Schaffung von Voraussetzung für alle [ Zeugen Jehovas ] in der DDR, ihre Religion [...] innerhalb einer eigenständigen Religionsgemeinschaft ( Vereinigung ) auszuüben“.740 Durch regelmäßige „Vorbeugegespräche“ wollten die MfS - Mitarbeiter einen „stabilen Personenkreis“ auswählen, „der bereit ist, selbständig einen eigenen Weg zu gehen und ihr Verhältnis zu unserem Staat auf verfassungsmäßiger Grundlage zu ordnen“. Bei möglichen Gesprächen mit den westlichen Leitungen sollte die Beteiligung dieser MfS gelenkten Funktionäre gefordert werden.741 Wie die Beispiele der „Vereinigung freistehender Christen“ oder des „Bundes freistehender Christengemeinden“ gezeigt hatten, ging es den „Tschekisten“ dabei nicht um eine wirklich freie Glaubensausübung. Es war ihnen bewusst, dass derartige Gründungen nicht überlebensfähig sein konnten und auch nicht sollten. Jetzt, inmitten der Agonie eines erstarrten Systems, schien sich doch noch die Chance auf Realisierung der perfiden Pläne zu ergeben. Noch immer versuchte das MfS bei „Vorbeugegesprächen“ mit Funktionären der Zeugen Jehovas deren Bereitwilligkeit zu „Verhandlungen“ zu testen, um so einen Keil zwischen die ostdeutschen Gläubigen und die westliche Leitung zu treiben. So fragte ein operativer Mitarbeiter in Erfurt einen Funktionär der Gemeinschaft scheinheilig, „warum zum Beispiel er nicht einmal den Versuch einer Zulassung als Religionsgemeinschaft“ unternähme. Der Angesprochene hielt sich jedoch an die aus Selters überbrachte Richtlinie, nach der auf derartige „Angebote“ keine Antworten gegeben und auch keine Verhandlungen über die Klärung der Legalisierung aufgenommen werden dürf-

738 MfS, HA XX /4, Operative Information über Pläne, Absichten und Aktivitäten der Feindzentrale der Organisation „Zeugen Jehova“ ( ZJ ) gegen die DDR vom 19. 8. 1986 ( BStU, ZA, HA XX /4, 915, Bl. 112–118, hier 114 f.). 739 MfS, HA XX /4, Operative Information über eine neue Taktik der amerikanischen Hauptleitung der Organisation „Zeugen Jehova“ gegenüber der DDR vom 30. 12. 1986 (BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 173–190, hier 174 f.). 740 MfS, HA XX /4, Allgemeine Einschätzung der Zeugen Jehovas in der DDR ohne Titel, o. D. (1986) ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 73–84, hier 83). 741 MfS, HA XX /4, Operative Information über eine neue Taktik der amerikanischen Hauptleitung der Organisation „Zeugen Jehova“ gegenüber der DDR vom 30. 12. 1986 (BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 173–190, hier 188).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

ten.742 Nach Meinung des Ostbüros waren die „verfassungsmäßigen Voraussetzungen dafür“ noch nicht gegeben. Das MfS betrachtete diese Pläne – die zur Abwehr der „Legalisierungsbemühungen“ des Ministeriums wie auch die zur wirklichen Legalisierung – „als politischen Missbrauch der Religion und Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ durch einen „amerikanischen Medienkonzern“, der zudem in die „imperialistische, politisch - ideologische Diversion gegen die sozialistische Staatengemeinschaft“ eingeordnet sei.743 Da als mögliche Vermittler für die Hauptleitung in der Bundesrepublik nur die Funktionäre der sogenannten 2. Front (d. h. des nach außen auftretenden Armes der Organisation ) in Frage kamen und diese Vermittlung allein durch die Ausreise möglich war, galt es für das MfS, eben diese Ausreise zu verhindern. Außerdem sollen die ins Auge Gefassten beruf lich so gebunden werden, dass eine hauptamtliche Tätigkeit unmöglich war.744 Damit jedoch stieß das MfS wieder einmal an seine Grenzen. Die Namen der „2. Front“ waren nicht bekannt, wie auch die Geheimpolizei die völlige Kontrolle über die illegale Organisation verloren zu haben schien. Zwar war sie durch ihre Spitzen - IM „Hans Voss“ und „Albert“ über alle wichtigen Veränderungen in Organisation und Lehre informiert, doch ein MfS - Bericht aus dem Jahre 1987 vermeldete, dass von den Spitzenfunktionären nur noch wenige identifiziert seien. Sechs würden überhaupt nicht bearbeitet. Bei den Kreisdienern gab es „keine vollständige Übersicht“ oder man wisse nicht, ob die Betreffenden diese Funktion überhaupt ausübten. Auch über die Gebietsdiener und die örtlichen Funktionäre lagen keine ausreichenden Informationen vor, so dass auch einfache Gläubige ohne Funktion observiert und bearbeitet wurden.745 Das MfS konnte auf Grund seiner inneren Verfassung gar nicht anders, als in den Reformen im Ostblock allgemein, wie auch in den Versuchen der Zeugen Jehovas, die Verhältnisse zu den einzelnen Regierungen zu normalisieren, eine Globalstrategie des US - amerikanischen Imperialismus zu sehen. Das Verhalten der Zeugen Jehovas galt in den Augen des MfS als mit dem „USA - Außenministerium abgestimmt und [...] Teil der USA - Außenpolitik“.746 Nachdem sich die SED 40 Jahre an das sowjetische Modell geklammert hatte, wandte sie sich ausgerechnet dann von der Politik der KPdSU ab, als im Zen-

742 MfS, BV Erfurt, Abt. XX /4, Bericht über das zweite Vorbeugegespräch mit dem ZJ Funktionär [...] vom 29. 4. 1987 ( BStU, ZA, HA XX /4, 668, Bl. 294–296). 743 MfS, HA XX /4, Allgemeine Einschätzung der Zeugen Jehovas in der DDR ohne Titel, o. D. (1986) ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 73–84, hier 83). 744 MfS, HA XX /4, Operativ - Information über eine streng geheime Beratung der Spitzenfunktionäre der Organisation „Zeugen Jehova“ ( ZJ ) am 1./2. 5. 1987 in der DDR vom 10. 6. 1987 ( BStU, ZA, HA XX /4, 951, Bl. 249–254, hier 253 f.). 745 Vgl. MfS, HA XX /4, Ergebnisse der OV / OPK - Arbeit auf der Linie ZJ in den Bezirken im Berichtszeitraum 1986/87 vom 15. 10. 1987. Zit. in Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, S. 152. 746 MfS, HA XX /4, Allgemeine Einschätzung der Zeugen Jehovas in der DDR ohne Titel, o. D. (1986) ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 73–84, hier 83).

Auflösung

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rum der kommunistischen Bewegung reformerische Ideen sprossen.747 Und so verwundert es auch nicht, dass im selben Maße, wie sich die SED von den Reformen abschottete, sich auch die Politik gegenüber den Zeugen Jehovas von der der Nachbarstaaten distanzierte. Während also beispielsweise in Polen oder Ungarn – sei es, weil man gewichtigere Probleme hatte, oder aber aus wirklich liberaler Gesinnung – versucht wurde, das Verhältnis zu den Zeugen Jehovas auf eine neue Grundlage zu stellen, hielt das MfS stur an der einmal vorgegebenen Linie fest. Die Mitarbeiter der kirchenpolitischen Abteilung des MfS wussten wohl, dass eine Änderung des Verhältnisses zu den Zeugen Jehovas nicht der Dammbruch wäre, der den realexistierenden Sozialismus in seinen Grundfesten erschütterte. Nach all den Jahren offen stalinistischen Terrors gegen die Gläubigen, nach den Jahrzehnten „stillen“ – deswegen aber nicht minder harten – Terrors musste eine Legalisierung der Zeugen Jehovas aber richtigerweise Ausdruck eines Denkens sein, das die realsozialistisch verpackten Reste des Stalinismus wirklich hinter sich gelassen hätte. Es wäre – auch Angesichts der besonderen Öffentlichkeitsarbeit der an sich kleinen Religionsgemeinschaft – ein beachtenswertes Zeichen für ein „Neues Denken“ gewesen. Daher wurde Ende der 1970er, vor allem aber in den 1980er Jahren in den verschiedensten Berichten, Informationen, Gutachten, „wissenschaftlichen“ Arbeiten der Juristischen Hochschule des MfS oder Dokumentationen die Gefährlichkeit der Zeugen Jehovas perhorresziert. Die schiere Quantität lässt die Vermutung aufkommen, dass mögliche Adressaten – falls die Autoren nicht für den Papierkorb gearbeitet haben – geradezu vor den Folgen einer Legalisierung gewarnt werden sollten. Die MfS-geführte Studiengruppe „Christliche Verantwortung“ vermeldete beispielsweise, dass es Kindern von Zeugen Jehovas nicht gestattet sei, sich „an der Ausgestaltung und Begehung gesellschaftspolitischer Anlässe aktiv zu beteiligen, wie Tag des Kindes, 1. Mai, Tag der Republik, Friedenskampf, Tag der Volkspolizei, Tag der Volksarmee, Tag der Befreiung, Deutsch - Sowjetische Freundschaft, Würdigungen von Vertretungen von Parteien und Regierung, sie dürfen keine patriotischen Lieder ( Lieder des Friedenskampfes inbegriffen ) mitsingen, keine entsprechenden Demonstrationen mitmachen ( keine Fähnchen tragen ), keine entsprechenden Gedichte lernen bzw. aufsagen“. Noch gefährlicher aber war, dass diese Kinder dazu ermutigt wurden, „sich diesbezüglichen Weisungen des Erziehungspersonals zu widersetzen, ihnen zu widersprechen, ihre elterlich anerzogenen Verhaltensweisen zu verteidigen ( unter Berufung auf ihre Eltern ) und auch unter den Kindern darüber zu sprechen“.748 Eine „Dokumentation“ über die Verfassungsmäßigkeit des „religiös - politischen Inhaltes“ des Wirkens der Zeugen Jehovas unterstellte der Gemeinschaft eine Bibeldeutung, „die in ihren gesellschaftspolitischen Aspekten und Auswir747 Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 303. 748 CV Berlin, Nachweis zur Kinder - und Jugenderziehung ( Familienerziehung ) durch die religiöse Organisation der „Zeugen Jehovas“ ( ZJ ) von Juli 1987, ( BStU, ZA, HA XX/4, 79, Bl. 95–106, hier 96 f.).

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kungen destruktiv ist, antidemokratisch ( wahlfeindlich ), sozialpolitisch negativ, wehrdienstfeindlich, antikommunistisch und antisowjetisch [ und eine ] speziellen imperialistischen Zwecken unter den Gläubigen dienend[ e ]“. Diese „speziellen Zwecke“ wurden zwar nicht näher erläutert, das Papier zählte aber nicht weniger als elf Verfassungsartikel auf, gegen die die Zeugen Jehovas verstoßen würden.749 Und um auch die letzten Zweifel an der Gefährlichkeit auszuräumen, verwies der ungenannte Autor darauf, dass von der „ZJ - Organisation [...] keine Widerrufe oder Zurücknahmen des betriebenen Antikommunismus bekannt [ seien ]. Es gab nur zeitweilige Zurückhaltungen, die sich nur als taktisches Verhalten erwiesen. Die diesbezügliche verfassungswidrige antidemokratische und antikommunistische Grundhaltung [ gelte ] bisher unverändert“.750 Diese Feindschaft gegen eine sozialistische Verfassung war auch nicht weiter verwunderlich, waren die Zeugen Jehovas in den Augen eines besonders fantasiereichen Autors, eine der radikalsten religiösen Minderheiten oder Randgruppen mit einer langen Tradition insbesondere darin, Christen zu unversöhnlichen Feinden des Kommunismus zu machen. Generell könne man sagen, dass die Zeugen Jehovas eine der brauchbarsten Minderheiten seien, die Menschen anzusprechen, die allen kirchlichen bzw. gesellschaftlichen Halt verloren haben, weil sie Opfer der laufenden Krisen sind und die nun zu Systemveränderungen neigen, vielleicht sogar zu revolutionären „Weltverbesserern“. Solche Menschen sollten „mit Hilfe der Paradies - Utopien“ dahingehend neutralisiert werden, ein für allemal von solchen Neigungen abzulassen, und dann selbst zu helfen, dass andere davon ablassen.751 Hatte in den ersten Monaten des „Dritten Reiches“ ein Bericht der Bremer Polizei den Bibelforschern unterstellt, dass die von ihnen Angesprochenen die ( paradiesischen ) Versprechungen zu ernst nehmen und dann zu den Kommunisten laufen könnten,752 befürchtete dieser moderne Autor, dass die Betroffenen aufgrund der Verkündigung der Zeugen Jehovas den ( ideologischen ) Versprechungen im Diesseits nicht mehr folgen. In „einem Bericht der Trilateralen Kommission, der sogenannten Schattenregierung der kapitalistischen Machtkomplexe USA, Westeuropa und Japan“, könne man „den prinzipiellen Stellenwert solcher weltverbesserungsfeindlicher und antidemokratischer Gruppen [...] für die westliche Welt“ ablesen.753 Neben jenen, die verschwörungstheoretischen Argumente arg strapazierenden Thesen, verwiesen beispielsweise Abschlussarbeiten der sogenannten Juristischen Hochschule des MfS immer wieder auf den Beispielcharakter der 749 Artikel 1, 2, 3, 5 (3), 6, 8, 18 (1), 19 (1), 22 81), 23 (1), 39 der Verfassung der DDR. 750 MfS, HA XX /4, Zur Verfassungsmässigkeit des religiös - politischen Inhaltes der illegalen Tätigkeit der „Zeugen Jehovas“ in der DDR. Eine Dokumentation. Stand 1985 von April 1986 ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 58–72). 751 Die Zeugen Jehovas und ihre Wachtturmgesellschaft, ohne Autor, vom 24. 4. 1987 ( ebd., Bl. 43–57, hier 52). 752 Vgl. Offizialbericht des Bremer Polizeisenators, Theodor Laue, an den dortigen Regierenden Bürgermeister Dr. Richard Markert vom 6. 10. 1933 ( WTA, Dok 06/10/33). 753 Die Zeugen Jehovas und ihre Wachtturmgesellschaft, ohne Autor, vom 24. 4. 1987 (BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 43–57, hier 53).

Auflösung

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Untergrundtätigkeit der Zeugen Jehovas, die sie neben der ideologischen Zersetzungstätigkeit und Nachrichtenübermittlung innehätten: Da diese „Bestandteil des Kampfes klerikaler Kräfte gegen die sozialistischen Länder“ seien, bestehe ihre Aufgabe darin, „auf dem Wege der politisch-ideologischen Diversion in der DDR unter einem Teil von religiös gebundenen Personen einen politischen Untergrund aufzubauen“.754 Durch die langjährige illegale Tätigkeit in der DDR lägen „dem Gegner große Erfahrungswerte bei der Organisierung eines lebensfähigen politischen Untergrundes vor, die gegebenenfalls auch auf andere Religionsgemeinschaften bzw. andere Gruppierungen übertragbar“ seien.755 Angesichts dieser Gefahrenzuschreibungen verwundert es nicht, wenn in den „seltenen Momenten der Besinnung“ ( Gieseke ) im MfS, die Ergebnisse nicht auf die eigene Arbeit angewandt wurden. So kam beispielsweise eine Arbeit der Juristischen Hochschule des MfS zu der Erkenntnis, dass „in keinem Fall [...] eine von außen herkommende Bedrohung ( geplantes Verbot in den USA, Hitlerfaschismus ), die Existenz der Organisation ‚Zeugen Jehova‘ infrage“ stellte.756 Zu einer solchen Reflexionsebene waren die Verfolger aus den Reihen der Gestapo und des Sicherheitsdienstes der SS nicht fähig, allein es fehlten praktische Konsequenzen. Der Autor kam überhaupt nicht auf die Idee, dass die „Bearbeitung“ der Religionsgemeinschaft durch die DDR - Geheimpolizei eine ebensolche „von außen herkommende Bedrohung“ sein könnte. In den 1980er Jahren entwickelte sich tatsächlich ein „politischer Untergrund“ in der DDR. Und obwohl von den Mitarbeitern der kirchenpolitischen Abteilung des MfS immer wieder beschworen, bestand zwischen den Zeugen Jehovas und den politischen Aktivisten natürlich keinerlei Verbindung. Ja mehr noch, die Zeugen Jehovas versuchten alles, um nicht in die Nähe der „Bürgerrechtler“ zu geraten. So berichtete z. B. der Bezirksdiener Hermann Laube, alias IM „Hans Voß“, 1984, dass das Ostbüro dem Einlegen von Rechtsmitteln reserviert gegenüberstehe, da „sie als Organisation dadurch nicht in die Rolle einer politischen Protestgruppe hineinrutschen dürften“.757 Sie beteiligten sich ebenso wenig an der in den 1980er Jahren anwachsenden Wehrdienstverweigererbewe754 Unterleutnant Jürgen Prescher, Die erfolgreiche Anwendung politisch - operativer Maßnahmen des MfS bei der Zerschlagung von Kurierverbindungen des Ostbüros der Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wiesbaden / BRD ) in die DDR zur Unterbindung ihres Einflusses auf die „Zeugen Jehova“ in der DDR, Fachschularbeit 1980 ( BStU, ZA, JHS VVS 001–843/79, S. 4). 755 Major Gerfried Wenzlawski / Major Hans - Jochen Kleinow, Erkenntnisse und Erfahrungen zur Durchführung wirksamer operativer Maßnahmen gegen die Tätigkeit der in der DDR verbotenen Organisation „Zeugen Jehova“ ( Wachtturmgesellschaft ) zur Bekämpfung ihrer staatsfeindlichen Tätigkeit [ Hausarbeit ] ( BStU, ZA, JHS VVS 001–901/75, S. 21). 756 Leutnant Jürgen Bartnik, Die Beachtung der Feindhandlungen, Struktur und menschenfeindlichen Lehre der Zeugen Jehovas bei der Auswahl und Gewinnung geeigneter inoffizieller Mitarbeiter zur Bearbeitung der staatsfeindlichen Tätigkeit der verbotenen Organisation Zeugen Jehovas, Fachschularbeit 1977 (BStU, ZA, JHS VVS 001–889/76, S. 24). 757 MfS, HA XX /4, Information von „Hans Voß“ vom 21. 8. 1984 ( BStU, ZA, HA XX/4, 818, Bl. 117 f.).

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gung, wie sie sich, um ihre Anliegen durchzusetzen, an westliche Medienkorrespondenten wandten. Es war zudem bekannt, dass die Zeugen Jehovas ihre „Ablehnung jeglicher gesellschaftlicher Organisation respektive politischer Ordnung der Menschen“ nicht nur im Sozialismus, sondern „mutatis mutandis im Kapitalismus“ praktizierten.758 Die kirchenpolitische Abteilung des MfS, HA XX /4, verwies allen Realitäten zum Trotz bis in das Jahr 1989 hinein auf die Gefährlichkeit der Glaubensgemeinschaft : So meinte die HA Schutzpolizei im MdI „in Übereinstimmung mit dem Ministerium für Staatssicherheit“ im Februar 1989, „dass die beim Verbot der Organisation vorgenommene Charakteristik nach wie vor zutreffend ist“.759 Noch im September 1989 – die Grenzen in Ungarn waren geöffnet, die westdeutschen Botschaften in Prag sowie in Warschau von Fluchtwilligen besetzt und die DDR - Führung in lethargischer Erwartung der kommenden Ereignisse – stellte das MfS fest : „Die Politik der Hauptleitung der ‚Zeugen Jehova‘ gegenüber der DDR sowie die Entwicklung der verbotenen Organisation ‚Zeugen Jehova‘ in der DDR mit ihrer rechtswidrigen illegalen Tätigkeit, bestätigen die Richtigkeit des unter der politischen Führung der Partei gegenwärtigen abgestimmten Vorgehens der Schutz - und Sicherheitsorgane gegen diese Aktivitäten. Daher ist auch die Aufrechterhaltung des Verbotes dieser Organisation in der DDR gerechtfertigt.“760 Wie die noch bis in den Herbst 1989 ausgesprochenen Ordnungsstrafen für Prediger der Zeugen Jehovas belegen,761 waren dies keine leeren Worte, aber es war der Schwanengesang der Genossen der kirchenpolitischen Abteilung des MfS.

4.6

Die Implosion

Was folgte, waren Rückzugsgefechte : Einen Tag vor dem Fall des „antifaschistischen Schutzwalles“, am 8. November 1989, unterstützte die Hauptabteilung XX /4 einen Vorschlag der Zollverwaltung, nach dem die Literatur der Zeugen Jehovas, der Bhagwan - Bewegung sowie der Vereinigungskirche des Koreaners San Myung Mun nicht mehr generell von der Einfuhr auszuschließen sei. Allerdings betreffe dies nur Einzelexemplare.762 Noch im selben Monat, am 22. November, traf sich der Leiter der HA XX /4/ III, Major Oskar Herbrich, mit zwei Funktionären der Zeugen Jehovas aus der vorher so bekämpften 758 Information über „Jehovas Zeugen“ [...] unter besonderer Berücksichtigung ihres Wirkens in der DDR, o. O., 10. 7. 1986 ( BArch, DO 4, 1178, unpaginiert, interne Zählung S. 9). 759 HA Schutzpolizei / Abt. III, Sachlage zur Glaubensgemeinschaft „Zeugen Jehovas“ in der DDR vom 14. 2. 1989 ( BArch, DO 4, 1546, unpaginiert ). 760 MfS, HA XX /4, Information über die Organisation „Zeugen Jehova“ von September 1989 ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 6 f.). 761 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, S. 803 f. 762 MfS, HA XX /4, betr. : Weisungsentwurf der Zollverwaltung vom 8. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XX /4, 79, Bl. 139).

Auflösung

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„2. Front“. Die Funktionäre überbrachten das Interesse der Hauptleitung an einer Klärung der Rechtslage. Sie machten deutlich, dass bei Vorgesprächen der Leiter des Ostbüros, Willi Pohl, zugegen sein werde und alle Entscheidungen im Prozess der Legalisierung allein von der Hauptleitung getroffen werden könnten. Herbrich war nicht mehr in der Lage, sich den Forderungen der Zeugen Jehovas ernsthaft zu widersetzen. Er verwies auf die „vertrauensbildenden Maßnahmen“ der Sicherheitsorgane, wie die Nichtinhaftierung von Wehrdienstverweigerern seit 1985/86, den freien Reiseverkehr ohne jede Einschränkung, die Einstellung der Ordnungsstrafverfahren durch die Organe des Innenministeriums sowie die mögliche Einfuhr der Literatur für den persönlichen Bedarf.763 Er vergaß dabei natürlich zu erwähnen, dass das MfS gerade einmal zum letzten Punkt seine Zustimmung gegeben habe und die anderen Ereignisse nicht in der Entscheidungskompetenz des Ministeriums liegen würden. Für den 12. Dezember wurde ein Folgetreffen vereinbart. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Am 14. Dezember wurde auch der MfS - Nachfolger, das „Amt für nationale Sicherheit“, vom Ministerrat der DDR aufgelöst. Die nachfolgenden Verhandlungen über eine Legalisierung sollten im neuerrichteten Amt für Kirchenfragen stattfinden. Auf eine Anfrage des neuen Innenministers Lothar Arendt vom Dezember 1989 antwortete die Rechtsabteilung des Amtes im Folgemonat, dass „die Gründe, die zum damaligen Verbot geführt haben, [...] in keinem Falle mehr aufrechtzuerhalten“ sind.764 Nach Briefen an Ministerpräsident Hans Modrow und den Leiter des Amtes für Kirchenfragen, Herman Kalb, trafen sich die Vertreter der Zeugen Jehovas und die der Rechtsabteilung im Februar 1990. In seinem Bericht schlug der Leiter der Rechtsabteilung des Amtes für Kirchenfragen, Behnke, vor, die Entscheidung über die staatliche Anerkennung noch vor dem Tag der Volkskammerwahl, dem 18. März 1990, zu fällen.765 Nach einem Treffen der Vertreter des Kirchenamtes mit dem Vizepräsidenten der Wachtturm - Gesellschaft und Mitglied der Leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas, Milton Henschel, des Vizepräsidenten der Wachtturm - Gesellschaft, Deutscher Zweig, Willi Pohl, sowie den Vertretern der Gemeinschaft in der DDR am 7. März konnten die Zeugen Jehovas am 14. März 1990 ihre staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft nach Artikel 39 (2) der Verfassung der DDR entgegennehmen. Das repressive Vorgehen der Sicherheitsorgane der DDR lag seit dem Verbot der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in den Händen des MfS. Seine Arbeit stellte sich als Fehlschlag heraus : Auf das Verbot und die Verhaf763 MfS, HA XX /4, Bericht über ein Gespräch mit Martin und Knickrehm als Funktionäre der „ZJ“ am 22.11.1989 vom 24. 11. 1989 ( BStU, ZA, HA XX /4, 1866, Bl. 90 f.). 764 Amt für Kirchenfragen, Rechtsabteilung, an den Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates für Kirchenfragen, Lothar de Maizière, vom 15. 1. 1990 ( BArch, DO 4, 1546, unpaginiert ). 765 Vgl. Amt für Kirchenfragen, Abt. Recht / Ökonomie, Vermerk über ein Gespräch mit Vertretern der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der DDR am 19. 2. 1990 vom 21. 2. 1990 ( ebd.).

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Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR

tungswelle erfolgten eine rasche Neuordnung des Apparates und Organisation eines konspirativen Glaubenslebens. Dabei konnte die Glaubensgemeinschaft die Mitgliederverluste der ersten Jahre schnell ausgleichen und sogar expandieren. Dieses Widerstehen löste beim MfS weitere, „kontinuierliche“ Verfolgungsmaßnahmen aus. Die ostdeutsche Geheimpolizei scheiterte jedoch mit den verschiedensten Strategien : Weder die unterschiedslose Verhaftung von Zeugen Jehovas, brutalste physische Torturen in Verhör und Untersuchungshaft, noch die schrittweise Konzentration der strafrechtlichen Repression auf die verantwortlichen Funktionäre der Glaubensgemeinschaft führten zum Ziel. Auch „Zersetzungsmaßnahmen, die an die Unhaltbarkeit von Glaubensdogmen“ rührten sowie Unfrieden in den zwischenmenschlichen Beziehungen schüren sollten, brachten nicht die erwünschten Erfolge. In immer neuen „Aktionen“ und „operativen Vorgängen“ wurde die „Liquidierung“ dieses „feindlichen Stützpunktes“ geplant und vorhergesagt. Mit Akribie wurde in Arbeiten von Kursanten der „Juristischen Hochschule“ des MfS beschrieben, wie Inoffizielle Mitarbeiter platziert werden sollten, wie das Vertrauen von Mitgläubigen missbraucht werden, wie man Misstrauen unter Freunden und Familien säen und wie man am besten das Glaubensleben der Gemeinschaft einschränken konnte. Immer neue Informationsberichte beschworen die Gefahren, die vom praktizierten Glauben der Gemeinschaft ausgehen sollten. Erst als es schwierig wurde, selbst in systemloyalen Bevölkerungskreisen Glauben für die Mär vom kriegshetzerischen und nachrichtendienstlich arbeitenden Geschöpf des westlichen Imperialismus zu finden, warnte „die zuständige Dienststelle“ vor sozialen Problemen in Familie und Umfeld. Dass es ihr nicht wirklich um die Menschen ging, beweist die Art und Weise, wie gegen die Zeugen Jehovas vorgegangen wurde. Ebenso wenig wie ihre Schützlinge und Inoffiziellen Mitarbeiter aus den sogenannten Oppositionsgruppen ehemaliger Zeugen Jehovas haben ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit aus den physischen und psychischen Traumata, die die Arbeit des MfS und seiner Werkzeuge in Polizei und Justiz verursacht haben, gelernt. In einer Rechtfertigungsschrift führender MfS - Offiziere heißt es noch im Jahre 2002 : „Wer heute von ‚Leid und Trauer‘, die das MfS über Zeugen Jehovas gebracht habe, spricht, sollte nicht vergessen, dass diese Sekte auch heute noch das Leben vieler Menschen zerstört. Oft schon als Kinder und Jugendliche werden Menschen durch massive Indoktrination mit dem Schreckensszenario eines angeblich bevorstehenden Weltuntergangs zur Aufgabe beruf licher Qualifizierungen, zum Verzicht auf gesellschaftlichen Aufstieg sowie zur absoluten Unterordnung jeglicher persönlicher Interessen unter die Gebote der Sekte verleitet.“766

766 Schmidt, Zur Sicherung der politischen Grundlagen, S. 608 f.

IV. Schlussbetrachtungen 1.

Resümee

In der Phase der Herrschaftsübernahme gingen beide Regime gerade auf Grund ihrer noch begrenzten Möglichkeiten sehr unterschiedlich mit der Glaubensgemeinschaft um : Die nationalsozialistischen Machthaber teilten die Herrschaft mit konkurrierenden Gruppen, gingen Bündnisse mit traditionellen Eliten ein und rangen auch innerhalb der eigenen Partei um den zukünftigen Kurs. Das Verbot der Bibelforscher noch im Frühjahr 1933 ging auch auf Interventionen kirchlicher und völkisch - antisemitischer Kreise zurück, deren Wünschen man sich nicht verschließen konnte und wollte. Die zögerliche Durchsetzung des Verbotes zeigt allerdings einerseits die Prioritäten, die das Regime in der Verfolgung widerständigen Verhaltens setzte, andererseits die notwendigen Rücksichtnahmen auf die Reaktion der ausländischen Öffentlichkeit. Noch 1933 stellte sich heraus, dass die Bibelforscher nicht gewillt waren, sich den Forderungen des „nationalen Aufbruchs“ anzupassen. Bereits im November des Jahres wurde die Nichtteilnahme weiter Teile der Religionsgemeinschaft an der Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund mit verstärkten Repressalien beantwortet. Es kam zu ersten Einweisungen in die Konzentrationslager. Forderungen nach staatsloyalem Verhalten, etwa die Einführung des „Hitler - Grußes“ in Behörden, Betrieben und Schulen oder der faktische Zwang zur Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Gliederungen, stellten den einzelnen Bibelforscher in immer neue Bewährungssituationen und zwangen ihn letztlich zu bewusst ablehnendem Auftreten. Auch für die Gerichte entwickelte sich die Behandlung der IBV zu einem ernst zu nehmenden Fall. Die Übertretung des Verbots wurde nach der Reichstagsbrandverordnung vor den neu eingerichteten Sondergerichten verhandelt. Die stetig steigende Zahl an Verfahren verdeutlichte, dass das Verhalten der Bibelforscher gegenüber staatlichen Anordnungen ein grundsätzliches Problem darstellte. Es entzündete sich darüber hinaus eine Diskussion um die Rechtmäßigkeit der IBV- Verbote, bei der es auch um den grundsätzlichen Geltungsbereich der Weimarer Reichsverfassung im nationalsozialistischen System und die Kompetenzen der Polizeibehörden ging. Dadurch und durch die Fürsprache durch die US - amerikanische Administration gewann die Religionsgemeinschaft eine Prominenz, die ihr in der Realität nicht zukam. Die Geheime Staatspolizei schließlich sah sich durch die noch relativ zurückhaltende Spruchpraxis der ordentlichen und der Sondergerichte in ihrer Arbeit gegen Staatsfeinde gehemmt. Daher begann sie, auch „maßnahmestaatliche“ Instrumentarien anzuwenden, und verordnete ( befristete ) Schutzhaft für Angehörige der Zeugen Jehovas. Die KPD / SED legte in der Zeit bis 1949 ihr Hauptaugenmerk vor allem auf die schrittweise Etablierung der Diktatur. Die Zeugen Jehovas gerieten zwar ab

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Schlussbetrachtungen

1947 in die Gruppe der erkannten Feinde, in ihrem Vorgehen waren die Kommunisten aber wegen deren Status als „Opfer des Faschismus“ und auf Grund der Anwesenheit der westlichen Besatzungsmächte wesentlich eingeschränkt. Ein Umschwung ist für das Jahr 1949 zu verzeichnen : Nach ersten lokalen Verboten und Versammlungsauf lösungen durch deutsche und sowjetische Behörden antwortete die Glaubensgemeinschaft im Juli analog den Flugblattaktionen in den Jahren 1936 und 1937 mit einer scharfen Resolution, in der sie gegen die Einschränkung der Gottesdienstfreiheit protestier te. Im September 1949 reagierte das Politbüro der SED mit einem zehn Punkte umfassenden Maßnahmekatalog gegen die Zeugen Jehovas. Dieser Beschluss warf der Religionsgemeinschaft erstmals Spionage zugunsten des „amerikanischen Monopolkapitalismus“ vor. Zudem verband die SED - Propaganda ihre Klassenkampfparolen mit nationalen Phrasen. Dem sozialistischen „Friedenslager“ stehe eine kriegslüsterne kapitalistische Welt gegenüber. In manichäischer Manier wurden die aktuellen Spannungen als weltumspannende, bis ins Innere der sozialistischen Staaten reichende Verschwörung gedeutet. Gegnerisches oder abweichendes Verhalten in der SBZ / DDR galt daher als „Sabotage des sozialistischen Aufbaus“ und „systematische Zersetzung“. Das Verbot der Zeugen Jehovas und das anschließende Verfahren vor dem Obersten Gericht der DDR 1950 hatte dreifache Bedeutung. Im Vorfeld der ersten Wahlen nach Einheitsliste wurde die geschlossenste Gruppe von Wahlverweigerern ausgeschaltet, eine Warnung an andere potentielle Kritiker des Wahlverfahrens. In den Ermittlungsverfahren für den Prozess vor dem Obersten Gericht und den nachfolgenden Verfahren der unteren Instanzen bewies das junge Ministerium für Staatssicherheit seine ideologische und repressive Schlagkraft. Außerdem wies die erste verstärkte Anwendung des Verfassungsartikels 6 den Weg für die Verfolgung politisch Andersdenkender in den 1950er Jahren. Die politischen Strafkammern der Landgerichte ( ab 1952 Bezirksgerichte ) hielten sich an die Vorgaben aus Berlin. Erst der Elitetausch der Jahre 1948 bis 1952 in der Justiz ermöglichte deren Instrumentalisierung. Die folgerichtig eintretende Entprofessionalisierung unterstützte diesen Prozess nachhaltig. Die Unsicherheit wurde durch ständige Kurskorrekturen in der Strafpolitik noch verstärkt. Von den konspirativ erarbeiteten „Ermittlungsergebnissen“ und Zielstellungen des MfS uninformiert, konnten die Gerichte deren Vorstellungen nach strafrechtlicher Bearbeitung nicht genügen. Wie schon die Federführung im Ermittlungsverfahren verdeutlichte, beanspruchte das MfS mehr und mehr die alleinige Kontrolle über die Bearbeitung der renitenten Religionsgemeinschaft. Bis Mitte der fünfziger Jahre war das MfS vorrangig auf die Strafverfolgung ausgerichtet. Jeder erkannte Funktionär und Kurier der Zeugen Jehovas wurde festgenommen. In Ansätzen gab es erste Versuche zur Einschleusung und Anwerbung Inoffizieller Mitarbeiter, die Erfolge und damit das Wissen um die Struktur und Handlungsweisen der angeblichen Spionageorganisation hielten sich indes noch in Grenzen. Bis Ende 1955 wurden fast 2 600 Zeugen Jehovas zeitweise inhaftiert. Unter Anleitung sowjetischer

Resümee

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„Berater“ und durch die Agentenhysterie der SED indoktriniert setzten die ostdeutschen Tschekisten bei ihren Ermittlungen ein breites Arsenal an physischen und psychischen Grausamkeiten ein. In die Phase der Herrschaftssicherung nach 1935 bzw. 1957 fielen die grundsätzlichen Richtungsentscheidungen. In beiden Diktaturen gelang es der Geheimpolizei ein „generalpräventives Konzept“ der Repression durchzusetzen. Sowohl Gestapo und SD als auch MfS konnten nicht nur die Bearbeitung der politischen Gegner, sondern aller Personen mit abweichendem Verhalten an sich ziehen. Beide Apparate wurden in dieser Phase massiv ausgebaut. Erst nach 1934 gelang es, das Verbot der IBV endgültig durchzusetzen. Erneute Freisprüche vor Sondergerichten veranlassten das Reichsjustizministerium zu einer generellen Stellungnahme zur Rechtmäßigkeit des Bibelforscherverbotes. Zunehmend orientierten sich die Staatsanwaltschaften an den Forderungen der Gestapo. Nach deren Meinung wurde der mögliche Strafrahmen von den Gerichten aber bei weitem nicht genügend ausgeschöpft, was aus mangelnder Einsicht in die Gefährlichkeit der Gemeinschaft resultierte. Mit einer sämtlichen Gerichten zugestellten Denkschrift belehrte sie jene nochmals über die Rechtmäßigkeit des Verbotes und die angebliche Gefahr für die Gesellschaft. Diese Gefahr resultierte nach Meinung von Gestapo und Sicherheitsdienst nicht zuletzt aus der Instrumentalisierung durch „jüdische Hintermänner“, ein Argument, das die nationalsozialistische Parteipresse in der folgenden Zeit weiter kolportierte. Die administrative Vereinheitlichung der Gestapo unter Heinrich Himmler korrespondierte mit einer „Gleichrichtung“ in der Beurteilung der zu bekämpfenden Feinde. Reinhard Heydrich, SD - Chef und Leiter des preußischen Gestapa, entwickelte zusammen mit seinem damaligen Stellvertreter im Gestapa, Werner Best, ein neues, präventives Repressionskonzept. Damit gerieten nicht nur tatsächliche politische oder weltanschauliche Gegner des Regimes, sondern auch vermeintliche Feinde ins Visier. Mit dem neuen Feindbildkonstrukt wurde nicht nur der zeitliche Rahmen gesprengt, in einem „ewigen Kampf“ entfiel jede Diskussion um einen zeitlichen Rahmen des „Maßnahmestaates“. Die „Entpolitisierung“ des Gegnerbegriffes verdeutlichte außerdem den Anspruch des SS geführten Repressionsapparates auf eine Ausweitung der Zuständigkeit. Nach der Durchsetzung dieses neuen Repressionskonzeptes war der Gesamtauftrag der Polizei nunmehr die politische „Gesunderhaltung des deutschen Volkskörpers“. Bei der schrittweisen Entgrenzung des staatspolitischen Methodenarsenals spielten die Zeugen Jehovas eine nicht unbedeutende Rolle. 1937 gelang es in Verhandlungen mit dem Justizministerium, die Zeugen Jehovas in die Gruppe von Häftlingen aufzunehmen, die nach Strafhaft der Gestapo übergeben wurden. Außerdem konnte die Gestapo durchsetzen, dass an Bibelforschern während der Vernehmung die staatlich sanktionierte Folter, „verschärfte“ oder „technische“ Vernehmung genannt, angewandt werden durfte. Damit wurde erstmals neben den Kommunisten eine weitere Feindgruppe außerhalb des geltenden Rechtssystems gestellt und der ausgeweitete

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Schlussbetrachtungen

Feindbegriff auch „normenstaatlich“ sanktioniert. Bis in den Krieg hinein erweiterten die Nationalsozialisten die Gruppe der Einzubeziehenden stetig. Der „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ übernahm bei der Verfolgung der Ernsten Bibelforscher eine weitaus bedeutendere Rolle als bislang angenommen. Bis 1935/36 fungierte der SD noch vorrangig als Informationssammelstelle, die relevante Kenntnisse an die Gestapo zur Weiterbearbeitung abgab. Seit 1936 wurde er nicht nur in die Vorbereitung reichsweiter Verfolgungsmaßnahmen einbezogen, er übernahm zunehmend die Koordinierung, betätigte sich aber auch bei Vollzugsmaßnahmen. Dabei konnte festgestellt werden, dass zumindest in einigen Regionen die SD - Mitarbeiter die treibende Kraft hinter den Verfolgungsmaßnahmen waren. Sie konzentrierten die Ermittlungen auf die illegalen Strukturen der IBV, um so die Aktivitäten der Bibelforscher langfristig lahm zu legen. Die nötigen Informationen wurden durch die „technische Vernehmung“ erlangt. Die Einflussnahme des weit stärker weltanschaulich geprägten SD auf die Ermittlungen radikalisierte die schon brutale Verfolgung der Bibelforscher aufs Neue. Ab 1936 verfügten Gestapo und SD über die notwendige Sachkompetenz, die Feststellungen der einzelnen Staatspolizeistellen zu koordinieren und sich somit einen ersten Überblick über die gerade entstehende illegale Organisation der IBV zu verschaffen. Nach der Zerschlagung der illegalen Strukturen der Arbeiterbewegung waren zudem genügend Ressourcen für neue Betätigungsfelder frei. Im Herbst 1936 und Frühjahr 1937 konnte bei reichsweiten Verhaftungsaktionen die Organisation der Glaubensgemeinschaft von oben nach unten „aufgerollt“ werden. Wie die IBV mit der Verteilung der „Luzerner Resolution“ am 12. Dezember 1936 und des „Offenen Briefes an das bibelgläubige und Christus liebende deutsche Volk“ am 20. Juni 1937 verdeutlichte, gelang es ihr aber binnen Kurzem, einen neuen konspirativen Apparat aufzubauen. Die Gestapo wurde von diesen landesweit verteilten Flugblättern völlig überrascht. Erst mit einer bis ins Frühjahr 1938 dauernden dritten reichsweiten Verhaftungswelle war das organisatorische Rückgrat der IBV in Deutschland gebrochen. Mit Hilfe eines vom SD geführten und in höchste Funktionen aufgerückten V - Mannes gelang es, viele der noch auf freiem Fuß befindlichen Funktionäre und Kuriere dingfest zu machen und wichtige Ortsgruppen zu zerschlagen. Ohne zentrale Anweisungen und Verbindungen zu anderen Angehörigen zogen sich viele Gläubige von der organisierten Glaubensausübung zurück, ohne allerdings ihre Überzeugungen aufzugeben. Nicht wenige von ihnen wurden während des Zweiten Weltkrieges von Aktivisten zur erneuten Mitarbeit bewegt. Flankiert wurden die Verfolgungsmaßnahmen durch Arbeitsentlassungen und die Kürzung oder Ver weigerung von Arbeitslosenhilfe, Wohlfahrtsunterstützung oder Rentenzahlungen. Um das „Bibelforscherproblem“ grundsätzlich zu lösen, versuchte die Gestapo den Bibelforschern die „unverdorbenen Nachkommen“ zu entziehen. Hunderte von Kindern wurden ihren Eltern fortgenommen.

Resümee

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Seit Ende der 1950er Jahre erschien es der DDR - Führung geboten, die Repression dosiert zu zügeln. Auch angesichts ihres Ringens um außenpolitische Anerkennung hielt es die SED nicht mehr für opportun, mit brachialer Gewalt vorzugehen. Zwar blieb der alles bestimmende Führungsanspruch der SED erhalten, die präventive Erkundung potentieller Unruheherde wurde für die Arbeit des MfS aber immer wichtiger. Mit dem Abflauen der Kriegs - und Spionagehysterie änderte sich auch die Einschätzung der Zeugen Jehovas. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erkannte das MfS die Grenzen des Konzepts der undifferenzierten Verhaftung. Jeder Verhaftete in Führungspositionen wurde ersetzt und zwang zu neuen Ermittlungen. Diese differenziertere Sichtweise manifestierte sich in der Spruchpraxis der Gerichte nach Einführung des Strafrechtsergänzungsgesetzes Anfang 1958. Dessen §§ 13–26 lösten den Artikel 6 der Verfassung bei der Ahndung politischer Vergehen ab. Die Verhaftungen erreichten gegen Ende der fünfziger Jahre zwar nicht mehr die Ausmaße der anfänglichen Verfolgung, doch wurden im Zeitraum von 1958 bis 1961 immerhin noch jährlich zwischen 50 und 120 Zeugen Jehovas inhaftiert. Seit Ende der 1950er Jahre war das vorrangige Ziel des MfS, einen „Zersetzungsprozess“ innerhalb der Glaubensgemeinschaft einzuleiten. Dies resultierte auch aus der Erkenntnis der fast zehnjährigen vergeblichen Bemühung um eine Zerschlagung der illegalen Strukturen. Die Zeit vor und nach dem Mauerbau 1961 markiert für die DDR einen wichtigen Wendepunkt. Der Wegfall der Fluchtmöglichkeiten und die ökonomische Stabilisierung führten zu einem gewissen Arrangement der Bevölkerung mit den kommunistischen Machthabern. Auch die Blockkonfrontation ließ nach und der DDR gelang es, sich außenpolitisch zu konsolidieren. Das neue Repressionskonzept des MfS, das sich vorrangig auf die präventive Arbeit unterhalb der strafrechtlichen Stufe konzentrierte, war zum einen Ergebnis eines Lernprozesses, zum anderen entsprang es den Vorgaben der SED. Angesichts des Entspannungsprozesses versprach sich diese von einem pragmatischen Umgang mit Unruheherden den größten Nutzen. Ohne dass sich die grundsätzliche Sichtweise auf sie verändert hätte, wurden die Zeugen Jehovas von nun an vor allem inoffiziell „bearbeitet“, um sie so bei der Ausübung ihres Glaubens zu stören. Schon 1950 war erkannt worden, dass Gruppen ehemaliger Zeugen Jehovas ihren alten Glaubensgenossen gegenüber feindlich eingestellt waren. Ende der fünfziger Jahre erinnerte man sich dieser Gruppen und reaktivierte sie unter Kontrolle des MfS. Durch ihre pure Existenz, vor allem aber durch die von ihnen herausgegebene Zeitschriften, sollten sie Gläubige aus den Reihen der Zeugen Jehovas herausbrechen. Doch die abweichenden Glaubensgrundsätze und die aus offensichtlichen Gründen nicht praktizierte Missionstätigkeit waren für Zeugen Jehovas inakzeptabel. Der Erfolg des MfS mit diesen Gruppen hielt sich in Grenzen. Einen langfristigen Effekt hatte dagegen die Zeitschrift „Christliche Verantwortung“, herausgegeben im Auftrag und unter tatkräftiger Mithilfe des MfS. Zwar gelang es nie, mit ihrer Hilfe eine wirkliche Oppositionsbewegung inner-

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Schlussbetrachtungen

halb der Zeugen Jehovas zu schaffen. Mit der Herausgabe von zuletzt monatlich 6 000 Exemplaren erreichte die Zeitschrift aber nicht nur viele Gläubige, deren Adressen vom MfS zur Verfügung gestellt wurden, sondern auch viele Theologen und Religionswissenschaftler im In - und Ausland. In dieser Außenwirkung ist wohl der größte und dauerhafteste Erfolg der Zersetzungsstrategie des MfS zu sehen. Noch einmal versuchte das MfS 1963 im Zuge des Zentralen Operativen Vorgangs „Sumpf“ die Leitung der Religionsgemeinschaft ausfindig und mit ihrer Verhaftung die illegale Organisation „kopf los“ zu machen. Im November 1965 gelang es, Führungsmitglieder festzunehmen und im folgenden Jahr zu verurteilen. Allerdings hatte diese Enthauptungsstrategie nicht mehr die völlige Liquidierung der Gemeinschaft zum Ziel. Vielmehr sollten im Zuge der Ermittlungen neben den Erkundungen über die Struktur und die Verbindung zur westlichen Zentrale auch bestimmte „besonders fanatische und feindliche leitende Zeugen Jehovas“ kompromittiert werden, um so eigene IM - Kandidaten an führende Stellen zu lancieren. Das MfS glaubte nicht mehr an die Möglichkeit einer völligen Unterbindung der illegalen Tätigkeit. Merkmale der Phase der voll funktionierenden Herrschaft sind zum einen die außen - und innenpolitische Prosperität und die weitgehende Kontrolle des Sicherheitsapparates über alle Bereiche der Gesellschaft. Die Zustimmung der Bevölkerung errang das nationalsozialistische Regime einerseits durch militärische Erfolge und andererseits durch eine umfassende Kontrolle und Terror. Auch die DDR konnte sich stabilisieren. Die Bevölkerung wurde durch eine extensive Sozialpolitik zufrieden gestellt und abweichendes Verhalten mittels Kontrolle und „Zersetzung“ unterdrückt. Beide Diktaturen durchliefen also ab 1939 und 1971 derart diametrale Entwicklungen, dass fast nur Unterschiede in ihrem Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas zu konstatieren sind. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges änderten sich die Rahmenbedingungen für widerständiges Verhalten in Deutschland fundamental. Einerseits wurde jedes abweichende Verhalten als Lähmung der deutschen Wehrkraft verurteilt und damit die Grundlage für die justizielle Liquidierung wirklicher und angeblicher „Volksfeinde“ gelegt. Andererseits war die Auslösung des Krieges Anlass, die Fesseln des Normenstaates im Umgang mit selbstdefinierten Gegnern abzulegen. Die Zahl der unter uneingeschränkter Verfügungsgewalt der SS stehenden Häftlinge stieg in nie gekannte Höhen. Darüber hinaus wurden die Bedingungen für die Durchführung der Vernichtungsaktionen an den als rassisch minderwertig Deklarierten geschaffen. Seit Kriegsbeginn 1939 sahen sich die Bibelforscher verstärkt in Bekenntnissituationen gestellt. Sie mussten sich in punkto Kriegseinsatz zwischen ihren Glaubensvorstellungen und staatlichen Forderungen entscheiden. Der Glaube, die zunehmend an die physische Existenz gehende Verfolgung und der immer weiter ausgreifende Weltkrieg verweise auf das baldigst zu erwartende Weltende, wirkte sich zudem radikalisierend aus. Das Handeln nach eigenen Glaubensgrundsätzen führte Hunderte auf’s Schafott, in die Zuchthäuser oder in die Konzentrationslager.

Resümee

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Mit der 1938 entstandenen und im August 1939 erlassenen Kriegssonderstrafrechtsverordnung ( KSSVO ) wurde der bis dahin nur propagandistisch verwendete Begriff der „Zersetzung“ auch strafrechtlich wirksam. Der § 5 der KSSVO drohte für die „Zersetzung der Wehrkraft“ im Regelfall die Todesstrafe an. Allein bis Ende September 1940 fällte das Reichskriegsgericht 112 Todesurteile. Bis 1945 starben etwa 250 wehrdienstverweigernde deutsche und österreichische Zeugen Jehovas. Drei Tage nach Kriegsbeginn hatte Reinhard Heydrich die „rücksichtslose“ Unterbindung jedes Versuches, „den Kampfeswillen des deutschen Volkes zu unterdrücken“, angeordnet. Nachdem am 7. September bereits ein kommunistischer Arbeiter erschossen worden war, exekutierten Angehörige der SS - Wachmannschaft des KZ Sachsenhausen am 15. September 1939 einen wehrdienstver weigernden Bibelforscher vor versammelter Lagergemeinschaft. Das Reichsjustizministerium, das erst aus der Presse von dieser „Sonderbehandlung“ erfahren hatte, protestierte. Es sah sich in seiner Kompetenz auf Strafauswurf und - vollstreckung beschnitten. Von Hitler wurden die Erschießungen nachträglich sanktioniert. Dennoch erzielten öffentliche Exekutionen bei Bibelforschern keine abschreckende Wirkung. Die Gestapo verzichtete bei Zeugen Jehovas fortan auf öffentliche Aktionen, ohne jedoch die einmal errungene Kompetenz auf außerjustizielle Exekutionen in anderen Fällen ( z. B. bei schweren kriminellen Delikten ) in Konkurrenz zur ordentlichen Justiz aufzugeben. In den Konzentrationslagern waren die Bibelforscher als speziell gekennzeichnete Häftlingsgruppe besonderen Torturen durch die SS - Wachmannschaften ausgesetzt. Ihre Behandlung entsprach in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre der der jüdischen Häftlinge. Unverständnis gegenüber der Duldsamkeit, aber auch der konsequenten Haltung der Zeugen Jehovas, antichristliche Ressentiments und gewöhnlicher Sadismus prägten das Verhalten der Bewacher. Die eigenen Glaubensvorstellungen vom baldigen Weltende und den dabei zu erwartenden Glaubensprüfungen sowie die Abtrennung der Bibelforscher von den anderen Häftlingen durch die SS schufen ein religiöses und solidarisches Binnenklima, das es den Einzelnen ermöglichte, die physische und psychische Marter besser als viele andere KZ - Insassen zu verkraften. Dennoch forderten ihre spezielle Behandlung, katastrophale Lebensbedingungen in den Lagern und gezielte Tötungen nach Musterungsversuchen und Arbeitsverweigerungen bis 1942 Hunderte Menschenleben. In der DDR wurde der Spagat zwischen der Legitimationssuche durch Verbesserungen im materiellen Wohlergehen und zwanghaftem Festhalten am ideologischen und gesellschaftlichen Status quo mit der Entspannungsphase Anfang der 1970er Jahre noch deutlicher. Einem paranoiden Bedrohungsgefühl gehorchend führte die neue außenpolitische Lage zu einer grotesken Wahrnehmung: Die Entspannung in den Ost-West-Beziehungen erzeugte angeblich eine verstärkte Bedrohung der inneren Sicherheit der DDR. Der Apparat der ostdeutschen Geheimpolizei erlebte folgerichtig gerade in den 1970er Jahren einen massiven Wachstumsschub. Dieser Expansion stand aber die Vorgabe der Staatspartei

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Schlussbetrachtungen

gegenüber, dass ihr „Schild und Schwert“ nichts unternehmen dürfe, was das Renommee der SED nach außen und innen beeinträchtigen könnte. Die von der kirchenpolitischen Abteilung des MfS entwickelte Vorgehensweise wurde nun systematisch auf die gesamte Gegnerbekämpfung in der DDR übertragen. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1962 wurde das Problem der Wehrdienstver weigerung für die männlichen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft wieder akut. Um dem Konflikt mit den Kirchen über die Wehrdienstfrage allgemein und die Vereidigung auf einen atheistischen Staat im Besonderen die Spitze zu nehmen, führte die DDR als einziger Staat des Warschauer Pakts im September 1964 den waffenlosen Dienst ein. Doch auch diesen lehnten die Zeugen Jehovas wegen dessen Einbindung in militärische Strukturen ab. Regelmäßig alle 18 Monate wurden nun jeweils etwa 150 junge Männer aus den Reihen der Religionsgemeinschaft vor den neueingerichteten Militärgerichten zu Gefängnisstrafen verurteilt. Doch auch das MfS nutzte die neuerliche Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung für die eigene operative Arbeit. Ermittlungsverfahren wegen Wehrdienstverweigerung wurden als Vorwand zu Hausdurchsuchungen genutzt oder Erkenntnisse aus den Vernehmungen der Militärstaatsanwaltschaften für die eigene Arbeit verwendet. Bis 1985 gelangten so 2 700 Zeugen Jehovas in die Gefängnisse und Haftarbeitslager der DDR. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geriet die Glaubensgemeinschaft in eine schwere Krise. Grund war die Annahme, dass im Jahre 1975 die 1 000 Jahre andauernde Friedensherrschaft Christi beginnen würde. Als sich die Hoffnungen der Gläubigen nicht erfüllten, gingen die Zahlen der aktiven Zeugen Jehovas in der DDR zurück. Für das MfS galt es nun, die Verwirrung und Enttäuschung in den Reihen der Zeugen Jehovas zu nutzen und Intrigen und Streitigkeiten von außen hinein zu tragen. Die Strategie scheiterte auf ganzer Linie. Das MfS war nicht in der Lage zu erkennen, dass sein Vorgehen die Binnenkohäsion der Gemeinschaft verstärkte und zur Überwindung der Krise beisteuerte. Die Einschränkung der Missionsbemühungen war ein Hauptanliegen der ostdeutschen Behörden, steht und fällt damit doch das Glaubensleben der Zeugen Jehovas und somit auch ihr „öffentlichkeitswirksames Auftreten“. Seit Ende der sechziger Jahre wurden dazu vorrangig Ordnungsstrafverfügungen eingesetzt. Die Hauptabteilung XX /4 des MfS wies die Bezirksverwaltungen immer wieder an, dieses Instrument zu nutzen, das Strafmaß nicht niedrig zu halten und die zuständigen VP - Angehörigen, aber auch Volkspolizeihelfer und SED - Mitglieder auf die Ergreifung missionierender Zeugen Jehovas vorzubereiten. Jetzt zeigten sich jedoch zwei nicht intendierte Folgen der Zersetzungsstrategie. Zum einen führte die Tendenz, Konflikte aus der Öffentlichkeit zu verbannen und den „zuständigen Behörden“ zu übergeben, zu Problemen. Die Konzentration der Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas in der DDR beim MfS hatte bewirkt, dass die Religionsgemeinschaft selbst und ihr Verbot bei der Mehrzahl der Parteimitglieder und Amtsträger unbekannt war. Die Vor-

Resümee

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gabe der SED, bei der Verfolgung der Zeugen Jehovas, jedes Aufsehen zu vermeiden und unterhalb der Schwelle von strafrechtlichen Sanktionen zu bleiben, verstärkte diese Unwissenheit noch. Dieses Unterlassungsgebot strafrechtlicher Maßnahmen erzeugte zum anderen innerhalb des MfS Motivationsdefizite. Gerade als das MfS auf angeworbene und platzierte IM zurückgreifen konnte, als genügend Informationen über den illegalen Apparat zur Verfügung standen, konnten die Ergebnisse wegen der Vorgaben durch die Staatspartei nicht mehr für die „Liquidierung“ des „religiös - politischen Untergrundes“ angewendet werden. Da aber auch weiterhin stur die These vertreten wurde, dass es sich bei den Zeugen Jehovas um eine staatsfeindliche Organisation handele, war es den MfSMitarbeitern kaum vermittelbar, warum die erarbeiteten „Beweise“ nicht für die Strafverfolgung genutzt werden durften. Die Verfeinerung der geheimdienstlichen Mittel, möglich erst nach der abgebrochenen Entstalinisierung und als Ergänzung repressiver Methoden in den 1960er Jahren vervollkommnet, erwies sich seit den 1970er Jahren zunehmend als Symptom der Schwäche Im repressiven Handeln der nationalsozialistischen Akteure verschoben sich im Zuge der nahenden Auflösung nach 1943 erneut die Prioritäten. Der Gegnerbegriff wurde angesichts der zunehmenden Zweifel in der Bevölkerung völlig entgrenzt. Auch die Kontrolle des in die Millionen gehenden Zwangsarbeiterheeres erforderte alle Anstrengungen der Geheimpolizei. In Anbetracht von Durchhalteparolen verloren die Bibelforscher im Spektrum der kolportierten Feindbilder an Bedeutung, ohne allerdings bei Ergreifung dem Räderwerk der Justiz zu entkommen. Seit 1940 konnten die Sondergerichte und seit 1943 der Volksgerichtshof über Zivilisten nach § 5 KSSVO urteilen. Durch Ermittlungen der Gestapo oder Denunziationen einmal in die Mühlen des Repressionsapparates gekommen, bestand für die angeklagten Bibelforscher oftmals nur die Frage, ob sie zum Tode oder im minder schweren Fall zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt würden. Die Judikative verlor im Kriege zusehends ihre verzögernde Wirkung gegenüber Vernichtungstendenzen im Nationalsozialismus. Mit Einführung der KSSVO und der Verordnung zum Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes wurden Verstöße gegen das Betätigungsverbot, die früher nach der Reichstagsbrandverordnung geahndet wurden, in den Kontext der Kriegsanstrengungen gestellt und als „Zersetzung der Wehrkraft“ oder im minderen Falle als „Teilnahme an einer wehrfeindlichen Verbindung“ gewertet. Trotz der angewandten Härte gelang es erst 1944, die letzten überregional vernetzten Gruppen zu zerschlagen. Eine andere Entwicklung vollzog sich in den KZ. Dort stiegen der Wert und damit die Überlebenschancen der Zeugen Jehovas als wertvolle, rassisch einwandfreie Arbeitskräfte, denen allerdings wie allen Häftlingen nur ein Helotendasein zugedacht war. Nach 1942 verbesserte sich die Lage der Gläubigen in den KZ. Dies hatte einerseits mit einer neuen rassischen Hierarchisierung der Insassen im Zuge der massenhaften Belegung durch ausländische Gefangene zu tun, von der besonders die „reichsdeutschen“ Häftlinge profitierten. Diese Neubewertung richtete sich primär an der nationalen Herkunft ( und deren „rassi-

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Schlussbetrachtungen

schen Wert“) und weniger an den am Delikt orientierten Häftlingskategorien aus. Andererseits erlangten Bibelforscher gewisse Erleichterungen, als die SS begann, die Häftlinge unter ökonomischen Gesichtspunkten zu „ver werten“. Ausgebildete und arbeitsame Facharbeiter, die auf eine längere Hafterfahrung zurückgreifen konnten, hatten unter diesen Gesichtspunkten Chancen, auf die etwas geschützteren Arbeitsplätze zu gelangen. Angesichts ihrer bis dahin ausgesprochen harten Behandlung profitierten die Bibelforscher besonders von diesem Wandel. Die Häftlinge nutzten die neuen Bedingungen sofort für das eigene Glaubensleben. Kontakte zu nichtinhaftierten Glaubensgenossen und sogar in andere KZ wurden geknüpft. Es gelang auch, Abschriften des für die Religionsausübung notwendigen Schrifttums herzustellen. Die deshalb nach Razzien in den KZ ausgesprochenen Bestrafungen wurden schon nach kurzer Zeit wieder aufgehoben, da die SS inzwischen nicht mehr auf die Arbeitskraft der Zeugen Jehovas verzichten wollte und konnte. Auch wenn die Bibelforscher in den KZ noch immer der mörderischen Willkür der SS - Mannschaften und zum Ende des Krieges auch der Hölle der Todesmärsche ausgesetzt waren, entgingen sie so doch gleichzeitig der immer exzessiveren Urteilspraxis der Justiz. Die vehemente Weigerung der Bibelforscher, sich trotz schärfster Sanktionen am Kriegsdienst oder an der Rüstungsproduktion zu beteiligen, führte im RSHA und bei Himmler zu Überlegungen, wie dem Problem zu begegnen wäre. Diese mittel - und langfristigen Pläne sind Ausdruck der kriminellen Energie und der Hybris des nationalsozialistischen Regimes. Während im RSHA in den ersten Kriegsmonaten Pläne entwickelt wurden, das Bibelforscherproblem durch Kindesentzug, KZ - Haft und Deportation ins Generalgouvernement zu lösen, gewann in der zweiten Kriegshälfte ein an ökonomischen Kriterien orientierter Umgang an Bedeutung. Durch Erfahrungen im Arbeitseinsatz der Bibelforscherhäftlinge – insbesondere in landwirtschaftlichen Außenkommandos – angeregt, befahl Himmler den verstärkten Einsatz der arbeitsamen und zuverlässigen Arbeitskräfte an Arbeitsstellen, die nicht mit Kriegsdiensten in Verbindung standen. An diesen Verbesserungen konnten allerdings nur KZ - Insassen teilhaben. Auch weitergehende, angesichts des Kriegsverlaufs aber unrealistische Pläne Himmlers, sahen neben dem Einsatz als privilegierte Sklaven nur die Todesstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung oder die Deportation in den ( wieder ) besetzten Osten vor. Die rücksichtslose Unterdrückung allen abweichenden Verhaltens spiegelt sich in den Opferzahlen wider : Ungefähr die Hälfte der aktiven Anhängerschaft – ca. 20 000 Personen im Jahr 1933 – wurde durch das nationalsozialistische Regime in Haft genommen, davon mehr als 2 000 in Konzentrationslagern. Etwa 1 200 deutsche Bibelforscher verloren ihr Leben. Auch in der DDR musste sich der Repressionsapparat in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit einer steigenden Zahl an wirklichen, potentiellen und angeblichen Gegnern beschäftigen. Auslöser war hier die wachsende Kluft zwischen verkündetem Überlegenheitsanspruch und der sichtbaren Unfähigkeit, die Systemauseinandersetzung noch gewinnen zu können. Die zunehmende Abhängigkeit der maroden Wirtschaft von westlichen Krediten führte zur weitgehen-

Resümee

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den Zurückhaltung der Repressionsorgane. Immer öfter wurden DDR - Diplomaten auf die Frage der Religionsfreiheit im Allgemeinen und den Status der Zeugen Jehovas im Besonderen angesprochen. Die schrittweise Liberalisierung der Tätigkeit der Zeugen Jehovas in Polen musste die ostdeutsche Bruderpartei noch weitaus stärker in Bedrängnis bringen, ergaben sich doch hier erstmals sichtbare Alternativen zum restriktiven Vorgehen. Doch beharrten die ostdeutschen Machthaber bis zuletzt auf ihrer Sichtweise vom Gefahrenpotential der Glaubensgemeinschaft. Seit 1985 wurden Angehörige der Glaubensgemeinschaft auch nicht mehr zum Wehrdienst eingezogen. Das ostdeutsche Regime akzeptierte die konsequent verweigernde Haltung auch danach nicht, doch mussten sich die Machthaber langfristig damit abfinden, weil die Zahl der Verweigerer aus den Reihen anderer religiöser und politischer Gruppen in den achtziger Jahren spürbar stieg. Die strafrechtliche Ahndung hätte dem außenpolitischen und innerdeutschen Ansehen der DDR geschadet. Allerdings bestand für die Betroffenen keinerlei Sicherheit, wie lange diese westlichem Augenmerk geschuldete „liberale“ Handhabung des Problems andauern würde. Trotz der nach Außen propagierten „friedlichen Koexistenz“ gelang es mit dem Theorem „Politisch - ideologische Diversion“ ( PID ) das überkommene Feindbild zu konservieren. Mit den abzuwehrenden westlichen „Diversionsversuchen“ konnten Perzeptionen des „Kalten Bürgerkrieges“ weitergepflegt und abweichendes Verhalten weiterhin dem Einfluss westlicher Kräfte zugeschrieben werden. Auch nach Rationalisierung und Bürokratisierung der Tätigkeit des MfS bildete diese neuerliche Verschwörungstheorie bis zum Ende der DDR einen zentralen Bezugspunkt bei der internen Normenvermittlung und Selbstdefinition. Um ähnlichen Entwicklungen wie in Polen vorzubeugen, versuchte das MfS daher in immer neuen Studien, die Gefährlichkeit und Verfassungswidrigkeit der Religionsgemeinschaft zu belegen. Noch immer war das MfS den Koordinaten der gewaltsamen Diktaturdurchsetzung verpflichtet, aus ihr bezog es die Legitimation seiner Arbeit. In den Augen der kirchenpolitischen Abteilung des MfS musste also die Aufhebung der staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Verbote direkt einer Anerkennung der Unrechtmäßigkeit aller bisherigen Maßnahmen gleich kommen. Eine Legalisierung bedeutete in den Augen des MfS die völlige Kapitulation der sozialistischen Staatsorgane. Auch die immer offener zu Tage tretenden Bedrohungen für das Ostberliner Regime, wie die prekäre Wirtschaftslage oder die zunehmende Arbeit oppositioneller Gruppen führten bei der Staatspartei nicht zu einer kritischen Reflexion der jahrelangen Paranoia gegenüber der Glaubensgemeinschaft. Bis 1989 hielt die ostdeutsche Geheimpolizei an den Gründen fest, die 1950 zum Verbot führten. Die Zeugen Jehovas mussten sich bis zum 14. März 1990 gedulden, ehe sie wieder die staatliche Anerkennung in der DDR erhielten.

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2.

Schlussbetrachtungen

Zwei Diktaturen im Vergleich

Das Verbot der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas und seine Durchsetzung nach 1933 und 1950 bietet ein ausgezeichnetes Beispiel, das Streben von Weltanschauungsdiktaturen nach völliger Kontrolle, die Wahrnehmung und Einordnung abweichenden Handelns sowie die daraus folgenden praktischen Konsequenzen in der Repressionspolitik zu veranschaulichen. Dabei lassen sich sowohl Unterschiede, als auch Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten entdecken. Auch 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des SED - Regimes ist eine vergleichende Betrachtung der beiden deutschen Diktaturen alles andere als geläufig und akzeptiert. Horst Möller hat die Argumentationskette von Kritikern einer vergleichenden Interpretation des nationalsozialistischen Systems prononciert zusammengefasst: „Vergleichen heiße gleichsetzen, gleichsetzen heiße relativieren, relativieren heiße entschuldigen, eine solche Geschichtsschreibung sei apologetisch und ‚entsorge‘ die deutsche Geschichte von der nationalsozialistischen Diktatur.“1 Nun darf kein Zweifel darüber bestehen, dass gravierende Unterschiede zwischen beiden Regimes existierten, von denen die Anzettelung eines Weltkrieges und die Massenverbrechen in Vernichtungs - und Konzentrationslagern nur die augenfälligsten sind. Doch gibt es bei der ausschließlichen Betonung dieser Gegensätze die Gefahr ( und zum Teil auch die Strategie ), das Ausmaß der in der DDR angewandten Unterdrückung zu verharmlosen oder gar dessen Einordnung als Diktatur in Frage zu stellen.2 Ein epochenübergreifender Blick bewirkt also nur Erkenntnisgewinn, wenn er darauf abzielt, „Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Herrschaftssystemen präziser herauszuarbeiten und sich davor hütet, die in Ähnlichkeiten und Abweichungen auch enthaltene Nichtgleichheit zu negieren“.3 Dabei bietet sich dieser übergreifende Zugriff auf die deutsche Zeitgeschichte geradezu an. Beide Diktaturen prägten die deutsche Geschichte mehr als die Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die unmittelbare Aufeinanderfolge zweier, ideologisch diametraler totalitärer Diktaturen stellt einen singulären Tatbestand dar.4 Die Darstellung der mehr als 50 Jahre dauernden Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas stellt einerseits eine sektorale, andererseits eine diachrone Betrachtungsweise dar. Sektoral meint, dass nur bestimmte Strukturen und Mechanismen der Regime herausgegriffen und anhand eines weitgehend unverändert gebliebenen Untersuchungsobjektes geprüft werden. Der diachrone Ansatz ver weist auf die zeitliche Aufeinanderfolge beider Diktaturen. Diese Beziehungskonstellation stellt den Betrachter vor das Problem, dass sich beide Systeme nicht gegenseitig beeinflussen und Lernprozesse nur in der folgenden 1 2 3 4

Möller, Diktatur - und Demokratieforschung, S. 29. Vgl. Schönhoven, Drittes Reich und DDR, S. 193. Ebd., S. 192. Heydemann / Schmiechen - Ackermann, Zur Theorie und Methodologie vergleichender Diktaturforschung, S. 13.

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Epoche in Rechnung gestellt werden können. Andererseits ermöglicht dieser Betrachtungsansatz, Rückschlüsse auf die einzelnen Phasen der Diktaturen zuzulassen, um so den statischen Charakter generalisierender Diktaturanalysen zu vermeiden. Aber auch für diese sektorale und diachrone Analyse sind folgende, von Günther Heydemann aufgeführte „zeitliche und strukturelle Spezifika“ als Voraussetzung unverzichtbar : die unterschiedliche Dauer beider Diktaturen, die innenund außenpolitischen Gründungsbedingungen, die Ideologie und ihre weltanschaulichen Grundlagen, der Grundaufbau beider Herrschaftssysteme, die unterschiedliche Souveränität und Handlungsspielräume, die Legitimation der Herrschaft in der Bevölkerung, die Instrumentalisierung von Recht und Justiz, unterschiedliche Wirtschaftsysteme, die Kontrolle der Bevölkerung durch Überwachung, Repression und Terror, die Verfügungsgewalt über Massenmedien sowie die divergierende nationalstaatliche Basis beider Regime.5 Diese „Grundbedingungen“ einer vergleichenden Analyse von nationalsozialistischer und SED - Diktatur beeinflussen einander in der praktischen Auswirkung. Diese beachtend, können auch aus der Darstellung des Umgangs mit einer randständigen Gruppe wie den Zeugen Jehovas verallgemeinbare Folgerungen über beide Systeme gezogen werden. Ein offensichtliches Charakteristikum der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland und des SED-Regimes im Osten des Landes ist deren zeitliche Aufeinanderfolge. Die zusammengebrochene und zerschlagene „Vorgängerin“ war die wichtigste Bezugsgröße für die SED - Herrschaft. Natürlich verdankte das ostdeutsche Nachkriegsregime seine bloße Existenz der militärischen Zerschlagung und Besetzung Deutschlands. Erst der weitgehende Zusammenbruch der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung erleichterte die Diktaturdurchsetzung nach 1945. Als „Antifaschismus“ konnte der negative Bezug auf den Nationalsozialismus die eigenen Anhänger mobilisieren und motivieren, bewirkte Sympathien aber auch außerhalb des eigentlich kommunistischen Lagers. Er bildete einerseits eine positive Legitimationsbasis für die Herrschaft des Regimes, andererseits konnte so auch das Vorgehen gegen Gegner begründet werden, denn die waren ja Faschisten, bestenfalls Neo - Faschisten. Die Erinnerungen an die nationalsozialistischen Verbrechen machten allerdings – wie der Fall Paul Merker zeigt – repressive Härten unmöglich, wie sie in anderen Ostblockstaaten Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre stattfanden. Zumindest galten sie als inopportun. Für die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ und DDR hatte die vorhergehende Verfolgungsperiode in mehrfacher Hinsicht Relevanz. Zu allererst profitierten die Gläubigen von den praktischen Kenntnissen in der konspirativen Arbeit vor 1945. Schnell konnte das Zellensystem reaktiviert werden, mit den organisatorischen und logistischen Stützpunkten in Westberlin, Wiesbaden und Selters konnte an die Erfahrungen mit den Bibelhäusern in Prag, Hemstede 5

Ebd., S. 33.

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Schlussbetrachtungen

und Bern für den illegalen Literatur - und Informationsaustausch angeknüpft werden. Diese Erfahrungen hemmten den Erfolg des gegenüber der Polizeiarbeit bis 1936 um vieles härteren Vorgehens von Polizei und MfS seit 1950 entscheidend. Auch der Status vieler Gläubiger als „Opfer des Faschismus“ begrenzte anfangs die Konfrontation mit der Glaubensgemeinschaft. Bis in die letzten Jahre der DDR musste mit großer Anstrengung dieser Opferstatus widerlegt werden, wollte man nicht den eigenen „antifaschistischen“ Anspruch delegitimieren. Nicht zuletzt die Verwendung von Akten der nationalsozialistischen Repressionsorgane für die eigene Gegnerbekämpfung verweist auf die „operative“ Bedeutung des NS - Regimes für die DDR. Offensichtlich ist auch die diametrale Dynamik der Diktaturen. Dabei stellt sich heraus, dass der „revolutionäre Schwung“ in der DDR erstarrte, während er im Nationalsozialismus in unvorstellbaren Verbrechen eskalierte. Nach anfänglichen Rücksichtnahmen auf traditionelle Eliten in Staat und Kirche radikalisierte und entgrenzte sich das nationalsozialistische Regime zusehends. Bis Kriegsbeginn konnte die SS gegenüber traditionell eingestellten Stützen des Regimes sowohl die „rassische Generalprävention“ als Polizeikonzept als auch den Ausbau des Maßnahmestaates durchsetzen. Die angeblich gefährliche Wirkung der Bibelforscher wurde beschworen, um die bislang ausschließlich an Kommunisten angewandte Inschutzhaftnahme nach Strafhaft sowie die nichtsanktionierte Folter bei Verhören auf andere Deliktgruppen auszuweiten. Doch in einer bürgerlich - verrechtlichen Gesellschaft stießen auch die Gestapo und der SD immer wieder an immanente Grenzen. Erst der Krieg half weitere normative Schranken zu beseitigen. Die Radikalisierung im Kriege findet in der DDR keine Entsprechung. Am Anfang dieser Radikalisierungsspirale steht auch die öffentliche, nicht von der Justiz angeordnete Exekution des Bibelforschers August Dickmann am 15. September 1939 im KZ Sachsenhausen. In der DDR verlief diese Dynamik umgekehrt. Nach der Machtetablierung begann das SED - Regime die eigenverantwortliche Verfolgung seiner Gegner mit offenem Terror. Zeugen Jehovas wurden nicht nur zu drastischen Zuchthaustrafen verurteilt. Die brutale Behandlung während der Verhaftung, Vernehmung oder in Strafhaft kostete auch Menschenleben. Ab Ende der 1950er Jahre verordnete die SED dem MfS dann verstärkt Zurückhaltung. Zuvorderst war diese dem Wunsch nach diplomatischer Anerkennung und damit nach Wohlwollen im Ausland geschuldet. Negatives öffentliches Aufsehen sollte vermieden werden. Strafrechtliches Vorgehen stand unter dem Vorbehalt der politischen Opportunität und wurde je später je seltener eingesetzt. Aber auch die eigene Arbeit setzte dem MfS Grenzen, immer seltener konnten Informationen operativ genutzt werden, wollte man nicht die eigenen Quellen gefährden. Zudem konnte das MfS seine Tätigkeit auch bei der staatsloyalen Bevölkerung immer weniger legitimieren. Dennoch lassen sich auch in Phasen vermeintlicher „Entgrenzung“ Zurückhaltungen und Rücksichtnahmen entdecken. Noch 1940 glaubte SD - Referent Kolrep, Rücksicht auf die öffentliche Meinung in den USA bei seinen Plänen zur

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Deportation der Bibelforscher ins Generalgouvernement nehmen zu müssen. Statt aller Gläubigen wollte er versuchsweise erst einmal 100 Familien abschieben, um die Reaktion der Vereinigten Staaten zu testen. Als das Reich 1945 seiner finalen Krise zusteuerte, hoffte Himmler, mit der Freilassung von Bibelforschern bei den alliierten Kriegsgegnern einen guten Eindruck zu machen. Das SED-Regime brauchte auch in Zeiten offenen Terrors den legitimatorischen Schild des „Rechts“. Das Urteil des Obersten Gerichts der DDR vom 5. Oktober 1950 bildete nicht nur die Rechtsgrundlage für die strafrechtliche Verfolgung jeglicher politisch motivierten Verfolgung bis 1957, es musste auch bis 1989 zur Rechtfertigung des Vorgehens gegen die Glaubensgemeinschaft herhalten. Die Bedingungen der Herrschaftserrichtung waren 1933 ganz andere als 1945. Die Kontinuitätslinien in die nationalsozialistische Diktatur waren um vieles stärker als nach 1945. Für den Justizapparat bedeutete die nationalsozialistische Machtergreifung weder strukturell noch personell einen Bruch. Nur 7,5 Prozent des Personals wurde aus rassischen oder politischen Gründen entlassen. Die Nationalsozialisten konnten auf die Anpassungsbereitschaft der meisten Richter und Staatsanwälte bauen. Erst spät wurden direkte Lenkungsmechanismen eingeführt. Bis in den Krieg hinein behielt die Justiz aber im Hinblick auf die weiter reichenden Vorstellungen von SD und Gestapo ihr retardierendes Moment. Das belegt die mannigfaltige Kritik an zu milden Strafen für Bibelforscher, aber auch die verschiedenen freisprechenden Urteile, die auch grundsätzliche „Errungenschaften“ der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Zeugen Jehovas in Frage stellten. Bei der Diskussion um die Frage, ob der Gestapo das Recht zustehe, durch die Verbringung ins KZ ihr zu milde erscheinende Urteile zu korrigieren, standen sicher vor allem Kompetenzfragen im Vordergrund. Die Verneinung der Verbotsgültigkeit aus formalen bzw. verfassungsrechtlichen Gründen und die Ablehnung durch Folter erpresster Geständnisse und Aussagen können dagegen wohl zu Recht als Kritik an bestimmten Repressionspraktiken des NS - Regimes gewertet werden. Das nationalsozialistische KZSystem war ohne Entsprechung in der DDR, für das Bestehen einer noch nicht völlig gleichgeschalteten Justiz im nationalsozialistischen Deutschland allerdings konstitutiv. Erst die Drohung mit und die Abschreckung durch den KZ - Terror ermöglichten eine gewisse joviale Großzügigkeit, wenn die Gestapo in einzelnen Fällen die Ermittlungen von sich aus einstellte oder Häftlinge Urlaub oder die Strafaussetzung erhielten. Begünstigt durch den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung und unter dem Vor wand der „antifaschistisch - demokratischen Erneuerung“ führte die KPD / SED einen viel weitergehenden Personalaustausch durch. Die Indienstnahme des alten Apparates hätte sich auch aus ideologischen Gründen verboten. Bis Ende der 1940er Jahre hatte sich die SED damit nicht nur der Exekutive und Legislative, sondern auch der Judikative bemächtigt und zwar durchdringender als es dem Nationalsozialismus je gelungen war. Die Anpassungsbereitschaft vieler Juristen machte dies allerdings auch unnötig. Die DDR - Gerichtsbarkeit blieb

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Schlussbetrachtungen

aber für die Repression von untergeordneter Bedeutung. Sie galt als nachgeordnete Ver waltung, die die Vorgaben aus Partei und Justizver waltung kritiklos umsetzt. Vor diesem Hintergrund waren die Spielräume für DDR - Juristen entschieden kleiner. Als die Verfolgung der Zeugen Jehovas auch auf strafrechtlichem Wege angegangen wurde, waren Gerichte, Staatsanwaltschaft und teilweise sogar die Rechtsanwaltschaft der SED unter worfen. Ablehnung konnte sich nur noch in individuellen Handlungen wie Flucht oder Verweigerung der Prozessteilnahme, aber nie in abweichenden Urteilen äußern. Der Unterschied in den Wirtschafts - und Eigentumsverhältnissen berührte die Behandlung der Religionsgemeinschaft nur peripher. Allerdings war es den Gläubigen in einigen Fällen möglich, dem nationalsozialistischen Druck nach staatsloyalem Handeln durch Tätigkeit in Privatunternehmen auszuweichen. Oftmals reichte aber der Arm der DAF auch bis hierher. In der staatseigenen Wirtschaft der DDR war dies viel schwieriger. Die privatwirtschaftliche Verfasstheit des nationalsozialistischen Deutschlands wirkte sich trotz aller Lenkungsmaßnahmen auch auf die Presseberichterstattung aus. Es gab keine Kritik an nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, die Nähe oder Distanz zu den neuen Machthabern äußerte sich aber auch in der Intensität der Berichterstattung über die Bibelforscher. Das Spektrum umfasste radikal völkisch - antisemitische Pamphlete, kommentarlose Wiedergabe von amtlichen Nachrichten und Schweigen. An „Aufklärungskampagnen“ beteiligte sich nur die originär parteieigene Presse. In der DDR gab es fast ausschließlich parteigebundene Zeitungen. Nach Gleichschaltung der Parteien druckten deren „Organe“ die Propaganda der SED kaum modifiziert nach. An den Pressekampagnen gegen die Zeugen Jehovas im August und im Oktober 1950 beteiligten sich alle Blätter unisono. Unter dem Zugriff der Diktaturen, in einem Umfeld von Zustimmung und / oder Anpassung war das öffentliche Zeugnisgeben für die Gläubigen sehr riskant. Ihnen fehlte auch ein der Arbeiterbewegung oder dem kirchlichen Lager entsprechendes Sozialmilieu als „Rückzugsraum und Operationsbasis“.6 Der Rückhalt des nationalsozialistischen Regimes bei einem Großteil der Bevölkerung war für die Tätigkeit der Gestapo entscheidend. Sie konnte sich auf eine breite Denunziationsbereitschaft in der Bevölkerung stützen. Die SED besaß in der Bevölkerung ( mit Ausnahme ihrer nicht unbeträchtlichen Anhängerschaft ) wenig Anerkennung. Die wirtschaftliche Lage, der Terror, die fehlende nationalstaatliche Basis, die Moskauabhängigkeit und der propagierte Atheismus / Materialismus stießen bei großen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung. Angesichts dieser mangelnden Legitimierung überließ das MfS die Zuträgerschaft aus der Bevölkerung nicht dem Zufall, sondern institutionalisierte die Denunziation durch das IM - System. Die unterschiedliche Zustimmung zum jeweiligen Regime beeinflusste auch das Verhalten der Kirchen, ihrer Mitarbeiter und Mitglieder. Diese erhofften 6

Imberger, Widerstand „von unten“, S. 282.

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nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten die Restauration der vorrevolutionären Zustände. Dazu zählten sie auch die Bekämpfung des Sekten- und Gottlosenwesens. Das Verbot der Bibelforscherbewegung war von den Kirchen 1933 gefordert, unterstützt und wohlwollend zur Kenntnis genommen worden. Die Arbeit der Gestapo wurde nicht nur durch das Sektenarchiv der Apologetischen Centrale, sondern auch durch die – von den Kirchenleitungen geforderte – Denunziationsbereitschaft des Kirchenpersonals ermöglicht. In der DDR waren die Kirchen an der Verfolgung im Wesentlichen unbeteiligt. Das lag offenkundig auch an fehlenden Einflussmöglichkeiten. Trotz eines „Unbehagens“ in Bezug auf die Zeugen Jehovas, überwog angesichts der ideologischen Gegnerschaft und der staatlichen Repressionen die Distanz der Kirchen in der DDR zu den Machthabern.7 Nach Auswertung von Erinnerungsberichten im Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas lassen sich für die Zeit nach 1945 entschieden weniger Denunziationen von Pfarrern und Kirchenmitarbeitern finden. Die distanzierte Haltung der ostdeutschen Bevölkerung zum Militärdienst war einerseits Resultat der Erfahrungen des Massensterbens im Zweiten Weltkrieg. Sie verweist aber auch auf die nationalen Legitimationsdefizite, die der ostdeutsche Staat gegenüber seinem bundesdeutschen Konkurrenten besaß. Beide Faktoren bewirkten, dass Wehrdienstver weigerung in der Gesellschaft nicht wie vor 1945 als Zeichen von mangelndem Patriotismus oder gar „Volksverrat“ gewertet wurde. Der Einsatz der evangelischen Kirchen in der DDR gegenüber Staat und Partei für Wehrdienstverweigerer half indirekt auch den Zeugen Jehovas. Das Herrschaftsgefüge im Nationalsozialismus und das in der DDR differieren entschieden. Während in der DDR sowohl Partei - als auch Staatsapparat der jeweiligen SED - Spitze gleichgeschaltet waren, findet sich im Nationalsozialismus auf allen Ebenen ein Mit - und Gegeneinander von Interessengruppen aus Partei, Staat, Wehrmacht und Wirtschaft, aber in der Regel keine prinzipielle Gegnerschaft. Die Umsetzung zentraler Anordnungen wurde auch im Fall der Zeugen Jehovas von regionalen Gegebenheiten beeinflusst. Die Vehemenz der Verfolgung hing im Nationalsozialismus von den Strukturen und der Prioritätensetzung im lokalen Repressionsapparat selbst, aber auch von den lokalen Behörden und dem gesellschaftlichen Umfeld der Bibelforscher ab. Besaßen Bibelforscher einen guten Leumund oder stand zu befürchten, dass die Kommune für die Kosten aufkommen musste, konnten lokale Behörden durchaus auch mäßigend einwirken. Regionale Unterschiede mag es in der DDR auch gegeben haben. Vor allem gab es aber immer auch Lehrer, die die diskriminierenden Vorgaben nicht umsetzten, oder Betriebe, die Zeugen Jehovas auch ohne vormilitärischen Unterrichtet ausbildeten. Rücksichtnahmen durch lokale Behörden waren dagegen ausgeschlossen.

7

Vgl. Wilhelm, Zweierlei Obrigkeit.

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Schlussbetrachtungen

Zwar vergrößerte sich in beiden Systemen die Schnittfläche von Staatspartei und Geheimpolizei. Doch während Gestapo und später das RSHA ihr Eigengewicht gegenüber der NSDAP wahren und ausbauen konnten, blieb das MfS trotz seiner Machtfülle stets dem Willen der SED - Führung unter worfen, es war „Schild und Schwert der Partei“.8 Im Machtgefüge des nationalsozialistischen Staates und innerhalb der SS hatte sich eine Konkurrenz herausgebildet, die ein Element der Radikalisierung war. In diesem Wettbewerb konnte nur die Gliederung Erfolge zeigen, die andere in Härte, Radikalität und Durchschlagskraft übertrumpfte. Dieser Erfolgsdruck führte zwischen Gestapo und SD, aber auch zwischen den regionalen Dienststellen zu Rivalitäten, die einerseits die Zerschlagung der IBV beförderten, andererseits aber auch zu Reibungsverlusten führen konnten. Allerdings zeigt die Behandlung des 1940 vorgebrachten Planes, die Zeugen Jehovas ins Generalgouvernement zu „entsorgen“, dass nicht jede radikale Lösung aufgegriffen wurde. Was bei einem zentralen Thema, wie der Judenverfolgung, angedacht und in die Praxis umgesetzt wurde, hatte bei einem randständigen Ressort, wie der Sektenbekämpfung, keine Aussicht auf Umsetzung. Der im DDR - Machtapparat, zumal im MfS herrschende Zentralismus war einerseits Bedingung für die Koordinierung und Anleitung der einzelnen „Diensteinheiten“. Er gewährleistete die flächendeckende Kontrolle und Informationsabschöpfung. In zentralen und regionalen „operativen Vorgängen“ wurden die einzelnen Organisationsebenen der Glaubensgemeinschaft ermittelt und bekämpft. Andererseits hemmte dieser Zentralismus auch die geheimpolizeilichen Zugriffsmöglichkeiten. In dem bürokratischen, auf Planerfüllung und militärischem Gehorsam ausgerichteten System der Staatssicherheit war für Eigeninitiative kein Platz. Gravierend sind die Unterschiede in der außenpolitischen Stellung beider Regime. Das Deutsche Reich unter nationalsozialistischer Herrschaft war ein Nationalstaat mit hoher Identifikation der Bevölkerung, der seine außenpolitische Unabhängigkeit zumindest bis 1939 ständig erweiterte. Die DDR war der ostdeutsche Teilstaat, der sich in einer aussichtslosen Rivalität mit seinem westdeutschen Konkurrenten befand. Dieser blieb bis 1989 ökonomischer und ideologischer Bezugspunkt für die Bevölkerung. Familienkontakte, Bekanntschaften, ideelle Verbindungen oder institutionelle Beziehungen sowie die ( wenn auch chargierende ) Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Politik und der Medien verhinderten die Abschottung. Die Weiterführung des Glaubenslebens im Nationalsozialismus wurde vor allem durch die Unterstützung aus den Bibelhäusern in der Tschechischen Republik, in den Niederlanden und in der Schweiz gewährleistet. Durch seine kriegerische Expansion konnte das Regime immer neue Stützpunkte der illegalen Arbeit unter Kontrolle bringen ( Prag, Hemstede ) oder isolieren ( Bern ). Die innerdeutschen Verbindungen nach 1950 waren um ein Vielfaches stärker. Über 8

Vgl. Eckert, Gleiche Brüder – gleiche Kappen ?, S. 18.

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die offene Sektorengrenze in Berlin, Interzonenzüge oder Transit - und Besuchsreisen konnte die Literatur versorgung und die Anleitung der Gemeinschaft jederzeit gewährleistet werden. Nicht zuletzt waren die Fluchtmöglichkeiten für verfolgte Zeugen Jehovas in die Bundesrepublik um vieles einfacher als die vor 1939 in die Schweiz oder die Niederlande. Bei allen geschilderten Unterschieden weisen NS - Regime und DDR auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Beide Diktaturen strebten danach, alle Lebensbereiche zu durchdringen und zu lenken. Sie zielten dabei auf eine umfassende, funktionale Kontrolle. Sowohl Nationalsozialismus als auch Kommunismus suchten ihre Herrschaft durch eine diesseitige Utopie zu legitimieren und für deren Ziele die Bevölkerung zu mobilisieren. Feindliches oder abweichendes Verhalten wurde mittels Überwachung, Repression und Terror unter Kontrolle gebracht. Recht und Justiz wurden instrumentalisiert, während der geheimpolizeiliche Apparat die Federführung übernahm und immer weitere Kompetenzen an sich zog. Beide Diktaturen nutzten ( und benötigten ) Wahlen, um die Einheit von Regierung und Volk zu beschwören und damit die eigene Herrschaftslegitimation zu demonstrieren. Abstimmungen hatten also lediglich die Aufgabe, die Herrschaft zu stabilisieren, die Massen zu mobilisieren und zu formieren. Wahlverweigerung hatte vor allem dann Konsequenzen, wenn die Wahl / Abstimmung plebiszitären Charakter trug und in einer Mobilisierungsphase zudem noch politisch aufgeladen war. Während der nationalsozialistischen Diktatur betraf dies vor allem die Wahl im November 1933. Im Vorfeld und in Auswertung der Wahlen vom Mai 1949 sowie im Oktober 1950 griff die SED politische und grundsätzliche Wahlver weigerer massiv an. Auch in den Jahren danach wurde die Wahlabstinenz penibel registriert, sie war allerdings kein Grund mehr für polizeiliches Eingreifen. Bei Wahlen in der Phase der Diktaturerrichtung, die noch kompetetiven Charakter trugen, wie im März 1933 oder im Oktober 1946, hatte Nichtteilnahme am Wahlvorgang kaum Konsequenzen. Erst bei Wahlen mit Einheitsliste wurde die Verweigerung politisch gedeutet. Mit dem strukturellen und personellen Ausbau des geheimpolizeilichen Apparats nach 1935 und 1957 ging auch eine weitgehende Machtkonzentration einher. Gegenüber anderen Institutionen forderten Gestapo und SD bzw. MfS die alleinige Zuständigkeit für „Feinde“ und nicht gleichgeschaltete Gruppen ein. Die kritische Beeinflussung der Justiz durch den SS - geführten Apparat wurde schon geschildert. Aber auch konkurrierende Mitkämpfer gegen die Zeugen Jehovas, wie die evangelische Apologetische Centrale oder der antisemitische „Weltdienst“ wurden geschlossen bzw. unter Kontrolle gebracht und dann ausgeschaltet. Damit lag die Federführung auch der geistigen Auseinandersetzung mit den Bibelforschern unter der Kontrolle anderer Kräfte als während der Phase der Machtübernahme. Obwohl das MfS an die Vorgaben der SED gebunden war, hatte es entscheidenden Einfluss auf das Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas, indem es als Ermittlungsorgan die Bearbeitung an sich zog. Auch wenn bei der operativen

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Schlussbetrachtungen

Arbeit die Volkspolizei, die Justiz, das Staatssekretariat für Kirchenfragen, die NVA oder das Ministerium für Äußere Angelegenheiten einbezogen werden mussten, die Federführung lag stets beim MfS. Die kontrolliert selektive Information der „Partner des operativen Zusammenwirkens“ führte letztlich zu einer weitgehenden Informationsabschottung. Verstärkt wurde dies durch die in den 1970er Jahren perfektionierte Unterdrückung und Kontrolle nicht nur aller Konflikte, sondern auch von „problematischen“ Meldungen und Informationen, ehe sie „öffentlichkeitswirksam“ waren. Dies war ein gravierender Gegensatz zum Nationalsozialismus, der sich einerseits auf die viel geringere Legitimität der zweiten deutschen Diktatur in der Bevölkerung gründet, sich andererseits aber auch auf ein anderes Repressionskonzept zurückführen lässt. Durch das offene Auftreten der Zeugen Jehovas ähnelte sich auch das polizeitaktische Vorgehen. Das für den Glauben der Zeugen Jehovas konstitutive Gebot der öffentlichen Verkündigung, die zentral vorgegebenen Termine, wie das jährliche Gedächtnismahl oder die vielen Situationen, in denen Zeugen Jehovas auffielen ( Wahlen, Beflaggungen, Spendenver weigerungen) boten der Geheimpolizei eine relativ breite Angriffsfläche. Dabei betätigten sich beide nicht nur als Ermittlungsorgan, sondern übernahmen die Sanktionierung mitunter auch in eigener Regie. Durch freiwillige oder institutionalisierte Denunziationen gerieten die Gläubigen ins Blickfeld. Mittels V - Leuten oder IM konnten Strukturen ermittelt und zerschlagen oder kontrolliert werden. Zumindest zeitweise setzten die Sicherheitsapparate dabei massive Gewalt gegenüber Angehörigen der Glaubensgemeinschaft ein. Nicht zuletzt die Verwendung von nationalsozialistischem Ermittlungs - und Propagandamaterial durch das MfS verdeutlicht eine uneingestandene Nähe im Kampf gegen die Zeugen Jehovas. Auch Diktaturen benötigen das kodifizierte Recht. Bei allem politischen Vorbehalt, bei aller Suspendierung von Bereichen des Rechts durch den Repressionsapparat beruhten die Entscheidungen der Judikative auf fixierten Gesetzen und Normen. Sie waren als Entscheidungsgrundlage und zur Legitimierung auch des politischen Strafrechts unabdingbar. Dieser Zustand bedeutete immer auch Grenzen in der Durchsetzbarkeit politischer Vorgaben. In angegliederten Gebieten, in denen noch kein eigens erlassenes Bibelforscher verbot vorlag, konnte die Gestapo kein Ermittlungsverfahren gegen aktive Gläubige anstrengen. Auch nationalsozialistische Gerichte verhängten Zuchthaus - und Todesstrafen gegen Bibelforscher trotz Kritik durch Gestapo und SD erst dann, als es dafür rechtliche Grundlagen gab.9 Um abweichendes Handeln dennoch strafrechtlich ahnden zu können, wurden möglichst offene Straftatbestände und weitgefasste Generalklauseln angewandt. Während die DDR 1957 die strafrechtliche Verfolgung mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz erstmalig differenzierte und präzisierte, löste der Weltkrieg im nationalsozialistischen Deutschland eine entgegengesetzte Entwicklung aus. 9

Dieses Manko wurde jedoch im Nationalsozialismus durch die maßnahmestaatliche Institution der KZ - Haft mehr als ausgeglichen, der Zustand allerdings wurde beklagt.

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In beiden Diktaturen stand die Justiz dennoch unter Druck und konnte den Erwartungen als Repressivorgan nicht nachkommen. Zum einen hinkten Gerichtsverfahren der Entwicklung des weltanschaulich gebundenen „Rechts“ schon zeitlich immer nach. Rechtsvorgaben, die zum Zeitpunkt der „Tat“ bestimmend waren, konnten während der Verhandlung schon längst obsolet sein. Während des Nationalsozialismus bedeutete dies eine kontinuierliche Verschärfung, die die Richter zu antizipieren hatten und deren Nichteinhaltung von Gestapo und SD fortwährend kritisiert wurde. In der DDR war die Entwicklung vom Auf und Ab der Kritik an „mangelnder Wachsamkeit“ und der am undifferenzierten „Dogmatismus“ geprägt. Juristen mussten eine gewisse Wendigkeit aufbringen, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. So blieb es selbst für linientreue Justizfunktionäre oft schwierig, die „richtige Linie“ zu finden.10 Die wichtigste Gemeinsamkeit der beiden deutschen Diktaturen liegt wohl in deren Bestreben, alle Lebensbereiche zu durchdringen und mittels praktischer und ideologischer Eingriffe zu lenken. Durch Zerstörung der traditionellen Organisationsformen und Bindungen soll die atomisierte und zugleich zwangsorganisierte Masse die Fähigkeit zur eigenen Willensbildung verlieren. In den neu geschaffenen Massenorganisationen sollte diese dann in die propagierte Gemeinschaft integriert und damit umso leichter beeinflusst und manipuliert werden. Angesichts dessen erkannten sowohl Nationalsozialisten als auch Kommunisten in der abgeschlossenen und darum intern autonom agierenden Religionsgemeinschaft einen Gegner, schirmte diese Abgeschlossenheit die Einzelnen doch von der organisatorischen und ideologischen Einflussnahme ab. Ihre vom Glauben bestimmte strikte Abgrenzung von der Umwelt machte die Zeugen Jehovas im weitesten Sinne immun für ideologische Zumutungen der Machthaber. Gerade die Verfolgung sollte aber die Binnenkohäsion der Gemeinschaft und damit die Rechtfertigung der Gläubigen für ihr Handeln nur noch verstärken. Beide Diktaturen erzeugten durch ihren Herrschaftsanspruch und die Unterdrückung abweichenden Verhaltens erst Gegnerschaft. Am Beispiel der Zeugen Jehovas kann dargestellt werden, wie die totalitäre Unterwerfungsforderung, die die Diktaturen an den Einzelnen stellten, für die Bibelforscher aufgrund ihres Glaubens noch weitaus problematischer als für politische Gegner war. Nicht jeder beteiligte sich an der organisierten konspirativen Arbeit, doch jeder sah sich persönlich tagtäglich in Bekenntnissituationen gestellt. Die totalitäre Durchdringung des Alltags und der Privatsphäre und die damit verbundenen Gewissenskonfrontationen stellten jeden Gläubigen vor die Frage, wie er sein Verhalten angesichts der diktatorischen Zumutungen ausrichtet. Angesichts der neu geschaffenen oder immer wieder reproduzierten Herausforderungen für den Glauben kann die Konfrontation beider Regime mit den Zeugen Jehovas als selbstprovozierte Zwangsläufigkeit bezeichnet werden. 10 Vgl. Bästlein, Funktion und Struktur der Justiz, S. 48.

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Schlussbetrachtungen

Bei einer Betrachtungsweise der Verfolgung der Zeugen Jehovas während der Zeit zwischen 1933 und 1989, die nicht auf die Einzigartigkeit einer Verfolgungsepoche abhebt, sondern die Vergleichbarkeit totalitärer Ordnungen voraussetzt, erscheint die der Verfolgung zugrunde liegende Gegnerperzeption in neuem Licht. Frappierend ist die Ähnlichkeit, wie widerständiges Verhalten allgemein und das der Zeugen Jehovas im Besonderen in ein Konspirationsgefüge eingeordnet wurde. Die Wahrnehmung der Gruppe kann als Mischung aus Propaganda, Autosuggestion und subjektiv wahrgenommener Realität bezeichnet werden. Die Einordnung allen abweichenden Handelns in einen verschwörungstheoretischen Zusammenhang markiert eine kaum zu unterschätzende Kontinuität der Jahre vor und nach 1945. Beide Regime standen in den Zeiten der Herrschaftsübernahme und - sicherung unter dem Zwang, die Bevölkerung wirksam zu kontrollieren und für den Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ zu mobilisieren. Die Ablehnung der Zeugen Jehovas, sich in die aufzubauende „NS - Volksgemeinschaft“ oder die „sozialistische Gesellschaft“ einzureihen, sich staatsloyalen Riten zu unterwerfen und das eigene Glaubensleben durch das jeweils herrschende Regime kontrollieren zu lassen, wurde als radikale Abweichung von geforderten Normen gedeutet. Da ihren Ideologien ein dualistisches Freund - Feind - Denken zugrunde lag, reagierten die Machtträger in beiden Diktaturen mit spezifischen Verschwörungstheorien.11 Diese verschwörungstheoretischen Motive und Denkstrukturen dienten einerseits der Definition der Feinde, gegen die es zu kämpfen galt. Andererseits spielten sie bei der Herausbildung eines handlungsleitenden Selbstverständnisses eine wichtige Rolle. Innenpolitische Gegner wurden in ein Konspirationsmodell mit dem jeweilig perhorreszierten Weltfeind gestellt und dessen negative Charakteristika auf sie übertragen. Damit konnte nicht nur der jeweils konkrete Gegner diffamiert, sondern alle ausgemachten Feinde in diesen Zusammenhang gebracht werden. Erst in Abgrenzung von diesen Feinden nahm die Vorstellung von „Volksgemeinschaft“ und „sozialistischer Menschengemeinschaft“ Gestalt an, weil alle Feinde, alle Konflikte, alle Widersprüche „entfernt“ worden waren.12 Sowohl der Nationalsozialismus als auch der Kommunismus bauten die Religionsgemeinschaft in den jeweils wahrgenommenen weltumspannenden Kampf zwischen dem eigenen und dem feindlichen Lager ein. Die unterschiedliche Stellung im internationalen System schlug sich aber auf die „Verortung“ der geistigen und finanziellen Hintermänner der angefeindeten Religionsgemeinschaft nieder : Während in der SBZ / DDR die Zeugen Jehovas immer Instrument im Ost - West - Konflikt und damit auf der politischen Landkarte klar positioniert 11

Während aber im Nationalsozialismus den ZJ vorgeworfen wurde, mit ihrem Verweis auf kommende paradiesische Zustände in Wirklichkeit den realen politischen Umsturz zu meinen, bezichtigten die Kommunisten sie, die Bevölkerung damit ( im Auftrag des Imperialismus natürlich ) vom realen politischen Kampf abzuhalten. 12 Vgl. Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“, S. 445 f.

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waren, wechselten die vermeintlichen Hintermänner der damaligen Bibelforscher für die Nationalsozialisten je nach Zeitpunkt der innen - und außenpolitischen Auseinandersetzung von Kommunisten über Juden bis hin zu den westlichen „Plutokraten“. Bei aller erkennbaren Instrumentalisierung des Kampfes gegen die Zeugen Jehovas für den eigenen Machtausbau ist auch ein deutlicher Realitätsverlust in der Sichtweise zu verzeichnen. So vermelden verschiedene Berichte und „Expertisen“ der ordentlichen Polizei und der Geheimpolizei immer wieder, dass intern und extern kolportierte Vor würfe nicht zuträfen ( so zum Beispiel der der Zusammenarbeit mit Kommunisten nach 1933 oder der der Spionage in der DDR ). Zudem war bekannt, dass sich das Verhalten der Zeugen Jehovas in den sogenannten Feindstaaten nicht von dem im eigenen Land unterschied, eine Instrumentalisierung also unwahrscheinlich war. Dennoch verschwamm in den Augen von Justiz und Geheimpolizei unpolitisches, eigentlich in den Lebens und Glaubensalltag gehörendes Handeln oder eben Nicht - Handeln zu einer Fiktion aus Spionage, illegalem Apparat und bewusster Zersetzung der Gesellschaft und prägte das repressive Vorgehen. Das nichtkonforme Verhalten wurde von den jeweiligen Machthabern als ein derart großes Gefahrenpotential eingeschätzt, dass ihnen – obwohl sich die Anzahl der Gläubigen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung im Promillebereich bewegte – von Justiz und Geheimpolizei eine Aufmerksamkeit zuteil wurde, die in keinem Verhältnis zu ihrem gesellschaftlichen Einfluss stand. Von beiden Systemen wurde die Glaubensgemeinschaft nicht als Konkurrent um die „kulturelle Hegemonie“ bekämpft – wie etwa die traditionellen Groß - und Freikirchen – sondern als Instrument des jeweiligen „Hauptfeindes“, des „jüdischen Bolschewismus“ oder des „amerikanischen Imperialismus“. Diese Perzeption schlug sich in der Verfolgung als gefährlicher politischer Gegner nieder. Die an sich biedere Gemeinschaft widersetzte sich jedoch mit konspirativen Mitteln und einer unerschrockenen Entschlossenheit, was in den Augen ihrer Verfolger ihre scheinbare Gefährlichkeit bestätigte. Das Feindbild verschaffte beiden Diktaturen eine angeblich rationale Begründung für ihr Vorgehen gegen die renitente Glaubensgemeinschaft. Dabei zeigte sich auf unterschiedliche Art und Weise der instrumentale Charakter dieser ideologischen Begründung : im Nationalsozialismus „entwickelten“ sich die Zeugen Jehovas in der Charakterisierung von einem Instrument der jüdisch - bolschewistischen Weltverschwörung zu dem der westlich - demokratischen („plutokratischen“) Kriegstreiber. Auch demonstrierte das Beispiel der Behandlung der Bibelforscher in den KZ, wie sich die eben noch konstatierte „rassische Wertlosigkeit“ in ein rassisches Potential wandelte, das die SS für ihre Zwecke auszubeuten gedachte. Die Geschichte der DDR zeigt, wie veränderte innen - und außenpolitische Gegebenheiten zu einer neuen Wertung der Rolle der Gläubigen in der DDR - Gesellschaft führten ( von Spionage und Kriegshetze zur negativen Beeinflussung der Bevölkerung ), ohne dass sich die zugrunde liegenden

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Schlussbetrachtungen

Prämissen ( die Instrumentalisierung der Glaubensgemeinschaft im Ost - West Konflikt ) grundlegend änderten. Beide Regime konnten also einerseits das Bild von der angeblichen Gefahr, die aus dem Glauben und Handeln der ZJ erwächst, instrumentalisieren. Sie nutzten es zur Mobilisierung von Bevölkerungsteilen, zur Warnung potentieller Gegner oder zur Anleitung des eigenen Apparates. Andererseits bestimmte diese kolportierte Wahrnehmung auch das Handeln des betreffenden Fachpersonals. Die Bedrohungsvorstellungen gewannen zumeist die Oberhand über zweckrationale Kosten - Nutzen - Rechnungen. Das eschatologisch ausgeprägte Glaubensleben der Zeugen Jehovas, welches den Einzelnen in einer Totalität fordert, die eine wie auch immer praktizierte Einflussnahme durch den Staat weitgehend unwirksam werden lässt, wurde in beiden deutschen Diktaturen prinzipiell politisch gedeutet. Die Geschichte der Religionsgemeinschaft zwischen 1933 und 1989 belegt, dass dabei binnen kürzester Zeit sich eigentlich ausschließende Zuschreibungen ( jüdisch, freimaurerisch und kommunistisch bzw. neo - faschistisch und imperialistisch ) entwickelt wurden. Dabei konnte in einzelnen Phasen die Sichtweise vom angeblichen Gefahrenpotential anhand der jeweiligen innen - und außenpolitischen Gegebenheiten angepasst werden, beide hielten aber bis zuletzt an der Deutung fest, dass die Zeugen Jehovas zu jenen Gruppen gehörten, die den Bestand des Herrschaftssystems gefährdeten. Am Ende dieser vergleichenden Betrachtung stellt sich aber die Frage nach einem entscheidenden Unterschied zwischen der nationalsozialistischen Diktatur und dem SED - Regime, der mit der Unterscheidung von „Leichenbergen“ und „Aktenbergen“ zwar plakativ aber weitgehend zutreffend beschrieben wurde. Wie das Beispiel der Zeugen Jehovas zeigt, wandelte sich in den Jahren nach 1935 und nach 1957 der Umgang mit den reellen und imaginierten Gegnern. Während dieser vom SS - Apparat systematisch brutalisiert und der Kontrolle durch den Normenstaat weitgehend entzogen wurde, ging die offene Gewaltanwendung in der DDR zurück. Zunehmend wurde abweichendes Verhalten unterhalb der strafrechtlichen Ebene „bearbeitet“. Dennoch hielt auch die SED an ihrem totalitären Zugriff auf die Bevölkerung fest. Dieser Wechsel, der zwar am Herrschaftsanspruch der SED und dem Willen des MfS, diesen Anspruch zu verteidigen, nichts änderte, hatte jedoch für die praktische Umsetzung des „generalpräventiven Programms“ entscheidende Bedeutung. Entlang der inhaltlichen Wandlung des Wortes „Zersetzung“ soll der Einfluss von Feindbildern auf das repressive Handeln, seine propagandistische und legitimatorische, aber auch seine handlungsleitende Rolle, dargestellt werden.

Zersetzung und Zersetzen

3.

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Zersetzung und Zersetzen

Ian Kershaw meinte, dass es manchmal wertvoller sein könne, „Gegensätze herauszuarbeiten, als Ähnlichkeiten miteinander zu vergleichen“.13 In leichter Abänderung kann man auch sagen, dass es ebenso lohnenswert ist, zu verdeutlichen, wie aus Ähnlichkeiten Gegensätze entstehen können. Obwohl beide Regime nach einer Phase der gewaltsamen Machtergreifung höchst unterschiedlich mit abweichendem Verhalten umgingen, waren doch Nationalsozialismus und Kommunismus bestrebt, bis zuletzt auf die Gesellschaft und auf jedes Individuum zuzugreifen. Auch das Handeln der Zeugen Jehovas wurde als Hindernis bei dieser totalen Durchdringung der Gesellschaft wahrgenommen. Deren Ver weigerung galt als praktische Auswirkung eines Bedrohungsszenarios, das jedoch der geltenden Ideologie entsprang. Dieses Szenario wurde sowohl zur Legitimierung des eigenen Vorgehens als auch zur Motivierung der Repressionsorgane weiter kolportiert. Anhand der Ver wendung des Begriffes „Zersetzung“ kann die Genese eines modifizierten Feindbildes in der DDR der späten 1950er Jahre und dessen Implikation auf die Tätigkeit der Repressionsorgane dargestellt werden. Vor seiner Verwendung als charakteristischer Bestand der Sprache von Diktaturen wurde der Begriff „Zersetzung“14 innerhalb eines umfassenden Analogiesystems übertragen. Zunächst ein Begriff im Bergwesen entwickelte sich „zersetzen“ zum Fachwort in der Chemie, das als Metapher von Trennung, Aufspaltung und Auf lösung verwandt wurde. Später brachte man das Wort auch mit anderen natur wissenschaftlichen Phänomenen in Verbindung. Auch im Bereich des Intellekts fand das Wort seine Anwendung, wenn beispielsweise Schlegel meint: „Ein witziger Gedanke ist eine Zersetzung geistiger Stoffe.“15 In der Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch erhielt das Wort im Zusammenhang mit „zersetzender Kritik“ eine negative Konnotation. In Verbindung mit der Schilderung des Verfalls, im Bündnis von Fäulnis und Zersetzung, bekam das Wort seine biologische Tönung. Seit dieser Zeit stand „Zersetzung“ auch in enger Verbindung mit der Charakterisierung der Juden.16 Die wahrgenommene intellektuelle Begabung der Juden, die polemische Richtung ihres Geistes, ihre Wirkung auf Handel, Presse und Parteiwesen galten als Manifestation eines auf Zerstörung hinarbeitenden Volkscharakters. Diese Ängste wurden durch die starke Beteiligung von Juden an der sozialistischen Bewegung intensiviert. Die biologisch gefärbten Bilder des Verfalls, wie sie in der kulturpessimistisch geprägten Zeit der Jahrhundertwende vorherrschend waren, wurden 13 Kershaw, Der Nationalsozialismus als Herrschaftssystem, S. 156. 14 Vgl. Schäfer, Zur Geschichte des Wortes „zersetzen“; Stichwort „Zersetzung, zersetzen, zersetzend“. In : Schmitz - Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 698–706. 15 Vgl. Schäfer, Zur Geschichte des Wortes „zersetzen“, S. 58. 16 Wie das Beispiel Theodor Mommsens ( die Juden als „Ferment der Decomposition“) zeigt, musste die Bezeichnung „zersetzend“ dabei keinesfalls abwertend verwendet werden. Vgl. Schäfer, Zur Geschichte des Wortes „zersetzen“, S. 62 f.

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Schlussbetrachtungen

immer stärker mit der naturhaften Wirklichkeit identifiziert.17 In einer Zeit der Biologisierung gesellschaftlicher und der Mythisierung biologischer Gegebenheiten, dem scheinbaren Zusammenbruch aller traditionellen moralischen und geistigen Werte am Ende des Ersten Weltkrieges, bekam die Sprache mit ihren eingeschlossenen Bildern und Vorstellungen eine einflussreiche Rolle.18 Das Gefühl, „irgendwie zersetzt zu sein, sei es in Bezug auf den wirtschaftlichen, geistigen, moralischen oder rassischen Bestand“, führte zu einer Suche „nach irgendeinem Verantwortlichen“.19 Hier boten sich verschwörungstheoretische Konstruktionen von Juden, die von außen und innen, gemeinsam mit ihren Helfershelfern den Bestand des deutschen Volkes, den „Volkskörper“ zersetzen, geradezu an. Schnell verschmolzen die schon vorher mit Bezug auf die Juden verwendeten Begriffe von Teufel, Dämon und Antichrist, von Pest und Seuchen, mit der Vorstellung von Parasiten und von Bakterien, die Fäulnis hervorrufen. Der Vergleich und mit ihm das Bild verschwamm immer mehr zugunsten der naturhaften Wirklichkeit.20 Die Darstellung der Juden als Parasiten, als Ungeziefer, die überall zersetzend und vergiftend eindringen und mit dämonischer Kraft den deutschen Volkskörper und jeden einzelnen Deutschen zu zerstören trachten, schwächte moralische Hemmungen. Nach der Machtergreifung 1933 wurden diese Bilder und Anspielungen in ihrer naturhaften Wurzel verstanden und die radikalen Konsequenzen daraus gezogen.21 Mit der Vorstellung des Gegners als Krankheitserreger, der ausgemerzt werden müsse, waren die Mittel der Gegnerbekämpfung durch Gestapo und SD seit der Mitte der 1930er Jahre jeglicher Einschränkung entzogen. Reinhard Heydrich definierte den Gegner nicht nur an den Gefahren für den Staat, sondern an solchen der „rassischen, volklichen und geistigen Substanz unseres Volkes“. Statt des Staatsfeindes könne es im Nationalsozialismus nur noch den Volksfeind geben.22 1937 beschrieb er als Aufgabe der Sicherheitspolizei die Sicherung „gegen jede Art der Zerstörung und Zersetzung“. Diese könnte als defensive Abwehr aller Angriffe, die die Gesundheit, Lebenskraft und Handlungsfähigkeit des Volkes und des vom Volke organisierten Staates schwächen und zerstören oder als offensive, vorausschauende Erforschung des Gegnerischen erfolgen, damit es gar nicht erst wirken könne. Bei den Gegnern unterschied Heydrich zwischen „Einzelmenschen, die aus physischer und seelischer Degeneration sich aus der Volksgemeinschaft gelöst haben“, und den „interna17 18 19 20 21 22

Vgl. Bein, „Der jüdische Parasit“, S. 129. Vgl. ebd., S. 142. Jünger, Blätter und Steine, S. 171. Vgl. Bein, „Der jüdische Parasit“, S. 137 f. Vgl. ebd., S. 143 und 147 f. Heydrich, Die Bekämpfung der Staatsfeinde. In dieser Schrift erklärte Heydrich auch, dass angesichts der Stabilität des Regimes, wie es angesichts des Wahlergebnisses 1936 zum Ausdruck kam, „die alten großen Gegner [...] ihre Anstrengungen verdoppeln und verdreifachen werden“. Die Parallele zur These von der „Verschärfung des Klassenkampfes“ ist evident.

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tionalen weltanschaulichen und geistigen Kräften“, die das Volk zur Verwirklichung ihrer Ziele bekämpfen würden. Das bedeutete, dass die SS - geführte Geheimpolizei definierte, gegen welche Art Angriff vorgegangen werden solle. Sie bekam die Kompetenz zur Überwachung der Gesellschaft, um im Vorfeld präventiv eingreifen zu können. Die Orientierung auf ein umfassendes gesellschaftsbiologisches Programm zielte zudem auf die Utopie einer konfliktlosen Gemeinschaft ab, in der die potentiellen Träger der Veranlagung zu abweichendem Verhalten ausgesondert und ausgemerzt werden müssten, ehe sie selbst „zersetzend“ wirken konnten.23 Wenn, wie Reinhard Heydrich 1936 beschrieb, das „Volk“ eine „Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen“ war, griff ein Gegner zersetzend diese Gemeinschaft, diesen „Volkskörper“ an. Er war der „Volksfeind“, er war „der Gegner der rassischen, volklichen und geistigen Substanz“,24 er musste „als Krankheitserscheinung, die die gesunde Einheit des unteilbaren Volksorganismus bedroht, ohne Rücksicht auf das subjektive Wollen seiner Träger ausgemerzt“ werden.25 Mit Kriegsbeginn fand der Begriff „Zersetzung“ Eingang in die „Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz“. Diese Verordnung wurde mit ihrem in § 5 aufgeführten Straftatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ bald zu einem der wichtigsten Instrumente der Ahndung von Kriegsdienstentziehung bzw. Kritik an der Kriegführung. Die juristische und außerjuristische Verfolgung des „zersetzenden Gegners“ ver wirklichte denn auch die als Ziel angekündigte „Ausmerzung“ im physischen Sinne.26 Diese abstruse Wahrnehmung führte im Falle der Zeugen Jehovas dazu, dass große Anstrengungen zur Verfolgung einer zahlenmäßig unbedeutenden Gruppe unternommen wurden, die zudem wenig Einfluss auf die Gesellschaft hatte.27 Das Feindbild vom Gegner, der den Volkskörper zersetzt, hatte naturgemäß auch instrumentellen Charakter. Es diente gleichermaßen als Legitimation und Motivation der Repression. Es sollte, in der Diktion von Reinhard Heydrich, „gleichrichten“. Zersetzungsängste wurden zudem gezielt geschürt. Um die noch zögerliche Justiz von der Gefährlichkeit der Bibelforscher zu überzeugen und damit zu härteren Strafen zu bewegen, scheute sich die Gestapo nicht, ihre speziell auf den nationalkonservativen Leserkreis zugeschnittenen Versionen der Verschwörungsvorstellungen zu verbreiten. In einer 1936 für die Justiz zusammengestellten „Denkschrift“ wurden gezielt die Ängste vor der Zerset-

23 24 25 26

Vgl. Herbert, Von der Gegnerbekämpfung, S. 81. Heydrich, Die Bekämpfung der Staatsfeinde, S. 121. Best, Die Geheime Staatspolizei, S. 126. Hier ist allerdings die Einschränkung Renate Schäfers zu betonen, dass die Verwendung des Wortes Zersetzung zur Bezeichnung eines Vergehens und damit zum Terminus der Rechtssprache wurde und mit dem auch schon vorher gebräuchlichen Bezug auf das Heer ( vgl. M - Apparat der KPD ) zu erklären ist. Vgl. Schäfer, Zur Geschichte des Wortes „zersetzen“, S. 78. 27 Vgl. Garbe, Sendboten des „Jüdischen Bolschewismus“, S. 145.

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Schlussbetrachtungen

zung des christlichen Glaubens und der staatlichen Autoritäten mit antisemitischen Stereotypen verbunden. Doch es wäre falsch, den ideologischen Triebkräften im nationalsozialistischen System allein instrumentellen Charakter zuzusprechen. Die Furcht vor einem Angriff des „Weltjudentums“ kann die Entschlossenheit und Radikalität erklären, mit der das Konzept der Gegnerbekämpfung in die Realität umgesetzt wurde.28 Hinter allem „ungeheuchelten Kraftgefühl“ kam ein „defensiver Untergrund“ der nationalsozialistischen Aggressivität zum Vorschein : „Sicherung, Schutz, Bewahrung, Ordnung“.29 Erst ein „allumfassendes Gefühl der Bedrohung, eine diffuse Weltuntergangsstimmung“30 können den Impetus des „Alles oder Nichts“ begreif lich machen. Auf den ersten Blick verblüfft angesichts des aggressiven Charakters des nationalsozialistischen Regimes die Annahme, dass dieser aus einer Verteidigungsstellung heraus agiert habe. Dieser Gedanke gewinnt aber an Plausibilität, wenn man bedenkt, dass die paranoide Angst, der Feind trete unter vielen Masken auf, immer neue Feindrealisierungen hervorrief. Gegen die ringsum lauernde, eindringende und um sich greifende Zersetzung konnte nur eine ständig steigende Intensität der Abwehr Sicherung verheißen. Das Beispiel der Zeugen Jehovas zeigt die stete Ausweitung des außernormativen Handlungsbereiches und mit ihren Opfern auch die radikale Konsequenz des nationalsozialistischen Feindbildes. Die geschilderten Bedrohungsszenarien begegnen dem Betrachter 1947/48 erneut. Die verschärfte Blockkonfrontation beförderte in den kommunistischen Parteien ein am Freund - Feind - Prinzip ausgerichtetes Lagerdenken. Eine Folge des innerkommunistischen Schismas zwischen Moskau und Belgrad führte zu „Säuberungen“ innerhalb und außerhalb der Parteien und verstärkte eine Agenten - und Spionagehysterie. In Absetzung von Westdeutschland und zur Kaschierung der eigenen Moskauhörigkeit propagierte die SED einen lautstarken Nationalismus. Der fundamentale Manichäismus des Freund - Feind - Denkens verband sich mit der weltgeschichtlichen Eschatologie der marxistisch - leninistischen Ideologie zu einem verschwörungstheoretischen Denken, das mit antisemitischen Stereotypen angereichert wurde. Diese Stereotypen konnten auch anderen zu Feinden erklärten Gruppen zugeordnet werden. Dieses Feindbild hatte für die Befestigung des Welt - und Selbstbildes, für die Legitimierung des eigenen Handelns und zur Formierung und Motivierung der eigenen Anhängerschaft eine zentrale Bedeutung.31 Und wieder entstand rings um die „helle“ volksdemokratische Welt „eine dunkle Sphäre“, in der dämonische Mächte an der Zerstörung arbeiteten.32

28 29 30 31 32

Vgl. Tuchel, Konzentrationslager, S. 302–307. Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945, S. 368. Pohlmann, Ideologie und Terror, S. 233. Backes, Totalitäres Denken; Haury, Antisemitismus von links, S. 457 f. Schäfer, Geschichte des Wortes „zersetzen“, S. 79.

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Die Verbindung von nationaler Parole und Diktaturdurchsetzung hatte für den Umgang mit realen oder vermeintlichen Gegnern einige Konsequenzen. Die eigentlich unvereinbaren Begriffe „Klasse“ und „Volk“ wurden zum Bild des „schaffenden Volkes“ zusammengefasst, dass sowohl nach sozialen wie auch ideologischen Ein - und Ausschlusskriterien definiert wurde : Der vorher der „revolutionären Arbeiterklasse“ entgegengesetzte und sozial definierte „Kapitalist“ gehörte nun nicht mehr zum Volk, war anational und vaterlandslos, war ein Verräter der „nationalen Gemeinschaft“.33 Die kapitalistische Welt stand in manichäischer Manier dem „Friedenslager“ gegenüber. Dieses wurde von der weltumspannenden und bis ins Innere der sozialistischen Staaten reichenden imperialistischen Verschwörung existentiell bedroht. Im Auftrag dieses internationalen Verschwörungszusammenhangs agierten in der SBZ / DDR innere Feinde, die den sozialistischen Aufbau sabotieren und die Einheit von Partei und Volk zersetzen sollten. Die ständige Entlar vung derartiger „Agenten“ diente nicht nur der Ausschaltung realer und potentieller Widerstände und damit der Konstituierung und Formierung einer homogenen Gemeinschaft unter Führung der Partei. Auch selbstproduzierte Probleme und Widersprüche, alle der revolutionären Verheißung widersprechenden Erscheinungen oder die fehlende Identität zwischen Partei und Bevölkerung konnten so dem verbrecherischen Wirken feindlicher Agenten zur Last gelegt werden.34 Nach dem Theorem von der „Verschärfung des Klassenkampfes“ setzte sich der Imperialismus, obwohl zum Untergang verurteilt, verzweifelt und mit allen Mitteln zur Wehr. Sein Ziel, die Vernichtung des „Friedenslagers“ durch einen dritten Weltkrieg, versuchte dieser von außen, aber auch von innen zu erreichen.35 Charakteristikum dieser Zwei - Lager - Theorie war, dass sie nicht nur eine innergesellschaftliche, sondern auch eine universelle Dimension besaß. Die Subsumierung auch der innenpolitischen Gegnergruppen unter die Feindbilder der zwischenstaatlichen Konfrontation beruhte auf der Fiktion einer sowohl innenals auch außenpolitisch radikal zweigeteilten Welt, in der nur die Kommunisten das gute, fortschrittliche Prinzip der Geschichte, „alle anderen“ hingegen das Böse, das „imperialistische“ Gegenlager verkörperten. Dazu entwickelten die SED und ihr Repressionsapparat realitätsfremde und hypertrophe Bedrohungsszenarien mit räumlich wie auch zeitlich ausgedehnten Verschwörungszusammenhängen,36 in die auch die Zeugen Jehovas integriert wurden. Mit der Zusammenfassung der inneren und äußeren Feinde unter dem Schlagwort des „Imperialismus“ war ein dualistisches Weltbild entstanden, in 33 34 35 36

Vgl. Haury, Antisemitismus von links, S. 440 f. Vgl. ebd., S. 460 f. Vgl. ebd., S. 351. Zu den konstruierten Verschwörungszusammenhängen im Hinblick auf die parteiinternen „Säuberungen“ vgl. Beschluss des ZK der SED vom 20. 12. 1952 „Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slansky“. Abgedruckt in Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band IV, Berlin ( Ost ) 1954, S. 199–219. Zu den Funktionen von Verschwörungstheorien in totalitären Diktaturen vgl. Pfahl - Traughber, Freimaurer und Juden, S. 230 f.

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Schlussbetrachtungen

dem die verschiedenen Gegner den Charakter einer „mythischen Gegenmacht“37 angenommen hatten, die für alle Vorkommnisse, für alle Fehler und Defizite und natürlich auch für jedes abweichende Verhalten verantwortlich war. In deren Auftrag betrieben „gemeine Verbrecher [...], die für ein paar Silberlinge ihr Vaterland verraten“, ihre untergründige Wühlarbeit.38 Das Vokabular, das die SED Ende der vierziger und in den fünfziger Jahren gegenüber ihren inneren und äußeren Gegnern ver wandte, weist deutliche Parallelen zur biologistischen Wortwahl der Nationalsozialisten auf. Den angeklagten Zeugen Jehovas wurde vorgeworfen, gegen die DDR zu „wühlen“, sie seien „verschlagen“ und „fanatisch“. Während „jeder anständige Mensch“ aufbaue, seien diese „Verderber des deutschen Volkes“ und müssten „vernichtet werden“.39 Die „junge Deutsche Demokratische Republik“ müsse „für immer“ [!] „vor solchen Schädlingen“ gesichert werden. Das „Gift“40 der „volksschädlichen Elemente“41 dürfe nicht weiter fressen.42 Besonders häufig wurde den Gläubigen vorgeworfen, „systematische Zersetzung“ zu betreiben. Dieser Begriff, vor allem aus dem Sprachgebrauch der Nationalsozialisten bekannt, belegt wie kaum ein anderer einerseits die Vorstellung eines omnipotenten Gegners, der von außen kommend die Homogenität eines Gemeinwesens bedroht. Andererseits impliziert er mit seiner biologistischen Ausrichtung das Konzept der „Säuberung“ von den „zersetzenden Schädlingen“.43 Seit Ende der 1950er Jahre wandte das MfS eine neue Strategie gegenüber Teilen der von ihm ausgemachten Gegner des Regimes an. Diese neue Strategie hieß ebenso „Zersetzung“. In der linken Tradition besaß das Wort „Zersetzung“ neben der biologistischen noch eine andere Bedeutung. Cornelia SchmitzBerning nennt eine von Marx ausgehende „linke Verwendungstradition“, nach der die kapitalistische Produktionsweise durch die ihr immanente „Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit“ die alte ( feudalistische ) Gesellschaft „zersetzt“.44 Vulgärmarxistisch gewandelt konnte in diesem Bedeutungszusammenhang durch Zersetzung der gesellschaftliche Wandel befördert werden.45 Mit der Vorstellung, einen Gegner „von innen heraus“ zu zersetzen, knüpfte das 37 Vgl. Pohlmann, Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus, S. 51. 38 Vgl. Haury, Antisemitismus von links, S. 357. 39 Urteil des Landgerichts Eberswalde vom 2. 3. 1951. Zit. in Dirksen, Keine Gnade, S. 417 f. 40 Aus der mündlichen Urteilsverkündung vor dem Obersten Gericht der DDR vom 4. 10. 1950 durch die Vorsitzende Hilde Benjamin. Zit. in ebd., S. 337. 41 ADN - Meldung vom 1. 9. 1950 ( BArch, DO 4, 267, unpaginiert ). 42 Es ist sicher kein Zufall, dass in der DDR ( wie auch im gesamten Ostblock ) parallel mit der Verbindung von nationaler Parole und revolutionärer Diktaturdurchsetzung auch antizionistische Kampagnen und „Säuberungen“ einhergingen, die nur wenig verhüllte antisemitische Tendenzen zeigten. Vgl. Pohlmann, Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus, S. 123, und vor allem Haury, Antisemitismus von links, S. 387–410. 43 Zur im Bolschewismus konstitutiven Konzeption der Säuberung vgl. Kroll, Endzeit, Apokalypse, Neuer Mensch, S. 151. 44 Vgl. Schmitz - Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 701. 45 Ich danke Dr. Cornelia Schmitz - Berning für diesen Hinweis.

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MfS daher durchaus an Traditionen des klandestinen M - Apparates der KPD der Weimarer Republik an. Schon der 2. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1920 verpflichtete Aufnahme begehrende Parteien zur Zersetzungsarbeit in den Streitkräften des bürgerlichen Staates.46 Die Zer[ setzungs ] - Abteilung im M - Apparat war angeblich für KPD - Mitglieder die populärste innerhalb der geheimen Organisation. Allerdings war sie im Hinblick auf Aufwand und Nutzen, d. h. für die kommunistische Politik gewonnene Soldaten und Polizisten sowie die Zahl der dabei verhafteten Kommunisten, weitgehend erfolglos.47 Die vom MfS in der Öffentlichkeit gern gepflegten Traditionslinien bis zurück in die 1920er Jahre gingen aber an der Realität vorbei. Die Zersetzungsarbeit des M - Apparates der KPD und die neue Zersetzungsmethode des MfS unterschieden sich in einem Punkt grundlegend. Wie Sandra Pingel - Schliemann anführt, sollten mit der Arbeit des „Zer - Apparates“ der KPD bestehende herrschaftliche Strukturen beschädigt oder zerstört werden, während seit Ende der 1950er Jahre der SED - Staat zur Sicherung seiner Herrschaft gegen seine Gegner zersetzend vorging.48 Die Strategie, die Revolution mit Hilfe der vorher unterwanderten und für die eigene Sache gewonnenen bewaffneten Kräfte des bürgerlichen Staates zu befördern, war wesentlicher Bestandteil des in Russland praktizierten leninistischen Revolutionsmodells.49 Die Arbeit des „Zer - Apparates“ stand jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes in Deutschland, sondern immer auch im Kontext des Schutzes des „Vaterlandes aller Werktätigen“, der Sowjetunion, vor einem befürchteten Überfall der „imperialistischen“ Staaten. Nicht umsonst interessierte die Russen am M - Apparat vor allem die Industriespionage, die als „Aufdeckung von Kriegsvorbereitungen gegen die SU“ legitimiert wurde.50 Dennoch gibt es einen Bedeutungszusammenhang zwischen der Arbeit des Zer - Apparates und der Zersetzung durch das MfS. Neben der oben beschriebenen marxistischen Traditionslinie lassen sich Elemente der im Militärwesen verbreiteten Diversion entdecken.51 Hier sollte ein Gegner, dessen Gruppierungen oder eben Truppenteile, durch Propaganda und Subversion behindert, verunsichert, kampf- und reaktionsunfähig gemacht werden. In diesem militärischen Zusammenhang muss das Gegenüber nicht biologisch aufgeladen sein. Wichtiger erscheint der Perspektivwechsel vom zersetzenden Gegner zum zu zersetzenden Gegner. Wie schon geschildert wurde, ging das Feindbild des SS geführten Repressionsapparates von einem übermächtigen, auf allen Lebensgebieten agierenden und unter zahllosen Masken verborgenen Gegner aus. Ähn46 Vgl. Feuchtwanger, Der Militärpolitische Apparat der KPD, S. 529; Leenen, Proletarier im blauen Rock, S. 18 f. 47 Vgl. Feuchtwanger, Der Militärpolitische Apparat, S. 498. 48 Vgl. Pingel - Schliemann, Zersetzung, S. 187. 49 Vgl. Leenen, Proletarier im blauen Rock, S. 19. 50 Feuchtwanger, Der Militärpolitische Apparat, S. 499. 51 Vgl. einen der wenigen Fälle, in denen während des NS - Regimes der Begriff „Zersetzung“ in diesem militärischen Zusammenhang verwendet wurde. Vgl. Mallmann, Der Krieg im Dunkeln.

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Schlussbetrachtungen

liche Sichtweisen lassen sich auch in der Außen - und Binnenkommunikation in Partei und Staat der späten 1940er und frühen 1950er der DDR entdecken. Die Gegnerbearbeitung beruhte auf einem „defensiven Untergrund“. Es ging um die Verteidigung gegen einen machtvollen Gegner, bei dem jedes Mittel gerechtfertigt ist. Aus einer defensiven Sicht entwickelt sich Aggression, Radikalität und Brutalität, was durch die biologistische Konnotation zusätzlich verstärkt wurde. Beide Regime sehen sich nicht in der Lage, das Problem der Zeugen Jehovas anders als exterminierend zu lösen. Sowohl im M - Apparat der KPD als auch im MfS verkehrte sich die Richtung des Einwirkens. Nicht in Abwehrstellung, sondern offensiv im Bewusstsein des gesetzmäßigen Untergangs des spätkapitalistischen Systems und der eigenen Stärke konnten der Gegner oder seine Agenturen ausgeschaltet werden. Insofern ist das Feindbild von SS und früher DDR ein defensives gewesen, während das von SED und MfS seit den späten 1950er Jahren ein offensives war. Das MfS bezog in sein Zersetzungs - Konzept auch die Langfristigkeit der Bearbeitung mit ein. Die Arbeit mit V - Leuten und GI oder IM, wie sie von Gestapo und SD und auch vom MfS in den 1950er Jahren praktiziert wurde, war strategisch gesehen mittelfristig angelegt. Um entscheidende Schläge durchführen zu können, waren koordinierte Ermittlungen und damit der Verzicht auf „rücksichtslose Zerschlagung“ jeder einzelnen Betätigung nötig. Dies umzusetzen stieß auch auf Schwierigkeiten. Ziel war aber grundsätzlich die Zerstörung der Strukturen und die Verhaftung der Gegner, hier der Zeugen Jehovas. Um eine Person oder eine Gruppe aber „von innen heraus“ so zu beeinflussen, dass sie in ihren angeblich feindlichen Handlungen behindert und deren Auswirkungen beschränkt werden konnte, musste sie nicht in jedem Fall physisch eliminiert oder „aus der Gesellschaft entfernt“ werden. Statt dessen war es nötig, das zu zersetzende „Objekt“ ausgiebig auszuforschen – bei den Zersetzungsmaßnahmen gegen die Zeugen Jehovas als Organisation bedeutete dies auch, sich erstmals mit den Glaubensinhalten auseinanderzusetzen –, um Schwachstellen und Angriffspunkte zu entdecken. Es mussten Inoffizielle Mitarbeiter im Umfeld angeworben oder platziert werden, um Desinformationskampagnen gegen Gruppen oder Einzelpersonen zu starten, Ängste oder Frustrationen zu schüren bzw. in die Privatsphäre der betreffenden Opfer eingreifen zu können. All dies war zeit - und personalaufwendig und versprach keine schnellen Erfolge. Mehr noch, wie das Beispiel der Zeugen Jehovas zeigt, reaktivierte und installierte das MfS ein System von religiösen Gruppierungen zur Bekämpfung der illegalen Religionsgemeinschaft, deren Wirken – wenn überhaupt – nur im größeren Zeitrahmen Einfluss auf die Zeugen Jehovas hätte nehmen können. Bei dieser „auf Perspektive“ angelegten Bekämpfung war es zudem notwendig, die zum Einsatz kommenden Informellen Mitarbeiter, Mitarbeitergruppen und instrumentalisierten Gemeinschaften nicht zu enttarnen („dekonspirieren“). Daher konnten verschiedene bekannt gewordene Informationen nicht für die „operative Arbeit“ verwandt werden, um deren „Quelle“ nicht zu gefährden.

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Dies zog der Bekämpfung der ausgemachten Feindgruppe immer engere Grenzen. Das neue Repressionskonzept des MfS, das sich vorrangig auf die präventive Arbeit unterhalb der strafrechtlichen Stufe konzentrierte, war zum einen Ergebnis eines Lernprozesses, zum anderen entsprang es den Vorgaben der SED. Angesichts des Entspannungsprozesses versprach sich diese von einem pragmatischen Umgang mit Unruheherden den größten Nutzen. Unterstützt wurde diese Lernleistung wohl auch vom schrittweisen Rückzug der sowjetischen Geheimpolizei aus der direkten Anleitung der Arbeit des MfS. Die SED übernahm die Federführung bei der eigenen Geheimpolizei.52 Inwieweit auch die dem Weltbild zugrunde liegende, an Gleichheitsgrundsätzen ausgerichtete Philosophie mäßigend wirkte, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.53 Der Bedeutungswandel des Begriffes „Zersetzung“ für den Charakter der Repression kann gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen nicht stark genug herausgestellt werden. Die biologistische Konnotation wich der Sichtweise eines feindlichen Einwirkens auf den Bewusstseinsstand der Bevölkerung. Während der Zeit der Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus findet sich ein ähnlicher Gedanke nur einmal : Anfang 1940 schlug Werner Best, noch Amtschef I im RSHA, vor, auf den Glauben der Bibelforscher einzuwirken, um diese „gesprächsweise von ihren Irrlehren zu bekehren“. Wie fremd der Vorschlag von Best im Rahmen der Radikalisierung im RSHA seit Kriegsbeginn war, verdeutlicht die vehemente Ablehnung, die ein Referent der kirchenpolitischen Abteilung zum Vorschlag eines Amtschefs äußerte. Auch das vom MfS beschworene Einwirken auf den Bewusstseinsstand der Bevölkerung wurde angeblich gezielt vom US - Imperialismus im Kampf gegen das „Lager des Friedens“ eingesetzt, die möglichen Abwehrmethoden erweiterten sich mit dem Wandel zu einem differenzierteren Feindbild jedoch beträchtlich : Nun konnte auch der Gegner zersetzt werden, und das bedeutete in der DDR, Personen oder Gruppen, die als angebliche Feinde ausgemacht waren, nicht nur verhaften und aburteilen sondern auch, sie durch Maßnahmen unterhalb der offenen Repression ausschalten zu können. Damit stand dem SED Staat eine größere Bandbreite an Verfolgungsmethoden zur Verfügung. Sowohl der Forderung nach „Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ als auch der nach unnachgiebiger Verfolgung der „unversöhnlichen Feinde“ konnte so nachgekommen werden. Diese variierte Herangehensweise bedeutete aber nicht nur wegen der neuen Sichtweise auf den Feind eine grundlegend andere Entwicklung als im Nationalsozialismus. Sie implizierte auch eine langfristige Bearbeitung der ins Visier geratenen Personen. Dies wiederum besagt, dass SED und MfS von einer längeren Existenz „feindlich - negativer Kräfte“ in der DDR ausgingen. 52 Vgl. Engelmann, Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit, S. 64. 53 Pohlmann, Ideologie und Terror, S. 100 f.

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Schlussbetrachtungen

Das SED - Regime verfing sich mit dieser Strategie allerdings in seinen eigenen Fallstricken. Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach präventivem Eingreifen, bevor es zur „Öffentlichwirksamkeit“ und damit zu Ansehensverlust käme, und dem intern vermittelten Feindbild wurde stetig größer. Am Beispiel der Zeugen Jehovas konnte gezeigt werden, dass große Anstrengungen unternommen wurden, um die Feindtätigkeit der Gläubigen zu „beweisen“. Das Instrumentarium für strafrechtliche Maßnahmen lag vor, detailliert hatten MfSOffiziere mögliche Straftatbestände durchexerziert. Die Furcht, mit der Anwendung schärferer Sanktionsmaßnahmen könnte die DDR im Ausland an Ansehen verlieren, vereitelte derartige Pläne. Wie aber sollte den MfS - Mitarbeitern vermittelt werden, dass gegen eine ca. 20 000 Mitglieder zählende „politische Untergrundorganisation“ nicht vorgegangen wird. Der Widerspruch von „Ermittlungsergebnissen“ und deren praktischer Anwendung wirkte auf die MfS- Angehörigen demotivierend, zumal von ihnen festgestellt werden musste, dass die „Feindtätigkeit“ immer „offener“ und „stärker“ wurde. Die partielle Rücknahme der Repression wurde in der Bevölkerung durchaus registriert. Die Reaktion des Regimes auf abweichendes Handeln war berechenbarer geworden. Dem internen Motivationsschwund konnte das MfS nur durch Intensivierung der ideologischen Anleitung begegnen. Lösen konnte dies das Problem aber nicht. Unentwegt beschwor das MfS die Feindbilder und Verschwörungstheorien des „Kalten Bürgerkrieges“. Dies war die letzte ideologische Legitimation. Folgerichtig konnte es so zu keinen Veränderungen kommen. Das Beispiel der Zeugen Jehovas verdeutlicht eindrücklich die Reformunfähigkeit und das Legitimationsdefizit im MfS ( und in der DDR ). Grundlage von Feindbild und -bekämpfung waren die Jahre des „Kalten Bürgerkrieges“ in der SBZ und frühen DDR. Jede Reform, jedes Nachgeben hätte zum Eingeständnis führen müssen, dass die Religionsgemeinschaft keine Feindorganisation war und dass sie keine Spionage oder „staatsfeindliche Tätigkeit“ betrieb. Dazu war das MfS nicht in der Lage. Eine Fehlerdiskussion hätte nicht nur die ursprünglichen Gründe für das Verbot, sondern auch das darauf beruhende Vorgehen des MfS hinterfragt. Im MfS war man sich der Konsequenzen, der Kapitulation der „sozialistischen Staatsorgane“, bewusst Wie für den SS - geführten Verfolgungsapparat die Zeit nach 1936, bedeuteten die Jahre nach 1957 für das MfS den Übergang zur Generalprävention. In beiden Regimes sahen es die unmittelbaren Repressionsorgane als ihre Aufgabe an, gegen reelle oder angebliche Feinde vorzugehen, bevor deren Tätigkeit oder Denken Wirkung erzielen konnte. Ideologisch konstruierte Feindbilder waren Bedingung für die ungeheure Ausbreitung beider Geheimpolizeiapparate. Während aber Prävention nach der Diktion Heydrichs das „Ausbrennen des Krankheitsherdes, ehe er Wirkung zeigt“, bedeutete, bestand das Ziel des MfS in der „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich - negativer Kräfte, um dadurch feindlich - negative Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend zu verhindern, wesentlich einzuschränken oder gänzlich zu

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unterbinden bzw. eine differenzierte politisch - ideologische Rückgewinnung zu ermöglichen“.54 Beide Regime standen in jenen Jahren vor grundsätzlichen Richtungsentscheidungen, denen Krisen vorausgingen. Nach den rücksichtslosen Terroraktionen der Jahre 1933/34 waren Teile der nationalsozialistischen Herrschaftseliten bestrebt, den Anschein einer legal handelnden Regierung zu verbreiten. Die brutalen Übergriffe der Parteiverbände lösten in der deutschen Bevölkerung teilweise Ablehnung aus. Es ging also um die Frage, ob nach der Konsolidierung der Herrschaft zu „normalen Verhältnissen“ zurückgekehrt werden könne oder ob der Ausnahmezustand dauerhaft bestehen solle. Mit der Ernennung Himmlers zum Chef der Deutschen Polizei wurde daher nicht nur ein Kompetenzstreit zwischen konkurrierenden Ressorts geklärt. Der Forderung nach dem Einschränken der außernormativen Ein - und Übergriffe wurde ein „Gesamtauftrag“ der Polizei entgegengestellt, der hinsichtlich der Aufgaben wie auch der Methoden entgrenzt war. Auch die Enthüllungen der kommunistischen Verbrechen während und nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und die Forderung nach Zügelung des offenen Terrors stellten den DDR - Sicherheitsapparat vor eine grundlegende Krise. Dem neuen MfS - Chef Mielke gelang es jedoch, die Forderung nach Rücknahme der offenen Gewalt mit der nach Überwachung und Kontrolle der Gesellschaft zur Doktrin von der „präventiven“ Sicherung der gesamten Gesellschaft zu verbinden. Auch nach dieser neuen Doktrin zielten die westlichen Urheber der „politisch - ideologischen Diversion“ auf die Schädigung des „Bewusstseins“ der Bürger der DDR „von innen heraus“. Durch Disziplinierung, Rationalisierung und Bürokratisierung gelang es Mielke, die Arbeit des MfS zu professionalisieren. Es gelang zudem, das biologisch entschärfte Feindbild zu konservieren. Das Lager - Denken des „Kalten Bürgerkrieges“ blieb im Apparat bis zum Ende der DDR zentraler Bezugspunkt der Ausbildung, der Gegnerbearbeitung, wie auch der Selbstlegitimierung. Sowohl das Konzept der Unterdrückung der Zeugen Jehovas durch Staatspolizei, Justiz und Konzentrationslager bis zur physischen Vernichtung als auch das Konzept der „Zersetzung von innen heraus“ scheiterte. Sie scheiterten bezeichnenderweise aus höchst unterschiedlichen Gründen, die Klaus Schönhoven mit den Stichworten „Invasion“ und „Implosion“ zusammenfasste : Das nationalsozialistische Regime musste von Außen zerschlagen werden. Das SEDRegime erstarrte, es verlor selbst den Glauben an die Legitimität des Einsatzes von schärferen Machtmitteln und mit ihm auch die DDR - Bevölkerung.55 Die Ver weigerung der verschiedenen totalitären Gesten und Handlungen durch die Zeugen Jehovas weist über den Rahmen des Glaubens hinaus. Die Ablehnung des Hitlergrußes, die Weigerung in nationalsozialistische oder kommunistisch dominierte Organisationen einzutreten, die strikte Ablehnung von 54 Stichwort „Zersetzung, operative“. In : Das Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 464. 55 Schönhoven, Drittes Reich und DDR, S. 195.

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Schlussbetrachtungen

Wehr - und Kriegsdiensten oder die Nichtteilnahme an den Wahlen und Abstimmungen der Diktaturen entsprangen wohl einem spezifisch ausgelegten Glauben. Peter Steinbach benannte als Bedingung für einen „fundamental begründeten Widerstand“ eine Wendung ins Prinzipielle. „Nur wer sich nicht einlässt, hat eine Chance, sich nicht innerhalb des Netzes zu verfangen, das moderne Diktaturen ausbilden.“56 Das organisierte und individuelle Insistieren von Zeugen Jehovas auf ihren Glaubenspostulaten war ein Ausdruck individueller Selbstbewahrung und der Ver weigerung von Unter werfungsgesten. Es ver weist in seiner Wirkung weit über die Ebene der Selbstbehauptung einer Glaubensgemeinschaft hinaus. Angehörige der Zeugen Jehovas haben mit ihrer vehementen Verweigerung des totalitären Zugriffs Spielräume und Handlungschancen aufgezeigt. Die Verweigerung ideologisch und religiös aufgeladener Gesten und Riten wie auch der Wehr - und Kriegsdienste mögen Glaubensgründen entsprungen und vorrangig selbstbezogen gewesen sein. Sie begrenzten die Reichweite totalitärer Durchdringung jedoch an neuralgischen Punkten.

56 Steinbach, Die totalitäre Weltanschauungsdiktatur, S. 35.

V.

Anhang

1.

Unveröffentlichte Quellen

Bundesarchiv Berlin ( BArch ) Berlin Document Center ( BDC ) Clemens, Hans; Kolrep, Walter; Würker, Albert Dienststelle Rosenberg (62 Di ) 33 Ministerium der Justiz der DDR ( DP 1) SE /1045/1; 1045/2; 1046/1; 1046/2 VA /53; 54; 149; 184; 185; 204; 245; 247; 248; 273; 278; 474; 652; 820; 1110; 1198; 1273; 1312; 1314–1318; 1321 Ministerium des Innern der DDR ( DO 1) Deutsche Verwaltung des Innern ( DVdI ) (7.0) 44; 47; 48; 365 Hauptabteilung Innere Angelegenheiten (34.0) 433/3 Hauptabteilung Pass- und Meldewesen (8.0) 295/1; 41783; 41785; 41799 Hauptabteilung Schutzpolizei (10.0) 171/3; 286 Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei (11.0) 341; 860; 861; 862; 863; 864; 865; 866; 867; 868; 869; 870; 871; 872; 873; 960; 1578 Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof ( R 3017) I 242; I 342; I 464; II 99; II 333; II 417; 7J 110/44 Persönlicher Stab Reichsführer SS ( NS 19) 1627; 3947 Reichsjustizministerium ( R 3001) 962; 1422; 1467; 2296; 3136; 3390; 4277; 5019; 9803/19; 9946/1; 9951; IIIg 7/522/39; IVg 20/15129/43; IVg 1/5633/44; IVg 1/9239/44; IVg 1/10724/44; IVg 1/11562/44; IVg 1/12004/44; IVg 6/208/44 Reichskanzlei ( R 43/ II ) 149; 151; 179; 181 Reichskirchenministerium ( R 5101) 23415; 23416; 23420; 23849 Reichssicherheitshauptamt ( R 58) 186; 194; 230; 233; 239; 243; 259; 262; 264; 303; 308; 405; 583; 602; 603; 756; 779; 844; 988; 1017/1; 1027; 1074; 1135; 1335; 1374; 1391; 1462; 1527–1530; 3030; 3039c; 3533; 3569; 5423; 5424; 5691; 5706b; 5713; 5781a–c; 5801; 5846a–d; 6706; 7699; 7000; 7003–7012; 7036–7039; 7044; 7046; 7049; 7061; 7064; 7069; 7080;

412

Anhang

7085; 7088; 7090; 7110; 7295; 7392; 7400; 7425; 7448; 7492; 7533; 7542; 7549; 7621; 7698; 7701–7703 Sammlung Schumacher ( Slg. Schumacher ) 267–1; 267–2 SS - Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt ( NS 3) 426 Staatssekretariat für Kirchenfragen ( DO 4) 61; 85; 199; 267; 299; 307; 325; 326; 328–333; 339; 365; 368; 372; 448–450; 478; 554–557; 725; 733; 734; 739; 987; 998–1001; 1017; 1031; 1091; 1114; 1173; 1174; 1178; 1179; 1180; 1181; 1183; 1223; 1269; 1451; 1505; 1507; 1520; 1541; 1546; 2372; 2446; 3033; 4716; 4890; 4902; 6096 Volksgerichtshof ( R 3016) 80; 82; 100; 105; 110; 127

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (BArch - SAPMO ) Bundesvorstand des Demokratischen Frauenbund Deutschlands ( DFD ) ( DY 31) 102–109; 525; 536; 540; 541; 837; 1282 Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ ( DY 54/ V 277/1) 42; 45 Nachlass Wilhelm Koenen ( NY 4074) 168 Nachlass Wilhelm Pieck ( NY 4036) 453; 656; 671; 756 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ) ( DY 30/ V 278) 2/14 4/10; 29; 36; 56; 59; 79; 215 5/63 Zentralkomitee der SED Abt. Agitation ( DY 30/ vorl. SED 18113) 25935–25937; 30117; 30118 Abteilung Kirchenfragen ( DY 30/ IV 2/14) 2–4; 6; 8; 11; 13; 15–22; 27–30; 33; 36; 41; 42; 44; 46; 51; 52; 56; 64; 65; 81; 82; 85; 90; 99; 247–251; 302–308; 407; 408 Abteilung Sicherheitsfragen ( DY 30/ IV 2/12) 2; 111; 1086–1089; 1091; 1092; 1987 Abteilung Staats- und Rechtsfragen ( DY 30/ IV 2/13) 302–308; 407; 408; 410–418; 421 Abteilung Volksbildung ( DY 30/ IV B 2/9.05) 16; 41; 50 Arbeitsgruppe Kirchenfragen (1963–1971) ( DY 30/ IV A 2/14) 3; 4; 6

Unveröffentlichte Quellen

413

Arbeitsgruppe Kirchenfragen (1972–1989) ( DY 30/ IV B 2/14) 11; 20; 27–30; 46; 56; 70; 72; 82; 168–173 Büro Joachim Herrmann ( DY 30/ IV 2/2.037) 8 Büro Werner Jarowinsky ( DY 30/ vorl. SED 41889) 18113 Büro Paul Verner ( DY 30/ IV 2/2.036) 34–40 Frauensekretariat ( DY 30/ IV 2/17) 17 Jugendsekretariat ( DY 30/ IV 2/16) 25; 26; 65; 79; 215; 218; 220; 221 Protokolle des III. Parteitages der SED ( DY 30/ IV 1/ III ) 2; 3; 7 Sekretariat des ZK ( DY 30/ J IV 2/3) 52 Sekretariat Paul Merker ( DY 30/ IV 2/2.022) 13; 32 Sitzungen des Politbüros ( DY 30/ IV 2/2) 44; 74 Sitzungen des Zentralsekretariats ( DY 30/ IV 2/2.1) 230; 256 Zentrale Parteikontrollkommission ( DY 30/ IV 2/4) 27

Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten ( BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten ) ZA 6750/56 Obj. 5 ZA I 5882; 5883; 10717; 10959/3; 11918/19 ZA V 39 ZA VI 319/1, 2, 5; 3181/14; 3741/5; 3168; 3190/1; 3621; 3622; 3635; 3658–3660; 3694; 3703; 3735; 3736; 3738; 3760; 3778; 3779; 3782–3785; 3793; 3822; 4194; 4203; 4204 ZB I 277; 561; 562; 565; 568; 1014/1, 2; 1046/3–8; 1082; 1154; 1200; 1201; 1279; 1355; 1462; 1465 ZB II 1281/1; 1399/19; 2478/4; 3024/8; 4590/1 ZD 9128/16, 17; 9158 ZM 363/9; 553/13; 1680/1, 2, 4 ZR 1; 51; 115; 163; 262; 274/2–5; 275; 278; 281; 400; 413; 535/1, 4, 5, 7, 9; 536/4; 540/3; 550; 592/3, 7, 9, 10; 724; 743/11; 750/2; 751/4; 805/10, 12; 806/2, 3; 807/1–3; 890; 945/5; 951/1

Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg ( BArch, Militärarchiv ) Kollegium des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR ( DVW 1) 55512; 55519; 55521; 55523; 55526; 55533; 55538 : 55602; 55606; 55614; 55620; 55621; 55626; 55628; 55651

414

Anhang

Kommando der Landstreitkräfte der Nationalen Volksarmee ( DVH 7) 32552; 39063; 44874; 44881; 45700; 45803; 45804; 45825; 45826 Mikrofilm - Bestand 1 ( MFB 1) SF - 01/4085; SF - 01/4094; SF - 01/15088; SF - 01/16426; SF - 01/25669; SF - 01/25691; SF - 01/25695; SF - 03/16332; SF - 03/16610 Militärobergericht Leipzig ( DVW 9) AZN 4; 19 Nachlass Max Bastian N 192–1 Oberkommando des Heeres / Allgemeines Heeresamt ( RH - 15) 221; 281 Oberkommando der Wehrmacht / Allgemeines Wehrmachtamt ( RW 6) 2; 167; 168; 170/2; 537; 591 Reichskriegsgericht Prag - Film M 1001/ A 9; 16; 18; 23; 26; 28; 37; 59; 82 Prag - Film M 1001/2/ A 36 Prag - Film M 1004/ A 15; 19; 22; 23; 34; 44 Prag - Film M 1005/ A 2; 7; 18; 39; 45; 47 Prag - Film M 1006/ A 4; 7; 9; 12; 16; 21; 25; 31; 34 Prag - Film M 1007/ A 11; 23; 26; 27; 30–33; 35; 37; 38; 41; 41a; 43; 44; 46–51; 53– 55; 57; 59; 61; 62; 65; 67; 68; 74; 78; 79; 81; 83; 86; 87; 91; 92; 98–102; 104; 106– 108; 111; 115–122 Prag - Film M 1008/ A 1; 5; 7–9; 19; 30; 31; 40; 44; 51; 55; 61; 68 Prag - Film M 1009/ A 3; 13; 17; 32; 33 Prag - Film M 1010/ A 3–6; 9 Prag - Film M 1039/ A 5/2 RW 11 II / v.27; v.38 Wehrkreiskommando VI ( RH 53–6) 56; 76 Wehrkreiskommando VII ( RH 53–7) 8

Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ( BStU ) : Außenstelle Chemnitz ( Ast. Chemnitz ) AU 261/54 Band I und II AKG - 69 PI 108/79 AKG - 72 PI 551/79 XX – 593; 599; 733; 734; 738 Außenstelle Dresden ( Ast. Dresden ) Abt. XX - 8 Best. A; 9182; 9188; 9189; 9190; 9191; 9192; 9193 AG XXII – Sachablage 50 AKG PI A7/86

Unveröffentlichte Quellen

415

AS 16, 17, 18/60 KD Dresden - Stadt 91011; 91013; 91014; 91015; 91016; 91017; 91018 KD Sebnitz - 2006 Außenstelle Gera ( Ast. Gera ) AU 25/59 Band I und III AIM 269/70 A Band I – VIII AIM 269/70 P Band I und II Zentralarchiv ( ZA ) HA XX /4–49; 78; 79; 83; 294; 668; 818; 825; 826; 891; 915; 951; 1029; 1046; 1264; 1586; 1866; 1962; 1963; 2117; 2177; 2200; 2581 A 185/85 AS 182/76; 183/76; 184/76; 185/76; 186/76 JHS VVS 001–560/75; VVS 001–901/75; VVS 001–889/76; VVS 001–615/79; VVS 001–843/79; VVS 001–998/79; VVS 001–735/80

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden ( SächsHStAD ) Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden ( BDVP ) 21; 42; 43; 96; 99; 105; 106; 135; 140; 141; 243; 258; 259; 314; 359; 368; 385; 462; 529; 543 Bezirksparteiarchiv, SED - Bezirksleitung Dresden ( SED - BPA Dresden ) A /166; A /226; A /227; A /316; A /371; A /396; A /426; A /427; A /428; A /781; A /778; A /789; A /790; A /795; A /802; A /854; A /916; A /917; A /939; 1020; A /1235; A /1236; A /1248; A /1805; A /1999; A /2000; A /2008; A /2009 Bezirkstag / Rat des Bezirkes Dresden 854; 855; 856; 6008; 6201; 6338; 6340 Landesregierung Sachsen ( LRS ) Ministerium der Justiz ( MdJ ) 34; 457; 738 Ministerium des Innern ( MdI ) 1911; 4472 Ministerpräsident 518; 1340; 1341; 1349; 1355; 3795; 4044; 4056; 4095; 4423; 4424 Landgericht Zwickau ( LG Zwickau ) 40; 706/1; 707; 708; 714; 716; 718; 735; 783; 787; 788; 789; 1570; 1577; 1599; 1603; 1605 Polizeipräsidium Dresden 203; 234; 313; 386; 527/1; 653; 731; 736; 786; 809 Sondergericht Freiberg ( SG Freiberg ) 1933 : 5 StA 2886/33; 6 StA 2642/33; 6 StA 3212/33; 6 StA 3245; SG 632/33 1934 : 5 StA 224/34; 5 StA 272/34; 5 StA 958/34; 6 StA 484/34; 6 StA 511/34; 6 StA 1783/34; 6 StA 2171/34; Js 1783/34; SG 584/34 1935 : Js 1122/35; Js 1197/35; Js 1206/35; Js 1489/35; Js 1611/35; Js 1786/35; Js 2190/35; Js 2195/35; Js 2620/25; Js 2637/35; Js 2670/35; Js 2758/35; Js 2785/35; Js 2797/35; Js 2900/35; Js 2990/35; Js 3033/35; Js 3082/35;

416

1936 :

1937 :

1938 :

1939 :

Anhang Js 3214/35; Kms / SG / SG 95/35; Kms / SG 97/35; Kms / SG 98/35; Kms / SG 107/35; Kms / SG 110/35; Kms / SG 116/35; Kms / SG 126/35; Kms / SG 127/35; Kms / SG 132/35; Kms / SG 134/35; Kms / SG 135/35; Kms / SG 156/35; Kms / SG 168/35; Kms / SG 228/35; Kms / SG 249/35; Kms / SG 260/35 Js 85/36; Js 173/36; Js 200/36; Js 326/36; Js 710/36; Js 823/36; Js 828/36; Js 904/36; Js 1227/36; Js 1343/36; Js 1378/36; Js 1473/36; Js 1501/36; Js 1562/36; Js 1583/36; Js 1669/36; Js 1785/36; Js 1846/36; Js 1904/36; Js 1920/36; Js 1939/36; Js 2171/36; Kms / SG 7&36; Kms / SG 63/36; Kms / SG 129/36; Kms / SG 243/36; Kms / SG 384/36; Kms / SG 412/36; Kms / SG 494/36; Kms / SG 509/36; Kms / SG 510/36; Kms / SG 607/36; Kms / SG 661/36 1 Js 54/37; 1 Js 72/37; 1 Js 88/37; 1 Js 160/37; 1 Js 233/37; 1 Js 343/37; 1 Js 764/37; 1 Js 1082/37; 1 Js 1189/37; 1 Js 1225/37; 1 Js 1249/37; 1 Js 1421/37; 1 Js 1459/37; 1 Js 1522/37; 2 Js 52/37; 155/37; 190/37; 205/37; 245/37; 356/37; 1252/37; 1256/37; 1435/37; 3 Js 7/37; 3 Js 131/37; 3 Js 167/37; 3 Js 420/37; 3 Js 556/37; 3 Js 905/37; 3 Js 953/37; 3 Js 1314/37; 3 Js 1347/37; Kms / SG 2/37; Kms / SG 30/37; Kms / SG 46/37; Kms / SG 718/37; Kms / SG 829/37; Kms / SG 845/37 1 Js 264/38; 1 Js 272/38; 1 Js 703/38; 2 Js 567/38; 2 Js 593/38; 2 Js 735/38; 2 Js 777/38; 2 Js 782/38; 3 Js 301/38; 3 Js 437/38; 3 Js 469/38; 3 Js 560/38; 3 Js 591/38; 3 Js 707/38; 3 Js 930/38; 3 Js 938/38; Kms / SG 41/38; Kms / SG 44/38; Kms / SG 47/38; Kms / SG 62/38; Kms / SG 89/38; Kms / SG 98/38; Kms / SG 102/38; Kms / SG 126/38; Kms / SG 142/38; Kms / SG 165/38; Kms / SG 197/38 2 Js 135/39; 3 Js 12/40; 3 Js 297/39; 3 Js 568/39; 3 Js 61/39; 3 Js 615/39; 3 Js 620/39; 3 Js 660/39; 3 Js 68/39; Kms / SG 67/39; Kms / SG 175/39; Kms / SG 264/39; Kms / SG 59/39

Staatsanwaltschaft beim OLG Dresden ( StA beim OLG Dresden ) 10; 14; 15; 41; 54; 62; 65; 68; 89; 100; 109; 112

Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Zuchthaus Waldheim ( ZH Waldheim ) Nr. 41058 ( Haftakte Franz Massors )

Nordrhein - Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Gestapoakte 2017

Stadtarchiv Dresden Dezernat Oberbürgermeister 981; 996 Dezernat Sozial- und Wohnungswesen 25; 28; 29; 30

Unveröffentlichte Quellen

417

Sekretariat des Oberbürgermeisters 400; 412; 420; 422; 427; 429; 431; 614; 915; 917; 918; 920; 921

Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas, Selters / Taunus ( WTA ) Archiv der Gedenkstätte Münchner Platz Dresden ( AGMPD ) Konvolut Herrmann, Emil

Archiv města Ústí nad Labem Bestand Landrat Ústí nad Labem, 210, kult 204

Archiv Ministerstva vnitra České republiky, Prag ( AMV ) 325–57–3

Státní oblastní archiv v Litoměřicích, Pracoviště Most Bestand OLG Leitmeritz 3 Sond. Js 1090/39 ( Karton 367); 5 Sond. Js 123/40 ( Karton 363); 5 Sond. KMs 130/40 ( Karton 360); 5 Sond. Js 156/40 ( Karton 367); 5 Sond. Js 267/40 ( Karton 366); Sond. Js 107/41 ( Karton 375); 5 Sond. KMs 172/41 ( Karton 364); 5 Sond. KMs 183/42 ( Karton 373); 6 Sond. KMs 21/43 ( Karton 359); 5 Sond. Js 162/44 (Karton 366)

Staatliches Archiv der Russischen Föderation ( GARF ) Bestand SMAS ( f. 7212), Informationsabteilung ( op. 1) d. 232; 235

418

2.

Anhang

Literaturverzeichnis

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452

Anhang

Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945. Eine Dokumentation. Hg. vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Band 3 (1938– 1945), Wien 1975. Wildt, Michael ( Hg.) : Die Judenpolitik des SD 1935–1938 : Eine Dokumentation, München 1995. –: Radikalisierung und Selbstradikalisierung 1939. Die Geburt des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Geist des völkischen Massenmords. In : Paul / Mallmann (Hg.) : Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg, S. 11–41. –: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Wilhelm, Friedrich : Die Polizei im NS - Staat : Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick, Paderborn 1997. Wilhelm, Georg : Zweierlei Obrigkeit – Die Haltung der Leipziger Pfarrerschaft nach 1933 und 1945. In : Heydemann / Jesse ( Hg.) : Diktaturvergleich als Herausforderung, S. 283–301. Wilhelm, Hans - Heinrich : Die „Nationalkonser vativen Eliten“ und das Schreckgespenst vom „jüdischen Bolschewismus“. In : ZfG, 42 (1995) 4, S. 333–349. Wilhelmy, Frank : Der Zerfall der SED - Herrschaft. Zur Erosion des marxistisch - leninistischen Legitimitätsanspruches in der DDR, Münster 1995. Williams, Maurice : Gau, Volk und Reich. Friedrich Rainer und der österreichische Nationalsozialismus. Eine politische Biographie nach Selbstzeugnissen, Klagenfurt 2005. Winkler, Heinrich August : Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin ( West ) 1985. Wirsching, Andreas : Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg ? : Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39, Berlin und Paris im Vergleich, München 1999. –: „Gewalt gegen Gewalt“ ? Zur ideologischen Verschränkung von Rechts - und Linksextremismus nach dem Ersten Weltkrieg. In : Backes ( Hg.) : Rechtsextreme Ideologien, S. 73–92. Wolf, Markus : Zur bisherigen Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit, November 1989. In : Wolf, Markus : Die Kunst der Verstellung. Dokumente – Gespräche – Interviews, Berlin 1998, S. 132–135. Wolf, Stefan : Die „Bearbeitung“ der Kirchen in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR durch die politische Polizei und das Ministerium für Staatssicherheit bis 1953 : Die Kirchenpolitik bis zur Gründung der DDR. In : Die Ohnmacht der Allmächtigen, S. 169–211. Wolle, Stefan : Die DDR zwischen Tauwetter und Kaltem Krieg. „Mutmaßungen“ über das Jahr 1956. In : Foitzik, Jan ( Hg.) : Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953–1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Aufstand. Politische, militärische und nationale Dimensionen, Paderborn 2001, S. 293–330. Worst, Anne : Das Ende eines Geheimdienstes. Oder : Wie lebendig ist die Stasi ?, Berlin 1991. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“, Berlin 1993. Wrobel, Johannes : Die frühen Bibelforscher und ersten Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas in Pennsylvanien und Deutschland um das Jahr 1900. In : Hirch (Hg.): Zersetzung einer Religionsgemeinschaft, S. 96–126.

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454

3.

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

AA ABL ABV Abs. Abt. AG AGMPD Apg. APuZG Ast. BArch BD BDL BDM BDVP BfC BG BGB BGL Bl. BPA BPP BStU BV BzG CDU ČSR ČSSR CV DA DAF DBD DC DCGG DDR DFD DJ Dok. DVdI DWK EKD EZW FDGB FDJ

Auswärtiges Amt Allgemeine Bibel - Lehrvereinigung Abschnittsbevollmächtigter ( der Volkspolizei ) Absatz Abteilung Arbeitsgemeinschaft, auch Arbeitsgruppe, auch Amtsgericht Archiv der Gedenkstätte Münchner Platz Dresden Apostelgeschichte Aus Politik und Zeitgeschichte ( Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament ) Außenstelle Bundesarchiv Bezirksdiener Bezirksdienstleiter Bund Deutscher Mädel Bezirksbehörde der Volkspolizei Bund freier Christengemeinden Bezirksgericht Bürgerliches Gesetzbuch Betriebsgewerkschaftsleitung Blatt Bezirksparteiarchiv Bayerische Politische Polizei Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bezirksverwaltung ( des MfS ) Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Christlich - Demokratische Union Tschechoslowakische Republik Tschechoslowakische Sozialistische Republik Christliche Verantwortung Deutschland Archiv Deutsche Arbeitsfront Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Christen Deutsche Continental - Gas - Gesellschaft mbH Deutsche Demokratische Republik Demokratischer Frauenbund Deutschlands Deutsche Justiz Dokument Deutsche Verwaltung des Innern Deutsche Wirtschaftskommission Evangelische Kirche Deutschlands Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend

Abkürzungsverzeichnis GBl. Gestapa Gestapo GHI - Gruppe GI GM GStA GuG GWU HA HJ HVDVP HZ IBV IKL IM IME IMT IMV IWK JHS Kap. KD KDV KgU KPD KPdSU Kr. KRD KSSVO LDPD LG LRS MBliV MdI MdJ MfS Ms. NDPD NSDAP NSV NVA OA OB OdF

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Gesetzblatt ( der DDR ) Geheimes Staatspolizeiamt Geheime Staatspolizei Geheime Hauptinformator - Gruppe Geheimer Informator Geheimer Mitarbeiter Generalstaatsanwalt Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hauptamt, auch Hauptabteilung Hitlerjugend Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei Historische Zeitschrift Internationale Bibelforschervereinigung Inspektion der Konzentrationslager Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz Internationales Militärtribunal IM - Vorlauf; bis 1979 auch IM, der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen mitarbeitet Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Juristische Hochschule ( des MfS in Potsdam ) Kapitel Kreisdienststelle ( des MfS ) Kriegsdienstverweigerung Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kreis Kontrollratsdirektive Kriegssonderstrafrechtsverordnung Liberal - Demokratische Partei Deutschlands Landgericht Landesregierung Sachsen Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung Ministerium des Innern Ministerium der Justiz Ministerium für Staatssicherheit Manuskript National - Demokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Nationale Volksarmee Oberabschnitt Oberbürgermeister Opfer des Faschismus

456 OG OibE OKH OKW OLG ORA OStA OSV OV OVG PID POZW PrMdI RdErl. RFSS RGBl. RIAS RJM RKG RMdI RMVP RSHA SA SächsHStAD SAP SAPMO SBZ SD SED SfS SG SJV Slg. SMAD SMAS SMT SPD SS StA StAD StEG StVA UaP UdSSR U - Haftzelle USA VdN

Anhang Oberstes Gericht ( der DDR ) Offizier im besonderen Einsatz ( des MfS ) Oberkommando des Heeres Oberkommando der Wehrmacht Oberlandesgericht Oberreichsanwalt Oberstaatsanwalt Ordnungsstrafverfahren operativer Vorgang Oberverwaltungsgericht politisch - ideologische Diversion Partner des operativen Zusammenwirkens Preußisches Innenministerium Runderlass Reichsführer SS Reichsgesetzblatt Rundfunk im amerikanischen Sektor Reichsjustizministerium Reichskriegsgericht Reichsinnenministerium Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Reichssicherheitshauptamt Sturmabteilung ( der NSDAP ) Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Sozialistische Arbeiterpartei ( Deutschlands ) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR ( im BArch ) Sowjetische Besatzungszone Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Staatssekretariat für Staatssicherheit Sondergericht Sozialistische Jugendvereinigung Sammlung Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sowjetische Militäradministration in Sachsen Sowjetische Militärtribunale Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel ( der NSDAP ) Staatsanwalt, auch Staatsanwaltschaft Stadtarchiv Dresden Strafrechtsergänzungsgesetz Strafvollzugsanstalt Unterlagen aus Privatbesitz Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Untersuchungshaftzelle United States of America Verfolgte des Naziregimes

Abkürzungsverzeichnis VEB VfC VfZ VGH VR VVN WHW WRV W.T. WTA WTG WVHA ZA ZfG ZJ ZK ZKK ZOV ZZ

Volkseigener Betrieb Vereinigung freistehender Christen Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Volksgerichtshof Volksrepublik Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Winterhilfswerk Weimarer Reichsverfassung Wachtturm Watchtower Archives Wachtturm Bibel - und Traktat - Gesellschaft Wirtschafts - und Verwaltungs - Hauptamt ( der SS ) Zentralarchiv Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeugen Jehovas Zentralkomitee Zentrale Kontrollkommission ( der SED ) zentraler operativer Vorgang Zeitzeuge

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Richard Löwenthal Faschismus – Bolschewismus – Totalitarismus Schriften zur Weltanschauungsdiktatur im 20. Jahrhundert Herausgegeben und eingeleitet von Mike Schmeitzner. Wege der Totalitarismusforschung. Mit dieser Edition liegt eine Gesamtschau auf Richard Löwenthals Analysen zur modernen Weltanschauungsdiktatur im 20. Jahrhundert vor. Sie konzentriert sich dabei auf Grundsatztexte aus über fünf Jahrzehnten und vereint Löwenthals frühe Texte zum Faschismus und Bolschewismus ebenso wie weitere inhaltlich relevante Untersuchungen zu den Großtotalitarismen. Es zeigt sich, dass die frühen Texte keineswegs nur reine »Vorläufer« späterer Totalitarismuskonzeptionen waren; vielmehr sollen die hier versammelten Analysen Zeugnis ablegen von der jeweiligen geistigen Schaffensperiode des bedeutenden Politikwissenschaftlers. Die Edition ist zugleich ein Dokument intellektueller Wandlungsfähigkeit, die im »Zeitalter der Extreme« beinahe singulären Charakter hat.

Hedwig Richter Pietismus im Sozialismus Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 186. Die Herrnhuter Brüdergemeine gilt als die bedeutendste Gemeinschaft, die der Pietismus hervorgebracht hat. Wie gestalteten sich die Lebenswelt und die politischen Überzeugungen dieser Freikirche in der DDR? Seit Gründung der Religionsgemeinschaft und ihres Ursprungsortes »Herrnhut« in Sachsen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat die Freikirche mit spezifischen Frömmigkeitspraktiken, einem nach außen abgeschlossenen soziokulturellen Milieu, einem elitären Selbstverständnis, außergewöhnlichen Missionsaktivitäten und vielfältigen internationalen Verbindungen und Verflechtungen innerhalb des deutschen Protestantismus eine bedeutende Rolle gespielt. Wie ging nun die sozialistische Obrigkeit mit einer derart exotischen Gemeinschaft um? Wie gelang es der Brüdergemeine unter den Bedingungen der SED-Diktatur zu überleben, wie weit passte sie sich an und wie weit wurden Glaubenspraxis und Selbstverständnis modifiziert?

Wolfgang Sommer Wilhelm Freiherr von Pechmann Ein konservativer Lutheraner in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Deutschland In der Weimarer Republik war Wilhelm Freiherr von Pechmann (1859–1948) eine in Politik, Kultur, Wirtschaft und Kirche gleichermaßen geachtete Persönlichkeit. Er nahm zahlreiche leitende kirchliche Ämter ein. Als Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses kam ihm im Frühjahr 1933 herausragende Bedeutung zu: Entschlossen wandte er sich gegen die NSIdeologie und setzte sich für eine öffentliche Kundgebung der Kirche gegen die Judenverfolgung ein. Nachdem er mit seinem Protest allein blieb, trat er aus der Deutschen Evangelischen Kirche aus, begleitete diese aber weiterhin kritisch.

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Henry Leide NS-Verbrecher und Staatssicherheit Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Band 28. »Leides Arbeit über die Ermittlungsarbeit des Staatssicherheitsdienstes gegen NS-Verbrecher ist seit Joachim Walthers ›Sicherungsbereich Literatur‹ die wohl wichtigste von der Gauck/Birthler-Behörde vorgelegte Untersuchung.« Jochen Staadt, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Leides Band, exzellent dokumentiert und sachlich geschrieben, gehört zu den wichtigsten politischen Büchern des Jahres.« Sven Felix Kellerhoff, Die Welt »Henry Leides Demontage der DDR als Heimstatt des Antifaschismus ist eine immense Fleißarbeit auf breiter Quellengrundlage, kompetent und überaus aufschlussreich.« Udo Scheer, Das Parlament

Klaus Fitschen / Siegfried Hermle / Katharina Kunter / Claudia Lepp / Antje Roggenkamp-Kaufmann (Hg.) Die Politisierung des Protestantismus Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, Band 52. Die Beiträger des Bandes beschäftigen sich mit Politisierungstendenzen im Protestantismus während der Reform- und Krisenjahre der Bundesrepublik. Sie fragen nach Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen dieser Entwicklungen und beleuchten auch die zeitgenössischen Diskurse über eine »Politisierung der Kirche«. Wie verhielt es sich mit dem politischen Selbstverständnis und Agieren von Laienchristen und kirchlichen Amtsträgern? Wie sahen die theologischen Entwürfe aus, die ein aktives, die Gesellschaft veränderndes Christentum propagierten? Wie gestaltete sich der innerkonfessionelle Polarisierungsprozess im Zeichen der »Linkspolitisierung«? Beiträge zum Katholizismus in der Bundesrepublik sowie zum Protestantismus in anderen Ländern West- und Osteuropas klären, ob es sich bei der neuen »Politisierung« von Religion, Kirche und Theologie um ein überkonfessionelles und ein transnationales Phänomen handelte.

Manfred Gailus (Hg.) Kirchliche Amtshilfe Die Kirche und die Judenverfolgung im »Dritten Reich« »Ariernachweise« von der Kirche: wie evangelische Landeskirchen mit dem NS-Regime zusammenarbeiteten und wie man nach 1945 mit dieser »kirchlichen Amtshilfe« umging. »Zum lange übersehenen ›Kampf um die Kirchenbücher zwischen Partei, Staat und Kirchenstellen‹ hat Manfred Gailus hiermit eine verdienstvolle und lesenswerte Veröffentlichung vorgelegt.« Reimund Haas, Zeitschrift für Kirchengeschichte

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 40: Das Präsidium der Landesverwaltung Sachsen Die Protokolle der Sitzungen vom 9. Juli 1945 bis 10. Dezember 1946 Bearbeitet und eingeführt von Andreas Thüsing unter Mitarbeit von Agatha Kobuch. 2010. 584 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36916-6 »Diese herausragende Arbeit ... ist unverzichtbar für alle, die sich mit der kommunistischen Herrschaft in Sachsen nach 1945 beschäftigen.« Stefan Donth, H|SOZ|U|KULT

Band 39: Henrik Steglich Rechtsaußenparteien in Deutschland Bedingungen ihres Erfolges und Scheiterns 2010. 457 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36915-9 Die extreme Rechte in Deutschland hat bislang keine dauerhaft erfolgreiche Partei hervorgebracht. Liegen hinter dem Auf und Ab klar identifizierbare Gesetzmäßigkeiten?

Band 38: Michael Richter Die Friedliche Revolution Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 2., durchgesehene Auflage 2010. xvi, 1612 Seiten mit 71 Abb., 4 Karten und zahlr. Tab. und Diagrammen, gebunden ISBN 978-3-525-36914-2 »... ein unverzichtbares Buch für Laien und Historiker, die wissen wollen, wie sich der Umbruch ereignete.« Jochen Thermann, www.friedlicherevolution.de

Band 37: Uwe Backes / Tytus Jaskulowski / Abel Polese (Hg.) Totalitarismus und Transformation Defizite der Demokratiekonsolidierung in Mittelund Osteuropa 2009. 380 Seiten mit 12 Abb. und 59 Tab., gebunden. ISBN 978-3-525-36911-1 Im Mittelpunkt des Bandes stehen die aus autokratischen Vorläuferregimen mit totalitären Zügen resultierenden Belastungsfaktoren für die Etablierung und Konsolidierung demokratischer Verfassungsstaaten.

Band 36: Uwe Backes / Patrick Moreau (Hg.) Communist and Post-Communist Parties in Europe 2008. 660 Seiten mit 15 Abb., 128 Tab. und 3 Karten, gebunden. ISBN 978-3-525-36912-8 »Der Sammelband bietet einen präzisen Überblick über die Thematik und einen unverzichtbaren Ausgangspunkt für jeden, der sich intensiver und auf dem neuesten Forschungsstand mit der Entwicklung der kommunistischen und postkommunistischen Parteien in Europa beschäftigen möchte.« Tobias Hof, www.sehepunkte.de

Band 35: Lothar Fritze (Hg.) Hannah Arendt weitergedacht Ein Symposium 2008. 233 Seiten mit 3 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36913-5 Eine kritische Weiterführung der Thesen Hannah Arendts.

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Band 34: Mike Schmeitzner (Hg.) Totalitarismuskritik von links

Band 31: Uwe Backes Politische Extreme

Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert 2007. 405 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36910-4

Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 310 Seiten mit 12 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36908-1

»Mit diesem Werk liegt neben Söllners Sammelband von 1997 das wichtigste deutschsprachige Handbuch zur Geschichte der linken Totalitarismustheorie vor.« Tim B. Müller, Süddeutsche Zeitung

Band 33: Hans Jörg Schmidt / Petra Tallafuss (Hg.) Totalitarismus und Literatur Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung 2007. 208 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36909-8 Wie reagierte die deutsche Literaturwelt auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, auf die stets präsente machtpolitische Okkupation des Geisteslebens?

32: Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Clemens Vollnhals (Hg.) Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945–1955 2006. 574 Seiten mit 18 Tab., 6 Abb. und 2 Karten, gebunden. ISBN 978-3-525-36906-7 »Ein Schlüssel zum Verständnis der unterschiedlichen Ergebnisse sowjetischer Besatzungspolitik« FAZ

»Backes hat ein faszinierendes und ungemein materialreiches Buch vorgelegt, das jeder an der Entwicklung politischer Sprache Interessierte mit großem Gewinn studieren wird.« Martin Moll, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte

Band 30: Babett Bauer Kontrolle und Repression Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989. Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History 2006. 492 Seiten mit 2 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-36907-4 »... das Buch von Babett Bauer [stellt] einen der wichtigsten Beiträge zur Oppositions- und Widerstandsgeschichte überhaupt dar.« I.-S. Kowalczuk, H-Soz-u-Kult

Band 29: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.) Gefährdungen der Freiheit Extremistische Ideologien im Vergleich 2006. 592 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36905-0 Beiträge zur Ideologie und Programmatik extremistischer und fundamentalistischer Organisationen.