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German Pages 392 Year 2015
Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt
Andreas Böhn (Univ. Prof.) ist Professor für Literaturwissenschaft/ Medien an der Universität Karlsruhe (TH). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Literaturtheorie und Medienästhetik, insbesondere Fiktionalität und Metafiktion, Mimesisproblem, Intertextualität und Gattungstheorie sowie Intermedialität. Christine Mielke (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale der Universität Karlsruhe (TH). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Thanatologie in der Literatur- und Medienwissenschaft, Erzähltheorie und Serialität sowie Kulturgeschichte im Film.
Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity
Gefördert durch Druckkostenzuschüsse der Universitätsgesellschaft Karlsruhe und des Vereins Wissenschaftskommunikation, Medien und Kultur (Karlsruhe).
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung oben: mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Würzburg Umschlagabbildung unten: Christoph Draeger: Catastrophy # 1993-1994, acrylic paintjet auf PVC, 200x330 cm, Musée d’Art et d’Histoire Neuchâtel, Schweiz. Satz: Claudia Pinkas, Karlsruhe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-614-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Vorwort ANDREAS BÖHN UND CHRISTINE MIELKE 9
»Da enbleip niht stein vf steine«. Stadtzerstörungen in mittelalterlichen Texten BURKHARDT KRAUSE 15
Die Zerstörung und der Wiederaufbau Trojas in Konrads von Würzburg »Trojanerkrieg« SIMONE FINKELE 57
Für eine Ethik der Ruine MARIA VIRGINIA CARDI 83
Das zerstörte Gesicht der Städte. ›Konkurrierende Gedächtnisse‹ im Nachkriegsdeutschland (West) 1945-1960 GÖTZ GROSSKLAUS 101
Geisterstädte. Literarische Texte und Bilddokumentationen zur Städtebombardierung des Zweiten Weltkrieges und die Personifizierung des Urbanen CHRISTINE MIELKE 125
»The Long Gone City’s Past«? The Destruction of Danzig/Gdaĝsk in »Death in Danzig« by Stefan Chwin JAKUB KAZECKI 181
Trümmermosaike. Zerstörte Städte in den Zeitungen und Zeitschriften der Nachkriegszeit 1945-1948 CLAUDIA PINKAS 199
The Staging of Memory. Mystery Plays of Absence in Lublin IZABELA SKÓRZYēSKA 221
Zerstörte Städte im Monumentalfilm am Beispiel von Karthago ANDREAS BÖHN 237
Die Konstanz der Ruine. Zur Rezeption traditioneller ästhetischer Funktionen der Ruine in städtischer Baugeschichte und im Trümmerfilm nach 1945 SILKE ARNOLD-DE SIMINE 251
Blicke auf Trümmer. Anmerkungen zur filmischen Wahrnehmungsorganisation der Ruinenlandschaften nach 1945 KAY KIRCHMANN 273
»Filmen, was vorher und was nachher kommt…«. Erinnerung in Roberto Rossellinis »Germania anno zero« DOMINIK SCHREY 289
Some Ontological Considerations on the Destruction of Cities in Interactive Media and its Discursive Repercussions STEFAN WERNING 311
Modellkatastrophen und das Puzzle der Rezeption. Die bsthetik der Zerstörung im Werk von Christoph Draeger SEBASTIAN BADEN 339
»Guernica (nach Picasso)«. Paul Dessaus Vertonung des Picasso-Gemäldes CHRISTINE BAUR 367
Die Autorinnen und Autoren 387
VORWORT ANDREAS BÖHN UND CHRISTINE MIELKE Vor langer, unbestimmter Zeit, so erzählt es eine Geschichte aus der legendären Sandman-Comicreihe Neil Gaimans, war das reale, geographisch verortete Bagdad auf dem Höhepunkt seines Daseins und das märchenhafte Zentrum eines orientalischen Wunderreichs der Kalifen, Zaubergeister, fliegenden Teppiche und Wunderlampen – die tatsächliche Vorlage der Stadt, die uns heute aus Tausendundeine Nacht oder aus den Märchen Wilhelm Hauffs und vielen anderen literarischen Quellen bekannt ist. Der regierende Kalif Haroun Al Raschid, der sich an dieser schönsten aller Städte der Welt nicht genug erfreuen konnte, befürchtet zu Recht, dass der Zenit bald überschritten sein könnte und sein Bagdad eines Tages – wie so viele andere glanzvolle Städte zuvor – versunken und vergessen sein würde. Aus diesem Grund ruft er den »Herren des Schlafes, den Prinz der Geschichten, dem Allah die Herrschaft über alles, das niemals ist, niemals war und niemals sein wird, gegeben hat« und geht einen Handel mit ihm ein. Verhindert werden soll (die in der Realität, so scheint es fast, unausweichliche Logik aller Metropolen) der allmähliche oder gewaltsame Niedergang nach Epochen von Macht und Bedeutung. Indem der Kalif dem Apollo nachempfundenen Herrscher des Traumreiches seine Stadt als Geschenk überreicht, erhält diese als Gegenleistung eine unangetastete Parallelexistenz in der Fiktion, den Status der imaginativen Unsterblichkeit als kollektiver Topos der Märchenstadt per se. Die Comicfolge endet mit den Bildern des heutigen zerstörten Bagdads, in dessen Ruinen die Geschichte erzählt wird. Den Lesenden wird in der Comicerzählung eine märchenhafte Erklärung dafür angeboten, warum es die wunderbare Stadt Bagdad nie gegeben zu haben scheint, obwohl ihr Bild uns doch so lebendig vor Augen steht. In die Sprache der Wissenschaft rückübersetzt, bezeichnet diese poetische Konstruktion die Aufgabe von Speichermedien im Kontext der Zerstörung von Städten: nämlich die Möglichkeit zur Erinnerung ebenso wie zur weiterführenden Auseinandersetzung zu bieten; eine Form der Existenz jenseits realer Konditionen zu schaffen und auf ganz unterschiedliche, sprachliche, visuelle, akustische, haptische Weise einem
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zeitlich wie räumlich ubiquitären Phänomen der Zerstörung von kulturell und sozial stark aufgeladenem urbanem Raum gerecht zu werden, das mit der kollektiven wie individuellen menschlichen Existenz unmittelbar zusammenhängt. Die Stadt als bauliches, aber vor allem als soziales, kulturelles, politisches und verwaltungstechnisches Zentrum von Gemeinschaften befindet sich seit langem im Blickpunkt wissenschaftlicher Forschung verschiedener Disziplinen. Städte sind nicht nur soziale Zentren, sondern auch Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und sozialer Identität. Die Stadtlandschaften mit ihren markanten Bauwerken, Straßenführungen, Plätzen etc. machen eine gemeinsame Geschichte augenfällig und erfahrbar, bilden aber auch einen Orientierungsrahmen für persönliche Lebensgeschichten. Mit der Bedeutung von Städten, seien es Metropolen von globaler Strahlkraft oder urbane Zentren mit regionaler Funktion, hängen seit jeher aber auch die Gründe für ihre Zerstörung zusammen. Bei kriegerischen Zerstörungen liegt deren Absicht genau in der Schaffung von Diskontinuität kulturhistorischer, gemeinschaftlicher, topographischer Art – aber auch die Vernichtung oder nachhaltige Beschädigung durch Naturkatastrophen wurde und wird oft im Hinblick auf die Intentionen religiöser bzw. metaphysischer Instanzen interpretiert. Heinrich von Kleists berühmte Erzählung Das Erdbeben in Chili etwa führt vor, wie die Vernichtung der Stadt Santiago durch ein Erdbeben als göttliche Strafe gedeutet wird und in Gewaltanwendung gegen die vermeintlich Schuldigen mündet. Zugleich gestaltet sie ein komplexes Wechselverhältnis zwischen der Zerstörung der Stadt und sozialer Ordnung. Das Erdbeben führt zunächst nicht nur zum physischen Einsturz des Baubestandes, sondern auch zum Zusammenbruch der überkommenen Ordnung; die auf die natürlichen Gegebenheiten zurückgeworfene Gesellschaft durchlebt sodann als Zwischenstadium eine paradiesartige Idylle neben den Ruinen der Stadt; und schließlich entsteht in einem komplexen Prozess der Ersetzung und Rekombination auf familiärer Ebene eine neue Ordnung, von der der rätselhafte Schlusssatz offen lässt, ob man sich über sie freuen soll oder nicht. Das Phänomen ›Stadt‹ muss immer auch mit der Möglichkeit oder der tatsächlich geschehenen Destruktion wie der Rekonstruktion in enger Verbindung gesehen werden. Jede Stadt birgt als menschliches Konstrukt und als ein Kulminationspunkt menschlicher Phantasie und Schaffenskraft ihre potentielle Zerstörung in sich; Zerstörungen wiederum sind selten ein endgültiger Vernichtungsakt, sondern meist im Nachhinein gesehen Teil eines Transformationsprozesses, in dessen Folge die zerstörte Stadt in veränderter Form weiterexistiert.
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VORWORT
Wird der Blick auf diese Logik urbaner De- und Rekonstruktion gerichtet, so zeigt sich die Thematik der zerstörten Stadt in einer jahrtausendealten Tradition ungebrochen bis heute: die Reihe geht von Platons Atlantis, das um den Ruf der Vollkommenheit zu erhalten wohl zwangsläufig untergehen musste, über durch Gotteszorn vernichtete biblische Städte wie Sodom und Gomorrah, die überlieferten Städtezerstörungen der Antike wie Troja, Karthago oder Jerusalem, die Zerstörungen das Mittelalter hindurch – dokumentiert zum Beispiel in Schedels Weltchronik von 1493, in der die berühmten zerstörten Städte zur Erinnerung an ihren früheren Glanz oft in ihrem unzerstörten Zustand abgebildet wurden – bis hin zu den zahllosen Verwüstungen im Dreißigjährigen Krieg und zu den Zerstörungen durch Naturkatastrophen und Kriege in der Neuzeit. Beispielhaft ist bis heute das Erdbeben von Lissabon 1755, das eine nachhaltige Erschütterung des aufgeklärten Europas bewirkte und dessen Nachbeben noch ein halbes Jahrhundert später in dem oben erwähnten Text Das Erdbeben in Chili zu spüren ist. Durch die Kriege des 20. und mittlerweile auch schon die des 21. Jahrhunderts ist das Thema in einer erstaunlichen Fülle von Beispielen präsent, in besonderer Weise gerade in jüngster Zeit durch die Debatten über den Luftkrieg des Zweiten Weltkriegs und in so disparaten Kontexten wie der Bombardierung der als Weltkulturerbe geschützten Altstadt von Dubrovnik im Jugoslawienkrieg oder in den verschwundenen Dörfern und Städten in den Gebieten des früheren DDR-Braunkohleabbaus, in der Flutkatastrophe von New Orleans wie in der Bedeutung von Ground Zero für New York und das amerikanische Selbstverständnis, und sie scheint erneut auf in den Fernsehbildern des bombardierten Beirut oder Bagdad. Sowohl in historischer Perspektive wie auch in der Gegenwart zeigt sich die Thematik in einer erschreckenden Kontinuität und Dichte. Die Arbeit am vorliegenden Band erstreckte sich über einen Zeitraum von zwei Jahren, innerhalb dessen zum sechzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs auch an die damals zerstörten Städte in vielfältiger Weise erinnert wurde, New Orleans überflutet wurde, im Libanon historische Städte wie Tyros und Baalbek durch kriegerische Handlungen schwer getroffen wurden, im deutschen Fernsehen die aufwändige Produktion Dresden über die Bombardierung der Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs lief und der fünfte Jahrestag von 9/11 mit großem Medienecho begangen wurde, um nur einige Beispiele zu nennen. Der vorliegende Band behandelt paradigmatische Fälle von Städtezerstörungen in einem breiten kulturhistorischen Spektrum. Repräsentativität in historischer Hinsicht ist jedoch nicht sein primäres Ziel. Vielmehr soll die mediale Repräsentation und gegebenenfalls Rekonstruktion
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der Zerstörung und des Zerstörten im Vordergrund stehen und dabei die Spezifik der jeweiligen medialen Kontexte und Bedingungen herausgearbeitet werden. Leitfragen sind hierbei, ob die unterschiedlichen Medien, in denen Städtezerstörungen vermittelt werden, dazu führen, dass sich unterschiedliche, medial bedingte Ästhetiken herausbilden, unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte aufzufinden sind oder die Darstellung unterschiedlichen Intentionen folgt. Gibt es Traditionen der Darstellung zerstörter Städte, die sich durch die Kulturgeschichte kontinuierlich hindurchziehen und nur jeweils in den zur Verfügung stehenden neuen Medien adaptiert werden? Kann man etwa von einer skulpturalen oder malerischen ›Ästhetik der Ruine‹ oder einer Ikonographie der zerstörten Stadt sprechen, die sich zunächst in der Bildenden Kunst geformt hat und dann in die modernen Bildmedien Photographie, Film und Fernsehen übertragen wurde? Ist die Darstellung visueller Wahrnehmung ein Spezifikum visueller Medien oder gibt es Wechselwirkungen zwischen der bildlichen Darstellung und der sprachlich-literarischen Beschreibung? In welcher Relation stehen die visuell, aber möglicherweise auch sprachlich repräsentierbaren Bildformeln zu den narrativen Mustern erzählender Medien wie Literatur oder Spielfilm? Können die entsprechenden Topoi auch als Zeitablauf von Tönen in die Asemantik der Musik transportiert werden? Bedient sich die Darstellung der Stadt als Dekor, aber auch als Handlungselement im Zuge von destruktiven Spielakten im Computerspiel historischer Vorbilder, und welche Auswirkungen auf ihre Erscheinungsweise hat die interaktive Anlage dieses Mediums? Prüft man am Leitfaden derartiger Fragen, wie die Stadt in fiktionale Kontexte integriert wird, welche Charakteristika des Topos Städtezerstörung aufzufinden sind, in welche narrativen oder darstellerischen Kontexte die Motivik im einzelnen transformiert wird und wie, so erweist sich die zerstörte Stadt einerseits als ein so präsentes und kulturell relevantes und virulentes Thema, dass es in unterschiedlichsten Zusammenhängen und Medientypen dargestellt und verarbeitet werden kann und wohl auch muss. Andererseits besitzt das Motiv, wie in vielen der Beiträge deutlich wird, eine ästhetische Faszination, die gerade im künstlerischen Kontext anziehend wirkt und zu immer wieder neuen Beschäftigungen mit der Stadt zwischen Ruinensehnsucht und Ästhetik der Gewalt und Zerstörung führt. Der vorliegende Band entstand im Rahmen des Forschungsverbundes ›Zentrum/Grenze/Peripherie. Zerstörte Städte und Grenzgebiete als Orte der medialen Rekonstitution europäischer Identität nach 1945‹, der im Jahr 2005 gegründet wurde und in dem mehrere der hier Beitragenden eingebunden sind. Durch die Diskussionen innerhalb dieses Verbunds sowie in den Forschungscolloquien zu Medialität und Erinnerung am In-
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VORWORT
stitut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe kam der Wunsch auf, die mediale Repräsentation der Städtezerstörung in einem weiteren, nicht auf den Zweiten Weltkrieg beschränkten Kontext zu untersuchen. Der vorliegende Band bildet die erste, historisch breit angelegte und medial vielfältig differenzierte Publikation des Forschungsverbundes, der im Jahr 2006 vom Schwerpunktprogramm des Landes Baden-Württemberg gefördert wurde. Im Rahmen dieser Förderung betreute Claudia Pinkas die Redaktion des Bandes sowie die Koordination der Beiträge und des Forschungsverbundes, wofür wir ihr an dieser Stelle herzlich danken möchten. Für Recherchearbeiten im Vorfeld des Forschungsprojekts und Hilfe bei der Schlussredaktion der Publikation danken wir den wissenschaftlichen Hilfskräften Germaine Götzelmann, Lena Hoche, Julia Knörnschild, Anette Müller und Annegret Scheibe sowie Christopher Thompson, für die großzügige Gewährung von Druckkostenzuschüssen der Universitätsgesellschaft Karlsruhe sowie dem Verein Wissenschaftskommunikation, Medien und Kultur.
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»DA ENBLEIP NIHT STEIN VF STEINE« STADTZERSTÖRUNGEN IN MITTELALTERLICHEN TEXTEN1 BURKHARDT KRAUSE in den selben ziten stifte vrouwe Dido ueste turne unde ho, ein schone mure. (Heinrich von Veldeke, Eneasroman, V. 338ff.) tanta vis admonitionis inest in locis (Cicero, De finibus)
Zerstörungen verschütten, ersticken, im wahrsten Sinne des Wortes ›ruinieren‹ die den Städten innewohnenden, ihnen als kultureller Besitz zugehörenden je eigenen Erinnerungen, ihre memoria, die sich in einer viele Generationen umspannenden Geschichte des Auf-, Um- und Ausbaus in unzähligen Artefakten, Gebäuden, Wegen und Straßen, Kirchen, Statuen, Bildern, Mahnmalen, Ritualen (Gedenkfeiern), Texten, in der Topographie und Physiognomie einer Stadt als räumliche, historische, kulturelle, ästhetische, kultische und intellektuelle Orientierungspunkte und -linien eingeformt haben2 – und nicht jede Stadt kennt wie die ohnehin ewige Roma renata die hoffnungsstiftende Gunst des dauerhaften ordo renascendi. Es gehört gerade die sich in diesen Momenten sichtbar manifestierende Geschichtlichkeit der Städte, die kultischen Elemente ihrer Selbstversicherung als Identität mit eingeschlossen, zu den ihr Selbstverständnis und Selbstbewusstsein stärkenden Fundamenten. Völlig zutreffend hat Harold J. Berman moniert, dass Max Weber »den auffallendsten und kennzeichnendsten Zug der westlichen Stadt, nämlich ihr historisches Bewußtsein«, nicht seiner Bedeutung entsprechend ange-
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Dieser Aufsatz möchte in einer ersten Erkundung ein von der literaturwissenschaftlichen Mediävistik, soweit ich sehe, noch nicht ausführlich behandeltes Thema wenigstens skizzieren. 2 Zu Florenz vgl. Breidecker 1990: 39ff. u. passim. 15
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messen berücksichtigt habe.3 Im Gegensatz zum offenen Land als eines als gegenzivilisatorisch empfundenen Raums wurden Städte als privilegierte Gebiete des »Rechts und der Ordnung im Gegensatz zu der rechtlosen, offenen Landschaft«4 angesehen. Sie waren von Werten und Normen geprägt, die das Bedürfnis nach Frieden und gerechter Herrschaft (pax et iustitia) dauerhaft zu erfüllen versprachen. Jenseits ihrer Mauern und Befestigungsanlagen (extramural) herrschte ein autoritäres, politischwirtschaftlich sich als zunehmend obsolet erweisendes System lehnsrechtlicher Bindungen und bedrückender persönlicher Abhängigkeiten der Menschen von den feudalen Grundherren. Die oberitalienischen Städte galten, weit früher als in Deutschland, als bewundernswerte Orte und Horte der civiltà, dies gewiss seit der Renaissance und ihres Idealtyps des von Petrarca und den Humanisten gepriesenen, in den humaniora als Lebensziel wohlausgebildeten Bürgers.
I. »Li empereres se fait e balz e liez:/Cordres ad prise e les murs peceiez,/ Od ses cadables les turs en abatied./Mult grant eschech en unt si chevaler,/D’or e d’argent e de guarnemenz chers./En la citet nen ad remés paien/Ne seit ocis ú devient chrestien« (Chanson de Roland, V. 96ff.).5 Diese Stelle aus dem kampf- und gewaltdurchherrschten altfranzösischen Chanson de Roland – es könnten ebenso gut andere Texte herangezogen werden – vermittelt in nur wenigen, dichten Versen einen ersten Eindruck von dem über eine Stadt hereinstürzenden Unheil: Zerstörung, Plünderung und Tod. Der epische Blick greift indes noch entschieden weiter aus: Karl habe, heißt es nämlich, ganz »[…] Spanien verwüstet,/Die Burgen eingenommen, die Städte gestürmt.« Und weiter, gleich zu Beginn des Epos, den zwar glorreichen, doch bestürzend verlustreichen und enormes Leid bereitenden Erfolg vorwegnehmend: »Charles li 3
Berman 1995: 619ff. (»Die Stadt als historische Gemeinschaft«, Ibid.: 620). Wie Nationen blicken auch Städte auf oftmals außergewöhnliche Mythen bzw. Entstehungsgeschichten (Gründungsmythen und -sagen), bedeutsame Ereignisse bzw. einen heros eponymos zurück. Selbst jüngere Städte mögen auf exklusive, besonders erinnerungsträchtige Begleitumstände ihrer Gründung nicht verzichten. Vgl. Wunderli 1994. 4 Warnke 1992: 52. 5 »Der Kaiser zeigt sich heiter und frohgemut./Er hat Cortes eingenommen und die Mauern völlig zertrümmert,/Mit seinen Wurfmaschinen hat er die Türme zerschmettert,/Seine Ritter haben dabei eine sehr große Beute gemacht/An Gold und Silber und wertvoller Ausrüstung./In der Stadt hat er keinen Heiden zurückgelassen,/Der nicht getötet oder Christ geworden wäre.« Ch.d.R., V. 96ff., übers. v. Steinsieck 1999. 16
»DA ENBLEIP NIHT STEIN VF STEINE«
reis, nostre emper[er]e magnes,/Set anz tuz pleins ad estet en Espaigne:/ Tresqu’en la mer cunquist la tere altaigne./N’i ad castel ki devant lui remaigne;/Mur ne citet n’i est remés a fraindre«. (Ch.d.R., V. 1ff.) Eine gewaltige, kriegstechnisch hoch und effektiv gerüstete Kriegsmaschinerie überrollt ohne jegliche Schonung von Menschen und Material eine Stadt. Diese Verse sind als Beispiel keineswegs singulär. In ihrer lakonisch anmutenden Zusammenschau von Zerstörung, Beutegier und Plünderungen, der Tötung von Menschen im Bewusstsein religiöser Überlegenheit (es handelt sich um »paien«, Heiden) usf. versammeln sie mehrere für solche kriegerischen Aktionen typischen Elemente, die wir so oder mit kleineren und größeren Variationen in zahlreichen anderen mittelalterlichen Texten ebenfalls antreffen.
Historia: Kampfberichte? Aristoteles bestimmte politisch-militärische Ereignisse zum substantiellen Gegenstand der historia. Ähnlich äußerte Boëthius, Geschichte werde erzählt, um zu zeigen »wie tapfere Helden fochten«. Demnach hat in den frühen Auffassungen darüber, was Geschichte ist und was Geschichtsschreibung zu sein habe, historia essentiell mit kriegerischen Handlungen und Ereignissen zu tun – was sich, an der Präsenz des Gewalthaften als eines offensichtlichen, wenn nicht allzu oft geradezu aufdringlichen Charakteristikums der Epoche bemessen, in der mittelalterlichen Chronistik nachdrücklich, ja geradezu im Übermaß bekundet.6 In ähnlicher Weise hat die mittelalterliche epische Literatur, dazu per definitionem nicht eigens verpflichtet, diesem Anspruch ausgiebig Genüge getan. Gewalt ist nicht etwa politische ultima ratio, sofern andere Mittel versagen, sondern ein beherrschendes kulturelles Phänomen und demgemäß ein auch literarisches Thema. In »The Knight’s Tale« der Canterbury Tales lässt Geoffrey Chaucer den seine Geschichte vortragenden Ritter geradezu deren Unausweichlichkeit darlegen. Krieg, allerdings auch der Friede, der Hass wie die Liebe seien Ausdruck göttlicher Vorsehung, sagt er, und somit vom persönlichen Willen oder Wollen gleichsam nicht beeinflussbar: »For certeinly, oure appetites heer,/Be it of werre, or pees, or hate, or love,/Al is this reuled by the sighte above.« (Geoffrey Chaucer, Canterbury Tales, V. 1670ff.) Beide genres berichten ausnehmend häufig von kriegerischen Geschehnissen – Schlachten, Heldentaten, ritterlichen âventiuren, Turnieren –, von Begebenheiten demnach, in denen Gewalttätigkeiten und kriegerische Aktionen immer wieder, mehr oder minder und unterschiedlich mo6 Jüngst zum Thema Gewalt: Braun/Herberichs 2005. 17
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tiviert, den Mittelpunkt bilden, dies noch selbst als und im Spiel (spil). Zahlreich sind auch die Berichte von solchen Geschehnissen, die hier vor allem in Rede stehen sollen: Kämpfe und Schlachten, in denen Städte (bzw. Burgen) belagert, attackiert, eingenommen, geplündert, niedergerissen (»geschleift«, »entfestet«, »gewüestet«), von feindlichem Feuer verzehrt, dem Erdboden gleich, zu bloßem Staub gemacht werden – »und prachen s’gar zue grunde« (Mecklenburgische Reimchronik, V. 97,103): Troja, Theben, Ninive, Tyrus, Jerusalem, Konstantinopel, Mailand, Rom – um zunächst an nur wenige, sozusagen berühmte zerstörte Städte zu erinnern. Die in zahllosen Dokumenten beobachtbare beharrliche Gegenwart des Kriegerischen, markantes Kennzeichen einer agonalen, bellizistischen Kultur, ist nicht allein objektiver Befund treu berichtender Chronistenaufmerksamkeit. Nicht zum wenigsten besorgt die Chronistik die ihr womöglich abgeforderte Verpflichtung des Ehre stiftenden, bewahrenden und befördernden Herrscherlobs; sie ist Rapport der Aristien, der glanzvollen Taten, indes ebenso der Herrscherkritik. Demonstrierte und erfüllte sich doch überzeugende Herrschaft vor allem im politischen, d.h. erfolgreichen kriegerischen Handeln, das Herrschaft legitimierte und sie als zeitenüberdauernde Erinnerung an Herrscher, Reich und Geschichte, erhielt – bis hin zur historischen Sinn stiftenden Mythen- und staatlichen bzw. monarchisch-genealogischen Identitätsbildung.7
»Der sluoc, der warf, der stach, der schôz« Was bei den Lektüren auffällt Die zahllosen Berichte über kriegerische Ereignisse neigen aus unterschiedlichen Gründen oft zu unspezifischen und vielfach (doch keineswegs durchweg) stereotypen, sprachlich hoch redundanten Darstellungen. Sie schildern teilweise ausführlich, präzise, doch auch gedrängt, stilisierend und gelegentlich, etwa im Sinne der vorherrschenden höfischritterlichen, adeligen Ideologie und Selbstwahrnehmung, idealisierend, häufig übertreibend oder aussparend, bis hin zu gelegentlich monotonen Reihungen der hier interessierenden Geschehnisse.8 Wiederholt borgt die Diktion vom archaischen Sprachschatz des Heldenepischen oder, wie im 7
Zur Bedeutung der Schlacht bei Bouvines und dem aus ihr entstandenen historischen Mythos vgl. in überzeugender Weise Duby 2002. Literarisch bzw. chronikalisch wäre an Geoffreys of Monmouth Historia Regum britanniae, d.h. an dessen Mythisierung König Artus’ als Ahnherr des englischen Königshauses zu denken. 8 Dies präzise zu erschließen, wäre einer Untersuchung der strukturellen, begrifflichen, semiotischen und rhetorischen (literarischen/chronikalischen) Gestaltung kriegerischer Ereignisse vorbehalten. 18
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15. Jahrhundert Ulrich Füetrer in seinem die alte Ritterherrlichkeit beschwörenden Buch der Abenteuer, von der ›klassischen‹ höfischen Literatur, selbst wenn es, wie bei den Kämpfen um Troja, um einen fernen antiken Stoff geht.9 Beispiele für allgemeine gewaltrhetorische sprachliche oder metaphorische Forme(l)n begegnen in Überfülle z.B. in Herborts von Fritslâr an Kämpfen äußerst reichem Liet von Troye und auch sonst in den Texten: »Dares hat alsus gescribe/Eine mant sie sint blîbe/ Zv troyge die geste/Do brache sie die feste/Sie zv furte die burg al/[…]« (Herbort von Fritslâr, Liet von Troye, V. 1617ff., H.d.m.). Diese Schilderung Herborts von Fritslâr endet mit dem lapidaren »Da enbleip niht stein vf steine« (HvF, LvT, V. 1626). Andere geläufige Wendungen, geht es um Zerstörungen, sind »verwüesten«, die »burg gewinnen«, Mauern »brechen«, »zerprechen«, »zervâren« (HvF, LvT), Mauern »zerraissen« (Ulrich Füetrer, Trojanerkrieg) – »dô hiez der künec sîne schar/die stat nider brechen gar/unz an die gruntveste« resümiert wiederum Rudolfs Alexander kühl die Zerstörung einer »stat« (Rudolf von Ems, Alexander, V. 10341-10343). Heinrich von Veldeke gebraucht ebenfalls das verbreitete »hus (zer)brechen« (Heinrich von Veldeke, Eneasroman, V. 4808 u.ö.). Er erzählt, dass die »feste wart verbrant« (HvV, E, V. 4809), wie Feuer zu legen ohnehin eines der wirkungsvollsten Mittel für Totalzerstörungen ist: »diu stat wart ie sâ zehant/zerbrochen und gar verbrant«; oder: »daz munstir her viterbete,/der gude gebuw wart al virbrant« (Mecklenburgische Reimchronik, V.14f.); »al den gebuw durch al daz lant/daz wart virwustet vnd virbrant« (MR, V. 95ff.) – ähnlich drücken es cum grano salis andere Texte aus, ohne dass solche oft beiläufig-formal anmutenden Lakonismen Ausmaß und Folgen der kriegerischen Handlungen schlicht verharmlosen würden. Obendrein fügen die Autoren, was vor allem auf chronikalische Quellen zutrifft, ausgiebig und gelehrt vielerlei ›Lesefrüchte‹ wie beispielsweise Zitate als z.T. prominente Sub- bzw. Prätexte mit in ihre Berichte ein, etwa solche aus der an Vorbildern kriegerischen Handelns bekanntermaßen überreichen Bibel (z.B. aus der Maccabäer-Geschichte, ein beliebtes Motiv in der darstellenden Kunst) oder der diesbezüglich nicht weniger opulenten einschlägigen römisch-antiken Literatur (Lukan, Vegetius u.a.). Mit dieser semantischen, am typologischen Interpretationsverfahren ausgerichteten Operation verknüpft sich u.a. die Absicht, ein berichtetes Geschehen an spezifische, mitunter prominente historische (biblische) Vorbilder anzuschließen bzw. historische Analogien 9
Solche Entlehnungen in Wortschatz und Bildlichkeit, auch im Hinblick auf Kampftechniken, können einem modernen Lesepublikum gelegentlich ›merkwürdig‹ anmuten. Wir haben es hier mit einer sogenannten adaptation courtois (Helmut de Boor) zu tun. 19
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oder Gemeinsamkeiten zu insinuieren.10 Die Darstellungen sind freilich ebenso dem rhetorisch-poetologischen Anspruch auf brevitas verpflichtet, um das Publikum nicht durch weitschweifiges Erzählen zu ermüden11 – was sich indes aus der Sache selbst, den kriegerischen Aktionen, leicht nachvollziehen lässt.12 Selbst wenn Thema und Motiv der Zerstörung von Burgen und Städten13 literarisch wie chronikalisch aus (historisch, politisch) naheliegenden Gründen nahezu unablässig präsent sind, scheinen sie, wenigstens vorderhand, irgend ertragreichen Deutungen, die über die faktischen Darlegungen hinaus gingen, eher nur wenig entgegen kommen zu wollen. Ähneln sich doch hier wie dort Berichte und Erzählungen in vielerlei Hinsicht, bis zu den sprachlichen Formulierungen und rhetorischen Forme(l)n, zu sehr, als dass sich über das zuverlässig wiederkehrende Faktum bzw. Handlungselement gewaltsamer kriegerischer Taten hinaus differentia specifica erweisen ließen, die detailliertere Einblicke über das geschilderte Gewalthafte hinaus erlaubten. Während sich die Autoren kriegstechnisch relevanten Abläufen, den im Kampf, bei der Belagerung und Erstürmung verwendeten Waffen und Maschinen usw. gerne zuwenden, ihr Interesse zumeist auf den Ereignischarakter gerichtet halten, treten z.B. die existentiellen Nöte der Opfer von Zerstörungen, ihre individuellen wie kollektiven Tragödien, das ihnen zugefügte Leid in der Literatur nur selten in gebührender bzw. zu erwartender Weise ins Blickfeld ihrer Aufmerksamkeit.14 Meist schreiten die Texte ohne größeres Zögern, bisweilen geradezu eilig, weiter – eben wie es Konzeption und Verlauf der Geschichte wollen (oder sie in den Quellen vorgegeben ist): »Sus vuor der künec dannen/mit allen sînen mannen/gegen der stat ze Korintîn«, beschließt Rudolfs Alexander-Erzählung den Thebens verheeren-
10 Dies zeigen z.B. die Städtelobe, wenn Aachen als ›zweites Athen‹ gefeiert wird. Eindringlich das Rolandslied, als Gott, wie in der Bibel Josua, Karl dem Großen dazu verhilft, die Heiden zu besiegen, indem er die Sonne nicht untergehen lässt (Das Rolandslied, V. 7017ff.). 11 Die Res gestae Saxonicae führen in der Vorrede aus, dass Widukind in seinem Mathilde dedizierten Werk nicht alle Taten berichten will, »sed strictim et per partes scribimus, ut sermo sit legentibus planus, non fastidiosus.« (Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae, 1, H.d.m.) 12 Der griechische Historiker Polybios vermerkt in seinen Historiai, dass besonders über Schlachten allenfalls ungenaue Kenntnisse zu erhalten seien. Die Vielfalt unzähliger, ungestüm ablaufender, im einzelnen kaum durchschaubarer Aktionen läßt nur hin und wieder exakte Beobachtungen zu. 13 Notwendige inhaltliche Differenzierungen zwischen Burg und Stadt können hier nicht ausgeführt werden. Ein Überblick findet sich bei Köbler 1988: 105ff.; Engel 2005: 17ff. u. passim; Gerteis 1986; Ennen 1987. 14 Selbst die oft horrenden Verletzungen der Helden werden v.a. als Zeichen ihres Ruhms wahrgenommen. 20
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der Zerstörung folgenden Abschnitt. So auch in Curtius Rufus’ Bericht: »Alle Thebaner […] kamen mit der Stadt um. Nur wenige blieben übrig.« Von dort (Theben) zog Alexander »nach anderen Städten« (Curtius Rufus, Alexandergeschichte, 397).15 Beinahe ausschließlich bleibt die Wahrnehmungs- bzw. Darstellungsperspektive vom Blick, von der Szenenregie des Erzählers/Autors gelenkt. Fast immer ist sie dominant Außenperspektive, die nur selten subjektive Wahrnehmungen und damit, wenn man so will, die Leidenssicht der Opfer mit einbezieht.
Bauen und Zerstören Das ›politische‹ Mittelalter, das Mittelalter der Mächtigen (maiores), der Eroberungen und Gewaltsamkeiten um der Macht willen, wurde in seiner Entwicklung und kollektiven mentalité von einer dauerhaft bedrohlichen wie gleichsam konstruktiven Dialektik von Aufbau und Zerstörung geprägt. Und es sind vor allem anderen zunächst die Burgen – als Machtund Herrschaftszentren, allerdings auch als angstschaffende, bedrohliche Stätten, von denen als ›Zwingburgen‹ schwerste Belastungen für die von ihr Abhängigen ausgingen –, mit ihren höfisch-ritterlichen (sodann die Städte mit ihren ›bürgerlichen‹) Lebens-, Kultur- und Vergesellschaftungsformen und -ordnungen, mit ihrer effizienten inneren Organisation, exponierte, seit dem 11./12. Jahrhundert in einem immer dichter sich knüpfenden Netz über die Landschaften legenden Orte16 und zugleich hoch neuralgischen Punkte, an denen sich die prekäre Dynamik von konstruktivem Schaffen, Erbauen, der Entfaltung von Infrastrukturen und der durch Kriege bewirkten verheerenden Verluste von wolfart, Freiheit, Existenzgrundlagen usw. wohl am drastischsten wie leidvollsten offenbart.
Realhistorische Notizen In Anbetracht der realgeschichtlich-politischen Entwicklungen ist für das mittelalterliche Deutsche Reich zu beobachten, dass die notorische Kraftund Machtlosigkeit des Königtums seit Heinrich IV.,17 demnach seit dem 15 Rudolf von Ems zählt mehrere berühmte wehrhafte Burgen/Städte, die Alexander der Große auf seinem Feldzug durch die Welt bis zum fernen Paradies in rascher Folge erobert. 16 Vgl. Keddigkeit 1997. 17 In der Geschichte des Burgenbaus nimmt Heinrich IV. selbst eine zweifelhafte wie exponierte Position ein. Seine forcierte Burgenbaupolitik am Harz, wobei v.a. die gigantische Harzburg am nördlichen Rand des Harzes eine zentrale Rolle spielt, führte zu den heftigsten und blutigen kriegeri21
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11. Jahrhundert, zu einer beträchtlichen Beschleunigung des Burgenbaus durch den Adel, d.h., in politischer Hinsicht, zu zentrifugalen Machtverschiebungen im Herrschaftsgefüge und zur Militarisierung der Politik führte. Vorzugsweise in Krisenzeiten wie unter dem Gegenkönig Rudolf von Rheinfelden seit 1077, in der Zeit nach der konflikt- und kriegsträchtigen Doppelwahl von 1198 oder während Friedrichs II. Herrschaft, nutzte der Adel alle sich ihm bietenden Gelegenheiten, mit (allodialen) Burgen effektive Instrumente zur Expansion bzw. Bewahrung seiner Macht zu installieren. Ebenso vermochte es die Reichsministerialität/Ministerialität unter für sie günstigen politischen Bedingungen, Burgen (Motten) als Herrschaftssitze zu etablieren. Sie untermauerte damit ihre nachhaltig betriebenen und aggressiv durchgesetzten Aufstiegsambitionen gewissermaßen auch baupolitisch sichtbar. Nur nebenbei soll an den, allerdings bedeutsamen, Gesichtspunkt der enormen Kosten für die Bauten erinnert werden (dementsprechend an die Verluste, die mit deren Zerstörung verbunden waren): Nicht jeder konnte die dafür erforderlichen Mittel aufbringen, weshalb dieser Prozess zwangsläufig zu beträchtlichen Differenzierungen in den sozialen/politischen Hierarchien der Zeit führte. Der Reichsministeriale Werner von Bolanden etwa hatte siebzehn Burgen in seinem Besitz. Kaiser Friedrich II. gestand 1231/1232 den Fürsten im Statutum in favorem principum neben anderem das Befestigungsrecht als Privileg zu18 – womit zugleich für die Städte empfindliche Einschränkungen der durch des Staufers prinzipiell städtefreundlichen Politik gegebenen Freiheiten verbunden waren. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts erreichte der Burgenbau seinen Höhepunkt. In den mittelalterlichen politischen Landschaften19 sind Burgen und Städte schlechterdings die herausragenden Gebilde im sensiblen, für unerwartete Veränderungen und plötzlichen Verschiebungen offenen Koordinatensystem organisierter Macht bzw. der sich neu formierenden Mächte, die in ihrer wesentlichen Substanz und ihren Zielen eine Herrschaft über den Raum, die Territorien,20 über »lant unde liute«, den »oischen Auseinandersetzungen mit den sächsischen Großen, die in der Schlacht an der Unstrut am 9. Juni 1075 ihren schrecklichen Höhepunkt fand. Nachzuvollziehen ist die Dramaturgie dieses sich über Jahre hinziehenden konfliktreichen Geschehens in Quellen wie Lamperts von Hersfeld Annalen, in Brunos Buch vom Sachsenkrieg oder in der Vita Heinrici IV. 18 Heinrich dem Löwen gelang es im Nordosten des Reiches, eine dem König nahezu gleiche Stellung zu erringen (›Übervasallentum‹). 19 Vgl. Warnke 1992, v.a. das Kapitel »Berge und Burgen«, Ibid.: 47ff. 20 Was sich allererst an der Lage der Burgen absehen lässt: Etwa hinsichtlich ihrer Nähe zu Handelsstraßen, Märkten, anderen Burgen – und ob diese in Sichtweite zueinander lagen, was Ausdruck strategischer Planungen im Sinne von ›Wehrlinien‹ (Karl Lechner) wäre. 22
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kos«, d.h. das »ganze Haus«, war. Ausschließlich aufgrund dieser materialen-dinglichen Voraussetzungen ließ sich Herrschaft überhaupt begründen, konnte jemand zum dominus terrae aufsteigen; sie allein schufen die Grundlage für die Ausübung politischer Gewalt und einen entsprechend gewichtigen Einfluss auf das Geschehen im Reich. Die nur rasch skizzierten historisch-politischen Entwicklungen haben vielfältige Spuren in der erzählenden Literatur wie in der Chronistik der Zeit hinterlassen. Als spezifische textuelle Formen der Repräsentation von Wirklichkeit sowie von Geschichte mögen sie, mit ihren je eigenen Mitteln und Verpflichtungen – seien es ästhetische, seien es solche, die, wie die historia, den Geschehnissen eine dauerhafte Erinnerung verleihen sollen (»quod memoriam tribuunt rerum gestarum«, Isidor von Sevilla)21 –, mancherlei hilfreiche Auskunft über Vorgänge geben, die, wie bereits angemerkt, in erheblichem Umfang die Erzählsubstanz beider genres bilden.
II. Sy buweten werg und vil wer (Mecklenburgische Reimchronik, Cap. 65,19)
Türme, Mauern, Gräben: Wie sieht Wehrhaftigkeit aus? Selten kommen die unzähligen mittelalterlichen Bildquellen, in denen Städte bzw. Burgen als Motive vorgestellt werden, ohne oftmals ostentative (d.h. gemäß der herrschenden Bedeutungsperspektive überproportioniert anmutende) Darstellungen von Mauern, Türmen, Toren und Gräben aus. Auf karolingischen Abbildungen (wie schon zuvor auf Münzen des Römischen Reiches, auf Städtesiegeln) werden Türme und Mauern gleichsam abbreviativ als ausgezeichnete, erkennbar auch als repräsentative Elemente einer civitas exponiert.22 Diese Darstellungsweise ist im Verständnis der Zeit gewissermaßen als Chiffre dessen zu lesen, wodurch Städte, Burgen charakterisiert werden: »Was muren umb sich hat/
21 Vgl. Melville 1982: 86-146. 22 Bekannt ist Lorenzettis Das gute Regiment im Palazzo Pubblico von Siena. Andere Bildbelege gibt es u.a. von Carcassonne, Köln, Rothenburg ob der Tauber, Nürnberg usf. Aufschlussreich sind die Darstellungen in Pfaff 1991: 32ff. u. passim. Auch Städtesiegel wie etwa die Gelnhausens oder Kölns lassen dies erkennen. 23
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das heist ein burg ader eyn stat« (Johannes Rothe, Ratsgedichte, 82).23 Diese Fixierung auf – nur scheinbar – äußere Merkmale ist nicht bewusst abbildendem Realitätssinn zuzuschreiben, wie beispielsweise später bei den Veduten. Dieser spielt, mit wenigen Ausnahmen, eine noch nebensächliche Rolle. Sie hat grundsätzlich mit dem Stolz der Stadtbürger (burgensis) auf ihren privilegierten politisch-rechtlichen Status, den mit ihm verbrieften Freiheiten (iura et libertates), sie hat mit der Würde, mit der êre zu tun, Stadtbürger zu sein – was mit noch entschiedenerer Berechtigung auf die während des Interregnums anwachsende Zahl der Freien Städte und Reichsstädte zutrifft. Ebenso wenig wie die historischen Quellen sparen die literarischen mittelalterlichen Texte damit, architektonisch dominierende Merkmale machtvoller Wehrhaftigkeit und des Stadtstolzes (wie freilich, gleichsam als eine stetige Gefahr mit einbedacht, deren unablässige Bedrohung) demonstrativ hervorzukehren. Sie sind keine artistische Staffage, nicht bloßes Dekor. Tatsächlich versinnbildlichen sie eindringlich eine (doppelte) existentielle Grundbefindlichkeit mittelalterlicher Lebens- und Erfahrungswelten: einerseits die tief empfundene Schutz- und Friedensbedürftigkeit, wie sie sich z.B. in den Gottes- und Landfrieden seit dem 10. Jahrhundert zum Ausdruck bringt, andererseits das immer wieder gewalthaft aufbrechende, rücksichtslose Macht- und Herrschaftsstreben der maiores aus ihrer fortifikatorisch gesicherten Position. Aus stadthistoriographischer Sicht spricht Heinrich Koller von ›Marksteinen‹, wenn er substantielle städtebauliche Entwicklungen seit dem 12. Jahrhundert analysiert, zumal in Bezug auf die sich seit dieser Zeit erheblich intensivierenden fortifikatorischen Maßnahmen. Er erinnert u.a. an Privilegien Kaiser Friedrichs I. von 1166 für Aachen, Friedrichs II. Gesetze zum Befestigungsrecht von Städten, in denen der Mauerbau eine ausschlaggebende Rolle spielt sowie König Rudolfs von Habsburg Privilegien für St. Pölten, Colmar, Osnabrück, Althofen u.a., denen das hochbedeutsame, aus Machterwägungen immer wieder umund bestrittene und aus Herrschaftskalkül oft kassierte Recht zum Mauerbau zugestanden wurde.24 Für die Entwicklungen im 14./15. Jahrhun23 Sind es für Burgen und Städte die Mauern, so für die mittelalterlichen Dörfer der »Etter«, die Umzäunung (»zune«) eines Dorfes, die zeichenhaft einen Rechtsraum und Friedensbezirk (Etterfrieden, Ettergerichtsbarkeit) gegenüber dem Umland abgrenzt. Vgl. Bader 1967: v.a. 119ff. 24 Koller 1989. Köln erhielt 1207 das Privileg zum Bau der Stadtmauer, wie überhaupt im 13. Jahrhundert die »Anzahl der ummauerten städtischen Siedlungen« beständig wuchs (Engel 2005: 74). Zum Kölner Privileg (Stadterweiterung 1180) vgl. Rosen/Wirtler 1999: 154ff. Zu den Stadtprivilegien gehörte das Einziehen des »Ungelds« (indebitum), einer meist am Stadttor erhobenen Steuer, die u.a. für den Bau von Befestigungen einge24
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dert dokumentiert Koller, wie entscheidend, existentiell grundlegend Stadt- bzw. Wehrmauern zur politischen Macht, zur Sicherheit (als der Voraussetzung für Macht) und nicht zuletzt zum Selbstbewusstsein der Städte und ihrer Bewohner beitrugen, was durchaus auch als ›symbolisches Kapital‹ im Sinne Bourdieus zu verstehen ist.25 Johannes Rothe hat es eingangs bekräftigt: »Die Mauer war […] das Symbol einer Stadtgemeinde und von konstitutiver Bedeutung für die Entwicklung einer Siedlung zur Stadt.«26
Türme, die in den Himmel wachsen er buwete in siner wise eine stat, lanc, wît und ho. (Judith, 135f.)
»[h]in gein dem âbent er ersach/eines turnes gupfen unt des dach« (Wolfram von Eschenbach, Parzival, V. 161,23f.). Mehrere am Horizont hoch aufragende Türme halten in Wolframs von Eschenbach Parzival des tumben Knaben Blicke magisch gefangen, als er sich seines künftigen Lehrers im Rittertum, Gurnemanz’ von Grâharz Burg nähert – und bei deren Anblick den kuriosen Vergleich mit den seiner Meinung nach falschen agrarischen Anbaumethoden daheim in der »wüeste Soltane« anstellt. Bald ›wachsen‹ noch mehr Türme vor ihm empor: »der stuont dâ setzt wurde. Es war eine indirekte, auf den Verbrauch von Lebens- und Genußmitteln erhobene Steuer. Diese, wie etwa in Rothenburg ob der Tauber, für Wein zu entrichtende Steuer wurde Ludwig Schnurrer zufolge »zweckgebunden für die Stadtbefestigung vorgesehen« (der stat buwe, 1347). 1352 wurde dieser Zweck ausgeweitet auf die Befestigung und Verbesserung der Stadt […]« (Schnurrer 1997: 146). Das Reichssteuerverzeichnis von 1241 nennt mehrere Reichsstädte, denen »pro edificatione urbis« die Steuern erlassen wurden. Zumal die staufische Politik strebte danach, mehr und mehr Städte, wie z.B. Esslingen, Reutlingen, Heilbronn u.a., im Dienste territorialpolitischer Absichten zu befestigen. Vgl. Schwineköper 1980: 127; Heuermann 1939: passim. Das Privileg konnte wieder entzogen werden, was oft geschah: so hob es Kaiser Karl IV. z.B. für Köln auf. In der Auseinandersetzung mit König Ruprecht suchte das unter Acht gestellte Rothenburg Unterstützung bei königfeindlichen Mächten und sorgte unter Bürgermeister Toppler für eine intensive Verstärkung der Stadtbefestigung. Nach mehrwöchigem Kampf, in dem Rothenburg schließlich unterlag, bestimmte der Friedensvertrag von Mergentheim 1408, dass zur Strafe die Rothenburger Burgen geschleift werden mussten. 25 Anschaulich ist diesbezüglich die reichhaltige Ikonographie mittelalterlicher Städte wie z.B. in der opulenten Schedelschen Weltchronik. 26 Engel 2005: 76. 25
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vil ûf eime hûs« (WvE, Pz, V. 161,27). Sie sind natürlich Bestandteil der »letze« (WvE, Pz, V. 205,12), d.h. des Verteidigungswerks einer Burg.27 Wie im Parzival, so in anderen Dichtungen: Die mittelalterliche epische, namentlich die ritterlich-höfische Literatur hat Burgen, Mauern, Türme, Tore und Zinnen, Gräben, Kemenaten, Palas und andere bauliche Elemente und Räume in vielerlei Hinsicht zu einer festen, dramaturgisch, inszenatorisch und narrativ unverzichtlichen Ausstattung ihrer Geschichten gemacht – nicht zuletzt zum Zweck einer zeichenhaft-symbolischen Dokumentation von Wehrhaftigkeit, Ansehen und Reichtum.
Blicke auf Karthago und Montalbane Dido (Elissa), zielstrebige, machtbewusste wie ingeniöse Königin von Karthago in Heinrichs von Veldeke Eneit (bzw. Vergils Aeneis und im Roman d’Enéas) hat ihre Hauptstadt auf dem König Iarbas listig abgewonnenen Gebiet mit »turne hundert«, die »feste und ho« sind, massiv, weit im Land sichtbar und so ehrfurchtheischend bewehren wie attraktiv gestalten lassen: »Karthago was riche/unde stuont gilegenliche/aller slahte guote.« (HvV, E, V. 383-385) Etwas später geht der Dichter sehr akkurat auf den Bau Montalbanes durch Eneas und seine Truppen ein.28 Wie auch andere Dichter, etwa Wolfram von Eschenbach, im Wehrtechnischen höchst kenntnisreich, führt er exakt aus, wie ein solcher trutzhafter Bau, eine ›Schutzburg‹ (»veste«), am zweckmäßigsten beschaffen sein sollte. Vorzugsweise günstig ist eine aufgrund natürlicher (geomorphologischer, geographischer) Beschaffenheiten des Umlandes Schutz bietende Lage, am besten die auf einem Berg, an einem Fluss oder am Meer (oder beidem).29 Solche naturgegebenen Vorzüge werden in den 27 Vgl. Piper 1993: 365 u. 674; Delbrück 1964: 239ff. Beiläufig sei auf Dinkelsbühl in Franken hingewiesen, dessen erste Stadtanlage auf um 1130 zurück geht und das Wolfram wohl kannte. Die Verteidigungsanlagen waren mit vierzehn Türmen bewehrt. Bischof Arbeo von Freising hebt 760 in der Vita Sancti Emmerami an Regensburg deren mächtigen Quader, hochaufragende große Türme, den Schutz durch die Donau, hervor. 28 Heinrich von Veldeke zieht die Bauzeit in nur wenige Verse zusammen. Die faktischen Arbeitszeiten hat jüngst Malte Prietzel extrapoliert (Prietzel 2006: 114f.). Zuweilen konnte eine Wehrburg durchaus innerhalb eines Jahres oder in noch kürzerer Zeit gebaut werden. Bemerkenswert, dass Heinrich von Veldeke gegenüber seiner französischen Vorlage auf manches zu schildern verzichtet, so v.a. auf den Charakter Karthagos als Handelsstadt. Er behält v.a. das Wehrhafte im Blick. 29 Vgl. Delbrück 1964: 419; 503ff. u.ö. Zu Karthago vgl. HvV, E, V. 338ff. Wenigstens knapp soll darauf hingewiesen werden, dass seit Ende des 11. Jahrhunderts immer häufiger der Typ der ›Wehrburg‹, deren Höhepunkt im 26
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historischen wie literarischen Quellen nahezu durchweg (und oft phantastisch übertrieben) als unerlässliche Elemente des Schutzes – wie auf der Seite von Angreifern und Belagerern natürlich als Hindernisse – erwähnt, die es in strategisch-kriegstechnischer Hinsicht und logistisch bei den Attacken zu berücksichtigen gilt: »Castellum in altissimo colle situm erat et uno tantum itinere ipsoque difficillimo adiri poterat. Cetera montis latera vastissima silva inumbrabat, […]« (Lamperti Monachi Hersfeldensis, Annales, 188; über Heinrichs IV. berühmte wie berüchtigte Harzburg). Eneas findet alsbald »einen berch bî dem mere,/der stechel was unde hô« (HvV, E, V. 4038f.); es handelt sich hier wohl um eine sogenannte ›Spornlage‹ mit drei steil abfallenden Hängen. Eilig werden von den Männern wehrhafte Gräben (»graben«, HvV, E, V. 4090) ausgehoben, Wachtürme gebaut, Schießscharten (»berfride und erkâre«, HvV, E, V. 4096) eingerichtet, Brücken über einen breiten Wehrgraben geschlagen usf.30 Nahebei befindet sich eine Quelle (HvV, E, V. 4053), eine der vordringlichsten Voraussetzungen dafür, sich über viele Monate hinziehende Belagerungen zu überstehen, die Belagerer wie Belagerte in materiellem, physischem wie psychischem Betracht schwer, oft genug demoralisierend in Mitleidenschaft ziehen konnten. Sogleich sorgt Eneas, logistisch klug antizipierend, dass es – wegen der schweren Provokation durch seinen Sohn (ein zwingender Fehdegrund!) und den mit Gewissheit zu erwartenden Rachezug des Turnus31 – zur Belagerung der Burg Montalbane kommen wird, für ausreichend Proviant (»spîse«, HvV, E, V. 4075). Darauf wird, neben der Versorgung durch Wasser, in Kriegszeiten aus naheliegenden Gründen häufig hingewiesen.32 Nachdem Ascanius staufischen 13. Jahrhundert liegt, auftritt. Daneben häuft sich der Bau nahezu uneinnehmbarer Befestigungen auf Bergen (Höhenburgen), die aufgrund der Ortswahl und ihrer markant auf Fortifikation und Defension ausgerichteten Architektur ihre machtpolitischen Zwecke augenfällig werden lassen. 30 Diese Elemente erfüllen im wesentlichen die klassischen Erfordernisse für die Gründung und erfolgreiche Entwicklung einer Stadt (Burg): »mons – fons – pons«. 31 Der Fehdegrund liegt im dem Lehnsmann des Turnus (Tyrreus) von Eneas zugefügten »laster« (Schande), was im Text mehrfach hervorgehoben wird: »danch habe der ez geriet,/daz du die troischen diet/betalle wilt vetriben./ lazestuo sie beliben,/ez ware schande unde spot«. – »Dem sei gedankt/der dir riet/die Trojaner/für immer zu vertreiben./Schimpf und Schande/kämen über dich/uns,/blieben sie hier« (HvV, E, V. 4991ff.), wird Turnus von der Königin Amata angestachelt, gegen die Wünsche und Absichten ihres Mannes. Solche scheinbar subjektiven Impulse finden sich als Motive für kriegerische Handlungen immer wieder. 32 »Ouch samenten sie in der wile/korn unde spise./daz taten sie in der wise,/daz sie sich kein ir viende scharn/mochten deste baz bewarn.« (Judith, V. 494-498) 27
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mit seinen Männern Tyrreus’ Burg vernichtet hatte, zogen sie raubend durch das Land und plünderten, was sie vorfanden. Mit allem, was in ihre Finger geriet, verproviantierten sie Montalbane: »ir burch sie do spisten/vil nach zeineme iare« (HvV, E, V. 137,40-138,1).
Fortifikationen: Nur wehrhaft? Auch schön! Wortreich und sorgfältig erzählt der französische Dichter Chrétien de Troyes im Cligès – damit wiederum das ausgeprägte Interesse der Zeit und ihrer Texte am Burgenbau belegend – von den an und in der Burg Windsor ausgeführten umfangreichen Fortifikationsarbeiten und es kann vor dem Hintergrund höfischer ästhetischer Vorstellungen nicht verwundern, dass dabei auf das Schöne besonders aufmerksam gemacht wird: »Au fermer avoit mis grant cost,/Tout juing et juignet et aost,/A fere murs et roilleʀz/Et fossez et ponz torneʀz, /Trenchiees et barres et lices,/Et portes de fer coleʀces,/Et fort tor de pierre quarree.« (Chrétien de Troyes, Cligès, V. 1240-1247) Im Herzog Ernst bringt der Erzähler ein hohes Lob auf die architekturästhetisch großartigen Befestigungen in der auch sonst wundersamen orientalischen Stadt Grippia aus: Die »hêrlîche burc« wird von »einer guoten miure« aus Marmor und von einem Graben (»grabe«) umgeben, der »die burc gar beslôz«. Dies wird von den fremden Eindringlingen, die nur kurze Zeit später ein fürchterliches Blutbad unter den exotischen Grippianern anrichten werden, als allererst in die Augen fallendes Merkmal festgestellt (Herzog Ernst, V. 2215ff. ).33 Die häufigen, hier bloß angedeuteten Hinweise auf bauästhetische Charakteristika zeigen, dass die Wehr nicht nur massiv und wirkungsvoll, sondern zugleich ›schön‹, nämlich repräsentativen Zwecken – dem Stadtstolz – dienlich, sein sollte. In einer Kölner Urkunde wird dies denn auch ausdrücklich hervorgehoben. Die Stadtmauer solle wohl zuerst der Unverletzlichkeit der Stadt dienen, aber auch »ad decorum« (zu deren Schmuck)34 erbaut werden. Die mittelalterliche Literatur stellt mit ihrem 33 Ein anderes Beispiel aus dem altenglischen Sir Gawain and the Green Knight: »Der Reiter hielt am Rande des tiefen Doppelgrabens an, der das Schloß umgab./Die Mauern standen herrlich tief im Wasser und ragten bis zu einer wunderbaren Höhe empor; bis zum Gesims [waren sie] aus hartem, behauenem Stein, und unter der Brustwehr sprangen im schönsten Stil gebaute Erker vor;/dann [kamen], auf Abstand errichtet, schmucke Wachtürme […] ein besseres Außenwerk hatte der Ritter [Gawain] nie gesehen.« (Sir Gawain and the Green Knight, 34; 785ff.) Die Beschreibung dauert noch etliche Verse fort und betont das Wehrhafte wie das ›Schöne‹. 34 Rosen/Wirtler 1999: 157. 28
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ausgeprägten Sinn für das Schöne viele exquisite, in architekturästhetischer Hinsicht attraktive Verteidigungsbollwerke vor, womit sie sich von den aufs Ganze gesehen meist nüchterner berichtenden historischen Quellen unterscheidet.
Begehrlichkeiten. Schöne Städte, ›erotische‹ Städte Im Zusammenhang des Schönen einer Stadt oder Burg soll hier noch eine kurze, eindrucksvolle Passage aus Aimerys von Narbonne Bericht über Karl den Großen angefügt werden. Karl blickt von einem Hügel aus versonnen auf das sarazenische Narbonne hinab – »une ville si admirable«, wie es heißt. Kaum absichtslos hat Jacques Le Goff dieses Kapitel eines Aufsatzes pointiert mit »Der Köder der Stadt« überschrieben, diese gleichsam erotisch konnotiert, Begehrlichkeiten weckend: »Sie war von Mauern und Säulen wohl umschlossen, nie sah man eine fester gebaute Stadt […]. Nie sah man etwas Herrlicheres. Es gab zwanzig Türme aus glänzendem Stein. In der Mitte der Stadt fing ein weiterer Turm den Blick. Oben auf seinem Hauptteil war eine herrliche Goldkugel von jenseits des Meeres angebracht; in ihr hatte man einen Rubin eingeschlossen, der funkelte und schien so prächtig wie die Morgensonne. An einem düsteren Abend konnte man ihn – ungelogen – aus vier Seemeilen Entfernung erblicken. […] Der König begann die Stadt zu betrachten, und in seinem Herzen gelüstete es ihn nach ihr.«35 Unverkennbar erinnert diese Liebe für eine Stadt an die kulturell und literarisch weit verbreitete Vorstellung von Städten als begehrenswerten (weiblichen) Objekten, deren Eroberung einer lustvollen ›Penetration‹ eines weiblichen Körpers durch männliche Krieger zu vergleichen ist.36
35 Le Goff 1972: 47. 36 Vgl. Schülting 1997: 46ff.; Krause 1997a. 29
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Da er vor siner viende dro Vrides wolde sin gewis. (Judith, V. 136f.)
Burgen und Städte - unbezwingbar? Beim Burgen- und Städtebau richtete sich das Bemühen der Territorialherren verständlicherweise darauf, ihre Festen und mit ihnen ihre Macht möglichst unerschütterbar zu gestalten, womit sie v.a. mit der Errichtung von Höhenburgen seit dem 11. Jahrhundert sehr erfolgreich waren. Eine allein durch ihre Höhenlage kaum zugängliche Bastion bescherte Angreifern nahezu unüberwindliche, jedenfalls außerordentlich strapaziöse physische Anstrengungen, enorme strategische und außerdem logistische Probleme. Im Kriegsfall wurden daher viele Burgen aus der Einsicht in die Erfolglosigkeit des Unternehmens gar nicht erst angegriffen bzw. konnten sich Belagerungen nicht selten über ein Jahr und noch länger hinziehen, mit dramatischen Folgen für beide Seiten. Städte hingegen boten wegen ihrer Größe und der infolgedessen lang gestreckten Stadtmauer mehrere leichter überwindbare Schwachstellen. Freilich konnten auch hier Belagerungen, mit ähnlich großen Verlusten an Menschen, Material und Geld, nicht zuletzt mit Konsequenzen für die Kampfmoral auf beiden Seiten, überaus lang anhalten, wie es zahlreiche chronikalische Quellen schildern. So berichtet Matthäus von Paris über die Belagerung der italienischen Stadt Faenza durch Friedrich II.: »Um dieselbe Zeit […] nahm der Herr Kaiser Friedrich die hochangesehene Stadt Faenza nach langer und heftiger Belagerung in Gewalt […]. Die Belagerung hatte fast ein Jahr gedauert, und er hatte unendlich viel Geld dafür ausgegeben.« (Chronik des Matthäus von Paris, 88) Wirnt von Gravenberc schildert in seinem ›nachklassischen‹ Artusroman Wigalois. Der Ritter mit dem Rade mit Lizenz zum Phantastischen Burgen von mysteriös-bedrohlicher Art, mit magisch-zauberhaften Eigenschaften und mechanischen Vorrichtungen, geradezu hermetisch verriegelte, fast unzugängliche (eigentlich uneinnehmbare) Burgen: So wird die Feste des Karrioz’ von einem mächtigen Tor verschlossen, »des ein rat [Rad] von êre pflac«, mit »scharfen swerten« und »kolben« todbringend bewehrt. Ein kräftig fließender Bach treibt es an, rasend schnell dreht es sich, so dass es niemandem (außer dem selbst außerordentlichen Helden Wigalois) gelingt, es zu überwinden.37 Ähnlich verhält es sich in 37 Wirnt von Grafenberg, Wigalois, V. 10727ff. (Namur-Feldzug); V. 6770ff. (Karrioz- und Schwertradepisode); V. 4591ff. (Korntin). Zur »schrecklichen Brücke« als Hindernis vor einer Burg vgl. Chrétien de Troyes, Lancelot, V. 3021ff. 30
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der arthurischen Literatur beispielsweise mit Askalons und Laudines ›Quellenreich‹ in Hartmanns Iwein, mit Mabonagrins nahezu unzugänglichem ›Liebesnest‹ im Erec oder dem Unterwasserreich im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven u.a.m. Bemerkenswert oft entwirft die mittelalterliche Literatur solche unzugänglichen, verborgenen, hermetisch verschlossenen Räume. Zu den magischen Burgen gehört etwa des Zauberers Klinschors ›Schastel marveile‹ in Wolframs von Eschenbach Parzival, die nahezu unzugängliche Gralsburg, die von nur drei Rittern geschützt werden könne.38 Anläßlich des gewalthaften Todes des Herzog Berchtolds von Zeringen in Freiburgs Gründungsjahr 1122 hebt die Chronik der Stadt Freiburg im besonderen dessen baulichen Aktivitäten zu Wohl und Wehr der Stadt hervor. Vorrangig wird gewürdigt, dass der Herzog die Stadt mit »greben/mauren/thuernen unnde thorn« bewehrt habe.39 Auch dies ist natürlich ein Reflex darauf, dass in einer grundlegend bellizistisch gestimmten Epoche für Schutz und Sicherheit zu sorgen primäre Verpflichtungen des Stadtherren waren. Unter dem Eindruck der verheerenden Ungarneinfälle registrieren die St. Galler Klostergeschichten Ekkehards IV. fieberhafte fortifikatorische Aktivitäten des zur Abwehr der nahenden Gefahr mutig entschlossenen Abts Engilbert. Den einfallenden ungarischen Feinden stellt er seine mächtige und, vertraut man den Quellen, erstaunenswert rasch errichtete Burg entgegen.
Ein Zwischenresümee Was hier knapp-auswahlhaft, keineswegs repräsentativ, der chronikalischen und epischen Literatur entnommen als für Städte (Burgen) grundsätzlich konstitutive bauliche Elemente vorgestellt wurde, ist (neben dem 38 Über die Gralburg Munsalvaesche schreibt Wolfram: »dâ was diu brücke ûf gezogen,/diu burc an veste niht betrogen./si stuont reht als si waere gedraet [gemeißelt]./ez envlüege oder hete der wint gewaet,/mit sturme ir niht geschadet was./vil türne, manec palas/dâ stuont mit wunderlîcher wer./ob si suochten elliu her,/sine gaeben vür die selben nôt/ze drîzec jâren niht ein brôt.« (WvE, Pz, V. 14-22) (»Die Brücke war hochgezogen, und die vortrefflich befestigte Burg stand da wie hingemeißelt. Sturmangriffe brauchte sie nicht zu fürchten, es sei denn, die Angreifer hätten Flügel gehabt oder wären vom Wind hineingetragen worden. Viele Türme und Paläste, alle ausgezeichnet bewehrt, standen darin. Wären auch alle Heere der Welt herangezogen, die Verteidiger hätten zu ihrer Rettung nicht einmal ein Brot opfern müssen, und wenn die Belagerung dreißig Jahre gedauert hätte.« Übers. v. Spiewok 1981) 39 Chronik der Stadt Freiburg im Breisgau 1979: 16. 31
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nicht minder goutierten architektonisch Schönen) vor allem anderen die »wer«: Die Wehrhaftigkeit, die Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit von Burgen und Städten wie auch von Klöstern oder Wehrkirchen. Nochmals: Mauern spielten eine ausschlaggebende Rolle, mit ihnen Tore, Türme, Zinnen, Gräben, die Lage der Burgen bzw. Städte u.a. Die – aus politischen Gründen oder strategischen Erwägungen der Herrschaftseliten niemals selbstverständlich garantierte oder gar finanziell gestützte40 – Wehrhaftigkeit der Städte und Burgen war, wie erwähnt, unentbehrliche Voraussetzung ihrer Existenz, Sicherheit und ihrer politischen, wirtschaftlichen, schließlich, zumal seit dem Hochmittelalter,41 nicht zum wenigsten ihrer kulturellen Handlungs- und Selbstgestaltungsfähigkeit. Mauern, Tore, Türme, Gräben waren im Konflikt- bzw. Kriegsfall unvermeidlich die mit konzentriertester kriegerischer Rücksichtslosigkeit fokussierten, mit allen kriegerischen Mitteln, von Steinschleudern bis hin zum Feuer, bedrohten und daher empfindlichsten Bestandteile einer Burg und Stadt42 – und folglich von ihren Bedrohern als kritische Orte für erfolgversprechende Angriffe besonders genau ins Visier genommen.
Ein feste Burg… Himmlische Hilfe, heilige Wehr Des kampfentschlossenen Abtes Engilberts Burg wird, woraus sich eine spezifische Pointe ergibt, an einem Ort erbaut, der dem Abt »gleichwie von Gott dargeboten« schien, ausdrücklicher: unter dessen Schutz gestellt war. »Premunitur in artissimo collo vallo et silva excisis locus fitque castellum, ut sancte trinitati decuit […]« (Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, 114).43 40 Fouquet hat die enormen Ausgaben für die Verteidigung von Städten des späten Mittelalters als Belege für deren hohen fortifikatorischen Aufwand aufgewiesen. Vgl. Fouquet 1989. 41 Seit dem 13. Jahrhundert zogen die neuen Orden der Dominikaner und Franziskaner in die Städte und bildeten wichtige Orte des Wissens und der Bildung. 42 Sofern sich die Verteidigung einer Stadt als unzulänglich erwies, wurde sie, zumindest in Teilen (wie etwa im Falle Rottweils), an günstigere Orte verlegt. Dies gilt für die staufische Periode – besonders seit dem Doppelkönigtums Philipps von Schwaben und Ottos IV. Vgl. Schwineköper 1980: 159. 43 Die allenthalben als katastrophal empfundenen Ungarneinfälle führten zu massiven Veränderungen im Burgenbau und der Fortifikationslogik, die für feindliche Angriffe besser und effektiver gerüstet war. Der Hinweis auf göttliche Hilfe findet einen intertextuellen Reflex in den Vitae Sanctae Wiboradae, in denen Engilbert, fürchtend, Wiborada könnte in den Überfällen 32
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Hierbei fällt eine in vielen Texten bzw. Quellen mitgeteilte Einstellung auf, die Schutz und Bewahrung von Leben und Besitz nicht ganz und gar in die Versicherungen technisch-bauhandwerklicher Solidität materiellstrategisch gewährleisteter Wehrhaftigkeit stellen mochte. Sie erhoffte sich darüber hinaus einen überzeugenderen, nämlich transzendenten Schutz – und erhielt ihn auch (wenngleich nicht immer): Den Beistand von Heiligen, Schutzpatronen/-innen oder gar durch den Herrgott selbst. Überirdischer Schutz und Hilfe werden von Bedrohern wie Bedrohten, von Feinden und Freunden gleichermaßen oft invoziert: [Sie] »schrieten an den hosten got,/daz er in der swere/were ir helfere/und ruchte sie beschirmen/vor den ungehirmen,/die sie wolden vertriben/mit kinde unde wiben von der gotlichen e.« (Judith, V. 530 ff.) Bitten hier die von unmittelbarer tödlicher Gefahr durch Holofernes’ Truppen Bedrohten um Hilfe (die dann auch auf recht brutale Weise gewährt wird), verhilft im Alexander-Roman Rudolfs von Ems ein durch inständiges Beten bewirktes »wunder« Gottes Alexander, eine mit menschlichen Mitteln und Möglichkeiten scheinbar nicht einzunehmende Burg schließlich doch noch zu besetzen: »Got diz grôze wunder tet/und durch sîn [Alexanders] diemuotlich gebet.« (RvE, Al, V. 16983ff.) Nachgerade biblische Dimensionen und Dignität kommt der Hilfe für Karl den Großen vor Pamplona zu, das sich trotz intensivster Belagerung nicht einnehmen lässt: »[…] et sedit circa eam tribus mensibus; sed eam capere non poteat, quia muris inexpugnabilibus munita erat.«44 Nach einem innigen Gebet an Gott und den Heiligen Jakobus, gewährte es der Herr »et beati Iacobi intercessione muri confracti ›funditus corruerunt‹, sicut legitur divinitus factum de muris Iherico.«45 Dass solche Hoffnungen in gnädigen himmlischen Schutz und die Hilfe in Kriegen und Belagerungen gesetzt wurden, gehört zu den für das Mittelalter, wenn schon nicht unerwarteten, so gleichwohl bemerkenswerten Phänomenen. Über Jahrhunderte hinweg rekrutierte sich in einem ›Staat‹, der noch kaum institutionalisierte Rechtssicherheit bot, als Reaktion auf das allzu häufige Erleiden von Not und Lebensgefährdungen eider Ungarn ihr Leben lassen, die Äbtissin bittet, Zuflucht in der Burg zu suchen. Sie verzichtet aber mit heiliger Gelassenheit auf diese Hilfe gegen die »wilden Barbarenhaufen« (»multitudine barbarorum«): »Igitur abbas tantam constantiam uirginalis animi in deo fixam conspiciens […].« (Vitae Sanctae Wiboradae, 80ff.) Vgl. Auer 1976: 11f. 44 Deutz/Deutz 2002: 208. 45 Ibid. Die Zerstörung Jerichos (Buch Josua) wird hier gleichsam im Sinne des Antitypus-Typus-Bezugs (AT und NT) auf Karls Kampf gegen die Heiden in Pamplona bezogen. Das Dachrelief des Karlsschreins in Aachen enthält eine dieses Ereignis betreffende Inschrift: »IN PAMPILONE P(ER)SITENS OBSIDIONE/KAROLUS ORAVIT ME SICUT AD ISTA VOCAVIT/JACOBUS ET VERE CADIT URBS MURI CECIDERE.« Ibid.: 209. 33
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ne vielköpfige Riege, ja gleichsam ein Heer von ›Kriegs- und Stadtheiligen‹ (patronus loci), unter ihnen, wenn auch nur für kurze Zeit, Martin von Tours, sodann St. Dionysius, der als Frankreichs Nationalheiliger in Wolframs von Eschenbach Willehalm (WvE, Wi, V. 330,20) auf des Markgrafen Willehalms Seite kämpft,46 der heilige Sebald (Nürnberg), Laurentius (Rom), St. Ursula (Lüneburg), Chrysogonus (Hannover), Jakobus der Ältere, Patroklus (Soest), Markus (Venedig), Ambrosius (Mailand) sowie zahlreiche andere – und, was nicht überraschen kann, die Himmelskönigin und Gottesmutter Maria selbst. Die Einsetzung, Verehrung und Feier von Stadtpatronen/-innen, die keinesfalls durchweg ›berühmte‹ Heilige darstellten, sowie die Verehrung von deren Reliquien erfolgte in oft umfangreichen, jährlich, jedenfalls regelmäßig wiederkehrenden Zeremonien und kollektiven Ritualen47 als wesentliche Elemente der städtischen Memorialkultur.48 Wurde vor und während Feldzügen der Beistand durch Heilige lautstark und innig erfleht, wohlgemerkt bei Freunden und Feinden, sollten sie in Friedenszeiten Städte als Beschützer vor Unheil und Zerstörung bewahren. Als Stadtheilige bzw. Patronin genoss die Gottesmutter Maria (zumal in Gestalt der als Bild weit verbreiteten Schutzmantelmadonna) in vielen Städten eine überragende Stellung. Immer wieder werden Maria und Jesus – »so vacht vor sie ir got vil wert« (Judith, V. 802) – als Schlachtenhelfer angerufen: im Zürichkrieg, in den Auseinandersetzungen Reutlingens mit den die Stadt belagernden Stauferfeinden (1247) oder in Ulm 1316, als die Stadt nach einem Verrat überfallen wurde.49 Für Florenz und andere Städte Italiens wie auch in vielen Städten des Deutschen Reichs galt Maria als »howbtfrowe und beschirmerinne«. Entsprechendes trifft auf andere zu Patronen bzw. Patroninnen erhobene Heilige zu. Johannes Chrysostomos war überzeugt, dass es Städte gäbe, die von Reliquien wie von Mauern umgeben und geschützt wären. Dies stützt eine ursprünglich an der Westfassade des Klosters Corvey angebrachte Inschriftentafel von 844 mit dem Wortlaut: »CIVITATEM ISTAM/TU CIRCVMDA D[omi]NE ET/ANGELI TVI 46 Zudem wird Petrus, »des himels portenois« (Himmelspförtner) als Helfer und Beschützer bemüht (WvE, Wi, V. 332,8). Im Rolandslied werden von Karl im Gebet alle Heiligen (»trûte«) als Helfer in der Schlacht angerufen: »verlîhe uns saelde unt sigenunft« [Sieg]. Rolandslied, V.7923 u. V. 7928. 47 Schreiner 1994: 333ff.; vgl. auch Ibid.: 374ff.; Ohler 1997: 64ff. (›Kriegsheilige‹). Städte wurden im Gedenken an Schlachten und Kriege, wie Klaus Graf schreibt, zu Sakralgemeinschaften: »In Schlachtengedenktagen wurde städtische Identität als bedrohte und verteidigte Identität präsentiert.« Graf 1989a: o.S. 48 Von den zahlreichen Studien sei hier die von Ehbrecht (1995) erwähnt. 49 So auch im Rolandslied, wo gleich eine ganze Schar von Heiligen als Schlachthelfer berufen wird, v.a. aber Christus: »Crist, reiner megede barn,/ mache unsich vor den haiden frî« (Rolandslied, V. 3094f.). 34
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CVSTO/DIANT MVROS EIVS« (»Umhege [schütze], Herr, diese Stadt, und laß deine Engel die Wächter dieser Mauern sein«).50 Der Wunsch, sich zum Wohl und zur Sicherheit einer Stadt des dauernden Beistands von Heiligen zu vergewissern, führte zu zahlreichen Reliquientranslationen, zu deren berühmtesten die Überführung der Gebeine der Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln gehört.51 Reliquien dieser Dignität versprachen bzw. garantierten Schutz, Sicherheit und mehr noch Heil. Darüber hinaus waren sie wertvolle, Epochen überdauernde Zeugen überirdischen Schutzes für die memoria, ja die Identität einer Stadt.52 Vom Dortmunder Stadtheiligen Reinold, in Gestalt eines Steinbildes über die Stadtmauer wachend, wird in Dietrich Westhoffs Chronik Mitte des 16. Jahrhunderts berichtet, er sei während eines heftigen Angriffs 1377 leibhaftig auf den Mauern erschienen, habe die feindlichen Kanonenkugeln mit bloßen Händen abgewehrt und so die Stadt vor der Zerstörung bewahrt.53
III. Fragen und Perspektiven In der erzählenden wie in der chronikalischen Literatur erwachsen kriegerische Ereignisse, in ihrem Gefolge Zerstörungen, erwartbar aus unterschiedlichen Zusammenhängen, Intentionen und Motiven. Zerstörungen, darin alles einbezogen, was zum zeitgenössischen politisch-rechtlichen Kontext der aus heutigem Urteil in vielerlei Hinsicht archaisch anmutenden adeligen Fehde- bzw. Kriegspraxis gehörte, wie das berüchtigte, auf die möglichst totale Verwüstung eines landes abzielende »roup unde brant«, d.h. das schonungslose »Schaden trachten« (auch als bellum romanum bekannt), sind nicht grundlos beständiges Handlungs- und Motivinventar der Literatur wie durchgängiger Inhalt der historischen Quellen (Chroniken, Annalen etc.). Eine Synopsis mehrerer Texte unterschiedlicher genres regt vielerlei Perspektiven auf das weitläufige Thema an und lässt es von verschiede50 Bering 2002: 187. 51 Ein Druck aus dem 15. Jahrhundert zeigt die belagerte Stadt Köln, auf deren Mauern neben anderen Patronen/-innen (Petrus, Ursula) auch die Drei Heiligen Könige als Beschützer zu sehen sind. 52 Geschichte und Bedeutung vieler Städte sind oft an die Existenz von Reliquien und deren Aufbewahrung in Kirchen, Klöstern, geknüpft. Vgl. MaasSteinhoff 2003 (zum Heiligen Patroklus). Nur angefügt sei, dass die Patrone gelegentlich versagten – und dafür gescholten bzw. bestraft wurden. 53 Hansen 1887: 226f. 35
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nen Blickpunkten her prägnanter erschließen. Das Spektrum möglicher Zugangswege reicht von den in Literatur wie Chronistik zahlenmäßig am häufigsten berichteten praktischen, kriegstechnisch/-strategisch relevanten Aktionen (wie Vorbereitungen von Kriegszügen, Belagerungen, deren Logistik, Erstürmungen, Brandschatzungen usw.), die sich aufgrund einer über Jahrhunderte faktisch eingeübten militärischen Strategie des Ablaufs (literarisch-narrativ: in Anlehnung an diesbezüglich formative Texte, zu denen beispielsweise die schmale Ilias Latina, das Ensemble des Troja- und Thebenstoffes oder auch Flavius Josephus’ Judäischer Krieg u.a. gehören) mit einem konventionalisierten Vokabular begrifflich sozusagen rasch ›erledigen‹ lassen, bis hin zu heilsgeschichtlich-religiösen und moralisch-ethischen Perspektiven, die sich den Geschichten entweder offen erschließbar und verstehbar oder erst einer philologisch-hermeneutischen Deutung nachvollziehbar ›anlagern‹. Was im Besonderen die heilsgeschichtlich-religiösen Dimensionen angeht, wären zahlreiche Quellen zu nennen, von denen entsprechende wirkmächtige Impulse ausgingen. Mit Bestimmtheit hat wohl Bernhards von Clairvaux, des Kreuzzugseiferers, ungemein einflussreiches Werk De laude novae militiae zur religiösen Nobilitierung kriegerischer Gewalt, sofern sie von den Soldaten Gottes (der militia Christi) ausgeübt wurde, gegen Menschen (d.h. Ungläubige) wie gegen ›Sachen‹ (Götzenbilder etc.), beigetragen (selbst wenn der Literalsinn für Bernhard nicht die entscheidende Bedeutung führt): z.B. durch ermutigende Bemerkungen wie die, es sei den christlichen Rittern gestattet, Zion, die »befestigte Stadt«, mit »starker Hand« zu halten, oder durch eine andere, in der Christus höchstselbst als Heerführer der Ritter (»quo ipse quondam militum Dux«) im Tempel bezeichnet wird. Viele weitere einschlägige Stellen ließen sich diesbezüglich anführen.54 Verschiedentlich ereignen sich im Geschehens- bzw. Erzählverlauf Zerstörungen von »vesten«, »burgen«, »steten« in geradezu gedrängteiliger Folge. Einmal mehr wäre an Rudolfs von Ems voluminösen Alexander-Roman zu erinnern. In diesem Fall lässt sich die erzählerische Forciertheit und Intensität, mit der der Text dynamisch voranschreitet, vom zentralen Erzählobjekt (und seinen verschiedenen [historischen] Quellen) her, d.h. von der vielfach als Hybris gedeuteten Eroberungspolitik Alexanders als treibendes Element verstehen. Dieselben Impulse sind entsprechend bei anderen Alexanderdichtungen zu beobachten, wenn auch mit z.T. markanten Besonderheiten (wie im stark ›höfisierten‹ Alexanderroman Ulrichs von Eschenbach oder, unter gleichfalls ent-
54 Abbildung bei Erbstösser 1980: 24; »Christus führt das Kreuzfahrerheer an« (zur Offb. Joh. 1,16). 36
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schieden gewandelten Rezeptionsbedingungen, bei Johann Hartlieb im 15. Jahrhundert).55 Dramatisch anders als im Alexander-Roman gestaltet sich ein Unheilsgeschehen von in der Tat brutalen Zerstörungen in Veldekes Eneit. Die zum scheinbar unverfänglichen Zeitvertreib dienende Jagd des jungen, unbedacht handelnden Eneassohnes Ascanius auf den zahmen Hirsch der Tochter des Tyrreus, Silvia, provoziert binnen kurzem grauenhafte, blut- und verlustreiche Kämpfe. Eine Jagd, als Anlass für das sich anschließende Gemetzel nahezu wie eine Bagatelle anmutend, wird Impuls für die militärische Eskalation eines längst bestehenden Konflikts, in dessen Verlauf mit Eneas’ Hilfe auf geradezu klassische Weise Tyrreus’ Burg zerstört wird. Burg und Land werden – was kriegslogisch für die Zeit zwingend zu erwarten ist – mit »roup unde brant«, wie die martialische Formel lautet, als den probaten Instrumenten kriegerischer Gewalt überzogen, verwüstet, geplündert (HvV, E, V. 4542-4737),56 ohne dass Tyrreus »[…] wesse selbes wes« (HvV, E, V. 4799). Turnus, der erbitterte Feind des Trojaners Eneas und selbst Königin Amatas Favorit als Ehemann für ihre Tochter Lavinia, »was […] des vil vnfro,/daz der troiare also/den edilen man hete erslagen«. (HvV, E, V. 4837). Dem König Latinus, der Vater von Eneas’ späterer Frau Lavinia, trägt Turnus eine emphatische Klage über die schweren materiellen Verluste vor (HvV, E, V. 4858 ff.). Zugleich beklagt er, was nicht übersehen werden sollte, die ihm damit zugefügte große »schande« (HvV, E, V. 5412) – ein, wie der »zorn«, der »nît«, »haz« in Dichtung und Chronistik ausnehmend häufig anzutreffender (nur scheinbar bloß subjektiver) Impuls für den Beginn desaströser Fehden oder für deren Intensivierung.57 55 Auch wenn Ulrich von Eschenbach Alexanders rasche Eroberungen als primäres Movens seiner Erzählung den Quellen entsprechend beibehält, fügt er mehrfach digredierende Elemente ein, die deutlich höfischem Geschmack entgegen kommen wollen. Gleiches gilt, oft komisch wirkend, für Ulrich Füetrers Trojanerkrieg, z.B. wenn zwischen den blutrünstigen Kämpfen der Helden Minnedamen die erschöpften Krieger, fast wie nach einem Turnier, pflegen und trösten: »Die frawen, liecht gemale – /jede enpfieng do sunder ir ameis.« (Ulrich Füetrer, Trojanerkrieg, 378,3f.; vgl. auch 407,1ff.) Vgl. Lechner-Petri 1980. Eine höchst frappierende Konzession an eine gewissermaßen friedfertigere literarische Wahrnehmung des Kriegs um Troja bietet wiederum Ulrich Füetrer, der im Trojanerkrieg die erbitterten Feinde Hektor und Ajax (»Dy helden ellensreiche«) kurzerhand miteinander verwandt sein lässt (UF, Tk, V. 376,1ff.), wodurch ein Friede über drei Monate ermöglicht wird. 56 Vgl. dazu die Mecklenburgische Reimchronik, V. 67,95f.: »Al den gebuw durch al daz lant/daz wart virwustet vnd virbrant.« Auf weitere Belegstellen kann hier verzichtet werden. 57 In der Tat ist oft die Ehrenkränkung (»schande«) Anlass für zerstörerische Fehden. Der Fehdegrund musste nicht in objektiven Umständen liegen; die 37
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Den alttestamentarischen König Nabuchadonosor, ›Jahwes Knecht‹, in der (Stuttgarter) Judith, treiben schiere Selbstüberhebung (superbia) und eitler Machtwahn – »er wolde sin und heizen got« – zu seinen in die Hände des Oberbefehlshabers Holofernes gelegten Vernichtungs- und Eroberungszügen. Der Judith-Autor beschreibt sie in unspektakulärer Diktion: »daz er gewan die burge an« (J, V. 201); »die [houbtstat] brach er mit gewalt in nider«; »er hiez in gereit/brechen und burne/stete unde turne« usf. (J, V. 317; V. 321; V. 434ff. u.ö.). Selten lautet es auffallend anders in anderen Texten, auch den historiographischen.
IV. Exkurs Ratten und Fliegen beherrschten die Stadt. Frech und fett tummelten sich die Ratten auf den Straßen. Aber noch ekelerregender waren die Fliegen. […] Klumpenweise wälzten sie sich auf dem Pflaster […] Und dann der Geruch von verkohltem Hausrat, von Fäulnis und Verwesung, der über der Stadt lag.58
Auffallend ist, dass die Autoren literarischer Werke solche Schilderungen eher zu meiden suchen, in denen die Folgen schwerer Verheerungen, beispielsweise durch Feuer (wie Verbrennungen und dergleichen)59 oder
subjektive Dimension spielte in den mittelalterlichen Anschauungen von der Legitimität von Fehden eine herausragende Rolle. Vgl. Krause 2006. So wird etwa von Alexanders Furcht berichtet, im Falle einer Niederlage verspottet zu werden; oft ist von seinem Hass und Zorn die Rede, was in den Quellen auch an Friedrich II. immer wieder hervorgehoben wird (der Kaiser »knirschte vor Zorn«, »rasender Zorn«, Hass, aber auch Schmerz anlässlich einer Niederlage usf.). Auch die Schmähung von Symbolen, wie etwa die Zerstörung eines Siegels Barbarossas, war als schwere Beleidigung des honor imperii ausreichender Grund für eine Fehde, einen Krieg. 58 Nossack 1971: 52f. 59 Wolfram schildert im Willehalm das Orange (die Burg Gloriette) bedrohende, von den Sarazenen gelegte Feuer, dessen Schein die Nacht und das Meer erhellt und das viele Leben fordert: »des wart Glorjet in angest brâht,/ ze Oransche der liehte palas./vor viuwer man noch wîp genas/der getouften in der ûzeren stat«. (WvE, Wi, V. 223,16-19). Auch hier wird, wie zumeist in den Texten, lediglich allgemein von Opfern berichtet. 38
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gar biologische Verfallsvorgänge,60 beachtet werden müssten, wie sie etwa in antiken Dichtungen und Texten als »extreme Möglichkeiten bei der Verletzung des menschlichen Leibes«61 begegnen. Hier wird eine kritische psychologische, eine auch ästhetische Schwelle bemerkbar, die offenbar nicht überschritten werden darf. Scheute sich der feinsinnige Gottfried von Straßburg aus ästhetischen Gründen ausdrücklich selbst davor, ziemlich harmlose Unappetitlichkeiten zu erzählen – um die sensiblen Ohren seines höfischen Publikums nicht mit einem Griff in die Apothekerbüchse zu irritieren –, 62 zeigt sich diese Zurückhaltung erst recht dort, wo eine ›realistische‹, erst recht ›naturalistische‹ Darstellung des Geschehens kaum umhin käme, die Grenzen des nur Hässlichen hin zum Ekelhaften63 überschreiten zu müssen wie in Nosacks modernem Text über die Bombardierung Hamburgs. Selbst wenn die Texte keineswegs davor zurückschrecken, sich immer wieder und ohne merkliche Zurückhaltung exzessiven gewalthaften Taten zuzuwenden, bis hin zu den häufigen Dekapitationen, Kastrationen, Blendungen, Verstümmelungen usw., wenn sie in gewiss schlachtenepischer Übertreibung jede reservatio missen und das Blut der Gefallenen in Strömen fließen lassen – und was mehr an schauderhaften Handlungen offenbar von einem zeitgenössischen Publikum goutiert wurde –, rühren sie dennoch beinahe nie an solche Bereiche körperlichen Leidens, die in die abjektiven ›Nahwelten‹ gleichsam mikrokosmischer Erfahrungen hineinführen. Die Literatur verzichtet andererseits wiederum nicht auf häufig aufdringliche Exponierungen des Innerleiblichen, die moderner »Anatomiegreuel« (Th. W. Adorno) darzustellen eher meidet.64 60 Der Willehalm enthält allerdings die unerwartete Bemerkung über die in der Stadt Orange gefallenen Toten: »der smac von toten was dâ groz/unt sus von manegen âsen« (WvE, Wi, V. 222,12f.), so dass die Angreifer darum bitten, frische Luft schöpfen zu dürfen (»unt si der luft erwaete«; WvE, Wi, V. 222,29). 61 Fuhrmann 1968: 43. 62 Diese Reserviertheit zeigt sich noch selbst bei den Kämpfen um Burgen und Städte, die oft in der Art des Turniers dargestellt werden. Vgl. WvE, Wi, V. 225,2f.: »wir sulen dort und hie mit einem buhurt an si komen«. Der Rückzug hinter die Mauern wird zuweilen ausdrücklich als Feigheit ausgelegt. Insbesondere Ulrich Füetrer hält, auf die gute alte, höfische Ritterzeit zurückblickend, die fairen alten Kampfweisen hoch, wenn er hinsichtlich des Trojanischen Krieges z.B. vom »thiost auff dem anger« spricht (UF, Tk, V. 413,5 u.ö.). 63 Dazu Menninghaus 1999. 64 Dies wiederum mag mit dem von Manfred Fuhrmann sogenannten stoischen Kontrapost zu tun haben. Den Kämpfern verbietet es sich, selbst schwere leibliche Verletzungen ernst zu nehmen: »sîner wunden her vergaz« (HvV, E, V. 214,26). Dies ist ein Kennzeichen kriegerisch-heldischer Einstellung in den mittelalterlichen Texten. Vgl. Krause 1997b. 39
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V. Damnatio memoriae: »und alles, was man dort gefunden hatte, [wurde] zu Asche verbrannt« Der Terminus damnatio memoriae bezieht sich zwar auf das Vergessenmachen von in Ungnade gefallenen Personen, ebenso anschaulich charakterisiert er die zahllosen gewalttätigen Bemühungen, ganze Städte oder Burgen nicht nur aus der Landschaft, sondern aus dem Gedächtnis der Menschen, welches sich eben auch an Orten und ihrer (sich aus vielen Elementen speisenden) symbolischen Kraft orientiert, zu tilgen, sie für alle Zeiten vergessen zu machen.65 Alexander der Große vernichtete aus diesem Grund Theben66, Friedrich II. ließ mehre italienische Städte dem Erdboden gleich machen und insbesondere Mailand für die Beleidigungen des honor imperii unbarmherzig strafen. Für die von solcher Gewalt betroffenen Städte waren nicht nur die ökonomischen Folgen katastrophal. Sie wurden darüber hinaus ihrer Identität beraubt, die allein im Wirtschaftlichen nicht gründet. Das Vokabular der vernichtenden Macht ist präzise, und es ist eindeutig: »roup unde brant«, »verwüesten«, »in Asche legen«… »A mil Franceis funt ben cercer la vile«: Tausend Franken, heißt es im kriegerisch-religiösen altfranzösischen Chanson de Roland, sollen die eroberte Stadt Saragossa gründlich durchsuchen. (Ch.d.R., V. 3661) Karl hat nun endlich seine leidens- und verlustreiche Schlacht gewonnen. Er hat das Tor zu Saragossa, dem Zentrum heidnischen, widergöttlichen Aberglaubens, niederreißen lassen (»abatue«). Die edlen Herren seines Gefolges fordert er auf, nach allen Entbehrungen nunmehr ihren tränenreichen Schmerz an der Stadt zu rächen (»Seignurs, vengez vos doels«). Bramimunde, die Frau des angesichts der Einnahme Saragossas vor Leid gestorbenen Heidenkönigs Marsilie, übergibt dem fränkischen König die Stadt. Nun folgt nicht etwa die Plünderung, sondern, mithilfe von Eisenhämmern und Äxten, die radikale Vernichtung religiöser, heidnischer Artefakte/Symbole wie etwa Statuen, die als verwerfliche Götzenbilder verachtet werden: »A mailz de fer e a cuignees qu’il tindrent,/Fruissent les ymagenes e trestutes les ydeles«. (Ch.d.R., V. 3663-3664) Was den Christen als Zauberei und Aberglaube verhasst ist, soll auf Ewigkeit zerstört sein und bleiben (Ch.d.R., V. 3663f.),67 bevor König Karl ins liebliche und christliche Frankreich zurückkehrt – nicht ohne dass er zuvor
65 Vgl. dazu die Bemerkungen bei Assmann 1999: 298ff. 66 Ibid.: 307f. 67 Das deutsche Rolandslied enthält diesen Aspekt interessanterweise nicht. 40
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»plus de .C. milie« Heiden zum christlichen Glauben bekehrt und damit in eine fundamental andere Lebensform gezwungen hat.68 Der damnatio memoriae verfiel u.a. auch die berühmte Harzburg König Heinrichs IV.69 Nach viermonatiger Belagerung gab die Besatzung der Hasenburg wegen Hungers auf. Der Vertrag von Gerstungen schrieb fest, dass Heinrich seinen Lieblingssitz aufgeben und zerstören sollte. Weil er dies nicht im festgesetzten Umfang erfüllte, zogen die Bauern 1074 ohne Rücksprache mit den Fürsten massenhaft zur Burg. Solange diese noch einigermaßen unversehrt stand, blieb sie weiterhin Sinnbild ihrer Drangsale und die Ursache dafür, dass die einst reichen Dörfer in eine schaurige Einöde verwandelt worden waren: ein Bollwerk seiner Grausamkeit (»crudelitatis suae patroconium«). Sie zerstörten ihre Mauern und Türme (»a fundamento«), verstreuten die Steine weit und breit (»lapides longe lateque dispergunt«). Blieb die Zerstörung der Burganlagen gleichsam noch im Rahmen üblicher, erwartbarer Fehdehandlungen, hatten andere Gewalttaten eine entschieden politisch-symbolische Qualität: die Auslöschung jeder Erinnerung an die Zwingburg. Richtete sich der Zorn der Bauern doch auch gegen die Burgkirche, deren Kleinodien geplündert, deren Altäre zertrümmert wurden. Noch folgenschwerer war, und in der Tat zumindest mit ein Grund für Heinrich, weiterhin gegen die Sachsen zu ziehen, dass sie die Gebeine von Heinrichs Sohn und die seines Bruders ausgruben, und schließlich verschonten sie auch die Heiligenreliquien nicht.
68 Vgl. hierzu das reiche Bildmaterial zur Zerstörung von (heidnischen) Bildern und Statuen in Camille 1991. 69 Um Goslars und Werlas Sicherheit zu gewähren, ließ Heinrich IV. am nördlichen Rand des Harzes die Heim- und die Harzburg errichten, ebenso die Hasenburg, Spatenburg u.a.m. Die Sachsen empfanden sie als bedrückende Zwingburgen, was Lampert von Hersfeld ausdrücklich hervorhebt. Auf den Bewohnern lasteten die Besatzungen der festen Schlösser: »Alles, was sich in den Höfen und auf dem Acker fand, plünderten sie in täglichen Ausfällen, unerträgliche Abgaben und Steuern von Wäldern und Feldern erzwangen sie […]«. (Lamperti Monachi Hersfeldensis, Annales, 175) Zu den Klagen gehört auch, dass die Besatzung der Burgen Frauen vergewaltigten: »Filias […] et uxores consciis et pene aspicientibus maritis violabant. Nonnullas etiam vi in castella sua raptas et, quanto tempore libido suggessisset, impudicissime habitas ad ultmum maritis cum ignominiosa exprobratione remittebant.« Ibid. Die peinigenden und ehreschändenden Bürden, von denen auch Brunos berühmtes Buch vom Sachsenkrieg berichtet, führten 1069 zu ersten schwereren Auseinandersetzungen. Der eigentliche Aufstand zwischen den sächsischen maiores und König Heinrich IV. entzündete sich 1073. Nachdem Heinrich in Fragen des Zehnten kein Entgegenkommen zu zeigen bereit war, kam es zu Angriffen der Sachsen und Thüringer auf die verhassten königlichen Burgen. 41
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Der König nahm furchtbare Rache und verwüstete weiter wie bisher alles ringsum mit Feuer und Schwert (»[…] cum exercitu venit, omnia, ut ceperat, circumquaque ferro et igne depopulans«; Lamperti Monachi Hersfeldensis, Annales, 298).
VI. Andere Perspektiven Das Thema ist erkennbar vielfältig. In mehrerlei Hinsicht stößt es Fragen an: So wäre auf der gleichsam einfachen literalen Ebene nach der textfunktionalen Pragmatik von Städte- bzw. Burgenzerstörungen zu fragen. Welchen Ort in der narrativen Konstruktion und Handlungsführung nehmen sie ein? Sind sie für Handlungsverläufe und deren Logik erkennbar (und notwendig) konstitutiv? Wie weit bestimmen, lenken, prägen sie diese? Welche Motive bzw. Intentionen liegen ihnen zugrunde? Es sind beachtliche Unterschiede festzustellen, die in ihrer Funktion das singuläre kriegerische ›Ereignis‹ der (narrativ mehr oder minder ausführlich inszenierten) Zerstörungen oft beträchtlich überschreiten. In die Überlegungen sind (macht-)politisch motivierte Bewegungen, politisch kalkulierte Positionswechsel, kurzfristig eingegangene taktische Bündnisse usf. einzubeziehen. Mit ihnen die Wahrnehmung massiver, nicht selten endgültiger materieller Destruktionen wie die damit einhergehenden dramatischen, lebenszerstörenden wirtschaftlichen Folgen und oftmals humanitären Katastrophen für die Städte und deren extramuralem Umland. Für eine prägnantere Erschließung gälte es weiterhin militär-, zeitund politisch-verfassungsgeschichtliche, zudem verfassungsrechtliche Hintergründe und Entwicklungen im Blick zu behalten, z.B. hinsichtlich der die alten Machtverhältnisse tiefgreifend und politisch weitreichend umgestaltenden Territorialisierungsprozesse seit dem 12. Jahrhundert oder der im Zusammenhang des Investiturstreits im ganzen Reich ausbrechenden Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen; später der zahllosen militärischen Kämpfe um Herrschaft und Macht zwischen Fürsten und Städten70 (auch zwischen Stadt und Land, in Italien città und 70 Um den Landfrieden gegen das Raubrittertum und die fürstlichen Ambitionen der Territorialbildung sowie die Politik der Städteverpfändung durch die Könige, denen es an finanziellen Einkünften mangelte, zu wahren, bildeten sich in Deutschland (was reichsrechtlich prekär war), mehrere Städtebünde: 1254 (rheinischer), 1376 (schwäbischer), 1381 (rheinischer), 1382 (niedersächsischer). 1388/89 fand der erste Städtekrieg statt, in dem der Schwäbische Städtebund in Döffingen, der Rheinische bei Worms von den 42
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contado), der Fortschritte in der Waffentechnik (Fernwaffen, Einsatz von Schießpulver usf.) und den daraus sich ergebenden Konsequenzen für Kriegsführung und -taktik wie für die aus diesen Erkenntnissen wiederum rasch zu ihrem Vorteil lernenden Befestigungsarchitektur: »well wir dy statt starck unnd vil vester pawen […] das sy von aller welt ist ungewunnen!« (UF, Tk, V. 150, 4 u. V. 7) Sodann gälte es, im Sinne der Mentalitätsgeschichte oder der Psychohistorie subjektive Sicht- bzw. Erleidensweisen zu erschließen, wie sie sich aus den Wahrnehmungen individuell-existentiell vom Unheil der Vernichtungen Betroffener ableiten lassen – sofern die Texte und Quellen solche Einblicke in grausame seelisch-emotionale Befindlichkeiten überhaupt gewähren. Berichten sie doch vornehmlich in konventionellen Formulierungen von vielen Toten und Verwundeten einer Schlacht, um die getrauert wird (»trûren«). Sie erzählen von Siegen, die gefeiert werden. »Dâ was gewunnen und verlorn./etslîche heten vreude erkorn;/sô heten die andern jâmers hort« (WvE, Wi, V. 446, 1-3), wägt Wolfram von Eschenbach lapidar das Verhältnis von Sieg und Niederlage. Über die sachlich-faktischen, die materiellen Dimensionen hinaus wäre auf die von der historischen Städteforschung, wenn auch kontrovers diskutierte Frage einzugehen, was als ›Idee der Stadt‹ (mit ihr verbunden vielschichtige, heterogene ›Wert- und Lebensvorstellungen‹)71 bezeichnet wird. Für das christliche Mittelalter stünde hier selbstredend die machtvolle transzendente Idee bzw. Fiktion des ›Himmlischen Jerusalems‹72 als Idealstadt, das zumindest (auch wenn dies immer wieder beFürsten niedergeschlagen wurde. Die zahlreichen Auseinandersetzungen führten zur massiven »Fürstenangst«, zum »Adelshass« in den spätmittelalterlichen Städten. Vgl. Graf 1989b: 101f. In den Auseinandersetzungen ging es auch um die in spätmittelalterlichen Texten immer wieder diskutierte Geltung bzw. Überlegenheit adeliger bzw. städtischer Lebensformen. Vgl. Schreiner 1997. Schreiner geht auf einige Stellen der Münchner Handschrift Cgm 4930 ein, die dieses Verhältnis thematisieren. So heißt es dort u.a.: »Nu clagt die naturlich herschafft des adels uber die hohen búrger in den stetten, wie daz sie sich untercziehen tringen und abkawffen der fursten herschafft, stet, sloß, lant, leut und gut […] und pawen darein festen und sloz und wellen selbs herschen, richter und edel sein« Fol. 20r, zit. n. Schreiner 1997: 391. Die Bürger wiederum beharren auf einem Verständnis von Adel, »der do kumpt auß tugent, die ein gab ist auß got, von natur in die stet und auß den stetten urspruenglich gewurczelt« Fol. 21r, zit. n. Ibid. Vgl. auch Scheel 1996. 71 Vgl. Schirmacher 1988; Borst 1984. 72 Ich kann hier nicht auf die vielfältigen Positionen der historischen Stadtforschung eingehen. Ähnliche Bedeutung hatte das architektonische Vorbild der Roma quadrata, der »gotische Plan› (Müller 1961) gleichsam als Grundriss für einige (deutsche) Städte (Villingen, Freiburg i.B., Rottweil, Bern u.a.) oder das Kreuz als (vermeintlich!) architektonisches Grund43
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stritten wird) für die sakrale Topographie einiger mittelalterlicher Städte,73 besonders für die zentralen Kirchenbauten wie z.B. Klöster,74 eine bemerkenswerte physiognomieformende Rolle spielte, ebenso die über Jahrhunderte gleichermaßen wirkmächtig gebliebene augustinische Vorstellung von der civitas dei (vs. civitas terrena) oder auch das caput mundi Rom, im Vordergrund, das »durch den Apostel (Petrus) und seine Nachfolger unter die Gewalt Christi gebracht worden« ist und durch die radikale purgatio christiana (wie Augustinus sagt) aus der civitas diaboli in die civitas dei verwandelt, zu ihr geläutert wurde, wie der Mönch Arnold von Emmeram beglückt feststellte.75 Desgleichen müsste auf die ebenfalls über Jahrhunderte hinweg gegenwärtig gebliebene Idee der Stadt bzw. dem ›Staat‹ als lebendigem Körper, als »eynung«, »communitett« (corporatio, coniuratio, communio), eingegangen werden76 (womit eine spezifische, eben eine ›korporative‹, mentalité collectif verbunden war), so im Sinne der Überzeugung des für die Etablierung wie Verbreitung der organologischen Staatsauffassung einflussreichen Bischofs John of Salisbury, es sei die res publica (der Staat, die Stadt) als ein aus lebendigen Gliedern (membra) bestehender vitaler Körper (communitas civium) anzusehen.77 Nach John von Salisbury und anderen Autoren des 12. Jahrhunderts rekurrieren Staatstheo-
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muster der Zähringerstädte (und Bambergs). Wichtige literarische Texte sind z.B. Himmel und Hölle (in: Müllenhoff/Scherer 1964), Hermanns von Sachsenheim Das himmlische Jerusalem u.a. Borst verweist darauf, dass viele Stadtsiegel mittelalterlicher Städte das Himmlische Jerusalem als Prägung zeigen. Borst, Otto: Babel oder Jerusalem? Prolegomena zu einer Geistesgeschichte der Stadt. In: Borst 1984: 15-123; 44ff. Neben anderen Städten wäre in erster Linie Bamberg zu nennen, Kaiser Heinrichs II. Lieblingsstadt, die von dem Chronisten Frutolf im Chronicon universale dezidiert auf eine heilsgeschichtlich bedeutsame Ebene gehoben wurde. Vgl. Schneidmüller 2002. Vgl. Bandmann 1961. Helmut Maurer hat bezüglich Konstanz und dessen reicher Kirchenlandschaft von einer »Roma secunda«, von Rom als städtebaulichem Vorbild, gesprochen. Maurer 1996: 78f. Andere Vorbilder sind Athen; ein negatives Babylon (›Hure Babylon‹). Vgl. Eisele 2006. Vgl. hierzu Johannes von Soest: »Eyn statt ist eyn communitett/In lyeb und frontschafft vest und stett./Da yn men lebt myt eern und nutz/In fryd un tughend schyrm und schutz,/Und dy in yr beslossen hott,/Als das em menschen mag syn nott,/Myt gassen hussern vol besetzt/Eyn solche wort eyn statt geschetzt,/Das wort, merck, statt hot das off ym,/Das eynigkeit myt aller tzym/In eyner statt behafft sol syn.« Zit. n. Heimann 1987: 4. Vgl. Dilcher 1999. Vgl. Sennett 1995; Kerner 1977: 171ff.; Ottmann 2004: 110. Diese Vorstellung begegnet früh in der Fabel des Menenius Agrippa vom Streit des Magens mit den Gliedern, sodann, mit erheblichen Wirkungen auf die politischen Anschauungen des Mittelalters, bei Platon. 44
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retiker wie Marsilius von Padua (Defensor pacis, 1324) und Jean Bodin im 16. Jahrhundert direkt oder indirekt auf sie.78 Ertragreich für das Verständnis von (allgemein gesprochen) Befestigungen und entschiedener noch von Wohnungen sowie von deren Gefährdungen ist das umfangreiche Feld der Allegorien (und Allegoresen) – mithin philologische, interpretatorische, hermeneutische Strategien der Bedeutungsstiftung, wie sie sich aus dem überreichen Bilderfeld Stadt/Burg bzw. bestimmter exponierter baulicher Elemente wie Türme und Mauern, Zinnen und Tore im Kontext der Theorie des mehrfachen Schriftsinns bzw. der Typologie, analog zur Deutung der Kirche als spiritueller Kirche (»Ecclesia aedificum significat ecclesiam spiritualem«), ableiten lassen. Dies verdeutlich sich z.B. in einer eindrucksvollen Passage im St. Trudperter Hohenlied,79 in Hildegards von Bingen Scivias,80 Gerardescas von Pisa Himmelsvision in den Acta Sanctorum,81 im Roman de la Rose oder im (augenfällig erotisch konnotierten) Bildbereich der Minneburg, des maison d’amour bzw. der »Erstürmung der Minneburg« u.a.m.82 78 Bodin 1981: 107 u. passim. Bei Bodin spielt der Gedanke der Gesundheit eine große Rolle: »Ähnlich wie also die gut geführte Familie das wahre Abbild des Staates ist und wie die häusliche Gewalt der souveränen Gewalt ähnelt, ist auch die gerechte Herrschaft im Hause das Vorbild für die Regierung im Staat und nicht anders als der ganze Körper sich der Gesundheit erfreut, wenn jedes Körperteil seine Pflicht tut, wird auch ein Staat sich der Gesundheit erfreuen, wenn die Familien ordentlich geführt sind.« Ibid., H.d.m. Bezeichnend ist die Analogie von Staat und Familie – sie ließe sich leicht in der Beziehung von Stadt und Familie bzw. der Idee des oikos wiederfinden. Nachhaltiger augustinischer Einfluss lässt sich bei Autoren wie Hugo von St. Viktor, Rupert von Deutz, Petrus Lombardus, Bruno von Segni, Honorius Augustodunensis, Otto von Freising u.a. belegen. 79 Dort die oft gedeutete Stelle: »Dîn hals ist alsô Dâvîdes turn, dar ane obene/hangent tûsent schilte unde aller slahte wîcgewaefene,/wande ez ist harte wole werehaft.« (Das St. Trudperter Hohelied, V. 49,6-8) Es folgt eine ausführliche Exegese. 80 Hildegard von Bingen imaginiert eine Burg, in die sie sich in ihrer Vision vor bedrohlichen Angriffen von Drachen, Schlangen, Skorpionen usf. rettet. Von Innen ist die Burg aus starkem Stahl befestigt, den die Pfeile der Feinde nicht durchdringen können. Hildegard von Bingen 1997: 173f. 81 Für Gerardesca ist der Himmel nichts anderes als das Abbild eines oberitalienischen Stadtstaats im 13. Jahrhundert. Sie imaginiert ihn als ein von Schlössern umgebenes Territorium. 82 Allegorische Funktion hat auch das turmartig aufgerichtete Haar der Sünde superbia in Prudentius’ Psychomachia (s. Heinsius 1968: Abb. 29); ebenso der turris sapientiae. Deutliche erotische bzw. sexuelle Konnotationen hat die Liebesbegegnung zwischen Ginover und Gasoein in Heinrichs von dem Türlin Diu Krone, wo die ›Eroberung‹ Ginovers metaphorisch-sprachlich als Eroberung einer Burg gestaltet wird. Dabei werden auch Kriegsmaschinen erwähnt, wie z.B. das »antwerc« (Heinrich von dem Türlin, Die Krone, 45
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Über die hier nur rasch notierten Bemerkungen hinaus ließen sich weitere Impulse darlegen, dem Thema ›Stadt-‹ bzw. ›Burgzerstörung‹ Interesse entgegen zu bringen. Nicht immer sind es ausnahmslos als ›objektiv‹ zu bezeichnende Kräfte und Impulse (politischer, sozialer, ökonomischer Art), die dem Bau wie der Verwüstung von Burgen und Städten vorausliegen. Oft scheinen rein subjektiv-individuelle Antriebe eine außerordentlich bedeutsame, wenn nicht leitende Rolle gespielt zu haben. Selbstverständlich wurden Burgen und Städte z.B. um der Würde, des Glanzes (splendor) des eigenen Namens und Geschlechts, um der familiären êre und der dauerhaften künftigen memoria wegen erbaut. Umgekehrt wurden um der Auslöschung dieser êre, Würde und memoria willen Burgen und Städte vernichtet (»wüst gelegt«). So zerstörte Kaiser Friedrich I. die lombardische Hauptstadt Mailand, worüber mehrere Quellen reichhaltig Auskunft geben, weil er sich in seiner (persönlichen) Ehre – und als Kaiser im honor imperii – tief gekränkt fühlte.83 Aus demselben Grund ruinierte er auch Alessandria. Im Alexanderlied Lamprechts werden Tyrus und Theben vom »wunderlîchen man« Alexander aus schierer superbia (im Text: »hôhmût«) in Schutt und Asche gelegt. Allein aus Gründen der Pietät bleiben in Theben Pindars Wohnhaus und die Tempel der Stadt verschont.
VII. Die Opfer Es wurde oben schon angedeutet, dass die Berichte und Schilderungen von Eroberungen und Zerstörungen so gut wie nie eine prägnante Perspektive subjektiven Erlebens und vor allem Erleidens von massiver physischer, militärischer Gewalt mit einbeziehen, d.h. eine der Wahrnehmung (und womöglich Darstellung, Wertung) der von ihr Betroffenen.84 V. 11683ff.; 11719ff. u. passim). Auch der Roman de la Rose entwirft männliches Verlangen in Bildern des Belagerns und Eroberns einer Burg. 83 Vgl. Görich 2001. 84 Eine Ausnahme ist z.B. der Prosalancelot. Der besiegte König Ban steigt auf eine Anhöhe und blickt auf seine zerstörte Burg: »der tag begunde sere zu lúchten, so sah er die mure wiß blicken und den hohen thurn und das lant allumb. Da er ein kleyn wil dar gesah, da sah er ein starcken rauch in der burg off geen, und in eyner kurczen wil sah er die flammen allenthalben usß schlahen, und uber ein cleyn wil sah er die großen säle darnyder fallen und die kirchen und alles das groß gestifft und sah die flammen freischlich gein hymel schlagen, das der lufft und die wolcken rot wurden als ein flamme und das lant allumb erlucht von dem fure. Der konig Ban sah syn burg brinnen, die er lieb hett fur alle syn burgk, wann die burg was syn trost, das 46
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Die Leiden der Opfer, auf beiden Seiten, werden zwar durchaus, und dies oft mit großer Emphase, registriert und wortreich beklagt. Sie bleiben aber eher von außen betrachtete, distanziert beobachtete Geschehnisse, die primär aus der Fernsicht des Erzählers bzw. Chronisten in den Blick gelangen.85 Oft scheint es geradezu, dass zwischen der Zerstörung von Mauern, Türmen und Toren usf. und der Tötung von Menschen, jedenfalls von Kriegern, kein erheblicher Unterschied gemacht wird: »manec ellenthafter degn/was an der wer dô tôt gelegn« (RvE, Al, V. 3497f.) heißt es beinahe formelhaft – fast so, als wären die Verteidiger nurmehr ein (wenn auch humanes) Element der Verteidigung und Wehr.86 Viele Texte, darunter vornehmlich historische Quellen, gewähren gleichwohl eindrucksvolle Einblicke in die unvorstellbare Grausamkeit, unter der die Belagerten zu leiden hatten und mit der die Sieger sie traktierten. Reichhaltiges Material bieten hier etwa die Quellen zu Kaiser Friedrich II., die über die Belagerungen und Zerstörungen mehrerer italienischer Kommunen (Mailand, Brescia, Faenza, Viterbo, Parma, Albano usf., was in einigen Quellen den Vergleich Friedrichs mit Nero oder Diokletian provozierte) Auskunft geben – wobei jeweils einbedacht werden muss, welcher Seite die Chronisten politisch zuneigten. Zwar wurde den Gefangenen einer Stadt/Burg häufig Schonung und Milde (clementia) zuteil. Diese musste allerdings mit meist schweren Demütigungen in einer deditio erfleht werden.87 Immer wieder aber berichten die Materialien auch von er alles syn lant da mit solt erkobern; und er sah das sie verlorn was die syn trost was. Da enkund er nit gedencken was yn möcht getrösten, wann er wust sich selben alt und zurbrochen […]« (Lancelot und Ginover, 39f.). König Ban stirbt an gebrochenem Herz. Später wird eine Äbtissin seiner Frau berichten, er sei gestorben, »wann sin gute burg Trebe verbrant ist« (LuG, 48). 85 In der Chronik des Matthäus von Paris heißt es über die belagerten Aachener: »Es wurde ihnen […] allenthalben Eingang und Ausgang, jegliche Hilfe und jeder Rat sowie das Einsammeln von Lebensmitteln verwehrt. Da es an Weizen fehlte, hatten sie nur gehaltloses und verschimmeltes Brot, das Fleisch war ranzig […] und ihre Kleidung zerschlissen. Die Schönheit der Frauen war dahingeschwunden […].« (CMvP, 157) 86 Lakonisch diesbezüglich Curtius Rufus: »Und die Hand der Makedonen wurde nicht müde, das Eisen mit Blut zu beflecken, und hilflos kamen die verblendeten Thebaner durch Alexander um.« (Curtius Rufus, Alexandergeschichte, 397 u.ö.) 87 Petrus de Vinea beschreibt knapp die Demütigung des Mailänder Podestà nach der Niederlage Mailands: Der Kaiser ließ die Fahnenstange des Fahnenwagens (carroccio) der Mailänder, ein bedeutendes Symbol der Zusammengehörigkeit, dessen Verlust gleichsam Zeichen der Niederlage war, »schimpflich bis zum Erdboden« herabbiegen. Der Podestà wurde »schmachvoll darangebunden, und unter lautem Beifall der herumstehenden Menge wurde der Wagen von einem Elefanten […] zu Lob und Ruhm des Kaisers durch Cremona gezogen.« Eickels/Brüsch 2000: 340. Zur Behand47
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exzessiven Torturen: »Und so wurde […] die Burg selbst mit allen Genannten eingenommen […], und alle wurden, bevor sie vor den Herrn geführt wurden […] geblendet, sowie allesamt an Hand, Nase und Bein verstümmelt.«88 Die mittelalterliche Literatur schildert, mit wenigen Ausnahmen, die dann auch meist das Kampfgeschehen selbst betreffen, solche grausamen Misshandlungen von Gefangenen kaum.
lung der Mailänder durch Friedrich I. vgl. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris, lib. III,48: »Talibus pacis condicionibus utrimque receptis, Mediolanum in gratiam reditura hoc ordine talique specie, fide publica accepta, cum suis ad curiam venit. Inprimis clerus omnis et quique fuerant aecclesiastici ordinis ministri cum archiepiscopo suo, prelatis crucibus, nudis pedibus, humili habitu; deinde consules et maiores civitatis, item abiecta veste, pedibus nudis, exertos super cervices gladios ferentes. Erat autem ingens spectaculum, validissima constipatio multorumque, qui mitioris ingenii erant, commiseratio, cum viderent paulo ante superbos et de factis impiis arrogantes ita nunc humiles esse ac tremere, ut miseranda esset, quamquam in hoste, tanta mutatio.« Vgl. Görich 2001: 230. Burchard von Ursberg berichtet, die Konsuln hätten sich vor Kaiser Friedrich mit ausgestrecktem Körper und barfuß zu Boden geworfen (Prostration). Dieser Hinweis ist aber singulär. Die Wiederherstellung des honor imperii wurde durch die Zerstörung der Stadtmauer und Friedrichs Einzug in die Stadt vollzogen. Zur deditio, der rituell vollzogenen Demütigung bzw. Unterwerfung vgl. Althoff 2003: 68ff. u.ö. Die Situation im belagerten Mailand war hoffnungslos: »Die Bürger aber, die ihren Fuß gegen Gott erhoben, wurden wie ein schlaffer Bogen« (Ps. 78,37), und, gleichsam hoffnungslos und an Gott zweifelnd, hängten sie in den Kirchen den Gekreuzigten an den Füßen auf und aßen Fleisch am Freitag und in der Fastenzeit, und viele in Italien versanken in denselben Abgrund der Verzweiflung, fluchten und lästerten und erfüllten ohne jede Scheu die Kirchen mit Schmutz, der gar nicht zu nennen ist; vor allem die Altäre besudelten sie und vertrieben die Geistlichen. Es brach also Angst und Schrecken ein in die Städte Italiens (CMvP, 61). Über Faenza heißt es: Manche Bürger Faenzas glaubten, beim Kaiser »Erbarmen zu finden und näherten sich ihm mit aufgelösten und zerrauften Haaren; und die Frauen, die ihr Geschlecht zarter und bemitleidenswerter machte, warfen sich unter erbärmlichem Geschrei vor seinem Lager zu Boden und baten, die kaiserliche Barmherzigkeit möge ihre Männer schonen. Als dies der Kaiser hörte, aber nicht erhörte, sprach er in großem Unwillen: ›Sie sollen zu ihren Männern und Herren gehen, die Ich vor Gott und den Menschen der Majestätsbeleidigung anklage! Da sie sich einst Meiner nicht erbarmt haben, wäre es ungerecht, wenn sie jetzt Erbarmen fänden.‹« (CMvP, 86). 88 Magister Walter von Ocra in einem Brief an Heinrich III. (CMvP, 141). Es handelt sich dabei teilweise, wie bei der Verstümmelung der Nase, um Ehrenstrafen. Vgl. dazu Groebner 1995. Historische Quellen wie die Annales Fuldenses berichten vielfach von Kastrationen als Mittel der Kriegsführung. Vgl. Tuchel 1998: 94ff. 48
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Vorläufiges Fazit Mittelalterlichem politischem Denken, Wahrnehmen, Handeln und Verständnis galten Städte entschieden mehr als lediglich effektive (gleichsam rein rationale, mechanisch-technische) Einrichtungen mit primär praktischen Funktionen für die Regelung und den Ablauf von Handel, Wirtschaft, Versorgung, Schutz usw. Sofern die Gründung, die Geburt einer Stadt, um bewusst einen Begriff aus anthropomorphen Bilderwelten im Sinne der gerade im politischen Bereich prominenten Organismusvorstellungen zu wählen, wie sie sich literarisch z.B. in den admiratio Romae-Gedichten89 finden, im Kontext einer gleichsam naturanalogen creatio berichtet wird, lassen sich Tod und Niedergang, lässt sich die Zerstörung einer Stadt sehr wohl als das Sterben bzw. den Verfall eines vitalen Leibs bzw. Lebens imaginieren und beschreiben, wie dies oft geschehen ist.90 Die Zerstörung von Städten bzw. Burgen ist daher auf einen bloß faktisch-materiellen, etwa ökonomischen Sinn begrenzt kaum zu verstehen, wenn auch die materiell-dinglichen Schädigungen durch Kriege die mit am unmittelbarsten spürbaren Entbehrungen sind, greifen sie doch direkt in die verlässliche Ordnung der Lebensverhältnisse ein. Immer schließt Zerstörung, eindeutiger die Verwüstung, auch die Destruktion symbolischer Ordnungen und die von einer sozial verfassten Gemeinschaft im oben skizzierten Verständnis (corporatio) historisch-kulturell geteilten Sinnbezüge, die die Bürger mit ihrer Stadt verbinden und ihr Bild, ihre Vorstellung von ihr bestimmen, mit ein, d.h. die Annihilierung kultureller, zivilisatorischer, kommunikativer, nicht zum geringsten kultisch-religiöser Werte.91 89 So in Melinnos Rom-Ode, in der durchgängig anthropomorphe Züge deutlich werden: »Tochter des Ares«, »Herrin«, »Du nur gebierst […] hochgemute Männer und große Kämpfer«. Rehm 1960: 20f.; vgl. Classen 1980. 90 Zu Rom Hildebert von Lavardin bei Rehm 1980: 43ff., v.a. 54ff., etwa 56: Ausdrücke des Fallens, Stürzens, Schwindens. In anderen Texten, z.B. einer Elegie des Michael Akominatos, ist von Rom als »Mutter« der Weisheit die Rede. In der Renaissance bezeichnet Petrarca Rom als »Witwe«. Metaphorische Bezüge zum Weiblichen herrschen vor. In diesem Zusammenhang muss an die mittelalterliche Vorstellung von den »lebenden Steinen« (lapides vivi) erinnert werden, die v.a. im Zusammenhang mit Kirchenbauten eine große Rolle spielte. 91 Eine wichtige Dimension erschließt Michel Butor für die Stadt als eines Text-Archivs (Butor 2000); vgl auch Ricœur 2000: 181ff. Roland Barthes hat den (westlichen) städtischen Strukturen, zumal den Zentren, eine geradezu metaphysische Dimension zugesprochen: »In Übereinstimmung mit der Grundströmung westlicher Metaphysik, für die das Zentrum der Ort der Wahrheit ist, sind […] die Zentren unserer Städte durch Fülle gekennzeichnet. An diesem ausgezeichneten Ort sammeln und verdichten sich sämtliche 49
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DIE ZERSTÖRUNG UND DER WIEDERAUFBAU TROJAS IN KONRADS VON WÜRZBURG »TROJANERKRIEG« SIMONE FINKELE Die Zerstörung des antiken Troja ist seit dem Beginn des Erzählens über sie bis heute als Stoff in unterschiedlichsten medialen Fassungen überliefert. Dazu gehören zum einen die, wie man annimmt, ursprünglich mündlichen Berichte und Gesänge, die durch ihren performativen Charakter und die orale Tradition Mal für Mal im Akt der Aufführung einmalig und somit unwiederbringlich sind. Zum anderen fallen darunter literarische und filmische Narrationen wie der jüngste Hollywoodfilm zum Thema (Troy, 2004, Regie: Wolfgang Petersen), die massenhaft und an jedem beliebigen Ort gleich rezipierbar sind. In einer Zwischenposition befindet sich der Homer zugeschriebene Text, der, vermutlich auf mündlichen Traditionen fußend, über viele Jahrhunderte erhalten geblieben ist, im Mittelalter unbekannt war und heute in zahlreichen Übersetzungen und Ausgaben erhältlich ist. Mit dem Beginn der schriftlichen Fixierung der Texte zur Zerstörung Trojas und damit deren physischer Konkretisierung erhöht sich schließlich auch die Anzahl der möglichen Fassungen und Bearbeitungen des Erzählstoffs: Während des Mittelalters wird der Stoff um die Geschichte der Stadt Troja und ihrer Vernichtung sowohl in historiographisch und literarisch unterschiedlichen Fassungen als auch in unterschiedlichen medialen Kontexten performativ variabel (re)präsentiert. Der Trojastoff gehört zu den in großer Zahl episch behandelten antiken Stoffen des hohen Mittelalters. So existieren neben Konrads von Würzburg Trojanerkrieg das wohl zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Auftrag Hermanns von Thüringen durch Herbort von Fritslâr als Pendant zu Heinrichs von Veldeke Eneit verfasste Liet von Troye, das als die älteste überlieferte Trojadichtung in deutscher Sprache gilt,1 und der eher parodistisch anmutende Göttweiger Trojanerkrieg. Alle stehen sie in Verbindung mit einer französischsprachigen literarischen Quelle, Benoîts de Sainte-Maure Roman de Troie.
1 Vgl. Steinhoff 1981. 57
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Konrads von Würzburg Trojanerkrieg ist die mit mehr als vierzigtausend Versen umfangreichste, gleichwohl unvollendetes Fragment gebliebene, deutschsprachige Bearbeitung des Stoffkreises in der Nachfolge von Benoîts Text. Konrad verfasste sie in den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts im Auftrag des Basler Domkantors Dietrich an dem Orte (»de Fine«; vgl. Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg, V. 245-247). Mit vielen der übrigen Werke des Verfassers teilt das Werk – im Unterschied beispielsweise zu Benoîts, Heinrichs von Veldeke oder Herborts Text – demnach die unmittelbare Zielgruppe eines nicht mehr höfischen, sondern städtischen Publikums,2 eine in ihrer sozialen Zusammensetzung eher heterogene, wenngleich in ihrem eigenen Verständnis elitäre, (wirtschafts-)mächtige urbane Oberschicht, die die exklusiven kulturellen Gewohnheiten des Adels übernahm.3 Eine im Kontext des eigenen Lebensraums veränderte Geo- und Topographie der rezipierten literarischen Inhalte in den Lebensraum Stadt ist den Werken dennoch nicht ablesbar. So scheint auch die neuerliche Bearbeitung des Trojastoffes weiterhin den aus der höfischen Kultur übernommenen vorgeprägten Vorstellungen der Ereignisse der Antike und der hochmittelalterlichen Höfisierung zu entsprechen sowie in starkem Maße variable narrative Versatzstücke der höfischen Literatur einzusetzen. Die beibehaltene Ausklammerung realer Bezüge entspricht der Übernahme der höfischen Kunstwerke. Die Frage der historischen und literarischen Sub- und Prätexte sowie die Stoff- und Quellengeschichte der mittelalterlichen Werke über den Trojanischen Krieg ist hinreichend für Konrads Text, auch für die einzelnen Handlungspartien analysiert,4 verwiesen sei lediglich auf die mittelalterliche Unkenntnis des homerischen Textes selbst, zu dem daher keine direkte Verbindung besteht, dessen Inhalt aber mit der breiten allgemeinen Überlieferung des Stoffkreises kolportiert wird. In welcher medialen Praxis und ob überhaupt Konrads Text zeitgenössisch rezipiert wurde, frei vorgetragen, vorgelesen oder gelesen, entzieht sich unserer Kenntnis, auch wenn der Text häufige Höreradressen aufweist, die eine Vortragsabsicht nahe legen. Für einen Übergang vom relativ freien epischen Vortrag mit eventuell späterer schriftlicher Fixierung hin zu einer zumindest dem mündlichen Vortrag vorausgehenden schriftlichen Ausarbeitung beziehungsweise zur Präferenz des geschriebenen Textes vor dem mündlichen, (halb)öffentlichen Vortrag sprechen die im eigenen Prolog dargelegten Bearbeitungsgrundsätze sowie die vielschichtige mehrsträngige Handlung, der die spezifische, vielfach auf 2
Zur Frage von Auftraggebern und Publikum für Konrad von Würzburgs Texte in Basel vgl. Peters 1983, insbesondere 114-137. 3 Vgl. Ibid.: 127, dagegen Bumke 2002: 676. 4 Vgl. zuletzt Lienert 2001, insbesondere 121-122 u. 126-128. 58
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stilisierten Publikumskontakt abzielende Präsentation auch im Detail bereits Rechnung trägt. Die Überlieferungssituation lässt keine eindeutigen Schlüsse zu, ein Teil der fragmentarischen Textzeugen datiert noch aus dem 13. Jahrhundert, bebilderte Handschriften sind allerdings jünger, so dass davon auszugehen ist, dass die Abbildung der textuellen Darstellung folgt und hierfür im einzelnen die Text-Bild-Kombinationen und deren Rezeption zu prüfen wären. Überliefert wird die fragmentarische Dichtung in sechs vollständigen und neun fragmentarischen Textzeugen, die älteste vollständige Überlieferung stammt aus dem 14. Jahrhundert; die vollständigen Handschriften dokumentieren die anonyme, recht zeitnahe Fortsetzung von etwas weniger als zehntausend Versen ebenfalls.5
Repräsentierende Möglichkeiten des Textes für Destruktion Hier soll in einem in erster Linie deskriptiven Verfahren nachgezeichnet werden, über welche narrativen Mittel Konrads Kunstwerk für die Darstellung des Aktes der Zerstörung der Stadt Troja und des Zustandes der Zerstörung verfügt, auf welche Weise die materielle Destruktion des Herrschafts-, Repräsentations- und Wohnraumes sowie -zentrums der Troer in der kriegerischen Auseinandersetzung mit den griechischen Heeren textuell vollzogen wird. Vor allem weil die entsprechenden Textteile in ihrer Erzählhaltung mit der großen erzählerischen Distanz der übrigen Teile des Werks zu korrespondieren scheinen, wird die Analyse von Aspekten der inszenierenden Darstellung der ersten militärischen Destruktion, des Umgangs mit der Zerstörung und der ersten Rekonstruktion der mächtigen Stadt durch Konrads Text in den Blick gerückt. Dabei wird zunächst den Inhalts- und Handlungslinien gefolgt, die auf die Zerstörung der Stadt und ihren Wiederaufbau hinführen, bevor die Präsentation der eigentlichen Destruktion analysiert wird. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Passage des Wiederaufbaus, der Errichtung eines repräsentativen Architekturensembles, findet eine Engführung mit den theoretischen Postulaten des Prologs des Trojanerkriegs statt, um zu zeigen, wie der Text das Experiment durchführt, in der Performanz der einzelnen Teile die selbstgestellten Prämissen sukzessive einzulösen. Dies wird auch bedingt durch die narrative Strategie sowie die text- und handlungsreferentiellen Aussagen, welche gerade hier expliziert werden und sich in Abfolge, Ausführung und Inszenierung der Handlungsmodule wiederfinden lassen.
5 Vgl. Bumke 1990: 254; Brunner 1985: Sp. 297. 59
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Als publikumswirksame Erzählstrategien und Inszenierungspraktiken können neben der inhaltlichen Auswahl – zum Beispiel Präferenz der Darstellung militärischer Angriffs- und Eroberungsstrategien vor der Darstellung von Ruinen – beispielsweise die mehrfache Präsentation des Berichteten sowie die partielle oder vollständige Wiederholung aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Erzählformen, narrative Formen von Epideixis, Enkomion und Ekphrasis, Autorenkommentare oder selbstreferentielle Aussagen und Anwendungen des Textes etc. gesehen werden. Hinzu kommen Charakteristika mittelalterlichen Erzählens wie die Eigenart, dass kaum im Voraus oder gar für sich stehend etwas lediglich beschrieben wird, sondern handlungsfunktional präsentiert wird, um, wenn nicht mehr nötig, auch wieder außer acht gelassen zu werden – wie eben Troja, obwohl häufig Schauplatz, erst im Angriffs- beziehungsweise Verteidigungsfall exaktere Konturen als Stadtburg oder Feste erhält, dann aber doch lediglich ein Bild für eine Anlage bleibt. Thematische Betrachtungsschwerpunkte, Kriterien, auf die die Destruktion hin untersucht wird, können neben der hier im Vordergrund des Untersuchungsinteresses stehenden materiellen Zerstörung des repräsentativen und kollektiven Lebens-, Kultur und Herrschaftsraums die Impulse zur Auseinandersetzung, die Planung und Strategie der Zerstörung, die Gewaltausübung auf die Bewohner, die Vernichtung sozialer Ehre und Ansehens, aber auch der Umgang mit der Niederlage sein. Mit der Ausgestaltung des Trojastoffes liegt der Versuch einer Neufassung bereits mehrfach vermittelter literarischer Vorstellungen vor. Die Abbildungstechnik für die militärische Auseinandersetzung und Zerstörung sowie insbesondere den späteren Wiederaufbau kann demzufolge fast nur eine nahezu rein literarische, überlieferte, nicht aus der Realität schöpfende sein, die auch in anderen Stoff- und Überlieferungszusammenhängen bekannte Bilder oder sogar Versatzstücke, bis hin zu in Text transponierte Preziosen, kolportiert, ohne dass darunter die reine Montage von literarischem Quellenmaterial und Versatzstücken zu verstehen ist. Eine anschließende Formulierung des Untersuchungsgegenstandes als Quellen- oder Überlieferungsfrage scheint, wenn nicht mit ausführlichen Quellendarstellungen bereits beantwortet, so doch nur sinnvoll, wenn sie mit einer Untersuchung der performativen Strategien des jeweiligen Einzeltextes beziehungsweise Textteiles kombiniert wird. In den Bereich der Toposforschung und Motivgeschichte zur Darstellung von Städten könnte die Untersuchung der textuellen Bilder zerstörter Städte mit besonderem Augenmerk als Gegensatz zu Schilderungen der intakten Zustände integriert werden.
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Die narrativen Praktiken einer immer weiter vorangetriebenen Ausdifferenzierung, Ästhetisierung und Stilisierung des Erzähltextes, wie er an dieser Stelle nachgezeichnet wird, scheinen kaum noch eine Verbindung zu Realismen im Sinne von Abbildungs- oder Vergleichsfunktionen zu gestatten, wie sie überhaupt Kontextualisierungsversuche erschweren. Um auf diesem Feld literarischer Mikrogeschichte erfolgreich zu sein, müsste ein Werk wie der Trojanerkrieg sowohl aus spezifischer stadtgeschichtlicher Sicht, z.B. der eines konkreten Basel, zu einer bestimmten Zeit, und gleichzeitig innerhalb gruppenspezifischer sowie individueller Produktions- und Rezeptionsdiskurse aus metatextueller Perspektive betrachtet werden, ohne dabei jedoch die gesamte Tradition der Bearbeitungen der Antikenstoffe zu vernachlässigen.
Die Zerstörung der Stadt als erzählte Handlung Der historische Prätext und die historiographischen und literarischen Quellen vermitteln die zweimalige Zerstörung Trojas beziehungsweise geben diese vor. Konrads von Würzburg Text enthält, dem Fragmentcharakter geschuldet, lediglich die Geschichte der ersten Zerstörung, auf die die Erzählung des Wiederaufbaus der Stadt durch die Troer selbst folgt, während dagegen vom endgültigen Sieg der Griechen und der Vernichtung der Stadt nicht mehr erzählt werden kann. Selbstverständlich ist weder die intakte noch die zerstörte Stadt dem mittelalterlichen Verfasser je vor Augen gekommen, ein Faktum, das sich mit den Ausgrabungen in Hissarlik seit dem 19. Jahrhundert für spätere Darstellungen geändert haben kann. Die Zerstörung der Stadt ist im Werk Konrads, wo nicht gerade Schauplatz, so doch Bezugs- und Fluchtpunkt in der – die Vollständigkeit des Werkes vorausgesetzt – noch zu erzählenden Zukunft in mehrfacher Hinsicht, im Gegensatz zu beispielsweise Heinrichs von Veldeke Eneit (1170/74 bis 1183/vor 1190) – um nur ein weiteres, wenn auch deutlich älteres Werk der Antikenmaterie zu nennen. Dort, im Eneasroman, gibt die zerstörte, ehemals politisch mächtige Stadt Troja den geographischen sowie inhaltlichen Ausgangs- und Bezugspunkt der Folgehandlung.6 Die materielle Vernichtung Trojas wird bei Heinrich von Veldeke zwar nicht ausführlich, aber doch deutlich benannt. Schon in den Eingangsversen wird Menelaus’ Wille zur Zerstörung der Stadt beschrie6 Allerdings sieht die Forschung eher das Bild von Karthago bei Heinrich von Veldeke als Grundlage und Urbild der Trojadarstellung bei Konrad von Würzburg u.a. Vgl. beispielsweise Kugler 1986: 132. 61
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ben: Von »zefûren« ist die Rede, (Heinrich von Veldeke, Eneasroman, V. 5 u.ö.), »die Criechen […] brâchen Troien dernider« (HvV, E, V. 2832), das Einreißen auch einzelner Teile der »borch« wird gezeigt, weiter wird geschildert, dass »Menelaus […] Troien zebrach« (HvV, E, V. 21 u.ö.). Schließlich wird der fliehende Eneas Augenzeuge, wie die Stadt in Flammen aufgeht: »dô gesach Ênêas/die borch brinnen balde« (HvV, E, V. 32 u. 33). Die menschlichen Verluste nehmen keinen breiteren Raum ein als die Zerstörung, jedoch erhält auch das »rûmen«, das Aufgeben, Räumen, Verlassen des Platzes durch die Fliehenden ein gewisses Augenmerk (HvV, E, V. 41 u.ö.). Hier, im Trojanerkrieg, finden sich zunächst sowohl inhaltliche als auch narrative Verweise und Beziehungen sowie topographische Anknüpfungspunkte Troja betreffend. Auf der Inhaltsebene sowie parallel auf der Ebene der Erzählstruktur begründen Verweisungen wie Traum und Weissagung komplexe Erzählstränge und führen in die Handlung mit dem fernen Zielpunkt der Vernichtung der Stadt. Zuweilen treten sie hinter weiteren Handlungssegmenten zurück und werden an deutlich späterer Stelle wieder aufgegriffen oder werden aber mit diesen Segmenten verschränkt und verwoben. Sie setzen bereits unmittelbar im Anschluss an den Prolog nach der Lokalisierung der Handlung in Troja mit dem Traum der mit Paris schwangeren Hekuba ein. Innerhalb des inszenatorischen Mittels des Traums wird eine aus Hekuba wachsende Fackel gezeigt, die Troja in Brand setzt und durch die die Stadt und das dazugehörende Herrschaftsgebiet vollständig vernichtet werden.7 Die Zerstörung impliziert den zuvor intakten, gebauten Zustand: und dô si swanger worden was, dô viel ûf si der sorgen soum, wande ir kom ein leider troum in ir slâfe nahtes für. daz schœne wîp von hôher kür bescheidenlîche dûhte, daz von ir herzen lûhte ein vackel, des geloubent mir, diu gewahsen wære ûz ir und alsô vaste wære enzunt, daz si Troye unz an den grunt mit ir fiure brande, noch in des rîches lande liez eine stütze niht bestân. (KvW, Tk, V. 350-364)
7 Vgl. Lienert 1996: 34. 62
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Hierauf folgen die Überlegungen des Königs Priamus, der ahnt, dass sein ungeborener Sohn die Fackel ist, die die Stadt Troja entzünden wird (vgl. KvW, Tk, V. 420-425) – Paris soll daher ums Leben gebracht werden. Somit kann ein Spannungsverhältnis zwischen der durch seinen Vater geplanten und veranlassten Beseitigung und der lediglichen Entfernung des künftigen Unheilbringers vom Hof in den Kontrastraum Wildnis entstehen. Komplexe Handlungsstränge beschäftigen sich mit dessen Überleben in der Waldeinsamkeit und seiner so umstrittenen wie tragischen Rückkehr an den trojanischen Hof, nach der Priamus wieder von Vorahnungen heimgesucht wird (vgl. KvW, Tk, V. 5306-5309 u.ö.). Dies alles antizipiert ebenfalls die Gefahr für die Stadt und hält neben den inhaltlichen Details und deren narrativer Umsetzung stets, auch wenn sie in den Hintergrund treten, die Großstrukturen der Handlung bereit. Der Auftritt der allegorischen Discordia bei der Hochzeit der Göttin Thetis, der zukünftigen Mutter des Achill, ist zu den Verweisungen zu rechnen. Auf ihn folgt der Streit der Göttinnen und das Urteil des Paris, vor dessen Fällung in Konrads Text die Helenahandlung initiiert wird. Sie bildet den eigentlichen Ausgangspunkt der vollständigen Vernichtung der Stadt: Vênus geschuof und ir geheiz daz wunder an im tougen, daz er muost âne lougen nâch hôher minne siechen. daz Helenâ von Kriechen geheizen im ze lône was, des nam er an sich unde las den willen und die sinne, daz er gestuont der minne alsam ir eigenlicher kneht. (KvW, Tk, V. 2740-2749)
Weiter zählen zu den verweisenden Markierungen beispielsweise die Prophezeiungen des enigmatischen, seine Gestalt wandelnden Wahrsagers Proteus, die den Sohn der Thetis und des Peleus, den Helden Achill betreffen, der als vorzüglicher Ritter vor Troja zu Tode kommen wird (vgl. KvW, Tk, V. 4626ff.). Dadurch wird eine Duplizierung der Handlung, eine Ausdehnung auf zunächst mindestens einen zweiten Protagonisten erreicht. Dies hat einen ausführlichen Erzähl- und Handlungsstrang um Thetis und ihren Sohn Achill zur Folge. Die strukturelle Anlage des Werks, beobachtet vom Fluchtpunkt des Endes, ist bereits an dieser Stelle sehr komplex. Jedoch weder die Achill- noch die Parishandlung mündet in den ersten Akt der Zerstörung der Stadt. Somit hal-
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ten beide begonnenen Erzählstränge den Bogen zu mindestens einer weiteren, noch zu erwartenden Auseinandersetzung offen. In einer Episode aus der Fahrt der Argonauten, die einen weiteren Zweig der Handlung ausmacht, liegt schließlich der Beginn der ersten Zerstörung. Weil die Argonauten durch König Lamedon übellaunig ohne die – eigentlich geschuldete – Gewährung von Gastfreundschaft aus Troja ausgewiesen werden (vgl. KvW, Tk, V. 6908ff.) und ihre Anführer, Hercules und Jason, diese Beleidigung nicht vergessen können, ist ein direkter, unmittelbarer Anlass zur Rache vorhanden. Der Argonautenpart endet mit dem Tod des Jason nach einer ausführlichen Episode um Medea und Jason. Damit geht das Racheversprechen des Jason für die Ausweisung aus Troja allein auf den nach dem Tod seines Freundes zornigen Hercules über (vgl. KvW, Tk, V. 11398-11403 u.ö.), die Motivierung bleibt erhalten. Er ruft die Ausweisung aus Troja in Erinnerung (z.B. wieder, als er sich schwört, Lamedon für die erlittene Schmach zu töten, vgl. KvW, Tk, V. 12626ff.), die im Folgenden die erste Eroberung und Zerstörung Trojas durch die griechischen Heere unmittelbar motiviert. Dies geschieht, im Unterschied zu den zuvor genannten Vorausdeutungen an markanten Stellen, die beim ersten Sturm auf Troja noch nicht eingelöst werden. Die nun auf unmittelbare Rache fokussierte Handlung wird verdichtet mit der Wiederholung des Wunsches nach Vergeltung und den Kampfesvorbereitungen durch Hercules, seiner Suche nach Bundesgenossen, die bei den Zwillingen Kastor und Pollux im Land der Parter beginnt, einem ›Helferkatalog‹, der Ausarbeitung einer Strategie, der Verkündigung der Strategie sowie den Plan zur Plünderung, der aus äußerer Perspektive Einblick in den Reichtum Trojas gewährt (KvW, Tk, V. 11696-11714) – allesamt mit großer Kunstfertigkeit und unter dem Einsatz erzähltechnischer Finessen dargeboten wie zum Beispiel variatio in der Schilderung von List, Einzelkampf und Massenkampf, Tod und Trauer, sowie Raffung und Dehnung, Retardierung und Akzeleration, Figurenrede, wie zum Beispiel Telamons Appell an die griechischen Heere mit dem ausführlichen Hinweis auf die Tatsache, dass die Troer ihr Vaterland verteidigen (KvW, Tk, V. 11670-11691), etc. Alles dies entfaltet sich zwar sehr artifiziell, aber manches erscheint nicht wesentlich anders als beispielsweise bei Kampfesschilderungen in Epen mit Themen aus anderen Stoffkreisen. Die textuelle Ausführung des Angriffs entspricht in der Kunstfertigkeit der vorausgehenden Planung, wiederholt, aber variiert diese gleichzeitig zum Beispiel in der Darbietung des Vorrückens gegen Troja, innerhalb derer auch die Qualität der Stadt – von außen – erwähnt wird (KvW, Tk, V. 11594-11599) und der unmittelbaren Bewegung auf die Stadt zu (KvW, Tk, V. 11755-11849), nachdem zuvor der Text die
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Bewegung des griechischen Heeres durch die Eroberung und Brandschatzung des Umlandes, der Dörfer (KvW, Tk, V. 11783) auf die Stadt als eigentlichem Macht- und Herrschaftsinneren als Bewegung vom äußeren Rand durch Besitz- und Herrschaftsraum in dessen Zentrum hinein vorgeführt hat. Nicht nur an dieser Stelle wird eine ausgeprägte Tendenz zu ausführlichen Wiederholungen augenfällig, die allerdings in den seltensten Fällen identische Textpartien herstellt, sondern vielmehr Multiperspektivität und eine gewisse Nachhaltigkeit erreicht. Das repetierende Prinzip scheint Überrest mündlichen Erzählens insofern zu sein, dass die wiederholten Teile wie modifizierte Markierungen einer Memorialfunktion wirken, die zu größeren Textpartien ausdifferenziert wurden. Die Einnahme der Stadt selbst ist somit eingebettet in ein vielschichtiges erzähltechnisches Eroberungskonzept, das auch noch die Episode des Todes des Königs im Einzelkampf sowie das Eingeschlossensein der Bürger (KvW, Tk, V. 12886ff.) bietet. Die Darstellung von Dreidimensionalität, von Räumlichkeit der Festung wird dabei erreicht durch mehrfachen Perspektivwechsel zwischen Innen und Außen, aber auch von markantem Punkt zu Punkt innerhalb der Stadt, von Turm zu Tor zu Haus usw. Dies wird unterstrichen durch die häufige Verwendung verschiedenartiger Orts- und Richtungsbestimmungen wie »ûf«, »hîn«, »hinder«, »in«, »bî« etc. Insbesondere das Eingeschlossensein der Troer ist beklemmend: Si wâren umbeslozzen Mit her vor unde hinden, daz si dâ mohten vinden zuo der flûhte keinen pfat. si kunden vür sich in die stat niht komen noch entwîchen, noch mohten ouch gestrîchen dort hinden zuo der flühte niht. (KvW, Tk, V. 12886-12893)
Die Schuld für die feindliche Übernahme der Stadt wird dem unklugen, wenig wachsamen und somit auch verantwortungslosen Verhalten des Herrschers zugewiesen und im Hinblick auf diesen werden die Verluste an Herrschaftsgebiet, Untertanen, Besitz, Ansehen und schließlich Leben an sich zusammgefasst (vgl. KvW, Tk, V. 12386ff. u.ö.), um später als einzelne Elemente an mehreren Stellen aus unterschiedlichen Perspektiven wieder aufgegriffen zu werden. Am Ende des Kriegsgeschehens nimmt die Schilderung des eigentlichen, physischen Destruktionsaktes der »veste« Troja durch die angrei-
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fenden Griechen nur wenige, um genau zu sein zwölf Verse in Konrads Werk in Anspruch. Dies steht im Gegensatz zur genauen Zuweisung einzelner Episoden zu einem Ort oder zu den exakten, wenn auch häufig versatzstückartig gefügten Details innerhalb des Kampfes respektive der Einzelkämpfe, insbesondere dem ausführlich geschilderten Tod Lamedons, dem der Kopf gespalten wird (vgl. KvW, Tk, V. 12852-12865). Somit verliert das Haupt der Troer sein Haupt und folgerichtig flieht auch sein Heer (vgl. KvW, Tk, V. 12875). Bei dieser Inszenierung spielen, wie andernorts auch, Farben eine entscheidende Rolle innerhalb des textuellen Visualisierungsvorgangs. Weiter wird das Vorstellungsvermögen des Publikums über ein Abrufen des Geruchssinns aktiviert, als die olfaktorische Wirkung der Toten beschrieben wird (vgl. KvW, Tk, V. 12900 u. 12901). Aber für die materielle Zerstörung baulicher Substanz verzeichnet der Text nur lapidar ein Kondensat, ein sichtbares Resultat, nachdem zuvor kurz der Erfolg der Griechen, das gewaltsame Betreten und Einnehmen der »veste«, und die brutalen Misshandlungen an den in der Stadt zurückgebliebenen Menschen und die Geiselnahme der Esiona geschildert wird (KvW, Tk, V. 12924ff.). Bezüglich der Destruktion heißt es nunmehr konstatierend und bilanzierend, aber, was den Textfluss betrifft, auch gewissermaßen beruhigend: zerbrochen und zerstœret wart diu veste wunneclich. die Kriechen rîche machten sich mit roube und mit gewinne, wan si nâmen drinne golt, silber und gesteine: daz teilten si gemeine und wolten ez gelîche haben. die mûren wurden und die graben zergenget und zervellet: sus heten si gestellet mein unde mort ze Troie. (KvW, Tk, V. 12984-12995)
Eine weitgehende Begründung der Auswahl narrativer Mittel zur Inszenierung des Geschehens, die Repräsentanz in Form von Text, die mancherorts bis dahin weniger eine Auswahl als vielmehr ein Aufrollen möglichst vieler unterschiedlicher narrativer Elemente zu sein scheint, liegt hinter Konrads Überleitung, die eine narratologische Metaebene ins Spiel bringt. Hier lässt der Autor und Erzähler Konrad den Text seine Macht ausspielen, zeigt, dass er als stilisiertes Erzählen jede Form von Geschehen beherrscht, bedient sich einiger Unsagbarkeitstopoi und konstatiert,
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wie immens auch immer Tod und Verlust beziehungsweise alles, was erzählt werden könnte, ist: »Hie will ich disem kampfe/ein ende machen und ein zil.« (KvW, Tk, V. 12908-12909) Er darf entscheiden, wo und weshalb gekürzt und gerafft wird, wie auch wenig später: Waz touc hie lange rede mê? Die burger wâren alle tôt, des wart dâ marterlîchiu nôt beschouwet und gehœret. (KvW, Tk, V. 12980-12983)
Einige Verse weiter wird »daz aller grœste wunder,/daz von strîte ie wart vernomen« (KvW, Tk, V. 13070-13071) nebst weiterer Superlative, was Stoff und Inhalt sowie die narrative Bearbeitung angeht, angekündigt. Innerhalb der betreffenden Passage nennt sich der Erzähler allein sieben Mal selbst, zumeist mit ›ich‹. Diese Macht des Textes stellt Konrad auch einige Tausend Verse weiter, hier jedoch eher auf struktureller Ebene, unter Beweis: Als Hercules im Todeskampf von Filothetes wünscht, dieser möge seine Asche aus dem Feuer ziehen und vergraben, wo sie niemand finde, sowie seine Waffen vernichten, wird dieser erste Zerstörungsakt wieder aufgegriffen. Kausales Movens ist die beinahe christlich atttribuierte Reue, die Hercules als damaliger Hauptakteur, als Initiator gegenüber den Troern empfindet, insbesondere für die erste Zerstörung der Stadt, für die er die Schuld gleichsam beichtend auf sich nimmt: daz Troie wart gebrochen Des êrsten mâles, daz tet ich, und riuwet nû daz sêre mich, wan ich ir hân gewalt getân. (KvW, Tk, V. 38666-38669)
Diese eher unerwartete Verzahnung und Verklammerung an später Textstelle ist möglicherweise, ähnlich wie die repetitiven Partien als narratives und strukturelles Indiz für das Entstehen des Trojanerkriegs innerhalb eines Prozesses fortschreitender Verschriftlichung in der Literaturproduktion zu lesen und mag wie diese unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten auf die Memorierfähigkeit des Publikums zielen. Inhaltlich nahe steht Konrads Trojanerkrieg Herborts von Fritslâr Liet von Troye (vgl. o., nach 11958), das eine abgeschlossene Trojahandlung bietet, die fast 18500 Verse umfasst. Das Liet von Troye schildert den Vormarsch der Griechen auf die Stadt zwar wesentlich konziser als später der Trojanerkrieg, aber er wird dennoch aus derselben – zunächst griechischen – Perspektive dargeboten. Die Blickführung wechselt wäh8 Zur Datierung vgl. zuletzt Lienert 2001: 111f. 67
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rend des Angriffs, als plötzlich das Kampfgeschehen im Umland von den Zinnen der Stadt aus beobachtet wird. Dem sich durch knappen Stil auszeichnenden Text mangelt es nicht an Drastik und Dramatik, was die Darstellung von Kampf, Leid und Tod angeht sowie der – auch unmittelbar physisch zum Ausdruck kommenden – Trauer darüber, wenn beispielsweise dem König der Troer, Laomedon, der bevorstehende Verlust der Stadt durch einen Boten gemeldet wird. Ihm schwinden die Sinne, seine Wangen werden blass, seine Augen röten sich, die Nase wird ebenfalls weiß (vgl. Herbort von Fritslâr, Liet von Troye, V. 1527-1531). Kurze Zeit später beziehungsweise einige Verse weiter wird ihm das Haupt abgeschlagen (vgl. HvF, LvT, V. 1550). Auch wenn Herborts Text und Sprache noch nicht über die narrative Eleganz und glatte Perfektion der Beschreibungen innerhalb des jüngeren Trojanerkriegtextes Konrads verfügen, ist die Art der Darstellung zumindest des jeweils aktuellen Handlungssegmentes sehr komplex und variantenreich. Im Zuge des zerstörerischen und räuberischen, durch lautes Geräusch akustisch unterstützten Einmarsches der Griechen wird zunächst wahrgenommen, dass lediglich sozial Mindergestellte beziehungsweise körperlich Minderbemittelte in der Stadt zu finden sind (vgl. HvF, LvT, V. 1576-1580). Der Text schwenkt dann zu den Frauen, die sich in eine Kirche geflüchtet haben. Hier arbeitet der Text mit der Umsetzung von Emotion und einer affektiven Komponente: Angst und Schrecken sind sowohl ihrer Körperhaltung als auch ihrem Aussehen und ihren jämmerlichen Äußerungen abzulesen, wenn sie sich an die inneren Kirchenwände drücken: Sie lenten zv der wende Ir wangen neigeten sie vz der hant Zvfallen was in ir gewant Ir gebende beroubet […] (HvF, LvT, V. 1586-1589ff.)
Die körperliche und emotionale Zerstörung, die die Frauen ausnahmslos in der Inbesitznahme durch die Angreifer zu erleiden haben, schildert der Text recht genau (HvF, LvT, V. 1603-1612). Konrad von Würzburg versucht ebenfalls, allerdings im Ausdruck wesentlich konventioneller und stilistisch nüchterner, beim Rezipienten die Vorstellung eines Schreckensszenariums zu evoziieren, was den Umgang der Eroberer mit den Frauen angeht. Er erzielt dies, indem er die für Leid, Verlust und Angst konventionalisierten Gesten mit dem entsprechenden Erzählvokabular inszeniert, wie Haareraufen, Schreien, Schläge gegen den eigenen Körper (KvW, Tk, V. 12932ff.). Der Part, der in den Raub der Esiona als menschliche Beute durch Thelamon mündet, bleibt vergleichsweise kurz
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und ausdruckslos, nüchtern bilanzierend, eine emotionalisierende Aufladung der Textpassage gelingt nicht. Die anschließende Besetzung der Stadt durch die Griechen dauert bei Herbort, nach Dares, dem sich als Augenzeugen stilisierenden Geschichtsschreiber, einen Monat – hier wird die Dimension der zeitlichen Dauer eingeführt –, innerhalb dessen sie, wohl auch nach der Quelle des Dares, das Werk der Destruktion vollbringen. Der auch in Herborts Text nüchterne Bericht entlang der Quelle erzeugt starken Kontrast zu dem zuvor Geschilderten und in der Montage der Quelle wird eine doppelte Vermittlung zum einen der Wahrheit, zum anderen der Sachlichkeit, der auch andere Teile des Werks Rechnung tragen, geleistet: Einen mant sie sint bliben Zu troyge die geste Do brachen sie die feste Sie zu furten die burg al Kemennaten unde sal Hus unde palas Allez daz dar inne was Groz unde kleine Da enbleip niht stein uf steine Die graben wurden gefolt Sie namen silber unde golt Gut gesteine schone gewant Unde karten wider in ir lant Mit grozme richtume Mit gufte unde mit rume Mit schalle unde mit wunne […] (HvF, LvT, V. 1618-1633ff.)
In ihrer Vollständigkeit entspricht die physische Demontage der zuvor erreichten psychischen Versehrung. Nach einem Autorenkommentar, retardierend und reflektierend die Menge des bis dahin Erzählten im Vergleich zum noch zu Erzählenden ermessend, schwenkt Herborts Erzählung zum Sohn des toten Königs, Priamus, dem, ähnlich wie später bei Konrad, die Zerstörung der Stadt und der Tod seines Vaters in der Ferne zu Ohren kommt. Neben der Klage über die Toten betrauert Priamus die Vorstellung, dass die Natur die zerstörte Kultur wieder überwuchert: Daz da wassen sol daz gras Da die schone troyge was Busche unde heide (HvF, LvT, V. 1739-1741)
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Der Wiederaufbau der Stadt als Kunstwerk in Text Bei Herbort setzt folgerichtig nach der Schilderung der Überwucherung durch die äußere Natur der tätige Wiederaufbau durch den aus der Ferne zurückkehrenden Priamus und sein Gefolge mit dem Rodungsvorgang und der Freilegung der Reste der Stadt ein, bevor das Fundament zu einer neuen, starken und großzügig bemessenen Stadtmauer gelegt wird. Der tätige Mensch gewinnt die Reste des Monuments der Natur wieder ab und setzt dessen Wiedererrichtung als intakte Herrschaftsarchitektur dieser entgegen. Innerhalb dieser Stadtmauer werden »kemennaten« errichtet, außerhalb die Gräben ausgehoben. Als Priamus und alle, die ihm gefolgt sind, sicher in der Stadt sind, lässt er durch einen Baumeister auf einem Berg den Turm Ilion, der beinahe bis in die Wolken ragt, und daneben einen großen, edel ausgeschmückten Saal erbauen – Turm und Saal finden wir später in Konrads Text wieder –, dessen Dach so gestaltet ist, dass man es vom Meer aus gleißen sieht – ebenfalls ein erzählerisches Versatzstück. Die Stadttore finden ebenso Erwähnung wie die Tatsache, dass die Stadt schnell wieder zu Reichtum kommt (vgl. HvF, LvT, V. 1755-1874). Konrads Text nun arbeitet dagegen auch hier auf mehreren Ebenen. Die kommentierende, selbstreferentielle Textebene liefert nach der Zerstörung einen Autorenkommentar, eine Moralisatio, gespickt mit Vergleichen und auch Vorankündigungen des noch zu Erzählenden (vgl. KvW, Tk, V. 13017-13029 u.ö.), die in erster Linie den Verlust der trojanischen Ritterschaft beklagt. Darauf folgt die Veranlassung der Rekonstruktion der von den Griechen zurückgelassenen vermutlichen Überreste der »veste« durch den Herrscher Priamus, Sohn des getöteten Königs Lamedon. Die Rekonstruktion ist sowohl was die räumliche Entfernung und Annäherung an die Stadt angeht als auch parallel dazu erzähltechnisch weiträumig angelegt: Zum Zeitpunkt der Zerstörung befindet sich Priamus weitab vom Geschehen und belagert selbst eine andere Stadt, so dass seine Wahrnehmung auch von außen geleitet wird, als er die Nachricht von der Zerstörung Trojas und vom Tod seines Vaters erhält (KvW, Tk, V. 13100-13127). Er bedauert den Verlust von »liute unde lant«, die »verwüestet« und »verhert« sind (KvW, Tk, V. 13148 u. 13149). Zwischen den äußeren Zeichen von Wut, Leid und Trauer wie Weinen, Wehklagen, Haareraufen und Äußerung des Todeswunsches ist es vor allem die Rede der Figur des Priamus, die durch jammerndes Aufzählen des eigens imaginierten Vorgangs der Niederlage die Aufmerksamkeit auf die Verluste – auch hier weniger des Herrschaftsortes als der Ritter,
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der Frauen, des Vaters, der Schwester Esiona – lenkt und bereits Geschehenes sowie Erzähltes aus der Außenperspektive repetiert: ach, ûz erweltiu ritterschaft von Troye, wie bist dû gedigen! wie siht man dich zerhouwen liegen und zerstücket hiute! owê lant unde liute war umbe hân ich iuch verlorn? (KvW, Tk, V. 13190-13195)
Unter den achtunddreißig Kindern des Priamus ergreift Hector die Initiative, die Trauer zu beenden und Rückkehr und Wiederaufbau von »veste« beziehungsweise »stat« zu betreiben. Zweck des Wiederaufbaus ist zwar das Wiedererstarken durch die Sicherung der Stadt mit Mauern und Gräben und die dadurch ermöglichte Rache an den Griechen (KvW, Tk, V. 13300ff.), aber faktische fortifikatorische Mängel etwa werden nicht als Grund der Niederlage angeführt. Hector ist sogar in der Position, seinem Vater Befehle zu erteilen. Die Nennung der beiden architektonischen Hauptmerkmale einer befestigten Anlage, »mûren« und »grâben«, genügt, um die Vorstellung der ganzen, wiedererstarkten Stadtfestung zu evozieren. Hector plant, mit der Rückkehr des Gefolges zu warten, bis der Bau abgeschlossen ist (s. und vgl. KvW, Tk, V. 13334 u. 13335; 13341 u. 13342). Kurzerhand befolgt Priamus die Ratschläge seines Sohnes, ruft sich eine Gefolgschaft zusammen und begibt sich nach Troja. Ganz der bisherigen Struktur des Textes entsprechend, wird an dieser Stelle bereits eine Zusammenfassung des Aufbaus gegeben, und zwar hier sogar mit einer Referenz auf die spätere Volldarstellung: die stat begunde er bûwen wider mit kreften manger hande. wercliute von dem lande gewan er ûzer mâze vil swaz man ze bûwe haben will von künsterîcher meisterschaft, des alles wart ein übercraft von Prîamô besendet. sîn bû der wart vollendet und kam mit êren ûf ein zil. als ich iu noch entsliezen will, sus wart er Troye biuwende sô wol, daz er getriuwende
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was ir kreften iemer […] des ich iu wol her nâch vergihe, swenn ich die zît spür unde sihe daz ich billichen unde wol von ir gezierde sagen sol und von ir starken vestikeit. (KvW, Tk, V. 13370-13391)
Drei größere Erzählabschnitte, die zunächst scheinbar nur entfernt mit dem Geschehen um die Stadt zu tun haben, lenken den Blick wieder von außerhalb auf Troja und das Rezipienteninteresse bereits auf die nachfolgend perspektivierten Auseinandersetzungen um die Stadt unter Beteiligung Achills. Denn es handelt sich hierbei um die Episoden um Thetis und ihren Sohn Achill, der von ihr aus Angst versteckt wird infolge des bevorstehenden Wiederaufbaus der Stadt durch Priamus und das von ihr deswegen antizipierte Wiedererstarken der Troer und ihrer Festung. Kommen wir zur unmittelbaren Darstellung des Wiederaufbaus, die im Gegensatz zur Destruktion bislang auf das Interesse der mediävistischen Forschung in erster Linie im Bereich der topologischen und motivgeschichtlichen Untersuchungen zu Städtelob und Epideixis9 gestoßen ist. Die kunstvollen Verse führen die Imagination des Publikums oft buchstäblich. Perspektivwechsel, Hyperbolik, Unsagbarkeits- und Bescheidenheitstopoi, Vergleiche und ähnliches entsprechen auf der narrativen Ebene der Herrlichkeit des Geschilderten selbst. Auf den Zustand der vorhergehenden Verheerung wird an keiner Stelle mehr verwiesen. Lediglich ein einziger Hinweis auf den der Zerstörung vorausgehenden intakten Zustand ergeht: si was nû bezzer vil gemaht denn ê, daz sont ir wizzen. (KvW, Tk, V. 17448-17449)
Der Verlust dieses Zustandes ist hier nicht Thema, sondern wurde und wird ausgespart. Auch die neuerliche Wehrhaftigkeit wird – an dieser Stelle – nicht in Zusammenhang mit der vorausgehenden Überwindung von Mauern und Stadt durch die griechischen Angreifer gestellt. Bemerkenswert ist überdies das Faktum, dass die Troer als unterlegene Partei nach der Willensanstrengung ihres Herrschers wirtschaftlich in der Lage sind, ihre Stadt wieder zu errichten. Als Gruppe bleiben sie völlig unkonturiert, überdies gibt es keine individuelle Figur. Eingeleitet wird die descriptio der eigentlichen Restauration durch einen Erzählerkommentar (V. 17322ff.). Der Erzähler verlässt das vom als Mädchen verkleideten Achill und seiner Geliebten Deidamia han9 Vgl. Kugler 1986: v.a. 131-141; zum Städtelob allgemein vgl. Classen 1986. 72
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delnde Erzählmodul und beginnt synchron die Schilderung des Wiederaufbaus der Stadt: hie mite sol ich unde wil si lân belîben beide, biz daz ich iu bescheide, wie Troye was gebiuwen wider. ich lege ir zweiger mære nider und entsliuze von der stat, wie keiserlichen man si bat ornieren unde stiften. wir lesen an den schriften, dô der juncherre Achille mit der juncfrouwen stille pflac der süezen minne alsus, dô hete ouch künic Prîamus die veste schône widerbrâht. si was mit bûwe alsô bedâht, daz ir kein stat dô was gelîch. nû hœrent, wie der künic rîch mit vlîze und mit geræte die stat gebiuwen hæte. (KvW, Tk, V. 17322-17340)
Konrad zeigt ein Spiel der Inszenierungspraktiken und lässt wörtlich die weitere Geschichte der Minne zwischen Achill und Deidamia niederlegen, die man auch woanders nachlesen kann, um eine weitere, nämlich die des Wiederaufbaus Trojas zu erzählen. Er fordert sein Publikum in einer direkten Adresse auf, zuzuhören, auf welche Weise und mit welchen Hilfsmitteln der mächtige König Priamus die Stadt zu einer Stadt ohnegleichen wieder errichten lässt. Tatsächlich schilderte der Text bereits das Herbeirufen der Handwerker (KvW, Tk, V. 13370), das nun wiederholt wird, bevor systematisch10 beziehungsweise anscheinend einem Schema oder System folgend die Größe in Form räumlicher Ausdehnung der Stadt, der Aufbau der »unmâzen«« hohen, wehrhaften marmornen Stadtmauer, die gleich von zwei wiederum »ûzer mâzen« tiefen Gräben umgeben wird, das Anfügen von Türmen an dieselbe, die lediglich einen Steinwurf weit auseinander sind, und von denen es heißt, dass derjenige, der sie einzunehmen versuchte, »[…] tet alsam die tôren tuont«. Die Stadttore, sieben an der Zahl, sind 10 Vgl. Lienert 1996: 92-94; Classen sieht die – allerdings älteren – Fälle, innerhalb derer Verlust oder Zerstörung einer Stadt beschrieben werden, vor der Folie des Städtelobs, vgl. Classen 1986: 40. 73
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geschmückt und zu Kastellen ausgebaut und personell wie ebensolche besetzt, jeweils mit einem Herzog und dessen Gefolge von tausend Rittern, die auch über einen entsprechenden Geldbetrag verfügen (vgl. KvW, Tk, V. 13741-17385). Wichtig ist auch ihre Funktion: »huot und vride bâren/diu castel und die ritter in« (KvW, Tk, V. 17388 u. 17389). Nach diesem schrittweisen Herangehen von außen an die fortifikatorisch und militärisch definierte Anlage, bei dem auch nicht die optische Wirkung von Farben und Materialien vergessen wird, befindet sich die Erzählung mitsamt ihrem Publikum innerhalb der Mauer und das Publikum erfährt vom äußeren Schmuck der Mauern, den Häusern und von der Bevölkerung. Zehntausend adelige, die Herrschaft ausübende Bürger bewohnen die Stadt (KvW, Tk, V. 17418-17425).11 Der Blick wird nun auf einen uneinnehmbar hohen Festungsturm auf einem Felsen inmitten der Stadt geführt, von dem aus – und nun ändert sich die Blickrichtung – die Bürger der Stadt das Geschehen um die Stadt beobachten können: der turn der was Ylîon geheizen und genennet. sîn name wîte erkennet von sîme glanzen schîne was. der künic einen palas gebiuwen hete nâhe dran, daz man nie schœner hûs gewan noch alsô keiserlichen sal. (KvW, Tk, V. 17494-17501)
Unschwer zu erkennen folgt die Blickführung einer Art virtuellem Rundgang, wie er als strukturelle Komponente mehrfach in der hochmittelalterlichen Dichtung Anwendung findet, so zum Beispiel, als Herzog Ernst mit Wetzel in der verlassenen Stadt Grippia anlegt oder als Parzival in Begleitung von Condwiramurs durch die belagerte Stadt Pelrapeire geht. Allerdings finden wir bei Konrad eine neutrale Erzählhaltung, kein Protagonist agiert individuell im eigens gestalteten und mit Kunstwerken am Kunstwerk potenzierten Architekturensemble. Statt dessen findet sich das Kunstwerk selbst in der zentralen Position des Erzählinteresses.
11 Vgl. hierzu auch Kugler 1986: 133-134. Kugler sieht die ›adeligen Bürger‹ in ihrer Gesamtheit als Korporation aufgefasst. Der Text könnte aber auch, bedenkt man die Besetzung jedes Torkastells mit tausend Mann, als Anhaltspunkt für die Größe der Gesamtbevölkerung, eine Oligarchie von zehntausend am Stadtregiment beteiligten Personen suggerieren, statt von zehntausend adeligen Bürgern, die die Stadtbevölkerung insgesamt ausmachen, zu berichten. 74
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Publikum und Erzähler erreichen das Innere des Palastes des Priamus, dessen kostbare Beschaffenheit und wertvolle Ausstattung bis hin zu den Fenstern und dem Kronleuchter im Folgenden, die hörenden oder lesenden Betrachter, die überdies nun mehrmals direkt angesprochen werden, einladend, vorgeführt wird: swer wunder wollte schouwen von meisterlichen dingen, die lie sîn ougen swingen an ir siule sinewel, dâ manic vremdez capitel stuont an gesniten unde ergraben. (KvW, Tk, V. 17516-17521)
Der Erzähler führt sein Publikum im Anschluss daran vor den Palast. Folgendermaßen wird es nun animiert, nicht zu denken, das, was nun präsentiert wird, sei nicht Element der Realität: »swaz ich iu noch entsliezen sol,/daz habent niht für einen troum!« (KvW, Tk, V. 17560-17561) Vorgeführt wird nun ein wie durch einen Zauber funktionierender Baum. Seine Wurzeln und sein Stamm sind aus Silber, die Äste aus Gold, die Blätter aus Rubinen und Smaragden und die darin permanent zwitschernden bunten Vögel ebenfalls aus Edelsteinen. Unter dem Baum haben hundert Ritter Platz, die, wie Priamus auch, zur Erquickung zu diesem Platz kommen. Mit der Darstellung des Vogelbaums, seinen Formen, Farben, Tönen, seiner Bewegung an zentraler Stelle innerhalb der königlichen Architektur sowie deren epideiktischer Präsentation erreicht der Text die Evokation von requisitär Bekanntem und zugleich Exotischem sowie Panegyrischem – ein mehrfach überlieferter Ausstattungsgegenstand königlicher Paläste seit der Antike. Wie überhaupt die gesamte Stadt dies tut, ruft auch er den Eindruck eines zu besichtigenden Monuments hervor. Mit der Schilderung dieses wunderbaren, automatisch funktionierenden Baumes wird ein elitärer literarischer Gemeinplatz aufgegriffen und zur Perfektion getrieben. Möglicherweise handelt es sich um eine, wenn auch auf eine exklusive Gruppe begrenzte, so doch schon einmal gemeinsam rezipierte, somit erlebte Schilderung von die Natur imitierendem und dabei übersteigendem, künstlerisch und künstlich Produziertem in Form von Text. Was die Stadtanlage angeht; ist offensichtlich, dass es nicht die Momente des Aufbaus, des Neubeginns sind, sondern das vollendete Ergebnis, das der Rezeption würdig ist. Wieder im Innern des Palastes erfährt das Publikum weiter von der Ausstattung des Saales mit Statuen der Götter, typisiert Antikem, von denen die des Jupiter besonderes Augenmerk erhält und zusammen mit dem Wunderbaum zu den quasi magischen
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Markierungen des Bereichs des Herrschers Priamus gehört – im Text demzufolge auch als »nigromantîe« (KvW, Tk, V. 17603), als die ansonsten bereits vielfach demonstrierte Kunstfertigkeit übersteigend bezeichnet. Ist die neu erbaute Stadt bereits die Agglomeration kultureller Höhepunkte, Kulminationspunkt der Repräsentanz königlicher Macht, so scheinen die Ausfertigung des Vogelbaums zur Pflege von Ruhe und Muße im Hof des Palastes – immerhin finden hundert Ritter Platz darunter – sowie die Jupiterstatue im Inneren gleichsam die konzentrierten oder potenzierten Exponenten derselben und ihrer textuellen Darstellung zu sein. In einem zusammenfassenden Urteil, das noch einmal enkomiastisch die Großzügigkeit des Priamus, die Schönheit der gleichsam idealen Stadt, den allgemeinen Adel ihrer Einwohner und ihrer Ritter hervorhebt, verabschiedet sich der Text von der descriptio, die auf Grund ihrer topischen Partien und Elemente in Teilen dem aus antiker Rhetorik überlieferten und entwickeltem Städtelob12 – auch hier einhergehend mit Herrscherlob – entspricht, deren Ende hier wiedergegeben wird. Prîant der sælden rîche der hete an sînen bû geleit sô küniclîche rîcheit, daz nieman in mit worten geprîsen z’allen orten nâch volleclicher wirde mac. unz an den jungestlichen tac wirt beschouwet niemer mê kein veste, diu sô schône stê, sô Troye stuont, diu wîte. ouch wart bî keiner zîte, die gerne z’allen zû kein stat von alsô rîcher art gebiuwen ûf der erden. ir hôhen unde ir werden burger die wâren alle gefrîget vor dem valle, der mannes wirde letzet. ez wart nie stat besetzet mit frumen liuten alsô wol. si was der ritterschefte vol, die gerne z’allen zîten nâch êren kunden strîten. 12 Hierzu umfassend Kugler 1986. 76
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Nû daz der künic Prîamus die stat gebiuwen hete alsus und allez, daz ich hân genant, dô wart erhœhet alzehant sîn küniclich gemüete. er fröute sich der güete, der wunder an der veste lac. (KvW, Tk, V. 17673-17701)
Die figurative soziale Besetzung der gleichsam idealen Stadt differiert bei weitem von der der Einwohnerschaft einer Stadt im ausgehenden 13. Jahrhundert. Sie differiert aber nicht unbedingt von Idealvorstellungen innerhalb einer adelig-ritterlich geprägten Kultur, deren Ausläufer diesem Text eingeschrieben werden. Es findet keine Identifikation über eine vermeintlich (stadt)bürgerliche Realität statt, nicht einmal im Vergleich, vielmehr sind Idealstadt und ideale Stadtbewohner identisch. Dem entsprechen auch die topographische Realisation und das Aussehen: Am wahrscheinlichsten sind, neben der festungsartigen Anlage selbst, deren Ausstattung mit Toren und Türmen sowie die Position des Herrschaftszentrums in der Mitte; andere Charakteristika entfallen zugunsten der Schilderung von Artefakten. Der Text (re)konstruiert, wie bereits erwähnt, mit Troja eine durchaus unbekannte Größe. Im unter verschiedenen Einflüssen stehenden Bild der antiken Stadt Troja wird eine textuelle Idealstadt, ein ideales Herrschaftszentrum errichtet, das textgeschichtlich gesehen aus literarischen Versatzstücken bestehen mag. Es erlaubt dem Verfasser, seine Kunstfertigkeit glanzvoll abzuarbeiten. Handlungsfunktional ermöglicht die Wiedererrichtung die Wiederherstellung der militärischen, machtpolitischen Ausgeglichenheit der beiden Parteien Troer und Griechen und somit den Wiederbeginn der Auseinandersetzungen, eine Retardierung im Hinblick auf das endgültige Ziel der Handlung, und auch dies entspricht den Erzählstrukturen insgesamt. Das retardierende Moment, das die Beschreibung der Stadt innerhalb des momentanen Erzählrhythmus darstellte, wird im weiteren durch das Wiedereinsetzen eigentlicher Handlung variiert.
Rekonstruktion statt Destruktion innerhalb des narratologisch-poetologischen Konzeptes Kehren wir an den Beginn von Konrads Werk zurück, um uns dem wie häufig im Prolog entfalteten narratologisch-poetologischen Konzept des Kunstwerkes zuzuwenden; denn diesseits jeglicher rhetorischer Topik und Enkomiastik stellt das Kunstwert selbst zumindest funktionale und
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strukturelle Teilerklärungen im Hinblick auch auf das quantitative Missverhältnis des zerstörten Zustandes im Verhältnis zur Rekonstruktion durch die Gesamtkonzeption des Werkes bereit. Grob betrachtet und wiederum insgesamt Ausgewogenheit in den Größenverhältnissen hervorrufend entspricht das Verhältnis ›Vorbereitung der Zerstörung/kurze Schilderung des zerstörten Zustandes‹ umgekehrt dem Verhältnis ›kurze Vorbereitung und Vorgang des Wiederaufbaus/Schilderung des Ergebnisses des Wiederaufbaus‹. Konrad teilt nun die Theorie seiner Dichtung im Prolog ausführlich mit (vgl. KvW, Tk, V. 1-324) – dieser entspricht in Teilen dem Prolog des Partonopier und Meliur, wobei Konrad hier mehr Poetologisches, mehr Formalästhetisches verhandelt und weniger Belehrendes im Sinne des allgemeinen docere bietet. Geradezu klassisch lässt sich der Prolog in einen prologus praeter rem, der unabhängig vom in der jeweiligen Dichtung Dargestellten allgemeine Fragen zur Rolle der Dichtkunst entwickelt und dem prologus ante rem, der zum eigentlichen Inhalt des Werkes hinführt, teilen. Konrad entwirft zunächst ausführlich ein stilisiert düsteres Bild mit der einleitenden, geradezu existentiellen Frage »was sol nun sprechen unde sanc?« Es mangelt sowohl am sachkundigen Publikum als auch an den wirklichen Meistern der Dichtung. Er hebt hervor, dass das, was fremd und selten ist, das wahrhaft Wertvolle ist – und das gilt auch für die Kunst des Dichtens. Dichten hängt, im Unterschied zu allen anderen, vor allem handwerklichen, Tätigkeiten, von der Gnade Gottes ab. Ein Dichter benötigt weder Rat noch Hilfe noch technische Hilfsmittel, sondern deduziert seine Fähigkeiten allein von der Zuwendung Gottes. Mitzudenken ist hier auch eine mehrfache laudatio temporis acti. Bevor Konrad zu den für unseren Zusammenhang entscheidenden Versen kommt, legt er fest, dass das zeitgenössische Publikum einer Fledermaus gleich einem falschen Licht folgt. Er definiert allerdings gleichzeitig für sich, dass er selbst dann singen würde, wenn er dies nur für sich selbst täte, wie eine Nachtigall, die auch dann singt, wenn kein anderer Vogel sie hört, und spricht somit der Kunst, insbesondere der Dichtkunst, eine Existenzberechtigung aus sich heraus und für sich selbst zu. Der prologus ante rem setzt sich dem allerdings diametral entgegen. In opaken Versen leitet Konrad die Beschäftigung mit dem Trojastoff ein: mîn sin der spannet unde dent dar ûf mit hôhem flîze, daz ich vil tage verslîze ob einem tiefen buoche, dar inne ich boden suoche,
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den ich doch vinde kûme. z’eim endelôsen pflûme, dar inne ein berc versünke wol, gelîchen man diz mære sol, des ich mit rede beginne. wil ich den grunt dar inne mit worten undergrîfen, sô muoz ich balde slîfen hie mîner zungen enker. […] ich wil ein mære tihten, daz allen mæren ist ein her. als in daz wilde tobende mer vil manic wazzer diuzet, sus rinnet unde fliuzet vil mære in diz getihte grôz. ez hât von rede sô wîten vlôz, daz man ez kûme ergründen mit herzen und mit münden biz ûf des endes boden kan. daz ich ez hebe mit willen an, dar ûf hât wol gestiuret mich der werde singer Dietrich von Basel an dem Orte, […] (KvW, Tk, V. 216-247)
Dargelegt wird mehrerlei. Zunächst steht die Stoffwahl selbst zur Diskussion. Der Trojastoff ist eine Grundlage und ein Moment europäischer Erinnerung, wenn nicht gar – zumindest aus der zeitgenössischen Sicht – menschheitsgeschichtlicher Erinnerung oder ein säkulares ›Buch der Bücher‹, ein universaler Prätext, der Beginn der Erzählungen der europäischen, für Konrad und seine Zeitgenossen also nahezu jeder Geschichte. Jedoch ist er was Schauplatz und Zeit angeht weit entfernt. Konrad versucht weder den Stoff zu aktualisieren noch benutzt er ihn, wie andernorts geschehen, als Legitimationsmaterial und Herkunftssage. Er nutzt gerade die Ferne in ihren Möglichkeiten der Besonderheit und Erlesenheit, wie beispielsweise der völlige Mangel an Gegenwartsbezügen zeigt.13 Auf der Ebene der Quellen ist hier die Diskussion ebenfalls verankert. Diese seine Erzählung soll alle vorhergehenden beinhalten und der »her« über die anderen Erzählungen sein, was nicht nur zu einer 13 Was die hier relevanten Textpartien angeht, findet lediglich ein einziger Vergleich mit scheinbar Gegenwärtigem statt, nämlich der Vergleich der Handwerker mit den (zeitgenössischen) von Rhein und Elbe (KvW, Tk, V. 17483). 79
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Vielzahl an Protagonisten, sondern auch zu einer Vervielfachung von Inhalt und Handlung führt. Und gleichzeitig ist die Gefahr, die Dichtung aufgrund ihrer enormen Fülle, ihrer enormen Tragweite nicht zu Ende bringen zu können, bereits erkannt und bewusst sowie das Risiko des Scheiterns bereits einkalkuliert. In den Zusammenhang dieses kompletten Erinnerungsversuchs der Erzählung aller Erzählungen wird mehrerlei gestellt: Zum einen der Gönner, der, so Konrad, als Steuermann fungiert, der ihn also auf diesen Stoff gebracht hat. Er ruft namentlich den bereits erwähnten Dietrich an dem Orte in Erinnerung. Dessen Nachruhm ist durch die exponierte Nennung auf alle Fälle gewährleistet, ebenso wie der des Dichters durch Selbstnennung nur wenige Verse später. Zum anderen die Quellen – und hier ist eine direkte Verbindung zur Textpassage des Wiederaufbaus nach der ersten Zerstörung herzustellen. Konrads Plan ist es, alles Vorhandene, das über den Stoff berichtet, zu vereinen und besser zu sein als alles, was da war, indem er sich dem »Erniuwen« verschreibt; sein »Erniuwen« ist additiv, kompilatorisch, auf Vollständigkeit angelegt, aber gleichzeitig vertiefend und Brüche ausgleichend. Das »Erniuwen« versteht sich qualitativ und quantitativ, ist aber auf sich selbst und einen wenn irgend möglich erlesenen, verständigen Rezipientenkreis bezogen. Das »Erniuwen« der Stadt scheint in den gezeigten funktionalen, strukturellen und inhaltlichen Möglichkeiten dem »Erniuwen« der Ezählung und des Erzählens selbst zu entsprechen; und der inhaltlichen Vollständigkeit entspricht die narrative in der Erfüllung sämtlicher poetologischer Ansprüche. Diese beiden Aspekte scheinen ungeheuerlich, setzt man dichotomisch die verzweifelte Klage der Existenz einer von Gott abgeleiteten Kunst, die im Extremfall nur für sich selbst besteht, dagegen. Was die unmittelbaren Vorgängertexte angeht, rekurriert Konrad nicht auf nur eine Quelle – seine Hauptquelle nennt er in V. 267ff.: von Wirzeburc ich Cuonrât von welsche in tiutsch getihte mit rîmen gerne rihte daz alte buoch von Troye. (KvW, Tk, V. 266-269)
Als diese Quelle gilt der um 1160/65 verfasste Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure, ein Werk, das dem Umkreis des Hofes Eleonores von Aquitanien und Heinrichs II. Plantagenet zugerechnet wird14 und dem die Überführung des antiken Stoffes in die höfisch-ritterliche Epik ausgehend vom französischen Sprach- und Kulturraum zu verdanken ist. Konrad nennt darüber hinaus selbst noch den Bericht des Geschichts14 Vgl. Lienert 1996: 19f. 80
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schreibers Dares, der als Augenzeuge gilt. Wichtiger als die Frage nach den einzelnen Quellen scheint Konrads Anspruch auf Totalität der Erfassung des Vorhandenen. Innerhalb der inhaltlichen Schilderung ist augenscheinlich geworden, dass die Handlung zu einem weitaus früheren Zeitpunkt einsetzt als es beispielsweise das unter Homers Namen überlieferte Werk tut. Wir begegnen Handlungssträngen, die wenig mit dem Trojanischen Krieg homerischer Prägung selbst zu tun haben, wie beispielsweise die Argonautensage, aber dennoch in den weiten Kreis der Zyklen der griechischen Mythologie gehören und die über unterschiedliche Wege in Konrads Werk gelangt sein mögen. Und, um uns die Dimension von Konrads Projekt vorzuführen, erinnern wir uns noch einmal daran, dass die Helenahandlung zwar im Streit der Göttinnen angelegt wird, aber bis zur ersten Zerstörung der Stadt noch keine Ausgestaltung erfuhr, ebenso wenig wie Achill und Paris bislang an den Kämpfen beteiligt sind. Was bedeutet das Bild der Stadt innerhalb des projektierten Gesamtwerks? Mit der wiederaufgebauten Stadt findet sich bei Konrad von Würzburg ein eigentlich ahistorisches ideales Gesamtkunstwerk, in der auch ein Bild für das angestrebte Gesamtkunstwerk der Dichtung in nuce gesehen werden darf. Der zeitliche und räumliche Abstand bedarf daher auch keines Kommentars von Konrads Seite. Insofern ist der Zustand der destruierten Stadt ein produktiver, katalysatorischer, der innerhalb der Erzählung stattfindet, um die Rekonstruktion beziehungsweise sogar nur deren Ergebnis – beispielsweise im Unterschied zu Herborts Version – in Szene setzen zu können. Innerhalb der Erzählung hält die Darstellung die Erzählstränge an, ohne sie zu unterbrechen, aber um ein textuelles Inszenieren von Architektur zu erproben. In ihrer Ekphrasis wird uns der Perfektion beanspruchende Idealfall vorgeführt, der universalistische Entwurf einer modellhaften Stadt, eines repräsentativen Architekturensembles, eines kompletten Artefakts und gleichzeitig der Idealfall der Beschreibung durch den Künstler beziehungsweise durch das Kunstwerk Text. Somit wird überdies die inszenatorische erzählerische oder besser textuelle Allmacht gezeigt. Hierfür ist die Darstellung eines vorausgehenden zerstörten Zustandes im Detail nicht von Bedeutung, die Tatsache nur erzähltechnische Grunderfordernis, das Detail vielleicht sogar ein Hindernis. Was allerdings im Konzentrat des Stadtbildes gelingt, nämlich die vieldimensionale, additive Kompilation und (räumliche) Vertiefung, die dichterische Verschmelzung überlieferter Bilder und gleichzeitig die diskursive Spiegelung der Dichtkunst, bleibt dem Gesamtwerk versagt – und auch diese Möglichkeit, die Gefahr des negativen Ausgangs, ist, wie gesehen, in Konrads Hinführung bereits angelegt.
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FÜR EINE ETHIK DER RUINE MARIA VIRGINIA CARDI Ich wandere zwischen den Ruinen Mailands umher. Warum verspüre ich diese Erregung? Ich sollte traurig sein, aber stattdessen sprühe ich vor Freude. Ich müßte Todesgedanken hegen, stattdessen streichen mir Gedanken an das Leben um die Stirn, wie der Hauch des reinsten und strahlendsten Morgens. Warum? Ich spüre, daß aus diesem Tod neues Leben erstehen wird. Ich spüre, daß aus diesen Ruinen eine stärkere, reichere, schönere Stadt erstehen wird.1
Der Zweite Weltkrieg hat in Europa sowie in anderen Teilen der Welt eine epochale, zuvor nicht gekannte Verlusterfahrung geschaffen: Verlust des Lebens, Zerbrechen von Erinnerungen. Doch bereits der Erste Weltkrieg mit seinem zermürbenden Stellungskrieg der Schützengräben, den Erfrorenen und Gefangengenommenen an der Ostfront, hat die Schrecken der Vernichtung eines anhaltenden, internationalen Konfliktes sichtbar gemacht. Die durch den Krieg hervorgerufene wirtschaftliche Zerrüttung sowie die folgenschwere politische Verwirrung von nationalen Einheiten, die, wie beispielsweise in Italien, noch im Werden begriffen waren, hatten in Deutschland den Weg bereitet für einen bürgerkriegsähnlichen Zustand, aus dem die wichtige, wenngleich kurze und krisenhafte Erfahrung von Weimar hervorging. Es ist kein Zufall, dass sich die Thematik der Ruinen in den zerstörten Städten gerade in der deutschen Kunst mit besonderer Deutlichkeit manifestiert hat. Eine zentrale Stellung kommt dabei dem Genre der Apokalypse-Darstellung zu, das sich im Laufe der zwanziger Jahre, im Anschluss an die Kriegsdarstellungen von Otto Dix und die Darstellungen brennender, einstürzender Städte von Ludwig Meidner, die die kriegerischen Zerstörungen des Ersten Weltkriegs antizipieren und eine existentielle Angst widerspiegeln, verbreitet hat. Das Thema der Apokalypse kehrt 1933 in den Sieben Todsünden von Dix wieder, der mit diesem 1 Savinio 1989: 401. 83
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Gemälde dem Nazismus eine scharfe Kritik entgegensetzte und damit auch ein Brecht’sches Theaterstück (Die sieben Todsünden der Kleinbürger, 1933) inspiriert hatte. Der apokalyptische Untergang der Städte wurde im deutschen Expressionismus nicht nur in der Bildenden Kunst und im Theater, sondern auch im Kino wieder aufgegriffen. Beispielhaft hierfür sind die Bühnenbilder und Filmbauten von Hans Poelzig sowie die Sequenz der Zerstörung von Metropolis durch eine Überschwemmung in Fritz Langs gleichnamigem Film aus dem Jahre 1926/27. Während die Ruine und damit die Zerstörung in der Tradition des Expressionismus als notwendig für einen Neuanfang dargestellt wurde, wurde parallel dazu, in einer spezifisch jüdischen Traditionslinie, die Entstehung einer düsteren und inhumanen Technokratie aufgezeigt. Das Schicksal des Ruinentopos ab den zwanziger Jahren in Deutschland kann somit zurückgeführt werden auf eine an vielerlei Orten des kulturellen Spektrums sich zeigende jüdische kulturelle Präsenz: Eine Erneuerung hätte dieser Traditionslinie zufolge nur stattfinden können, wenn der Dämon der Zerstörung sich beruhigt hätte – ein Bild und eine Überlegung, die auch Benjamin im Angelus Novus aufnimmt.2 Die von Menschenhand geschaffenen Ruinen versinnbildlichen auf diese Weise den moralischen Niedergang, der Europa und die gesamte westliche Welt ergriffen hatte und der durch die neu entstehende, technokratische Gesellschaft vorbereitet wurde. Die ästhetischen Auseinandersetzungen der bereits erwähnten Künstler und Autoren mit den Ruinen führen in einer metaphorischen Übertragung die äußere Zerstörung auf den inneren Ruin einer Kultur zurück – auf den Ruin eines Wertgefüges, das ein weltweites kriegerisches Gemetzel zur Folge hatte. Der ›Ruin der Welt‹, der seine Wurzeln in den faschistischen und nazistischen Diktaturen besitzt, wurde in Italien wie auch zu einem guten Teil in Deutschland von einer bürgerlichen Mittelschicht vorbereitet, die von Rationalismus, Individualismus und karriereorientiertem Denken geleitet war, die in parteiliche Interessen verwickelt war und die für einen sozialen Aufstieg zu allem bereit war. In Georg Simmels Schriften über die Modernität erscheint diese Haltung des unteren und mittleren städtischen Bürgertums der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht: Der unersättliche, allesfresserische Konsum von Waren, die kulturelle Faulheit sowie die politische Manipulierbarkeit werden zu Merkmalen einer sozialen Schicht, die die ökonomischen und kulturellen Bedingungen des 18. Jahrhunderts von sich gewiesen hatte und die im 20. Jahrhundert zu einer führenden Gesellschaftsschicht geworden war.
2 Benjamin 1991. 84
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Der Deutsche Werkbund, an dem sich bedeutende Intellektuelle, Architekten und Kunstmäzene beteiligt hatten, setzte sich bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1934 für das Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk und eine Aufwertung der handwerklichen Arbeit ein und vertrat damit eine Haltung, die das kulturelle Erbe im Gleichgewicht mit einer modernen globalen Wirtschaft zu halten suchte. Mit dem Beginn des ›Dritten Reiches‹ jedoch kam es zur Durchsetzung von großen wirtschaftlichen Kartellen, deren primäres politisches Interesse die auf einen Krieg gerichtete Aufrüstung war. Ähnlich wie in Deutschland hatte in Italien die vorwiegend im Norden anzusiedelnde Industrialisierung im Umfeld des wirtschaftlichen Booms der neu entstehenden Automobilindustrie eine Abkehr vom nationalen Kulturerbe zur Folge. Die landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftszweige starben und wurden schrittweise in den Ruin geführt, ebenso verlor sich die Kultur der Manufakturen, die die lokalen Traditionen fortgeführt hatte und die die Vielfalt, den Reichtum und die pulsierende Vitalität eines gesellschaftlichen Gleichgewichts ausgemacht hatte. Die überwiegende Lokalisierung der Wirtschaft im Norden war in Italien von besonderem Nachteil: In einem geographisch wie ethnisch vielfältigen Land wurden auf diese Weise in kürzester Zeit lokale Ökonomien vernichtet – in erster Linie Wirtschaftszweige, die auf das Meer und die Häfen ausgerichtet waren, aber auch solche, die sich auf Gebirge, Hügellandschaften oder Flüsse konzentrierten.
Die Ruinen des Menschen – die Ruinen der Zeit Der Zweite Weltkrieg hatte in Italien einen Prozess des Zusammenbruchs beschlossen, der bereits seit geraumer Zeit im Gange war. Sein Ende – das Bombardement der Städte, die Zerstörung lebendiger, kultureller Zentren wie z.B. der Stadt Mailand – hatte einen klaren und definitiven Wechsel des Ganges der Geschichte Italiens zur Folge, das sich, anstatt sich sogleich dem Schicksal der Demokratien Zentraleuropas anzupassen, zunächst zu einer institutionellen Regierungsinstabilität bekannte, die es der geopolitischen Physiognomie anderer mediterraner Nationen wie Griechenland oder Spanien ähnlich machte. Mailand, auf Platz zwei unter den am stärksten zerstörten Städten Italiens, war im Herzen seiner Wirtschaft getroffen worden, die damals tatsächlich das ›Herz‹ Italiens darstellte: des industriellen Italiens, des Italiens von Pirelli, Alfa Romeo und der unzähligen kleineren, blühenden Manufakturbetriebe. Die damalige Stadt mit ihrem spezifischen Charakter verschwand für immer und
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lässt das nach dem Krieg wiedererrichtete Mailand bis heute ›zerstückelt‹ erscheinen. Der Wiederaufbau in den fünfziger Jahren füllte nur unzulänglich die Lücken aus, die die Bombardements im historischen und moralischen Gewebe der Stadt und in den zivilen sowie religiösen Einrichtungen hinterlassen hatten. An die Ruinen von San Lorenzo, des Viertels von San Babila, der Plätze della Scala und San Fidele, des Domviertels, des Corso Buenos Aires, des Garibaldi-Bahnhofs, des Platzes Cadorna und vieler anderer Orte der Stadt erinnerte kürzlich die Photographie-Ausstellung Bombe sulla città di Milano 1942-1944, eine sorgfältig dokumentierte Schau über die Schrecken des Luftkriegs über Mailand. Wie in einem Artikel von Aldo Castellano im Ausstellungskatalog erläutert wird, entstand anlässlich der achten Triennale 1947 ein (nur partiell umgesetztes) Projekt des Architekten Piero Bottoni, der drei Millionen Kubikmeter Trümmer zu einem kleinen Berg zusammentrug, welcher als Gedenkort an die Katastrophe der Zerstörung eines ganzen Viertels erinnern soll.3 Einem allgemeinen Konsens zufolge existierte in Italien parallel zu den Kriegszerstörungen jedoch noch eine andere Form des ›Ruins‹. Es handelt sich dabei um den ruinösen Verfall einzelner Regionen des Landes, die im Zuge einer groben Vernachlässigung durch den Staat einem unsicheren Schicksal und einer äußerst harten Existenz überlassen wurden. Regionen wie die Toskana, die Marken, die Lombardei und die Emilia-Romagna lagen über einen langen Zeitraum wirtschaftlich in ›Trümmern‹ und stellten bis zu ihrer allmählichen Erholung in den fünfziger und sechziger Jahren ärmlichste Gebiete dar. Über die beiden letztgenannten Regionen waren in den vierziger Jahren verschiedene Erzählungen entstanden, die das Leben in diesen ärmlichen Teilen Italiens mit einem scharfen, durchdringenden Realismus darstellen. In dem Roman Il mulino del Pò (Die Mühle am Po, 1938-1940) von Bacchelli oder auch in dem Kurzfilm Gente del Pò (Menschen am Po, 1943-47) von Antonioni werden Regionen betrachtet, die durch Naturkatastrophen und eine staatliche Vernachlässigung zerrüttet waren und die bis in die siebziger Jahre hinein in einem Zustand des Zusammenbruchs verweilten, bis schließlich die regionalen Politiken infolge von Krisen in anderen Bereichen einen Wiederaufbau dieser Gebiete einzuleiten begannen. Der aus Mailand stammende Architekt Aldo Rossi spricht in seinen Erinnerungen von den »[…] leeren Häusern am Po, die nach den großen Überschwemmungen seit Jahren verlassen sind. In diesen Häusern sind auch heute noch die zerbrochene Tasse, das Eisenbett, die zersprungene Scheibe, die vergilbte
3 Vgl. Auletta Marrucci 2004. 86
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Photographie, die Feuchtigkeit und die Zeichen der Zerstörung durch den Fluss zu erkennen.«4 Ich möchte an dieser Stelle an die zerstörten Dörfer in der Basilicata, in Kalabrien, in Kampanien, im Salento und in den Abruzzen erinnern, an das reiche Erbe an natürlichen und architektonischen Elementen in deren schrecklicher Nachkriegszeit. Der Süden ist gerade auch in seiner Schönheit zerbrechlich, da hier die Komplexität des baukulturellen Geflechts wie eine Sandburg wächst, vor allem aber auch aufgrund der Armut dieser Regionen, die sich u.a. in der Wahl der Baumaterialien niederschlägt – im Einsatz von Tuffstein, dem Rückgriff auf Felsen oder Flusssteine oder auf Sand anstelle von Mörtel – und die Dörfer mit zerbrochenen Mauern, Häuser ohne Türen und mit eingefallenen Dächern entstehen lässt. Ich möchte an die Schönheit vieler zwischen den Gebirgen der Sila aus dem Felsen wachsender Orte, im Aspromante oder in der Maiella erinnern; an Orte, die entstanden waren, um den unzähligen Angriffen der Türken zu entkommen, Dörfer des Hungers, eingesunken in ein unendliches Mittelalter, mit holprigen Gassen, mit in Ställen untergebrachten Zimmern oder Küchen – und mit jener wahnsinnigen Hingabe und jenem fanatischen Glauben, die als einzige ein Fünkchen Hoffnung für die Zukunft liefern konnten. Derartige Bilder finden sich im Laufe der fünfziger Jahre in der Dialektdichtung von Rocco Scotellaro über sein Heimatdorf Tricarico in Kalabrien und dies sind auch die Orte, denen das Interesse Zavattinis, einem der großen italienischen Photographen und Regisseure des neorealistischen Kinos zukam. Die Figuration der ruinösen ›Zerrüttung‹ von Gebäuden und Objekten, diese zitternde, auf der Kippe stehende Existenz nahe dem Zusammenbruch sowie ein damit einhergehendes tiefgehendes Gefühl der Entbehrung hatte der Anthropologe Ernesto De Martino bei seiner Erforschung Süditaliens grundlegend erfasst.5 Die Studien De Martinos haben Luigi Di Gianni und Michele Gandin in das dokumentarische Kino übersetzt und Filme geschaffen, die den Zuschauer an ihrem Blick auf die Dörfer des Südens und in die Gosse von Neapel Teil haben lassen – ohne jedoch auf eine Emphase beim Zuschauer abzuzielen und ohne auf ästhetisierende Weise Genuss am Lokalkolorit zu erzeugen, wie dies so oft in für viele Regionen Italiens äußerst schädlicher Weise geschieht. Lange vor der Entstehung dieser Arbeiten wurde der ästhetische und moralische Ruin als das exemplarischste der Übel des italienischen Südens auf bisher unübertroffene Weise von Matilde Serao in Il ventre di Napoli (Der Bauch Neapels) beschrieben, einer Schrift, die zwischen dem Ende des 4 Rossi 1988: 28f. 5 Vgl. Gallini/Faeta 1999. 87
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19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst wurde und die eine bahnbrechende Analyse dessen bietet, was die auf die Einigung Italiens folgenden Regierungen zu verantworten hatten. Il ventre di Napoli ist, was die Zerstörungen Mittelitaliens und des Mezzogiorno als wichtige Zentren der mediterranen Kultur betrifft, durch und durch aktuell geblieben und stellt einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis des heutigen Italiens dar, das zunächst schwer geschädigt wurde durch die Abwendung der Literaten und schließlich durch die Mafia. Und historisch betrachtet, in genau diesem zuvor genannten Szenario, schleicht sich der alles von innen zerfressende Holzwurm ein, der sich später auch im Ausland verbreitete: ein Übel mit vielfältigen Gesichtern, das die Kraft hat, die primären Bedürfnisse zu manipulieren, das ein Volk erpressbar macht, es strukturell fragil werden lässt und es schließlich leicht käuflich macht, wie es heute erneut durch die Verführungen und Lügen der Massenmedien geschieht. Die hier beschriebenen ›Ruinen‹ stehen neben den anderen Ruinen des Südens – den antiken Ruinen voller Pracht und Größe, den Ruinen der versunkenen Städte von Paestum, von Taormina und von Syrakus. In zynischer und paradoxer Weise gehören diese Regionen, die sich in die Liste der bedeutendsten Orte der Erinnerung und Geschichte der europäischen Kultur einreihen, gleichzeitig zu den – vom moralischen Blickwinkel aus betrachtet – am tiefsten gesunkenen Europas. Blickt man auf Sizilien, so ist der kollektive Grundton, der sämtliche großen literarischen Werke – von De Roberto über Tomasi di Lampedusa bis hin zu Sciascia – durchzieht, ein Schwanken zwischen Entzückung und Unwohlsein. Die feierliche Schönheit der Ruinen mit ihrer weit zurückreichenden Geschichte, mit ihren in Stein gemeißelten Inschriften sowie mit ihrer mahnenden Körperlichkeit scheint somit von der Moderne ihrer Eitelkeit überführt worden zu sein. – Aber ist wirklich alles eitel? Die Imperien oder die großen Kulturen sind dazu bestimmt, unterzugehen, wie eine Traditionslinie von Petrarca über Justus Lipsius bis Volnay behauptet, die wir eine romantische nennen können und die einem Sinn für ekstatische Melancholie und unumstößliche Endlichkeit zuneigt. Aber es gibt noch eine andere Traditionslinie, die getragen von einer Kultur des Stoizismus fortschreitet, in die Moderne und bis in die Gegenwart hinein, und die die Ruine als regenerierende, kreative Kraft denkt: Die Ruine ist in der Gegenwart lebendig; sie ist das, was der Zeit getrotzt hat und seinen revolutionären Gehalt zur Geltung bringt; was also die Macht besitzt, erneut zu einem Zentrum zu werden, von dem man seinen Ausgang nehmen kann. Man muss den antiken Steinen zuhören oder auf ein Neues lernen, ihnen zuzuhören, wie es im Übrigen berühmte Reisende aus ganz Europa taten – von Goethe über Shelley bis Chateau-
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briand. Einem aufmerksamen Betrachter präsentieren sich die Ruinen als ›Rhizome aus Stein‹, als verzweigte Wurzelgeflechte mit Enden im Boden, die Nährstoffe bieten, oder besser gesagt: substanzielle Nahrungskanäle. Ich denke, dass die Ruinen zentrale Knotenpunkte unserer Erinnerung darstellen. Dazu sind jedoch eine gute Erziehung und Ausbildung zur Lektüre der Überreste unentbehrlich – welche Geschichte diese auch immer besitzen mögen. Die Wahrnehmung der Ruine als einem Ort, der seinem Betrachter eine ›Lehre‹ vermittelt, war bis Ende des 19. Jahrhunderts äußerst lebendig, so dass es zur Herausbildung von künstlerischen und literarischen Gattungen kam, die sich speziell mit diesen Orten der Erinnerung beschäftigten. Im 20. Jahrhundert hat sich diese Form der Wahrnehmung zunehmend aufgelöst, wodurch es im Leben des modernen Menschen einen Reflexionsraum, ein notwendiges Moment des Innehaltens und der kritischen Distanz weniger gibt. Fast scheint es so, als käme die ästhetische Wertschätzung der Ruinen inzwischen mehr und mehr einem eitlen Vergnügen an kostbaren Schmuckstücken gleich. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren prächtige Fächer mit Szenarien römischer Überreste in Gebrauch. Die Kulturanthropologie in ihrer Beschäftigung mit Symbolen lehrt uns, diesen Phänomenen das nötige Gewicht beizumessen, welche uns auf eine kollektive Gefühlslage hinweisen, die auch in ihren äußerlichsten Manifestationen nicht ganz frei ist von affektiver Aufladung und bedeutendem Gehalt.
Ruine und Memento Eine weit verbreitete Annahme geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg von Seiten des italienischen Volkes kein ›gefühlter‹ Krieg gewesen sei, sondern ein erzwungener Krieg, ein Krieg, der am Besprechungstisch entschieden wurde, in einem diktatorischen Klima, das eine – psychologisch betrachtet – ungeheure Anstrengung darstellte, die gleichwohl unnütz war. Bereits während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, gezeichnet vom Ersten Weltkrieg, war man dabei, auf mühselige und hartnäckige Weise die Bestimmung der Modernität zu erfüllen; in Italien war eine Mittelklasse dabei zu entstehen, die mit der richtigen Ausrichtung und Bildung tatsächlich eine Ressource für die soziale Entwicklung hätte darstellen können. Aber dies war nicht der Fall. Das italienische Kleinbürgertum, aus bescheidenen Verhältnissen kommend, kaum gebildet, ohne laizistische Traditionen, eingemummt in ein kleinliches Spießbürgertum, verankert in einem autoritären Katholizismus und wenig dazu geneigt, die strukturelle Wichtigkeit des staatsbürgerlichen
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Gewissens anzuerkennen (ein typisches Charakteristikum der italienischen katholischen Kultur vor dem zweiten Vatikanischen Konzil), war wie hypnotisiert von den Slogans, die den Faschismus vorbereiteten. Darüber hinaus existierte natürlich noch ein anderes Italien, das Italien der Berufstätigen und der Intellektuellen, eine tief in den republikanischen Werten verankerte Gesellschaftsschicht, die traditionell an bestimmte regionale Kulturen – die der Romagna, der Toskana und der Lombardei – gebunden war. Als die Eltern der heute Fünfzigjährigen in den Krieg zogen, waren sie etwa dreißig Jahre alt, mit Lebensläufen und beruflichen Karrieren, die sie gerade begonnen hatten und die nun bereits wieder unterbrochen wurden. Sie brachen ungläubig und paradoxerweise ohne jeglichen Idealismus in einen Krieg auf, in der Erwartung eines unumgänglichen Verhängnisses. Viele von ihnen starben oder wurden gefangen genommen, deportiert von denjenigen, die kurz zuvor noch ihre Verbündeten gewesen waren. Andere kehrten nach Hause zurück und sahen ihr einstiges Lebensumfeld gezeichnet von schweren Kämpfen. Nicht mehr jung stiegen sie aus dem Zug, der sie nach Hause brachte – wenn es dort überhaupt noch Bahnhöfe gab – und fanden bombardierte Städte vor, oftmals dermaßen stark zerstört, dass sie den Heimkehrenden keine Orientierung mehr ermöglichten und keine vertrauten Zeichen der Vergangenheit mehr enthielten. Dies ist die am häufigsten wiederkehrende Geschichte einer Generation, welche die Erfahrung des Krieges durchlebte: die Erfahrung der Todesangst, der Erschwernisse des alltäglichen Überlebens bedingt durch Mangel an Lebensmitteln und essentiellen Gebrauchsgütern, der Sorge um diejenigen, die in den Krieg gezogen waren und des Schmerzes um diejenigen, die nicht wieder kamen. Die Heimkehr stellte für die meisten Menschen eine qualvolle Erfahrung dar. Ein Gefühl des unerträglichen Schmerzes war im kollektiven Unterbewusstsein Europas zurückgeblieben, das seinen Ausdruck in einer im wahrsten Sinne photographischen ›Besessenheit‹ fand: gleichsam in einer ›Sucht‹ nach verwüsteten Landschaften, die bis ins kleinste Detail erforscht und dokumentiert wurden, auf der Suche nach ›etwas‹, das sich unter den Trümmern verbarg. Das Film- und Photomaterial aus dieser Zeit ist überreich und wird nicht nur in den Archiven des staatlichen Bauamts oder des Istituto Luce aufbewahrt, sondern auch in vielen kleineren städtischen Sammlungen, die voll von den Bildern der Zerstörung sind. Seit Ende der vierziger Jahre wurden sie jedoch nicht mehr betrachtet oder in Umlauf gebracht und erst in jüngerer Zeit tauchen diese Dokumente wieder auf großen, didaktisch angelegten Ausstellungen wie der bereits erwähnten in Mailand wieder auf.
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Im zeitgenössischen Kino stellte ein bissiger Polanski in einem der intensivsten Momente seines Films Der Pianist (2002) den Zustand der Verwirrung des Protagonisten, eines polnischen Juden, beim Anblick des dem Erdboden gleichgemachtes Warschaus dar. Die schockartige Erfahrung des Verlustes der persönlichen Erinnerungen, der Zerstörung des Netzwerks der Stadt, die einer Vernichtung der eigenen Glieder, der eigenen Lebensnerven gleichkommt, wurde nie vollständig verarbeitet und zeichnet das kollektive Unterbewusstsein bis heute. Sie wurde zu einer definitiven ›Kriegsneurose‹, die diese Generation erfasste. Vielen gelang es, gegen sie anzukämpfen, nach Vorne zu blicken, in anscheinender Sorglosigkeit oder häufig auch das Geschehene beiseite schaffend, ohne die Pause einer notwendigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Doch die Ruine, das lehrt ihre Geschichte, muss eine Zeit der Reflexion mit sich bringen. Die Ruine ist aus anthropologischer Sicht in ihrem Kern ein Erinnerungsobjekt, ein Memento. Ganz gleich, ob sie nun der Vergangenheit oder der Gegenwart angehören mag, zeigt sie ein tiefgehendes Nachdenken über die eigene Identität, über die Grundlagen der individuellen Existenz an; ihre festen und lebendigen Wurzeln bilden das Fundament für unsere Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit den Ruinen stellt keine einfache Aufgabe dar und ist nicht jedermanns Sache. In einem Essay in Luftkrieg und Literatur (1999) greift W. G. Sebald ein Bild aus Hans Erich Nossacks Erzählung Der Untergang (1943) auf, in der beschrieben wird, wie Menschen in einem Vorort des bombardierten Hamburg sorglos auf ihren Balkons sitzen und Kaffee trinken6 – ein verblüffendes Beispiel eines Beiseiteräumens des Geschehenen, das auch in einem bekannten Essay von Hannah Arendt mit dem Titel Rückkehr nach Deutschland untersucht wurde. In dem kurzen, zwischen 1949 und 1950 entstandenen Text analysiert die aus dem amerikanischen Exil in ihre Heimat zurückgekehrte Philosophin scharfsinnig das Verhalten ihrer Landsleute und enthüllt dabei deren inakzeptable und unbegreifliche, unerschütterliche Gleichgültigkeit. Arendt bemerkt: Der Anblick, den die zerstörten Städte in Deutschland bieten, und die Tatsache, daß man über die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Bescheid weiß, haben bewirkt, daß über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt. Beides zusammen hat dazu geführt, daß man sich an den vergangenen Krieg schmerzlicher und anhaltender erinnert und die Angst vor künftigen Kriegen an Gestalt gewinnt.7
6 Nossack 1987: 23; vgl. Sebald 1999. 7 Arendt 1993: 24. 91
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Und weiter: Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert […].8
Und schließlich heißt es: Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlichen Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden.9
Mit eindrücklicher Offenheit stellt Hannah Arendt jedoch auch das Ausmaß der Zerstörung in Berlin und Dresden von Seiten der Amerikaner heraus, durch welche tausend Jahre deutscher Geschichte und Kultur ausradiert worden waren. Nicht zuletzt denkt sie in ihrem Essay über den naturgegebenen Aspekt des Destruktiven im Menschen nach, über die anthropologische Natur des vom Menschen hervorgerufenen Ruins in Bezug auf die menschliche Möglichkeit, das Böse zu tun und zu erleiden. Warum also gibt es den Krieg, mit seiner ungeheuren Vernichtungskraft, mit seinen Toten? Dieser Frage haben sich zwei große Geister der dreißiger Jahre, Siegmund Freud und Albert Einstein, in einem denkwürdigen Briefwechsel aus dem Jahre 1932 gestellt: Warum Krieg? Einstein drückt hier seine Besorgnis über den Wiederholungszwang des destruktiven Instinktes aus und reflektiert über die Notwendigkeit einer Einschränkung des Willens zur Macht durch Organe super partes wie z.B. das Recht. Er schreibt: Das Machtbedürfnis der jeweils herrschenden Schicht eines Staates widersetzt sich einer Einschränkung der Hoheitsrechte desselben. […] Wie ist es möglich, daß die soeben genannte Minderheit die Masse des Volkes ihren Gelüsten dienstbar machen kann, die durch einen Krieg nur zu leiden und zu verlieren hat. […] Die Antwort kann nur sein: Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten. Diese Anlage ist in gewöhnlichen Zeiten latent vorhanden und tritt dann nur beim Abnormalen zutage; sie kann aber verhältnismäßig leicht geweckt und zur Massenpsychose gesteigert werden. […] Ich denke da8 Ibid: 24f. 9 Ibid.: 25. 92
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bei keineswegs nur an die sogenannten Ungebildeten. Nach meinen Lebenserfahrungen ist es vielmehr gerade die sogenannte ›Intelligenz‹, welche den verhängnisvollen Massensuggestionen am leichtesten unterliegt, […].10
Einstein beschreibt die Gefahr einer Ausrichtung auf jene realitätsfremde gesellschaftliche Komponente, die in ihrer Abgespaltenheit von der Welt ruinöse Utopien nährt. Die Entfernung von der Realität in allen ihren Aspekten ist die Ursache einer ›ruinösen Suggestion‹, die dann zu einem verhängnisvollen Verhalten wird. Die Grundzüge dieses für die heutige westliche Welt typischen Verhaltens, das stark durch einen ausgeprägten Individualismus sowohl einzelner Personen als auch sozialer Gruppen geprägt ist, wurden in bislang unübertroffener Weise von Ludwig Binswanger in seinen Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit (1956) beschrieben. Das sogenannte ›manieristische‹ Verhalten, das Binswanger hier bestimmt, ist erfüllt von einer Mythomanie, die Ziele jenseits jedes konkreten Zusammenhangs schafft, von einer in die Irre führenden Absolutheit, in einer Fixierung auf das Objekt im wahrsten Sinne des Wortes. In Warum Krieg? wirft Einstein die Frage auf: »Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, daß sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?«11 Anscheinend nicht, antwortet Freud, wenn keine Einschränkung der eigenen individuellen Übertreibungen und Ansprüche erfolge, wodurch die eigene Schwelle in Richtung des anderen verschoben würde. Beide Schreibenden kommen hinsichtlich der Notwendigkeit der Vervollkommnung der UNO überein und hinsichtlich der tatsächlichen Justierung einer Anthropologie des internationalen Rechts; ein Thema, das von einer Forschungsrichtung der Phänomenologie wieder aufgenommen wurde, in Italien insbesondere von Enzo Paci. Il filosofo e la città ist ein guter Essay der siebziger Jahre, in dem der Autor daran festhält, dass die westlichen Demokratien trotz ihrer offensichtlichen Unvollkommenheit aufgrund ihrer langen Geschichte von Konflikten und – aus aktueller Sicht – ihres Wohlstands große Verantwortung trügen und die Werkzeuge hätten, den schwächeren Komponenten in ihrem Inneren sowie den anfälligeren Gesellschaften, mit denen sie in Kontakt träten, Unterstützung zu leisten. Im Hinblick auf die Tragödie des Zweiten Weltkrieges und mit besonderer Bezugnahme auf den Abwurf der Atombombe nahm in den fünfziger Jahren Gustav Jung den Diskurs erneut auf, indem er konstatierte, dass die Menschen stets die selben seien – nicht etwa mehr oder 10 Einstein/Freud 1972: 18-20. 11 Ibid.: 20. 93
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weniger grausam als in der Vergangenheit, dafür aber mit Sicherheit mit wesentlich wirksameren todbringenden Techniken ausgestattet, die ihnen das Potential liefern, den Planeten zu zerstören. Der Konflikt zwischen menschlichen Gemeinschaften ist Bestandteil der Menschheitsgeschichte und ist, wie Einstein schreibt, »die repräsentativste und unheilvollste, weil zügelloseste Form des Konflikts unter menschlichen Gemeinschaften.«12 Die Technik erhöht, in einer ihrer verwerflichen Anwendungen, unbegrenzt diese Komponente, wenn sie nicht durch Recht oder durch Ethik kontrolliert wird.
Abermals: Ruinen des Krieges Der große italienische Regisseur Roberto Rossellini bot in Germania anno zero (1947) einen unvergesslichen Querschnitt durch das zerstörte Berlin zu Deutschlands ›Stunde Null‹. Der Film dokumentiert und zeigt exemplarisch die sozialen Verhaltensmuster der Nachkriegsgesellschaft auf. Der Ernst jener Bilder von einer Leere, die noch Leichengeruch ausdünstet, drängt sich auch heute mit Intensität auf. Eine der ersten Sequenzen setzt die Typologie einer den Menschen sehr am Herzen liegenden Arbeit ins Bild: das Begraben der Toten – auch an dafür nicht bestimmten Orten. Um in den wenigen noch stehen gebliebenen Häusern zu überleben, hat die Gesellschaft der Erwachsenen, beschäftigt mit der dramatischen Lösung der Probleme des Alltags, keinerlei Zeit dafür, über das Geschehene nachzudenken. Die einzige Figur, die die realen Verantwortlichkeiten beleuchtet, ist der alte kranke Vater der Familie, der im Zentrum des Films steht. Germania anno zero ist eine bildgewaltige Erzählung, die am Beispiel eines heranwachsenden Jungen, dem der Film auch gewidmet ist, die verwerfliche und unmenschliche Erziehung dokumentiert, der die Hitlerjugend unterworfen war. Der zehnjährige Edmund fällt durch die Rede eines ehemaligen Lehrers einem unheilvollen Mythos von körperlicher Kraft und Gesundheit zum Opfer, der auf doppeldeutige Weise mit einem Sinn für Frömmigkeit vermengt ist und der ihn schließlich dazu bringt, seinen alten, kranken Vater zu vergiften, woraufhin er von Schuldgefühlen gequält Selbstmord begeht. Rossellini zeigt mit seinem Film die enge Relation zwischen den materiellen Trümmern einer Gesellschaft und den Trümmern des menschlichen Seins auf – eines, wie der Fall des jungen Edmund sichtbar macht, jugendhaften, lebendigen und nach Bedürfniserfüllung strebenden Seins. Er zeigt Ruinen, die noch immer von unehrlichen und grausamen Men12 Einstein/Freud 1972: 20. 94
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schen bewohnt sind, von Räubern und Leichenfledderern, und enthüllt in diesen Sequenzen das ganze Ausmaß der menschlichen Zerstörung. Der Selbstmord des Jungen, Höhepunkt dieser blinden Wut, findet seine Zugehörigkeit in der pars destruens des homo duplex; ein immer präsenter Aspekt des Menschlichen, auch in der Banalität des Bösen. Der Film beginnt mit den lapidaren Worten einer Stimme aus dem Off: »Questo film è stato fatto per ricordare […] e perché questi fatti non debbano più accadere.«13 Die didaktische Funktion der Ruine besteht in der Signalisierung eines Sinnes für Grenzen, in der Erinnerung daran, wie wichtig und weise die Beherrschung der eigenen Macht ist. Der Sinngehalt, den die Ruine demonstriert, besteht in einem Hinausschieben der Schwelle der eigenen Instinkte und damit einer Zügelung derselben. In diesem Verständnis kann Rossellini sich selbst als Epigone einer Schule des Denkens erachten, die die Ruine in einer sehr laizistischen Weise begreift, wie z.B. Montaigne, als ein apprendre à mourir, in Erinnerung daran, wie fragil und unbeständig das Leben ist. Mit seinem Film lädt uns Rosselini dazu ein, uns als Geschöpfe unter anderen zu erachten, welche Geschichte wir auch immer haben mögen. In dem Film Jeux interdits (1952; dt.: Verbotene Spiele) des Regisseurs René Clément kehrt die Thematik der durch den Krieg hervorgerufenen menschlichen ›Ruinen‹ wieder, jedoch mit einem anderen Akzent. Der Film erzählt die Geschichte eines fünfjährigen Mädchens, dessen Eltern beim Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 in einem Bombenhagel ums Leben kommen. Von einer armen Bauernfamilie aufgenommen erfindet sie zusammen mit den anderen Kindern ihrer neuen Umgebung ein makabres Spiel: Die Kinder errichten einen kleinen Friedhof, in welchem sie Insekten, Spinnen, Schnecken und Regenwürmer sammeln und die kleinen Verstorbenen hier mit einem selbsterfun13 »Dieser Film wurde geschaffen, um zu erinnern […] und weil diese Dinge nicht mehr geschehen sollen.« In der deutschen DVD-Fassung des Films lauten die ersten in Voice-Over gesprochenen Worte: »Dieser Film, der im Sommer 1947 in Berlin gedreht wurde, will nichts anderes sein als ein objektives und wahrhaftes Bild dieser riesigen und fast völlig zerstörten Stadt, in der dreieinhalb Millionen Menschen ein schlimmes verzweifeltes Dasein fristen. Fast so, als seien sie sich dessen gar nicht bewusst. Sie leben in der Tragödie, als sei dies ihr natürliches Lebenselement. Aber das tun sie nicht aus einer Seelenstärke oder Überzeugung heraus, sondern einfach aus Müdigkeit. Hier geht es nicht um eine Anklage gegen das deutsche Volk und auch nicht um seine Verteidigung, sondern um eine sachliche Bestandsaufnahme der Tatsachen. Sollte jedoch jemand glauben, nachdem er diese Geschichte von Edmund Köhler miterlebt hat, es müsste etwas geschehen, man müsste den deutschen Kindern beibringen, das Leben wieder lieben zu lernen, dann hätte sich die Mühe desjenigen, der diesen Film gemacht hat, mehr als gelohnt.« Anm. d. Übers. 95
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denen Ritual beerdigen. Der Film thematisiert die instinktive und menschliche Verarbeitung des Todes, die notwendigen Rituale, die einer derartigen Verarbeitung dienen, sowie die Traditionen der Trauer und des Schmerzes. Sich um die Reste der Dinge und der geliebten Personen zu kümmern entspringt einem Gefühl der Liebe und Achtung für den Anderen – aber auch einer Form des Selbstschutzes, einer (oftmals brutalen) Eigenliebe. Der Film Jeux interdits zeigt eine Möglichkeit auf, ein traumatisches Ereignis zu überstehen. Als Alternative zu dieser Form der Trauerarbeit bietet sich das vollständige Auslöschen einer schmerzhaften Erinnerung an – eine Form des Beiseiteschiebens der Vergangenheit, die von der Gesellschaft, welche aus dem Zweiten Weltkrieg in Italien wie auch in Deutschland hervorging, in unverantwortlicher Weise praktiziert wurde. Jeder Einzelne hat Teil an den ›Ruinen‹ einer Gesellschaft, sicherlich nur partiell, aber niemals in so geringem Ausmaß, wie man es gerne hätte. Die gesellschaftliche Realität der Nachkriegszeit sowie deren Diskrepanzen werden ein weiteres Mal in einem Film von Roberto Rossellini ins Licht gerückt. In Europa 51 (1951/52) zeigt der Regisseur eindrücklich die abgründige Leere einer führenden Schicht der Nachkriegszeit, der der tiefere Sinn für die existenziellen Realitäten nicht nur in familiärer, sondern auch in sozialer Hinsicht fehlt. In diesem Fall betrachtet der Regisseur einen typischen sozialen Zusammenhang der italienischen Gesellschaft jener Jahre. Eine reiche bürgerliche Familie aus Rom, im Zeitalter der wieder florierenden Wirtschaft, ist hypnotisiert von der Faszination des Neuen, ohne die Defekte, die dieses mit sich bringt, wahrzunehmen. Erneut wird hier ein Jugendlicher zum Opfer eines Mangels an Gewissen und einer deformierten Gesellschaft: Ein Junge, der sich von seinen zerstreuten und abwesenden Eltern vernachlässigt fühlt, begeht Selbstmord, indem er sich während eines offiziellen Empfangs der Eltern eine Treppe hinunterstürzt. Die Mutter, gespielt von einer glänzenden und unruhigen Ingrid Bergmann, versucht daraufhin sich von dem Vorgefallenen zu befreien, indem sie ihr Leben der Hilfe für bedürftige Familien in den Barackenvorstädten der römischen Provinz widmet. In Europa 51 kehrt das Motiv des tragischen Kindsfreitodes wieder – ein Motiv, dass sich nicht zufällig im Kino des Neorealismus sowie der Nouvelle Vague wiederholt: Der leidende Jugendliche, bedürftig nach Zuwendung, nach kultureller Bildung sowie nach Strukturen und funktionierenden Institutionen, wird zum Symbol der italienischen und allgemein der europäischen Gesellschaft der Nachkriegszeit. Die stummen Tragödien einer in jener Epoche verlorenen Kindheit entwickeln sich, zusammen mit anderen menschlichen Dramen, zu einem
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thematischen Kern des italienischen Neorealismus. In Vittorio De Sicas Filmen Sciuscia (1946), Ladri di Biciclette (1948) und Miracolo a Milano (1950) wird ein Italien der Barackenvorstädte gezeigt, ein Italien der Magnaten und der unrechtmäßig für private Interessen verkauften und verschwundenen Städte. De Sicas Film Umberto D. (1952) zeigt die ›Ruinen der Einsamkeit‹ und erzählt auch eine Geschichte über den Rückstand Italiens bei der Strukturierung einer gewerkschaftlichen Bewegung zum Schutze der Schwächsten. Das Zerreißen des Gefüges einer städtischen und modernen Zivilisation klingt noch in den siebziger Jahren im Kino von Pasolini nach, wo die Problematik der Arbeitslosigkeit und der schlechten Lebensbedingungen in der Peripherie von Rom in Accattone (1961) und in Mamma Roma (1962) mit einer Rohheit vorgeführt wird, die einem einen Stich versetzt. Hier liegt sicherlich eine europäische pars construens am Tage nach der Kriegszerstörung vor. Aber allzu häufig bestimmte die allgemeine Ängstlichkeit, über den Zusammenbruch hinweg zu kommen, und die Notwendigkeit einer Modernisierung prekäre Lösungen, eine zusammenhanglose und verpfuschte Art von Lösungen; die Städte entstanden erneut, doch tatsächlich ohne regulierende Pläne, der wirtschaftliche Boom bedeutete auch Abwesenheit einer Methode, einer programmatischen Intelligenz. Unübertroffen in dieser Hinsicht ist die Analyse des laizistischen Intellektuellen Giulio Carlo Argan in einem Essay mit dem emblematischen Titel Progetto e destino (1976). Auch für Argan fehlte ein Projekt, das die Grundzüge einer neuen Gesellschaft festlegen würde, mit stark differenzierten Ansprüchen und Notwendigkeiten in ihrem Innern, die einem zutiefst ungleichen Italien eigen sind, mit äußerst starken Ansammlungen von Macht, die die Hegemonie über die Anderen hat, mit enormen wirtschaftlichen Differenzen innerhalb des Territoriums. Der stärkeren Seite war die andere auf drastische Weise gleichgültig, sie kaufte Gemeindeland, um darauf untaugliche Gebäude an den falschen Stellen zu errichten, man erbaute schlecht angebundene Vororte in gesundheitsschädlicher Umgebung, die somit seit ihrer Entstehung bereits verkommen waren. Im Gegensatz zu zivilisierteren Ländern Europas baute der italienische Staat – jener der Regionen, der Kommunen – kein Italien nach der in Nordeuropa stark verbreiteten Praktik auf, die auch in Deutschland eine feste Tradition gehabt hatte: nämlich einer institutionalisierten und transparenten Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Interessen. Außer in einigen sporadischen Fällen überließ man dem privaten ›Welfare‹ die unqualifiziertesten Initiativen zur Zerstörung des natürlichen und des kulturellen Erbes.
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Der Wiederaufbau Italiens wurde dank eines hohen Kredites von Seiten der USA ermöglicht, der horrende Kosten mit sich brachte – Schulden, die ein großes Hindernis für die Freiheit des demokratischen Lebens unseres Landes darstellten, insbesondere nach den Geschehnissen in Prag im Jahre 1968, als Italien der mediterrane Korridor der USA wurde, als zahlreiche politische Strömungen heranreiften und wuchsen, einhergehend mit einem kulturellen und wirtschaftlichen Wachstum der Nation. Zu jener Zeit beginnen die noch unerforschten und ungelösten Rätsel der Anschläge, jene von Brescia, jenes von Piazza Fontana in Mailand – weitere ›Ruinen‹, die noch nicht ausreichend erforscht wurden. Aber wie ist es möglich, dass ein bewusstes und gesundes Land sich noch keinen Einblick in diese Unglücke des Schreckens und Todes verschafft hat? Es ist zu hoffen, dass ein erweitertes europäisches Bewusstsein nicht nur unsere wirtschaftlichen Vorgehensweisen stärken und strukturieren, sondern auch eine schärfere Sicht auf die zahlreichen, ungelösten Probleme ermöglichen und damit eine neue Basis der intellektuellen Ehrlichkeit für die kommenden Jahre schaffen wird.
Filme Metropolis (Fritz Lang, Deutschland 1926/27) Der Pianist (Roman Polanski, Frankreich et al. 2002) Germania anno zero (Roberto Rossellini, Italien 1947) Jeux interdits (René Clément, Frankreich 1952) Europa 51 (Roberto Rossellini, Italien 1951/52) Sciuscia (Vittorio De Sica, Italien 1946), Ladri di Biciclette (Vittorio De Sica, Italien 1948) Miracolo a Milano (Vittorio De Sica, Italien 1950) Umberto D. (Vittorio De Sica, Italien 1952) Accattone (Pier Paolo Pasolini, Italien 1961) Mamma Roma (Pier Paolo Pasolini, Italien 1962)
Literatur Auletta Marrucci, Rosa et al. (Hg.) (2004): Bombe sulla città. Milano in guerra 1942-1944 (Catalogo della Mostra tenuta a Milano, Museo del Risorgimento, 21 febbraio-9 maggio 2004), Mailand.
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Arendt, Hannah (1993): Besuch in Deutschland. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Portrait von Ingeborg Nordmann, Berlin/Nördlingen. Argan, Giulio Carlo (1976): Progetto e destino, Mailand. Benjamin, Walter (1991): Über den Begriff der Geschichte, These IX. In: Ibid.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M., S. 691-704. Binswanger, Ludwig (1956): Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, Tübingen. Crainz, Guido (2005): Il paese mancato, Rom. Durkheim, Émile (1897): Le suicide. Étude de sociologie, Paris. Einstein, Albert/Freud, Siegmund (1972): Warum Krieg? Mit einem Essay von Isaac Asimov, Zürich, S.7-21. Gallini, Clara/Faeta Francesco (Hg.) (1999): I viaggi nel sud di Ernesto De Martino. Fotografie di Arturo Zavattini, Franco Pinna e Ando Gilardi, Turin. Huizinga, Johan (1948): Geschändete Welt. In: Ibid.: Schriften zur Zeitkritik, 2 Tle. in 1 Bd., übers. v. Werner Kaegi u. Wolfgang Hirsch, Zürich. [Orig.: Geschonden wereld, Amsterdam 1945] Jung, Gustav (1957): Gegenwart und Zukunft. In: Schweizer Monatshefte (Sonderbeilage März 1957). Marchetti, Antonio (2004): La Pescara di Flaiano, Mailand. Nossack, Hans Erich (1987): Der Untergang. In: Ibid.: Die Erzählungen, hg. v. Christof Schmid, Frankfurt a.M., S. 7-53. [1943] Paci, Enzo (1979): Il filosofo e la città, Mailand. Rossi, Aldo (1988): Wissenschaftliche Selbstbiographie. Aus dem Italienischen übertragen von Heinrich Helfenstein, Berlin/Bern. [Orig.: Autobiografia scientifica, Mailand, 1988] Savinio, Alberto (1989): Stadt, ich lausche deinem Herzen. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl, Frankfurt a.M. [Orig.: Ascolto il tuo cuore, città, Mailand 1944] Sebald, W[infried] G[eorg] (1999): Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München/Wien. Serao, Matilde (2002): Il ventre di Napoli. Edizione integrale a cura di Patricia Bianchi. Con uno scritto di Giuseppe Montesano, Rom. [1884] Übersetzung: Andreas Böhn (unter Mitwirkung von Gülsen Ergün)
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DAS ZERSTÖRTE GESICHT DER STÄDTE. ›KONKURRIERENDE GEDÄCHTNISSE‹ IM NACHKRIEGSDEUTSCHLAND (WEST) 1945-1960 GÖTZ GROSSKLAUS Vergeblich bleiben alle Versuche, die düstere, traumatische Vorgeschichte der Bundesrepublik von ihrer glänzenden Aufstiegsgeschichte seit 1949 zu trennen. Die Erinnerung an die Katastrophe von 1945, an den totalen moralischen und mentalen Zusammenbruch, an die psychischen und physischen Verwüstungen begleitet als dunkler unterirdischer Strom die Oberflächengeschichte der wiedererlangten zivilisatorischen Normalität. Von Mal zu Mal aber treten die Erinnerungen aus dem kollektiven Unbewussten wieder an die Oberfläche des Bewussten. Die Traumata des Verlustes kollektiver Identität, der Einbuße aller vertrauten kulturellen Sicherheiten und geschichtlich-sozialer Orientierung, die Traumata von Erniedrigung und Demütigung, von Schuld und Schande haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und haben den gesellschaftlichen Körper gezeichnet. Die traumatische Erfahrung einer Existenz außerhalb des vertrauten sozialen und kulturellen Schutzraums – eines Überlebens auf jenem »riesigen Schuttplatz jenseits der Ränder der bekannten Welt«1, wie Ernst Jünger schon die Schlachtfelder des ersten Weltkrieges beschrieb, – konnte nicht vergessen werden, lediglich konnte sie zeitweilig verdrängt, verschoben oder tabuiert werden. Verbunden waren diese millionenfach gemachten traumatischen Erfahrungen mit den Gefühlen absoluter Entfremdung. Die bewohnte Welt hatte alle vertrauten Konturen verloren. Die Ruinenfelder der bombardierten Städte und die Leichenfelder hinter den jetzt geöffneten Toren und Zäunen der Konzentrationslager tragen die Signaturen einer »bösartigen Naturlandschaft«2, deren Fremdheit sich in der totalen Auslöschung des kulturellen Raums und der Tilgung der zivilisatorischen Struktur erweist. Das Trauma absoluter Fremdheit wird später, nach 1949, zum Antrieb einer angestrengten Suche nach neuer wiederzugewinnender Vertrautheit im Raum – nach Formen zurückzuerlangender Nähe und Trauer um die Toten. Die 1 Jünger 1994: 118. 2 Ibid.: 123. 101
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Erfahrung aber eines radikalen Fremd-Werdens der Lebenswelt fällt zusammen mit dem Zusammenbruch aller symbolischen Systeme, die Wiedererkennen und Identität ermöglichen. Die Katastrophe des Herausfallens aus der Ordnung aller kulturellen Übereinkünfte und aller Grundannahmen bezüglich eines »kontinuierlichen Fortbestandes der gewohnten Welt«3 hatte sich zunächst für Millionen von Opfern in den exterritorialen Zonen der Lager ereignet. Im Untergang ihrer Schreckensherrschaft geraten die Täter mit der Masse aller Mitläufer und Unschuldigen selbst in den Sog der von ihnen initiierten Aufkündigung aller human-zivilisatorischen Übereinkünfte. Deutschland als Ganzes versinkt 1945 nicht nur in Chaos und Anarchie, es sinkt herab auf einen quasi-vorzivilisatorischen Zustand. Die totale Verwüstung seiner Stadt-Landschaften zeigt das Antlitz des Unmenschlichen – so wie es die Sieger sahen Das US-Army-Signal-Corps dokumentiert in einer Fülle von Photographien und Filmen diese Sicht: Die Vergeltung, so zeigen diese Photographien, ist streng und gerecht und in Wahrheit schön. Städte repräsentieren die Kultur eines Landes. Ihre vollkommene Verwüstung – ihr zerstörtes Gesicht – ist aus der Nähe schwierig anzusehen, da der Eindruck alles Menschlichen zerstört ist. Deutschland ist unmenschlich, weil seine Städte zerstört sind und seine Städte sind zerstört, weil es sich gezeigt hat, daß die deutsche Kultur unmenschlich ist. Keine Zerstörung ist umfassend und endgültig genug angesichts dieser Unmenschlichkeit, die nur aus der großen Distanz des Siegers wirklich, d.h. richtig gesehen werden kann.4
Eine differenziertere Beobachtungsposition war von den Alliierten in ihrer Gewissheit des absoluten Sieges des Guten und der absoluten Niederlage des Bösen nicht zu erwarten.5 Der britische Kriegsreporter Leonard O. Mosley beschreibt Hannover im April 1945: Eine bedrücktere und desolatere Stadt hatte ich nie zuvor gesehen. Sogar aus der Entfernung von fünf Meilen war die Verwüstung grauenhaft. Hannover sah einer Wunde in der Erde ähnlicher als einer Stadt. Als wir näher kamen, suchte ich nach den vertrauten Wegzeichen, aber die Verwandlung durch die Bomben schien komplett. Nichts konnte ich wiedererkennen; ganze Straßenzüge waren verschwunden, und die Plätze und Gärten und Bäche mit ihnen, alles überschüttet von Ziegeln und Steinen und Schutt.6
3 Sofsky 1993: 101. 4 Barnouw 1997: 11. 5 Ibid.: 10. 6 Leonard O. Mosley (1945): Report from Germany, London. Zit. n. Barnouw 1997: 84. 102
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Und ein 1945 nach Berlin zurückkehrender Emigrant notiert seinen Eindruck von Berlin nach zwölfjähriger Abwesenheit: Der erste überwältigende Eindruck von Berlin, der das Herz schneller schlagen lässt, ist die Transformation alles Menschlichen in diesen unbeschreiblichen Ruinen. Nichts Menschliches ist geblieben. Das Wasser ist verseucht, es stinkt nach Leichen, man sieht die fantastischsten Formen von Ruinen, Ruinen und nochmals Ruinen: Häuser, Straßen, ganze Viertel in Trümmer. Die Zivilisten in diesen Bergen von Ruinen scheinen den Alptraum nur noch zu intensivieren. Wenn man sie sieht, dann hofft man fast, daß sie nicht menschlich seien.7
Die Überlebenden, die hier in den Trümmerwüsten vegetieren, ähneln den Schreckensgestalten, die den Befreiern aus den Konzentrationslagern entgegentaumeln. Semprun beschreibt die Szene seiner Befreiung in Buchenwald 1945 und den Blick, der auf ihn fällt – es ist dieser Blick, der sich des Menschlichen in diesem Gesicht, an diesem Körper nicht mehr zu vergewissern imstande ist – für diese Minuten des Schocks: »Sie stehen vor mir, mit aufgerissenen Augen, und ich sehe mich plötzlich in diesem schreckensstarren Blick, ihrem Entsetzen. – Sie sehen mich an, mit verstörten Augen voller Grauen.«8 Wenn die Rede von »den so sehr verdüsterten Jahren nach 1945«9 gerechtfertigt ist, dann durch die Tatsache, dass sich Menschen – angekommen an einem absoluten Nullpunkt ihrer Existenz – erst jetzt ihres Sturzes aus dem Gefüge der Zivilisation bewusst wurden: Schlagartig und schockhaft offenbarte sich ihnen die Bodenlosigkeit ihres Zustandes. In der Leere und Ödnis der Trümmerflächen bringt sich im konkreten Wortsinn das Nichts zur Anschauung. Im zerstörten Gesicht der Städte erinnert nichts mehr an den Menschen. Dieses Sichtbarwerden des Unmenschlichen, die unmittelbare Anschaulichkeit einer toten und stummen Welt, diese Erscheinung einer »bösartigen Naturlandschaft«10, dieser Einbruch der Fremde in den vormals bekannten vertrauten, mit Sinn ausgestatteten europäischen Kulturraum erscheint als das eigentlich Beispiellose dieser Nachkriegsjahre. Hans Erich Nossack ist einer der frühesten Verzeichner dieser existentiellen Zäsur. Schon im November 1943 berichtet er in seiner Erzählung Der Untergang über die mehrtägige Vernichtungsaktion, die Hamburg im Juli 1943 trifft. Der Text bezeugt den qualitativen Fortschritt in 7
Hans Speier (1981): From the Ashes of Disgrace. A Journal from Germany 1945-1955, Amherst. Zit. n. Barnouw 1997: 276. 8 Semprun 1995: 11. 9 Sloterdijk 1999: 15. 10 Jünger 1994: 123. 103
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der Auslöschung kultureller Areale, in der Maximierung der Tötung pro Sprengstoffeinheit: Oder man war verwüstet und vor Erschöpfung teilnahmslos. Nicht etwa vor Kummer und Schrecken wie es früher war, wenn wir unter zehn Häusern eines zerstört sahen. Dieses eine, aus der Mitte der Lebenden gerissen, konnten wir betrauern und zugleich um das Leben der anderen zittern. Aber nun, wo nichts mehr da war? Nicht die Leiche der Stadt, nicht ein totes Bekanntes, das zu uns sprach: Ach, gestern als ich noch lebte, war ich deine Heimat – nein, zu trauern brauchte man nicht. Was uns umgab, erinnerte in keiner Weise an das Verlorene. Es hatte nichts damit zu tun. Es war etwas anderes, es war das Fremde, es war das eigentlich Nicht-Mögliche.11
Nossacks Notat von 1943 bezeugt jenen Einbruch der radikalen Fremde, die sich im vollkommenen Verschwinden aller Spuren des Menschlichen zu erkennen gibt – und zunächst auch aller Spuren des Natürlichen. Erst später werden Ratten und Fliegen die Stadt beherrschen. Über der Trümmerstätte lastet eine auffällige Stille. »Doch alles ganz schweigsam, ohne Bewegung und Veränderung; des Zeitlichen entkleidet und ewig geworden.«12 Als dergestalt tote Brache fällt der vormals sinn- und zeitbesetzte Raum der Heimat, einer Lebenswelt zurück in den vorzivilisatorischen Status der leeren und bedeutungslosen Wüstenei. Der Raum scheint zurückgekehrt zu vorzeitlichem Schweigen, zu vorzeitlicher Gleichgültigkeit; seine sinnabweisende Stummheit erregt Gefühle des Unheimlichen, des Grauens vor dem Nichts. Dem augenblicklichen Schrecken, sich plötzlich in der Leere eines bedeutungslosen, fremden Raums zu befinden, folgt Apathie und Erinnerungsblockade. Der Außenzertrümmerung des Raums entspricht die Innenzertrümmerung des geschichtlichen Sinns. Der kulturell gestaltete und angeeignete Raum aber muss nach Maurice Halbwachs als jenes Symbolsystem verstanden werden, in dem eine Gruppe ihre kollektiven Erinnerungen dauerhaft niedergelegt hat.13 Der gestaltete Raum von Städten, Siedlungen, Häusern und Wohnungen als »objektivierter Ausdruck« von kollektiver oder individueller Lebenswelt«14 verhilft Gruppen und Individuen dazu, sich in ihm wiederzuerkennen. Im katastrophischen Untergang von Städten in Deutschland bis in die letzten Kriegstage hinein erleiden die Menschen massenhaft die Löschung ihres kollektiven Gedächtnisses, »das sich innerhalb eines
11 12 13 14
Nossack 1963: 44f. Ibid.: 47. Halbwachs 1985: 142; vgl. Greverus 1978: 273f. Greverus 1978: 273. 104
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räumlichen Rahmens bewegt«.15 Mit der Vernichtung dieses räumlichen Rahmens verlieren sie die Möglichkeit des Sich-Wiedererkennens, der Identifikation. Als schwere kollektive Identitätsdiffusionen und -verluste treten diese Löschungen in unterschiedlicher Form erst sehr viel später in Erscheinung; ihre Herkunft aber ist in Deutschland weitgehend tabuiert. Außer Nossack, dessen 1943 entstandener Text 1948 publiziert wird, haben sich wenige Literaten der Katastrophe des Bombenkrieges angenommen – so etwa Alexander Kluge, Gerd Ledig, Arno Schmidt oder neuerdings Walther Kempowski und Dieter Forte –, alle aber mit Abständen von neun bis vierundfünfzig Jahren zur Katastrophe. Was in kollektiver Erinnerung, besonders in den fünfziger Jahren, verschüttet, verdrängt und blockiert wurde, ist offenbar über lange Latenzzeiten im individuellen Gedächtnis der Überlebenden präsent geblieben. 1995 erinnert sich Wolf Biermann in einer kurzen Notiz: Im Stadtteil Hammerbrook lag ich im Sommer 1943 im Zentrum des Fegefeuers unter dem Bombenteppich, den die Alliierten über die Hansestadt gelegt hatten. Fünfzehntausend Menschen verbrannten allein in diesen beiden erleuchteten Nächten. Kein Gesicht, keine Farbe, kein Geruch, keine Situation habe ich je aus dem Gedächtnis verloren. Die Erinnerung an dieses Inferno ist mir eingebrannt wie nichts sonst. Alles vorher, alles nachher habe ich vergessen, aber über diesen Brand könnte ich Ihnen einen Roman schreiben, wenn ich Romane schreiben könnte.16
Gegenüber der grauenhaften Wirklichkeit der Katastrophe scheint die vorausgehende und nachfolgende Geschichte jede Bedeutung eingebüßt zu haben. Die Wirklichkeit der Katastrophe behauptet sich als die einzige, jede andere Wirklichkeit in der Vor- oder Nachgeschichte der Katastrophe gewinnt mehr und mehr Züge des Unwirklichen: eine irritierende Erfahrung im Übrigen, die auch Häftlinge der Konzentrationslager nach ihrer Befreiung machen. Nossack schreibt über die Menschen, die die Katastrophe Hamburgs überlebt haben: »Die Menschen bemühen sich so zu tun, als lebten sie wie vorher […] Aber: Sie wissen, daß es nur Schein ist. Sie glauben nicht daran. Die Kulisse fehlt, die Illusion der Wirklichkeit.«17 Vergleichbar beschreibt Semprun einen Augenblick jähen Erwachens aus einem Alptraum kurz nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager:
15 Halbwachs 1985: 142. 16 Biermann 1995: 180. 17 Nossack 1963: 142. 105
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Ich richtete mich im Bett auf, schweißgebadet, ich hörte den regelmäßigen Atem meiner Freundin […] eine schauderhafte Angst umklammerte mich, trotz der zerreißenden Gewißheit ihrer Schönheit. Dieses ganze Leben war nur ein Traum, war nur eine Illusion. Alles war ein Traum, seit ich den Buchenwald auf dem Ettersberg verlassen hatte: die letzte Wirklichkeit.18
Menschen mit diesen Erfahrungen und Verletzungen begegneten sich in dem verwüsteten Deutschland der Nachkriegsjahre: Überlebende der Konzentrationslager und des Bombenkrieges, heimkehrende Frontsoldaten, Massen von displaced persons, zu denen man auch die Millionen von Vertriebenen aus den alten deutschen Ostgebieten zählen kann – eine Vielzahl von konkurrierenden, gegensätzlichen, gleichartigen, sich ergänzenden und überlappenden Einzelerinnerungen, die so etwas wie das kollektive Tiefengedächtnis einer Zeitstelle oder einer Epoche bilden.19 Die Literatur ist an der Ausbildung eines ›kollektiven Gedächtnisses‹, dem sie einprägsame und sinnfällige Bilder zu übergeben in der Lage ist, stets beteiligt. In unmittelbarer Nähe zu den Katastrophen kann ihr das jedoch nicht gelingen. Die Übersetzung der traumatischen Erinnerungsbilder in repräsentative literarische Bilder bleibt in manchen Fällen jahrzehntelang blockiert. Erst 1994 veröffentlicht Jorge Semprun seinen literarischen Bericht über das Jahr seiner Haft im Konzentrationslager Buchenwald nach einer langen, »bewußten Kur der Aphasie«: Das Gedächtnis von Buchenwald war zu dicht, zu erbarmungslos, als daß es mir hätte gelingen können, auf Anhieb zu einer geläuterten, abstrakten literarischen Form zu finden. Wenn ich um zwei Uhr morgens aufwachte, die Stimme des SS-Offiziers im Ohr, die orangerote blendende Flamme des Krematoriums vor Augen, dann zerbrach die subtile und ausgeklügelte Harmonie meines Plans in schrille Dissonanzen. Nur ein Schrei aus der Tiefe der Eingeweide, nur eine Totenstille hätte das Leiden auszudrücken vermocht.20
Die Archivierung der großen Traumata der Epoche, ihre Einschreibung in das kollektive Gedächtnis erfolgte zögernd, fragmentarisch, von dem ständigen Skrupel begleitet, der erbarmungslosen Dichte des Geschehens nicht gerecht werden zu können. Oder alles ging im Schweigen unter. Wolfgang Koeppen schildert in seinem kurz nach der Währungsreform von 1948 geschriebenen Roman Tauben im Gras einen Schriftsteller, den der Krieg zerstört hat: »[…] er war auf der Walstatt geblieben, auf der 18 Semprun 1995: 186. 19 Friese 1997: 348. 20 Semprun 1995: 192 106
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sich die schändliche Politik und der gemeinste Krieg, Wahnsinn und Verbrechen ausgetobt hatten. Philipp war wie gelähmt und seine Stimme war wie erstickt […].«21 Koeppen entwirft eine fiktive Figur, die doch exemplarisch Züge dieser entwurzelten lost generation trägt, der die Kraft genommen ist, sich zu erinnern, zu sprechen, Zeugnis abzulegen. Auch der autobiographische Antiheld in Hermann Lenz’ Nachkriegsroman Tagebuch vom Überleben und Leben, ein Kriegsheimkehrer und Schriftsteller wie Koeppens Figur, kann über die unmittelbare Vergangenheit nichts schreiben: »Er wollte aufschreiben, was er sich ausdachte und was nie gewesen war, weil ihn alles, was ihm als Soldat und Kriegsgefangener begegnet war immer noch erschreckend anschrie.«22 Der Roman von Hermann Lenz erschien im großen Abstand erst 1978 und lässt vermuten, dass Lenz hier seine eigenen Schrecken erinnert, zu denen er erst dreiunddreißig Jahre später die nötige schriftstellerische Distanz gewann. Aber gerade die Verzögerungen in der Archivierung der epochalen Schrecken und Traumata offenbart den nicht nachlassenden Druck der Nötigung zur Rückkehr an die verschiedenen Orte und Zeitstellen der Verletzung. Und genau dies, die Nötigung zur Rückkehr an den traumatischen Punkt der Katastrophe, gehört zu einer die Oberflächengeschichte der Bundesrepublik begleitenden Tiefengeschichte – bis in unsere Tage. Die Rückkehr, ob literarisch, publizistisch oder wissenschaftlich, ereignet sich in Schüben und sie bezieht sich regelmäßig auf drei Felder unserer traumatischen Hypothek, die mit den geläufigen historischen Ereignis-Chiffren bezeichnet sind: – Auschwitz für den Genozid; – Stalingrad für den Vernichtungskrieg; – Hamburg und Dresden für Massaker und Löschung kultureller Identität. Bekanntlich war die systematische Vernichtung deutscher Städte mit einer halben Millionen Ziviltoter und das Trauma vollkommener Entfremdung im Totalverlust des Herkunftsraums lange Zeit tabuisiert. Die Deutschen »durften sich selbst niemals als Opfer« des von ihnen heraufbeschworenen totalen Krieges und »des Zusammenbruchs ihrer Kultur sehen.«23 In der Konkurrenz der Erinnerungen wurden die Erinnerungen an den totalen Bombenkrieg im offiziellen geschichtlichen Diskurs nicht zugelassen. Am 6. und 9. August 1945 fallen die ersten Atombomben – nicht mehr wie geplant auf deutsche, sondern auf zwei japanische Städte. Der 21 Koeppen 1980: 96. 22 Lenz 1981: 85. 23 Barnouw 1997: 58. 107
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Abwurf setzt ein weltgeschichtliches Datum. Die Menschheit sieht sich mit der Möglichkeit ihrer Selbstauslöschung konfrontiert. Hamburg und Dresden erscheinen als Präludium der atomaren Apokalypse im fernen Japan. Hiroshima und Nagasaki werden zur globalen Chiffre des Untergangs. Spätestens seit Beginn des sogenannten Kalten Krieges mit der Berlin-Blockade im Juni 1948 beherrscht die Menschen, besonders in Europa, wo sich die Großmächte auf deutschem Boden gegenüberstehen, die Angst vor einem atomaren Krieg. Als Teil der Romantrilogie Nobodaddy’s Kinder erscheint 1951 Arno Schmidts Text Schwarze Spiegel – die erste literarische Vision einer nach dem ABC-Schlag untergegangenen Welt. Schmidt lässt seinen AntiRobinson auf dem Fahrrad durch die menschenleere Atomwüste Mitteleuropas nomadisieren. Irgendwo in der norddeutschen Tiefebene baut er sich aus Zivilisationstrümmern seine Hütte. Er siedelt in der schlechtesten aller Welten. Die Geschichte der menschlichen Rasse auf Erden hat ihr Ziel der totalen Annihilitation erreicht. In (realistisch-)zynischer Perspektive: ein Glücksfall. »Und wenn ich erst weg bin, wird der letzte Schandfleck verschwunden sein: das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört.«24 Die negative Utopie erfüllt sich im wahrhaft vollständigen Verschwinden des Menschen und seiner Spur. Die literarische Vision totalisiert damit das, was sich bis 1945 überall in Europa schon partiell ereignet hat. Erst 1955 erscheint in deutscher Übersetzung das bald vergriffene Hiroshima-Tagebuch des japanischen Arztes Dr. Michihiko Hachiya, 1958 von Karl Jaspers Die Atombombe und die Zukunft des Menschen und bald darauf, 1959, beginnt Günther Anders seinen Briefwechsel mit dem in Amerika psychatrisierten Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. Die literarische, philosophisch-ethische und autobiographische Thematisierung atomarer Annihilation verbindet sich Ende der fünfziger Jahre mit dem politischen Protest gegen den Plan der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr. Das Göttinger Professoren-Manifest gegen die atomare Bewaffnung von 1957 gehört natürlich in diesen Kontext. Aus unmittelbarer Nähe zum Geschehen beschreibt Hans Erich Nossack in seinem poetisch-dokumentarischen Bericht den realen und lokalen Untergang Hamburgs 1943, den die Betroffenen aber selbst schon paradigmatisch als ein translokales Ereignis erfahren und für das sie die uralten Bilder des ›Jüngsten Gerichtes‹, der ›Sintflut‹, des apokalyptischen Endes allein für angemessen halten. Arno Schmidt entwirft in den Schwarzen Spiegeln von 1951 ein zukünftiges, globales Szenario, in das, über Hamburg und Dresden hinaus, der Schock des Atombombenabwurfs vom August 1945 eingeht. Die Annihilation ist diesmal perfekt 24 Schmidt 1953: 193. 108
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und total. So stehen ›Sinnbilder‹ wie etwa ›Jüngstes Gericht‹ oder ›Sintflut‹ nicht mehr zur Verfügung; es ist das Ende der Angemessenheit irgendeines Begriffs oder Sinns. Im Verschwinden des Menschen und seiner kulturellen Spur ist die aufklärerische Idee eines vernunftgeleiteten Fortschreitens der Menschheit getilgt und ad absurdum geführt. Die Texte Nossacks und Schmidts gehören zu einem kleinen Kanon von radikalen Texten, die zwischen 1945 und 1950 entstehen und die unmittelbar Zeugnis ablegen von einem fundamentalen Erschrecken: Auschwitz – Stalingrad – Hamburg – Dresden – Hiroshima – Nagasaki sind die epochalen Chiffren dieses Erschreckens. Zu diesen primären Zeugnis-Texten der ersten Nachkriegsjahre zähle ich: 1. Paul Celans berühmte, schon 1945 entstandene Todesfuge. Das Gedicht erscheint 1947 in einem ersten Band mit dem Titel Der Sand aus den Urnen, später, 1952, in der Sammlung Mohn und Gedächtnis. »[…] der Tod ist ein Meister aus Deutschland/er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft/dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng.«25 2. Wolfgang Borcherts Stück Draußen vor der Tür, geschrieben im Herbst 1946, als Hörspiel erstmals im NWDR am 13.2.1947 gesendet, uraufgeführt am 21.11.1947 – einen Tag nach dem Tode des Dichters. 3. Arno Schmidts Leviathan oder Die Beste der Welten von 1949 und Schwarze Spiegel von 1951. 4. Hans Erich Nossacks Der Untergang von 1943/1948 und Nekyia. Bericht eines Überlebenden von 1947. 5. Theodor Plieviers Stalingrad, verfasst im Moskauer Exil des Autors, erschienen 1945 in Moskau, erst 1958 in Deutschland. 6. Primo Levis Ist das ein Mensch?, 1947 erschienen in Italien unter dem Titel Se questo è un uomo?, 1961 in deutscher Übersetzung; 7. Günther Weisenborns Theaterstück Die Illegalen von 1946. Dies ist der Kanon der ersten Stunde. Das kollektive Gedächtnis, heißt es bei Paul Ricoeur, lässt sich »als eine Spurensammlung der für den historischen Verlauf einer bestimmten Gruppe markanten Ereignisse bezeichnen […].«26 Der Kanon kann als eine derartige authentische Spurensammlung verstanden werden: er konstituiert das kollektive Gedächtnis, das traumatische Ereignisse dieser Epochen-Zeitstelle bewahrt. Alle Texte dieses ›Kanons‹ bewegen sich an der Grenze des Sagbaren, die Autoren als Zeugen suchen nach einer Sprache, die die Erfahrung des Äußersten an Verlassenheit (H. Arendt) und den Schrecken eines Überlebens »jen25 Celan 1983: 42. 26 Ricoeur 1997: 439. 109
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seits der Ränder der bekannten Welt«27 – wenn auch nur in Annäherung zu übersetzen in der Lage ist. Um die Wirklichkeit des Unwirklichen anzudeuten oder zu bezeichnen, sind die Texte auf ›Bilder‹ angewiesen: Bilder des Herausgefallen-Seins aus menschlichem Raum, aus menschlicher Zeit. – Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann kommt von ›draußen‹: aus Stalingrad, aus Sibirien, mit der Gasmaskenbrille, mit dem Soldatenmantel, der Bürstenfrisur und dem Humpelknie; eine Schreckgestalt aus einer anderen Welt, der nach Hause will – von draußen nach drinnen. Ein Zuhause gibt es für ihn jedoch nicht mehr: Die Eltern, alte Nazis, haben sich umgebracht; für Beckmann gibt es nur noch das ›Draußen‹. Das zerstörte Hamburg, in das er zurückkehrt, ist nur noch fremder Raum. – Primo Levi beschreibt die ersten Stunden im Lager Auschwitz: Da merkten wir zum ersten Mal, daß unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dieses Vernichten eines Menschen. In einem einzigen Augenblick und fast mit prophetischer Schau enthüllt sich uns die Wahrheit: Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht, ein noch erbärmlicheres Menschendasein gibt es nicht, es ist nicht mehr denkbar.28
In einem derartigen Augenblick hat der Mensch seine ›Heimat‹ verloren: er betritt ›unmenschlichen‹ Boden, jenseits der kulturellen Ordnungen von Raum und Zeit. Die vertrauten Scheidungen von Innen und Außen, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, werden hinfällig; in der Tiefe angekommen ist der Einzelne erinnerungslos, hoffnungslos. – Arno Schmidt findet in seiner Erzählung Leviathan ein apokalyptisches Schlussbild. Die Fluchtfahrt einer Gruppe von Personen, die 1945 aus dem umkämpften Schlesien in einer Lokomotive und einigen Eisenbahnwaggons zu entkommen sucht, kommt im Morgengrauen des 15. Februar 1945 auf einem einstürzenden Viadukt, unter Artilleriebeschuss, jäh zum Stillstand: die Lokomotive hängt schräg über dem Abgrund – aber auch hinten hat der Einsturz die letzten Waggons in die Tiefe gerissen. In der Mitte: ein verbleibendes Waggonwrack mit zwei Überlebenden. Im Wrack: ein Sterbender. Die ganze Szene ist in dichten Nebel gehüllt. Die vorläufig Überlebenden verbleiben ohne Aussicht auf Rettung am Abgrund, der sich als undurchdringliches Nichts vor ihnen und hinter ihnen auftut – zurück27 Jünger 1994: 118. 28 Levi 1991: 24. 110
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geworfen auf sich selbst. Angesichts »des ungeheuren Gesamtwillen[s] des Leviathan«29 der über das phobische und katastrophische Potential der Welt verfügt, bleibt die heroische Behauptung eines Individualwillens vorerst erfolglos. Der Sturz, der Abgrund, das Nichts: dies sind die Signaturen unserer Existenz. – In Nossacks Der Untergang heißt es: Ich gebrauche das Wort Abgrund so oft, und vielleicht wird jemand es für übertrieben halten. Aber dann kann er sich auch nicht vorstellen, in welcher Gefahr wir waren. Sie war hundertmal größer als die des Feuers und der Bomben; denn es gab keine Flucht davor. Und wir wußten das. Der Abgrund war ganz nah neben uns, ja vielleicht unter uns, und wir schweben nur durch irgendeine Gnade darüberhin.30
Diese Gnade des Darüber-Hin-Schwebens bestimmte auch die folgenden Jahre. Hinter diese Erfahrungen des Abgründigen, der Bodenlosigkeit der Existenz konnte man auch in den Jahren des Wirtschaftswunders nicht zurückgehen. Sie blieben die dunkle Folie des Aufstiegs. Die Radikalität aber dieser frühen Texte, die alle gezeichnet sind durch die Berührung mit dem absoluten Nichts, erreichen die späteren Texte, die sich erneut in den sechziger Jahren den traumatischen Feldern von Genozid, Bombenkrieg und nuklearer Selbstauslöschung zuwenden, nicht. Auch bedeutende Werke berühmter Emigranten, die zeitgleich mit den radikalen Texten der unmittelbaren Zeugen, Opfer und Beobachter zwischen 1946 und 1948 in Deutschland erscheinen, lassen notwendig jene Momente existentieller Nähe und Dichte vermissen, die die frühen Zeugen-Texte prägen mussten. Im Vergleich sind die im Exil verfassten literarischen Auseinandersetzungen mit der deutsche Katastrophe – sei es nun Doktor Faustus von Thomas Mann, Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse oder auch Furcht und Elend des Dritten Reiches von Bertolt Brecht – (noch) getragen und bestimmt durch einen humanistisch-aufklärerischen Duktus, der wie aus großer Ferne in Anspruch nimmt, mit den großen alten Ideen einer ›Verbesserung des Planeten‹ und des Menschengeschlechtes die fundamentale Erfahrung der Epoche ›in der Tiefe angekommen zu sein‹ zurücknehmen zu können. Den größten Erfolg allerdings hatte das schon 1942 im amerikanischen Exil entstandene Theaterstück Des Teufels General von Carl Zuckmayer, das meistgespielte Stück auf den deutschsprachigen Bühnen der ersten Nachkriegsjahre.31 Der Erfolg beruhte auf dem dramaturgi29 Schmidt 1994: 90. 30 Nossack 1963: 34. 31 Schnell 1993: 108. 111
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schen, aber auch interpretatorischen Anachronismus, in der Gestalt des Fliegergenerals Harras einen klassischen tragischen Helden auf die Bühne zu stellen, »der notwendig entweder schuldig [wird] oder untergehen muß.«32 Unangemessen ist die Helden-Stereotype auf mehrfache Weise: Im Gesamtzusammenhang eines totalitären Systems bleibt dem Einzelnen kaum die Freiheit und Würde in der Wahl eines ›heldenhaften‹ Untergangs; in der Regel ist der Untergang schmählich und entwürdigend. Im Einzelzusammenhang des konkreten Stückes geht der General Harras der Entscheidung für den Widerstand, den sein Freund Oderbruch leistet, aus dem Weg, indem er mit einem defekten Flugzeug nicht in den Heldentod, sondern lediglich in den Selbstmord fliegt und flieht und somit schuldig untergeht. Der ethische Antagonist des Stückes, der Widerständler Oderbruch, bleibt gegenüber einem dem System dienenden Protagonisten ohne Kontur. Das Ende aber in der Flucht widerlegt das Helden-Klischee schon im Stück selbst. Der fragwürdige Publikumserfolg erklärt sich aus der Möglichkeit oder Identifikation mit dem ›sympathischen‹ Draufgänger, dem man die NS- und Hitler-Gefolgschaft im mythologischen Bild des Teufelsbündlers nachsieht und dessen ›Geradlinigkeit‹, am Teufelsschwur festzuhalten, man verklärt und bewundert – ganz im Gegensatz zum ›Verrat‹ des Widerständlers. »Wer auf Erden des Teufels General wurde und ihm die Bahn gebombt hat«, lässt Zuckmayer Harras am Ende sagen, »der muß ihm auch Quartier in der Hölle machen.«33 Mit dem Erfolg dieses unwahrhaftigen Stückes künden sich die fünfziger Jahre an. Vollkommen erfolglos dagegen blieb ein Theaterstück, das den realen Anti-Helden des deutschen Widerstandes gewidmet war: Die Illegalen von 1946 von Günther Weisenborn. »Erfolge und Konflikte, Opfer und Aktivitäten der deutschen Widerstandsbewegung«34 werden in ihren kollektiven Zusammenhängen dargestellt – nicht etwa aus der individuellen Perspektive eines nicht-möglichen ›Helden‹. »Wir Illegalen sind eine leise Gemeinde im Land. Wir sind gekleidet wie alle, wir haben die Gebräuche aller, aber wir leben zwischen Verrat und Grab […]. Die Welt liebt Opfer, aber die Welt vergißt sie.«35 Zu Beginn der fünfziger Jahre lassen sich jene drei Richtungen oder Strömungen der deutschen Nachkriegsliteratur unterscheiden, die das mentalitätsgeschichtliche Profil der Bundesrepublik maßgeblich zu prägen imstande waren:
32 33 34 35
Ibid. Zuckmayer 1960: 617. Schnell 1993: 109. Weisenborn 1964: 40. 112
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1. zum einen die Linie, die von dem schmalen Kanon authentischer Zeugnis-Texte der ›ersten Sunde‹ vorgegeben wurde und auf der sich dann die kritische Literatur der Gruppe 47 sowie wichtige Außenseiter wie Koeppen oder Jahnn weiterbewegen sollte; 2. zum anderen die Linie literarischer Tradition, repräsentiert von Emigranten-Autoren, die schon in der Weimarer Zeit berühmt waren und jetzt aus dem Exil nach Europa zurückkehrten – Autoren wie etwa Thomas Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Anna Seghers, Theodor Plievier; 3. und schließlich das uneinheitliche Feld von Autoren der sogenannten ›Inneren Emigration‹, vertreten durch Schriftsteller wie Hans Carossa, Frank Thies, Werner Bergengruen, Josef Weinheber, Gertrud von Le Fort, Rudolf Alexander Schröder aber auch Hermann Kasack, Ernst Kreuder u.a. 4. Eine Sonderstellung nehmen Ernst Jünger und Gottfried Benn ein. In diesen drei Richtungen artikulieren sich unterschiedliche und »konkurrierende Gedächtnisse«36, die auf unterschiedliche Weise dem Anspruch auf Übernahme ihrer Inhalte in die Archive des kollektiven Gedächtnisses erheben. Es muss darum gehen, welchen Stellenwert das traumatische Ereignis eines totalen zivilisatorischen Zusammenbruchs, wie er 1945 in den Ruinen- und Todeslandschaften der Städte und Lager erst vollkommen zur Anschauung kam, im kollektiven Gedächtnis bekommen sollte. Sollte man (1) in intensiver und kritischer Erinnerung und Vergegenwärtigungsarbeit das ›traumatische Ereignis‹ davor bewahren, in die Tiefen des ›kollektiven Unterbewussten‹ abzusinken, um es als Korrektiv des Zukünftigen jederzeit zugänglich zu halten – oder sollte man (2) das entscheidende Katastrophen-Ereignis einer Einbuße moralischer und kultureller Identität möglichst rasch dem Vergessen überantworten, um das Leben fortsetzen zu können, »als wäre nichts geschehen«37, als müsse man nur an einen Punkt vor der Katastrophe zurückkehren, um den lediglich ›unterbrochenen Weg‹ wieder begehen zu können, als könne man ungestraft im Glauben an geschichtliche Kontinuität an die Zeit vor der traumatischen Erfahrung anknüpfen. Oder sollte man sich (3) schließlich ganz im Gegenteil der »dem entscheidenden Ereignis vorausgegangenen Vergangenheit« gewissermaßen als Vorgeschichte der Katastrophe vollkommen entledigen, da sie den Weg in die Zukunft als Neubeginn vom ›Nullpunkt‹ aus versperrt und behindert.38
36 Cavalli 1997: 462. 37 Ibid.: 459. 38 Cavalli 1997: 459. 113
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Der italienische Soziologe Alessandro Cavalli beschreibt idealtypisch diese Muster einer Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses nach katastrophalen Ereignissen: 1. Erinnerungsarbeit auf der Suche nach einem Ausgleich zwischen (abgebrochener) Tradition und ( zukünftiger) Modernität; 2. Verdrängen des (traumatischen) Ereignisses und (philologische) Rekonstruktion der Vergangenheit; 3. Verdrängen der (vorausgegangenen) Vergangenheit und Annahme des Katastrophen-Ereignisses als Nullpunkt-Chance eines vollkommenen Neubeginns. Cavalli entwirft mit diesem Gedächtnis-Muster den Rahmen konkreter Felduntersuchungen, die sich Kommunen in Italien zuwenden, die von schweren Naturkatastrophen bzw. Erdbeben heimgesucht wurden. Im konkreten Fall kann dann der Prozess der Gedächtnis-Bildung dem einen oder dem anderen Muster oder auch einer Kombination folgen.39 In einem Exkurs bezieht Cavalli seinen Ansatz auch auf das Phänomen verdrängter Erinnerung an den Faschismus in Italien. Für die deutsche Nachkriegsgeschichte gilt, dass alle drei Muster einer Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses in Überlappungen, Kombinationen und Oppositionen bis in die sechziger Jahre von unterschiedlichen Gruppen parallel aktualisiert werden – in besonderer Pointierung im literarischen Raum. »Wenn komplexe Gesellschaften mit den Problemen des historischen Gedächtnisses konfrontiert sind«, heißt es bei Cavalli, »tritt jedes dieser Muster in Erscheinung und wird von den jeweiligen konkurrierenden Gruppen in Anspruch genommen«.40 So hält die Zeugen-Generation der ›ersten Stunde‹ die Erinnerung an die Katastrophe wach; die Texte Celans, Borcherts, Nossacks oder Schmidts registrieren den Schock des Absturzes und bekunden einen Null-Zustand der Geschichte. »Die Apokalypse«, schreibt der Begründer der Gruppe 47, Hans Werner Richter, »hat die Lebenden verändert. Was vor dieser Zeit war, ist nicht mehr faßbar, erscheint wie ein Märchen, das versunken und verklungen ist. Ein anderer Ton bestimmt das Leben, ein Ton, der aus der Welt der Trümmer geboren wurde. Er ist näher der Wirklichkeit und näher dem Leben denn je […].«41 Gegenüber dieser Form des Gedächtnisses, in dessen Szenario das ›entscheidende Ereignis‹ der erlebten Apokalypse »die symbolische Funk39 Ibid.: 459. 40 Ibid.: 459. 41 Hans Werner Richter 1947: Vorwort. In: Ibid.: Deine Söhne Europa, zit. n. Schnell 1993: 88. 114
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tion erfüllt, mit der Vergangenheit abzuschließen und eine neue Ära zu begründen«42, sehen ›konkurrierende Gedächtnisse‹ ihre Aufgabe gerade darin, die Erinnerungsspuren der traumatischen Ereignisse zu löschen. Nach diesem Gedächtnis-Konzept geht es darum, möglichst rasch wieder an die Vergangenheit anzuknüpfen – und die Kontinuität des geschichtlichen Prozesses praktisch wiederherzustellen, indem man nach einer »obskuren Episode der nationalen Geschichte«43 wieder zu einem wie immer gedachten humanistisch-aufklärerischen Ausgangspunkt vor 1933 zurückkehren wollte. Das war die Position gerade vieler Emigranten, die mit großen Hoffnungen nach Europa, nach Deutschland zurückkamen – mit großen Büchern im Gepäck, aber, wie ich glaube, ohne das ganze Ausmaß der Innenzerstörung moralischer und kultureller Identität zu erkennen, wie sie sich anfänglich in Apathie und später in manischer Aufbauaktivität und -mobilität niederschlug. Thomas Mann konnte angesichts eines Innen wie Außen verwüsteten Landes sagen: »Es ist trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit. Sie ist hart und traurig, weil Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen konnte.«44 Dimension und Intention der nach dem Prinzip des area bombing und des moral bombing ausgeführten Angriffe auf deutsche Städte kann er aus dem fernen Kalifornien nicht erfassen; zum Luftangriff der RAF auf seine Heimatstadt Lübeck am 28./29.03.1942 sagt er in einer BBCRundfunk-Ansprache vom 11. April 1942: Beim jüngsten britischen Raid über Hitlerdeutschland hat das alte Lübeck zu leiden gehabt. Das geht mich an. Es ist meine Vaterstadt. Die Angriffe galten dem Hafen von Travemünde, den kriegsindustriellen Anlagen dort, aber es hatte Brände gegeben in der Stadt, und lieb ist es mir nicht zu denken, daß die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden gelitten haben.45
Das Flächen-Bombardement jedoch – das erste nach der von Harris ausgearbeiteten neuen Vernichtungsstrategie – hatte die Erzeugung eines Feuersturms gerade in der historischen Innenstadt Lübecks zum einzigen Ziel, wobei die mittelalterliche Fachwerkbauweise und das verschachtelte System von engen Straßen, Gängen und Passagen dem Plan des bomber commands ideale Voraussetzungen für die angestrebte, systema-
42 43 44 45
Cavalli 1997: 458. Ibid.: 461. Mann: 1997: 152. Ibid.: 58. 115
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tische ›Totalausbrennung‹ einer Stadt boten.46 Die Altstadt Lübecks wurde auf diese Weise zu achtzig Prozent vernichtet. Die Flugzeugwerke von Dornier erlitten keinen Schaden.47 Und wenn Thomas Mann fortfährt: »Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß. Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner und Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben, und wenn sie das Dröhnen der Royal Air Force über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen«48, dann ist zu sagen, dass er verkennt, in welchem Ausmaß die Insassen der Keller und Bunker, überwältigt von elementaren Gefühlen der Ohmacht und Todesangst, überhaupt unfähig waren zu derartigen Erwägungen, zu irgendeiner Schuld- oder Ursachenforschung. Was sie wünschten war, dass alles aufhören und alles ›erfolglos‹ vorübergehen möge. Auf das moralische Dilemma, dass ein grausamer Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung »auf das ruchlose Niveau des Feindes herabsteige und die Humanität entwürdige, die man zu verteidigen vorgebe«49, kommt Thomas Mann erst im März 1944 zu sprechen, als die meisten deutschen Städte schon in Schutt und Asche liegen. Im Widerstreit der ›konkurrierenden Gedächtnisse‹ aber setzte sich in der Rekonstruktion des ›kollektiven Gedächtnisses‹ zumindest für die fünfziger Jahre weder das Gedächtnis der Zeugen-Generation, noch das ›Gedächtnis‹ der großen Emigranten durch, sondern ein ›Gedächtnis‹, in dem die Verdrängungs- und Verschiebungsarbeit überwog. Prototypisch für diese Form der ›Verarbeitung‹ ist ein schon 1939 erschienener Roman, der es dann in den fünfziger Jahren zu einer exemplarischen Erfolgsgeschichte brachte: Das einfache Leben von Ernst Wiechert. Wiechert, ein entschiedener Gegner des NS-Regimes, der sein mutiges Eintreten für den verfolgten Pastor Niemöller und seine Rundbriefe gegen Machtwahn und Antisemitismus der Nazis 1938 mit Verhaftung und Konzentrationslager bezahlen musste, schreibt den Roman kurz nach seiner Entlassung aus dem Lager. Auch wenn wir die notwendige Verschlüsselung in Rechnung stellen, bleibt erstaunlich, dass Wiechert nach seiner Lager-Erfahrung überhaupt noch die Möglichkeit eines wahren Lebens in der vollkommenen ländlichen Idylle, auf einer Insel mitten in einem abgelegenen See der Masuren, denken und schildern kann. Der Held seines Romans, ein Offizier des Ersten Weltkrieges, überwindet das Trauma des verlorenen Krieges in der Abgeschiedenheit der unberührten Natur als Fischer an den Masurischen Seen: eine nach-rousseauistische 46 47 48 49
Groehler 1990: 36f. Ibid.: 43. Mann 1997: 59. Ibid.: 123. 116
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Utopie zu einem Augenblick, in dem ein beispielloser Vernichtungskrieg losbricht, in dessen Verlauf die Refugien ›reiner Innerlichkeit‹ und ›heiler Natur‹ einer restlosen Liquidierung anheimfallen. Andererseits ist dieses Rückzugsbild zu verstehen als Metapher für Positionen der ›Inneren Emigration‹ schlechthin. Zur Ironie oder zum Zynismus des ›Realen‹ gehört es, wenn sich in der Natur-Idylle der ostpreußischen Masuren später das sogenannte Führer-Hauptquartier niederlassen sollte. Den Lesern der fünfziger Jahre aber bot die Geschichte vom ›einfachen Leben‹ nach dem Zusammenbruch die Illusion eines Rückzuges – eines Fluchtweges jedoch in verlorenes Terrain. Und das in realer und übertragener Bedeutung: eine Regression, die nur möglich wurde aufgrund einer doppelten Verschiebung. Zum einem verlegte der Autor selbst das traumatische Erlebnis seiner KZ-Haft zurück in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg indem er es seiner Figur, einem Weltkriegsoffizier, der den Zusammenbruch von 1918 als existentielle Krise und absolute Zäsur erfährt, zuschreibt. Zum anderen verliert auch der Leser 1950 den Bezugspunkt der realen Katastrophe von 1945 aus den Augen, indem er für sich ebenfalls die Verschiebung auf 1918 akzeptiert und in der idyllischen Lösung Trost findet. Ein anderes Muster der Verschiebung des Real-Katastrophischen, diesmal ins ›Mythische‹ und ins ›Surreale‹, findet sich in einem weiteren Erfolgsroman der ersten Nachkriegsjahre: in Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom, erschienen 1947, entstanden zwischen 1942 und 1946. Anders als Wiechert entwirft Kasack keine rettende Gegenwelt. Im Gegensatz aber zu der realistischen Vision des Infernos in Arno Schmidts Schwarze Spiegel und zu der eindeutigen Lokalisierung des Geschehens in der empirischen Welt verlegt Kasack den Schauplatz des Schreckens in den mythischen Raum einer Totenstadt. Anders aber auch als für Wiecherts Protagonisten bietet sich für Kasacks Hauptfigur, den Orientalisten Dr. Lindhoff, keine Fluchtmöglichkeit: Seine Reise in die fremde Stadt führt ihn nicht in eine bessere und schönere Welt, sondern in eine trostlose Zone des Abbruchs und des Verfalls, der Ruinen und Höhlen, deren schattenhafte Bewohner ›geschichtslos‹ und erinnerungslos, gefangen in absurd-zirkulären Verrichtungen, dahinvegetieren. Nach der Rückkehr aus der fremden Stadt muss Lindhoff erkennen, dass die eigenen (deutschen) Städte in Schutt und Asche liegen – und der Totenstadt im Schwund aller raum-zeitlichen Strukturen ähnlich geworden sind. Wie in der Totenstadt verlieren die Bewohner der zerstörten Städte im gestaltlosen Raum ihre lebensweltliche Orientierung. Obwohl Kasacks Roman die ›reale Katastrophe‹ thematisiert, bleibt die poetische Darstellung dem mythischen Muster der ›zwei Welten‹ verhaftet: das ›Inferno‹ der diesseitigen Welt scheint begründet im ›Inferno‹ der jenseitigen Welt. Eine
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kathartische Läuterung scheint nur in einer transzendentalen Bewegung möglich, im Durchgang durch ein doppeltes ›Inferno‹ das ›Purgatorium‹ zu erreichen und des ›Paradieses‹ ansichtig zu werden. Die fünfziger Jahre waren für eine derart metaphysische Lesart der Katastrophe empfänglich; strikt anti-metaphysische Positionen wie die etwa von Arno Schmidt wurden entschieden abgelehnt. Die Romane von Wiechert und Kasack stehen exemplarisch für jene Form der Erinnerungsarbeit, in der das traumatische Ereignis so umformuliert wird, dass ein Umgang mit der erlittenen ›Verletzung‹ – zumindest für das Ich des Autors – möglich wird. Mit der Währungsreform 1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949 jedoch verlagert sich schlagartig die Energie, die auf Erinnerungsarbeit, Umformulierung und Verschiebung des traumatischen Ereignisses gerichtet war, gänzlich auf Tilgung und Auslöschung: Das Erlebnis katastrophischen Geschehens soll aus dem individuellen und kollektiven Gedächtnis verdrängt werden. Der Wille und Wunsch der Gesellschaft zu vergessen wird übermächtig;50 statt Erinnerungsarbeit leistet die westdeutsche Gesellschaft die Arbeit des Vergessens. Aber: Was gewaltsam dem Vergessen überantwortet, d.h. verdrängt wird, wird nicht gelöscht. »Verdrängte Erfahrungen«, so Cavalli, »werden in einer Gedächtnisschicht aufbewahrt, zu der wir uns selbst keinen Zugang gestatten.«51 Diese Zugangssperre aber gewährt eine befristete ›Entlastung‹. Es ist diese Frist, die mit der Zeit eines manisch beschleunigten, Spuren tilgenden Wiederaufbaus bis in die frühen sechziger Jahre zusammenfällt. Erst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, während des Vietnamkrieges (1964/65-1975) und zur Zeit der Kuba-Krise (1962), als die Welt vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand, erst jetzt treten die verdrängten traumatischen Erfahrungen des letzten Weltkrieges in einer überraschenden Fülle von Texten wieder ans Tageslicht. Hochhut, Kipphardt, Dürrenmatt, Anders, Weiß, Kluge u.a. publizieren zwischen 1962 und 1965 Dramen und Prosa, die die katastrophischen Chiffren von Auschwitz – Hiroshima – Stalingrad – Dresden im veränderten Kontext, aus größerer Distanz und auf anderem Niveau der Reflexion wieder thematisieren. Die Jahre aber zwischen 1948 (Währungsreform) und 1961 (Mauerbau) sind geprägt durch ein komplexes Nebeneinander unterschiedlicher ›Gedächtnisse‹, unterschiedlicher Bearbeitungen und unterschiedlicher Formen des Vergessens. Der in diesen Jahren dominant werdende Prozess des Verdrängens zielt auf den unterschiedlichen Ebenen des kollektiv-kulturellen Lebens zum einen auf das traumatische Ereignis der totalen materiellen und moralischen Niederlage, zum anderen 50 Cavalli 1997: 460. 51 Ibid. 118
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gleichzeitig auf »beträchtliche Segmente« der fernen oder nahen Vergangenheit,52 die auf die Katastrophe hingeführt hat. Zunächst erzeugt dieses kollektive Vergessen einen Zustand ›geschichtsloser‹ Schwebe. Koeppen findet in seinem Roman dieser Jahre Tauben im Gras von 1951 dafür einprägsame Bilder: […] aber Furcht und Trauer schienen ihm hier [im zerstörten München] in die Keller verbannt zu sein, in die Keller, über die Häuser gestürzt waren, und dort ließ man sie nun eine Weile. Der Geruch dieser zugeschnittenen Keller lag über der Stadt. Niemand schien es zu merken. Vielleicht vergaß man die Grüfte ganz […].53
Diese Keller verweisen auf ›Innenverhältnisse‹ unseres Bewusstseins: die Schrecken der Katastrophe und die Trauer um ihre Toten sind in die Tiefen des ›kollektiven Unterbewussten‹ abgesunken und werden dort unzugänglich bewahrt; das Vergessen löscht Spuren und Zeichen; Spuren schrecken. Der zertrümmerte Stadtraum aber ist der Ort, an dem alles Erinnern und alles Vergessen an sich zunichte geworden sind: ein Ort, an dem das kollektive Gedächtnis selbst ausgelöscht ist, ein Ort, der seine geschichtliche Verankerung verloren hat. […] die Stadt war mit Feuer gestraft worden und mit der Zerschmetterung ihrer Mauern, heimgesucht war sie, hatte das Chaos gestreift, den Sturz in die Ungeschichte, jetzt hing sie wieder am Hang der Historie, hing schräg und blühte, war es eine Scheinblüte, was hielt sie am Hang? […] E. sah in dieser Stadt ein Schauspiel und ein Beispiel, sie hing, hing am Abgrund, war in der Schwebe, hielt sich in gefährlich mühsamer Balance, sie konnte ins Alte und immerhin Bewährte, sie konnte in Neue und Unbekannte schwanken, konnte der überlieferten Kultur treu bleiben, doch auch in vielleicht vorübergehender Kulturlosigkeit absinken, vielleicht als Stadt überhaupt verschwinden, vielleicht ein Massenzuchthaus werden, in Stahl, Beton und Übertechnik die Vision des phantastischen Gefängnisses von Piranesi erfüllen […].54
Mit den Stichworten des Vergessens, der Schwebe, des Rückfalls in die Tradition – des Fortschritts in die Moderne eines »Massenzuchthaus[es] […] in Stahl, Beton und Übertechnik« – erfasst Koeppen genau die Pole, zwischen denen sich die Aufstiegsgeschichte der Bundesrepublik widersprüchlich vollzog: Für die Jahre von 1948 bis 1961 bilden die Pole von Amnesie und Transformation, von Restauration und Modernisierung einen festen Bezugsrahmen. 52 Ibid. 53 Koeppen 1980: 102. 54 Ibid.: 100f. 119
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Die »libidinösen Energien«55, um eine Formulierung aus Alexander und Margarete Mitscherlichs berühmtem Buch Die Unfähigkeit zu trauern von 1967 aufzunehmen, sammeln sich am Pol der Transformation und Modernisierung. Mitscherlich/Mitscherlich schreiben: »Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit […] vollzog sich die explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Werktätigkeit und ihr Erfolg verdeckten bald die offenen Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren.«56 Amnesie und Restauration erweisen sich im Rückblick als die geradezu notwendigen Begleiter jener beschleunigten und allseitigen Modernisierungsbewegung, von der die westdeutsche Teilrepublik erfasst wurde. An den Polen von Amnesie und Restauration schlug sich die sogenannte Literatur der ›Inneren Emigration‹ nieder: In den Romanen und Gedichten von Autoren wie Rudolf Alexander Schröder, Hans Carossa, Albrecht Goes, Gertud von Le Fort, Josef Weinheber, Werner Bergengruen u.a. schien die Zeit angehalten und stillgestellt, das Geschehen eingebettet in die von Katastrophe und Moderne unberührte Ordnung christlich-abendländischer Wertvorstellungen. Wir erkennen in dieser Form des Umgangs mit den traumatischen Erfahrungen des Zusammenbruchs das unbedingte Bestreben, geschichtliche Kontinuität wiederherzustellen – und weit vor der Katastrophe an eine vermeintlich nur kurzfristig unterbrochene Linie wieder anzuknüpfen. Die Dialektik aber von Katastrophe und Modernisierung kommt hier gar nicht in den Blick, so dass dieser Beitrag zur Neuformulierung ›kollektiver Identität‹ eigentümlich museale Züge erhält. Dessen ungeachtet haben die Texte der genannten Autoren in den fünfziger Jahren großen Einfluss, sie gehörten teilweise zum Literaturkanon der Gymnasien und übertrafen in Auflagehöhe z.B. die frühen Texte der Gruppe 47 bei weitem. In der relativ breiten Zustimmung zu dieser eher musealisierenden Literatur zeigt sich das Bedürfnis, getröstet zu werden über die schockhafte Erfahrung eines quasi doppelten Verlustes: Die vertraute Lebenswelt der Vorkriegszeit, die in der Katastrophe eines totalen Zusammenbruchs untergegangen ist, geht noch einmal verloren, indem sich mit der ebenso totalen Modernisierung die zunächst fremde ›Siegerkultur‹ durchzusetzen beginnt. Auch Koeppen als kritischer Chronist dieser Jahre sieht die Heraufkunft der ›schönen neuen Welt‹ zunächst schockhaft im Bilde des »Massenzuchthaus[es] […] in Stahl, Beton und Übertechnik«.57 Aber es sind seine beiden Porträt-Romane der fünfziger Jahre, Tauben im Gras von 1951 und Treibhaus von 1953, die den dialektischen Zusammenhang von 55 Mitscherlich/Mitscherlich 1967: 23. 56 Ibid. 57 Koeppen 1980: 100f. 120
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Amnesie und Transformation, von Restauration und Modernisierung präzise beschreiben. Koeppens Figur Clara aus Tauben im Gras steht exemplarisch für ein nach-katastrophisches Leben im Spannungsfeld dieser Pole. Es ist ein Leben in der Schwebe: abgelöst von ihrem ›alten Leben‹ als Ehefrau des in Stalingrad verschollenen Mannes, an den nur eine Photographie erinnert, in Ungewissheit über ein zukünftiges Leben mit einem schwarzen US-Soldaten in Amerika, in der Schwebe zwischen Vergessen und Erinnern, zwischen Angstträumen und Sehnsüchten. Für die Mutter ist sie die ›verlorene Tochter‹. Nach den traditionellen Wertmaßstäben der Vorkriegszeit, die für die Mutter über die KatastrophenZäsur hinweg ihre Gültigkeit bewahrt haben, ist ihre ›alte‹ Familie »in Schande und Verkommenheit«58 gesunken. Die ›verlorene Tochter‹ aber träumt den Traum eines neuen Lebens in der ›neuen Welt‹: […] und im Nichtstun gewöhnte sie sich an die Bilderwelt unzähliger Magazine, die ihr das Damenleben in Amerika zeigten, die automatischen Küchen, die Waschwunder und Spülmaschinen, die alles reinigten, während man im Liegestuhl der Television folgte. Bing Crosby erschien in jedem Heim, die Wiener Sängerknaben jubelten vorm elektrischen Herd, im schwellenden Polster des Pullmanwagens fuhr man von Ost nach West, im Stromlinienauto genoß man am Abend die Lichter- und Palmenpracht am Golf von San Franzisko […].59
Das ist der Traum der Moderne überhaupt: die kalifornische Vision des leichten Lebens – die Utopie absoluter Freiheit im Rausch einer jederzeit möglichen Bewegung durch die Weite des Raumes. Die düsteren Bilder, die sich in Carlas Vorstellung mit Stalingrad verbinden, werden endgültig verdrängt durch die strahlenden und verheißungsvollen Bilder San Franziskos. Die »horizontblaue Limousine« ihres neuen amerikanischen Freundes versinnbildlicht für sie den Aufbruch, der sie in rasender Geschwindigkeit von der Bürde ihrer Erinnerung und von der Last des Vergangenen trennen und befreien wird. Das Leitmotiv der »horizontblauen Limousine« bekommt in Koeppens Roman die Bedeutung eines Aufbruch-Symbols schlechthin. Die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft der fünfziger Jahre wird sich exakt in der Richtung des ›kalifornischen Traums‹ – der modernen FreiheitsVerheißung – der technologischen Abkopplung von den TraditionsRäumen der Vorkriegszeit in Bewegung setzen. Diese rigorose und beschleunigte Bewegung in die Zukunft der Moderne aber vollzieht sich auf Kosten der Erinnerungsarbeit an der Vergangenheit. Die Suspension der Erinnerungsarbeit wiederum geht zu Lasten einer Rekonstruktion des 58 Ibid.: 132. 59 Ibid.: 46. 121
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kollektiven Gedächtnisses nach der Katastrophe – und damit auch einer Neubestimmung kollektiver Identität. Die mit der Energie des NachVorne-Flüchtenden betriebene Modernisierung der fünfziger Jahre hinterlässt ein eigentümliches geschichtliches Vakuum, das sich wie ein gefährlicher Hohlraum irgendwo unter den Fundamenten ausdehnt. Von ›Hohlräumen‹ und ›Gedächtnislücken‹ unbeeindruckt rast inzwischen der Bundesbürger – wenn auch noch nicht in »horizontblauen Limousinen« so doch in Goggomobil, Isetta, Heinkel-Kabinenroller und schließlich im Volkswagen-Käfer – an die Küsten Italiens: der beispiellose Aufbruch in die Moderne als Form der Flucht vor dem Alptraum der Vergangenheit, vor dem Trauma der Katastrophe. Dass der Volkswagen – der KdF-Wagen Hitlers von 1938 – zum populären Siegeszeichen des westdeutschen Wirtschaftswunders avanciert, zeugt von Erinnerungslosigkeit und verdeckter Kontinuität der technischen Fortschrittsgeschichte in Deutschland gleichermaßen. Dagegen bleiben die restaurativen Anstrengungen einer literarisch und publizistischen Kontinuitätsstiftung aus ›abendländisch-christlichem‹ Geist im Rückblick eher marginal und kompensatorisch. Im politisch-öffentlichen Feld erscheinen Ereignisse wie der Skandal um den Film Die Sünderin von 1950, in dem Hildegard Knef sekundenlang hüllenlos zu sehen war, der Erlass des Schund- und Schmutzgesetztes von 1952 oder auch, in anderer Richtung, der Brecht-Boykott von 1953 u.a. im Rückblick als ›biedermeierlich‹-regressiv. Die ›totale Mobilmachung‹ der westdeutschen Gesellschaft, in mentaler wie in materieller Hinsicht, war durch derartige Abwehrgesten nicht mehr rückgängig zu machen. Je totaler, explosiver und schneller der Modernisierungsschub über die Gesellschaft hereinbricht, desto schmerzlicher tritt der Verlust und das Verschwinden von ›Herkunftswelten‹ ins Bewusstsein. Restauratives Denken möchte, in einem idealtypischen Sinne, die eingetretenen Verluste wieder rückgängig machen: »die Folgen der Katastrophe sollen beseitigt werden. Das Neue soll eine getreue Kopie des Alten sein«.60 Wie schon gesagt war der Verlust von ›Herkunftswelt‹ im Deutschland nach 1945 gewissermaßen zweimal zu beklagen: zum einen als Folge der Kriegskatastrophe und zum anderen schließlich als Folge einer rigorosen tabula rasa-Modernisierung seit etwa 1950, die zunächst keinen Raum ließ z.B. für eine später einsetzende, kompensatorische Restauration zerstörter Gebäudesubstanz in den Städten. Die kollektive Erfahrung des Verlustes von ›Herkunftswelt‹ und ›Heimat‹ machte die deutsche Nachkriegsgesellschaft ortlos; nirgends ›heimisch‹ verfiel sie einer ans Zwanghafte grenzenden (Auto-)Mobilität. Der Verzicht auf Heimat, sagt Günter Grass in einem Interview, habe ihn 60 Cavalli 1997: 467. 122
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mobil gemacht.61 Grass spricht von ›Verzicht‹ – nicht von ›Verlust‹: diese anti-restaurative Einstellung wird ihn befähigen, eine dem kollektiven Gedächtnis gegenüber kritische Haltung einzunehmen. Er kehrt in der literarischen Imagination an den Ort der verlorenen Heimat, nach Danzig, zurück. Aber Danzig ist eben nicht nur die Stadt seiner Kindheit, sondern militärisch Ausgangspunkt des Zweiten Weltkrieges, der einsetzenden Katastrophe. 1959 erscheint die Blechtrommel als erster Roman der Danziger Trilogie – im Übrigen wie die harmlose Sünderin als pornographisches Machwerk sehr bald diffamiert. Diese Rückkehr an den verlorenen Ort der Kindheit erfolgt eben nicht in kompensatorisch-nostalgischer Absicht, sondern im Sinne der Wiedergewinnung der ›konkreten‹ Dichte des Geschehens am verlorenen Ort und in einer verlorenen Zeit – im Sinne einer kritischen Spurensicherung, die sich der Verdrängung oder Verschiebung der traumatischen Verlust-Erfahrung ebenso versagt wie den Wunschvorstellungen, die Verluste rückgängig machen zu können. Grass widersetzt sich mit der Danziger Trilogie einer bestimmten Form der ›kollektiven Gedächtnisbildung‹ wie sie in den fünfziger Jahren Gestalt anzunehmen begann. Gerade diese unmittelbaren Nachkriegsjahre waren ja bestimmt durch eine ›Vielzahl konkurrierender Gedächtnisse‹; gleichzeitig aber versuchten die gesellschaftlich herrschenden Gruppen, »der übrigen Gesellschaft ihr Gedächtnis, oder besser gesagt, ihre eigene Version/Interpretation des ›kollektiven Gedächtnisses‹ aufzudrängen.«62 Gegen diese, im Wesentlichen auf Verdrängung und Tabuisierung beruhende ›Interpretation‹ opponierten Literaten wie Grass, Johnson oder Siegfried Lenz, denen es in ihren frühen Romanen immer auch um einen kritischen Umgang mit der traumatischen Erfahrung des Verlustes von ›Herkunftswelt‹, von ›Heimat‹ ging. Es gehört zur Ambivalenz dieser Jahre, dass sich neben dieser seriösen literarischen Spurensuche die trivial-kompensatorische Industrie des ›Heimatfilms‹ etablierte. Filme wie Schwarzwaldmädel oder Grün ist die Heide von 1950 und 1951 etwa beschwören das geschichtslose Trugbild einer ›natürlichen Heimat‹ jenseits aller Katastrophen und suggerieren die jederzeit mögliche ›Heim‹-Kehr. Der Erfolg dieser Illusionierungen spiegelt indessen nur das Ausmaß kollektiv-existentieller Verunsicherung und Ortlosigkeit. Der reale Untergang von ›Heimaten‹ durch Katastrophe und Modernisierung war für viele nur in Form der RealitätsVerleugnung zu ertragen.
61 Zit. n. Mommert 1999: o.S. 62 Cavalli 1997: 467. 123
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GEISTERSTÄDTE. LITERARISCHE TEXTE UND BILDDOKUMENTATIONEN ZUR STÄDTEBOMBARDIERUNG DES ZWEITEN WELTKRIEGES UND DIE PERSONIFIZIERUNG DES URBANEN CHRISTINE MIELKE Er stammte aus Zlotogrod in Galizien. Eine kurze Zeit später lernte ich dieses Zlotogrod kennen, und ich kann es also hier beschreiben. Es erscheint mir deshalb wichtig, weil es nicht mehr existiert, ebensowenig wie Sipolje. Es wurde nämlich im Kriege vernichtet. Es war einst ein Städtchen, ein kleines Städtchen, aber immerhin ein Städtchen. Heute ist es eine weite, große Wiese. Klee wächst im Sommer dort, die Grillen zirpen im hohen Gras, die Regenwürmer gedeihen dort fett geringelt und groß, und die Lerchen stoßen jäh herunter, um sie zu fressen.1
Die in die Unkenntlichkeit des Naturzustands überführte urbane Kultur der Stadt ist ein in der Literatur oft anzutreffendes Motiv. Bei Joseph Roth steht dies symbolisch für das Ende der Herrschaft ÖsterreichUngarns, für den Verfall des Vielvölkerstaates und für das Verschwinden ganzer (urbaner) Kulturen. Die Literatur bewahrt hier – vielleicht als einziges Medium – die Erinnerung an Orte, die in der Weltgeschichte längst vergessen sind, da ihr Verschwinden im Zuge eines Weltkrieges quasi als Nebeneffekt zu den epochalen politischen Veränderungen in Europa statt fand. Der Jude Manes Reisiger, der nach dem Ersten Weltkrieg sein altes Leben als Kutscher wieder aufnehmen möchte, kehrt aus der Gefangenschaft zurück und findet eine Wiese statt der Heimat vor. In der Beschreibung Reisigers mischt sich in die Idylle das Grauen des Krieges. Die Natur wird zu einem barocken Stilleben, das Tod und Verwesung in der Schönheit der Blüten als nature morte anspricht:
1 Roth 1999: 24. 125
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Aber, was ist die Welt, was ein Städtchen, was ein Mensch, was gar ein Fiaker gegen Gott? Gott hat die Welt vernichtet. Krokus und Gänseblümchen wachsen dort, wo unsere Häuser gestanden haben, und meine Frau ist auch schon tot. Eine Granate hat sie zerrissen; wie andere Zlotogroder auch.2
Die Konfrontation mit dem zerstörten Städtchen, das von einer üppigen, durch die Toten genährten Natur endgültig zum Verschwinden gebracht wurde, erinnert an Schilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg, in dem ganze Landstriche entvölkert und die Orte verwüstet wurden.3 Besonders die Figur des Juden, der die Vernichtung überlebt und den Übergang in den Naturzustand betrachtet, findet sich ganz ähnlich bereits bei Ludwig Bechstein als Sagengestalt. In Die verwünschte Stadt wird der Ort in den Alpen, in dem dem durchreisenden Juden keine Bleibe angeboten wird, zu Beginn noch als ›große blühende Stadt‹ beschrieben. In mehreren Schritten wird dann die ›natürliche‹, d.h. nicht-kriegerische Vernichtung der Stadt beschrieben. Wie der Fluch des Reisenden besagt, wird aus der Stadt eine Stätte und aus der Stätte ein merkmalsloses Nichts. Nach und nach legen Naturkatastrophen die Stadt in Trümmer, die wenigen Überlebenden fristen ein karges Dasein bis zum endgültigen Aussterben der Stadtbewohner; nach hundert Jahren lassen sich nur mühsam die Ruinen inmitten der sich ausbreitenden Bäume und Sträucher erkennen, die die Stadt auf andere Art zum Blühen bringen: »Mächtige Sträucher mit bunten Alpenblumen waren da emporgeschossen, wo vordessen Straße war, und Gras stand da, wo sonst der Menschen friedliche Wohnstätte gewesen.«4 Nach weiteren Jahren ist die Vernichtung jedoch noch weiter gediehen. Die blühenden Wiesen wurden von zu Gletschern gefrierenden Was-
2 Ibid.: 115. 3 Große Ähnlichkeiten der Gräuelschilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg (Gryphius, Reuter, Grimmelshausen u.a.) mit Beschreibungen von Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg erkennt auch Günther Grass in seiner Rede zur Funktion der deutschen Literatur anlässlich der Eröffnung des internationalen PEN-Kongresses 2006. Grass geht soweit, dass er nicht nur motivische Ähnlichkeiten, sondern zeithistorische Gemeinsamkeiten sieht; so hält er fest, dass Simon Dach mit seinem lyrischen Gedenken an die Zerstörung der Stadt Magdeburg »seinem Land ein bis ins zwanzigste Jahrhundert, bis hin zu zwei Weltkriegen gültiges Zeugnis ausgestellt hat.« Die Funktion von Literatur in Deutschland sei auch die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg: »Wir Schriftsteller haben die Pflicht, die Toten zu zählen […]. Was die Historiker abzubuchen gewillt sind bleibt uns gegenwärtig. Wir Schriftsteller sind Leichenfledderer. Wir leben von Fundsachen, so auch von den rostigen Hinterlassenschaften des Krieges. Längst überbaute Schlachtfelder und Trümmerhalten suchen wir heim […].« Grass 2006: 55. 4 Bechstein 1971: 607. 126
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serfällen bedeckt und schließlich zur vereisten Einöde. Der Fluch des wandernden Juden wurde so märchenhaft erfüllt. Worin die reale Schuld der Bewohner Zlotogrods für eine göttliche Strafe bestanden haben könnte, wird von Roth nicht thematisiert. Vielmehr steht die Vernichtung für Sinnlosigkeit oder den unergründlichen göttlichen Willen. In Bechsteins Sage jedoch wird die Vernichtung in der Hybris und Arroganz der Bewohner begründet. Ähnlich wird in Ludwig Uhlands Ballade Des Sängers Fluch die Zerstörung begründet: dort wird ein König aus übertriebener Eifersucht zum Mörder eines jungen Sängers. Auch hier bewirkt ein Fluch, dass nicht nur eine Zerstörung, sondern eine Eliminierung jeden Zeichens menschlicher Natur stattfindet. Der Alte hat’s gerufen, der Himmel hat’s gehört./Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört;/noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht;/auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.//Und rings statt duft’ger Gärten ein ödes Heideland,/kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand […]5
Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass das Motiv der in Natur aufgegangenen urbanen Zivilisation nicht lediglich als ein Zeichen für ein in der Vergangenheit eingetretenes schreckliches Ereignis von Tod und Verwüstung steht. Vielmehr wird in einem Schlusstableau ein Mangel beschrieben, der der Wiese, dem Gletscher, der Heide selbst inhärent ist. Was in dem Sieg von Vegetation über Zivilisation fehlt und diesen unheimlich werden lässt, sind die in der Gegenwart verankerten Zeichen für die Existenz einer Vergangenheit: das Fehlen von Erinnerungsstücken, Ruinen und vor allem Grabstätten wird als grausig und unheimlich beschrieben. Nicht das Tableau an sich, erst das Wissen um die frühere Existenz und die Feststellung ihrer vollkommenen Auslöschung, das Fehlen von Anhaltspunkten, die ein räumliches und nicht nur ein imaginäres Gedenken ermöglichen würden, stellen das Schockierende, die eigentliche literarische Information dar. Im Fluch des Sängers steht der verschwundene Palast materiell für das ideelle Verschwinden des Königs aus dem Gedächtnis einer Gesellschaft: »des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch;/versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch.«6 Bei Bechstein bleiben die letzten Toten der Gemeinschaft ohne Grab, jedoch begraben von den Trümmern der letzten Häuser, denen wiederum ebenfalls kein Überdauern als Monument zugestanden wird: »dann begruben Steinrutsche, welche im Alpenlande Muren heißen, wiederum je-
5 Uhland 1981: 254. 6 Ibid. 127
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ne Trümmer, oder Schlammbäche von den Berggipfeln quollen nieder und deckten alles zu.«7 Die schlimmste Strafe, die hier die Figuren erfahren, ist nicht das Sterben, der somatische Tod, sondern es ist der soziale Tod, der ein Weiterleben im Gedächtnis einer Gemeinschaft durch überdauernde materielle oder virtuelle Erinnerung ausschließt. Zum einen wird also das Absprechen der Erinnerungswürdigkeit als höchste Strafe für Menschen dargestellt, zum anderen wird aber auch auf Seiten der Rezeption die Frage aufgeworfen, wieviele solcher Auslöschungen wohl vorgefallen sein könnten – da der Verlust eines Platzes im kollektiven Gedächtnis als absolut beschrieben wird, wird damit auch die furchtsame Neugier und die Hypothesenbildung geweckt. Diese muss jedoch in einer Kreisbewegung gefangen bleiben, da auch die größte Neugier und das intensivste Wunschdenken eine Auslöschung nicht relativieren können – da dies die Logik der Auslöschung und der Funktion des literarischen Motivs unterlaufen würde.
Der Paradigmenwechsel im stadtgeschichtlichen Diskurs Der Umgang mit den im Zweiten Weltkrieg zerstörten europäischen Städten bis heute resultiert primär daraus, dass die kulturhistorischen Kontexte der Zerstörung ganz ähnliche Charakterzüge tragen wie die tradierte literarische Motivik der Vernichtung von zivilisatorischen Gedenkzeichen. Im öffentlichen Diskurs lange Jahre ausgeklammert oder als Sühne apostrophiert, verschwand der Topos der zerstörten Stadt unter dem der modernen und schließlich dem der hässlichen Stadt. Auf lokaler Ebene und im familiären Rahmen entwickelte sich in diametralem Gegensatz hierzu ein Diskurs der Singularität und der Schicksalhaftigkeit, der in den unzähligen regionalen Bildbänden und Schriften zu einzelnen Städten und Regionen dokumentiert ist. Die tatsächliche, in ihrem zeithistorischen Kontext erzählte Geschichte der Städte, ihre Rolle als politische Zentren im Nationalsozialismus, als Orte der Aufmärsche und Parteitage vor historischer Kulisse wurde kaum oder sehr distanziert thematisiert. Die Geschichte verschwindet hier oft hinter lokalen ›Geschichtchen‹. In Analogie zum literarischen Motiv wird die schnelle Regeneration der Städte in den Wirtschaftswunderjahren und den städtebaulich geschichtsvergessenen siebziger Jahren als Mutation zu öden Stadtlandschaften und urbanen Wüsten empfunden. Ähnlich wie die geschichtslos gemachten Orte der Literatur zeichnen sich die heutigen Städte durch ei7 Bechstein 1971: 607. 128
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nen gestörten Vergangenheitsbezug und eine ebenso gestörte Konnexion von Vergangenheit und Zukunft aus: der situativen Betrachtung der modernisierten Städte erschließt sich selten deren gesamter historischer Hintergrund – vor allem nicht über die konventionalisierten Zeichen der öffentlichen Denkmalskultur, die z.B. den ersten Weltkrieg so nachhaltig präsent halten in Standbildern, Gedenktafeln, Straßennamen usw. Sie positionieren sich erst spät in der Nachkriegszeit, wie Alfred Hrdlickas Hamburger Denkmal zum Feuersturm von 1982, oder sie werden aus Gründen neuer Geschichtsinterpretationen getilgt oder revidiert wie das Mahnmal der Dresdener Frauenkirche, mit deren Wiederaufbau gezielt an die Zeit vor der DDR angeknüpft wird und die DDR zur Apposition der gesamtdeutschen Geschichte gemacht werden soll. In den letzten zehn Jahren jedoch wurde ein Paradigmenwechsel deutlich, der seinen Ausgang in einer literarisch-ästhetischen Debatte nahm, die in der Geschichtswissenschaft weitergeführt wurde und schließlich im öffentlichen Diskurs der Feuilletons und Fernsehsendungen mündete. Dieser Paradigmenwechsel forciert die Erinnerung an Städte in ihrem Vorkriegs- und Zerstörungszustand und speist sich aus dem Gefühl des Freudschen Unheimlichen, also des Bekannten, Heimischen, das als Fremdes zurückkehrt.8
Diskursvermischung Stadt – Krieg Die Städte, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, existieren heute in einer modernisierten oder rekonstruierten Form. Sechzig Jahre nach ihrer Zerstörung kann (zunächst) konstatiert werden: es gibt sie und sei es, dass sie zumindest den Namen und den ungefähren geographischen Ort mit den Städten vor dem Krieg gemeinsam haben. Ihre Vorkriegsexistenz ist meist gut dokumentiert und wird mittlerweile, ästhetisch und emotional aufgeladen, kultiviert. Die zerstörten Städte nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa entwickelten auf diese Weise eine Doppelexistenz. Wo die Modernisierungsbestrebungen aus infrastrukturellen oder ideologischen Abgrenzungsgründen aus dem Wiederaufbau oft einen Neubau machten,9 gibt es das Doppelleben der Stadt: die reale Stadt sowie ihren latenten Schatten, ihr vergangenes Aussehen. Diese Doppelexistenz führt zum einen dazu, dass zur alltäglich erlebbaren Gegenwartsebene eine zusätzliche geheimnisvolle, nur medial erfahrbare Vergangenheitsebene imagi8 Vgl. Freud 1982: 241-274. 9 Vgl. z.B. Ciborowski 1956; Huse 1997; Gleiss/Giele 1995; Glaser 2005; Körner 2000. 129
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niert werden kann. Zum anderen führen die Städte jedoch auch eine Mangelexistenz, von deren Ist-Zustand der verlorene frühere Zustand subtrahiert wird, bei der beständig im Vergleich der heutigen Erscheinung (der meist funktional gewerteten) mit der früheren (meist historisch gewachsenen) das Heute verliert.10 Was sich im öffentlichen Diskurs jedoch vermischt, ist die Erinnerung, Rekonstruktion und ›Neuentdeckung‹ der zerstörten und wiederaufgebauten Städte als Orte mit Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg in all seinen unzähligen Facetten und Themenbereichen.11 Auf diese Weise manifestiert sich das Gedenken an die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte in Europa meist indirekt: In den Jahrestagen zum Gedenken an das Kriegsende, in der Debatte über die Täter-OpferProblematik des Luftkriegs und in der zum Wiederaufbau von zerstörten, ehemals markanten und für eine städtische Identität relevanten Gebäuden wird im Kontext einer spezifischen, komplexen Thematik immer auch an zerstörte Städte erinnert. Sie treten etwa im Bildmaterial auf, das die Serie zur Nachkriegszeit im Spiegel illustriert, sie bilden die Kulisse für die TV-Geschichts-Dokumentationen mit ihren Zeitzeugenberichten und deren oft in Filmsequenzen umgesetzte und damit externalisierte Erinnerung der Vertreibung, der Bombardierung oder des Erlebens des Kriegsendes und der Heimkehr.12 Auch zur Berichterstattung zum 8. Mai 2005 finden sich Städtebilder als Ikonen der Zerstörung und des Ruins, als komplexe Metaphern, als Superzeichen des Krieges, der Niederlage, der Befreiung, des Endes und des Anfangs auf den Titelseiten aller Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie auf den Umschlägen der ungezählten Publikationen zu diesem umfassenden Themenkomplex ›Krieg‹, auf historischen und politischen Sachbüchern, Autobiographien, Romanen. Das Bild der zerstörten Stadt um 1945 ist allgegenwärtig und es hat bis zum heutigen Zeitpunkt verschiedene andere Bilder abgelöst, die über die Jahrzehnte als konventionelle Zeichen für den gesamten Themenkomplex standen, um bei ihrer Betrachtung verlässlich den gesamten Assoziationshorizont aufzurufen. Einerseits findet sich in der Ikonographie des Zweiten Weltkrieges häufig das Bild der Trümmerlandschaft. Es steht stellvertretend für die 10 Vgl. z. B. Erenz 2006 und Maier 2006. 11 Beispiele dafür, dass die Debatte um den Luftkrieg und die mögliche Tabuisierung der deutschen Opfer unter starker Einbeziehung der Stadt als Symbol für den Krieg stattfindet, gibt es unzählige; einer der turbulentesten Momente war unzweifelhaft der, als die Bildzeitung (am 3. November 2004, S. 8) die Queen indirekt zu einer Entschuldigung für die Bombardierung Dresdens aufforderte. 12 Fischer 2004. 130
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erlittenen Verluste an Menschenleben und an zivilisatorischen Errungenschaften und Idealen der Völkerverständigung. Andererseits kann jedoch festgestellt werden, dass ein davon zwar nicht gelöstes, aber doch die Stadt selbst fokussierendes Interesse besteht; ein Interesse, das nicht das Bild der zerstörten Stadt, sondern diese als solche bis hin zur Personifizierung betrachtet. Bereits in den ersten Schilderungen der Angriffe auf städtische Zentren im Zweiten Weltkrieg können Passagen festgestellt werden, die das vertraute Lebensumfeld wie einen Partner oder Freund beschreiben, dessen Verlust dadurch auch als persönlich schmerzlich und voller Mitleid erlebt wird. Interessanterweise bleibt diese Geste der Vertrautheit und Personifizierung jedoch auch bei den Nachgeborenen bestehen; bei denen also, die das frühere Aussehen und die Zerstörungen nicht selbst erlebt haben, sondern diese nur aus Erzählungen und Bildern kennen. Dass Städte daher eine – nicht an eigenes Erleben und Erinnerung gekoppelte – Existenz auf mehreren, der gegenwärtigen und vielen vergangenen Ebenen haben, wird verständlich, wenn Maurice Halbwachs’ theoretische Beschreibung einer stabilen kollektiven Identität betrachtet wird: Halbwachs betont bekanntlich die elementare Bedeutung, die ein kollektiv geteiltes ›Bild der Vergangenheit‹ für die Generationen übergreifende Konstitution einer Gesellschaft hat: Wie könnte eine Gesellschaft, wie immer sie geartet sei, existieren, fortbestehen, sich ihrer selbst bewußt werden, wenn sie nicht mit einem Blick eine Gesamtheit gegenwärtiger und vergangener Ereignisse umfaßte, wenn sie nicht die Möglichkeit hätte, den Zeitablauf zurückzuverfolgen und sich unaufhörlich über die Spuren zu bewegen, die sie selbst hinterlassen hat.13
Zeitliche Kontinuität und räumliche Konstanz, diese zwei Elemente begründen nach Halbwachs die Identität von Gruppen. Das kollektive Gedächtnis als Hauptpfeiler der Identität gründet sich zum einen auf der temporal stabilen Tradierung von Ereignissen, die die Generationen in einer großen ›Erzählung‹ verbinden und in der die Einzelnen ihre individuellen Erinnerungen in einem großen, sinngebenden Rahmen verorten können. Zum anderen benötigt das kollektive Gedächtnis die lokale Erfahrbarkeit dieser Ereignisse an Orten, die sich wesentlich langsamer als die Gruppenzusammensetzungen verändern, damit es deren verschiedene Zustände überdauert und sich in der Existenz der baulichen Zeugnisse und urbanen Strukturen manifestieren und verbinden kann. Der Raum nimmt nach Halbwachs jedoch eine elementare Funktion ein, in ihm kondensiert die soziale und historische Zeit einer Gruppe:
13 Halbwachs 1985: 125. 131
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So unterteilt jede Gesellschaft den Raum auf ihre Weise, aber ein für allemal oder immer denselben Linien nach, so daß sie einen festen Rahmen aufstellt, in dem sie ihre Erinnerungen einschließt und wiederfindet […]14
Resultierend aus Halbwachs’ Thesen zum kollektiven Gedächtnis kann die Ikonographie der zerstörten Stadt in ihrer aus dem Kriegsdiskurs gelösten Form der Personifizierung als ein vehementer Versuch gerade von nachgeborenen Generationen gelesen werden, den verlorenen urbanen Erinnerungsraum zu rekonstruieren.
Von Sebald zu Friedrich: Die zunehmende Relevanz der Bilder Diese restaurativen Bemühungen zeigen sich zum Beispiel deutlich in den autobiographischen Passagen von W. G. Sebalds Luftkrieg und Literatur. Mit dem Vorwurf, der Luftkrieg als eine »einzigartige Vernichtungsaktion […] scheint kaum eine Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Bewußtsein […]«15, initiierte die 1997 gehaltene und 1999 publizierte Züricher Vorlesungsreihe eine extensive Debatte über das Vorhandensein und die Qualität literarischer, deutschsprachiger Zeugnisse zum Luftkrieg. Neben der eigentlichen Argumentationsstruktur Sebalds, der Reaktion vor allem Volker Hages und den inzwischen zahlreichen wissenschaftlichen Beschäftigungen mit der Thematik16 ist jedoch auch der persönliche Bezug Sebalds interessant. Als ein 1944 und in einer kaum vom Krieg betroffenen Gegend Geborener verkörpert er eine Generation, die die Städte noch in der Zerstörungs- und Wiederaufbauphase kennenlernte und, da dies nicht mit eigenen leidvollen Erfahrungen einher ging, diesen Trümmerlandschaften mit Neugier und ästhetischem Interesse entgegentrat: […] als ich mit meinen Eltern und Geschwistern 1952 von meinem Geburtsort Wertach in das 19 Kilometer entfernte Sonthofen umgezogen bin, [schien mir] nichts so vielversprechend wie die Tatsache, daß dort die Häuserzeilen hier und da von Ruinengrundstücken unterbrochen waren, denn kaum etwas […] war für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden wie Schutthalden, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft sehen konnte.17 14 15 16 17
Ibid.: 162. Sebald 2003: 11f. Vgl. Hage 2003; Pätzold 2003. Sebald 2003: 80. 132
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Interessanterweise flankieren Sebalds Thesen eine Reihe von nicht direkt kommentierten, aber im Sinne Roland Barthes mit einem ›punctum‹, also mit einem die individuelle und subjektive nähere Betrachtung auslösenden Detail18 ausgestattete Photographien. Bei Sebalds Bildauswahl wird deutlich, dass neben der Thematisierung von historischen Erfahrungen und der Diskussion um kollektive psychische Strukturen die Ästhetik der zerstörten Städte ebenfalls ein wichtiger, jedoch nur latenter Topos ist. Die Taschenbuchausgabe trägt bereits auf dem Titel ein einprägsames, gelbstichiges Bild des vom Brand skelettierten Reichstags, über den eine Fliegerstaffel hinweg fliegt. Im Bildmittelpunkt befinden sich die Flugzeuge, Autorname und Titel bilden den oberen Rand des Buches, der zerstörte Reichstag füllt das untere Bildviertel vollständig bis an die Ränder aus, wodurch das Gebäude eine rahmende, fast ornamental-schmückende Funktion übernimmt. Der Band beginnt mit einer ersten Serie von Photographien, die ausschließlich zerstörte Städte zeigen. Das erste Bild enthält als Informationswert zwar im rechten Bildvordergrund drei Holzkreuze auf einem Trümmerberg, das Bild selbst zeigt jedoch vor allem die Ansicht einer im Hintergrund liegenden Stadt, die aus skelettierten Häusern und einem ebensolchen Kirchturm besteht. Das zweite Bild zeigt den Blick in eine Straße, die von Resten von Hauswänden und Trümmerhaufen gesäumt ist. Das Bild zeigt zudem die Unterschrift, mit der das Bild an anderer Stelle zuvor abgedruckt wurde: »Kämmererstraße: Kein Haus überstand das Inferno.« Eine Seite weiter wird deutlich, dass das Bild der Herstellung eines Kontrasts dient: »Schöner und breiter erstand sie wieder« ist ein Bild im Original (nicht von Sebald) untertitelt, das eine typische moderne Einkaufstraße der fünfziger Jahre zeigt. Der gleiche Kontrast wird im nächsten Bild dargestellt, einer Postkarte von Frankfurt am Main, betitelt »Frankfurt gestern und heute«: ein Trümmerfeld 1947 und die Skyline Frankfurts 1997. Da bei einigen Bildern kein Nachweis geliefert wird, bleibt die Identität der Städte nicht eindeutig geklärt. Im Text erwähnt werden Köln und Pforzheim. Auf die genaue Zuordnung oder die spezielle Stadtgeschichte z.B. von Frankfurt scheint es Sebald jedoch nicht anzukommen. Vielmehr stellen die Bilder eine Einstimmung, einen Auftakt für die weitere Thematik dar: Gezeigt werden Bilder von nächtlichen Bombenfliegern, von ornamental wirkenden Leuchtstreifen umgeben, ein Bild von Feuersturmopfern in Hamburg, Kinderfüße in Lumpen gehüllt, ein Kinoplakat, konzentriert blickende Menschen in einem Aufführungssaal und ein Bild, das die
18 Im Gegensatz zum ›studium‹, das die Überlegung zur Intention des Bildes im Herstellungsprozess und das ›höfliche Interesse‹ der das Bild Betrachtenden meint. Barthes 1985: 33ff. 133
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Stadt mit Sebalds Paradigma einer ›natural history of destruction‹19 verbindet: Ruinen, die inmitten einer die städtische Ordnung überwuchernden Landschaft aus Schuttpflanzen aufragen. Die Bilder der Städte bilden die Klammer der weiten Thematik und erinnern daran, dass diese Szenarien den Hintergrund für die Nachkriegsgeschichte darstellen. Wie in Sebalds fiktionalen Texten muss jedoch beachtet werden, dass Bild und umgebender Fließtext nur bedingt aufeinander bezogen sind. Die Funktion der Bilder geht über die Untermalung der Textaussagen weit hinaus, sie produzieren vielmehr bezogen auf den Text oft neue oder widersprüchliche Aussagen.20 So formulieren die ›Vorher-nachher-Bilder‹ eine Kritik an der Art des Wiederaufbaus, die im Text so nicht geäußert wird. Zudem kommen die Städte durch die Photographien auch nicht nur als eine der Chiffren für das Leid des Zweiten Weltkrieges in den Blick oder – so der eigentliche Anspruch der Vorlesung – als ästhetische Belege für die Auseinandersetzung von Luftkrieg und Literatur. Stattdessen wird durch die Abbildungen deutlich, dass der Eingangssatz des Sebald’schen Textes nicht in der sprachlichen Argumentation selbst, sondern in der Kette der Bilder parallel verfolgt wird: Es ist schwer sich heute eine auch nur halbwegs zureichende Vorstellung zu machen von dem Ausmaß der während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs erfolgten Verheerung der deutschen Städte, und schwerer noch, nachzudenken über das mit dieser Verheerung verbundene Grauen.21
Den Interimszustand des Zerstörtseins aus den Archiven dauerhaft ins Bewusstsein zu bringen, das Interesse und die Faszination (in Kombination mit der Einfühlung in die Leiden der Bevölkerung) an einer kurzzeitigen Epoche der zerstörten Städte im Status des Ungewissen und auch das Bedürfnis, diesen kurzzeitigen, aber nachhaltig erschütternden Anblick von als unwandelbar angesehenem urbanem Raum zu thematisieren, mit anderen die subjektiven Eindrücke zu teilen, sind die eingangs genannten und auf der Bildebene verfolgten Aufgaben der Photographien. In großem Stil fortgeführt wurde dieses Anliegen von Jörg Friedrich, auf den sich auch Sebald in seiner Nachschrift zur Vorlesung schon be-
19 So der englische Titel von Luftkrieg und Literatur. Sebald übernahm ihn von Lord Solly Zuckerman, der einen Bericht über seine Erfahrungen im zerstörten Deutschland unter diesem Titel verfassen wollte, den Plan jedoch nicht umsetzte. Vgl. Sebald 2003: 38f. 20 Vgl. zu Sebalds viel diskutierter Verwendung von Abbildungen im Kontext seiner Werke z. B. Boehncke 2003 sowie Weber 2003. 21 Sebald 2003: 11. 134
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zieht.22 Ein gewisser Zusammenhang zwischen beiden besteht in dieser Erwähnung einerseits, aber auch darin, dass Friedrich die zwei Ebenen in Sebalds Publikation in seinen eigenen Publikationen auflöst und die latente Argumentation der Bildebene in einem Bildband manifestiert, der den Zerstörungszustand der Städte nahezu zelebriert. Brandstätten. Der Anblick des Bombenkriegs (2003) zeigt die Photographie in ihrem Zustand zwischen Dokumentation und Narration, zwischen Wiedergeben und neu Erschaffen. In die Kapitel einer Geschichte (»Früher, Angriff, Abwehr, Zuflucht, Bergung, Versorgung, Trümmer, Trümmerleben, Partei, Heute«) und ihrer temporal-linearen Erzählrichtung, ihren Spannungsaufbau und ihre Teleologie eingebunden präsentiert Friedrich einiges bekanntes und viel bisher unveröffentlichtes Bildmaterial. Die stringente Bilderzählung wird durch ein dichtes sprachliches Mosaik ergänzt. Die in unterschiedlichsten Formaten bebilderten Seiten erhalten durch die Bild-Text-Montagen Friedrichs emblematischen Charakter, der im Editorial als Stilmittel erläutert wird. Ein Beispiel ist eine Doppelseite im Kapitel »Trümmer«23, auf der vier Photographien in den Einstellungen ›weit‹ bis ›halbnah‹ in klassischer Ruinenästhetik Restmauern von zerbombten oder ausgebrannten Gebäudekomplexen zeigen, die jeweils mit einer Zeile eines Benn-Gedichts untertitelt sind. Unter einem Bild Kassels: »Zerstörungen – /das sagt immerhin: hier war einmal/«. Unter einer Aufnahme aus Nürnberg: »Masse, Gebautes, Festgefügtes – /o schönes Wort/.« Zu Berlin: »voll Anklang/an Füllungsreichtum/.« Und zu Hannover: »und Heimatfluren – (Gottfried Benn, Zerstörungen)«. Jede Textzeile erzeugt in der Bildrezeption eine andere Assoziation und Lesart. Für die Photographie Kassels wird an die Vergangenheit erinnert, die Ruinen mit Leben erfüllt und die Zerstörung revidiert. Das Bild des Nürnberger Gebäudes hingegen wird durch den Text kontrastiert; das ›schöne Wort‹ hat sich lediglich als Wort erwiesen, das der Realität nichts entgegenzusetzen hat, da das trutzig wirkende Gebäude trotz dieser Wirkung nicht mehr ›Festgefügtes‹ ist. Das Bild eines Berliner Trümmerbergs, der nur noch rudimentär als Gebäude zu identifizieren ist, wird hingegen durch den Text pointiert: ›Voll Anklang‹ kann als Assoziationsreichtum gelesen werden, der zunimmt, je weniger von der ursprünglichen Form erkennbar ist. Das Bild einer zerstörten Straße Hannovers, auf dem vor der völlig zerstörten Häuserzeile Straßenschilder und verkohlte Bäume erkennbar sind, wird durch die Gedichtzeile ebenfalls pointiert und zudem poetisch erhöht: Benns ›Heimatfluren‹ macht 22 Sebald erwähnt, dass die ansonsten so fleißige Zunft der deutschen Historiker sich kaum des Themas angenommen habe, lediglich Jörg Friedrich im achten Kapitel von Das Gesetz des Krieges (1985). Sebald 2003: 76. 23 Friedrich 2003: 172f. 135
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die Straße in der Montage zu einer Wohnstraße, zu einem sozialen Umfeld und hebt plötzlich die Abwesenheit eines Lebensalltags im Bild hervor. An anderer Stelle werden Sätze aus militärischen Quellen selbst literarisiert und poetisiert, in dem sie durch ihre Sachlichkeit einen in seiner Zerstörung beeindruckenden Bildinhalt stark konterkarieren. Die BildText-Montagen zeigen den Anspruch des Bildbandes ein Kunst-Bildband erster Ordnung zu sein, also nicht Kunst dokumentierend, sondern Kunst erzeugend. Viele der regionalen stadthistorischen Bildbände sind entweder mit knapp kommentierenden oder leicht schief ins Pathetische mit metaphysischem Einschlag abrutschenden Bildunterschriften versehen, die historischen bis militärgeschichtlichen Darstellungen zum Bombenkrieg nutzen die Bildunterschrift meist zur informativen Ergänzung. Friedrich jedoch knüpft mit seinen emblematischen Montagen an eine Tradition der direkten Nachkriegszeit an und treibt deren Ästhetik weiter. Anders als die unzähligen stadthistorischen Publikationen sieht er es zum einen als seine Aufgabe an, die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung deutlich zu machen und in eine Erzählung bis in die Nachkriegszeit und den Wiederaufbau einzubetten (wobei er zur Vorgeschichte nur einige wenige Bilder der nationalsozialistischen Instrumentierung der Städte verwendet und dagegen zahlreiche Photos präsentiert, die die meist pittoreske städtische Vielfalt der deutschen Vorkriegszeit zeigen). In dieser, von Friedrich selbst so proklamierten Aufgabe finden sich auch kritische und differenzierende Untertöne wie Aufnahmen von Menschen in London oder Warschau oder die Kontrastierung einer engen Hamburger Gasse der Vorkriegszeit mit den Zahlen der Choleratoten von 1892. Die Rücküberführung sozialhistorischer Zusammenhänge in das gegenwärtige kollektive Gedächtnis bildet dabei die von Susan Sontag beschriebene photographische Haltung des Das Leiden anderer betrachten aus und erzeugt genau den von ihr beschriebenen Widerspruch: die moralisch als bedenklich empfundene Verbindung von schrecklichen Ereignissen und deren im photographischen Speichern erzeugte Ästhetisierung: »An Kriegsfotos Schönheit zu entdecken wirkt gefühllos.«24 Susan Sontag weist darauf hin, dass dieser Widerspruch in der Malerei, z.B. bei Historiengemälden von Schlachtszenen, so nicht existiere. Dies kann zum einen an der verfremdenden Wirkung des malerischen Abbilds wirken, das seinen Gegenstand nicht weniger intensiv, jedoch distanzierter zum realen Ereignis zu präsentieren vermag. Zum anderen kann neben der ästhetischen Distanz jedoch auch die historisch-zeitliche Distanz eine Rolle spielen. So provozieren zeitnahe künstlerische Arbeiten wohl immer die Frage nach der adäquaten Umsetzung im Vergleich mit den Erfahrungen von Zeitzeugen. Bei der Photographie hingegen tritt ein medi24 Sontag 2003: 89. 136
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aler Aspekt hinzu, der als störend wahrgenommen wird, wo er bei der Malerei als gewollt forciert wird: »Ein schönes Foto entzieht nach dieser Auffassung dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der dokumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird.«25 Die Trümmerphotographie bei Sebald, Friedrich und vielen anderen bewegt sich in genau diesem Dilemma der Photographie, gleichzeitig dokumentarisch und ästhetisch ansprechend zu sein. Bei genauerer Betrachtung muss dieses Dilemma jedoch vor allem auf die Darstellung der Stadt selbst eingeschränkt werden. Bilder, die die bizarr verstümmelten Leichen der Feuerstürme oder die unversehrt wirkenden Erstickungsopfer zeigen, setzen sich dieser Problematik in geringerem Maße aus, als es die weniger ins Detail gehenden Ruinenbilder tun. Bei den drastischen Opferbildern ist es meist mehr die Präsentation als die Repräsentation, die Anstoß erregt; d.h. der Veröffentlichungskontext, die narrative Eingebundenheit oder die Kommentierung. Die starke Ästhetisierung betrifft die Stadt selbst, wenn im Medium Photographie ihre Personifizierung vorgenommen wird, die damit meist eine Dekontextualisierung und damit Enthistorisierung impliziert. Friedrich beschreibt im einleitenden Text des Kapitels »Früher« den Vorgang der Städtezerstörung als einen Verlust an für die Gegenwart notwendigen historischen Schichten, der die heutigen Städte von den früheren unterscheidet: Der ästhetische Unterschied ist eigentlich ein Charakterwechsel. Die Wiederspiegelung der historischen Ferne fehlt, die steinerne Consecutio temporum, Weggenossenschaft der Zeit. […] Die frühere Stadt dagegen erzählte fortgesetzt eine Geschichte, war ihr Text und ihre Textur.26
Friedrich koppelt den heute als Mangel erfahrenen Verlust an historischer Stadtsubstanz und deren Ursachen jedoch fast ausnahmslos an den Bombenkrieg. Seine Gleichung lautet: die Städte, die damals zerstört wurden, fehlen uns heute. Der architektonische ›Nullpunkt‹, als der der Städtebau zwischen 1950 und etwa 1980 heute meistenteils27 empfunden 25 Ibid.: 90. 26 Friedrich 2003: 240. 27 Vgl. Erenz 2006 und – stellvertretend für viele mittlere Großstädte – z.B. den regionalhistorischen Bildband von Schlesiger/Werner (Schlesiger/Werner 2002). In diesem Band wird deutlich, dass die stadtplanerische »Basis zur Verwirklichung weitgreifender Vorhaben und zur Ausbreitung kühner, zum Teil auch utopischer Pläne« ihre architektonischen Opfer forderte. So fiel die gesamte östliche Altstadt Karlsruhe dem Kahlschlag zum Opfer. Außerdem wurden in den sechziger und siebziger Jahren viele historisch wie architektonische wertvolle Einzelgebäude abgerissen, wie das lediglich ausge137
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wird, ist damit in der Kette der Verlustursachen ausgespart. Im letzten Kapitel »Heute« wird kurz und undifferenziert auf die Wiederaufbauphase eingegangen, deren Ästhetik des Betons und der breiten Straßenschneisen durch die Innenstädte Friedrich mit dem Trauma des Bombenkriegs erklärt: »Den nächsten uneingeschränkten Bombenkrieg vor Augen, achteten sie auf breite Verkehrsstraßen zwecks Zufahrt der Löschund Rettungskräfte, auf schwer entzündlichen Beton und begrünte Trabantenstädte zum Wohnen.«28 Die Erfahrungen der Zerstörung hätten ein tiefes Misstrauen gegenüber den historischen Stadtzentren hinterlassen, die von den Alliierten tatsächlich strategisch als ›Zünder‹ für die Herstellung eines Feuersturms dienten. Die emotionale Bindung an die urbanen Vergangenheiten sei deshalb willentlich gekappt: Sie hatten als Stoff der Flammenhöllen gedient und würden wieder dazu werden. Der Torso der sinnlos preisgegebenen alten Heimstätte quälte nur, jedenfalls knüpften sich keine Sentimentalitäten daran. […] Was die Bombe übrig gelassen hatte, wurde großenteils abgerissen.29
Friedrichs Argumentation ist zwar einleuchtend, sie weist jedoch indirekt den bombardierenden Alliierten die Schuld an der Öde der deutschen Stadtzentren zu – im Gegensatz dazu steht einerseits die Position der avancierteren Nachkriegsarchitektur des ›Neuen Bauens‹, die an eine Vorkriegsmodernität des Bauhaus anknüpfen und ihre funktionale und geradlinige Bauweise dem mit engstirnigem, völkischen Denken assoziierten Butzenscheiben- und Gässchendeutschland entgegen setzen wollte.30 Andererseits sprechen gegen Friedrichs These auch Alexander Mitscherlichs Ausführungen in seiner Streitschrift Die Unwirtlichkeit unserer Städte (1965), in der er prognostizierte, dass der bauliche Zustand der Städte für weitere psychische Deformationen der Deutschen sorgen wird. Als Grund für den fehlgeschlagenen Wiederaufbau nennt er wirtschaftliche Fehler der Adenauer-Zeit, die eine Deregulierung des Marktes ohne jedes städtebauliche Konzept betrieben habe. Zu diesem bauwirtschaftlichen »Goldrausch«31 kommt jedoch mit der verpassten Reform des städtischen Bodenbesitzes der eigentliche Grund für die unre-
28 29 30 31
brannte Großherzogliche Hoftheater Heinrich Hübschs und sogar das Ständehaus, der frühere Sitz des badischen Parlaments, »das bauhistorisch wertvolle und geschichtsträchtige Haus«. Ibid.: 33. Friedrich 2003: 225. Ibid. Vgl. Conrads 2003. Mitscherlich 1994: 63. 138
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flektierte Art des Aufbaus, der die Thesen seiner späteren Studie Die Unfähigkeit zu trauern (1967) berührt: 1945: Ruinen, wohin man blickte, wohin man kam. Endergebnis, nachdem man ausgezogen war, die ganze Welt das Fürchten zu lehren. Hinter dieser prahlerischen Demonstration der Potenz war ein tiefer Zweifel am Selbstwert, an der Männlichkeit verborgen – nach untergegangener Reichsglorie, bei großer Arbeitslosigkeit. […] Ruinen waren ringsum: aber die Erde trug sie weiter, diese zahllosen Jubler, die sich von der Beutegier hatten verführen lassen, die da bereit gewesen waren, den anderen ihren Platz wegzunehmen. Die Welle der Vernichtung war zu ihnen zurückgekehrt und über ihnen zusammengeschlagen. Ihre Häuser waren zerstört, nun krallten sie sich im Boden umso fester, Regression auf eine mutterähnliche Sicherheit, nachdem die Kumpanei mit dem falschen Propheten so mißglückt war.32
Mitscherlichs Ausgangspunkt sind die Ruinen; er setzt in der deutschen Geschichte bei Null an und plädiert damit indirekt für einen weder mitleidigen noch strafenden Umgang mit der Psyche der Deutschen. Was die Bedeutung der historischen Städte betrifft, ist die Kernaussage dieselbe: Wie Friedrich spricht auch Mitscherlich von der »bedenkenlosen und vorerst noch keineswegs abgeschlossene[n] Traditionsvernichtung«33 durch Kriegsschäden, Wiederaufbau und Nachkriegszerstörungen. Unter Absehen davon findet sich bei Mitscherlich jedoch keinerlei Mythifizierung und Personifizierung einzelner Städte oder der historisch gewachsenen Stadt schlechthin. Friedrich hingegen setzt in seiner Studie und mehr noch in seinem Bildband die Stadt gleichberechtigt (nicht funktional in Abhängigkeit) neben ihren Bewohnern in Szene und visuell ins Zentrum und ordnet dieser Präsentation zudem zahlreiche Aussagen vom Anklagen der Alliierten wie der städtischen Vorkriegszustände, der dezenten Schuldverstrickung durch Naziaufmärsche und dem Lebenswillen in völliger Vernichtung zu. Diese Haltung steht in direkter Kontinuität mit der starken Tradition der deutschen Trümmerphotographie vor allem in Bildbänden der Nachkriegszeit – jedoch ohne die direkten Aussagen, die eine TäterOpfer-Debatte auslösen würden. Die bekanntesten Bände sind in so großer Zahl und mehrfacher Auflage erschienen, dass sie bis heute antiquarisch erhältlich sind. Ihre frühere massive Präsenz im kulturellen Gedächtnis der Nachkriegsbevölkerung hat somit bis heute ihre Spuren hinterlassen und zeigt deutlich, dass ein Verschwinden der Städtzerstörungsthematik in die ungeordneten Archive des Speichergedächtnis 32 Ibid.: 61. 33 Ibid.: 47. 139
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(noch) nicht stattgefunden hat. Als zwei der populärsten Beispiele zu nennen wären die Photographiebände von Hermann Claasen Gesang im Feuerofen (1947) über das zerstörte Köln und Dresden. Eine Kamera klagt an (1949) von Rolf Peter.
Ikonen der Trümmerphotographie: Peter und Claasen Die Publikation von Rolf Peter scheint in ihrer narrativen Struktur und der poetisierenden Sprachverwendung ein Vorbild für Friedrich gewesen zu sein. Der Band beginnt mit einem zehnstrophigen, langzeiligen, barock anmutenden Gedicht34 – einem Hymnus auf Dresden, der die Stadt direkt anspricht: »Du Stadt am Strom…«. Angesprochen werden auf höchst pathetische Weise die ›tausend Wunden […] durch Feuerhagel‹, der ›Phosphortod‹ und ›Ruinenstaub und Wüstenei‹. Bei aller Hymnenhaftigkeit und mythisierenden Sprachverwendung findet sich in der zweiten Strophe eine eindeutige politische Aussage und Schuldzuweisung, die in der fünften Strophe fortgesetzt wird: Der Glanz, der einst in deinen Augen lag, die von Musik und Malerei erhellt,/er mußte weichen durch die eigne Schmach und durch die Schmach,/die Wallstreets Namen trug. […] Daß neue Kraft aus deinen Quellen fließt, kam durch den Tag,/an dem der Rotarmist in deine Mauern eingezogen ist, von allen freien Herzen froh begrüßt.35
Die Stadt selbst wird nicht nur personifiziert, sondern anthropomorphisiert; neben ihren Augen werden ein ›schamhaftes, schlichtes‹ Lächeln, das Rufen der Stadt nach ihren Söhnen, ihre vom Krieg belasteten Träume erwähnt. Die Bildfolge beginnt, nach der schlichten Überschrift ›Dresden‹, mit drei Abbildern nächtlicher Prachtbauten, wobei bereits der dritten Photographie die berühmteste Aufnahme der zerstörten Stadt gegenübersteht, das zur Ikone der Trümmerphotographie wurde, die oft als ›Engel‹ titulierte Statue auf dem Dresdener Rathaus. Dadurch wird ein extremer Gegensatz produziert, der die Stadt im Kriegszustand ausspart. Die Anord-
34 Durch das unregelmäßige Metrum und vor allem die langzeilige Notation entstehen kunstvolle Binnenkreuzreime, die anders notiert ein schlichtes Enjambement wären. Das Gedicht besteht aus einer zweizeiligen Strophe, der zwei dreizeilige und eine sechszeilige folgen und an die sich dann sechs zweizeilige Strophen anschließen. 35 Peter 1949: o.S. 140
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nung suggeriert eine belebte, festlich illuminierte Stadt zu Friedenszeiten, die plötzlich angegriffen und völlig zerstört wird. Dem folgen zahlreiche Trümmerphotographien, von Stadtansichten bis zu Einzelgebäuden, die durch rein informativen Text identifiziert werden. Erst auf Seite 52 beginnt die später bei Friedrich etablierte Emblematik der Bild-TextMontagen: Ein aufrecht stehendes Skelett (im Gebäude einer naturhistorischen Sammlung) an einem Fenster, hinter dem sich als Ausblick die zerstörte Frauenkirche erhebt (Abb. 1), leitet über zu einer mit Nachrichten über die Bewohner beschriebenen Hauswand, die unterschrieben ist mit den zunächst kryptisch erscheinenden Zeilen »Die Tragödie der geöffneten Keller darf der Menschheit bei der Gewissensfrage – Krieg oder Frieden? – nicht vorenthalten bleiben.«36 Was folgt sind, wiederum ähnlich wie sechzig Jahre später bei Friedrich, Nahaufnahmen von entstellten Leichen und Bilder der Leichenverbrennung auf dem Altmarkt. Es folgen die Kapitel »Der Mensch nach der Zerstörung«, »Aufbau« und »Das Dresdener Rathaus«, die in einen offenen sozialistisch-optimistischen Duktus münden, der der offiziellen Parteilinie entspricht, die überwiegend das Gute an der Beseitigung der bourgeoisen Vergangenheit und einem sozialistischen Neuaufbau sieht – und zudem einen (im Gegensatz zu Westdeutschland) offen anklagenden Diskurs gegenüber den westlichen Alliierten, den ›imperialistischen Bombern‹, führt. Die narrative Struktur, die Personifizierung der Stadt wie auch die Anklage gegen die alliierte Kriegstechnik belegen einen starken intertextuellen Bezug von Friedrich zu Peter37 – auch wenn Friedrich fast demonstrativ die Ikone der Trümmerphotographie, die Statue der Allegorie auf die Güte, nicht abbildet. Denn mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass der sogenannte Engel und die Trümmerbilder der zerstörten Städte in einem engen wechselseitigen Assoziationsraum verortet sind. Dieser wird in allen Printmedien eingesetzt, sobald der gesamte Kontext der Städtezerstörung schnell aufgerufen werden soll: sei es immer wieder über die Jahre in Printmedien oder auch z.B. als Bucheinband von Der Untergang Dresdens des Holocaustleugners David Irving. Die Aufnahme der Statue hat als Chiffre für die Städtezerstörung einen dauerhaften Platz im kulturellen Gedächtnis, da sie die Stadt selbst zu personifizieren scheint (Abb. 2). Die präsentierende Handbewegung der ›Güte‹ auf dem Dresdener Rathaus scheint mit neutralem bis freundlichem Ausdruck auf die abgebildete Trümmerwüste aufmerksam zu machen. Der distanzierte Blick von oben auf die Stadt mit ihren graugezackten, fast regelmäßigen Ruinenzeilen, 36 Ibid.: o.S. 37 Auch Friedrich beginnt seinen Bildband mit dem Abdruck eines Gedichts: Bombenregen aus Alfred Haushofers Moabiter Sonetten. Friedrichs 2003: 4. 141
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der Harry Mulisch an einen zerrissenen Spitzenschleier denken lässt,38 verstärkt diesen Eindruck und steigert ihn durch die Distanz zur Kunstrezeption der Ruinenästhetik. Was der Blick über die Schulter der Statue, der ausgestreckten Hand folgend jedoch ausspart, mag mit zur Beliebtheit und häufigen Verwendung beigetragen haben: es sind keine Menschen zu sehen, keine Zeichen des Wiederaufbaus oder des Einrichtens von Alltag in den Trümmern. Die Ruinenlandschaft wird nicht als Übergangszustand dargestellt, sondern als vollendet wirkender abgeschlossener Status der vollständigen Destruktion, der durch einen letzten versteinerten Zeugen vorgeführt wird – in seiner fließenden Bewegungsrichtung die Kehrtwende der Frau Lot in ihrem letzten Blick auf das zerstörte Sodom assoziierend. Das Bild strahlt eine zur Kontemplation einladende Ruhe aus, wie ein sakrales Kunstwerk. Auch wenn Peter in seinem Bildband die Toten der Bombardierungsnächte ebenso zeigt wie die Mühen des Wiederaufbaus, die Aufnahme der Statue ohne ihren narrativen Kontext des Bildbandes zeigt die ›schöne‹ zerstörte Stadt, die in ihrer Wirkung der romantischen Ruine gleichkommt und die für Jahrzehnte die Metapher und den visuellen Eindruck vom ›Elbflorenz‹ durch das des ›Engels von Dresden‹ ersetzte und die im kulturellen Gedächtnis Europas zum visuellen pars pro toto, zu Dresden selbst wurde. Durch den Wiederaufbau der Frauenkirche wird dieses Dresdenbild höchstwahrscheinlich ausgetauscht. »Auferstanden aus Ruinen« titelte der Spiegel39 und mit der Feststellung eines neuen städtischen Bürgertums wurde angedeutet, dass durch das Anknüpfen an Traditionen des 19. Jahrhunderts der Aufbau nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus und die Zerstörungen abschließt, sondern auch – wie der Titel der DDR-Hymne assoziiert – die DDR als ein Intermezzo in der deutschen Geschichte abgehakt wird. Das zerstörte Dresden und sein Trümmermahnmal der Frauenkirche werden somit zum Sinnbild des geteilten Deutschlands,40 das Bild der wiederaufgebauten Kirche zu einem Symbol für die (Wieder-)Herstellung von historischer und kultureller Kontinuität eines von seinen Städten geprägten Europas – oder, aus einer weniger optimistischen Sicht, für eine selektive Wahrnehmung und Konstruktion der Geschichte.
38 »[…] eine Braut, die ihren Schleier, beim Anblick ihres Bräutigams in Stücke gerissen hatte.« Mulisch 1995: 16. 39 Beyer 2005. 40 Passend hierzu wurde die Bombardierung Dresdens nicht nur in der DDR als Machtdemonstration der westlichen Alliierten den Sowjetmachthabern gegenüber interpretiert, da in den Gesprächen zur Nachkriegsordnung die Zonen bereits eingeteilt waren und Dresden den Sowjets zufallen würde. 142
GEISTERSTÄDTE
Abbildung 1: »Der Tod über Dresden«, Peter 1949: o.S.
Abbildung 2: Dresden nach der Zerstörung am 13.02.1945, Peter 1949: o.S.
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Wie Rolf Peter Dresden in der frühen Nachkriegszeit die Stadt als solche im Kontext von Zerstörung und Wiederaufbau dokumentiert, werden auch nicht-deutsche Städte zeitlich später noch behandelt. In einem Bildband mit dem Titel Stalingrad. Porträt einer Stadt, Inferno einer Schlacht, Protokoll eines Wahnsinns reiht sich der Bestsellerautor Heinz G. Konsalik 1968 in die Reihe der Porträts schicksalhafter Städte ein. Verbunden mit einem Aufruf zum Weltfrieden werden nach einem Vorwort (»Über den Wahnsinn«), in dem Stalingrad als »Mahnmal heldischer Soldatentugend« bezeichnet wird, vor Beginn der Photostrecke Zahlen und Daten für deutsche und sowjetische Verluste aufgeführt »die man auswendig lernen sollte wie eine Nationalhymne.«41 Dem Vorwort vorangestellt ist bereits eine eineinhalb Seiten breite Aufnahme aus der Vogelperspektive, die ähnlich einem Röntgenbild stark stilisiert wirkend gleißend helle Gebäude-Gerippe in einer schwarzen Landschaft zeigt. Am rechten Bildrand bewegt sich nach oben aus dem Bild der Schriftzug ›Stalingrad‹, der wie in zerbrochenen Marmor gemeißelt erscheint (aber durch die Brechung pro Buchstabe mehr an ein Scrabble-Spiel erinnert als antike Assoziationen zu wecken). Der Aufbau entspricht ebenfalls wieder dem narrativen Muster von Vorkrieg, Zerstörung und Nachkrieg. Die Photostrecke, bei der jede Seite ausführlich in einem teils informativen, teils poetisierten Stil kommentiert wird (wie später auch bei Friedrich), beginnt mit dem Kapitel »Noch liegt Frieden über dem Land«. Einer ländlichen Idylle folgen eine Panoramaaufnahme und zwei weitere Bilder der modern und lebendig wirkenden Stadt an sonnigen Tagen. Auch Konsalik beginnt die eigentliche Thematik mit einem extremen Wechsel, die nächste Seite zeigt General Paulus und General v. Seydlitz mit der Sechsten Armee beim Beobachten der Stadt vor dem Angriff im Juli 1942. Einer Reihe von Bildern des Angriffs, auf der bereits Tote, brennende Häuser und Trümmer zu sehen sind, folgt der Hauptteil des Bandes: ca. siebzig Photographien, die in teils spektakulären Schnappschüssen den Häuserkampf in Nahaufnahme, die Raketengegenwehr der Sowjets, erfrierende Soldaten, Ruinenleben der Soldaten und die Stadt als Ruine bis zur Kapitulation der Deutschen dokumentieren. Der Band endet mit Bildern des Wiedereinzugs der Bevölkerung, des Aufbaus und der wiederaufgebauten Stadt, aus denen deutliche Bewunderung für die sowjetische Aufbauleistung spricht. Neben dem oft pathetischen, überpointierten Sprachstil beeindruckt der Band durch seine interessante 41 Konsalik 1968: 10f. Skandalös ist dabei, dass bei den Zahlen für Deutschland zwar Soldaten, Vermisste und explizit 500.000 Tote durch Luftangriffe angeführt werden, dass aber die genannten 191.338 Tote durch Todesurteile, Unfälle, Krankheiten und Selbstmorde nicht die Zahl der sechs Millionen ermordeter Juden enthält – diese wird nicht genannt und eingerechnet. 144
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Bildauswahl, die oft im Sinne Barthes ein ›punctum‹ enthält, d.h. weniger eine eindeutige Wirkungsabsicht wie Anklage oder Ruinenästhetik erkennen lässt. So erschließen sich viele der Bilder erst durch den Text, der jedoch trotz poetisierender oder sinnspruchhafter Sprache keine Emblematik entwickelt.42 Auch der Aufnahmestil ist unterschiedlich. Sehr scharfen Momentaufnahmen und mit langer Belichtungszeit Photographierten Panoramabildern folgen verwackelte oder grobkörnige Knipserbilder.43 Soldaten- und Zivilistenporträts wechseln sich ab mit Aufnahmen von Kampfhandlungen und wie Stilleben wirkenden Anordnungen z.B. von Toten. Soldaten stehen als abgebildete Personen stark im Zentrum. Erst im Wiederaufbau wird die sowjetische Bevölkerung, vor allem junge Frauen gezeigt, die zu einer Personifizierung der Stadt als Frau führen (Abb. 3); eine Assoziation, die durch die Statue des weiblich konnotierten Kampfengels am Ende des Bandes verstärkt wird.
Abbildung 3: Stalingrad, Konsalik 1968: 127.
42 Zum Beispiel ist das Bild eines hohen Militärs, dem ein Soldat die Wagentür aufhält, unterschrieben mit »Du hast gesehen: Deinen Generalfeldmarschall Paulus.« Erst nach einem Absatz folgt in den nächsten Zeile, dass der in einem Keller von den Sowjets gefangengehaltene Paulus auf dessen Wunsch mit einem Wagen abgeholt wurde und nicht zu Fuß durch die Stadt laufen musste. Konsalik 1968: 108. 43 Vgl. die bildhistorische Forschung zu den sogenannten ›Knipserbildern‹ des Ersten und Zweiten Weltkriegs, z.B. Boll 2002; Dewitz 1992; Kaufhold 1987. 145
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In Verbindung mit der Darstellung von Gefallenendenkmälern für Deutsche in Stalingrad ergibt sich die Funktion dieses Bandes. Im Klappentext weist der Verlag darauf hin, dass ›Stalingrad‹ eine semantische Besonderheit auszeichnet: zum einen wird so die von den Deutschen stark zerstörte Stadt bezeichnet, zum anderen – und dies überwiegt in Deutschland das Wissen um die Zerstörungen bei weitem – wurde ›Stalingrad‹ im Deutschen zum Synonym für die verlorene und verlustreiche Schlacht. Konsalik nimmt eine starke Personifizierung der Stadt vor: so durchzieht die Bezeichnung der Ruinenlandschaft als ›Gesicht‹ den ganzen Band und Zerstörung und Wiederaufbau werden wie die Krankheit und die Genesung einer Person kommentiert. Die Personifizierung mildert jedoch die im Deutschen überwiegende Bedeutungsebene; im Band verbunden werden die üblicherweise zentralen Ereignisse der Schlacht mit der Tatsache der Zerstörung einer Großstadt. Die ›Erzählung‹ der Nachkriegszeit zeigt daher auch weniger die Heimkehr der Soldaten oder der Kriegsgefangenen nach Deutschland oder einen Soldatenfriedhof, was ja durchaus als sinnvoller Schluss denkbar wäre, sondern – wie Peter für das sozialistische Dresden – die neue Stadt und Bilder des sowjetischen Alltags, ganz zuletzt das Schlachtdenkmal auf dem Mamajew-Hügel und einen sinnierenden Mann, der als Überlebender vorgestellt wird. Konsalik kann durch die Betonung der Stadtzerstörung, der sowjetischen Verluste – besonders auch der Zivilbevölkerung und des Wunschs nach Friede und Völkerfreundschaft – die für die Deutschen als kollektives Trauma oder kollektives Tabu existenten Bilder der Kämpfe ausführlich zeigen. Die semantische Doppelbedeutung des Namens wird konstruiert, indem die Stadt instrumentalisiert und zum Rahmen des eigentlichen Themas wird: der Visualisierung von Erlebnissen der Soldaten. Auf diese Weise erst wird der äußerst respektvolle und bewundernde Ton, überhaupt das Interesse an der Stadt einsichtig. Wie auch an anderen Stellen erfolgt auch hier die Beschäftigung mit einer zerstörten nicht-deutschen Stadt vor allem dann, wenn primär die deutsche Geschichte ein gegenwärtiges Interesse hat.44 Ein Vergleich zeigt, dass bei Konsalik ganz ähnliche Stilmittel wie bei Peter und Friedrich verwendet werden, jedoch mit Unterschieden in der Intention: gemeinsam ist allen Bänden der narrative Aufbau und die Doppelseite mit Porträtaufnahmen Toter. Vor allem aber wird kein explizites, individualisierendes Totengedenken betrieben, sondern die Stadt wird deutlich personifiziert bis hin zur kultisch wirkenden Verehrung. 44 In einem Beispiel der jüngsten Zeit wird in einem Spiegel-Artikel zum 750jährigen Stadt-Jubiläum Kaliningrads, des früheren Königsbergs, auch die Bombardierung der Stadt in einer Art erwähnt, die vor allem betont, dass dies eine deutsche Stadt war. Vgl. Ihlau/Neef 2005. 146
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Bei Konsalik wird diese Verehrung der Stadt wiederum zur Metonymie für die Ehrung der Toten und damit zu einem verschämt wirkenden Totengedenken, das der Bewältigung eines kollektiven Traumas dient – als ob mit der Klage und dem Lob Stalingrads immer eine Ersetzung von ›Stadt‹ durch ›Deutsche‹ in der Schlacht stattfinden würde. Die Funktion des Bandes, in der für ein deutsches Publikum die Zerstörung und der Wiederaufbau einer russischen Stadt dokumentiert werden (nicht die Schlacht!), ist folglich nicht, an Verlorenes zu erinnern oder den Zerstörungszustand vor dem Verschwinden im Wiederaufbau festzuhalten. Stattdessen wird der Ort der Schlacht konserviert, der damit auch für Daheimgebliebene zumindest visuell erlebbar wird und den Mythos ›Stalingrad‹ mit räumlichen Vorstellungen füllt. Im Zeigen der wiederaufgebauten, ja blühenden Stadt können dann Assoziationen an die geheilte deutsche Psyche hergestellt werden. Bei Peter, Konsalik und Friedrich fußt die Erzählung von Zerstörung und Wiederaufbau auf der Vergangenheit, der Erinnerung an die unzerstörte Stadt. Der frühere Zustand wird knapp bis verkürzt als geschichtsloses, unschuldiges ›damals‹ oder ›davor‹ gezeigt. Die Bilder der Zerstörung werden festgehalten, da sie im Verschwinden begriffen sind und die Kamera Dokumente herstellte, die im Speichermedium der Photographie in den Archiven des kulturellen Gedächtnisses gelagert werden sollen, wenn das unmittelbare kommunikative Gedächtnis nicht mehr auf diese individuellen Erinnerungsbilder der Kriegs- und Nachkriegszeit zugreifen kann. Die Stadt wird dabei, jeweils unterschiedlich akzentuiert, in Verbindung mit den sie Bewohnenden gezeigt und in ihren Zerstörungen wie eine weitere Person behandelt – wobei die Trauer um die Stadt meist die Trauer über die Menschen überlagert. Die Gründe hierfür könnten darin liegen, dass Metaphern aufgeladen werden können, die Stadt in einer metonymischen Bewegung zum Pars pro toto, besser noch zum Container für Projektionen des Zustands und der Erlebnisse der Bevölkerung wird. Damit kann im Beklagen des Zustands einer Stadt und in der bewundernden Dokumentation ihres Neuaufbaus die Forderung nach demselben Recht für die Bewohnenden implizit sein und auch eine Demonstration an beglichener Schuld – eine Debatte, die im neuen Jahrtausend schließlich auch geführt wurde. Eine solche Verbindung von Stadt und Menschen lässt sich in der zweiten populären Bilddokumentation einer Stadt in der Nachkriegszeit zunächst nicht erkennen. Hermann Claasens Gesang im Feuerofen. Köln. Überreste einer alten deutschen Stadt – ist an Bekanntheit und in der Titelsemantik das Pendant zu Rolf Peters Dresden. Eine Kamera klagt an.
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Was auffälligerweise fehlt, sind jedoch Bilder des unzerstörten Kölns45 sowie Aufnahmen, die die Menschen der Stadt zeigen, sei es als tote Opfer des Luftkriegs oder als Überlebende, die sich in den Trümmern einrichten. Claasen beginnt mit einer fast abstrakt wirkenden Aufnahme des brennenden, Funken stiebenden Kölns und einem weiteren, doppelseitigen Brandnachtbild, zeigt dann immer wieder, aus allen denkbaren Perspektiven den unzerstörten Dom inmitten einer Ruinenlandschaft und der bis heute häufig abgebildeten Hohenzollernbrücke, die in ihrer Zerstörung und ihren wie geknickte Streichhölzer aus dem Rhein ragenden Eisenstreben die Wucht der Zerstörung besonders deutlich demonstriert. In der Photostrecke zum Dom finden sich einzelne, im Postkarten-Format abgedruckte Bilder, die deren Ästhetik der Landschaftsaufnahme imitieren. In einer die Domdarstellung abschließenden Doppelseite wird diese Ästhetik zu einer klassischen Ruinenlandschaft in der Tradition Caspar David Friedrichs gesteigert: doppelseitig, jedoch mit breitem weißen Rand oben und unten, wirkt die Weitwinkelaufnahme einer Ruinensilhouette, die sich, durchsetzt von Baumgerippen, schwarz gegen einen wolkenreichen Gewitterhimmel abzeichnet, wie ein Szenario der Schauerromantik. Der Zäsur durch das kaum Informationswert transportierende, sondern eine ästhetische Aussage treffende Bild folgt der Hauptteil des Bandes: Groß- und Detailaufnahmen von Kölner Kirchenruinen, Heiligenstatuen, Portalen, Kirchenschiffen, Rippen von Kreuzgewölben usw. Das Stadtporträt legt durch diese Ausrichtung auf Sakralbauten eine theologische Lesart der Trümmer nahe, die gerade bei Köln sehr häufig zu finden ist; z.B. in in dem spät entdeckten Trümmerroman Heinrichs Bölls Der Engel schwieg ebenso wie in Billard um halbzehn. Die Tatsache, dass der Luftkrieg oft als Gottesstrafe interpretiert wurde – was nicht nur die Bezeichnung des Luftangriffs auf Hamburg als ›Aktion Gomorrah‹ nahe legt – wird hier umgekehrt. Die Unversehrtheit des Kölner Doms – photographisch demonstrativ präsentiert und von allen Seiten bewiesen – wird hier zum Zeichen für göttliches Wohlwollen46 und unter dieser Voraussetzung kann dann auch bedauernd auf die vielen zerstörten
45 Claasen setzt in seinem Einleitungstext voraus, dass sein Vorgängerband zum unzerstörten Köln bekannt ist, der Düsseldorf 1939 unter dem Titel Köln. Antlitz einer alten deutschen Stadt erschien und die architektonischen Reichtümer Kölns präsentiert. 46 Eine im Bombenkrieg häufige Interpretation, wenn markante Gebäude in stark bombardierten Stadtgebieten nicht zerstört wurden. Zum nationalen Symbol wurde, wie Athena Syriatou zeigt, die St. Pauls Kathedrale in London durch die Aufnahme Herbert Mansons vom 29. Dezember 1940. Das Bild der unzerstörten Kirche inmitten einer brennenden Stadt wurde zu einem der ›War’s greatest picture[s]‹ und zu einem Symbol der Standhaftigkeit Englands gekürt und stilisiert. Vgl. Syriatou 2004. 148
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Kirchengebäude hingewiesen werden, an denen, wie es im Vorwort heißt, sogar »in der Zerstörtheit Schönheiten sichtbar werden, die man vorher so nicht gesehen.«47 Auf einer weit subtileren Ebene wird in Gesang im Feuerofen durch die Darstellung der zerstörten Stadt eine Anklage erhoben. Dies zeigt sich auch darin, dass die Photostrecke völlig ohne Bildunterschriften auskommt – bewusst, wie das Vorwort zeigt. Denn die Anklage wird hier als eine doppelt gerichtete erkennbar: zum einen werden auf der Bildebene die Verursacher der Zerstörung angeklagt – die sich nicht nur an der Stadt vergangen haben, sondern sogar an den Gotteshäusern. Zum anderen werden auf der sprachlichen Ebene in indirektem, ins metaphysisch-religiös Unbestimmte abgleitendem Duktus, diejenigen beschuldigt, welche die Zerstörer provoziert haben, was wiederum die Eigenverantwortung der Bevölkerung negiert. Die Zeit des Nationalsozialismus wird nie als solche benannt, sondern sie ist die Zeit der »Illusionen«.48 Vom »Mysterium der Bosheit«49 ist die Rede, Zeichen, für die seit Jahrhunderten der Weg bereitet wurde,50 von dem »Sturz aus der maßlosen Herrlichkeit unmäßiger Menschenhybris«51 und davon, dass die Auswahl der Bilder »bewusst keine Erinnerungen beschwören soll«, denn »was sind Erinnerungen? Sand der durch die Finger rinnt. Flüchtige Schemen, die dazu verführen, das, was ist, gegen etwas einzutauschen, das nicht mehr ist.«52 Da der Bildband, im Gegensatz zu allen anderen, nicht nur sprachlich, sondern auch visuell den Nationalsozialismus völlig unerwähnt lässt,53 wird mit dem Verdrängen der Erinnerung an das Vorkriegsköln auch ein eindeutiger Aufruf zur Geschichtsvergessenheit getätigt. In einer mythisch überhöhten und vielseitig interpretierbaren Stunde Null findet eine Versenkung in die Schönheit von sakralen Überresten statt, die nicht nur visuell das Ausschalten rationaler Denkansätze propagiert: »Das Wort ist in Mißkredit geraten. Es ist uns fragwürdig geworden wie vieles, wie beinahe alles. Es hat maßgeblichen Anteil an der totalen Illusionierung des Daseins genommen. Es hat sich zum Träger der Unwahrheit gemacht […].«54
47 48 49 50 51 52 53
Claasen 1947: XII. Ibid.: X. Ibid.: XIV. Ibid.: XII. Ibid. Ibid.: X. Bei Peter und Friedrich sind mit Hakenkreuzfahnen geschmückte Straßenzüge, tote Hitlerjungen, Leichen mit Hakenkreuzbinde und ähnliche Hinweise auf den Grund der Zerstörung zu finden. Bei Konsalik wird im Text darauf eingegangen. 54 Claasen 1947: XI. 149
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Die Ebene der Ratio und der Sprache wird den Demagogen des Nationalsozialismus zugeordnet und ist durch die endgültige Niederlage nach dem Bombenkrieg diskreditiert. Einerseits wird deshalb bewusst auf die emotionale Wirkung der Bilder gesetzt, in der der Hinweis auf die Trümmerschönheiten eine trotzige Geste gegen die Bombardierer und deren Versuch der kulturellen Vernichtung ist. Andererseits ist ein Satz wie ›Das Wort ist in Mißkredit geraten‹ im aufgezeigten Kontext ein performativer Akt, der tatsächlich davon zeugt, wie prekär und entlarvend die Sprache ist (und sei sie noch so bemüht metaphorisch) im noch keineswegs einheitlichen Nachkriegsdiskurs zum Dritten Reich im Gegensatz zur Vieldeutigkeit des Bildes. In einem weiteren in diesem Kontext erwähnenswerten Bildband wird diese These noch gestützt, vor allem, da die Vieldeutigkeit des Bildes durch die Form der Montage zu einer präziseren Aussage verdichtet wird. O. M. Artus sieht seinen Bildband Deutschland. 10 Jahre danach als »ein einziges stolzes Zeugnis zähen Wiederaufbauwillens und ungebrochener Lebenskraft.«55 Den einleitenden Bildern von Flüchtlingen, brennenden Häusern, Trümmern, Barackenlagern und Wiederaufbau (»Wie so oft in der Vergangenheit: die Rechnung bezahlt das Volk.«56) folgen euphorisch kommentierte Gegenüberstellungen von Trümmern und Neubauten. Die Personifizierung der genannten Städte wird wie auch in den anderen Bänden oft zur Anthropomorphisierung. So wird Berlin »heute wieder das Schaufenster zur Welt und – was für uns Deutsche noch wichtiger ist – mit seinen repräsentativen Ausstellungen das menschliche Bindeglied zwischen Ost und West.«57 Wie auch bei Claasen wird der Bezug auf die unmittelbare Vergangenheit ausgeblendet, und die Ereignisse werden in einen größeren, relativierenden historischen Zusammenhang gestellt. Nebenbei wird – auch dies typisch für die Personifizierung in den Nachkriegsbänden, eine bestimmte Stadt gekürt, die die Rangliste der am meisten leidenden Städte anführt, nach Dresden und Köln ist es in diesem Band Berlin: »Welche Stadt in dem vom Kriege so furchtbar heimgesuchten Europa hat größeres Leid getroffen, als die alte Reichshauptstadt? War es nicht, als sollte die Stadt, von der aus ein wahnwitziger Diktator den wahnwitzigsten aller Kriege entfesselt hatte, wie einst Karthago dem Untergang geweiht sein?«58 Die angedeutete Trotzreaktion gegenüber voreiligen Schuldgefühlen aufgrund des Trümmeranblicks im Kölnband ist in diesem wieder als Narrativ angelegten Bildband durch die Anfänge des Wirtschaftswunders zu voller Blüte ge55 56 57 58
Artus 1956: o.S. (Umschlagtext). Ibid.: 9. Ibid.: 125. Ibid.: 114. 150
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langt. »Wir sind wieder wer« spricht aus allen Gegenüberstellungen von Trümmer- und Neubauphoto. So werden lange Plattenbauzeilen in Hamburg »als richtungweisend für den fortschrittlichen Wohnungsbau gelten«59, stolz wird vermerkt (und auf fast jedem Photo in Szene gesetzt), dass in modernen Geschäfts- und Wohnvierteln Auto um Auto die Straße entlang rollt und die Trümmerbilder zur Mahnung, aber – wie die Publikation demonstriert – vor allem »als Folie für den lichtvollen Glanz der wiedererstandenen Städte dienen.«60 (Abb. 4)
Abbildung 4: Titelbild des Bandes »Deutschland. 10 Jahre danach«, Artus 1956.
59 Ibid.: 112. 60 Ibid.: o.S. (Klappentext). 151
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In Classens Kölnband wird eingangs der beim Anblick der Trümmerwüsten entstehende Eindruck ›von Gespenstigem‹ beschrieben, der in der Auswahl der von Statuen statt von Menschen bevölkerten und an schauerromantische Szenarien erinnernde Aufnahmen verstärkt wird. ›Zehn Jahre danach‹ zeigt Artus, dass die kulturpsychologische Verdrängungsleistung, für die das Gespenst symbolisch steht, in vollem Gange ist: die Breite des Raums wird durch Asphalt und Beton versiegelt und erinnert an das literarische Muster der Gespenstergeschichte, in der der ungelöste Konflikt im Zentrum des Geschehens verborgen ist, verbannt auf den Dachboden oder eingemauert im Keller. Die von Mitscherlich beklagte ›Unwirtlichkeit der Städte‹ im Nachkriegsdeutschland wird tatsächlich zur Unwirklichkeit, zum Unheimlichen der Städte.61 Dient die Horizontale im Nachkriegsdeutschland der Verdrängung, so dient die Vertikale in Artus’ Band der Machtdemonstration vor allem durch Hochhausbauten. In der Umschlaggestaltung wird dies in der Photomontage besonders deutlich: die Vorderseite zeigt zu Dreivierteln Trümmerreste und eine stark lädierte Maria mit Kind, ein Viertel des Bildes nimmt ein nächtliches Hochhaus mit Autos und Bäumen davor ein. Die Muttergottes suggeriert noch Schwäche und möglicherweise auch religiöse Besinnlichkeit, der Bezug zum neuen Gebäude wird nicht deutlich. Im Gegensatz dazu ist die Rückseite des Umschlages eine Kampfansage: in die zertrümmerten Metallteile der unteren Bildhälfte montiert wurde ein leicht von unten aufgenommenes Hochhaus, breit und mit Vorbau, das durch die Perspektive noch mächtiger wirkt und das vorne und an der Seite den programmatischen Schriftzug ›Degussa‹ trägt.
Ausländische Beobachter Diese Mischung aus Gespenstischem der Ruinen im Übergang zum Verdrängten des Wiederaufbaus und unreflektiertem Trotz, der sich mit ganzer Kraft auf die zerstörten Städte als traditionelle Kultur- und Macht61 Der von Klaus R. Scherpe herausgegebene Sammelband Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne (1988) ist in seinen Beiträgen noch sehr von der Tabuisierung oder auch dem intellektuellen Desinteresse an den Folgen der Zerstörung und des modernistischen Wiederaufbaus gekennzeichnet, da kein Beitrag diese Thematik explizit zum Inhalt hat. Auch in Scherpes eigenständiger Studie Stadt, Krieg, Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen (2002) ist die Städtezerstörung im Zweiten Weltkrieg kein explizites Thema. Dies ist umso erstaunlicher, da Scherpe mit der Herausgabe des Bandes In Deutschland unterwegs 1945-1948. Reportagen, Skizzen, Berichte (1982) eine der wichtigsten Zusammenstellungen an Texten zur Stadt in der Nachkriegszeit vorlegte. 152
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zentren und deren symbolische Neubesetzung richtet, spiegelt sich in den Beschreibungen und Photographien ausländischer Beobachter und im Ausland lebender Emigranten. Gerade der nicht-europäische, also bisher nicht mit zerstörten Städten konfrontierte Blick ist hier aufschlussreich. So finden sich in Brechts Arbeitsjournalen aus der Zeit von 1938 bis 1955 zur Zeit des Luftkriegs auch gesammelte Zeitungsbilder der zerstörten Städte. Interessant ist dabei vor allem, dass Brecht aus dem amerikanischen Exil nicht selbst Photos machen konnte oder nach Kriegsende Photos zur Ergänzung seiner Journale auswählte. Was sich bei Brecht als Bildmaterial findet, ist zum einen der Blick der ausländischen alliierten Presse auf die zerstörten Städte und zum anderen der aus deutschen Zeitungen stammende. Brecht fügt die Bilder zwar zu bestimmten Tagebucheinträgen hinzu, ähnlich wie bei Sebald beziehen sich die eigentlichen Einträge jedoch kaum oder gar nicht auf die Zeitungsausschnitte. Sie scheinen nicht der visuellen Ergänzung des Geschriebenen zu dienen, sondern entwickeln eine eigene visuelle Ebene der ›Erzählung‹, die das Notierte durch Bilder parallelisiert, die Brechts Aufmerksamkeit erregten, ohne auf sein Schreiben einzuwirken. Die abgebildeten Photographien, eindeutig als Zeitungsbilder erkennbar, zeigen vor allem militärische Luftaufnahmen. Beginnend mit dem bombardierten London aus der Vogelperspektive vermerkt Brecht, dass in derselben Ausgabe der Berliner Illustrierten ein ganz ähnliches Bild im Kontext eines Artikels zur historischen Stadtplanung abgedruckt wurde. Weitere Bilder folgen: Luftaufnahmen von Lübeck am 21.04.1942, von Hamburg am 06.09.1943, Bilder in Normalsicht auf das brennende Dünkirchen am 27.10.1941 und das zerstörte Valetta auf Malta am 30.06.1942. In Brechts Photos wird so indirekt der ›offizielle‹ Bilddiskurs der Deutschen wie der Alliierten sichtbar. Die Bilder haben eine propagandistische Funktion, Brecht ist dabei ebenso wie alle anderen Zeitungsleser während des Krieges auf diese Art von Bildinformation angewiesen. Wesentlich aufschlussreicher und vielfältiger sind hingegen die Möglichkeiten des Lesepublikums bei Kriegsende durch die embedded journalists und ihren schriftlichen wie visuellen Blick auf die Städte. So besuchte Lee Miller für ihre Vogue-Reportage Germany – the War is Won (in der deutschen Ausgabe neutral übersetzt mit Der Krieg ist aus) im Frühjahr 1945 nicht nur Städte im Allgemeinen, um sich ein Bild von den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstagen zu machen. Vielmehr dokumentiert sie für ein amerikanisches und britisches Publikum gezielt den Zustand der Städte, die in den USA einen besonderen touristischen Stellenwert besitzen, dort in der Vorstellung des ›alten Europas‹ als Wurzel der eigenen Identität ein Element der kollektiven Identität darstellen. So beginnt die Reportage mit Aufnahmen des unzerstörten Hei-
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delbergs im Frühling, mit einem Blick auf das malerische Städtchen durch blühende Obstbäume hindurch und zeigt die zweite Reportage vom Juli 1945 (›Hitleriana‹) neben Photos, auf denen Lee Miller kultisch ins Herz des Feindes vorstößt und sich an Hitlers privatem Schreibtisch und in Eva Brauns Bett und Badewanne ablichtet, gegen Ende Bilder des ausgebrannten und durch Bombenschäden entstellten Hofbräuhauses. Der Tenor ihrer Reportagen schwankt zwischen Abscheu vor den Deutschen und schwer einzugestehendem Mitleid mit den Menschen. Vor allem in der Beschreibung der zerstörten Städte zeigt sich dieser Zwiespalt. Einerseits wird die Zerstörung der Städte als gerechte und – beim Anblick wohlgenährter Landbevölkerung – noch milde Strafe empfunden, andererseits trauert sie um die historische Substanz der Städte auch aus eigenem Verlustgefühl heraus. Die zerstörte Stadt kommt bei Miller in zwei Kontexten zur Ansicht: In The War is Won ist ihr Augenmerk weniger auf die Ansicht Deutschlands oder eine Dokumentation von Ereignissen gerichtet als auf die Menschen selbst – so werden einzelne Personen in den Vordergrund gerückt, teilweise in bewussten Porträts, und photographisch dokumentierte Ereignisse gehen über den reinen Dokumentationsstatus hinaus, indem sie verdichtete, zum Symbol stilisierte Zusammenhänge zeigen, die oft in Kombination mit der subscriptio eine Sinneinheit bilden. Neben der Ansicht von Städten, auch von Trümmern, mit ins Zentrum gerückten Menschen, zeigt jedoch auch Lee Miller durch die Wahl der Ausschnitte einen Sinn für Trümmerästhetik. Eine Aufnahme ist vollständig von den Seiten- und Oberstreben der Hohenzollernbrücke ausgefüllt, so dass die Raumempfindung einer Kuppel entsteht. Erst wenn auf die Überreste eines Turmes scharf gestellt wird, wird deutlich, dass der Raumeindruck durch das Abfallen des Teilsegments der zerstörten Brücke in den Rhein entsteht und der Kuppeleindruck zum Vexierbild der Zerstörung wird. Das Interesse am ästhetischen Detail zeigt sich in weiteren Aufnahmen, wie dem Dach der zerstörten Festhalle in Frankfurt, dessen Eisenronde zunächst rein ornametal an ein Mandala erinnert, oder einer nicht näher lokalisierten Aufnahme von Nürnberg, in der ein funktionslos gewordenes kunstvolles Schmiedeeisentor sich zu barocken Trümmerresten hin öffnet (Abb. 5). In diesen Bildern zeigt sich deutlich die von Friedrich sogenannte ›Trümmerlyrik der Nachkriegsphotographie‹.
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Abbildung 5: Das zerstörte Nürnberg 1945, Miller 1996: 62.
Stellen Millers Bilder die Stadt nur vereinzelt als ganze heraus und zeigen statt dessen die Stadt als dominanten Hintergrund oder im Detail, so werden in ihrer Reportage die Städte als Orte einer Reiseroute und als Ereignisorte in den Blick genommen. Ihre »glanzvolle Baedecker-Tour«62 durch Deutschland beginnt mit dem vielzitierten Satz: »Deutschland ist ein schönes Land, gesprenkelt mit Dörfern wie Diamanten, befleckt mit Städten voll Schutt und bewohnt von Schizophrenen.«63 In diesem lakonischen Stil führt sie ihre Reise durch Deutschland in den letzten Kriegstagen fort, wobei die Städte für Miller ein offenkundiges Zeichen nicht nur der militärischen, sondern vor allem der moralisch-menschlichen Niederlage darstellen, das eigentlich auch den Besiegten einleuchten müsste. Immer wieder stellt Miller erstaunt fest, dass zwar Köln ein ›Stadtgerippe‹ sei oder in Aachen »die ausgebrannten Rathaustürme […] verächtlich auf die einst eleganten Straßen herab[blicken], wo stuckverzierte Fassaden die langen, protzigen Boulevards säumen«.64 Doch im Gegensatz zum Elend der Bewohner anderer Städte Europas zeigen sich Miller 62 Miller 1996: 7. 63 Ibid. 64 Ibid.: 9. 155
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die Deutschen in Köln als »sauber und vollgefressen«, in Aachen tragen die Kellerbewohner »Pelzmäntel, Seidenstrümpfe und grauenhaft häßliche Hüte.« Ludwigshafen wird von ihr als Abwechslung auf der Reise begrüßt, da es ein »wüstes Durcheinander [ist]. Aber ein lohnendes, weil es nicht aussieht wie so viele andere Städte mit den immer gleichen Ruinen, so daß man eine von der anderen nicht unterscheiden kann.«65 Bei der Ankunft in Nürnberg bemerkt Miller, »dies ist die erste deutsche Stadt, deren Zerstörung ich bedauere.«66 Als Grund dafür erschließt sich aus dem Kontext, dass dieses Bedauern durch die völlige Abwesenheit von Menschen herrührt: »Nürnberg sieht aus, als könne kein einziger Bewohner mehr in der Stadt sein und einen grüßen und anstarren.«67 Dadurch tritt für Miller die Stadt selbst in den Vordergrund und – wie auch die Photographie zeigt – kann ohne die zwiespältigen Gedanken beim Anblick von sich anbiedernden Überlebenden in ihrer Zerstörung wahrgenommen werden. Die leere zerstörte Stadt öffnet einen Assoziationsraum und gibt ihre vergangene und gegenwärtige Dimension als Stadt an sich frei. Erstmals werden Bauten als ›Opfer‹ beschrieben – anders als noch in Aachen, wo urbane Überreste als hochmütig in ihrem Überdauern personifiziert wurden. In Nürnberg wird erstmals auch die Bevölkerung emphatisch wahrgenommen: zunächst noch allgemein ihre Anhänglichkeit an die Ruinen und ihr Zuhause, später ermöglicht das Mitleid mit der Stadt auch das Mitleid mit einem Menschen und Miller schildert ohne den bisherigen polemisch-hasserfüllten Ton eine junge Musikerin, die wegen Hören von Feindsendern zu Haft und Zwangsarbeit verurteilt worden war. In Lee Millers Reisereportage wird der Weg durch die zerstörten Städte mit dem Weg zu den geöffneten Konzentrations- und Arbeitslagern parallelisiert. Dadurch entsteht eine Relation der beiden Orte, die zu einer nicht explizit genannten Kausalität wird. Den erschütternden Schilderungen der Toten und der verhungernden kranken Befreiten werden die Abscheu über das relative Wohlergehen und die Charakterlosigkeit der Bevölkerung in Details gegenübergestellt. Die zerstörten Städte und die geöffneten Lager werden zu zwei einander bedingenden Polen im Nachkriegsdeutschland, eine Konstruktion, die in der Logik des Luftkrieges nicht beabsichtigt gewesen sein mag und die sich möglicherweise auch bei Miller zufällig ergibt. In der Diskussion um die Täter- und Opferrollen spielt dieser Zusammenhang jedoch eine große, sogar eine zunehmende Rolle, denn in der Debatte um die Tabuisierung der Leiden der deutschen Bevölkerung im Luftkrieg stellte sich immer wieder die Frage 65 Ibid.: 10. 66 Ibid.: 14. 67 Ibid. 156
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nach Schuld und Sühne und der Verdacht des gegeneinander Aufrechnens. Als ob diese Debatte an ein ungelöstes Ende gekommen sei und nurmehr in symbolischen Andeutungen thematisierbar, erwähnt Assheuer in einem Bericht zur Eröffnung des Deutschen Museums im Juni 2006 vom Bild einer zerstörten deutschen Stadt, die im Museum auf einer Blickachse mit der Erinnerung an den Holocaust liege.68 In der Reportage Dear Fatherland Rest Quietly von Margaret Bourke-White, die wie Lee Miller die amerikanischen Truppen im Frühjahr 1945 begleitete, findet sich diese implizite Parallelisierung noch deutlicher. Zum einen ist Bourke-White damit beauftragt, die Auswirkungen der alliierten Bombenangriffe auf die deutschen Städte und die Industrie zu dokumentieren, zum anderen fällt ihre Reise zeitlich mit der Entdeckung des ganzen Ausmaßes an Nazi-Verbrechen in den Lagern zusammen. Dadurch entsteht wie bei Miller eine allein durch die Beschreibungen, die gleichzeitige Präsenz im Text hergestellte Kausalität von Städten und Lagern. Beide Arten von Orten werden als ein dichtes, Deutschland überspannendes Netz des Leides und Todes beschrieben, im Fall der Städte wird das Leid auf die personifizierte Stadt (nicht auf die Menschen) übertragen, im Fall der Lager werden die Überlebenden und die Toten ins Zentrum gestellt – das Lager als bauliche Lokalität und negativer Bezugsort, abstrahiert von seinen Bewohnern und deren Leiden wird erst kurze Zeit später thematisiert werden. Bourke-White nähert sich in ihrer Photostrecke den zerstörten Städten aus der Vogelperspektive. Köln, Nürnberg, Hamburg, Leuna, Ludwigshafen, Bremen, Würzburg und München werden aus dieser starken räumlichen Distanz gezeigt, die eine Beschäftigung mit Details der Zerstörung verhindert und einen auch psychische Distanz schaffenden nüchternen Überblick über das Ausmaß gibt; interessanterweise werden die toten Mitglieder einer Nazifamilie in ihrer Wohnung aus derselben Perspektive der Obersicht gezeigt (Abb. 6). Nahaufnahmen zeigen den unzerstörten Kölner Dom, der jedoch von einem alliierten Panzer visuell dominiert wird, einen Gottesdienst für GIs im Dom und die Rückenansicht eines gut gekleideten Mannes (»Ein Nazi-Bankier taxierte die Konkursmasse in Köln«) der, sich abstützend auf zertrümmerte Streben, den Dom betrachtet. In seinem Vorwort der deutschen Ausgabe von Bourke-Whites Bericht über den Zustand Deutschlands wirft Klaus Scholder der Autorin 1979 diesen distanzierten Blick vor, den er als »die Sicht des Siegers« versteht: »Der Sieger hat wenig Sinn für die Leiden des Besiegten.«69
68 Vgl. Assheuer 2006. 69 Scholder 1979, in: Bourke-White 1979: 10. 157
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Abbildung 6: Familie des Stadtkämmerers von Leipzig und alliiertes Gefangenenlager bei München. Doppelseite aus dem Bildband »Dear Fatherland Rest Quietly«, Bourke-White 1979: 44/45.
Auch Scholder koppelt implizit die Existenz der Lager an die Tatsache der zerstörten Städte – in einer Reihenfolge, die eine etwas andere Kausalität erzeugt. Im Kapitel »Wir haben es nicht gewusst« entschuldigt er das von der Beobachterin beschriebene indifferente Verhalten der Deutschen gegenüber der ›Entdeckung‹ der Lager durch die Alliierten zunächst mit der existenziellen Not der hungernden, ausgebombten und vertriebenen Menschen; auch wenn dies im Prinzip einleuchtet, so ist es doch eine merkwürdige These, dass die Alliierten selbst Schuld daran seien, dass sich die Bevölkerung nicht mit den Verbrechen im eigenen Land beschäftigt. Im nächsten Schritt wird dann aber noch behauptet, dass die Deutschen sich auf eine von den Alliierten unbemerkte Art bereits mit der Vergangenheit auseinander gesetzt haben: »Das vollkommene Verschwinden des gesamten nationalsozialistischen Systems in wenigen Wochen war ein Zeichen dafür, daß die Generation begriffen hatte, was der Nationalsozialismus wirklich gewesen war.«70 Genau diese Denkart ist es, die Lee Miller angewidert als duckmäuserischen Opportunismus vor und nach Kriegsende beschreibt und die für ihren und Bourke-Whites erzürnten Tonfall verantwortlich ist. Scholder bekräftigt seine Bezugsetzung von deutschen Verbrechen und alliierten Angriffen noch, indem er das Kapitel »Der Luftkrieg« folgen lässt, in welchem er der Kriegsberichterstatterin bei der Auswahl von Objekten auch militärisch relevanter Art subtile Ziele ungenannter Art unterstellt: »Gleichwohl wird man bei der Auswahl der Bilder stutzig.«71 Er unterstellt Bourke-White und ihren Auftraggebern mit diesen Photomotiven 70 Ibid.: 15. 71 Ibid.: 16. 158
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den Bombenkrieg als strategisch sinnvoll rechtfertigen zu wollen und bewusst Bilder von den Schrecken und Folgen der Luftangriffe zu vermeiden. Damit wird eine merkwürdige Art der Aufrechnung initiiert, die versteckte Vorwürfe enthält: Miller und Bourke-White haben, wie viele andere Berichterstatter, das Leid der toten und überlebenden Opfer der Nationalsozialisten emphatisch und detailliert in Wort und Bild festgehalten. Sie haben jedoch den von ihnen aufgenommenen schockierenden KZ-Bildern, auf denen z.B. Berge kaum mehr menschenähnlicher Leiber zu sehen sind, nicht Bilder von deutschen Luftkriegsopfern gegenüberstellt. Abgesehen von der Tatsache, dass diese zu diesem Zeitpunkt zwar erhältlich, jedoch von ihm nicht mehr anzufertigen waren, zeigt z.B. auch Rolf Peter zwar Leichen in den Städten, geht jedoch auf die Toten der Lager ›nur‹ im Text, nicht visuell ein. Friedrich wiederum zeigt politisch korrekt Bilder von im Luftangriff getöteten Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen (wiederum im interessanten Kontext einer Doppelseite, auf der vis-a-vis tote Hitlerjungen abgebildet sind). Diese heillose Verstrickung von Ursachen und Wirkungen wurde von vielen zu Recht kritisiert, als die Debatte um Literatur und Luftkrieg und schließlich um Täter- und Opferrollen im Luftkrieg begann. Verdächtig wird in dieser Debatte deshalb auch die Beschäftigung mit Trümmerästhetik und mit der Stadt als Ort des kollektiven Gedächtnisses, das 1945 eine Zäsur erlebte. Den Bildern der Stadt ist dieser Vorwurf des Vorwurfs inhärent, da die Ereignisse des Luftkriegs mit denen des Holocausts nicht nur in den Diskussionen, sondern bereits in den ausländischen Reisereportagen zeitlich und räumlich parallelisiert und verbunden wurden. Die Personifizierung in der Stadt-Emblematik der Bildbände, die Text-Bild-Relationen, die die Stadt an sich zum Inhalt haben, scheinen hier nur eine Ausflucht ins Unverfängliche der traditionellen Ruinenästhetik. Im Kontext des Zweiten Weltkriegs stellen sie jedoch, wie die Bildbände zeigen, die Oberfläche einer sich verzweigenden Thematik dar, die mit der Diskussion nach den Ursachen der Zerstörung, den alliierten Luftangriffen, und der Gegenfrage nach den Zerstörungen des deutschen Luftkriegs beginnt und bei der Aufrechnung von Luftkriegsopfern gegen alle Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen noch lange nicht endet – weder thematisch noch was die historisch relevante Dauer betrifft.
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Jeder Bildband setzt sich unumgänglich dieser Diskussion aus.72 Die Sprache vermag die Assoziationsräume dabei zu verstärken oder zu konterkarieren. In den seltensten Fällen wird bei den Bildbänden Sprache nur für die Information zu Zeit- und Ortsangaben verwendet. Obwohl die Photographie aufgrund ihres Authentizitätsanspruchs, ihres indexikalischen Charakters das ›Speichermedium‹ für nicht mehr vorhandene Objekte schlechthin ist, scheint die photographische Aufnahme alleine nicht zu genügen. Wenn Bilder ohne Kommentierung gezeigt werden, dann als singuläre Ikonen, als Einzelkunstwerke mit hohem metaphorischem Gehalt wie die Dresdener Statue.
Literarische Darstellungen Als eines der wichtigen Ergebnisse der Debatte um Luftkrieg und Literatur kann die Beschäftigung mit nahezu vergessenen Texten gesehen werden, die die Städtezerstörung und ihre Auswirkungen beschreiben. Ein richtiggehendes Sammelfieber wurde durch die These Sebalds ausgelöst, wonach der Luftkrieg kaum eine Spur hinterlassen habe. Die Liste der zumeist deuschsprachigen Texte, die sich im engeren oder weiteren Sinne mit dem Motiv befassen, wird sich in den nächsten Jahren sicherlich noch verlängern und durch europäische und internationale Literatur erweitert werden, die Vergleich ermöglichen und verschiedene Intentionen und Erlebnisgrade erkennbar machen wird. Allein auf das Vermittlungsmedium Sprache angewiesen ist die Darstellung der Stadt in der Literatur. Doch auch hier lassen sich starke Tendenzen der Personifikation bis hin zur Anthropomorphisierung feststellen. Das Erzählen wird funktional für die Etablierung von zwei bis drei Ebenen eingesetzt: der des ›Einst‹, der der Zerstörung und der einer Ge72 Ein Blick in einige der unzähligen regionalen Publikationen von Stadtarchiven zeigt genau dieses Dilemma. So trägt ein sorgfältig editierter Band der Schriftenreihe ›Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg‹ von 2004 den Titel Der Luftkrieg gegen Nürnberg (Diefenbacher/Fischer-Pache 2004). Die dazugehörige Ausstellung knapp ein Jahr später zum sechzigsten Jahrestag der Luftangriffe heißt dann jedoch (unter Verwendung eines der Umschlagmotive der Publikation auf dem Ausstellungsplakat) Luftkrieg und Zerstörung in Nürnberg. Die Ersetzung des ›gegen‹ durch das neutrale ›in‹ ist möglicherweise dem Einfluss einer allgemeinen öffentlichen Diskussion zuzuschreiben. Die Bildbände einer Schriftenreihe zu Würzburg verwenden bei Photographien, die ausdrücklich die frühere Schönheit der Stadt zeigen sollen, häufig Aufnahmen von NSDAPAufmärschen in fahnengeschmückten Straßen, bei denen der Gauleiter mit Namen und allen Titeln respektvoll genannt wird. Vgl. hierzu auch Jungbluth 1988. 160
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genwartszeit, die komplex geartet ist und unterschiedlich bewertet wird. In der Gegenwart wird Verdrängtes subkutan empfunden, da eine ihre Konturen stark verlierende Vergangenheit auf die Gegenwartszeit subtil einwirkt. Um die Sprache der Literatur den Ausdrucksformen der Bildbände gegenüberzustellen, soll hier neben einigen Kurzbeispielen vor allem ein Text ins Zentrum gestellt werden, der zum einen das bisher beschriebene Spektrum ergänzt, da er keine deutsche Stadt zum Thema hat, sondern eine polnische, und auch keine Stadt, bei der die Gegenwartsebene des räumlichen Eindrucks kaum in Konflikt mit den Vergangenheitsbildern gerät, da die Stadt, zumindest im Zentrum, mühsam rekonstruierend wieder aufgebaut wurde. Andrzej Szczypiorskis Die schöne Frau Seidenmann von 1986 ist zudem ein aufschlussreicher Text, da sein zentrales Thema die Ermordung der polnischen, speziell der Warschauer Juden ist. Die zerstörte Stadt bildet lediglich einen Subtext, wenn auch einen äußerst dominanten. Auch hier findet sich deshalb die Verbindung von zwei Unorten, dem Lager bzw. dem Ghetto und der Stadt. Die beiden Orte sind im groberen Raster sogar identisch, das Warschauer Ghetto ist im geographischen Sinne ein Stadtteil Warschaus. Der Originaltitel des Romans Poczatek – ›Beginn‹ steht für die Zäsur, an der die Handlung des Romans angesiedelt ist und von der aus sie ihre komplexen Zeitebenen entfaltet. Im Zentrum stehen mehrere Hauptund sie ergänzende Nebenfiguren, deren Leben sich kurz vor dem Aufstand und der späteren Vernichtung des Warschauer Ghettos kreuzen. In kunstvollen narrativen Exkursen wird die Zukunft der Figuren angedeutet oder in Sprüngen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Im Zentrum stehen der Schneider Apolinary Kujawski, ein Kunstförderer, der davon träumt, nach dem Krieg ein Museum zu stiften und sich Unsterblichkeit durch kleine Plaketten mit seinem Namen an Kunstwerken wünscht, Henryk Fichtelbaum, ein junger Jude, der aus dem Ghetto flieht, sich in Warschau versteckt und getötet wird, sowie Irma Seidenmann, eine jüdische Witwe, die mit gefälschten Papieren den Krieg übersteht und deren vereitelte Enttarnung im Zentrum des Romans steht. Um diesen Kern wird eine weitere Geschichte angelagert: die Rettung der Schwester Henryks durch seinen Schulfreund Pawel, den Richter Romnicki und Schwester Weronika. Das Thema des Romans ist die Unvorhersehbarkeit und Schicksalhaftigkeit von Lebensläufen, die sich eigentlich durch bürgerliche Solidität auszeichnen und diese in Ausnahmezeiten der Besatzung, der Ghettoisierung und später des Kommunismus verlieren oder wieder erhalten. In diesem dichten Netz der Handlungs- und Zeitebenen bildet die Stadt den dauerhaften Bezugspunkt. An ihr als überzeitlicher, vertrauter Stätte
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orientieren sich die Figuren, wenn ihre sozialen Rahmungen zerbrechen, sie bildet die Basis ihrer Identität und wird als solche liebevoll beschworen und kritisch reflektiert. Unauffällig wird dabei die Stadt selbst wie eine der Figuren in ihren Wandlungen beschrieben: der Teilung durch die Abriegelung des Ghettos folgt die komplette Ausradierung, um eine leere Fläche für eine deutsche Planstadt zu sein. Der Vernichtung folgt der Wiederaufbau, der rekonstruktiv, ähnlich wie in Dresden, nach den Veduten Canalettos aus dem 18. Jahrhundert erfolgt.73 Die Beseitigung der Stadt wird narrativ eng an die Toten gebunden und wird so zu einem Doppelmotiv, in dem die Stadt für den Verlust an Menschen, an Erinnerung und damit an eigener Identität wird: Pawel, dem engen Schulfreund Henryks, erscheint der Tote immer wieder im Schlaf. Zunächst wird dies als ein Zeichen seines eigenen Todes gedeutet, kurz darauf jedoch als Zeichen für den Verlust an Heimat deutlich gemacht: Er schlief ohne Furcht ein, weil er wußte, daß Henio Fichtelbaum kein Abgesandter Gottes war, sondern nur eine gute Erinnerung. […] Knapp zwanzig Jahre alt, kam es ihm so vor, als wäre alles restlos verbrannt. Diese Stadt war die ganze Welt, die er besaß. Nicht die ganze Stadt, sondern nur ihren Kern, die wenigen Straßen zwischen dem Belvedere und dem Königsschloß, dem Weichselufer und dem Friedhof von Wola. Luft, Himmel und Erde waren hier an Mietshäuser begrenzten den Horizont. Als Kind hatte er jede Ecke dieses Fleckchens Erde bis hin zum Horizont betreten. Ein anderes Vaterland besaß er nicht.74
Was dieser Einleitung folgt, sind zwei Seiten, auf denen das VorkriegsWarschau in all seinen Facetten, Plätzen, Gebäuden, Vierteln, Menschen geschildert wird, um dann um die individuellen Erinnerungsorte Pawels sowie einzelne historische Stadtereignisse auch auf der Zeitebene angereichert zu werden. Exemplarisch führt Szczypiorski hier vor, dass erst die Raumachse in Kombination mit der Zeitachse den eigentlichen, originalen Gedächtnisort bildet, in dem sich individuelle Erinnerung im Rahmen einer kollektiven Erinnerung verankern kann. Die Passage endet, indem die kollektive Ebene auf die individuelle Bedeutung der Stadt rückgebunden wird: 73 Besonders durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gelangten die Werke des Malers Bernardo Bellotto (wie sein zuvor berühmterer Maleronkel genannt Canaletto) und besonders seine zahlreichen europäischen Stadtansichten zu großer Bekanntheit. Ihr Charakter als Veduten machte sie besonders für Dresden und Warschau zu Ikonen und Beweisstücke einer glanzvollen architektonischen Vergangenheit im Barockzeitalter. Vgl. Rizzi 1991; Weber 2001; Rottermund 2001 sowie, mit Bezug auf die Bedeutung der Veduten für die architektonische Rekonstruktion nach 1945, Löffler 2000. 74 Szczypiorski 1986: 21. 162
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Das war Pawels Welt, die im Laufe weniger Jahre unter die Erde versank, vor seinen Augen, in seiner machtlosen, erstaunten Gegenwart. Sie versank ganz wörtlich, zerfiel in Trümmer und begrub unter ihren Ruinen die Menschen und die polnische Lebensweise. Pawel überstand den Krieg.75
Bevor die ganze Stadt geschleift wird, findet narrativ die Engführung von Ghetto und Stadt statt. Die Figur Pawel ist die Verbindung zwischen diesen Räumen, da er sich für den toten jüdischen Freund am Ghettoaufstand beteiligt und dabei mit dem Ghetto den eigenen Identitätsraum gegen die Deutschen verteidigen will. Die Trauer über den Freund wird dabei überwiegen und der erlittene Schaden an seiner Identität deutlich: Und doch begleitete ihn auch damals das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, er trennte sich von neuem und nahm Abschied. Häuser und Straßen gingen fort von ihm, Parks und Plätze, Denkmäler und Menschen. Mit jeder Stunde des Aufstands wurde er weniger, schrumpfte und wurde kleiner, versank in die Tiefe und schwand wie diese Stadt.76
Durch den Verlust des Freundes und des heimatlichen Stadtraums wird die eigene Vergangenheit zerstört, die Pawel viele Jahre später zu einer besessenen Suche nach Vergangenheit und einer überindividuellen Identität führt, mit der er vergeblich die eigene Identität aufzufüllen versucht: Immer verfolgte ihn das Gefühl, er habe im Laufe des Krieges etwas Großes verloren. Später träumte er von den Städten Europas, die er nicht kannte und nie gesehen hatte. Er träumte von Kathedralen, Schlössern, Brücken und Straßen. Es waren Träume, in denen er sich wohl fühlte, um nach dem Erwachen erneut den Verlust zu empfinden. Später reiste er nach Europa. Ein fremder Gast aus fernen Landen. Und büßte seine Träume ein. Die Kathedralen, Schlösser und Brücken gab es zwar, sie waren aber nicht sein Eigentum, er fand sich dort nicht wieder. Mein europäisches Bewußtsein existiert nicht mehr, dachte er bedauernd, vielleicht hat es sogar nie existiert, vielleicht war es nur eine Illusion, das Streben nach einer Identifikation, die mir nie gegeben war?77
Versucht Pawel seine Identität über europäische Städte zu definieren, also auf die Möglichkeit des Zuhauseseins in einem weiteren kulturellen Radius zu vertrauen und das Misslingen dieser Suche nach einer Verwurzelung in einer unbekannten Heimat fast als amüsant zu empfinden, so zeigt sich, dass er durch die Trauer um einen Toten bereits eine Ein75 Ibid.: 23. 76 Ibid.: 201. 77 Ibid.: 202. 163
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übung in Verluste hat, die die eigene Identität betreffen; ebenso wie Frau Seidenmann, die durch die Zerstörung des jüdischen Friedhofs die Erinnerung an ihren Mann und damit an die Stadt bewusst abschließen und in sich selbst verankern musste,78 da den Toten ihr Raum genommen wurde. Frau Seidenmann siedelt nach Paris über und kann sich so ein lebendiges Bild Warschaus und ihrer Toten erhalten – eines Warschaus weit vor 1943. Die fiktionale Figur kultiviert in diesem Sinne ein Warschaubild, wie es nach 1945 durch die Verwendung der Gemälde Canalettos tatsächlich geschaffen wurde: eine geschönte, weichgezeichnete Prunkansicht der Stadt, die elliptisch und komprimiert losgelöst von tatsächlichen Seinszuständen auf der Zeitachse eine überzeitliche bis ahistorische urbane Metapher für die Stadt Warschau zeigt. Im Gegensatz zu Irma Seidenmann müssen die in Warschau verbliebenen Figuren sich immer wieder dem Versuch stellen, den Bruch in der eigenen Geschichte in der Auseinandersetzung mit der Stadt zu kitten. Immer wieder treten Figuren in Kommunikation mit der historischen Stadt, befragen sie nach ihren Erinnerungen und bitten sie, diese preiszugeben. Dabei erzeugen die Figuren gespenstische Kollisionen, da die Stadt Warschau nur scheinbar der alte, bekannte Erinnerungsort ist. Am Ende steht die Einsicht des absoluten Verlustes, die Erkenntnis, dass das rekonstruierte Stadtbild nicht die Geschichte gespeichert hat und vor allem, dass es kein Zeichen mehr für die Vielfalt des alten Warschaus ist: Irgendetwas ist ein für allemal zu Ende gegangen, vor langer Zeit, unter meinen Augen, mit meiner Beteiligung. Damals ist es zu Ende gegangen und es kehrt nie wieder. Wo soll man denn nach Authentizität suchen, wenn es die Kruczaund die Marszalkowska-Straße nicht mehr gibt, die Krochmalna und Mariensztat? Welche eigene Wahrheit kann diese Stadt beleben, die aus Ruinen wieder aufgerichtet worden ist wie eine Theaterdekoration, wenn es die Menschen nicht mehr gibt, keinen einzigen Menschen auf dem Kercelak-Platz, der Dluga, Koszyykowa? Sogar die Steine, die überdauert haben, befinden sich jetzt woanIbid. Kein Tropfen des Wassers von damals in der Weichsel, kein Blatt der Kastanien von damals im Krasinski-Park, kein einziger Blick, kein Ausruf, kein Lächeln. Das sollte er wissen, gerade er! Der kleine Hirschfeld sollte das wissen. Etwas ist unwiderruflich zu Ende gegangen, denn der Faden ist durchschnitten, der früher die Geschichte mit der Gegenwart verband. Früher reichten die Generationen die brennende Fackel weiter. Wo ist die Fackel, die ich trug in der Gewißheit, es sei dieselbe, die vor Jahrhunderten entzündet wurde?79
78 Ibid.: 27. 79 Ibid.: 210. 164
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Die Rekonstruktion der Bauten ersetzt somit zwar die nach Halbwachs dominante Raumebene des kollektiven Gedächtnisses, die Zeitebene ist jedoch nicht rekonstruierbar. Was Pawel konstatiert, ist ein Bruch über die Generationentradierung des oralen kommunikativen Gedächtnisses. Haben sich Ereignisse der mündlichen Überlieferung nach ca. achtzig Jahren nicht in Elemente der verschiedenen Speichermedien konvertiert, so sind sie verloren. Der Stadtraum bietet zwar weiterhin den Rahmen für das individuelle Gedächtnis, jedoch nur, wenn die Bewohner nicht der Illusion verfallen, dass das Gedächtnis wie in früheren Seiten zweiseitig, also kommunikativ funktioniert – von den Kulissen kann keine hintergründige Informationsebene des Raums erfahren werden, sie kann nur als Echo zurückgeben, was an Erinnerung subjektiv bereits vorhanden ist. Das individuelle Gedächtnis kann seine Verortung im kollektiven urbanen Raum nicht vornehmen, da der Raum eine unheimliche Attrappe ist und nur scheinbar der Ort des kollektiven Gedächtnisses. Doch auch die Auseinandersetzung mit vom Stadtraum abstrahierten Gedächtnisorten kann nicht als Erinnerungsgenerator fungieren. Geschildert wird der Versuch einer älteren Frau, die als junges Mädchen eine Nacht mit Henryk Fichtelbaum verbrachte, bevor dieser bei der Rückkehr ins Ghetto ermordet wurde, sich an ihren Liebhaber zu erinnern. Dafür wählt sie als Gegenstand den Ort, der ihr von öffentlicher Seite zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wird, das Denkmal für die ermordeten Juden. Doch die überlebensgroßen, steinernen Gesichter funktionieren nicht als Reiz, der die Erinnerung auslöst. Statt dessen wird festgestellt, dass sich die Frau wie die meisten anderen Menschen in Warschau unbewusst gegen die Erinnerung sträuben, da ihnen sonst deutlich würde, was sie mit der zerstörten Stadt wirklich verloren haben. Ein Leben in der Kontraktion von Vergangenheit und Gegenwart würde ein Alltagshandeln unmöglich machen: […] darum konnte und wollte sie sich an ihn nicht erinnern – so wie fast alle anderen Menschen in dieser Stadt, die mit ihren Angelegenheiten, mit dem Alltagsleben beschäftigt sind und nicht wissen, dass sie verkrüppelt wurden, denn ohne die Juden sind sie nicht mehr jene Polen, die sie einst waren und für immer hätten bleiben sollen.80
Darum erfüllt das Denkmal doch seinen Zweck: es abstrahiert von den realen Ereignissen und bietet eine entlastende, begrenzte Projektionsfläche für kurzzeitige Beschäftigungen, die damit nicht den Alltag okkupieren – im Gegensatz zum Stadtraum, der in seiner Funktion als alltäglicher urbaner Lebensraum und als Erinnerungsraum für Effekte des Unheimlichen sorgt. 80 Ibid.: 56. 165
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Das kollektive Denkmal scheidet als Ort, der Zeit und Raum in Konnektion bringen könnte, also genauso aus wie die gesamtstädtische Attrappe. Als Dokumente erweisen sie sich als nicht authentisch. Was der Roman als taugliche Vorstellung für die Erzeugung einer authentischen Erinnerungsspur, die den Bruch schließen könnte, präsentiert, ist die Rückkehr der Toten ins kollektive Gedächtnis; jedoch nicht auf einer imaginativen Ebene, sondern auf einer radikal materiellen. In verschiedenen Kontexten wird im Text explizit die materielle Anwesenheit der Toten erwähnt: Später, als Henryks Knochen im Feuer des brennenden Ghettos bleichten und anschließend im Regen unter der Asche von Warschau schwarz wurden, als sie sich schließlich in den Fundamenten der neuen, auf den Kriegstrümmern errichteten Häusern befanden […] Die Menschen, die nach Jahren auf den Knochen von Henryk Fichtelbaum wohnten, dachten recht selten an ihn […].81
Die Stadt und die Inkorporation ihrer Toten Das Motiv der Toten, die vom Stadtraum aufgenommen werden, der Toten, die seine materielle und ideelle Grundlage bilden, findet sich auch in weiteren literarischen Texten so eindrücklich beschrieben, dass es als eines der charakteristischen Motive in der Städtezerstörungsthematik nicht nur zum Zweiten Weltkrieg angesehen werden kann. Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras breitet ein ähnliches Figurentableau aus wie Szczypiorskis Die schöne Frau Seidenmann und erzählt nach einem ähnlichen Strukturprinzip, allerdings in der direkten Nachkriegszeit in Deutschland. In Szczypiorskis Roman der achtziger Jahre wird die Stadt der Gegenwart narrativ mit dem früheren ›echten‹ unzerstörten Warschau konfrontiert und in die Erzählung nur zeitweise die Erinnerung an die Interimszeit des Zerstörungszustands eingebunden. In einigen Texten wie Tauben im Gras, aber auch besonders in Wolfgang Borcherts Erzählung Nachts schlafen die Ratten doch82 oder in jüngerer Zeit in Dieter Fortes Trilogie Das Haus auf meinen Schultern83 wird genau dieser Übergang dokumentiert. Koeppen beschreibt einen Tag in München, an dem sich seine Figuren über eine brüchige urbane Oberfläche bewegen und gegen die Vor81 Ibid.: 45f. 82 Die Erzählung ist vermutlich 1946/47 entstanden. 83 Die Thematik der Städtezerstörung dominiert vor allem im zweiten und dritten Band, Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) und In der Erinnerung (1998). 166
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stellung ankämpfen, dass unter den mühsam, aber noch nicht ganz geschlossenen Lücken der Ruinen und Bombentrichter die realen Toten wie die verdrängte Schuld der Stadt modernd lauern. Dieses Gefühl quält weniger die Stadtbewohner, als vielmehr die ausländischen Gäste und die rückkehrenden Exilanten. So findet sich bei Koeppen eine detaillierte Beschreibung des baulichen Zustands der einstigen ›Hauptstadt der Bewegung‹ und der mentalen Verfasstheit der sie Bewohnenden zwischen Verdrängung, Resignation und Aufbruch. Geschildert wird dies jedoch wiederum durch Figuren, die eindeutig als Ausländer, vor allem Amerikaner, eingeführt werden. Der amerikanische Autor auf Lesereise, der junge alliierte Soldat, die Lehrerin und andere sind Figuren, die eingeführt werden, um die Stadt als Symbol, abstrahiert von ihren Menschen, sichtbar werden zu lassen. Die Ruine, und mehr noch die notdürftig mit einer neuen Fassade versehene Ruine, wird zum Zeichen des geistigen Ruins stilisiert. Die Stadt wird in Oberfläche und Untergrund aufgeteilt und nur die neu die Stadt betretenden Figuren scheinen, wie bei Geistererscheinungen, beide Ebenen wahrnehmen zu können – dies verursacht im schlimmsten Fall Qualen, die den Tod des amerikanischen Dichters zu forcieren scheinen, oder auch nur ein vages Gefühl der Verwirrung. So ist der junge Richard zunächst erstaunt über die Intaktheit der Stadt, die sich dem deutschen Ordnungssinn verdankt: Die Zeitungen hatten übertrieben. Hier jedenfalls schien der Krieg nicht so schlimm getobt zu haben, und gerade von dieser Stadt hatten die Berichterstatter geschrieben, daß die Kriegsfurie sie besonders heimgesucht hatte. […] Richard hatte ungeheure Verwüstungen zu sehen erwartet, mit Trümmern verschüttete Straßen, Bilder, wie sie gleich nach der deutschen Kapitulation in der Presse erschienen waren, Aufnahmen, die er als Knabe neugierig betrachtet und über die sein Vater geweint hatte. […] Wilhelm, der Vater, hatte in Columbus, Ohio, doch gerade den Untergang dieser Stadt beklagt. Was war hier untergegangen? Ein paar alte Häuser waren zusammengebrochen.84
Doch obwohl Richard ein gewisser Enthusiasmus des ›Neuen Bauens‹ erfasst (»Was für Hochhäuser würde er ihnen auf die Schutthalden setzen!«85), kann auch er sich (in seiner narrativen Funktion als ausländischer Beobachter mit weiterem Horizont) nicht dem Unbehagen des urbanen Untergrunds entziehen: »Richard hatte das Gefühl, daß hier verschiedenerlei nicht stimme, in der ganzen Konzeption nicht stimme, und daß diese Menschen für ihn undurchschaubar waren.«86 84 Koeppen 1990: 117f. 85 Ibid.: 118. 86 Ibid. 167
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Die wahre Identität eines für die Gäste wichtigen Elementes der Stadt, das, neben den verscharrten Trümmerhaufen auf der subkutanen Ebene, durch seine nicht zuzuordnende schlechte Verkleidung für Unwohlsein bei den Gästen sorgt, wird gegen Ende des Romans gelüftet. Als ein deutsch-amerikanisches Pärchen zueinander findet, entscheidet sich dies vor dem neu eröffneten ›Amerikahaus‹: Das Amerikahaus, ein Führerbau des Nationalsozialismus, lag hinter Philipp und Kay. Das Haus sah, aus seinen symmetrisch aneinandergereihten Fenstern in die Nacht leuchtend, wie gewisse Museen aus, wie ein kolossales Grabmal der Antike, wie ein Bürogebäude, in dem der Nachlaß der Antike verwaltet wird, der Geist, die Heldensagen, die Götter.87
Die Beschreibung suggeriert, dass zwar ein Namens- und Funktionswandel stattgefunden hat, dass jedoch dem anscheinend im Krieg verschonten Gebäude seine eigentliche architektonische und ideologische Bestimmung untrennbar eingeschrieben ist. Das Amerikahaus wird dadurch zu einem getarnten, aber präsenten und lebendigen Speicher einer diffusen, aber mächtigen Vergangenheit. Es wird als deren Wärter, Grab, Verwaltung und Legende beschrieben, das, ›in die Nacht leuchtend‹ Sendungsbewusstsein und eine Mission für die von den Alliierten besetzte Stadt zu haben scheint. Unter der Oberfläche die einverleibten und vergessenen Toten, im Zentrum ein als Treffpunkt der ›Feindkultur‹ verkleideter Nazi-Olymp auf Sendung – wie in den Beschreibungen der realen Beobachterinnen und Beobachter ist das Unbehagen so nachhaltig, weil es auf subtile Mechanismen reagiert und durch merkwürdige Ungereimtheiten und Verhaltensweisen entsteht. Die Gegenwart der Stadt, ihr Aussehen im Status des Wiederaufbaus und ihr eigentlicher weiterer und engerer historischer Kontext, das ›Tausendjährige Reich‹ und die Tage der Bombardierung 1944, scheinen keinen Bezug zueinander zu haben. Was Lee Miller, Bourke-White und andere notierten, lässt Koeppen seine ausländischen Figuren erleben: Die Stadt als unheimliche Bedrohung, als Zentrum für undurchschaubare Vorgänge, die gerade in ihrem Interimszustand des Wiederaufbaus möglicherweise noch unterschätztes diffuses revanchistisches Potential birgt. Das Motiv des doppelten Bodens, der Brüchigkeit der Ruinenlandschaft gekoppelt an das Motiv der unter der Oberfläche verborgenen Toten findet sich besonders komplex verdichtet in Borcherts Nachts schlafen die Ratten doch. Zeitlich noch dichter am eigentlichen Zeitpunkt der Zerstörung bewacht in dieser Kurzgeschichte ein Junge unermüdlich sei87 Ibid.: 213. 168
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nen verschütteten Bruder. Das erschöpfte Kind kann schließlich ausruhen, da ein mitleidiger Passant ihn glauben machen kann, dass die Leiche nachts nicht von den Ratten bedroht sei. In dieser Erzählung wird, wie auch bei Dieter Forte, statt der Figur des Ausländers die Figur des Kindes gewählt, die eine Identifikation der Lesenden mit einer unbelasteten Perspektive ermöglicht. Das Kind, dass in den Ruinen seine Wache nicht abbrechen will, hat sich gegen die Verdrängung entschieden und dafür, seinen Toten beizustehen. Mit der vorsichtigen Intervention des Passanten wird exemplarisch eine Form des erträglichen Umgangs mit der Zerstörung gezeigt, der in feinen Nuancen zwischen der Verdrängung und der radikalen Trauer liegt, die den toten Körper unversehrt erhalten will und ein Leben in den Ruinen wählt. Ein junges Kaninchen, etwas Zartes, Lebendiges, wird zur Motivation, ins Leben zurückzukehren. Der letzte Satz jedoch – »Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt«88 – deutet an: In ihrem Interimszustand ist die Stadt als solche ein Grab. Es gibt kein ›Außerhalb‹ der Trümmer und kein ›Später‹, selbst die nachwachsende Natur trägt die Zeichen der stattgefundenen Zerstörung an sich. Mit dem Motiv des bombardierten Friedhofs schließlich kann noch einen Schritt weiter ins Zentrum der Ereignisse, die zur Zerstörung führten, und zur Engführung von Stadt und Grab gegangen werden. Gert Ledigs Roman Vergeltung beginnt mit dem Bombardement Münchens an einem Julitag. Die Handlung setzt ein mit Bomben, die an der Friedhofsmauer einige Frauen töten. Neben weiteren Handlungsorten, verschütteten Luftschutzkellern, dem Bahnhof und den umliegenden Straßen, dem militärischen Quartier, dem Flugzeug des Bomberpiloten, zieht sich vor allem der Friedhof als wiederkehrender Handlungsort durch den Text. Von der Mauer nähert sich der Blick den Gräbern innerhalb der Umrandung: »Das geschah beim Friedhof. In ihm sah es anders aus. Vorgestern hatten die Bomben ausgegraben. Gestern wieder eingegraben. Und was heute geschehen würde, stand noch bevor.«89 Die Ankündigung wird zur Gegenwart, der Blick verlässt auch hier die (bereits zerstörte) Oberfläche und wird tiefer geführt: zur an sich verborgenen Schicht, zu den Toten. Adäquat zur Nähe und zum Zeitpunkt des Geschehens deutet Ledig konsequenterweise nicht nur an, was hier verborgen ist, wie dies bei Szczypiorski, Koeppen, Borchert der Fall ist, die ihre Figuren nach der Zerstörung auftreten lassen. Bei Ledig brechen die Überlebenden ein, im Inferno verschmilzt die Welt der Lebenden mit der der Toten: »Der Friedhof nahm kein Ende. Im Boden gähnte ein Trichter. Er fiel hinein und stürzte auf einen Balken. Das Holz war vermodert. An den Fingern
88 Borchert 1988: 219. 89 Ledig 1999: 10. 169
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Leichengift, kletterte er, ohne Überlegung, wieder heraus.«90 Am Ende des Romans beschließt das Bild des Friedhofs den Bericht des Luftangriffs auf München wie eine weitere Ankündigung: »Steine schossen zum Himmel wie Raketen. Die Holzkreuze auf dem Friedhof waren bereits verbrannt.«91 Das Schicksal des Friedhofs, so scheint es, wird bald das der Stadt sein, die wiederum – wie Koeppen dies schließlich auch beschreibt – selbst als Friedhof wahrgenommen wird.
Vom auswärtigen Blick der Mehrschichtigkeit zur Penetration Die gespenstische Doppelstruktur der Stadt, die heute als Konflikt zwischen realer Erscheinung und virtuellem historischem Erscheinungsbild wahrgenommen wird, zeigt sich in den literarischen Verarbeitungen der Städtezerstörung nicht nur in den genannten Werken, sondern nahezu typisch vor allem in der zeitgenössischen Literatur als ein ganz realer materieller Konflikt. Die Trümmerlandschaften stehen in vielen Texten tatsächlich und nicht nur virtuell für die Präsenz der Toten, für den Eindruck, dass das Leben auf der Grundierung eines urbanen Schindangers weitergeführt wird. Im Gegensatz zur Photographie scheint hier die Literatur das geeignetere Medium zu sein. Die poetische Sprache kann andeuten und berücksichtigt selbst in drastischen Benennungen, dass die Zeichenkette ›Leichengift‹ einen Abstraktionsprozess enthält, der das Wort von der Visualität, dem Anblick einer Leiche unterscheidet. Auch wenn der Verismus in Ledigs Roman kontrovers diskutiert wurde, so ging die Ablehnung doch nie so weit wie bei Photographien von ähnlichen Sachverhalten. In Friedrichs Brandstätten findet sich eine Nachbemerkung des Autors: »Eine Fotogeschichte des Bombenkriegs kann die Schrecknisse des Sterbens der Zivilbevölkerung nicht aussparen. Über die Grenzen der Darstellbarkeit von Körperzerstörung konnten sich Verlag und Autor nicht einigen.«92 Friedrich betont im Nachwort, dass das Verfahren der Bild-TextMontage »die Narrative der Bilder und der Worte einander ergänzen und entgegnen [läßt]«93, dass – so kann in der hier angestrengten Überlegung vermutet werden – die poetische Sprache (die bei Friedrich tatsächlich meist verdichtet und selten rein informativ ist) die Bildinhalte und ihren aisthetischen Schockeffekt abzumildern vermag. Da der Verlag sich je90 91 92 93
Ibid.: 48. Ibid.: 198. Friedrich 2003: 240. Ibid.: 239. 170
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doch entgegen Friedrichs Wunsch mit der Auswahl von dezenten Abbildungen durchsetzte, bleibt offen, ob bestimmte Bild-Text-Relationen Schockeffekt-Bildern zu einer veränderten Rezeption verhelfen können.94 Offen bleibt dadurch auch, welche gesellschaftlichen Sehkonventionen in Bezug auf Bilder von entstellten Toten eigentlich existieren. Im Gegensatz zur Literatur ist die Diskussion, fernab von Jugendschutz und Persönlichkeitsrechten, noch ergebnisoffen und die Hemmschwelle, die Friedrich mit dem Wunsch nach Aufklärung über das Ausmaß des Bombenkriegs senken möchte, noch vergleichsweise hoch.95 Zu fragen ist, ob die Bilder tatsächlich das zeigen können, was die Sprache vermitteln kann. In Bezug auf ein weiteres Motiv ist dies zumindest noch nicht durch Gegenbeispiele belegt oder angedacht worden. Neben dem Motiv der Stadt als mehrschichtiger Einheit von Toten und Lebenden, dem Motiv des ›doppelten Bodens‹, kann eine weitere Darstellungsweise festgestellt werden, die visuell möglicherweise nur schwer vermittelbar scheint oder die bei einer direkten Darstellung als noch obszöner als die Totenabbildungen angesehen werden würde. Gemeint ist die Stadt in ihrer Personifizierung als sexuelles Opfer in literarischen Beschreibungen der Städtezerstörung. Diese Metaphorik findet sich in äußerst unterschiedlichen Texten. Zentral und am bekanntesten tritt sie auf in Ernst Jüngers erstem und zweitem Pariser Tagebuch. Nach vielen Einträgen zur Zerstörung Hannovers, der Heimatstadt Jüngers, und zum Hamburger Feuersturm (Jünger zitiert Augenzeugen, die verkohlte Leichen, »die nebeneinander, wie auf einem Grill, über ein Brückengeländer gelehnt waren« sahen)96, wird am 27. Mai 1944 folgender Eintrag gemacht: »Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des ›Raphael‹ sah ich zweimal in Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. […] Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.«97 Die 94 Vermutlich haben sich sämtliche Autorinnen und Autoren, die ihre Texte mit Photographien versehen oder Bildbände zusammenstellten, vor dieser Entscheidung befunden. So wird seit längerem eine intensive Diskussion geführt, inwieweit das Zeigen von KZ-Opfern auf Photographien der historischen Forschung dient und die Würde der Opfer respektiert. Vgl. Brink 1998. 95 Im Gegensatz zu literarischen Schilderungen, aber auch im Gegensatz zum weiten Genre der Kriminalliteratur, in dem die Beschreibung von Toten in keiner Weise ein Tabu ist. 96 Jünger 1994: 387. 97 Ibid.: 537. 171
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legendäre Burgunderszene, die Thomas Mann dazu veranlasste, Jünger als »eiskalten Genüßling des Barbarismus«98 zu beschimpfen, wird mittlerweile weniger als Dokument denn als Literatur angesehen. Da Paris an diesem Tag, so der aktuelle Stand der Forschungen, nicht bombardiert wurde, scheint es, als ob Jünger einen beliebigen Tag wählte, um sein Bild von dem zur ›Befruchtung‹ bereit daliegenden Paris, von der Inszenierung einer schmerzhaften, aber lustvollen Entjungferung notieren zu können. Auch die ungewöhnliche Kombination von Burgunder und Erdbeeren scheint für die Literarizität der Szene zu sprechen. Der Burgunder – sofern es eine rote und nicht (was in der genannten Kombination gustatorisch nahe läge) eine weiße Sorte sein soll – als Zeichen für Blut und Vereinigung im neutestamentarischen Sinne, die Erdbeere ein oft – auch von Thomas Mann in seiner Erzählung Tod in Venedig – verwendetes, »eindeutiges sexuelles Symbol.«99 In der biographischen Forschung zu Ernst Jünger wird die Szene mittlerweile mit einer im Juli 1944 erneut einsetzenden Liebesbeziehung Jüngers zu Sophie Ravoux in Verbindung gebracht, so dass die ›erotischen Aufwallungen‹ (Thoemmes) des Parisliebhabers metonymisch gelesen werden. Dass die sexuelle Metapher der Penetration der Stadt im Luftangriff jedoch eine literarische Tradition hat, zeigt bereits ein kurzer Vergleich mit Mulischs Roman Das steinerne Brautbett (1958). Bereits der Titel spielt offen auf die Vereinigung von urbanem Raum mit militärischer Gewalt an. Im ersten Kapitel landet die Hauptfigur, ein amerikanischer Bomberpilot, der an der Bombardierung Dresdens beteiligt war und den bezeichnenden Namen Corinth trägt,100 zu einem Ärztekongress im Nachkriegsdresden, einem »historischen Ort«101. Der erste Blick auf das zerstörte Dresden löst die Assoziation aus: »Am anderen Ufer der Elbe lagen im Tal die Überreste der Stadt: eine unüberschaubare Brandung von Schutthaufen, befetzt, besträhnt mit weißem Nebel: eine Braut, die ihren Schleier beim Anblick ihres Bräutigams in Stücke gerissen hatte.«102 Corinth ist tatsächlich der Bräutigam, da er – wie am Ende in einem Rückgriff erzählt wird – Dresden bombardierte und sich nach der 98 99
Zit. n. Thoemmes 2004 : 37. Ibid. Die erotische Symbolik in Ernst Jüngers Tagebüchern und besonders der ›Burgunderszene‹ untersucht Tobias Wimbauer in einem Aufsatz auf den sich Thoemmes vor allem bezieht (Wimbauer 2004). 100 Die griechische Stadt war in der Antike neben Athen eine wichtige Handelsstadt und wurde in ihrer Geschichte mehrfach durch Erdbeben zerstört und wiederaufgebaut. Der heutige Standort der Stadt stimmt nicht mit dem des antiken Korinth überein. 101 Mulisch 1995: 15. 102 Ibid.: 15f. 172
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›Vergewaltigung‹ über die Zerstörung wundert: »Es war, als ob er erwartet hätte, sie unverletzt wiederzusehen: als ob der Angriff nicht wirklich geschehen, sondern ein verabredetes Spiel gewesen wäre, auf das sie und er sich mit einem Augenzwinkern eingelassen hatten, ein Spiel ohne Verpflichtungen, ohne Folgen.«103 Die Vernichtung der Stadt setzt – so der unterschwellige rote Faden des Romans – enorme sexuelle Energien frei. Das lustvolle Erlebnis der Bombardierung wiederholt sich in der sexuellen Eroberung einer kommunistischen Gästebetreuerin, die zwischen Exkursen zur Ruinenästhetik seit Piranesi und der Engführung von Konzentrationslagern und zerstörten Städten,104 ebenso aktiv und mit negativen Folgen (»Du bist ein Schuft!«105) eingenommen wird wie Jahre zuvor die Stadt. Die Stadt wird zur Geliebten, der Liebesakt bleibt einmalig und mit bitterem Nachgeschmack. Am deutlichsten wird die libidinöse Besetzung der kriegerischen Handlung, die sexuelle Beziehung zwischen der Stadt und ihrem Zerstörer jedoch in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (dt. Die Enden der Parabel, 1973). Der Luftkrieg und die Nachkriegszeit im Europa der zerstörten Städte ist das Hauptthema dieses zentralen Werkes der internationalen Verschwörungsliteratur. Zum einen steht sein Held Slothrop unter Beobachtung der Alliierten in England, da bei der Bombardierung Londons die Bomben immer dort einzuschlagen scheinen, wo Slothrop Geschlechtsverkehr hatte bzw. Slothrops Erektionen rühren vom Herannahen der Raketen her, mit denen er seit seiner Kindheit in einer geheimen Verbindung steht. Dieser Ausgangspunkt der verworrenen Handlung führt die Hauptfigur quer durch Europa und bis in die USA, wo die den Roman Pynchons Lesenden als Zuschauer einer Kinoaufführung schließlich selbst von einer V2-Rakete getroffen werden. Die häufige Personifizierung der Städte London, Berlin, Swinemünde, Zürich u.a. und deren sexuelle Besetzung wird zudem an das Gespenstermotiv gekoppelt, das – wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt – meist nur indirekt als gespenstischer Eindruck der Städte in Kombination mit der Anwesenheit von Leichen vorherrscht. Pynchon lässt Gespenster in der Nähe der Lübeck bombardierenden Maschinen auftreten, sobald diese mit dem Bombardement beginnen. Stellenweise als Engel interpretiert, wird deren Anwesenheit im Flughimmel zum offenen Geheimnis zwischen den Bomberpiloten. Während der Bombardierung durch die RAF stehen die ›verhüllten Gestalten‹ »draußen am Horizont, 103 Ibid.: 164. 104 »Zwischen den Massenmorden der Hunnen und den Konzentrationslagern Hitlers ist keine Zeit vergangen. Sie liegen nebeneinander auf dem Grund der Ewigkeit. Er dachte, und dort liegt auch Dresden.« Ibid.: 111. 105 Ibid.: 150. 173
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draußen am polierten Rand der Welt […] gleichmütig, in der Tat, wie jener Engel, der über Lübeck stand am Palmsonntag der Bombardierung, zu der er nicht als Schutz- und nicht als Würgeengel gekommen war, sondern um Zeuge zu werden eines Spiels der Verführung.«106 Die Bombardierung unter den Augen der Geister (die später in Séancen angerufen werden) wird als sexuelle Provokation bewertet, als »der vorletzte Schritt, den London unternahm, bevor die Stadt sich unterwarf, bevor sie das Verhältnis einging, das ihr den Ausschlag gab, die von Roger Mexico auf seiner Karte registrierten Narben der schwärenden Syphilis, die latent war in der Liebe, die sie mit dem nächtlichen Wüstling, ihrem Lord Tod verbindet […].«107 Diese noch dezente Ausgestaltung der Beziehung der Stadt London mit ihren Bombardierern wird im Angriff auf Lübeck zu einer direkten Aussage über die einander aggressiv Bekämpfenden und über die Verbindung von militärischer Macht und libidinöser Energie gesteigert: »denn die RAF zu diesem Terrorangriff auf das zivile Lübeck loszuschicken war der unmißverständliche, tiefe Blick, der sagte: Mach schon, fick mich, der die A4s, die harten, heulenden Raketen, die ohnehin abgefeuert worden wären, noch etwas rascher kommen ließ…«108 Eine derartige sexuell-aggressive Aufladung der Städtezerstörungsthematik, wie sie die Literatur vornehmen kann, ist visuell im Medium Photographie kaum denkbar. Möglicherweise können Luftaufnahmen der (un-)zerstörten Städte durch die Macht und Überlegenheit suggerierende Vogelperspektive und die Vorstellung einer Penetration durch die Bomben einen Ausgangspunkt für derartige Diskurse von Eros und Thanatos darstellen. Diese werden jedoch erst möglich durch die sprachliche Kommentierung der Bilder. Dass die zerstörten Städte und ihre Toten als sexuelle Objekte wahrgenommen wurden, zeigt auch der oft kolportierte Umstand, dass Photographien von entstellten Luftkriegsopfern heimlich verkauft wurden und in Umlauf waren wie besonders anstößige pornografische Photographien. Einige der bekannten Photographien legen diesen Zusammenhang auch nahe, da die Toten oft nicht oder nicht nur entstellt, sondern teilweise entblößt sind.109
106 Pynchon 2003: 341. 107 Ibid. 108 Ibid. 109 Sebald erwähnt diesen Markt für Photographien und den Vergleich mit pornografischen Bildern mit Berufung auf Zeitzeugenaussagen. Vgl. Sebald 2003: 104. Photographien, die einen annähernden Eindruck davon geben, finden sich bei Peter und Friedrich. 174
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Zeichen der Zerstörung Betrachtet man den Zeitraum, in dem die behandelte Literatur wie auch die Bildreportagen entstanden, so kann erstens gefragt werden, ob sich die Darstellung der zerstörten Stadt als eine personifizierte bis anthropomorphisierte, zwischen Friedhof und Sexualobjekt angesiedelte, bis heute, z.B. in der Bearbeitung durch Nicht-Zeitzeugen, gewandelt hat. Zweitens kann gefragt werden, ob sowohl Literatur als auch Photographie ihrer gesellschaftlichen Aufgabe als Speichermedien der Erinnerung bzw. der Rekonstruktion des zerstörten Raums für die Identitätskonstruktion einer Gesellschaft gerecht werden. Wird der publizistische Gedenkdiskurs zum sechzigster Jahrestag der Bombardierung in vielen Städten und vor allem zum Kriegsende vor sechzig Jahren betrachtet, so scheinen die visuellen Ikonen der Trümmerphotographie einen alles dominierenden Platz in der öffentlichen Diskussion eingenommen zu haben. Darüber hinaus scheinen selbst Diskurse von der Städtezerstörungsthematik überlagert zu werden, die in der bisherigen Diskursgeschichte der Bundesrepublik bewusst von ihr getrennt wurden. So werden Berichte zum Kriegsende 1945 und zur Nachkriegszeit heute visuell vor allem mit urbanen Trümmern bebildert, statt wie in den Jahrzehnten zuvor mit Bildern, die direkte politische Aussagen machen (Kapitulation des Militärs oder der Bevölkerung, alliierte Soldaten, die Potsdamer Konferenz usw.) und die als Zeichen der Anerkennung der militärischen Niederlage Deutschlands oder mehr noch des Gefühls der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur interpretiert werden können. Die Stadt in der Totalen als Trümmerlandschaft zwischen künstlich und natürlich oder repräsentiert durch einzelne Gebäude (der ausgebrannte Reichstag, die Frauenkirche, die Statue der Güte mit Blick auf Dresden u.a.) ist als Bildmotiv allgegenwärtig und dominiert den gesamten Diskurs des Zweiten Weltkriegs – solange er nicht ihren Gegenpol den Holocaust, den Unort des Konzentrationslagers berührt.110 Die doppelte Existenz der Städte scheint im kollektiven Gedächtnis nicht in ihrer Virulenz abgenommen zu haben, sondern wie eine Geistererscheinung im Verborgenen eine Weiterentwicklung erfahren zu haben. Wie das eingemauerte, pochende Herz des Ermordeten in Edgar Allen Poes The Tell-Tale Heart (Das verräterische Herz) scheint sich ihre virtuelle historische Gestalt bemerkbar zu machen. In einer Art Intergenerationenerinnerung scheint der Wissenserwerb um das frühere Aussehen 110 Vgl. zum Beispiel die Spiegelserie Gründerjahre zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005, in der jede Folge mit verschiedenen Ruinenbilder, oft als großformatige Anfangsbilder, illustriert wurde. (Der Spiegel, Nr. 47, 2005 bis Nr. 4, 2006.) 175
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der Städte, die faktische und visuelle Kenntnis der Geschichte des bewohnten Raums ein Bedürfnis zu sein, dass sich vor allem in der kontinuierlichen Präsenz der ästhetischen Trümmerphotographien und ihrer melancholischen Ikonen zeigt – und wie Jünger bereits 1943 nach Erhalt der Nachricht von der Bombardierung Hannovers notiert: »Nie war mir deutlicher als beim Lesen dieser Zeilen, daß Städte Träume sind. So sind sie leicht zu verwischen, wenn der Morgen dämmert, doch leben sie auch in unerhörter Tiefe, im Unzerstörbaren in uns.«111 In der heute so befriedeten Präsenz eines gewalttätigen Themas zeigt sich, dass die Ereignisse für das kollektive Gedächtnis verhandelt und auf eine neue Ebene gelangt sind: aus den ›wilden Archiven‹ des Speichergedächtnisses sind sie in ein die Gesellschaft stabilisierendes Funktionsgedächtnis gewandert.112 Das Bild der Stadt wird zum erträglichen, sogar zum schönen und interessanten Bild für alle Verluste und historischen (Nicht-)Erfahrungen. Klaus Modick, ein Nachgeborener, der 1982 zum vierzigsten Jahrestag des Feuersturms von Hamburg seinen viel beachteten Roman Das Grau der Karolinen veröffentlichte, wählte als von der poetischen Sprache zu erschaffende Metapher für die Zerstörung ein Bild – keine Photographie, sondern ein Gemälde. Der Bildhintergrund, ein monochromes Grau, löst die zentrale Binnenerzählung aus. Das Grau des Bildes verursacht ein undefinierbares Unbehagen bei all seinen Betrachtern und korrespondiert mit der semantischen Leere, die die Städtezerstörungsthematik im Nachkriegsdeutschland bis in die neunziger Jahre hinein auszeichnete. An einem heißen Julitag erzählt ein Überlebender des Feuersturms dem unwissenden jungen Erzähler, wie das Grau des Bildes für ihn zum Grauen im Conradschen Sinne wurde, das ihn wortwörtlich ins ›Herz der Finsternis‹, in das leere Zentrum der Nicht-Zivilisation führte: zum Himmel über dem zerstörten Hamburg. Bis zum Verkauf an den Erzähler verursacht das Grau ihm Alpträume, es löst jedoch auch das befreiende Erzählen aus. Das Bild wird gerade durch seine Vielschichtigkeit (es wurde mehrfach übermalt) und Abstraktheit zu einem Assoziationsfeld für kollektive Traumata, an dem sich alle seine Besitzer und Betrachter abarbeiten. Heute, über zwanzig Jahre und viele Entwicklungsschritte später, scheint die komplexe Struktur, die Modick um das leere Zentrum des Bildes in seinem Roman zur Zerstörung Hamburgs und weiterer apokalyptischer Erfahrungen narrativ webt, vielleicht schwer nachvollziehbar. Ein unwissender Zuhörer (»Nicht viel. Luftkrieg halt, kam bei uns im Schulun-
111 Jünger 1994: 378. 112 Vgl. Assmann/Assmann 1994. 176
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terricht kaum«113) ist heute bei der ubiquitären Präsenz der Thematik kaum noch vorstellbar. Das Grau als unbeschriebene Projektionsfläche mit suggestiver Kraft müsste Modick, schriebe er seinen Roman heute, womöglich durch ein Photo ersetzen – vielleicht eines der Frauenkirche.
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»THE LONG GONE CITY’S PAST«? THE DESTRUCTION OF DANZIG/GDAĜSK IN »DEATH IN DANZIG« BY STEFAN CHWIN JAKUB KAZECKI In June 2006 Dziennik Baátycki, a popular daily edited in GdaĔsk, published the results of a reader survey with the purpose of establishing the ›GdaĔsk canon‹: a list of literary works that, in the opinion of its present citizens, had influenced the city’s identity the most since its foundation in the 14th century.1 The official presentation of the survey results was accompanied by ›tableaux vivants‹, a series of easily recognizable standstill scenes from the chosen texts. From the list of fifty candidates suggested by literary historians, the readers picked the top ten, with the first place going to Panienka z okienka (A Lady from the Window, 1898) by Jadwiga àuszczewska, a rather trivial love story between a burgher woman and a sailor against the picturesque background of the 17th century port city of GdaĔsk. The survey in Dziennik Baátycki, although it has the playful character of summertime press entertainment, provides us with substantial clues regarding tendencies in the construction of the city’s identity. The positioning of àuszczewska’s novel in such a prominent place in the competition shows how selective the process is and how instrumentally the historical reality in such attempts is treated. The popular recollection of the distant and idealized past when national conflicts were downplayed and the practices of the Hanseatic League were emphasized demonstrates that there is a need for the city’s self-understanding as linked to the traditions of a multicultural urban centre, a place of peaceful co-existence for different ethnic and national groups. Aside from the romanticized vision of the Hanseatic city in the period of its economic prosperity, the bulk of the works in the survey’s winning category relate in more or less direct way to the city’s fate in the Second World War. Among them, the description of the Polish defence against the German offensive at Danzig’s strategic point Westerplatte in the first days of the war, written by war reporter Melchior WaĔkowicz, 1 Skutnik 2006: n.d. 181
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served in the post-war Communist anti-German propaganda as an useful icon of soldier heroism. The short story Professor Spanner by Zofia Naákowska offers a description of shocking discoveries at the Danzig Medical Academy’s Anatomical Institute in May 1945. The work, treated as an historical document and not an artistic creation, fits well into the already acquired knowledge about the scale of the German war atrocities on occupied territories and contributed greatly to the myth that proclaimed that in the notorious institution the Nazis made soap of human fat.2 The observation that WWII takes a special place in the awareness of GdaĔsk’s people should not surprise in the context of the city’s identity construction: the outbreak of the war, the German occupation and war atrocities, the bombardment of the city by the Allies, the exodus of German citizens and the acquisition of their households by the arriving Polish population constitute a traumatic break in the sense of historical continuity of Danzig/GdaĔsk. The war events – marking the end of an era in German-Polish relationships – became the subject of reflection in both German and Polish war discourses – literary, scholarly and political – and was often used to feed national antagonisms. The controversial issue of the transformation of destroyed Danzig into GdaĔsk thus became a main focal point, in which both the past and the future of the relationships between the two nations affected by war were and are examined and different identity models (e.g. European, national, sub-national, individual) are constantly negotiated. Another three works on the Dziennik Baátycki’s list, also relating to the last war, are somewhat vaguely described by the literary critics as exemplifications of the ›new GdaĔsk mythology‹: artistic reconstructions of the multicultural city, in which the turns of 20th century history equally affected its inhabitants disregarding their German, Polish or Kashubian ethnic roots. The author named most frequently in this context, and appearing in the survey results as the only one writing in German, is Günter Grass and his Danzig Trilogy, including the best known Tin Drum (Die Blechtrommel, 1959). Other selected writers, Paweá Huelle with his debut Who was David Weiser? (Weiser Dawidek, 1987) and Stefan Chwin with Death in Danzig (Hanemann, 1995), represent a younger generation of Polish authors. Teresa Halikowska-Smith, in an article on Polish literature in the 1980s and 1990s, refers to Huelle and Chwin as representatives of the ›GdaĔsk school of writers‹ – with the implied intention of making a distinction along generational and national lines between Grass and the Pol2
For the reception of Naákowska’s work and the critical evaluation of the events in the Anatomical Institute in Danzig in the last years of the war see Neander 2006. 182
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ish authors. She points out that any attempt to critically thematize the problem of the inclusion of the new territories under Polish administration and the expulsion of its German population was banned from Polish schoolbooks and public debates by post-war historiography. Similarily, BoĪena Shallcross, in the article The Archeology of Occupation: Stefan Chwin’s Writings on Danzig/GdaĔsk, notes that the incorporation of the areas that belonged to Germany prior to WWII has been presented by the Communist propaganda and consequently interpreted by the public as a historical fact rather than a morally controversial issue.3 In the 1980s, when censorship weakened and taboo topics rose to the surface of the discourse about Poland’s newest past, writers who had grown up in GdaĔsk and started their literary careers in the decade of radical political changes initiated in the port city, began to engage, on a very personal level, with the themes of German presence (and absence). According to Halikowska-Smith, they rediscovered the city’s multicultural past as a gesture of protest against the official narratives propagated after the war that stressed the ethnic and cultural homogeneity of the area. Both Huelle and Chwin, frequently compared to Grass and seen as his polemicists and/or followers, became associated with GdaĔsk and established themselves – sometimes against their own intention – as important authors of the ›little homelands‹.4 Stefan Chwin’s Death in Danzig, one of the most popular Polish novels of the 1990s, is the story of the anatomy professor Hanemann, who survives the battle of Danzig in January 1945 and refuses to evacuate the city with his German countrymen. Driven by personal motives – feelings of loss and resignation – he chooses to stay behind in his house and witnesses the gradual takeover of the city by its new inhabitants, Polish repatriates, and the establishment of the new administration. The perceived process of polonization of Danzig and its transformation into GdaĔsk ends for him a few years later, when he eventually leaves the city to avoid arrest under the fabricated suspicion of collaboration with West German ›revisionists‹, who supposedly intended to regain the ›Recovered Territories‹ for Germany. Among the literary representations of Danzig’s destruction in WWII, Death in Danzig takes a special place and not only because, as BoĪena 3 Shallcross 2002: 117. 4 Chwin expressed his attitude against the attempts to categorize him as a writer of ›little homelands‹ in an interview for the Polish art magazine Lampa: »I felt my entire life as someone undefined. And now, they put me in some kind of literature of little homelands; it is a wonderful misunderstanding of my life.« (»Ja siĊ czuáem caáe Īycie kimĞ nieokreĞlonym. A tymczasem wpakowali mnie do jakiejĞ literatury maáych ojczyzn, co jest wspaniaáym nieporozumieniem mojego Īycia«). See Gulda 2006: 6. 183
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Shallcross emphasises, Chwin is the first Polish author who describes in detail how a Polish family moves into a house that had previously belonged to Danzig’s Germans, thus thematizing a subject that did not evoke major concerns in the post-war Polish literature: the subject of acquiring goods and inhabiting spaces that have been taken from their lawful owners.5 More importantly, however, from the point of view of identity shaping, the novel offers an interpretation of Danzig’s change into GdaĔsk, in which the physical destruction of the city and the escape and/or death of its German population is incorporated into the transformation process, meaning not a civilizational rupture and total annihilation of the city’s material heritage but the safeguard of a sense of historical continuity. What interests me are the narrative strategies employed by Chwin that contribute to the preservation of this historical continuity, connect Danzig with GdaĔsk in various practices of social memory, and allow for the establishment of an identity framework that suppresses the potential of national and generational tensions and conflicts, yet, at the same time, does not allow the troubling elements to be forgotten. The very unique place of GdaĔsk in the discourses of European identity was perceived by the author himself when he recounted the changes in the symbolic order that his childhood neighbourhood underwent: During my lifetime, Danzig’s Kronprinzenallee changed into Aleja Sprzymierzonych, then into Wita Stwosza Street; Ostseestrasse changed into Aleja Roosevelta, then into Aleja Karola Marksa, and into Aleja Generaáa Hallera. And that’s all within one’s lifespan. There wouldn’t be many places in Europe that have equally wobbling identities.6
The question of individual and social memory seems to be of crucial importance to further investigation of Danzig’s destruction and its following restoration as GdaĔsk. The structure of Chwin’s narrative provides us with clues about the way the memories of the past are constructed. The first chapter of the novel, »August Fourteenth«, opens with multiple perspectives on what happened on the summer day when Hanemann decided to quit his job at the Anatomical Institute: the unexpected end of his blooming medical career cannot be fully explained by the people around him. All interested parties offer their own interpretations of his motives. The narrator, Piotr, hears the story of August 14th from his mother, but »not even Mama was convinced« that the account of the events is true.7 Mama’s source of information, Mrs. Stein, has patched the story together 5 Shallcross 2002: 117. 6 Chwin 1997: 16. 7 Chwin 2004: 1. 184
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partially from rumours circulating in the city and partially from the testimony Hanemann’s co-worker, Mr. Kohl, who in return was informed about Hanemann’s resignation by Alfred Rothke, an orderly at the Institute. Another one of Mrs. Stein’s sources is Martin Retz, Hanemann’s assistant. Fragments of his recollection that reached Mrs. Stein are mediated by Maria, Mrs. Stein’s niece. They all, more or less explicitly, prescribe Hanemann with very personal motives for quitting his job: on this day, Hanemann’s fiancee, Louisa Berger, was found dead in an accident on the small sea cruiser ›Star‹. The shock of seeing his beloved on the anatomy table was Hanemann’s main reason for leaving the Institute. However, in the chapter »Dismissed«, Piotr, now an adult, interviews Franz Zimmermann, a politician and German emigrant in Stockholm who left Danzig in 1937. Zimmermann provides Piotr with yet another explanation of Hanemann’s behaviour, charging the doctor with affiliation with the Social Democrats and anti-Nazi sentiments that caused his prompt dismissal from the Institute. In the chapter »Tuckwork, Pearl Buttons, Silk«, Mr. J, a Polish friend of Hanemann’s, delivers one more addition to the events of August 14th. Significantly, all people involved in Piotr’s investigation of Hanemann’s departure from his job constantly undermine each other’s reliability and accuse the other narrators of their own agenda and mind-setting that ultimately changes their perception of the events, making it ›untruthful‹. With their successively added testimonies, the reader who forms a narrative of Hanemann’s disappearance from the Institute and attempts to place the recollected events in causal and chronological chain, is confronted with unexpected obstacles in the very process of narrative construction, as the subjective character of different accounts of the same story is exposed: the reader becomes aware that the testimonies are influenced by the mood, disposition, literary preferences, education and social situation of the storytellers. The detailed description of the sunny August day is, therefore, a reconstruction attempted by Piotr, the son of the Polish refugees of war from Warsaw who arrived in Danzig right after the war and chose Hanemann’s house as their new home, taking the apartment of Hanemann’s neighbours, the Walmanns. Piotr, born shortly after the war, has to rely on third-party accounts of the turning point in Hanemann’s life. Piotr’s childhood memories of Hanemann intermingle with the perspective of the adult man who is interviewing Franz Zimmermann many years after the war. A striking aspect of the main narrator’s determination to find out about Hanemann’s past, especially the incident on August 14th, is that it apparently does not correlate at all with Piotr’s life. The determination provokes the question of why it is so important to Piotr to create a story of Hanemann. It seems plausible to contend that Hanemann
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intrigues Piotr for two reasons. First, in Piotr’s eyes, Hanemann is responsible for taking away Piotr’s childhood erotic fascination, Hanka, a young woman who helps Piotr’s parents in the household. Hanemann leaves GdaĔsk with Hanka who, having an unclear political past and ethnic background, has to avoid confrontation with the authorities. Hanemann also prevents Hanka’s suicide attempt and builds a close relationship with Adam, Piotr’s deaf and mute friend, who also leaves the city with the couple. Piotr’s ambivalent feelings towards Hanemann lead to the query of the doctor’s past. The narrator is looking for the interpretative key to the fascination that Hanemann evokes in Hanka and Adam. On a different level, the mysterious story of Louisa Berger would also be a prelude to and a way of understanding Hanemann’s relationship with Hanka. Second, and more important, Hanemann is a survivor: a man who – against all odds – has literally ›survived‹, ›out-lived‹ the destruction of the city and the death of its German inhabitants, either in the bombardment or on the board of the Bernhoff, a sunken ship that was trying to rescue the refugees from Danzig. As someone who is not supposed to live – and his withdrawn attitude against his new Polish surroundings put Hanemann closer to death than to life – he is a connecting link between GdaĔsk and Danzig, between the familiar and cheaply made new and the solid material of the old that is getting eradicated or covered by the Polish administration of the city, gradually destroyed, getting lost, and worn down. Hanemann has the important function of being a key to the past: a person who could explain the significance of the layers of the unknown, the ›evil‹ yet fascinating Danzig that is still visible under the coats of fresh paint and in books written in Fraktur. The essays in which Chwin explains his authorial position seem to support this aspect of Piotr’s. In the writings about the GdaĔsk of his childhood, Chwin calls the city »a ›good‹ place to be born, because it was an Evil Place in the World, a place where one can look into what’s really important«8, referring to the city’s Nazi past and the fact that WWII began here. Chwin, living in the ›post-German‹ house with its furniture and equipment, exposed every day to the artefacts of German heritage that had survived the war and that the new city administration attempted to mask, developed a fascination for the achievements of the culture of ›the Evil‹, the Germans. German Danzig was a ›beautiful city‹ and the beauty, emphasized by the contrasting ugliness of the new Polish architecture, provoked questions about the connections between the culture that results in such aesthetically appealing objects and the genocide that seems to be the extreme consequence of the pursuit of the culture’s beauty ideal – with the active participation of medicine adepts. In this regard, the figure of Professor 8 Chwin 1999b: II. 186
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Hanemann can also be read as an artistic polemic against the figure of Professor Spanner, a real-life anatomy doctor who worked at the Danzig Anatomic Institute in the last years of the war and whose literary representation created by Zofia Naákowska resonated deeply in the Polish social memory of the war, as the recent survey of Dziennik Baátycki proves. Professor Spanner, absent in Naákowska’s work and described only by his co-workers, is counterpointed in Chwin’s novel by Hanemann, who is present and in possession of his own voice. The latter’s treatment of objects is an alternative to the objectification of the human body exemplified by the former. While the echoes of Professor Spanner’s activities are present in Death in Danzig – Hanemann’s former workplace is the place where »the Germans made soap out of people«9 – Hanemann is for Piotr the other, not-evil side of Danzig, a living contradiction to the official narrative of the »Evil Place in the World«0, yet ambivalent through his nationality and profession, and therefore worth further investigation. Piotr’s reconstruction of the August 4th events and the image of Danzig emerging from the memories of people who tell him about Hanemann is, using a term coined by Marianne Hirsch, a postmemory. In her study Family Frames: Photography, Narrative and Postmemory, Hirsch concentrates on the memories of Holocaust survivors and on the impact they have on the self-understanding of the following generation. The generation of the survivors’ children did not witness the war but are aware of the traumatic experiences of their parents and rebuild these experiences for themselves in form of ›post-memory‹ based on the available material: oral testimonies, cultural artefacts, and photographs. Hirsch notes that […] postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation.
While Hirsch investigates the postmemory of the children of Holocaust survivers, the author points out that the term can be applied to any second-generation memories of traumatic events. Postmemory is an expression of the dominating narratives of the older generation that overshadow the life of the children and shape their identity. The memory of the second generation is constructed, fragmentary but not empty, and in9 Chwin 2004: 88. 0 Chwin 999b: II. Hirsch 997: 22. 187
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direct: Piotr’s narrative, with its multiplicity of voices, digressions about other figures, contradictions and ambiguous spaces that cannot be filled either by Piotr or by any of the witnesses, has the character of a patchwork where the holes have to be filled by the narrator’s imagination, his knowledge of interpersonal relationships, and his orientation in Danzig’s urban landscape and history. The postmemory is formed by literary conventions and common narrative devices – popular motifs, topoi and symbols. The story of Piotr’s parents’ acquisition of the abandoned Wallmanns’ apartment is a good example of such a forming influence. In the chapter »The Word«, Piotr re-tells the moments when his parents look at the houses in the Lessingstrasse and select the one they deem appropriate for the growing family. He hears the story from his mother, who was pregnant at the time. The parents find the apartment where Piotr is going to be born, make it their own by placing their sparse possessions on the table, removing the small objects that remind the newcomers the most of the bodily presence of the old owners, and washing away the smells associated with the other family. The imagery of the story generates the impression that the urban space the newcomers are about to settle in, is waiting for them to be discovered for the first time, like a virgin secret garden. »The city leafed out before them like frost on glass«12, and the visitors »peeked through iron fence pickets and open gates marked with Gothic numbers; around pine, spruce, and birch trees; through tangles of ivy and strands of creeper«13. The parents are looking for the house that promises the best shelter from rain, snow and cold, while offering safety from other people. Eventually, they select a building with a »fairy-tale spire«14. The fairy-tale of finding the proper house is interwoven with elements that have unambiguously biblical character: the Father (remarkably, Piotr capitalizes his name throughout the story) hears voices in the house, sees Polish looters in Hanemann’s apartment, and rescues the doctor from the oppression by shouting the ›Word‹ of great, world-creating power. Piotr recalls the moment in Mama’s story but internalizes the story to the extent that he imagines his father in his holy anger as if he, Piotr, were accompanying his father in the scene. He prescribes to it utmost significance for the family, that is, the beginning of the family history: I’ll never forget that moment, that wonderful moment when you stood in the doorway to Hanemann’s room. I wanted it to last forever […] when you stood in
12 Chwin 2004: 69. 13 Ibid.: 70f. 14 Ibid.: 73. 188
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the frame of that white sliding door […] – the world recovered its glow. That was a moment that made me want to be alive, made me want to live!15
The power of the Word that the Father uses to drive off the looters is subverted by the fact that the Word happens to be just »out!«, emphasised further by throwing »you goddamned son of a whore, get the hell out of this house!« at the invaIbid.16 The narrator decides to ignore the irony and treats the (Swear)Word as the creation act that »established the house where I was born«.17 BoĪena Shallcross, who additionally points out the parallels between Piotr’s family and the Holy Family (the pragmatic responsibilities of the Father associated with St. Joseph, the ablution rituals in the new apartment, connecting Mama with the Virgin Mary), argues that the transformation of the story into parable is a narrative strategy that would give moral justification to the fact that the newcomers settle in a space that does not belong to them. While I am not challenging this reading, I would like to interpret the narrative devices used by Piotr as instruments in the creation of the postmemory. Piotr supports his account with the authority of other genres/texts that allow him to stress the importance of the moment of moving in, to provide his postmemory with an easily recognizable and memorable structure, and to transfer the story on a level where the factual elements from the family history are projected into a fairy-tale and biblical setting that can serve as the story’s gap-filling texture. Marianne Hirsch, investigating the implications of postmemory, stresses the importance of photographs as documents of memory for the survivors and of postmemory for the next generation. Involved in life and death, balancing between the past of the object and the presence of the observer, notes Hirsch, after Pierre Nora, the photographs become sites of remembrance. The role of pictures in Death in Danzig confirms the thesis that the photographic evidence supports the acts of postmemory creation, but the photographs also prevent the eradication of the existence of the old Danzig. As Hirsch puts it, they are the »stubborn survivors of the intended destruction of an entire culture, its people as well as their records, documents, and cultural artifacts«.18 The photographs of people and objects from pre-war Danzig that are described in Chwin’s narration have special significance for the figures who, by looking at the pictures, engage into the construction of the past that ought to be remembered, but they also enter an self-identification process by placing themselves in a 15 16 17 18
Ibid.: 77. Ibid. Ibid. Hirsch 1997: 23. 189
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mutual relationship with the depicted people and objects. One of the Father’s final activities before falling asleep on the day when the Polish couple moves in into Wallmanns’ apartment is taking the picture of the former owners off the nail and putting it into the drawer,19 as if he is committing the final removal, out-placing or the symbolic outlawing of the people to whom the place really belongs, and, at the same time, escaping the accusing look of the owners and the status of invader of the space the Wallmanns previously occupied. The very close connection between photographs and the creation of memory is evident in Franz Zimmermann’s conversation with Piotr. Zimmermann delivers a theory about the political reasons of Hanemann’s dismissal from the Institute and recalls people who were associated with the Social Democratic movement in Danzig. He ignites his memory with photographs from his album, and the process of remembering is both stimulated by visual impulses (the recognition of the faces Zimmermann sees on the pictures) and resembles the development of a photographic film: »the faces were buried in the fog, emerging from forgetfulness only for a moment, pale ovals peering like specters from a glass photographic plate«.20 The photographs are of service also to someone who could not witness the old Danzig and its destruction and restoration. Andrzej Ch., who was tutored by Hanemann, recalls the picture of his German teacher the pupil spotted in an album of photos from the Free City of Danzig. In Andrzej’s memory, Hanemann enjoys the moment of self-recognition and notices the same softening of facial features he observes when his tutor reads out loud Hanemann’s favourite story of Heinrich von Kleist and Henriette Vogel’s double suicide. Suspecting the intimate importance that the picture has to Hanemann, Andrzej investigates the photograph and, through the act of looking at the image and trying to locate his teacher in place and time, he enters a relationship with the city’s past that makes him think about the changes, both in symbolic and spatial order, that the city went through since the moment the picture was taken: Glettgau… what kind of name is that? A pier on the Baltic? Where could that be? And then I realized, of course, it’s Jelitkowo, but the pier’s no longer there. The images of the past merged with my own recollections of places I knew so well.21
The moment when Andrzej recognizes Hanemann and his surroundings on the picture and experiences the feeling of connection with his then young teacher is also the same moment when he experiences the other 19 Chwin 2004: 85. 20 Ibid.: 22. 21 Ibid.: 120. 190
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that lurks in the apparently well-known shapes and people, whose existence apparently does not exceed the wartime: Hanemann’s clothes point to a different dress code, the Gothic caption with the name Glettgau and the German inscription on the boat in the picture background make Andrzej aware of the possibility of the co-existence of multiple cultures on the same remembered space. Remarkably, Piotr’s image of the Institute, presented in the opening chapter of the novel, the building with its interiors and equipment, as well as the depiction of the people working there, is dominated by two colours – black and white – resembling old film material that acquires, as the narration advances, a yellow or gold saturation, like a yellowed picture or sepia photograph. A »black Daimler-Benz« stops at the entrance of the building, just before »a crowd of somberly dressed young women« starts the work day.22 The darkness of the underground corridors of the Institute and the shadows of the workers counterpoint the white luminescence of clean marble tables, sheets and milk light bulbs. The strategy points out the possible limitations of imagination that is burdened with the task of creating a postmemory of pre-war Danzig: the memory work creates a visually appealing story that has the characteristics of blackand-white film footage. The narration, meandering from one witness to another, crosses the landscape created by Piotr’s knowledge about the old city from old photo albums, illustrations in books, and film documentaries. The technology of information storage used to capture the image of Danzig (colour film and photography weren’t common media yet) strongly influences his postmemory. One of the most interesting treatments of the photographs in the narration can be observed in Hanemann’s reactions to Louisa’s death. After seeing Louisa’s body on the section table, Hanemann returns to his apartment, stacks the photos of Louisa in the epergne and sets them on fire. Immediately, he regrets his first spontaneous reaction and tries to save what’s left of the burned photographs. What he manages to rescue are pieces, only parts of pictures, defragmented dress and body snapshots: the beloved is ›dis-membered‹, and Hanemann discovers that all he has are objects and »nothing can be reassembled from the sooty scraps«.23 After an unsuccessful attempt to puzzle the pictures back together, he tries the restoration of the whole on a different level: he makes an effort to »collect his thoughts« and while recalling his meetings with Louisa and the observations he had made, »the pictures coalesced like magnetic filings into an icily transparent pattern«.24 Hanemann comes to 22 Ibid.: 1. 23 Ibid.: 12. 24 Ibid.: 13. 191
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the conclusion that his beloved foreboded her upcoming death and her body (gestures and poses) signalled the forefeeling of tragic accident long before it happened: Hanemann accuses himself of being blind and deaf to the non-verbal signals, he just »hadn’t managed to hear what her living body was saying […] he hadn’t seen what was clear – as he now knew – in her every movement«.25 The professor constructs a story that – in his opinion – leads him logically to the moment at the Glettgau pier when Louisa drowned. The mechanism of creating a coherent story out of the elements that he perceives is the process of ›re-membering‹, putting Louisa’s dismembered body back together in the narration where she could be ›re-cognized‹ by the storyteller. Hanemann, after constructing the story for himself, wants to share it with the woman, »to tell her everything that had happened«, but suddenly realizes that the audience he projects to listen does not exist anymore, and he collapses.26 Hanemann’s mourning, undergoing a series of changes of mood and including ›dis-membering‹ and ›re-membering‹ acts, forms a process that can be divided in various stages. A similar development structure can be applied to the process of dealing with the destruction of the city post factum. To this parallel speaks the metaphor of the city as a young woman, used by Mrs. Stein. The pre-war images of Danzig remind her of the love story of Hanemann and Louisa; in the intimate act of remembering, the past of the city reveals itself like a naked woman to the gaze of her lover.27 Large parts of the city have burned down, its German citizens have been killed, have drowned or escaped without the chance to come back. The death of the city known to Hanemann – that is, the death of people acquainted with Hanemann – takes place on the sea, on board of the bombarded ›Bernhoff‹, and constitutes another cycle of death after Hanemann loses his beloved Louisa. The material goods of Danzig, along with the people who aren’t able to understand their non-verbal language, are »all adrift in the unmoving arch of the city«28 towards its destruction, towards its judgment day that would separate the useful from the decorative objects, the emotionally charged from the indifferent. Some of the objects, for instance the Schultz family possessions, are destroyed by their owners as an act of turning their back on their past and as symbolic revenge on the history that affects them. To the things that were destroyed, changed their form or function, or survived the war only to wear down in GdaĔsk are dedicated some of the most fascinating passages in Death in Danzig that soon became the main object of scholarly 25 26 27 28
Ibid.: 15. Ibid.: 17. Ibid.: 24. Ibid.: 25. 192
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scrutiny (see Shallcross, Brzóstowicz, and Dąbrowski). They are the descriptions of the insides of drawers, cupboards, closets and chests, developed with astonishing care for detail and the narrator’s omniscient look that predicts their fate long before people’s fatal intervention. Chwin’s depictions of the objects and their apparently embedded curve that leads toward their destruction is a way of recounting, retelling and therefore interpreting their material existence when it’s already too late. Within the logic of the story of their disappearance, they are all useful and needed; they make sense in retrospective, the destruction of the city makes them all valuable. Yet, as in Hanemann’s mourning after Louisa’s death, the audience of the story which would be able to fully understand what happened is not there anymore, as the city that is described does not exist – there are only pieces and fragments of memory. Chwin’s description of objects corresponds with Andreas Böhn’s remarks made in his article Memory, Musealization and Alternative History about the building and conservation of memory. The processes of modernization contributed to the development of different strategies of relating past and present. The strategy of narration on one hand, and the strategy of muzealization on the other, can be connected in one medium through the use of narratives in museums or – in Chwin’s example – depiction of objects in narrative literature.29 One of the purposes of these strategies is connecting the past with the present, a method of building continuity. The descriptions of objects in Death in Danzig, through making them necessary for the narrative, seems to have the purpose of accommodating the loss of their familiarity that results from the transition of Danzig into GdaĔsk and from the replacement of one material culture through another. Chwin explores the uneasy relation between people and objects that, paradoxically, through their temporary character support the temporal continuity: I was always fascinated by what time is doing to things and words. How – marking them with defect and death, killing and destroying them – it bestows them with beauty and life. Words and things, taken out of circulation, gain a noble character, like dead people who are coming back to us in our dreams. They are more real. They are good for nothing and therefore they really exist. […] We like to pay for the illusions of immortality that hide in the dying beauty, discreet defect and mild weariness.30
Creating (post)memories through the narrative that involves photographs and objects does not appear, however, to be the only method of recalling 29 Böhn 2005: 246. 30 Chwin 2002: D6. 193
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from the past the events and people in Death in Danzig. Noteworthy is also the performative dimension of remembering. As Paul Connerton notes in How Societies Remember, the human bodies can ›re-enact‹ the images of the past and keep the past in their ability to perform certain skilled actions.31 Among the figures in the novel, Hanemann most consciously problematizes performance as an additional aspect of memory that, in his opinion, in many situations contradicts the messages contained in the memory narratives. His fascination with pathology, with medical attempts to reveal the secrets of the human body and the possible reasons for its death, leads to his contempt for the spoken word of the living. The ability of verbal language to deceive, to falsify the past, observed by him in the official language of Nazi Germany on an everyday basis, repulses him and, in result, he trusts »only his eyes and fingers«.32 The suppression of non-verbal communication channels that is executed in the process of socialization bothers him: »Whenever we want to say something, we insist on using nothing but words: it’s pounded in from childhood – use your words and not your body«.33 By rejecting the suppression of the bodily postures and expressions that are not conform with the cultural norm, he stresses the importance of getting to the truth about the past that is embedded in the body, its gestures and mimics. In his pursuit of other, performative forms of communication, Hanemann becomes interested in sign language and Japanese theatre, but the biggest impression is made on him by the performance of Mr. Outline, a mime from London, whom Hanemann had seen on stage as a student in Berlin.34 Not to overlook is the significance of touch and smell as media of sensual memory, also embedded in the body, especially in the female body: even with her eyes closed, Mrs. Wallmann, moving her hand along her daughters’ clothes »could feel which blouse was Eva’s and which Maria’s«35, Piotr’s mother can not resist sliding her hand along the surface of the staircase handrail,36 and Hanka impresses Piotr with her »hands-on approach« to food and kitchen appliances.37 Hanemann, interested in non-verbal communication, finds a setoff in the figure of Adam, a dumb and deaf boy found by Hanka at the train station with the ability to mime; he is able to capture the gestures and posture of any person and imitate his/her idiosyncrasies in a bodily act of mockery. Hanka and Hanemann develop a strong bond with the boy, and 31 32 33 34 35 36 37
Connerton 1989: 72. Chwin 2004: 200. Ibid.: 203. Ibid.: 201f. Ibid.: 37. Ibid.: 73. Ibid.: 159f. 194
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decide to leave the city with him. As a farewell and a memory token for those left behind, Adam creates for his friend Piotr the ›portraits‹ of the people he met during his stay in GdaĔsk. Piotr remarks: »How I envied him! He had all of us. Including me. And Mama. And Father. He could be anybody he wanted…«38 The moment of recognition of whom Adam is mocking and the laughter that results from the perception of the mimicry creates conditions for memory: what is gained is the awareness of the body as a message carrier that shapes the identity of the person. In conclusion, the narrative strategies employed by Chwin in Death in Danzig allow to see the text as a work of postmemory: Piotr’s reconstruction of Hanemann’s story connects the readers with and incorporates them into the city’s history, involving them into the process of dealing with the destruction of Danzig. The dispute with the past occurs on the personal level as the figures in the narration are confronted with the events from the past. Piotr’s search for Hanemann’s love relationships and the reasons for which he stayed in the transforming city, Hanemann’s loss of Louisa and his mourning, and the death of the city with almost all of its German residents that parallels Hanemann’s personal tragedy, are excurses in the past that require imaginative work that takes advantage of the accessible resources, among them photographs, literary conventions and texts, as well as everyday objects and the city’s architecture. On the level of the literary reception, the novel can be read as a protest against the official post-1945 narrative that stressed the Polishness of this area, expressed in the popular slogan »We were here, we are here, we will be here« (»byliĞmy, jesteĞmy, bĊdziemy«). Chwin illustrates the work of postmemory by provocatively adopting representatives of the survivor generation that are both Polish and German. The figure of Hanemann serves to break the national stereotypes: he is the literary polemic against the image of the ›evil German‹ in post-war Polish literature, while his national identity, in the context of Danzig’s/GdaĔsk’s circumstances, is also not precisely set: his mother’s family came from outside PoznaĔ and his father came from Alsace.39 Similarly, the Polish national identity is not a monolithic one, against its officially propagated and sometimes still proclaimed homogeneity: the Polish residents from the Free City are looking down on the ›new Poles‹, while the newcomers catch the idiosyncrasies in their native language and distinguish between regional proveniences.40 Seeing the text as work of postmemory, in which the next generation engages into the dispute about past conflicts, makes possible the inclu38 Ibid.: 239. 39 Ibid.: 110. 40 Ibid.: 131. 195
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sion of the possibility of reconciliation, to which Chwin willingly admits.41 At the same time, the never-ending mourning for »the long gone city’s past«42 is expressed through the narration that emphasises the concentration on ›dis-membering‹ and ›re-membering‹ the fragments, which does not make possible to forget the conflict and constantly ›re-presents‹ the past. The process of memory work, as one of the commentators on the survey in Dziennik Baátycki remarked in regard to the authors whose works are in the top ten, is associated by many with the well-known palimpsest metaphor: the writers »are like archeologists that unveil different layers of the city’s soul. They all have their own excavation areas and they all bring out their own tokens of memory. Without [the] authors, however, our awareness of GdaĔsk wouldn’t be surely the same.«43 Chwin is definitely such a collector.
41 In an article in the German newspaper Die Welt, Chwin stresses generational distance as a possibility to discuss the past and talks about the responsibilities of the author: »Das wahre Fundament für die Versöhnung zwischen verfeindeten Völkern ist in der Regel der Tod – der Tod einer abtretenden Generation, der Tod der Opfer und Zeugen. Der wahre Baumeister der Versöhnung ist die Zeit […]. Die Generation der Opfer und Zeugen der Deportationen musste aussterben oder alt werden, damit in Polen, in Deutschland, in Litauen oder der Ukraine eine Generation geboren werden konnte, die sich der Versöhnung nicht widersetzt. Wer weiß – wenn ich mit eigenen Augen gesehen hätte, was mein Vater gesehen hat, was meine Mutter gesehen hat, hätte ich vielleicht nie meinen Roman Hanemann geschrieben […]. Das heißt: Die Zeit, das Nichtwissen und der Tod haben mich begünstigt? Vielleicht ist es uns, den nach dem Krieg Geborenen, deshalb leichter, sich die Welt etwas besser vorzustellen als jene, die vergangen ist. […] Aber der Schriftsteller? Was soll der Schriftsteller tun mit diesem Wissen, das sein Herz in Unruhe versetzt? Der Schriftsteller steht mit diesem Wissen weder auf der Seite des Guten noch des Bösen, weder auf der Seite des Mitleids noch des Hasses. Er steht auf der Seite des Geheimnisses, das nachts hinter den flammengeröteten Rauchschleiern undeutlich aufscheint und uns vor den wichtigsten Fragen des Lebens ratlos lässt.« Chwin 1999a. 42 Chwin 2004: 24. 43 ZalesiĔski 2006: n.d. 196
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TRÜMMERMOSAIKE. ZERSTÖRTE STÄDTE IN DEN ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN DER NACHKRIEGSZEIT 1945-1948 CLAUDIA PINKAS In der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der Zeit zwischen der Kapitulation 1945 und der Währungsreform 1948, gehörten Zeitungen und Zeitschriften zu den wichtigsten Medien in Deutschland. Die Möglichkeit einer, an den Medien Buch und Film gemessenen, relativ billigen und raschen Produktion, das gesteigerte Informations- und Kommunikationsbedürfnis der deutschen Bevölkerung in den vier getrennten Zonen sowie die besondere Bedeutung, die dem Massenmedium Presse im Rahmen der alliierten Kulturpolitik beigemessen wurde, hatte nach 1945 eine Fülle neu gegründeter Zeitungen und Zeitschriften hervorgebracht.1 Dabei deckten die Medien Zeitung und Zeitschrift nicht nur den Bedarf nach aktueller Information, sondern lieferten darüber hinaus auch wichtige Impulse bei der Suche nach neuen, um Einfachheit, Unmittelbarkeit und Authentizität bemühten literarischen Ausdrucksformen: Die non-fiktionalen, journalistischen Textgattungen wie der Bericht und die Reportage schienen in besonderem Maße dazu geeignet, die Trümmerwirklichkeit der Nachkriegszeit narrativ abzubilden und damit auch eine Vorbildfunktion für einen neuen »Realismus des Unmittelbaren«2 in der Literatur nach 1945 übernehmen zu können. Die Frage nach den Möglichkeiten einer Rückgewinnung der ›Realität‹, nach Formen einer unverfälschten Wiedergabe der Ereignisse der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit mit dem Ziel einer Neuorientierung und Wiedererlangung von nationaler und kultureller Identität, gewinnt nicht nur in der sogenannten Trümmerliteratur und im Trümmerfilm, sondern auch in den Zeitungen und politisch-kulturellen Zeitschriften der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung. Zugleich macht 1
2
Klaus Scherpe spricht somit auch von einer »Zeit der Zeitschriften« nach 1945 und konstatiert die massenhafte Herausbildung und Verbreitung einer sogenannten ›Reportageliteratur‹. Nach der Währungsreform, mit der Etablierung eines Literatur- und Kulturbetriebs, gingen die meisten kleineren Zeitungen und Zeitschriften jedoch ein. Scherpe 1982a: 92 u. 36. Weyrauch 1946. Vgl. auch Scherpe 1982a: 35f. 199
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die Suche nach neuen, objektivierenden Ausdrucksformen jedoch auch die Schwierigkeiten einer adäquaten Wirklichkeitsaneignung sichtbar: Wie soll man der Realität habhaft werden, wo diese beim Anblick der in Trümmern liegenden Städte doch selbst ad absurdum geführt scheint? Diese Wahrnehmung einer irreal und fremd gewordenen Realität schreibt sich nicht nur in die literarischen und filmischen Produktionen, sondern auch in die non-fiktionalen, journalistischen Zeugnisse der Nachkriegszeit ein. So enthalten die Berichte und Reportagen über zerstörte Städte neben nüchternen Bestandsaufnahmen der zerstörten Bauwerke und Kulturdenkmäler und detaillierten Schilderungen der sozialen Situation der urbanen Bevölkerung immer wieder Hinweise auf den irrealen, gespenstischen Charakter der Trümmerstädte, auf deren prinzipielle Fremdheit sowie auf die dramatische und theatralische Wirkung, die von ihnen ausgeht: Als eine »Wüsten-«3 oder »Mondlandschaft«4 erscheinen sie den in- und ausländischen Journalisten, als surrealistische und kubistische Gemälde5 oder auch als eine »labyrinthische Unterwelt«6 und die freistehenden Häuserfassaden erinnern an »Filmkulissen«7 oder an »Bühnenbilder für Theatervorstellungen, die nie zustande kamen«8. Angesichts des verheerenden Ausmaßes der planmäßigen Zerstörung von Städten wie Hamburg, Dresden oder Würzburg werden die vertrauten Konzepte von ›Realität‹ als fragwürdig und brüchig erfahren, eine »Zerrüttung der Wahrnehmung«9 ist zu beobachten, die schließlich auch zu einem Versagen realistisch-abbildhafter sprachlicher Darstellungskonventionen führt. »Ich finde, daß unsere Sprache nicht zureicht, den abgründigen Zustand zu beschreiben, in den uns der Blick in die Ruinenstädte stürzt«10, schreibt der Literaturkritiker und Essayist Richard Gabel 1944 und der Journalist und Schriftsteller W. E. Süskind gibt in einem Artikel in der Zeit von 1947 seinen ersten Blick über das zerstörte Würzburg aus der Vogelperspektive als ein schwindelerregendes, surreales Wahrnehmungserlebnis wieder:
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Kästner 1946b: 253. Dagerman 1987: 22f. Ibid.: 23. Gabel 1947: 512. Fürstenau 1946: o. S. Dagerman 1987: 23. Paul Virilio beschreibt diese »Zerrüttung der Wahrnehmung« und den Verlust von Realitätskonzepten durch den industrialisierten Krieg am Beispiel von Ernst Jüngers In Stahlgewittern und bemerkt: »[…] das erste Opfer des Krieges ist das Konzept von Realität.« Virilio 1986: 161 u. 59. 10 Gabel 1948: 69. 200
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»Sind Sie schwindelfrei?« fragt ein Einheimischer. Er führt mich durch eine Kirche, ein von Geröll hoch angefülltes Mauergeviert. »Franziskanerkirche!« sagt der Führer. Auf senkrechten Grabplatten ragen Gewappnete und Bischöfe mit halbem Leib aus dem Schutt. Nun geht es im Dunkeln eine Wendeltreppe hoch. Freier Himmel. Man steht wie auf einem Kamin. Ich merke aber: Die Frage, ob ich schwindelfrei sei, bezog sich auch auf mein Gemüt. Hier schaut man der Stadt senkrecht in ihr tödliches Geheimnis, in die klaffende Hirnschale der Totenschädel. […] Je nach der Beleuchtung vielleicht eine Stadt auf dem Mond, eine Kraterstadt, oder eine kubistisch hingelagerte Stadt aus Afrika. Alles ist verwandelt, ist aus alt noch älter geworden. Die Türme des Doms, ihrer Hauben beraubt, erinnern an Minaretts, und an hundert Stellen ist das Barock, das Kleid dieser Stadt, abgeblättert und gibt darunterliegende Bauformen und Grundrisse frei: AltWürzburg ist im Tode beinahe wieder eine romantische Stadt geworden.11
Das Schwindelgefühl, das den Betrachter hier angesichts der sich kilometerweit ausdehnenden urbanen Trümmerlandschaft erfasst, sowie das Zugeständnis an die ›romantischen‹ Qualitäten des in Schutt und Asche liegenden Würzburg sind durchaus keine Einzelfälle, sondern kehren in vielen im Nachkriegsdeutschland entstandenen Augenzeugenberichten und Reportagen über zerstörte Städte wieder. Die ästhetisierenden und irrealisierenden Tendenzen im Umgang mit dem Erlebten sind dabei zum einen als Hinweise auf das Überschreiten von Grenzen der subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit und den Verlust von Realitätskonzepten infolge von Krieg und Zerstörung zu deuten. Zum anderen wird über die sich in den journalistischen Texten mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wiederholenden Metaphern, Vergleiche und Assoziationsketten jedoch auch eine bestimmte kollektive Sichtweise der Städtebombardierungen, so beispielsweise deren Deutung als ein phantastischer Alptraum, eine Naturkatastrophe oder ein göttliches Strafgericht, transportiert. Der vorliegende Beitrag geht der Darstellung der Städtezerstörungen des Zweiten Weltkriegs in den Zeitungen und Zeitschriften der Nachkriegszeit im Spannungsfeld zwischen realistisch-abbildhaften Darstellungsverfahren und Tendenzen einer Ästhetisierung und Irrealisierung des Abgebildeten nach. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den in- und ausländischen Städtereportagen der direkten Nachkriegszeit, die, so die Grundthese dieses Beitrags, häufig durch eine symbolische, metaphorische bzw. allegorische12 ›Aufladung‹ der Trümmerstädte sowie durch einen wiederkehrenden Einbruch des Irreal-Phantastischen in den journa11 Süskind 1945: o. S. 12 Zur Definition der Begriffe Metapher, Allegorie und Symbol sowie Verfahren der Symbolbildung in massenmedialen, insbesondere jounalistischen Texten vgl. Kurz 1997 und Ibid. 2004. 201
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listischen Diskurs charakterisiert sind. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Bild-Text-Relationen in Zeitungsberichten der nach 1945 in Deutschland neu gegründeten Tages- und Wochenzeitungen, die sich – teils auch im Rahmen konventionalisierter journalistischer Verfahren – ebenfalls durch wiederkehrende Strategien der Metaphorizität und Symbolizität auszeichnen.
Die Rückgewinnung der ›Realität‹ im Journalismus nach 1945 Journalismus ist an erster Stelle »ein der Wirklichkeit verpflichtetes Verfahren«13, das nach einer objektiven, faktisch richtigen und authentischen Abbildung der Zustände und Ereignisse der äußeren Realität strebt. In besonderem Maße gilt dies für den Journalismus in Deutschland nach 1945, der im Anschluss an die Neuordnung und den Wiederaufbau der deutschen Presselandschaft durch die alliierten Besatzungsmächte die Abkehr von einem ideologischen Sprachgebrauch, die scharfe Trennung von Nachricht und Kommentar nach dem amerikanischen Pressegrundsatz »Comment is free but facts are sacred« sowie eine generelle Rückkehr zu objektiv-dokumentarischen Formen der Wirklichkeitsdarstellung zu seinen zentralen Aufgaben machte. Anstelle »fragwürdige[r] Ideologien« erhoffte man sich nun eine »geistige Freiheit«, anstelle einer ästhetisierenden Wortkunst die »reine Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit«.14 Hans Hackmack, der erste Chefredakteur der Bremer Tageszeitung Weser-Kurier, verurteilt in einem Artikel Zum Neuaufbau des Zeitungswesens von 1945 die deutschen Journalisten als »charakterlose Tintenreiter«, die die deutsche Bevölkerung während der letzten zwölf Jahre »belogen und betrogen« haben, und fordert: Nicht nur die ruinenumsäumten Straßen unserer Städte, auch die Gehirne von Millionen irregeleiteter Menschen müssen vom Schutt befreit werden. Zur Bekämpfung und Widerlegung nazistischer ›Flüsterpropaganda‹ und überhaupt im Interesse einer sachlichen Informierung der Bremer Öffentlichkeit ist die Zeitung geradezu unentbehrlich. Der Hunger nach sauberer, unverfälschter geistiger Kost ist groß in unserem Volke. Möge eine Presse entstehen, die dem deutschen Volke den Wahnsinn und die Verbrechen des Nazisystems zu Bewusstsein [bringt]! Möge sie der Erneuerung unseres geistigen, politischen und staatsbürgerlichen Lebens die Wege ebnen!15 13 Reus 2002: 79. 14 Hocke 1946: 207. 15 Hackmack 1945: o.S. 202
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Diese Hoffnungen auf eine politisch-kulturelle Neuorientierung und eine sprachliche Rückgewinnung der Wirklichkeit ebenso wie pragmatische Gründe – der Kulturbetrieb in Deutschland war in der direkten Nachkriegszeit weitgehend zum Erlahmen gekommen und viele Schriftsteller sahen sich gezwungen, wenn auch oft nur vorübergehend, eine journalistische Tätigkeit auszuüben – tragen insgesamt zur großen Popularität der Medien Zeitung und Zeitschrift nach 1945 bei. Den Zeitungen und Zeitschriften kam dabei eine bedeutende Rolle sowohl als Informationsträger und Vermittlungsinstanzen alliierter Politikvorstellungen16 als auch im Hinblick auf den geistigen Austausch, die Diskussion und die Neuorientierung der deutschen Bildungseliten zu. Innerhalb der Grenzen der alliierten Lizensierungspolitik bildeten die politisch-kulturellen Zeitschriften der Nachkriegszeit »Foren der Selbstverständigung unter den Deutschen über selbst die elementarsten Werte des menschlichen Zusammenlebens, die durch die Barbarei des Nationalsozialismus zerstört schienen«17 und sind somit auch als wichtige Medien der Suche nach Orientierung und Identität in der Trümmerrealität der Nachkriegszeit anzusehen. Vor dem Hintergrund dieses kurzen Abrisses der Rolle der Medien Zeitung und Zeitschrift sowie dem hier skizzierten Bedürfnis nach einer Rückgewinnung der ›Realität‹ im Journalismus nach 1945 soll im Folgenden der Darstellung der im Luftkrieg bombardierten Städte in den Berichten, Berichtserien und Reportagen der Nachkriegszeit nachgegangen werden. Dabei erscheint es sinnvoll, neben dem Blick der neu gegründeten deutschen Zeitungen und politisch-kulturellen Zeitschriften auf die zerstörten Städte auch die Sicht der im Nachkriegsdeutschland entstandenen ausländischen Augenzeugenberichte und Reportagen auf die Städtezerstörungen mit einzubeziehen: Die Erfahrungen der Entfremdung, des Orientierungslosigkeit und des Identitätsverlusts, die die sogenannte ›Stunde Null‹ begleiten, betreffen nicht nur die deutsche Bevölkerung, sondern werden ebenso auch von den sich im Nachkriegsdeutschland aufhaltenden ausländischen Beobachtern gemacht.
Die entfremdete Stadt Das prinzipiell Fremde, Unfassbare und Unwirkliche der urbanen Trümmerlandschaften zieht sich wie ein roter Faden durch die journalistischen Städtedarstellungen der Nachkriegszeit. Besonders für die aus dem Ausland angereisten Journalisten und zurückgekehrten Emigranten, die noch nicht ›immun‹ gegen die Bilder der Zerstörung sind, stellen sich die 16 Vgl. Schnell 2003: 78. 17 Laurien 1991: i. 203
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Trümmerstädte als befremdliche, surreale Landschaften dar – »öder als eine Wüste, wilder als ein Gebirge und ebenso phantastisch wie ein Angsttraum«18, so der schwedische Journalist und Schriftsteller Stig Dagerman. In seiner Reportagesammlung Tysk höst (dt.: Deutscher Herbst) aus dem Jahr 1946 beschreibt Dagerman sehr anschaulich das Gefühl einer totalen Entfremdung auf seiner Reise durch die surreale Welt der zerbombten Städte in den Westzonen Deutschlands: Die »leeren Fensterhöhlen« der freistehenden Hauswände in der Hamburger Innenstadt, die »mit weitoffenen Augen« auf den Betrachter herabzustarren scheinen,19 die »amputierten Kirchtürme« und »enthauptete[n] preußische[n] Kolonnaden«20 der zerschmetterten Regierungspaläste in Berlin sowie der ausgebrannte Kölner Dom, der »düster, rußig und einsam mitten in einem Trümmerhaufen [steht], mit einer Wunde aus frischen roten Ziegeln in der Seite, die in der Dämmerung aussieht, als blute sie«21 werden für den Reporter zu Wegmarken im Chaos der gewaltsamen Zerstörung. Die sich durch den gesamten Reportageband hindurchziehende Körpermetaphorik – das zerstörte ›Gesicht‹, der gequälte ›Körper‹ der Städte – findet sich auch bei anderen Augenzeugen und Berichterstattern der städtischen Zerstörungen. So notiert Max Frisch in seinen Münchner Tagebuchaufzeichnungen vom April 1946: […] Fassaden, deren Fenster leer sind und schwarz wie die Augenlöcher eines Totenkopfes […]. Aus einem Tor, das unter grünenden Bäumen steht, kommt eine erstarrte Kaskade von Schutt; es ist ein Tor von bezauberndem Barock, anzusehen wie ein offener Mund, der erbricht, der mitten aus dem blauen Himmel heraus erbricht, das Innere des Palastes erbricht […].22
Auf ähnliche Weise beschreibt der in Irland geborene Journalist James Stern, der als bombing analyst im Auftrag der amerikanischen Militärregierung im Nachkriegsdeutschland unterwegs ist, die »acres of corpselike buildings with their black, hollow eyes«23, die er bei seiner Ankunft in Frankfurt erblickt und für den amerikanischen Journalisten John Gunter ähnelt das Stadtbild des zerstörten Warschau »einem Durcheinander von ungeheuren ausgebrochenen Zähnen«24. Diese wiederkehrenden Körpermetaphern sind zunächst sicherlich als Ausdruck einer persönlichen Betroffenheit, eines selbst empfundenen, geradezu ›körperlichen‹ 18 19 20 21 22 23 24
Dagerman 1987: 22. Ibid. Ibid.: 21. Ibid. Frisch 1964: 30. Stern 1990: 83. John Gunther: Warschau, Sommer 1948. Zit. n. Enzensberger 1990: 288. 204
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Schmerzes im Gedenken an das massenhafte Sterben der Menschen im Bombenkrieg zu lesen: Die Ruine wird zum Gedenkstein für die Abwesenden, für die unter ihr begrabenen Toten. Darüber hinaus verweist die Anthropomorphisierung der zerstörten Gebäude sowie die Vorstellung eines »Gedächtnisses der Orte«25 jedoch auch auf ältere Traditionen der Ruinendarstellung und der literarischen Gattung des Schauerromans: Ähnlich wie in der phantastischen Literatur des 18. und des 19. Jahrhunderts scheinen die Orte, an denen sich grauenvolle Dinge zugetragen haben, ein Eigenleben zu entwickeln; sie speichern die Erinnerung an die an ihnen begangenen, verdrängten Verbrechen und lassen ihre Bewohner nicht zur Ruhe kommen (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: »Ruinenlandschaft, 1945/48«, photographiert von Hermann Claasen 25 Vgl. Assmann 1999: 298-300 u. 322. 205
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Die Wahrnehmung der Trümmerstädte als gespenstisch-fremde, irreale Orte wird oftmals begleitet von der Vorstellung von der zerstörten Stadt als einem ›Schauplatz‹ oder einer ›Bühne‹, auf die der Betrachter aus einer (scheinbar) sicheren Distanz blickt: »Als sei die Stadt selber Bühne eines namenlos schrecklichen Geschehens geworden, liegt nun vieles zutag, was vergessen schien – ich werde nicht müde zu schauen«26, heißt es bei Richard Gabel. In seiner Reportagesammlung The Hidden Damage (1947) beschreibt James Stern eine Familie, die in einem Haus in den Trümmern der Nürnberger Altstadt lebt, welches keine Fassade mehr besitzt, und deren gesamtes Privatleben sich somit wie auf einer Theaterbühne vor den Augen der Öffentlichkeit abspielt. Fasziniert von dem »öffentlichen Privatleben«27 dieser Familie kehrt Stern immer wieder zu diesem Haus zurück und beginnt, das alltägliche Leben dieser Familie wie ein fiktionales Geschehen zu verfolgen – fast ist es ihm, als müsse er im ›Programm‹ nachsehen, wie die Namen seiner ›Helden‹ im wirklichen Leben lauten.28 Die Auflösung der Grenzen zwischen den Räumen des Innen und des Außen, des Öffentlichen und des Privaten und damit der Zerfall der primären Ordnungen des städtischen Raums hat schließlich auch eine radikale Entnormalisierung sozialer Verhaltensmuster – die Bewohner des zerstörten Gebäudes werden zu ›Schauspielern‹ vor der Öffentlichkeit, der vorbeikommende Spaziergänger wird zum ›Voyeur‹ – und damit einhergehend die Wahrnehmung der alltäglichen Lebenswelt in den zerstörten Städten als einer irrealen und fremd gewordenen Welt zur Folge.
Die Rekonstruktion der Stadt als Mosaik Der als irreal und ›bruchstückhaft‹ erfahrenen Realität29 in den zerstörten Städten setzen die seit Kriegsende neu gegründeten Zeitungen und politisch-kulturellen Zeitschriften eine Vielzahl von ›Städtemosaiken‹ entgegen, die die Nachkriegssituation der Trümmerstädte – die konkreten Zerstörungen einzelner Bauwerke und Kulturdenkmäler, die Wohn- und Ernährungslage der urbanen Bevölkerung sowie die Möglichkeiten eines Wiederaufbaus – dokumentieren und diese als Gesamtbild zusammenfügen. So bringen die seit Oktober 1945 in München unter amerikanischer Lizenz herausgegebene Neue Zeitung und die seit August 1945 erscheinende Frankfurter Rundschau im Feuilleton regelmäßig detaillierte Berichte über im Krieg zerstörte, teils auch über erhalten gebliebene Städte, 26 27 28 29
Gabel 1948: 72. Stern 1990: 287 Ibid.: 288. Vgl. hierzu auch Cunningham 2002: 113. Vgl. Scherpe 1982a: 39. 206
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die Titel wie ›Bayerisches Mosaik‹ (Die Neue Zeitung, 21.10.1945), ›Deutsches Mosaik. Berichte aus Berlin und Frankfurt‹ (Die Neue Zeitung, 10.12.1945), ›Querschnitt durch Deutschland‹ (Die Neue Zeitung, 07.01.1945) oder auch ›Frankfurter Bilderbuch, September 1945. Stippvisiten in der ganzen Stadt‹ (Frankfurter Rundschau, 08.09.1945) tragen, und die in der britischen Zone im Februar 1946 neu gegründete Hamburger Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht eine Serie von Reportagen des Journalisten Josef Müller-Marein alias Jan Molitor, die aktuelle Themen wie die städtische Wohnungsnot, die Flüchtlings- und Schwarzmarktproblematik sowie die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Brennholz aufgreifen.30 Die verschiedenen Projekte einer Bestandsaufnahme der Zerstörung und damit einhergehend einer Rekonstruktion des ›neuen‹ Erscheinungsbildes der Städte sind dabei zum einen vor dem Hintergrund der breiten Unwissenheit der deutschen Bevölkerung über das tatsächliche Ausmaß der Kriegsschäden31 sowie den alliierten Forderungen nach Information und Aufklärung mit dem Ziel einer Demokratisierung und antifaschistischen Re-Education zu sehen. Zum anderen mündet die »Klage über die verlorenen Kulturdenkmäler«32 oftmals auch in eine persönliche Bestandsaufnahme der verloren gegangenen Erinnerungsorte einer Stadt und damit den Verlust der Bezugspunkte der individuellen Vergangenheit. So schreibt Erich Kästner in seiner 1946 in der Neuen Zeitung erstmals veröffentlichten Dresden-Reportage über sein erstes Wiedersehen mit der bombardierten Stadt: Ich lief einen Tag lang kreuz und quer durch die Stadt, hinter meinen Erinnerungen her. Die Schule? Ausgebrannt… Das Seminar mit den grauen Internatsjahren? Eine leere Fassade… Die Dreikönigskirche, in der ich getauft und konfirmiert wurde? In deren Bäume die Stare im Herbst, von Übungsflügen erschöpft, wie schrille, schwarze Wolken herabfielen? Der Turm steht wie ein Riesenbleistift im Leeren… Das Japanische Palais, in dessen Bibliotheksräumen ich als Doktorand büffelte? Zerstört… Die Frauenkirche, der alte Wunderbau, wo ich manchmal Motetten mitsang? Ein paar klägliche Mauerreste… Die Oper? Der Europäische 30 Die Reportagen wurden wieder abgedruckt in Marein [Molitor] 1947 sowie in Ibid.1984. 31 So bemerkt der Kunsthistoriker Carl Linfert in einer Rezension zu Henry de LaFarges Reportage-Bildband Lost Treasures of Europe (1946), die Deutschen wüssten noch lange nicht genug über die Zerstörungen in deutschen und europäischen Städten und ein Großteil der Kriegsschäden sei ohnehin nur »vom Hörensagen« bekannt (Linfert 1947: 443f.), und der Architekt Martin Elsässer gelangt in seinem Artikel Der Mut zum Wiederaufbau der Städte zu dem Ergebnis, »[…] daß noch keine drei Prozent der Bevölkerung über unsere wahre Lage richtig im Bilde ist; und wenn, daß kaum einer daraus die entsprechenden Folgen zieht.« Elsässer 1947: 47. 32 Scherpe 1982a: 22. 207
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Hof? Das Alberttheater? Kreutzkamm mit den duftenden Weihnachtsstollen? Das Hotel Bellevue? Der Zwinger? Das Heimatmuseum? Und die anderen Erinnerungsstätten, die nur mir etwas bedeutet hätten? Vorbei. Vorbei.33
Das hier beschriebene, schockartige Wiedersehen mit der zerstörten Heimatstadt – nach Valentine Cunningham ein »Topos, der sich durch die gesamte Literatur des Zweiten Weltkriegs zieht«34 – sowie die darauf folgende akribische Auflistung ihrer für immer ausgelöschten individuellen und kollektiven Erinnerungsorte findet sich auch in Richard Gabels journalistischem Essay Das Mainzer Fragment, der im August 1942 im Anschluss an die Bombardierung der Stadt Mainz entstanden war. Auf der Zugfahrt nach Mainz erhält der Erzähler hier von einem Mitreisenden Informationen über die Zerstörungen der Stadt, die er rückblickend rekapituliert: Ein »wohlbekannte[r] Barockbau, […], die Heimstatt eines bekannten Verlages. Vernichtet! Und die Bücherlager? Verbrannt. Und der Platz der Karmeliten mit den schattendunklen Seitenstraßen? Zertrümmert oder ausgebrannt. Und das melodiöse Portal zum Quintins-Kirchhof […]? – Gewesen. Nun war ich vorbereitet.«35 Obwohl der Erzähler hier nach eigener Aussage bereits mental ›vorbereitet‹ in Mainz eintrifft, wird der Eintritt in die noch brennende Stadt »wie ein Überfall«36 erlebt: Die Stadt ist sämtlicher Orientierungs- und Erinnerungspunkte beraubt, ist nicht-identifizierbar und beliebig geworden – ein unüberschaubares »Labyrinth« mit »bis aufs Skelett ab[geschmolzenen]« Straßenzügen, in denen sich die Flucht der Perspektiven verwirrt.37 »Wohin ich blickte –, nichts als Zeichen einer unbegreiflichen Auflösung: […] So fand ich meine Stadt nur in Resten wieder, denn ihr eigentliches Bild schwand dahin.«38 Der allgegenwärtigen materiellen Zerstörung entspricht die geistige Zerrüttung der Menschen, die sich in Schweigsamkeit, einer Abwehr von politischen und geistigen Diskussionen sowie in einer allgemeinen ›Unfähigkeit zu trauern‹39 äußert. So konstatiert der Journalist und Schriftsteller Maximilian Scheer in seinem Berliner Mosaik: Berlin scheint menschlich und geistig zersplittert. Die Menschen scheinen Lasten zu schleppen, auch wenn die Last nicht sichtbar ist. Sie lachen selten. Sie schweigen einer an dem anderen vorbei. Einander Fremde kommen fast nie ins Gespräch. Einander Bekannte sprechen von Zuteilung, Mangel, Feuerung, Kälte, Ruinen. Sie 33 34 35 36 37 38 39
Kästner 1946b: 254f. Cunningham 2002: 111. Gabel 1947: 512. Ibid. Gabel 1947: 513. Ibid.: 513f. Vgl. Mitscherlich/Mitscherlich 1967. 208
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scheinen geistigen und politischen Diskussionen auszuweichen. Ein eiserner Vorhang scheint sich vor ihre Münder gelegt zu haben.40
In seiner Reportage Das tägliche Brot und das Dach überm Kopf. Aus großstädtischen Mülleimern und in hamburgischen Elendswohnungen (Die Zeit, 08.08.1946) beschreibt Joseph Müller-Marein eindrücklich die psychische Situation der Stadtbevölkerung in den Hamburger Elendsvierteln: Die Scham der Menschen, die sich beim Durchsuchen der Mülltonnen nach Essensresten ertappt sehen, die völlige Resignation der Heimkehrer und Kriegsinvaliden sowie die verschlossenen, schreckhaften Kinder, denen die »graue Lebensangst der Erwachsenen«41 bereits ins Gesicht geschrieben steht. Auch die Bestandsaufnahme der geistigen Situation in den Nachkriegsstädten ergibt schließlich ein Bild der Auflösung und des Zusammenbruchs, wobei die sichtbare Realität in den Trümmerstädten immer wieder als Metapher für die ›unsichtbaren Trümmer‹ der psychisch-geistigen Verfassung ihrer Bewohner dient.42 Die verschiedenen Projekte einer materiellen und geistigen Bestandsaufnahme der Nachkriegssituation in den zerstörten Städten können insgesamt als Versuche gewertet werden, im Durcheinander der Nachkriegsrealität ein gewisses Maß an ›Ordnung‹ zu schaffen, die materielle Substanz der ›neuen‹, als unvertraut und fremdartig empfundenen Städte zu bestimmen und damit auch neue geistige Orientierungspunkte zu markieren. Den Medien Zeitung und Zeitschrift kam hierbei die wichtige Aufgabe zu, »die als bruchstückhaft, wenn nicht gar als ›gesellschaftslos‹ empfundene Lebenswelt im Nachkriegsdeutschland […] zu rekonstruieren, um mehr Orientierung und Zusammenhang zu gewinnen.«43 Als zentrale Vermittlungsinstanzen politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen stellten die Zeitungen und Zeitschriften der direkten Nachkriegszeit somit einerseits ein wichtiges Medium der Suche nach Orientierung und Identität dar. Andererseits werden in den einzelnen Stadtdarstellungen immer wieder auch die Schwierigkeiten des Sich-Zurechtfindens in der gegenwärtigen Situation des Unbestimmten und des Übergangsartigen, des Auffüllens der semantischen Leere, die die Bombenruinen hinterlassen haben, sichtbar. Charakteristisch zeigt sich dies bereits an den Titelgebungen der Berichte und Reportagen über zerstörte Städte: Begriffe wie ›Mosaik‹, ›Fragment‹, ›Kaleidoskop‹ oder ›Skizze‹ bezeichnen sowohl die Bemühungen um eine erzählerische Be40 Scheer 1948: 270. 41 Müller-Marein 1984: 73. 42 Das Titelbild der Reportage zeigt einen Kriegsinvaliden auf einer leeren Straße vor der Kulisse der zerstörten Hamburger Innenstadt. 43 Scherpe 1982a: 39. 209
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standsaufnahme der Wirklichkeit44 als auch die Schwierigkeiten, die als bruchstückhaft und leer erfahrene lebensweltliche Realität in den zerstörten Städten als sinnhaftes Ganzes zu vermitteln.
Die Symbolkraft der Überreste Während die zerstörten Städte einerseits als semantisch ›leer‹, als identifikationslos und unbestimmt erscheinen, wird den wenigen, wie durch ein Wunder erhalten gebliebenen Überresten der städtischen Architektur demgegenüber eine gesteigerte Symbolkraft45 zugesprochen. Zu diesen Restbeständen der Kultur inmitten des Chaos’ der Trümmerlandschaften gehören oftmals Bronzestatuen, die, anders als die steinernen Bauwerke und Kulturdenkmäler, die Bombenangriffe zumeist unversehrt überstanden haben, und die nun zu Symbolen eines für immer verlorenen deutschen Kulturerbes sowie zu Mahnmalen angesichts der Schrecken der jüngsten Vergangenheit umgedeutet werden. So bemerkt der Journalist James Stern bei seinen Streifzügen durch das zerstörte Nürnberg eine Dürer-Statue, die inmitten der Trümmerberge wie ein »einsamer Heiliger« emporragt und in deren Schutz sich allabendlich eine Bande von obdachlosen Kindern versammelt.46 An anderer Stelle fallen ihm bei einem Besuch im zerstörten München die bronzenen Löwen des zerstörten Siegestors in der Leopoldstraße ins Auge, von denen drei auf dem Rücken, mit in die Luft gestreckten Beinen daliegen und einander mit weit
44 Vgl. Scherpe 1982b: 15. 45 Im Gegensatz zum Peirce’schen Symbolbegriff, demzufolge das Symbol ein arbiträres, konventionelles Zeichen darstellt, wird der Begriff des Symbols im traditionellen Sprachgebrauch gerade gegenteilig, nämlich als Bezeichnung für ein durch Analogie oder durch einen Sachzusammenhang motiviertes (und damit prinzipiell ikonisches) Zeichen verwendet (Bsp.: christliches Kreuz, Twin Towers des World Trade Centers). In dieser letzteren Bedeutung besitzen Symbole eine wichtige Funktion innerhalb der massenmedialen Kommunikation: Aufgrund ihrer »implizite[n], unterschwellige[n], gewissermaßen naturwüchsige[n] Art des Bedeutens« werden Symbole als besonders eindringlich erfahren und erhalten sozusagen »eine unverfügbare, schicksalhafte Bedeutung«. Kurz 1997: 83; vgl. auch Kurz 2004. 46 »Surrounded by deep holes full of twisted, broken drain-pipes, Albrecht Dürer stood high up, erect, like a lonely saint in his stone robes.[…] And there, every evening, under the master’s outstretched hand, gathered a group of gangsters whose ages ranged from four to eight.« Stern 1990: 286. Bei der Statue, die Stern hier beschreibt, handelt es sich möglicherweise um keine Stein- sondern um die bekannte Bronzestatue Albrecht Dürers, die 1849 nach einem Modell von Christian Daniel Rauch von dem Bildhauer Jakob Daniel Burgschmiet gegossen wurde. 210
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geöffneten Rachen anfauchen, »als hätten sie im Todeskampf nur noch den Wunsch gehabt, sich gegenseitig in Stücke zu reißen«. The fourth lion had managed to crawl away a few yards on his own, and there, cast on his side, gazing with terrified eyes at the fury descending from the skies, he unbends his elbow from the straightarm salute and, just before expiring, clenches the huge hand into a fist in the hope that if the world he is about to leave won’t forgive him, the one to which he is going will.47
Während die Statue Albrecht Dürers als Wahrzeichen der mittelalterlichen Kulturhauptstadt Nürnberg in den Augen des Reporters zum ›Heiligen‹ und zum ›Schutzpatron‹ einer verwahrlosten Generation von Trümmerkindern avanciert, werden die herabgefallenen bronzenen Löwen des Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Münchner Siegestores in der Leopoldstraße demgegenüber als ein Zeichen für das Ende von Deutschlands jüngerer, militärischer Vergangenheit und den Untergang des Nationalsozialismus gedeutet.48 Auf ähnliche Weise ›zeichenhaft‹ erscheinen dem australischen Reporter Osmar White die bronzenen Adler in den Nischen der Fassade der Berliner Reichskanzlei: I stood in the lee of the Brandenburger Tor. It was decked with sodden red flags, but the stones of the arch were so pitted by shrapnel that its outline was hazy. On all sides the vista was one of ruin – ruin beyond belief. The metal dome of the Reichstag had run like tinsel in a match flame, exposing its warped supports. But the bronze eagles in their niches on the façade of the Reichschancellery still stood and screamed dumbly. Was there some portent in the fact that 66 000 tons of bombs had not destroyed them? – No. That was a morbid fear.49
Eine derartige symbolische, metaphorische oder auch allegorische ›Aufladung‹ der – entweder in grotesker Verzerrung über der zerstörten Stadt thronenden oder aber von ihren Sockeln gestürzten, ›im Todeskampf‹ inmitten der Trümmer liegenden – Statuen, Ikonen und Reiterstandbilder kehrt in vielen Nachkriegsberichten und -reportagen über zerstörte Städte wieder, so beispielsweise auch in einer Reportage Luise Rinsers, die von 47 Stern 1990: 111. 48 Das unter Ludwig I. in Auftrag gegebene Münchner Siegestor in der Leopoldstraße war ursprünglich »Dem bayerischen Heere zum Ruhme« gewidmet. Nach seiner starken Beschädigung im Zweiten Weltkrieg wurde das Tor – ähnlich wie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin – absichtlich nur teilweise wieder aufgebaut und stellt mit seiner Inschrift »Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend« heute ein Mahnmal für den Frieden dar. 49 White 1996: 117. 211
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1945 bis 1953 als freie Mitarbeiterin bei der Neuen Zeitung tätig war. Ein umgestürztes Bronzepferd, das die Schriftstellerin bei ihrem Gang durch die Trümmer des Münchner Glaspalastes entdeckt, wird hier – ähnlich dem sterbenden Pferd in Picassos Gemälde Guernica – zu einem Sinnbild des absoluten Leidens und zu einer Allegorie des Krieges: Im Inneren eines zerstörten Tempelchens liegt ein Bronzepferd, vom Sockel gestürzt, auf dem noch die Stümpfe der Beine stehen. Der Leib scheint in dieser ungewohnten Perspektive dick, wie von Verwesungsgasen aufgetrieben. Der Kopf ist zum Himmel gerichtet, das Maul wie in stummer Klage offen. Ein Bronzepferd. Aber der junge Mann, der neben mir geht, ist blaß geworden. Er war sechs Jahre lang Soldat.50
Die symbolische ›Aufladung‹ der erhalten gebliebenen Kulturdenkmäler in den zerstörten Städten und damit einhergehend der Versuch einer Deutung und Sinnstiftung der von den Deutschen heraufbeschworenen Katastrophe des totalen Krieges bleibt in den Berichten und Reportagen über zerstörte Städte nicht auf den verbalsprachlichen Bereich beschränkt, sondern lässt sich ebenso auf der Bild-Ebene bzw. auf der Ebene der Bild-Text-Relationen nachweisen. Neben einer (oftmals sehr allgemein gehaltenen) Verurteilung des Krieges sowie der Trauer um die Toten artikulieren sich in den Zeitungen und Zeitschriften nach 1945 dabei zunehmend auch die Hoffnungen auf die baldige Enttrümmerung und den Wiederaufbau der zerstörten Städte. Besonders deutlich zeichnet sich diese zunehmend erstarkende Aufbaumentalität der Nachkriegszeit an einem Pressephoto aus der Neuen Zeitung vom 01.03.1946 ab, das einen aufrecht stehenden, dem Betrachter zugewendeten bronzenen Löwen vor dem Eingang der ausgebrannten Löwenbräu-Brauerei in München zeigt (Abb. 2). Die hier abgebildete Situation – eine unzerstörte Bronzestatue vor dem Hintergrund eines zertrümmerten Gebäudes – fordert den Betrachter über ihre pragmatische Deutung als ›Beglaubigung‹ eines in der Realität stattgefundenen Ereignisses, den Luftangriffen auf die Stadt München, hinaus insbesondere auch zu einer symbolischen Deutung heraus: So steht der im Bildmittelpunkt aufrecht stehende Löwe zum einen metonymisch für die Löwenbräu-Brauerei als Ganzes; als ein Wahrzeichen oder Symbol der Brauerei verweist er somit auch auf den ›ungebrochenen Geist‹ des materiell zerstörten Unternehmens. Zum anderen wird die Bezeichnung ›Löwe‹ traditionell als Metapher für eine mutige, kämpferische Haltung verwendet; die bronzene Löwenstatue verweist damit auch auf den Kampf der Löwenbräu-Brauerei um ihr Überleben in der Nachkriegszeit nach dem Motto »Wir lassen uns nicht unterkriegen«. Die 50 Rinser 1946: o.S. 212
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in der Photographie angelegten Assoziationsketten und metonymisch sowie metaphorisch motivierten Bedeutungszuschreibungen werden durch den dazugehörigen Artikeltext schließlich noch bestätigt und verstärkt: »Am Eingang zum Gelände des Münchener ›Löwenbräu‹ steht inmitten von Schutt und Trümmern ein bronzener Löwe, das Wahrzeichen der Brauerei, jetzt aber auch gleichzeitig Symbol für den gegenwärtigen Kampf der Löwenbrauerei und ihrer Arbeiterschaft gegen die Folgen des Krieges.«51 Insgesamt führen die verschiedenen Verfahren der photographischen Bedeutungszuschreibung, die nach Roland Barthes im Pressekontext v.a. in der Auswahl des dargestellten Objekts, der ästhetischen Präsentation sowie den über die Text-Bild-Relationen vermittelten Bedeutungszuschreibungen bestehen,52 hier zu einer starken Symbolizität des Abgebildeten. Die Photographie der zerstörten ›Löwenbräu‹-Brauerei, die als ein technisches ›Abbild‹ der Wirklichkeit dem Betrachter zunächst eine uneingeschränkte Objektivität suggeriert, wird im Prozess ihres GelesenWerdens somit zum symbolischen Hoffnungsträger für den Wiederaufbau. Neben den Überresten der repräsentativen, bürgerlich-städtischen Architektur sind es besonders häufig die erhalten gebliebenen sakralen Bauwerke und Kulturdenkmäler, die zu Symbolen des materiellen und des geistigen Verlusts sowie der Hoffnung auf einen Wiederaufbau der bombardierten Städte werden. Als optisch herausragende Bauwerke in der Silhouette einer Stadt stellen die Kirchen und Kathedralen einerseits zentrale architektonische Bezugspunkte dar. Andererseits markieren sie auch wichtige Bezugspunkte der ›geistigen Bedeutung‹ und Identität einer Stadt. So schreibt Valentine Cunningham: Heilige Gebäude wurden als Kern der Identität und Bedeutung einer Stadt angesehen, sie bestimmten Stadtlandschaften. Sie anzugreifen wurde als Angriff auf die bekannte topographische Realität der Stadt angesehen. Mehr noch, sie standen für die geistige Bedeutung einer Stadt, die Essenz des alten Christentums und seiner Traditionen, die zu zerstören einem Versuch gleichkommt, die Tradition selbst zu zerstören.53
51 Schlag 1946: o.S. Im Zusammenhang mit dem Medium der Photographie, insbesondere der Pressephotographie, kam immer wieder die Frage auf, ob der dazugehörige Text (Titel, Bildbeschriftung, Artikel) die Bildaussage verstärkt bzw. ob nicht er alleinig für die Bildaussage verantwortlich ist. In Anlehnung an Roland Barthes erscheint im vorliegenden Fall des ›Löwenbräu‹-Bildes die Erklärung plausibel, dass der Text eine Gesamtheit von Konnotationen erweitert, die bereits in der Photographie selbst angelegt sind. Vgl. Barthes 1990: 22. 52 Vgl. Ibid.: 16-22. 53 Cunningham 2002: 114f. 213
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Abbildung 2: Eingang zum Gelände der Münchner ›Löwenbräu‹-Brauerei. In: Die Neue Zeitung, 01.03.1946
Abbildung 3: »Auferstehung aus den Trümmern«, photographiert von Hermann Claasen. In: Die Neue Zeitung, 25.03.1948
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Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass die zerstörten Kirchen und Kathedralen bzw. die von ihnen erhalten gebliebenen Überreste – die Fresken, Statuen, Kreuze und Altare – oftmals symbolisch ›aufgeladen‹ und mit Bedeutungen, die über ihren eigentlichen denotativen Charakter hinausgehen, versehen werden. Beispielhaft zeigt sich dies in einer Reportage des polnischen Schriftstellers und Journalisten Isaac Deutscher, der in der durch eine Bombe in zwei Teile gerissenen Kathedrale in Münster ein gewaltiges, während der vielen Brände verkohltes, jedoch nicht verbranntes Kreuz entdeckt, das eine »düstere Drohung« an den Besucher der zerstörten Kirche auszusprechen scheint und das, zusammen mit einem provisorisch unter freiem Himmel errichteten Altar, die »mittelalterliche Macht der katholischen Kirche und ihr Weiterbestehen auf zertrümmerter deutscher Existenz zu symbolisieren« scheint.54 Diesen bedrohlichen und anklagenden Charakter der sakralen Statuen und Artefakte beschreibt auch ein Artikel in der Zeit vom 17.06.1947, der unter der fett gedruckten Schlagzeile »Und Christus droht…« zunächst vorgeblich über den »drohende[n] Einsturz« der zertrümmerten St.-Ludgerus-Kirche im Zentrum von Berlin berichtet.55 Schon bald kommt die Autorin jedoch auf die tatsächliche ›Bedrohung‹, die von dieser Kirche ausgeht, zu sprechen: Ein kolossales Christusbild, das, verhältnismäßig wenig beschädigt, zwischen den zerbombten Kirchenmauern aufragt und das mit »stechenden Augen« auf die Kirchenbesucher herabzublicken scheint. – »Man steht gebannt und überlegt, wodurch die Figur, die im Frieden so friedlich, so freundlich wirkte, jetzt soviel dämonische Monumentalität gewann. […] Ist diese Erscheinung ein Symbol dafür, wohin wir Abendländer uns verirrt haben?«56 Diese Gesten der Bedrohung und der Anklage, die von den aus dem Krieg verbliebenen Kirchenfresken und Heiligenstatuen auszugehen scheinen, sind in erster Linie sicherlich als ein Zeichen eines kollektiven Schuldbewusstseins zu interpretieren: Angesichts der unter der nationalsozialistischen Herrschaft verübten Verbrechen wird die Kirche zu einer drohenden Instanz. Darüber hinaus werden die nach 1945 allgemein positiv konnotierten politisch-kulturellen Schlagwörter des ›Christentums‹ und des ›christlichen Gedankens‹57 jedoch auch zu Hoffnungsträgern und ›Rettungsankern‹ in einer als haltlos erlebten Zeit. Beispielhaft belegt dies eine als Titelbild der Neuen Zeitung vom 25.08.1948 abgedruckte Photographie von Hermann Claasen, die eine Christusstatue zeigt, die aus den Trümmern einer zerstörten Kirche emporragt und die mit der Unterschrift 54 55 56 57
Deutscher 1981: 65. Felsen 1947: o.S. Ibid. Vgl. hierzu insbesondere Felbick 2003: 159-164. 215
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»Auferstehung aus den Trümmern« versehen wurde (Abb. 3). In ähnlicher Weise wie bei der zuvor beschriebenen ›Löwenbräu‹-Photographie ist auch hier eine symbolische Deutung bereits im Bild selbst angelegt: Die aus den Trümmern emporragende Christusstatue, für sich genommen ein Symbol des christlichen Glaubens an die Auferstehung und Vergebung der Sünden, wird in ihrer speziellen Kontextualisierung zum Symbol für die Hoffnungen der Deutschen auf eine Freisprechung von der Schuld der Verbrechen des Nationalsozialismus sowie das Desideratum des Wiederaufbaus der zerstörten Städte.
Resümee Die Medien Zeitung und Zeitschrift spielen insgesamt eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Dokumentation und Reflexion der Nachkriegssituation in den zerstörten Städten. Als Medien, die der äußeren Wirklichkeit in besonderem Maße verpflichtet sind, kommt ihnen dabei auch eine wichtige Rolle hinsichtlich der Neuorientierung und der Wiedererlangung von kultureller und nationaler Identität im Nachkriegsdeutschland zu. Andererseits finden sich jedoch, ähnlich wie in der sogenannten Trümmerliteratur und im Trümmerfilm, auch in den Medien Zeitung und Zeitschrift oftmals Tendenzen einer Ästhetisierung sowie Versuche einer sinnstiftenden ›Deutung‹ der verbal und visuell repräsentierten Trümmerlandschaften. Die symbolische, metaphorische bzw. allegorische ›Aufladung‹ der dargestellten Wirklichkeit, die Irrealisierung des Abgebildeten durch wiederkehrende Rückgriffe auf den Bildbereich des UnwirklichPhantastischen ebenso wie die Überschreibung der Wahrnehmung und medialen Repräsentation der realen Trümmerstädte durch ikonographische Traditionen der Ruinendarstellung sind Phänomene, die sich nicht nur im Bereich fiktionaler Medientexte, sondern ebenso auch in den nonfiktionalen, journalistischen Darstellungen beobachten lassen.
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THE STAGING OF MEMORY. MYSTERY PLAYS OF ABSENCE IN LUBLIN IZABELA SKÓRZYēSKA The staging of memory differs from other commemorating communication strategies because its life is transient and the condition for its coming into existence is a direct presence (participation/co-participation) of the actors and the audience in the action, performance or mystery play. What is theatrical or derives from the theatrical also differs from other types of commemoration because the represented becomes not only visible but expressed by action as well. Both the transience of theatrical actions and their imperative of participation and action are, regarding social needs and reactions, some of the most delicate and sensitive commemorating strategies. Since, even if a place of memory is considered to be theatrical in its extremely artificial form, e.g. a traditional performance, its existence depends on social acceptance (the acceptance of the audience) and also ends with the departure of the spectators. Thus, theatricallity, more than any other form of commemoration, is dynamic and flexible. Another special quality of all theatricallity which creates and at the same time is a place of memory is its fictitiousness. This fictitiousness, however, has a form of a »non-questioning of the presented world pact«1 which the performer makes with the audience. It is a pact about a ›real fictitiousness‹ because every time there are real people and their actions involved (the actions of the actors, the actions of the audience), as well as real theatrical time (the time of the performance) and theatrical space (physical space in which it takes place), and in some cases the real props, objects or environmental space (natural, authentic towards the contents or theme of the performance). One should also pay attention to the process of aestheticization of the form/object of commemoration which creates a distance between what is commemorated and the recipient. This distance, among other things, plays a therapeutic role and influences the change of semantic fields of what is commemorated. At the same time, however, it is in the case of a 1 Steiner 2003: 256-276. 221
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performance not obvious enough to interfere with the participants’ sensation of a direct participation in some important experience: directly in the experience of the performance but due to the play between reality and fiction the audience can become an eye witness of the ›presented world‹ as well. Transience, the visual, presence, action, the suspension of fiction and, finally, aesthetization – all these qualities of theatre gain originality when there is nothing permanent and/or material behind the places of memory it produces, when one clearly senses the deficit of collective memory which is expressed by a symbolic repertoire that a given community possesses in reference to the qualities mentioned above. If it is abounding and lasting it is a sign that memory reflects on itself and ›expresses itself‹, that it communicates itself in the network of social interactions. Its deficit or even lack of it, on the other hand, shows how memory ›shrinks from itself‹. The reasons may be of a various nature, from avoiding painful memories to a systematic censorship of memory. When a performance appears in the symbolic repertoire of a given community, it is a sign that some transformation assuming the form of a process expressed in action is taking place. If a monument, architecture or museum in the traditional sense demonstrate that something has been remembered, then a performance demonstrates that it is still somehow brooded on – a social tragedy taking place? In the Polish tradition of the science of theatrical matters one cannot discuss a performance considered in a coincidence with memory and history without referring to the perspective of Kantor’s ›Theatre of Death‹ which opens up a perspective of a theatrical vision and practice reconciling an artist’s drive for creating a work of art as an act of the borderline between life and death, reality and illusion, past and present. Among many terms that Kantor suggested in his work, and he was looking for the terms expressing the essence of his creative activity, there appears a category of repetition which the artist explained as the metaphysical side of fiction facilitating repeating the journey to the world of the dead: Almost a ritual. An atavistic gesture of a man who, at the beginning of his story Wished for a confirmation of himself. To do something again, in an artificial way ›on his own‹ – human […] A ritual As if on the other side of life, mixed up in contracts with death, Let us say clearly and openly: this shady business of repetition Is a protest and a challenge […].2
2 Tadeusz Kantor: Iluzja i powtarzanie. Quoted by Káossowicz 1991: 58. 222
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Kantor, as pointed out by Káossowicz, understood his art as »an act consisting in ›snatching‹ some events form a historical time and transferring them to the time of the performance«3, as an expression of protest doomed to failure, and yet repeated in the name of man’s protest against death. His theatre work, it seems, pursued a construction of illusion which would become space (a theatre, stage, or performance space) where reality would take place. Investigating all elements of a performance including experiments with an object, space, bio-object and actor has finally led Kantor to the discovery that his reality »[…] fulfills itself on such an elusive ground as memory […]«.4 And it is to remembrance and memory that he finally gave his stage to. Since that moment his actors were in the service of the dead, the stage action was playing memory and all objects served the play between reality and illusion, between what has been, what is now and might still be, between the detail and the universal. The guiding principle was the idea of a performance’s construction called either the technique of emotions (Denis Bablet) or a moved construction (Artur Sandauer) whose essence fulfilled itself in the presence and emotional reaction of the audience to the work. Kantor, by stimulating emotion, first looked for it for himself, then for the recipient, transforming the performance into a séance of memory. The reference to Kantor’s idea of ›Theatre of Death‹ enables us to pay closer attention to all aforementioned qualities of a performance understood as a space of memory, taking into consideration its metaphysical dimension. Theatre as a repetition and ritual, performance as a play between illusion a reality, theatre as a space of memory, an actor in the service of the dead, action as a work of memory, and finally, reception as an experience of emotion appear in the area of the unknown and the impossible, as Kantor himself described the functions of art, in the passage between life and death. In the border space where emotions and chance are prominent. It is here where the drama of remembering, between a conscious creation of a work of art (transmission) and an unexpected, previously unconscious experience of memory as something real getting out of line of illusion although never clear when or how takes place. What we consider to be crucial in Kantor’s ideas, from the viewpoint of our studies on performance as a place of memory, is the fact that Kantor finally identified memory with action, taking into consideration its artificial and ritual aspects and the fact that its strength, i.e. evoking emotions, lies in the emergence of a memory and its theatrical death, its repeated demise. This is why Kantor dedicated so much space to a fair stand as a performance space which gathers birth, life and death on at least two 3 4
Ibid. Tadeusz Kantor: Wielopole, Wielopole. Quoted by Káossowicz 99: 75. 223
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performance space which gathers birth, life and death on at least two planes: the happening stage story and the history of a performance, including its creators and recipients. All in the name of the aforementioned past stolen out by theatre. Let us refer to his words: There is a special moment in theatre when poisonous and dangerous spells come into action, when the lights are off and all audience is gone, the seats are empty, when everything on stage becomes gray, distant landscapes turn into ordinary distemper and the abandoned costumes and props, only a while ago magnificent and bathed in light, will show their trashiness and cheap imitation, when emotions and gestures, a moment ago so lively and passionate and so much applauded, die. We might want to wander the stage again as if on cemetery, looking for traces of life which only some moments ago moved us… Was it only fiction?5
Kantor very consistently focused his attention on the relation between the audience and the actor and, although equally consistent, safeguarded the ›true‹ art, he remained faithful to the avant-garde in the sense that he asked about its social role including the role of different varieties of a performance. He was the first artist in Poland to experiment with the artistic form of the happening, he subordinated the theatre experience of artists and audience to the structure of emotions mentioned above, with a deep consciousness he referred to the ritual as a social practice parallel to theatre which granted to the illusion of theatre an ambiguous and at the same time real dimension of mixing with the dead fulfilling itself through memory. Some years ago, Victor Turner wrote about the analogous qualities of performances from another, social point of view. Theatricality in his depiction manifests itself in theatricalization, dramatization and/or ritualization in societies in crisis, undergoing social drama and it plays a role of a therapist by theatralizing and ritualizing traumas.6 The deeper the drama of a society in crisis (social drama) the more intense the reference to performance. Its climax stage was called by Turner a liminoidal stage. It is the right time to make use of the interpretation suggested by Marta Steiner7 based on the ideas of both Turner and Terlecki, where the implementation of identity projects encounters an obstacle in the form of lack and/or excess. In the context of our reflections, lack may occur when a society does not possess sufficient data to fulfill the horizon of expectations because for 5
Tadeusz Kantor: Z tamtej strony iluzji, czyli buda Jarmarczna. In: Wielopole, Wielopole. Quoted by Káossowicz 1991: 54. 6 Turner 1982. 7 Steiner 2003. 224
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some reason it did away with its past. Excess, on the other hand, consists in such abundance of narrations about the past to take (history, memory, places of memory, etc.) that they impede the fulfillment of an identity process, namely they make it impossible to reach understanding about past and future. Both in the case of lack and excess human communities look for a way to fill a void (lack) or to order and reduce (excess) overabundant and competing narrations. A social tragedy, here understood as an intense tension between past and future, does not subject itself easily to repair programmes conducted in reality, e.g. one finds it difficult to imagine that past could be changed to fit the desired beliefs in who we were and, therefore, who we are today. Thus the society has at its disposal performance, where anything is still possible and which, as the latest research in neurobiology has revealed,8 being one of the representations of human behaviour significantly influences the thinking processes of its participants (it is first of all behaviour and not verbal communiqués who moderates our knowledge and attitudes). The consequence of crisis and performance created in its presence is always a change in the area of the symbolic repertoire of a given community, which at the same time is the source and effect of work on identity (it inspires this work and communicates its course and results). This is how, for the purpose of the present exposition, we may define Turner’s liminoidal stage of social tragedy. The stage where what is unbearably tragic takes the form of a performance produced on the one hand by a community in crisis and on the other by theatre which is a product of this community and remains in its service. In reference to the theatre we are writing about, the theatre deriving from the tradition of alternative, one can also say that its creators themselves, before they started acting as social therapists, experienced some tragedy. First, there was the conflict between the alternative theatre and the authorities of PRL (the Polish People’s Republic) and, consequently, a special political involvement of the Polish theatre alternative and its profound engagement in the social life. Then, there was the tragedy of ›non-adjustment‹, which for the Polish alternative theatre started in the 1980s and made many companies emigrate to various borderlands: of cities, of official culture or the eastern borderline. Finally, one last remark. Kantor’s understanding of a performance as a séance of memory, Turner’s model of a social performance as a result of an identity crisis and, at last, the conviction of the generation of Polish artists from the alternative theatre that theatre is a tool of social intervention throughout years produced orders or as Zbigniew Raszewski called them ›systems‹ in which actors and their audience may manifest them8 Endelman 2000. 225
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selves in a performance. These systems tell us a great deal about a society where performances are produced and about the identity that characterizes it. A traditional model (Italian theatre and its derivatives) assumes the most lucid system and takes into consideration as many as two separations of a performance’s participants. Because artists are separated from their audience and the audience from one another. Yet, the breaking of traditional space of a theatre box has led to a situation where these separations have become, to a smaller or larger extent, suspended or even cancelled. Moreover, the theatre experiments of the greatest reformers have led to the transformation of the audience into co-participants, and in special case the audience into a community. Finally, in all kinds of ritualisation an actor has lost his/her functions and position in favour of a shaman (quasi-shaman) and this particular case in the contemporary culture is investigated in detail by Richard Schechner and Leszek Kolankiewicz.
›Performance‹ Lublin In the old city of Lublin stands the Brama Grodzka (Municipal Gate) once called Brama ĩydowska (Jewish Gate). There is Plac Zamkowy (Castle Square) once in the center of a Jewish stetl. The Gate is occupied now by Teatr NN and a cultural center and Plac Zamkowy is lit day and night by a delicate light of an eternal street lamp founded by archbishop Józef ĩyciĔski in an ecumenical gesture of commemorating the presence of elder brothers: the Jews. Robert Kuwaáek wrote Terra Incognita about the former Szeroka Street (›a Jidn gas‹) pointing out that stetl not only is but also was, when it still existed, unknown to the non-Jewish population of Lublin. Szeroka Street does not exist any more. It finally disappeared in 1954 when Plac ZebraĔ Ludowych (People’s Meeting Square), nowadays called Plac Zamkowy was created in its place. One may try to find its traces in the surrounding architecture which was supposed to refer to the houses once existing here. There are no tenement houses, no people and, for many years, no memories.9
The aforementioned remark enables us to use the categories of lack and void, as well as silence which accompanies them to describe today’s Lublin as a city deprived of its Jewish part, while the other one, Polish and Christian, has remained. Already at the stage of this ascertainment one can see the analogy between the deserted Jewish district of a town
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Kuwaáek 2003: 19. 226
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and Kantor’s fair stand where everything begins or has just died with the last actor leaving the stage. Thanks to the theatre activity and research inaugurated by scientists and artists gathered around Brama Grodzka, today the Polish part of Lublin seems to be looking for its lost Jewish part: the part the city is alive without, however, its absence is somehow felt here since more and more often questions about its Jewish identity are asked. Since 2001 the city of Lublin has possessed A Trail of Memory of the Lublin Jews. It is a route linking thirteen objects and places connected with the history of the Jewish community in Lublin starting at the foot of Zamek Lubelski (Lubelski Castle) and ending at Brama Grodzka in the Old Town. Since 2001 the city of Lublin has possessed A Trail of Memory of the Lublin Jews. It is a route linking thirteen objects and places connected with the history of the Jewish community in Lublin starting at the foot of Zamek Lubelski (Lubelski Castle) and ending at Brama Grodzka in the Old Town. Against this background, speaking of the lack of Jewish remembrance, may seem an exaggeration. The city guidebooks are full of information about either buildings or plaques dedicated to its Jewish past. However, if we compare the number of these places on the map of Lublin with the fact that before WWII out of the population of 115.000 43.000 belonged to the Jewish community and if we then consider the level of urban destruction in that part of the city, that once has been the most typical and liveliest part of the Jewish district, then emphasizing the degree of Lublins loss is not an exaggeration.
Lack and its Representations: A Mystery Play of the Absent The catalogue of places of memory on the Lublin tourist trail lists three prewar Jewish cemeteries, ten bigger synagogues, a few dozen houses of prayer, cheders and a Jeshiva, a day-nursery, an old people’s home and a community centre. The majority of these places do no longer exist, others are marked by plaques on buildings which survived but today perform different functions in the city. In the memories of older citizens of Lublin recorded by the authors of Scriptores the stetl’s topography also includes such places as paid wells, shoemakers’ and tailors’ workshops, numbers of houses of individual communities or Jewish families, old Jewish folk songs in Yiddish, and the sounds of the district: the din, the calls of merchants, the rattle of carts and, finally, its various smells. Maria Popczyk, in her essay devoted to Berlin, says:
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The presence of a city given in a sensation is the presence of its architectural and human substance seen in the present time and in an impermanent and continuous process of growth and fading, movement and silence, birth and death.10
How, then, does its absence show? The author quoted above indicates the presence expressed ›somewhere else‹, the physical distance between the existence of something and its sources giving the example of the ›buzz‹ of a city which represents what is invisible, hidden, e.g. the sound made by a commuter train. For a historian, however, it is right to formulate this ›somewhere else‹ also in time and ask: When? This question, in turn, suggests the distance resulting in such a representation of absence that there is a change in the architectural landscape, the new music of a city, but disappearance of its former presence expressed in emptiness and silence as well. The aforementioned Popczyk points out a provocative character of emptiness giving the example of Berlin where empty and mutilated places trigger off activities of various artists who, in an aesthetic way, want to make this absence present. To call presence in a ritual of its artificial spectacular repetition. An empty stage, silence and darkness is also a theatre’s fetish. Space where, as Kantor did in his theatre, a comeback may occur, an action may happen, a repetition may take place is ›a room of imagination‹, ›reality of the lowest rank‹. Initially, the Nazis accomplished the annihilation of the heart of the Jewish city with the hands of its inhabitants. Columns of Jewish prisoners from a small ghetto in Majdan Tatarski and from a concentration camp in Majdanek came here till 1943 in order to demolish one house after another. Holy books, furniture and ordinary keepsake of human life were destroyed. Later the action was carried out with the use of Polish workers. The district, together with its main street, turned into one heap of rubble. Part of the city’s oldest tissue was being cut out.11
This is how the death of a stetl is described by aforementioned Robert Kuwaáek in one of the issues of Scriptores: a magazine published by OĞrodek Brama Grodzka (The Brama Grodzka Centre) which, in many various ways, does work focused on the issue of the former Jewish presence in the city and in the region. It is work in process whose elements include both commemorating their presence nowadays through exhibitions, theatre performances and mystery plays and referring them where they belong, to the past which they populated. The procedure of writing and communicating history facilitates in this case the task of theatrical10 Popczyk 2004: 239. 11 Kuwaáek 2003: 19. 228
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lized and ritualized commemoration which, thanks to a historiographic burial of the dead, gains a theme for repetitions renewed in a ritual. Thus, one can say that in Lublin the element for commemorating the absent are narrations of history and memory without which one finds it difficult to imagine the presentation of an identity of a multicultural city, namely a spectacle. The motivation for performance activities in Lublin in the face of the fact that there are no Jewish district or significant material traces of it, no inhabitants of the stetl or even their descendants, may be explained through the prism of a seductive force of emptiness: a stage waiting for its actors, but also through the prism of Ruth Ellen Gruber’s reflections who gives this sort the contemporary Europeans’ attitudes and behaviour the name of »phantom pains«12. She ascribes them to the profound experience of lack of those who take on the pain of the absence of the Jewish identity and the responsibility for this fact, whoever they are. In this sense, emptiness not only seduces but also is not conclusive as the absent is expressed in it through pain and through the need to have control over it. Emptiness exists and has an influence on the change of the character of commemoration. Since it is not about a reconstruction of the past which would express itself in a reconstruction of what had been destroyed, but it is more about an act of departing and referring to the past of what does not exist any more: Kantor’s memory as action. This act of departing is the main subject of the Lublin mystery plays which inscribe themselves into the empty and silent stage of the stetl, into the artificial, culture-created space of absence. This emptiness provokes to a creation of a performance in order for the memory to, let us once more make use of Kantor’s observation, fulfill itself in action, in a return, in a ›séance of memory‹. In 2004 the audience of one of the consecutive Lublin mystery plays marched from the populated and illuminated part of the city via Brama Grodzka towards darkness: Plac Zamkowy and further towards Zamek (Castle) itself, where there used to be one of the most important synagogues in Lublin. As the audience proceeded, lights appeared in the manholes passed by them and soon afterwards sounds were coming out: reminiscences of the Jewish district, of its inhabitants before the war and during the occupation and also the other reminiscences – of the prisoners of Lublin Castle: these being the prisoners of it during the Second World War and these imprisoned by the communists after the war.13 This simple 12 Gruber 2004: 57-60. 13 This mystery named ›Poem of The Site‹ had the commemorative sense not just for Jewish people living in a Lublin stetl before WWII but also for Polish people being the prisoners of the Lublin Castle. These two kinds of trauma connected these two cultures, two difficult life stories by the ›empty‹ part of the city. This concept of author of the mystery opens new question of the theatrical activity in Lublin. I mean the question of the mul229
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theatre measure suggests famous spectacles of ›light and sound‹. In the case of Lublin, however, the measure is more sophisticated. Firstly, because it touches upon the problem of life and death. Secondly, because here the audience makes the lights and sounds appear. Light marks their way and it was brought to life for them, just like the reminiscences coming out from the depths of the earth; signals from somewhere else and some other time. Absence activated itself thanks to presence; the past thanks to a theatre moment. One does not find it difficult, however, to imagine the moment when the participants of the mystery play of passing disperse and go home, the light goes out and the empty is again empty and silent. Since theatre does not pretend to be real, does not change the fate, does not bring a deceased back to life, it only offers him its space so that he can appear and fade away like a memory for the duration of a performance. In the Lublin mystery plays there is no other guide but the story taking place. In every next event like this the members of the audience gather in order to walk along the streets of the city in search of the traces of its past. There is no guide, but there is a ›shaman‹ as the one who calls people and walks with them, the co-participants of a mystery play, a ritual, a séance. There are no actors who perform, but there are many people acting together instead; they read aloud fragments of a poem by Czechowicz, bake bread in huge ovens, from one hand to another pass pots with the earth from under the two demolished temples. When the mystery play ends, on the stage of the city remains the dying oven that one needs to disassemble, the lights that need to be returned to the theatre’s storerooms. Writing about emotion in theatre Kantor often referred to the image of Pierrot and Colombina, who just after they had left the stage, with remains of make-up still on their faces, are longing for, this time unseen by the audience, finding themselves in the roles of unhappy lovers and remaining in them for some time, until the emotion dies. We suppose that both in séances of memory and in Lublin mystery plays the most important takes place when a performance fades away, when all the participants of the action go home; with the experience of the end and the desire to prolong this end. Participants of any manifestations, spectacles, ceremonies or performances (social drama), if only they experienced some emotion, feel the same kind of loneliness in their emotion the moment the spectacle ends. This is where the power of repetition lies, in this loneliness in an experience inevitably coming to an end while emotions are still alive. ticulturality described by me wider in an other part of my project. About mysteries realising by Theatre NN: Skrzypek 2003, also the documents: Brama Grodzka Archive, Lublin, Grodzka 21 st. 230
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Another kind of a mystery play produced in Lublin is the action Listy do getta14 (›letters to the ghetto‹) which fulfills itself as other kind of séance of memory, this time performed in a much more individual order, in a system where participants communicate in a triad: sender – post office clerk – unknown addressee. Art-mail was invented at the beginning of the 20th century and developed until the 1970s as an art of correspondence used in the character of an artistic provocation, as a pop art idea to create virtual communities uniting in some spectacular action. The project Listy do getta consists in sending letters by the contemporary inhabitants of the city, including school students, to the addresses of its Jewish inhabitants. These are, naturally, addresses which do not exist today, the envelopes often contain empty sheets of paper, addressees are unknown and the correspondence is only possible through trust that there is a possibility of ›evoking‹, like in a séance, the past time. Listy do getta are such an attempt of ›evoking‹ the past. In one of her radio interviews Beata Markiewicz, a co-author of the project pointed out to the key moment when these letters return to the sender with a stamp ›return‹ or ›addressee unknown‹ and become a palpable proof of absence. A testimony of lack. This simple way Listy do getta become a performance about irreversibility, about the impossibility to communicate, but they also provoke the senders and post office employees to think about the place, the address, the house and persons to whom it is impossible to deliver the mail. Thus these letters, written on consecutive anniversaries of the liquidation of the Lublin ghetto, provoke behaviour and reflections which in turn, at least potentially, make the problem of the city’s Jewish identity a subject of action and reflection of its contemporary inhabitants, no matter if they express such a wish or not (this in particular concerns the post office employees who have to solve the issue in the reality of post office functioning and according to the rules of mail regulations if not according to the theatre rules). If, as the authors of Scriptores point out, the memory of Jewish Lublin has been touched by a deficit of remembering, then the letters to the ghetto are surely a game with this deficit. They are the symbols of remembrance. And an effective one, as shown by the over 2000 inhabitants of Lublin participating in the annual mystery plays performed in the city streets.
14 I mean specially the first editions of this project in process realised in 2001 and 2002. The documents of this project: Brama Grodzka Archive, Lublin, Grodzka st. 21. 231
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Another Presence and Excess Questions about the Jewish identity of Lublin must be formulated not only in the context of lack and emptiness (absence) but in the context of another presence and excess as well. Excess finds its expression in Majdanek, located near the heart of the city, and another presence in the dead for whom, in spite of death, another place and time not only the one directly connected with the Extermination is searched for (mystery plays). Observing what is currently happening in Lublin one may think that a great Jewish comeback is taking place; a comeback that may be understood as gradually sending them to the past, which, however, can only occur through previously calling and remembering them, through meeting them so that they, when the power of the new ritual is exhausted, leave altogether this time. The unexpressed story of the Lublin Jews makes it impossible for them to leave the present, although they are its ghosts and not real people. It also causes obvious fears in many people as one does not know exactly how Jews will appear in future. These fears make some restrain from raising the Jewish subjects while others raise them with true determination. In Lublin, the process of telling the story of the local Jews takes place mainly through theatre, ritual and their soft varieties such as a mystery play. Where else in the rationalized and secularized society can an act of reconciliation with ghosts take place? We have written above that the excess in Lublin is expressed in the presence, a very significant one in the landscape of the city, of a concentration camp. A camp that is sure, prominent and leaves no trace of doubt about what it is a testimony to. A concentration camp which, thanks to the care shown to it after the war, is real and is what it is: a place of still renewed memory about suffering and death. In my hike in today’s Lublin, thanks to the animators from Brama Grodzka and Marta Kubiszyn accompanying my friends and me, I went from a model of an old Lublin, through a photography and keepsake exhibition in Brama, to Plac Zamkowy, then to Majdanek, and among the barracks, to a place where there is the exhibition Elementarz (›reading primer‹). The distance from Brama to the camp may be, roughly, ten kilometres. Culturally, however, the distance is significantly greater. Since Majdanek exists, while the Jewish district does not. Thus in Lublin there is death but there is no life which preceded this death. This has upset the balance between the memory of life and death, heightened during the whole period of PRL (the Polish People’s Republic) by the absence of life (lack of narration about the Jewish stetl), and has exhibited the death that once stayed in Majdanek (because of the lack of other traces,
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one finds it hard to formulate another conviction but that Majdanek is the whole history of the Lublin Jews). For some time, however, as we have attempted to prove above, Lublin has been feeling lack and now it is turning its eyes towards emptiness. On the theatre people’s initiative, what had been forgotten: passed over in silence, denied, substituted, including keepsake and historical sources that are few but representative for the history of the Lublin Jews, returns to the stage of the city. A virtual internet project, research and publications, exhibitions and conferences annotate the history with the beginning; the history they so far have wanted to send to the past without proper attention it deserves. Since the Extermination was included in the narration about the past, however, what had been before and during it was passed over, and that was life. The exhibition Elementarz prepared by OĞrodek Brama Grodzka and Teatr NN under the supervision of Tomasz Pietrasiewicz and Marta GrudziĔska acts in two parallel spaces: a real space of the concentration camp in Majdanek, in the barrack number 53, and on the website. The former space has an everyday and at the same time theatrical character. A carriage has been put in the barrack and it is assembled in such a way that the whole surroundings are visible. Thus it is not real, it is not a keepsake but rather a variation on the theme of a keepsake, it is a harbinger of a meeting with Charon, but not the meeting itself. The carriage is a prop activating metaphors of culture distant from the substance of a camp and death. Thanks to this carriage, the travel here is already somehow mythical, and there is more evidence that theatre’s procedures inscribed in the real space bring into life theatre for some and a ritual for others. The leading thread of the exhibition is a reading primer. A real, prewar primer from which children learn their first identity in normal, peaceful conditions and the other one created only for the purpose of the exhibition and containing texts devoted to everyday life in the camp. The other primer is a creation, a prop which extracts the first, real book teaching letters and commonplace words, a book we appreciate anew after we have read the concentration camp primer. Another example is the story about little ElĪunia. We do not know what happened to the girl but she left us a camp song to the tune of a children’s lullaby: »Little spark is twinkling at WojtuĞ from an ash-pan« written on a little piece of paper. When entering the exhibition, we can listen to this lullaby in original, with warm words about a little boy falling asleep, princesses, musicians and a wonderful house of a witch made from butter appearing in his dreams. The song can be heard from a kind of a music box, the most affectionate machine for playing sounds. Furthermore where the quality of a visitor’s reflection is defined by the
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camp primer, the song can be heard with the camp lyrics, a lullaby about death; the tender sound of a music box plays not a fairy tale but a child’s complaint. In the boxes and drawers we can find keepsakes, sparse authentic objects and documents of children whose concentration camp stories at the exhibition are told in their own voices recorded years later, not a long time ago. The portraits of children can be seen through small lenses, like in the first machines for viewing slides. Real children, real objects, photographs and a fin de siècle style of their exposition. Also, it is the visitor himself who can turn on the music box, open a drawer and look through a magnifying glass. It is also oneself who decides what comes alive and when, whilst travelling from the reality of the barrack, through the theatre passage, towards an aesthetic experience and further on towards a myth. The exhibition in Majdanek, Pietrasiewicz’s second project was implemented on the grounds of the camp and is a kind of theatricalization which finally revives and consecrates what is dead. It further ritualizes this place by inviting the visitors to participate, engaging them in the play of symbols and their meanings, making them involved emotionally in what is happening around and even making them meet the protagonists of this exhibition. Because of ElĪunia’s song, the wells with the voices of the children who survived the camp along with the silent well, which is a symbol of a child who stayed here forever, are nothing else but an improvised life the visitors become participants of as well.
Conclusions Lublin mystery plays are processions towards and in emptiness. Spectacles inspired by history and memories, by Józef Czechowicz’s poems or by the fate of the catholic and Jewish temples demolished in Lublin in a different time but in the same barbaric act of destroying the spirit. The interactive exhibition in Majdanek is a performance belonging to the same group of spectacles where remembering and commemorating occurs through action. Although in this case, the exhibition is a response to excess. This action is transient and repeating, just as transient and repeating is the presence of the audience as co-participants who come to repeat a ritual and leave equipped with its healing power which does not work without their participation. Theatre and what is theatrical develops in Lublin, in relation to the work done here by Teatr NN, into a place, a space of memory. The theatre creates this space and repeats it in the face of events whose nature is extremely complex because it is burdened not only with past events
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THE STAGING OF MEMORY
whose common denominator is the Extermination but also with its contemporary discourse, often accusatory and at the same time omnipresent in the media thus hard to reject or to take in as an element of our collective identity; because, after years of passing the Polish-Jewish tragedy over in silence, a review of human memory and behaviour is taking place today. It is far more advanced and traumatic than ever before. And since it is taking place, there must be social need for it. What do the reviewers expect though? Is compensation possible in the conditions when it is not protagonists of the past who can participate in the dialogue but their descendants who cannot change this past? When this dialogue can occur only in today’s emptiness or, on the contrary, in the excess of the Extermination discourse which determines its quality? The massive monument commemorating the victims of Majdanek separates the living organism of the city of Lublin from a cemetery that the camp is. However, is it causative in the identity process? Does it move deeper than the story about a little Jewish boy? Does it unite the inhabitants of the city as directly as the mystery plays? Does the fact that we have to fasten our eyes upon the monument when going near the area of the camp, because it is so dominating in its presence, contribute anything new to thinking about the Polish-Jewish past? For myself it made only one but overwhelming impression that the vast aestheticised body of the monument covers what is really embarrassing, and first of all painful; that a heavy stone suppresses the history and memory that are so difficult to accept and makes their further work impossible. On the other hand, the theatrical, contrary to the monuments devoted to eternal glory and memory, seems to inspire to such work through opening to dialogue, work in process and emotion. At the exhibition Elementarz, as I have written already, one can see children’s faces, ex-prisoners of Majdanek through peepholes placed in the barrack’s wall. However, through one of them, from the perspective of the barrack we are in, the outside world can be seen: a fragment of green. An ephemeral picture of life revealed by this smallest possible spectacle taking place through the peephole: a passageway from the past to the present, from an inevitable death to the vitality of the outside life, from darkness to light. A ritual of a forbidden, inaccessible watching. How many eyes before mine have watched through the knarled planks of the barrack at what was outside, in a persistent desire to live? This peephole which uncovers and reveals is the reverse of the monument that covers and conceals. And both the monument and the peephole commemorate the same event, only one refers us to what is dead and the other to what is alive.
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ZERSTÖRTE STÄDTE IM MONUMENTALFILM AM BEISPIEL VON KARTHAGO ANDREAS BÖHN Die ersten Zerstörungen bedeutender Städte, die im europäisch-okzidentalen Kulturkreis lagen, betreffen die antiken Städte der griechisch-römischen Kultur und derjenigen Kulturen, mit denen Griechen und Römer in kriegerischen Auseinandersetzungen standen, wie die Perser oder die Karthager. Gerade Karthago kommt hierbei besondere Bedeutung zu, weil es das äußerst wohlhabende und prunkvolle Zentrum einer auf städtische Siedlungen konzentrierten Handelskultur war, weil es der Großmacht Karthago fast gelungen wäre, die Hauptstadt der aufstrebenden römischen Republik einzunehmen und zu zerstören, und weil sich von der Stadt Karthago und ihrer äußeren Erscheinung fast keine Zeugnisse erhalten haben. Die Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago kann als Zweikampf der beiden Städte erscheinen, von denen die siegreiche lange Zeit die weitere europäische Geschichte bestimmte und deren Zentrum bildete. Dass die Entscheidung knapp war, mag einen der führenden römischen Politiker zu seiner wiederholten Aufforderung gebracht haben, dass Karthago zu zerstören sei, was heißen sollte, dass es vollständig auszulöschen sei: »Cartaginem esse delendam«. Wie hat sich die Tatsache, dass die Stadt tatsächlich dem Erdboden gleich gemacht wurde, auf ihre späteren Darstellungen ausgewirkt? Dieser Frage soll am Beispiel des Films nachgegangen werden. Zuvor sind jedoch einige Überlegungen zur Rolle des Monumentalfilms in der Geschichte der kulturellen Strategien kollektiven Erinnerns angebracht, vor deren Hintergrund das Fallbeispiel Karthago untersucht werden soll, woran sich Ausblicke auf die Darstellung anderer zerstörter Städte im Film und die Veränderungen im Zuge der Weiterentwicklung des Mediums anschließen.
Strategien des Erinnerns und der Monumentalfilm Jegliche Erinnerung hat es mit einem Paradox zu tun. Sie findet in der Gegenwart statt und richtet sich auf etwas, das in der Vergangenheit liegt, al237
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so aktuell eben nicht gegeben ist. Dieses Vergangene versucht sie gegenwärtig zu machen. Wäre dies aber im strengen Sinn des Wortes möglich, so hätte man damit die Zeit eliminiert, das unwiederbringliche Verschwinden jedes Augenblicks im nächsten aufgehoben. Gerade die Tatsache jedoch, dass das Vergangene nicht mehr gegenwärtig ist und es auch nie mehr werden kann, bringt die Erinnerung als Ersatz für das Verlorene hervor. Gleichwohl kann die Erinnerung danach streben, ein Phantasma des Vergangenen zu erzeugen, also nicht nur über den Verlust hinwegzutrösten, sondern ihn durch das scheinhafte Erscheinenlassen einer Vergangenheit vergessen zu lassen. Dieses Paradox des Erinnerns prägt sich jedem Erinnerungsvorgang als eine spezifische Ambivalenz ein. Die Erinnerung selbst ist zweifellos präsent und nimmt uns ein, bindet unsere Aufmerksamkeit und zieht uns in ihren Bann. Daneben gäbe es sie jedoch nicht, jedenfalls nicht als Erinnerung, wenn sie sich nicht auf etwas Absentes, nicht Zugängliches und in immer weitere Ferne Rückendes richten würde. Der Zeitlichkeit unterworfen zu sein bedeutet für unser Bewusstsein, einerseits nur über augenblicklich Gegebenes verfügen zu können und andererseits dennoch auf zeitlich Zurückliegendes (und auch auf zeitlich Vorausliegendes) bezogen zu sein. Das Paradox des Erinnerns ist also ein Paradox der Zeitlichkeit, und wir begegnen ihm, indem wir unser Erleben von Zeit zu manipulieren versuchen. Dies kann in zielführender Weise auf zweierlei Arten geschehen. Zum einen können Objekte, die in der Zeit mehr oder weniger unverändert überdauern, als Zugangsmöglichkeit zu einer früheren Zeitstufe aufgefasst werden, in der sie ja ebenfalls präsent waren. Es handelt sich hier um eine Spielart von Kontaktmagie. Das Objekt hatte zu den Gegebenheiten einer früheren Zeit Kontakt, und so kann ich, indem ich Kontakt zu dem Objekt aufnehme, auch in Kontakt zu dieser früheren Zeit treten. Entsprechende Objekte können natürlich gegeben sein oder künstlich erzeugt werden. Ein menschheitsgeschichtlich frühes Beispiel sind Überreste menschlicher Körper und die mit ihnen zusammenhängenden Kulte. Der tote Körper ist das, was von dem lebenden Menschen nach seinem Tod zurückbleibt und daher geeignet erscheint, zu ihm als Lebendem im Jenseits (sei dies als rein zeitliche Vergangenheit oder in anderer vom Diesseits getrennter Form vorgestellt) Kontakt herzustellen. Die Bearbeitung von Leichen bzw. Leichenteilen wie Schädeln etc. zeigt zudem den Übergang von natürlichen zu künstlichen Erinnerungsobjekten. Schließlich tritt das rein künstliche Grabmal im Erinnerungsprozess an die Stelle der Leiche, sei es in Verbindung mit der realen Leiche oder ohne diese. Derartige Erinnerungsobjekte können in einem weiten Sinne des Wortes als Monumente bezeichnet werden. Dieser Begriff soll hier
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also sowohl natürliche als auch künstliche Gegenstände umfassen. Der Ausdruck ›natürlich‹ kann sich ohnehin nur darauf beziehen, dass diese Objekte nicht weiter bearbeitet worden sind, denn zu Monumenten werden sie erst durch eine kulturelle Setzung, eben indem sie als Erinnerungsobjekte aufgefasst werden. Den Monumenten bzw. den objektbasierten Erinnerungsstrategien können die zeitbasierten Formen der Erinnerung gegenübergestellt werden, deren elementarste Ausprägung Erinnerungsrituale sind. Diese vollziehen ein vergangenes Geschehen nach und schaffen dadurch eine Möglichkeit des partizipativen Nacherlebens. Die strukturelle Analogie zwischen dem im Ritual Ausagierten und der in der Vergangenheit liegenden Geschichte, auf die sich das Ritual richtet, lässt die dazwischen vergangene Zeit als etwas letztlich nicht Relevantes erscheinen. Die Zeit erscheint als spiralförmig immer wieder in die selben Bahnen zurückkehrende, die selben Muster vollziehende und damit das Ursprüngliche wiederholende und bestätigende. Von dieser Erinnerungsstrategie lassen sich die Formen der szenischen Vergegenwärtigung, also das Theater herleiten, aber auch der Mythos und allgemeiner das Erzählen als rein sprachliche Vermittlung von Geschichten, wohingegen die objektbasierten Strategien über Reliquien, Denkmäler usw. schließlich zur modernen Institution des Museums führen. Auch die im Museum ausgestellten Gegenstände sollen, wie Krzysztof Pomian herausgestellt hat, zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, aus der sie entstammen, vermitteln und den Museumsbesuchern einen Zugang zu letzterer ermöglichen. Pomian versucht, die gesamte Geschichte des Sammelns von Grabbeigaben und Opfergaben bis zu modernen wissenschaftlichen Sammlungen unter dem Aspekt der kulturellen Vermittlung zwischen als getrennt angesehenen Welten oder Bereichen zu verstehen. Die Sammelstücke, die er ›Semiophoren‹, also ›Träger von Zeichen‹ nennt, sind Gegenstände, die aus der alltäglichen Welt der Nützlichkeit, des Gebrauchs und des Warentauschs herausgenommen werden, um mit einer besonderen Bedeutung versehen zu werden. Sie repräsentieren etwas Anderes als die erste Welt und dienen dem Verkehr zwischen der ersten Welt und diesem Anderen, der zweiten Welt, sei diese nun das Jenseits in einer religiösen Weltsicht oder eine vergangene Welt im Fall eines historischen Museums. »Indem man Gegenstände in Museen bringt, stellt man sie nicht nur für den Blick der Gegenwart aus, sondern auch für den zukünftiger Generationen, so wie man es in früheren Zeiten mit anderen Dingen für den Blick der Götter tat.«1 An die Stelle der Vermittlung von Diesseits und Jenseits tritt die Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gegenüber der Erfahrung des scheinbar blinden Fortschrei1 Pomian 1988: 70. 239
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tens der Zeit, der Hegel’schen ›Furie des Verschwindens‹, die die Gegenwart ständig bedroht, soll ein geregelter Verkehr zwischen den verschiedenen Zeitformen etabliert werden. Die beiden Entwicklungslinien von objekt- und von zeitbasierten Strategien des Erinnerns, die hier nur sehr großräumig umrissen werden können, konvergieren im Film, und zwar insbesondere im frühen Monumentalfilm. Die besondere Bedeutung der Antike für das Selbstverständnis der europäischen Kultur hatte diese seit der frühen Neuzeit zu einem bevorzugten Objekt von Erinnerungsstrategien werden lassen. Die Überreste der antiken Städte, deren Zerstörung der augenfälligste Hinweis auf den Kontinuitätsbruch mit der Antike war, wurden dabei einerseits als Monumente im öffentlichen Raum wahrgenommen, andererseits aber auch teilweise in Museen gebracht oder als musealisierte Zonen aus der Alltagswelt ausgegrenzt.2 Wer nicht die Möglichkeit hatte, sie durch eigene Anschauung kennen zu lernen, der konnte auf Abbildungen zurückgreifen, die von Piranesis Veduti di Roma bis zu den Photographien der Brüder Alinari auf ein konstant hohes Interesse stießen. Andererseits entstand im neunzehnten Jahrhundert eine Fülle von historischen Romanen und Erzählungen, die sich bemühten, nicht nur die Haupt- und Staatsaktionen, sondern auch das alltägliche Leben in der Antike heraufzubeschwören. Der frühe Monumentalfilm griff auf beide Traditionen zurück und verband sie in charakteristischer Weise. Er übernahm einerseits Stoffe und Handlungsführungen aus der Erzählliteratur, was grundsätzlich auch dem Theater möglich gewesen wäre, wenngleich er in den Massenszenen über das in diesem Machbare hinausging. Andererseits versuchte er durch Bauten und Dekor auch auf der Objektebene die Antike zu vergegenwärtigen. Entscheidend war jedoch die Integration von Handlung und Gestaltung des gebauten Raums durch die Bewegung der Kamera. Die extrem großen Räume mit ihren vielfältigen Dekorationen und die bewegten Szenen mit vielen Komparsen erzwangen geradezu Innovationen in der Nutzung der Kamera wie die Einführung von Kamerafahrten mit Hilfe von gebauten Schienenwegen. Nur so ließ sich das Kulissenhafte früherer Produktionen zugunsten eines tatsächlichen Erlebens der Räumlichkeit durch die Zuschauer überwinden. Der frühe Monumentalfilm verschaffte einem breiten Publikum zum ersten Mal die Möglichkeit, sich sowohl durch das Nacherleben von Ereignissen als auch über die Wahrnehmung von Objekten und Architektur der Antike anzunähern, und dies gleichzeitig und in enger Verschränkung. 2
Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Ruine und der Ruinendarstellung vgl. Cardi 2000, Makarius 2004 und den Beitrag von Silke Arnold-de Simine in diesem Band. 240
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Das Fallbeispiel Karthago Über das Aussehen der Stadt Karthago, einzelne Gebäude, Inneneinrichtung etc. weiß man bekanntlich wenig, da nach der Zerstörung durch die Römer so gut wie nichts mehr von der Stadt übrig geblieben ist. Daher war ihre Darstellung im Film von Anfang an eine besondere Herausforderung für die visuelle Phantasie. Nach dem Beginn der Karthago-Darstellungen mit dem italienischen Film Lo schiavo di Cartagine von Arrigo Frusta3 (1910) war das erste wichtige Werk, das sich dieser Aufgabe stellte, Giovanni Pastrones berühmter und für das Genre des Monumentalfilms wegweisender Stummfilm Cabiria (1914). Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das als Sklavin von Sizilien nach Karthago verschleppt und von dort durch einen römischen Spion und dessen muskelbepackten Helfer Maciste gerettet wird. Wir sehen, wie Archimedes mit riesigen Spiegeln die römische Flotte vor Syrakus in Brand setzt, Hannibal die Alpen überquert, der Ätna ausbricht und Menschen im Tempel des Moloch geopfert werden. Am Ende fahren Cabiria und ihr Retter einer glücklichen Zukunft entgegen. Doch nicht nur dadurch wurde der Film modellbildend. In ihm wurden auch zum ersten Mal gebaute Schienenwege für Kamerafahrten eingesetzt und die Kombination von überwältigender Architektur, militärischen Massenszenen, bedrohten schönen Frauen und beherzten starken Männern, deren körperliche Vorzüge durch die mehr oder weniger historisch getreue Kleidung deutlich herausgestellt werden, zur Perfektion gebracht. So zukunftsweisend Cabiria damit für das Genre war, so stark ist der Film andererseits seinen Vorlagen verpflichtet. Einzelne Figuren, vor allem Maciste, der muskelbepackte Diener des männlichen Protagonisten, sind stark von Henryk Sienkiewiczs Roman Quo Vadis? (1895) beeinflusst, und der Vulkanausbruch wurde aus Bulwer-Lyttons The Last Days of Pompeii (1834) übernommen. Beide Romane gehören ohnehin zu den meistverfilmten Vorlagen früher Monumentalfilme. Die Opferszene im Moloch-Tempel stammt aus Gustave Flauberts Roman Salammbô und wurde in späteren KarthagoFilmen übernommen.4 Aber auch visuelle Zitate finden sich, so aus altindischen Palästen, assyrischen Reliefs oder mittelalterlichen Illustrationen.5 Mit diesem kulturellen Synkretismus wurde Cabiria stilbildend, zumindest was die Tradition der filmischen Darstellung von Karthago betrifft, und beeinflusste nachweislich einen der berühmtesten Filme über3
Bei Elley 1984: 81 werden Luigi Maggi und Roberto Omegna als Regisseure genannt. 4 Bosold 1998: 235. 5 Solomon 2001, Abb. 2/3, 144 u. 152/153. 241
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haupt, David Wark Griffiths Intolerance, der in den beiden Jahren nach der amerikanischen Erstaufführung von Cabiria entstand. Es heißt sogar, Griffith, der ja zusammen mit Sergej Eisenstein als der eigentliche Schöpfer des erzählenden Spielfilms gilt, habe eine eigene Kopie des Films besessen und heimlich betrachtet.6 Cabiria, dessen Produktion zwei Jahre dauerte, schlug nicht nur quantitativ hinsichtlich seiner Ausstattung alle bisherigen Rekorde. Für Hannibals Alpenüberquerung beispielsweise »wurden sämtliche Elefanten zusammengebracht, die sich in Italien befanden.«7 Auch qualitativ wurden neue Maßstäbe gesetzt. Aufbauend auf den früheren italienischen Ausstattungsfilmen verlieh Pastrone dem Film im Zusammenspiel von Kamerabewegung und gebauten Kulissen eine eigene Tiefenwirkung, die von Roberto Paolella mit der künstlerischen Revolution verglichen wurde, die Giotto in der Malerei bewirkte. Paolella bestätigt auch, dass die szenische Komposition des italienischen historischen Films sehr genau an die Komposition der Bilder des Raffael-Schülers Giulio Romano erinnert: im Vordergrund die Helden, in der zweiten Bildebene die Volksmassen, analog dem Chor, und schließlich in der dritten Ebene der natürliche und dekorative Hintergrund. So überwand der italienische Ausstattungsfilm die hemmende räumliche Enge der Bühne.8
Der frühe Monumentalfilm ist also durchaus älteren kulturellen Mustern verpflichtet, die er für das neue Medium zu adaptieren versucht. Einen besonders starken Einfluss hatte im Zusammenhang mit Karthago wie zu erwarten Flauberts Roman Salammbô. Schon 1911 produzierte das Studio Ambrosio in Turin eine erste Verfilmung, 1914 der Konkurrent Pasquali mit Regisseur Luigi Maggi eine zweite. Die Komplexität des Romans wurde dabei stark reduziert. Mit Cabiria vergleichbar sind die ›titanische Szenographie‹ und die politisch-ideologischen Untertöne vor dem zeitgenössischen Hintergrund des verspäteten italienischen Kolonialismus, insbesondere des Krieges mit der Türkei um Tripolitanien (1911/12). In Abgrenzung zu diesen italienischen Vereinnahmungen des französischen Klassikers bemühte sich die erste und einzige französische Verfilmung von Pierre Marodon aus dem Jahr 1924 um größtmögliche Werktreue.9 Der aus Kostengründen in der Nähe von Wien gedrehte Film zeichnet sich durch eine detaillierte visuelle Ausgestaltung gerade auch auf der Ebene der Architektur aus, wurde jedoch von der zeitgenössischen Presse überwiegend negativ beurteilt. Ungeteilte Anerkennung 6 7 8 9
Solomon 2001: 48. Toeplitz 1987: 64. Ibid.: 64f. Vgl. Bosold 1998: 237-240. 242
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fand nur die musikalische Bearbeitung des Komponisten Florentin Schmitt, der als Spezialist für orientalisierende Musik galt.10 Mag man immerhin das Streben nach einer möglichst originalgetreuen Adaption loben, so gilt es doch alleine dem literarischen Werk, nicht den historischen Gegebenheiten. Letztlich handelt es sich um Vorstellungen von einem imaginären Orient, die auf Karthago projiziert und mit einem Grundgerüst historischer Ereignisse verbunden werden. Zu den Elementen dieses Orientbildes gehören Dekadenz, Effeminierung, Grausamkeit und fehlende Einheit und Geschlossenheit von Gesellschaft und Staat. Auch in dem Film Scipione l’Africano von Carmine Gallone aus dem Jahr 1937 steht römischer Entschlossenheit und moralischer Integrität ein zerstrittenes, seinen Untergang im Grunde selbst verschuldendes Karthago gegenüber. Damit werden nicht nur Vorurteile der antiken, römischen und griechischen Geschichtsschreibung weiter tradiert, sondern auch Entsprechungen zur aktuellen politischen Situation insinuiert. Der Film wurde unmittelbar nach der italienischen Eroberung Äthiopiens mit massiver Unterstützung und Lenkung durch das faschistische Regime produziert. Er sollte den ohnehin propagierten positiven Bezug auf die ›romanità‹ mit einem negativen Gegenbild in Gestalt des afrikanisch-orientalischen Karthago verbinden.11 Dafür schien kein Aufwand zu gering: »Für die Schlacht bei Zama mobilisierte man zehntausend Statisten als Fußvolk sowie zweitausend Reiter und dreißig Elefanten. Der Duce war bei den Aufnahmen anwesend«.12 Fast ein Vierteljahrhundert später wandte sich Carmine Gallone mit Cartagine in fiamme von 1960 erneut dem dritten punischen Krieg als Sujet zu. Der Film nach einem Roman von Emilio Salgari, dem italienischen Karl May, erzählt eine mit allen Ingredienzen des Abenteuergenres versehene Geschichte, in deren Zentrum wiederum, wie in Cabiria, eine in Karthago lebende Römerin steht. Auch die berühmte Menschenopferszene im Moloch-Tempel, die Cabiria aus Salammbô übernommen hatte, taucht wieder auf. Waren die Opfer bei Flaubert, der zumindest damals angenommenen historischen Realität entsprechend, ausschließlich Kinder, so soll in Cabiria die Protagonistin geopfert werden, was durch ihre Rettung und Flucht verhindert wird. Cartagine in fiamme greift dieses Handlungselement auf und betont die für den europäischen Orientalismus typische Verbindung von Grausamkeit und Erotik beim Opfer der
10 Vgl. Bosold 1998: 238f. 11 Vgl. Wyke 1997: 20-22. Bereits für Cabiria läßt sich Ähnliches feststellen: »soon after victory in Africa, the celebratory film […] represented a unified Roman community under the leadership of the morally upright general Scipio triumphing over a decadent and disorganized Carthage.« Ibid.: 20. 12 Toeplitz 1987: 1232. 243
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nur äußerst spärlich bekleideten Römerin. Sie wird von einem Karthager gerettet. Ihre unglückliche Liebe zu ihrem Retter stellt den einen Pol der Handlung dar, die Zerstrittenheit und das Intrigenspiel unter den Karthagern den anderen. Obwohl der Film also fast durchweg in Karthago und unter Karthagern spielt, ist er doch ebenfalls von einem sehr römischitalienisch-okzidentalen Blick auf Karthago geprägt. Bemerkenswert ist immerhin die visuelle Phantasie, die auf die Ausgestaltung des Dekors gerade der Innenräume verwendet wurde. Die karthagische Kultur erscheint als eine eigenständige mit – allerdings im Einzelnen weitgehend fiktiven – spezifischen Charakteristika. Der tatsächliche historische Kenntnisstand spielte bei deren Ausgestaltung kaum eine Rolle. Vielmehr wird der Orient-Okzident-Gegensatz in die Antike zurückprojiziert und Karthago als Amalgam von antikisierten Orient-Klischees und Anleihen an verschiedenen antiken Kulturen von Ägypten bis Mesopotamien inszeniert. Zwischen 1955 und 1960 entstehen im Zuge der allgemeinen Hochkonjunktur des Monumentalfilms eine ganze Reihe von Karthago-Filmen, so auch eine weitere Salammbô-Version des Regisseurs Sergio Greco (1959/60), Le schiave di Cartagine von Guido Brignone und die amerikanisch-italienische Produktion The Barbarians von Rudolph Maté (1960). Der kurioseste davon ist sicher George Sidneys Jupiter’s Darling von 1955. »The constituent ingredients of this period are neatly satirised«13 in diesem Musical mit Hollywoods Schwimm-Star Esther Williams. Die Handlung spielt daher auch weniger in den Alpen oder auf Schlachtfeldern als in diversen Gewässern, in denen sich der Welteroberer Hannibal als Nichtschwimmer in die Hand der amazonenhaften Protagonistin begeben muss. Auch ansonsten spielt die Darstellung historischer Gegebenheiten keine vorrangige Rolle. »Incidental pleasures include a view of the Colosseum, some three hundred years before it was built.«14 Ein letzter Karthago-Film ist erwähnenswert, Annibale, aus dem Jahr 1960. Als Regisseur wird in der Literatur15 Edgar G. Ulmer genannt, ein nicht unbedeutender B-Film-Regisseur, im Vorspann des Films hingegen Carlo Ludovico Bragaglia. Hannibals Italienfeldzug bildet nur noch den Hintergrund für eine Liebesgeschichte zwischen den Fronten. Die Karthager werden hier zwar im Vergleich mit den Römern als gleichwertig und auch für die Zuschauer nicht weniger sympathisch dargestellt, aber sie unterscheiden sich auch ansonsten kaum von den Römern. Von erkennbarer kultureller Eigenart kann man jedenfalls nicht sprechen. So bleibt leider als Fazit, dass Karthago und die Karthager im Film nur dann 13 Elley 1984: 81. 14 Ibid. 15 Ibid.: 84. 244
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vorurteilslos dargestellt worden sind, wenn ihre kulturelle Eigenständigkeit unbeachtet blieb. Ansonsten wurde aus Elementen antiker Kulturen und aus frei Ausgedachtem (soweit nicht literarisch Vorgeprägtem) eine Vorstellung kreiert, die als antik-orientalisch-afrikanisches Gegenbild zur europäischen griechisch-römischen Antike fungiert. Eine zusätzliche Pointe liegt, darin, dass diese Gegenüberstellung immer wieder im Zusammenhang mit europäischen, hier italienischen kolonialen Interessen in Nordafrika politisch instrumentalisiert wurde und sich das so gebildete Klischee eines ›antiken Orientalismus‹ darüber hinaus fortschrieb.
Das Vergleichsbeispiel Pompeji und andere Städte der Vergangenheit im Film Karthago stellt, wie gesagt, einen besonderen Fall dar, da sich vom tatsächlichen Erscheinungsbild der Stadt kaum Zeugnisse erhalten haben. Das sich aufdrängende Gegenbeispiel sind daher Pompeji und die anderen beim Ausbruch des Vesuvs verschütteten Städte, die seit dem achtzehnten Jahrhundert ausgegraben wurden und seit dieser Zeit die visuellen Vorstellungen von der griechisch-römischen Antike in Europa nachhaltig prägten.16 Die unerschöpfliche Quelle für die Rekonstruktion der antiken Zivilisation, sei diese nun richtig oder falsch, konnte nur das archäologische Material abgeben, das nirgends im westlichen Mittelmeergebiet so gut erhalten zu Tage kam wie in Pompeji und den anderen Fundplätzen in unmittelbarer Umgebung des Vesuvs. Denn dort stand das Leben an einem Augusttage des Jahres 79 n. Chr. plötzlich still, als wäre es für immer auf eine riesige Photoplatte gebannt worden. […] Es ist deshalb eigentlich nicht verwunderlich, dass sich das Kino mehr oder minder korrekt dieser enormen Bildermenge bediente, sowohl für die Geschichten, die in einer der Städte spielen, die durch den Vesuvausbruch verschüttet worden sind, als auch, und dies ist vielleicht der interessanteste Aspekt, bei jeder Anspielung auf die Antike, denn es genügt allein das Erscheinen von Gegenständen und Plätzen aus Pompeji oder Herculaneum, um ein antikes Szenarium heraufzubeschwören.17
Dass die Filme über Pompeji dabei teilweise sehr um Genauigkeit bemüht waren, belegt Pesandos instruktiver Artikel, aber auch, dass einzelne von ihnen dadurch selbst in besonderer Art und Weise zu Dokumenten wurden, dass sie den Stand der Ausgrabungen zu einer bestimm16 Nachweisbar ist etwa bereits eine Beeinflussung des Bühnenbilds der Uraufführung von Mozarts Zauberflöte im Jahre 1791; s. Pesando 2004: 35f. 17 Pesando 2004: 35. 245
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ten Zeit festhielten, oder dass sie Teile der Stadt rekonstruierten, die heute für Besucher kaum mehr zugänglich sind und zudem, wie bestimmte Wanddekorationen, seit der Zeit ihrer Freilegung stark beeinträchtigt wurden.18 Die Geschichte der Stadt Pompeji endete 79 n. Chr., aber der Erinnerungsort Pompeji hat seine eigene Geschichte, zu der die Zerstörung und der Verfall der ausgegrabenen Ruinen, aber auch deren mediale Repräsentationen und Rekonstruktionen gehören. Zur besonderen Faszination Pompejis gehört, dass sich hier nicht nur Räume und Objekte erhalten haben, sondern gewissermaßen das Leben der Bewohner selbst fixiert, in dauerhafte Gegenstände transformiert wurde. Darauf weist Pesandos Bild der Photoplatte hin, ein Bild übrigens, das selbst auf die archaische Frühzeit des betreffenden Mediums Bezug nimmt, sei es, weil die Materialität einer Platte die Metapher besser zu tragen scheint als ein Rollfilm oder ein Speicherchip, sei es, weil der Anachronismus den durch das Bild induzierten Zeitsprung weniger weit erscheinen lässt. Im vulkanischen Material, durch das die Menschen verschüttet wurden, haben sich bekanntlich zum Teil die Hohlformen der verwesten Körper erhalten, die seit 1863 mit Gips, später auch mit anderen Stoffen ausgegossen wurden, so dass man Rekonstruktionen der Opfer in genau der Haltung, die sie zum Zeitpunkt ihres Todes einnahmen, erhielt. Es ist also, wie bei der Photographie, ein Augenblick, der hier festgehalten wurde, und man könnte in der spezifischen ›Technik‹, die hierbei auf halb natürlichem, halb künstlichem Wege Anwendung fand, sogar eine Analogie zum Negativ-Positiv-Verfahren sehen. Der Faszination des Mediums Photographie, die darauf beruht, dass sie das Tote, Vergangene auf geisterhafte Weise als Lebendes erscheinen lassen kann19 und uns dadurch in einer Weise zur Vergangenheit ins Verhältnis setzt, die objekthaftes Überdauern und rituelles Wieder-(er)leben auf für uns verwirrende Art zusammenführt, entspricht die Faszination dieser Gipsabgüsse, wie sie etwa in Rossellinis Viaggio in Italia (1953) inszeniert wird. Der Film erzählt in durchgehend elegischem Ton von der Reise eines Ehepaares, das sich auseinander gelebt hat, durch Italien. Insbesondere die Frau, gespielt von Ingrid Bergman, trauert der Vergangenheit nach, in der es um die Beziehung der beiden besser stand, und erlebt die antiken Ruinen, die sie besichtigen, als Sinnbilder des Bruchs mit dieser Zeit und der Beziehungslosigkeit. Als die beiden zur Entdeckung der Überreste eines Paares, das vom Vulkanausbruch überrascht wurde 18 Pesando 2004: 38f. 19 Dieses Charakteristikum der Photographie hat zu vielfältigen Praktiken geführt, die die volkstümliche Auffassung des Geisterhaften bestätigen (vgl. Anderson 1936), und ist auch in der Photographietheorie häufig behandelt worden; vgl. Santaella 1998. 246
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und nun durch die beschriebene Gipsabgusstechnik sichtbar gemacht wird, hinzukommen, bricht sie zusammen und muss sich weinend und aufgelöst von ihrem Mann trösten lassen. Die deutlich andere Art dieser Begegnung mit der Vergangenheit ist jedoch zugleich die Initialzündung für eine allmähliche Verbesserung des Verhältnisses der beiden zueinander, für eine Lösung der Erstarrung und Verkrustung, unter der ihre Beziehung litt. Hier kommen die ältesten und die neuesten Medien des Erinnerns zusammen, die Leiche bzw. die natürlichen Überreste menschlichen Lebens – und sei es, dass diese nur in einer Hohlform im Gestein bestünden –, und die photographische Aufnahme, die der Film um die Illusion der Bewegung und damit der Belebtheit ergänzt. Doch die analoge Aufnahmetechnik ist mittlerweile durch den digitalen Film überholt worden, der ganz neuartige Möglichkeiten der Bildbearbeitung bietet und damit gerade auch die Bedingungen der Rekonstruktion von Vergangenem verändert. Mit der analogen Technik konnte man nur tatsächlich Vorhandenes photographisch aufnehmen und musste daher zunächst das Vergangene, Zerstörte, nicht mehr Vorhandene realiter wieder aufbauen, um es anschließend ablichten zu können. Selbstverständlich hat man dabei zu Hilfsmitteln gegriffen, zu Modellen etwa, nur gemalten Hintergründen etc., aber diese Arbeitsweise brachte eben auch bestimmte Limitierungen mit sich. Die digitale Technik ermöglicht es, das Verlorengegangene rein im Bild neu zu erschaffen, ohne den Umweg über die Objektwelt gehen zu müssen. Insbesondere der Übergang vom ganz Großen, Spektakulären, das sich zuvor für die Rekonstruktion im Modell anbot, zum ganz Kleinen, Alltäglichen, das man, allerdings erst nach einem Schnitt, als Aufnahme eines in Originalgröße vorhandenen, gegenwärtigen Objekts zeigen konnte, lässt sich nun in viel überzeugenderer Weise gestalten und damit die Verzahnung von Historisch-Monumentalem und personalisierter Spielhandlung wesentlich verbessern. Während die wenigen aktuellen Monumentalfilme wie etwa Gladiator (2000) diese Möglichkeiten jedoch kaum im Sinne einer genauen historischen Rekonstruktion nützt, sondern eher mit auf Vagheit basierenden Stimmungswerten operiert,20 machen andere Filme davon umso intensiveren Gebrauch. Jean-Pierre Jeunets Un long dimanche de fiançailles (2004) etwa, ein Film, in dem es im Kontext des Ersten Weltkriegs um Erinnerung und die Störungen und Verzerrungen bei der Rekonstruktion der Vergangenheit geht, führt uns in einer Kamerafahrt ohne Schnitt von einem Blick aus der Vogelperspektive über die vor Jahrzehnten abgerissenen berühmten Pariser Markthallen direkt ins Marktgeschehen hinein bis zu einer von Jodie Foster gespielten Verkäuferin. 20 Vgl. Pesando 2004: 43-45. 247
ANDREAS BÖHN
Peter Jacksons Remake von King Kong (2005) ist schon alleine dadurch außergewöhnlich, dass der Film die historische Zeit der Handlung nicht, wie sonst bei Remakes üblich, in die Gegenwart verlegt und dadurch das Original in der Wiederholung aktualisiert, sondern in den dreißiger Jahren und mithin in der Entstehungszeit des Originalfilms ansiedelt. Ein ›establishing shot‹ zeigt uns zunächst die damalige Skyline von New York und daraufhin übergangslos eine Straßenszene, die die Kamera bis in die Mikroebene der vom Wind dahingetriebenen Papierfetzen auf dem Asphalt hinein erkundet. In beiden Fällen lässt uns der digitale Film in eine Stadt der Vergangenheit eintauchen, die in dieser Form nicht mehr existiert. Das, was wir sehen, wurde nicht durch Kriege oder Naturkatastrophen zerstört, wohl aber durch einen häufig als gewaltsam und rücksichtslos empfundenen Prozess der fortgesetzten Modernisierung und des rasanten Wandels. New York ist dafür vielleicht das beste Beispiel überhaupt, und die Pariser Hallen, die zur Zeit ihrer Entstehung wegen ihrer der Konstruktion des zur Weltausstellung 1900 errichteten Eiffelturms verwandten Bauweise als hochmodern galten, wurden zugunsten der Errichtung des gleichermaßen ultramodernen wie höchst umstrittenen ›Forum des Halles‹ gegen den erbitterten Widerstand weiter Kreise der Bevölkerung abgerissen. Ein solches emotional besetztes städtebauliches Element noch einmal zurückholen zu können, und zwar nicht nur als museale Rekonstruktion, sondern als erlebbaren Teil der Erfahrungswelt, dieses Versprechen gibt uns der digitale Film, und seine zumindest scheinhafte Einlösung macht die Faszination seiner historischen ›lebenden Bilder‹ aus.
Filme Lo schiavo di Cartagine (Arrigo Frusta, Italien 1910) Salammbò (Italien 1911) Salammbò (Luigi Maggi, Italien 1914) Cabiria (Giovanni Pastrone, Italien 1914) Salammbô (Pierre Marodon, Frankreich/Österreich 1924) Scipione l’Africano (Carmine Gallone, Italien 1937) Viaggio in Italia (Roberto Rossellini, Italien 1953) Jupiter’s Darling (George Sidney, USA 1955) Le schiave di Cartagine (Guido Brignone, Italien/Spanien/Mexiko 1957) Salammbô (Sergio Greco, Frankreich/Italien 1959/60) Annibale (Edgar G. Ulmer/Carlo Ludovico Bragaglia, Italien 1960) Cartagine in fiamme (Carmine Gallone, Italien/Frankreich 1960) The Barbarians (Rudolph Maté, USA/Italien 1960)
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ZERSTÖRTE STÄDTE IM MONUMENTALFILM AM BEISPIEL VON KARTHAGO
Gladiator (Ridley Scott, USA 2000) Un long dimanche de fiançailles (Jean-Pierre Jeunet, Frankreich 2004) King Kong (Peter Jackson, USA 2005)
Literatur Anderson, Walter (1936): Artikel ›Photographie‹. In: Hanns BächtoldStäubli/Eduard Hoffmann-Krayer (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 7, Berlin/Leipzig, Sp. 19-20. Bosold, Bettina (1998): Vom ›Titanismo scenografico‹ zu Citizen Kane. Flauberts Salammbô im internationalen Film. In: Klaus Ley (Hg.), Flauberts Salammbô in Musik, Malerei, Literatur und Film, Tübingen, S. 232-249. Cardi, Maria Virginia (2000): Le rovine abitate. Invenzione e morte in luoghi di memoria, Florenz. Elley, Derek (1984): The Epic Film. Myth and History, London et al. Makarius, Michel (2004): Ruines, Paris. Pesando, Fabrizio (2004): Schatten des Lichts: Der Sandalenfilm und Pompeji. In: Pier Giovanni Guzzo/Alfred Wieczorek (Hg.), Pompeji. Die Stunden des Untergangs. 24. August 79 n. Chr. [Katalog zur Ausstellung der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, 28. 11. 200417. 4. 2005], Mailand/Mannheim, S. 34-45. Pomian, Krzysztof (1988): Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin. Santaella, Lucia (1998): Die Photographie zwischen Tod und Ewigkeit. In: Zeitschrift für Semiotik 20, 3/4, S. 243-268. Solomon, Jon (2001): The Ancient World in the Cinema. Revised and Expanded Edition, New Haven/London. Toeplitz, Jerzy (1987): Geschichte des Films. Bd. 1: 1895-1933, München. Wyke, Maria (1997): Projecting the Past. Ancient Rome, Cinema and History, New York/London.
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DIE KONSTANZ DER RUINE. ZUR REZEPTION TRADITIONELLER ÄSTHETISCHER FUNKTIONEN DER RUINE IN STÄDTISCHER BAUGESCHICHTE UND IM TRÜMMERFILM NACH 1945 SILKE ARNOLD-DE SIMINE Sowohl in den Schriften der Engländerin Annette Kuhn (geb. 1946) als auch in den Texten des deutschstämmigen W.G. Sebald (geb. 1944) finden sich Hinweise darauf, dass medial übermittelte Bilder, welche die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs dokumentieren, so erinnert werden, als handele es sich dabei um persönlich Erlebtes. Kuhn sagt über die Bilder des Bombenkriegs in England, die sie aus Photographien, Kriegsdokumentationen und -spielfilmen kennt, »there is an odd sense in which I recognise these images: it is as if I had always known them.«1 Auch Sebald stellt fest, dass er zwar persönlich von der Katastrophe nicht betroffen war, aber dass diese auf ganz direkte Weise »dennoch Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen hat«: Es »ist mir bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich von ihm ab«.2 Obwohl sich Sebald, ebenso wie Kuhn, auf Photographien und Filme bezieht, hat er sich in seiner Essay-Sammlung Luftkrieg und Literatur auf die Untersuchung der Nachkriegsliteratur beschränkt, der er ein Verschweigen der Ruinenrealität vorwirft, das er auf ein vielfältig motiviertes Darstellungstabu zurückführt.3 Von verschiedenen Seiten ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Trümmerfilm sich dieser Ruinenrealität weitaus deutlicher gestellt hat und dass Sebald hier eher fündig geworden wäre. »There may be, as Sebald claims, a silence about what had happened, but, unlike literature, these films can and do depict the silence itself, that is the very process of silently staring at the widespread destruction in the German metropolis.«4
1 Kuhn 2002: 127f. 2 Sebald 2002: 5 u. 77f. 3 Das lag sicher auch daran, dass diese Essays ursprünglich als Poetikvorlesungen gehalten wurden. Vgl. auch Arnold-de Simine 2006: 295-311. 4 Fisher 2006: 329-343, 331 u. 335. 251
SILKE ARNOLD-DE SIMINE
Aus Kuhns und Sebalds Zitaten lässt sich eine Enthistorisierung der Trümmer herauslesen, die das Ereignis nicht in eine lange Reihe anthropologisch determinierter Katastrophen einreiht, sondern es vielmehr, gerade umgekehrt, personalisiert und auch für Unbeteiligte wiedererkennbar macht. Beide erinnern sich, im emphatischen Sinn, an etwas, das sie nicht persönlich erlebt haben. Auch wenn sich hier der Einzelne erinnert, geht es doch offensichtlich um ein Erinnern auf kollektiver Ebene. Die Bilder werden nicht als das erinnert was sie sind, nämlich medial bearbeitete und vermittelte Wahrnehmungen historischer Ereignisse. Vielmehr werden die Bilder des kulturellen Gedächtnisses zu genuin subjektiven Erinnerungsbildern umgedeutet. Diese Bilder des kulturellen Gedächtnisses fußen auf einer Ikonographie des Ruinenmotivs, die sich über Jahrhunderte ausgebildet hat und die auch in den visuellen Repräsentationen der Trümmer des Zweiten Weltkriegs ihren Niederschlag gefunden hat. Das individuelle Erinnern erfolgt also über die vom kulturellen Gedächtnis bereitgestellten Bilder. Unsere Vorstellung der zerbombten Städte ist durch die Bilder der Wochenschauen, der alliierten Luftaufnahmen, der Photos und Bildbände geprägt. Eindrückliche Beispiele sind etwa das Bild der unzerstörten Kuppel der St. Paul’s Cathedrale vor dem Hintergrund des brennenden Londoner East End5 oder die Aufnahme des Blicks über das zerstörte Dresden mit der zugleich hinweisenden und beklagenden Geste der steinernen Figur der ›Güte‹ im rechten Vordergrund.6 Diese Bilder entstanden auf der Grundlage einer jahrhundertealten Entwicklung des Ruinenmotivs, dessen Einfluss auf unsere Sicht der Trümmer des Zweiten Weltkriegs ich in diesem Beitrag nachgehen möchte. Im Zentrum steht die ästhetische Rezeption der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte auf der Grundlage der europäischen Kulturgeschichte und der Ikonographie des Ruinenmotivs. Anhand konkreter städtebaulicher Projekte und des Mediums Trümmerfilm soll untersucht werden, inwiefern die Tradition der Ruinendarstellung für den Umgang mit und das Gedenken an die zerstörten Städte relevant war. Ruinen sind nicht einfach das unvermeidliche Resultat eines teilweisen Zerfalls oder der Zerstörung von Bauwerken. Sie müssen vielmehr auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen und beschrieben werden, um Ruinenstatus zu erhalten. Die ›Ruine‹ ist das Resultat eines komplexen Wahrnehmungs- und Semantisierungsprozesses, der konkreten kulturhistorischen Voraussetzungen unterliegt. Im Laufe der Jahrhunderte veränderten sich die Bedeutungszuweisungen. Ruinen werden wahlweise eingesetzt als romantisches Motiv und als Stimmungswert, als epistemologische Figur zur Veranschaulichung des Wechselspiels zwi5 Kuhn 2002: 124. 6 Peter 1980: o.S. 252
DIE KONSTANZ DER RUINE
schen Natur und Kultur, als Symbol für die Topographie der menschlichen Psyche, als Allegorie für den Niedergang einer Zivilisation, als Metapher für die Hinfälligkeit des menschlichen Körpers, als »Gedächtnisort« und »Erinnerungszeichen« für ganze Kulturen oder konkrete historische Ereignisse.7 Auf diese Weise semantisiert wurden sowohl reale als auch vorgestellte, verfallene oder zerstörte, natürliche oder künstliche Ruinen, einzelne Ruinen oder (städtische) Trümmerlandschaften, gegenwärtige und »vorweggenommene, antizipierte«8 Ruinen. Zu jeder Zeit war die Ruine mehrdeutig und ambivalent. Sie verschmilzt die sie konstituierenden Dichotomien in einer ästhetischen Einheit. Gleichzeitig verbildlicht sich in der Ruine das ungelöste Spannungsverhältnis zwischen Naturgeschichte und Geschichte, Gewalt und Frieden, Melancholie und Würde, Vergehen und Überdauern, Vergessen und Erinnern, Bruch und Kontinuität, Nostalgie und Utopie, zwischen hoffnungsvoller Zwecksetzung und melancholischer Akzeptanz des Kontrollverlusts.9 Georg Simmel zufolge steht die Ruine zugleich für menschliche Zwecksetzung und die unkontrollierbare Entwicklung alles Menschengemachten: Jede menschliche Tätigkeit entäußert sich in eine objektive Kultur, die sich dann in der Folge jeder menschlichen Kontrolle entzieht. Damit wird die Ruine zu einem Artefakt, das irgendwo zwischen dem Zweckvollen und dem Zufälligen angesiedelt ist. Die Ruine macht sowohl die räumliche und zeitliche Präsenz als auch die Distanz und Uneinholbarkeit des Vergangenen fasslich, lokalisier- und visualisierbar.
Historischer Abriss Bereits in der Antike gaben die Reste einer zerstörten Stadt Anlass zur Reflexion über die Vergänglichkeit alles Menschengemachten. Die Ruinen von Troja, Karthago und Rom standen für die Vernichtung des Feindes, gemahnten aber auch an die potentielle Zerstörung der eigenen Heimat: So reflektierte Scipio angesichts des zerstörten Karthago über den zukünftigen Untergang Roms. Erst in der Renaissance bezieht sich die Trauer nicht nur auf den dadurch antizipierten Untergang der eigenen Heimatstadt bzw. der menschlichen Zivilisation schlechthin, sondern auf den Verlust einer spezifischen Kultur, die nur noch über ästhetische Anverwandlung zurückgewonnen werden kann. In diesem Kontext fungiert die Ruine als Verweis auf etwas anderes, das nicht (mehr) ist und dessen Ende betrauert wird. Ihre Trümmer sind greifbares Zeugnis einer Ver7 Klostermann 2001: 509f. 8 Vgl. Junod 1983: 30. 9 Vgl. Simmel 1998: 119f. 253
SILKE ARNOLD-DE SIMINE
gangenheit, die als Bruchstück von einer verlorenen Ganzheit zeugt und die als solche nur noch in der Erinnerung (und damit in der Imagination) fortlebt. Die elegische Ruinenstimmung konnte erst mit der Trauer um das Vergangene aufkommen, also zu dem Zeitpunkt, an dem die Antike nicht mehr als ein im Kontext der christlichen Heilsgeschichte notwendig zu Überwindendes gesehen wurde. Das historische Interesse an Ruinen nahm seinen Anfang mit der Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance und dem hier neu aufkommenden Interesse an dem Anschauungsmaterial, das die antiken Reste der Stadt Rom boten. Während die Pilger des Frühmittelalters die Trümmer Roms noch übersehen hatten und die Einheimischen sie als Steinbruch genutzt hatten, wurden sie in der Renaissance als historische Relikte wahrgenommen, die von einer untergegangenen Hochkultur kündeten, welche sich über das verwirrende Chaos, das diese Reste für die damaligen Betrachter darstellten, wissenschaftlich rekonstruieren ließ. So erscheint die Stadt Rom in Petrarcas Ruinen-Dichtung als Gedächtnisort, sowohl für die antike als auch für die christliche Geschichte. Seit der Renaissance wird die Stadt als Palimpsest gelesen, in dem jede Epoche ihre (immer wieder überschriebenen) Erinnerungszeichen hinterlassen hat. Als zerstörtes oder verfallenes Bauwerk mahnt die Ruine einerseits an die Vergänglichkeit des vom Menschen Geschaffenen und des Menschen selbst und wird dabei zum Vanitasmotiv bzw. Memento Mori. Durch ihre historische Kontextualisierung kann sie jedoch auch ganz konkret als Mahnmal für das Ereignis stehen, durch das sie zerstört wurde. Andererseits verbürgt sie als Rest das historische Überdauern großer Kulturleistungen. Die sich darin ausdrückende Dichotomie von Vergessen und Erinnern, Bruch und Kontinuität bleibt der Ruine bis heute eingeschrieben. In dieser Doppelgesichtigkeit gibt sie Anlass zu Melancholie, aber auch zu Bewunderung und Hoffnung und weist daher sowohl in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft. Die bewusste Wahrnehmung von und Begeisterung für Ruinen setzte sich schließlich über England und Frankreich – mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung durch den Dreißigjährigen Krieg10 – auch in Deutschland durch. Das 17. und 18. Jahrhundert entdecken erstmals den sentimentalen und ästhetischen Eigenwert der Ruine. Die Landschaftsbilder eines Nicholas Poussin (1594-1665) und Claude Lorrain (1600-82) sowie die Idyllendichtung assoziieren die Ruinen mit einem arkadischen Zustand, der mit keinem konkreten geschichtlichen Zeitpunkt verbunden werden kann, aber dennoch eine sentimentale Sehnsucht, ein nostalgisches Empfinden weckt.
10 Kurzhals 1994: 30. 254
DIE KONSTANZ DER RUINE
Die Erkenntnis, dass die Ruinen die einzigen Überreste von verschwundenen Hochkulturen waren, hatte jedoch nicht viel dazu beigetragen, diese systematisch zu konservieren. Dies geschah erst, als ihnen vor dem Hintergrund der Französischen Revolution mit der Vorstellung eines ›nationalen Erbes‹ (patrimoine) auch ein politisch-ideologischer Wert zugeschrieben wurde. Makarius zufolge sind die Ruinen »Reste, denen man eine symbolische und ästhetische Würde zuschreibt«11 und die erst im Zuge dessen nicht nur rein nach ihrem Materialwert beurteilt, sondern in ihrem Ruinenstatus als erhaltungswürdig erachtet werden. Seit dem 18. Jahrhundert wird ein Motiv dominant in der Rezeption der Ruine, nämlich der fließende Übergang zwischen Natur und Kultur; der Neuanfang, der darin liegt, dass die Natur von der zerstörten Kulturleistung Besitz ergreift und sie mit neuem Leben erfüllt. Im Gegenzug lässt die Ruine das Wirken der Natur sichtbar werden. Der Landschaftsgarten inszeniert die von Pflanzen überwucherte Ruine im fließenden Übergang zur Natur, die Versöhnung zwischen Kultur und Natur. Die Natur holt sich als destruktive Kraft nicht nur zurück, was die menschliche Bauleistung ihr genommen hat. Das sublime Schreckbild der Ruine kann auch als eine Überformung von menschlicher Leistung durch natürliche Schöpferkraft gedeutet werden. In diesem Fall ordnet sich die Ruine als Gebäude in die sie umgebende Landschaft ein, wobei Natur und Kultur verschmelzen. Dabei fungiert die Ruine als Wunschbild einer Versöhnung zwischen Natur und Kultur. Im 18. Jahrhundert wurde die Ruine also in gewisser Hinsicht enthistorisiert, indem man sie als Teil eines Landschaftsgartens nicht selten als solche erbaut und im fließenden Übergang zur Natur inszeniert hat. Es steht in der Macht der Kunst zu verewigen, was die Zeit langsam immer mehr zerstört und damit einen Punkt des Gleichgewichts zu bannen, in dem Natur und Kultur sich die Waage halten. Die ›alten Trümmer‹ als Repräsentanten der ›Zeit‹ werden durch die Überführung in den Bereich der Kunst ins Zeitlose transformiert – das Historische wird im Ästhetischen gebannt. Gleichzeitig historisiert die Ruine das Wirken der Natur, indem sie ihre zyklischen Abläufe an ihrem linearen Verfall sichtbar werden lässt12 und indem die Ruine die Kulturlandschaft als eine mit Geschichte aufgeladene Natur ausweist.13 11 Makarius 2004: 9. 12 Der im 17. Jahrhundert von Thomas Burnet entwickelten Theorie zufolge (Burnet 1965) ist die Erde selbst eine Ruine, weshalb der Romantiker Friedrich Matthisson in seinem Gedicht Der Alpenwanderer Felsgebirge analog zu Architekturruinen sehen kann, eine Analogie die sich im übrigen auch in Tiecks Erzählung Der Runenberg (1804) findet. Vgl. Bühlbäcker 1999: 40f. 13 Die Kulturlandschaft wird zum touristisch erschlossenen Raum, in dem Geschichte sichtbar wird. Dies belegen auch Reiseführer des 19. Jahrhunderts 255
SILKE ARNOLD-DE SIMINE
Das bedeutet, dass die Ruine nun als solche überdauern kann, darf und soll. Zur Ästhetisierung einer Ruine gehört natürlich auch der Wunsch nach ihrer Bewahrung, der ja nicht unmittelbar einsichtig ist, da das Bauwerk mit seiner teilweisen Zerstörung zumeist auch seinen ursprünglichen Zweck verloren hat. Doch im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde der Ruine ein Stimmungswert zugeschrieben, der oberflächlich betrachtet auf einer Negation der Zweckrationalität beruht14, aber genau genommen eine neue, nämlich ästhetische Funktion an die Stelle des ursprünglichen Verwendungszwecks setzt. In der Ruine hat das ursprüngliche Gebäude seine praktische Funktion verloren und wird nun neu mit kultureller und ästhetischer Bedeutung aufgeladen. Diese neue Funktion des Bauwerks führte nicht nur zur Erhaltung von bereits bestehenden Ruinen, sondern sogar dazu, dass Ruinen intentional geschaffen, das heißt bereits als solche gebaut und auch in diesem Zustand erhalten wurden.15 Das zweidimensionale Bildmotiv der Ruine wird rückübersetzt in den dreidimensionalen Raum des Landschaftsgartens, in dem aus dem Bildmotiv wieder Architektur wird. Im Landschaftsgarten erfüllt die Ruine aber immer noch dieselbe Funktion wie im Bild, sie dient als Stimmungswert und atmosphärische Kulisse. In den Erzählungen und Romanen der Schauerliteratur und schwarzen Romantik ist die Ruine dagegen nicht nur Kulisse, sondern auch Handlungs- und Gedächtnisträger sowie Erzählanlass, ein rückwärts in die Vergangenheit weisender Schlüssel für das gegenwärtige Geschehen. Je mehr die Menschen das dort Vorgefallene vergessen oder verdrängen wollen, desto stärker rücken die Orte es in den Vordergrund und suchen ihre Bewohner damit heim. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Ruine als sichtbarer Rest des nationalen Erbes im Kontext nationalistischer Bestrebungen mit idealisierten Mittelalter-Vorstellungen aufgeladen. Durch die napoleonische Hegemonie und die Befreiungskriege wächst in Deutschland das national-patriotische Gedankengut und wird zunehmend mit mittelalterlichen Ruinen assoziiert. Um die kostspieligen Feldzüge Napoleons zu finanzieren, werden zahlreiche Burgen und Schlösser als Steinbrüche benutzt; dieser ›Ausverkauf nationaler Denkmäler‹ wird Teil des ideologischen Gerüsts des literarischen Feldzugs gegen Napoleon und Frankreich. Die deutsche Ruine avanciert zum Nationalsymmit Titeln wie Ruinen oder Taschenbuch zur Geschichte verfallener Ritterburgen und Schlösser. Für Freunde der Vorzeit. Geschichten und Sagen. Vgl. Bühlbäcker 1999: 241. 14 Böhme 1989: 287. 15 Das Interesse an römischen Ruinen führte im späten 18. Jahrhundert in Florenz zur Gründung von Handwerksbetrieben, welche die touristische Nachfrage mit Imitaten befriedigten. Vgl. Turner 1992: 202-223, 206. 256
DIE KONSTANZ DER RUINE
bol, zum Denkmal der deutschen Identität und verlorenen nationalen Einheit. Gleichzeitig verweist sie auch auf den Zustand der von den Franzosen unterdrückten Heimat.16
Dennoch ist das Motiv der Ruine in der Goethezeit auch ein zukunftweisendes, da es immer wieder mit einem utopischen Moment verknüpft wird – in Goethes Gedicht Der Wanderer (1772/73) etwa mit der Überlegung, die Ruinen könnten das Fundament einer neuen kulturellen Blüte bilden. Diese Vorstellung wird im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in die Praxis überführt, indem Ruinen nicht nur für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht und restauriert werden, sondern – im Falle von Bauruinen – zu Ende gebaut und vollendet werden (z.B. Kölner Dom und Eichendorffs Pläne zur Restauration der südlich von Danzig gelegenen Marienburg).17 Der absichtsvollen Errichtung und Konservierung von Ruinen folgte schließlich im 20. Jahrhundert der absichtsvolle Entwurf von Bauwerken mit Blick auf ihren zukünftigen Ruinenwert: »Die Bedeutung der neu errichteten Architektur wird an ihren zukünftigen Trümmern gemessen.«18 Das galt nicht erst für die Pläne Albert Speers für die neue deutsche Hauptstadt Germania: Modern konstruierte Bauwerke waren zweifellos wenig geeignet, die von Hitler verlangte Traditionsbrücke zu den künftigen Generationen zu bilden: Undenkbar, dass rostende Trümmerhaufen jene heroischen Inspirationen vermittelten, die Hitler an den Monumenten der Vergangenheit bewunderte. Diesem Dilemma sollte meine Theorie entgegenwirken: Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen sollten Bauten ermöglichen, die im Verfallszustand nach Hunderten oder Tausenden von Jahren etwa den römischen Vorbildern gleichen werden.19
Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte Joseph Poelaert, Architekt des 1883 vollendeten Brüsseler Justizpalastes, prophezeit: »In tausend Jahren […] werden sich Reisende darum drängen, seine Ruinen zu besichtigen.«20 Zur Historisierung der Vergangenheit und der Gegenwart kommt die Historisierung der Zukunft. »An die Stelle der Abfolge von Zerstörung (Gegenwart) und Rekonstruktion (Zukunft) tritt die Abfolge von 16 Bühlbäcker 1999: 59. 17 Ibid.: 242. Vgl. Eichendorffs Schrift Die Wiederherstellung des Schlosses der deutschen Ordensritter zu Marienburg. Justinus Kerner verfolgte Pläne, die Burg Weibertreu bei Weinsberg einem touristischen Publikum zugänglich zu machen. 18 Ibid.: 243. 19 Speer 1969: 69. 20 Zit. n. Peeters 1996: 70-79, 79. 257
SILKE ARNOLD-DE SIMINE
Konstruktion (Gegenwart) und Destruktion (Zukunft). Genauer: Die Gegenwart steht im Schatten der zukünftigen Vergangenheit.«21 Die zerstörten Städte des Zweiten Weltkriegs lassen die Vermutung berechtigt erscheinen, dass die über die Jahrhunderte von Schwankungen und Umdeutungen geprägte Ästhetisierung von Ruinen mit dieser Katastrophe zu einem vorläufigen Ende gekommen ist. Denn um die Ruine ästhetisch genießen zu können ist es notwendig, von dem Zerstörungswerk selbst nicht betroffen zu sein. Es fehlte also nicht nur der unerlässliche (historische) Abstand zur Katastrophe, der unmittelbar nach den ganz Europa kennzeichnenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben war. Die Ruine war im Laufe des 19. Jahrhunderts auch weitgehend als Einzelgebäude visualisiert worden, während nun ganze Stadtteile in Trümmer lagen, die nur aus der Vogelperspektive adäquat gezeigt werden konnten. Die Nähe zur Zerstörung und das Gewirr von Trümmern erschwerten es, die nötige (räumliche, zeitliche, existentielle, epistemologische) Distanz zur Ruine einzunehmen, die für ihre Ästhetisierung unabdingbar ist. Um Trümmer als Ruinen wahrnehmen zu können, bedarf es der Patina, einer Verbindung der Ruine mit der Natur, so dass hier eine neue Einheit, ein versöhnter Zustand hergestellt werden kann. In der Ruine ordnet sich das Gebäude in die umgebende Landschaft ein – Natur und Kultur verschmelzen. Die Ruine wird zum festen Bestandteil des Landschaftsbildes. Die Landschaft bekommt eine historische Dimension, Geschichte und Naturgeschichte fallen zusammen. Doch dieses Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Naturgeschichte lässt sich, trotz der auf den ersten Blick schwerwiegenden Unterschiede, auch in der Auseinandersetzung mit den im Zweiten Weltkrieg zerstörten europäischen Städten beobachten. Sebald hat der deutschen Nachkriegsliteratur vorgeworfen, die alliierten Luftangriffe und das Leben in den zerbombten Städten mythisiert und wahlweise als göttliches Strafgericht oder Naturkatastrophe gedeutet zu haben. Aber auch er spricht, in Anlehnung an Walter Benjamin, in Bezug auf das Leben in Trümmern von einem Rückfall in die ›Naturgeschichte‹.22 Das grüne Leben, das sich über die Ruinen verbreitet, wird mit einem Gedächtnisverlust gleichgesetzt – es signalisiert ein Herausfallen aus der Geschichte. Im Mai 1946 schreibt Max Frisch über seinen Eindruck von Frankfurt: »Und plötzlich kann man sich vorstellen, wie es weiterwächst, wie sich ein Urwald über unsere Städte zieht, langsam, unaufhaltsam, ein menschenloses Gedeihen, ein Schweigen aus Disteln und Moos, eine geschichtslose Erde.«23 Interessanterweise lassen sich in der englischen Li21 Bühlbäcker 1999: 244. 22 Vgl. Buchholz 1994: 59-94, 77. 23 Frisch 1965: 31. 258
DIE KONSTANZ DER RUINE
teratur ähnliche Beobachtungen machen.24 Rose Macaulays Roman The World My Wilderness (1950)25 beschreibt die Flora der englischen Trümmerlandschaften in der Terminologie eines naturkundlichen Standardwerks26 und weist damit genau jene wissenschaftliche Sachlichkeit und Nüchternheit auf, die Sebald an der deutschen Nachkriegsliteratur vermisste.27 Dabei wird ein Prozess beschrieben, in dem sich die Natur ein Terrain zurückerobert, das von menschlichem Versagen gekennzeichnet ist. In diesem ästhetischen Verfahren zeigt sich das Bestreben, den verlorenen gegangenen Sinn in den materialen Spuren der Sprache wieder zu entdecken. Die Bombardierung europäischer Städte im Zweiten Weltkrieg veranschaulicht ein Ausmaß an moralischer und mentaler Vernichtung, das – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum dazu beitrug, die Überreste als erhaltenswert einzustufen. Da das Leben in den zerstörten Städten weitergehen sollte, wäre dies auch kaum praktikabel gewesen, obwohl der sogenannte Morgenthau-Plan für Deutschland, wäre er umgesetzt worden, dieses Szenario nicht völlig irreal erscheinen lässt. Obwohl es sich um städtische Trümmerlandschaften handelte, die schnellstmöglich und tatkräftig beseitigt werden sollten, greift die Wahrnehmung und Darstellung der Ruinen auf tradierte Motive der Ruinenikonographie zurück. Selbst angesichts des erst kurz zurückliegenden Schreckens spricht Eberhard Hempel in der Zeitschrift für Kunst von der »Ruinenschönheit« angesichts der noch existierenden Trümmer in den Städten, die sich mit zunehmendem Wuchern der Flora noch steigern würde.28 Außerdem entsteht eine Ästhetik, welche die einfachen, gleichermaßen natürlichen Formen der Ruine für sich entdeckt und sie einem als negativ gewerteten üppigen Dekor des Historismus gegenüberstellt.29 Angesichts des zerstörten Würzburgs schreibt Wilhelm Emanuel Süskind in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Dezember 1946: 24 »The bombsites are striking because of their mesmerically enfolding verdancy. They are – in contrast with the grey austerity of London – a ›green world‹: a natural amnesia cloaks all.« Mellor 2004: 77-90, 84. 25 Vgl. auch Rose Macaulay: The Pleasure of Ruins (1953) oder Mervyn Peake: The Rhyme of the Flying Bomb (1962). 26 Fitter 1945. 27 Gleichzeitig beschreibt Mellor den Stil als »sacramental modernism of the fragmented text«. Mellor 2004: 89. 28 Hempel 1948: 76ff. 29 Glaser fasst Hempels Standpunkt folgendermaßen zusammen: »Ein für künstlerische Eindrücke offenes Auge entdecke bald, dass die größere Einheit, wie sie sich durch das Hervortreten des Kernbaus ergebe, den Bauten oft eine Schönheit verleihe, die sie früher wegen des meist mannigfach dekorierten Bewurfs mit vielen unwesentlichen Einzelheiten nicht besessen hätten.« Glaser 1989: 11 u. 92. 259
SILKE ARNOLD-DE SIMINE
Das Geschichtliche, das wir in Gestalt der Stilepochen so wohlversteinert liegen sehen, ist gleichsam aus den Fugen geraten. Ist der zerstörte Dom nun siebzehntes Jahrhundert? Nein. Ist er frühes Mittelalter? Nein. Etwas zugleich Uraltes und Zeitloses spricht aus den Trümmern.30
Stadt und Ruine Während die Ruine in der ikonographischen Tradition im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem als singuläres Bauwerk, als Burg, Schloss, Kloster oder Kirche vorgestellt wird, deren ästhetischer Reiz sich aus dem allmählichen Verfall, der Rückeroberung des Stofflichen durch die Natur herleitet, dem aber auch durch Konservierung und Restauration gegengesteuert werden konnte, handelt es sich bei den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs um von Menschenhand planmäßig verwüstete urbane Metropolen, die noch nie zuvor in einem solchen Ausmaß der Vernichtung anheim gefallen waren. Vergleichbar schienen diese Verwüstungen allein mit Naturkatastrophen, mit denen sie denn auch regelmäßig verglichen wurden. Eine verwüstete Stadt besteht nicht aus Ruinen, sondern aus amorphen Trümmern. Um den Ruinenstatus erkennbar zu machen, werden viele der zerstörten Städte auf ein zerstörtes Wahrzeichen reduziert, das als Gebäude und als Ruine Wiedererkennungswert hat. Bereits Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass die Vorstellung eines kontinuierlichen kollektiven Gedächtnisses eng mit der Konstanz von Orten verbunden ist, mit denen sich ein Kollektiv identifiziert und über die es sich definiert. Der massive Verlust dieser Orte bzw. ihre mangelnde Wiedererkennbarkeit führt denn auch nicht nur zu einer geographischen, sondern vor allem auch zu einer existentiellen Orientierungslosigkeit. Dazu heißt es bei Turner: Die gesellschaftliche Aneignung des physischen Raums bildet einen zentralen Aspekt unserer Selbstidentität. Daher ist die Ruine als Allegorie für dieses Verlustgefühl, für die Zerstörung der Vertrautheit und für die Aushöhlung unseres Sicherheitsgefühls ein Bestandteil des gesellschaftlichen Gedächtnisses.31
Eine zerstörte Stadt, die nicht von ihren Bewohnern verlassen wurde und daher ihre ursprüngliche Funktion nicht verloren hat, kann nicht im rui-
30 Zit. n. Glaser 1989: 168. 31 Turner 1992: 214. 260
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nösen Zustand erhalten werden.32 Nichtsdestoweniger gab es nach den Städtebombardierungen im Zweiten Weltkrieg das Bedürfnis, mit Hilfe von sogenannten ›nicht-intentionalen‹ Denkmälern an die Bombardierung der Stadt zu erinnern.33 Daher wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gängige Praxis, einzelne prägnante Ruinen im Zustand der Zerstörung zu bewahren, während ein kleiner Teil der zerstörten Bausubstanz historisch rekonstruiert, der weitaus größere Teil jedoch neu bebaut wurde. Obwohl es kritische Stimmen gab, die den Mangel an Authentizität und die Auslöschung der an den Ort gebundenen Erinnerung beklagten, wurden Einzelgebäude, die schon vor ihrer Zerstörung als Erkennungs- und Orientierungsmarken der Stadt galten, bevorzugt wieder aufgebaut.34 Teilweise wurden die einstigen Wahrzeichen auch als Ruinen konserviert und sollten zumindest als Mahnmale überdauern. Diese Praxis entsprach der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Ruinenästhetik, deren Gegenstände die Überreste ehemals repräsentativer feudaler und sakraler Bauwerke waren. Fast jede deutsche Großstadt hat ein solches Mahnmal, von denen das bekannteste wohl die Berliner Gedächtniskirche ist.35 Am Beispiel des Turmtorsos der Gedächtniskirche zeigt sich, dass die Deutung der Ruine sich von einem Mahnmal der Zerstörung des Stadtteils, Berlins und Deutschlands zu einem Mahnmal gegen den Krieg allgemein entwickelt hat.36 Wie das Beispiel der Frauenkirche in Dresden deutlich macht, kann sich nicht nur die semantische Besetzung und damit der »Erinnerungswert«37 der Ruine verändern. Die gleichermaßen in die Zukunft wie in die Vergangenheit weisende Ruine, die nicht als statisches Bauwerk erlebt wird, sondern an sich schon einen vorläufigen (Übergangs-)Zustand darstellt, ermöglicht es, dass ihr Status als Ruine jederzeit wieder aufgehoben werden kann, etwa indem das Gebäude in einen Neubau in32 Im Falle von Nürnberg gab es Überlegungen von Seiten der Amerikaner, die Altstadt als Ruinenfeld zu bewahren. Dagegen wehrten sich jedoch die Anwohner erfolgreich. Glaser 1989: 17. 33 Vgl. Riegl 1996: 144. 34 Als prominente Beispiele können für Frankfurt die Paulskirche und das Goethehaus genannt werden, deren historische Rekonstruktion 1947 in Angriff genommen wurde. Während das Goethehaus in identischer Form wiedererstehen sollte, hat man sich bei der Paulskirche für die durch die Ruine vorgegebene schlichtere Form des Innenraums entschieden. Einblicke in die zeitgenössische, äußerst kontrovers geführte Diskussion um diese Projekte gibt. Glaser 1989: 85ff. 35 Andere Beispiele sind der Turmstumpf von St. Nikolai in Hamburg, die Klarakirche in Nürnberg, St. Christoph in Mainz, die St. Alban-Kirche in Köln. 36 Ward 2005: 286-290. 37 Huyssen 1995: 13-35, 33. 261
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tegriert oder gar wiederaufgebaut wird. Diese Wiederaufbauprojekte finden sich vor allem in Ostdeutschland, wo die Wiedervereinigung die ideologischen und finanziellen Voraussetzungen für die Rekonstruktion solch unterschiedlicher Repräsentationsbauten wie der Garnisonskirche und des Stadtschlosses in Potsdam, der Universitätskirche in Leipzig und des Stadtschlosses in Ostberlin38 und – des bislang einzig verwirklichten Projekts – der Dresdner Frauenkirche geschaffen hat. Doch nicht immer lassen die veränderten Ansprüche an das Gebäude die identische Rekonstruktion zu: So wird im Falle des seit dem Zweiten Weltkriegs als Ruine überdauernden Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel ein Mittelweg zwischen Restauration und Neubau beschritten. Auf der offiziellen Internetseite ist vom »behutsame[n] Weiterbauen« die Rede, die Entwurfsplanung, so heißt es, »sieht von einer 1:1Rekonstruktion des historischen Bauwerks ebenso ab wie von einem Eingriff der Moderne in die Denkmalsubstanz.«39 Wiederaufgebaut werden diese Bauwerke nicht wegen ihres ursprünglichen Nutzens, sondern – ironischerweise – aufgrund der Signifikanz, die sie als Ruine erworben haben. Trotz des vollständigen und originalgetreuen Wiederaufbaus soll der Ruinencharakter dieser Bauwerke daher auch in der Rekonstruktion erkennbar bleiben. So heißt es auf der offiziellen Webpage des Wiederaufbauprojekts der Dresdner Frauenkirche: »Durch die weitgehende Verwendung der historischen Bausubstanz wird auch an der wiederaufgebauten Frauenkirche ihr Schicksal der Zerstörung weiter ablesbar bleiben. Die dunkle Färbung der alten Steine und die Maßdifferenzen in den Anschlussbereichen zwischen neuem und altem Mauerwerk erinnern an die Narben einer geheilten Wunde. So wird die Frauenkirche auch in Zukunft Zeugnis ablegen über die Geschichte ihrer Zerstörung. Zugleich ist sie aber ein Zeugnis der Überwindung von Feindschaft und ein Zeichen der Hoffnung und Versöhnung.«40 Mit dem Wiederaufbau der Ruine soll an das Ereignis der Zerstörung erinnert und gleichzeitig Versöhnung signalisiert werden. Dieses Projekt einer kollektiven Versöhnung mit den früheren Kriegsgegnern einerseits und, nach dem Motto »Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, den Opfern des nationalsozialistischen Deutschlands andererseits kennzeichnet das Selbstbild des wiedervereinigten Deutschlands. 38 Diese Rekonstruktion ist geplant, nachdem der Palast der Republik, ein Repräsentationsbau der DDR-Regierung, nach fünfzehn Jahren Verfall, im Jahr 2006 nun endgültig abgerissen werden soll. Der symbolträchtige, mit Webcam weltweit übertragene Abriss wird einerseits als »späten Sieg über den Sozialismus«, andererseits als »öffentliche Hinrichtung per Internet« gedeutet. Vgl. Deggerich/Sontheimer 2006: 41. 39 http://www.museumsinsel-berlin.de/040121_flashsite/masterplan_.html 40 http://www.frauenkirche-dresden.org/ 262
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So scheiden sich an diesen Architekturprojekten die Geister, wie die kontroversen Diskussionen, die in den Tagesmedien darüber geführt werden, zeigen: Neben überschwänglichem Lob findet sich auch die Ansicht, dass das zerstörerische ideologische Potential, das zur teilweisen Vernichtung vieler deutscher Städte führte, sich auch in dieser musealen Auffassung von Architektur wiederfindet: Die Zivilisation, die sich Städte baute, die sie als Bürger nicht selbstbewusst bewohnen wollte und konnte, die nicht aus Freude an der Schönheit Altes konservierte, sondern aus Angst vor Veränderung, die am Alten vielmehr Mystik, Weihrauch und autoritäre Führung schätzte, hielt alles bereit, war ihr schlimmes Ende irgendwann einmal besiegeln würde.41
Ruinenmotive im Trümmerfilm In den sogenannten Trümmer- und Heimkehrerfilmen, die im besetzten Deutschland zwischen 1946 und 1949 entstanden, sind Schauplatz und Handlungszeitraum durch die Ruinenlandschaften der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt, die sie, im Unterschied zur zeitgenössischen Literatur, auch durchaus in Szene setzen. Die meisten dieser Trümmerfilme spielen in Berlin, das zu den am stärksten zerstörten deutschen Großstädten gehörte, wovon auch die ehemaligen Filmstudios der UFA betroffen waren. Das Ausweichen auf Außenaufnahmen und damit das Filmen in Trümmern war jedoch keine unumgängliche Notwendigkeit. Vielmehr wurden Innenaufnahmen häufig in den Ateliers gedreht, in denen offensichtlich noch gefilmt werden konnte.42 So drehte Wolfgang Staudte den ersten deutschen Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (D 1946, sowjetische Lizenz) im ehemaligen Althoff-Atelier in PotsdamBabelsberg, und Shandley zufolge ließ er dafür sogar Ruinen im Studio nachbauen.43 Die oft menschenleeren Trümmerlandschaften des Films kontrastieren denn auch auffällig mit der damaligen Lebenswirklichkeit in der völlig überlaufenen ehemaligen Reichshauptstadt. Die Trümmer dienen demzufolge nicht (nur) der Dokumentation des Vorgefundenen, sondern werden vielmehr gezielt inszeniert, als Metaphern eingesetzt44 und semantisch aufgeladen: sie sind »Abbild und Sinnbild zugleich«45. 41 42 43 44
Wertmüller 2003: 7 Brandlmeier 1989: Anm. 8; 58. Shandley 2005: 116-123; 120; Anm. 13. In einer Sammelkritik in der Deutschen Film-Rundschau vom 5.11.1946 wird darauf hingewiesen, dass »die Trümmerberge […] manchmal eher als Symbole denn als reale Zeichen der Zerstörung« erscheinen.« Meyers 1998: 165. 45 Mückenberger 1996: 6. 263
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Bei Staudte verliert die Kamera die durch die Trümmerlandschaft wandernden Protagonisten aus dem Blick, um auf den Ruinen zu verweilen. Die effektreiche Ausleuchtung der skelettierten Gebäude und die dadurch hervorgerufenen Hell-Dunkel-Konstraste schaffen eine unheimliche und bedrohliche Atmosphäre, die den Ruinen ein Eigenleben zuspricht. Der Schauplatz wird, wie bereits im expressionistischen Film und in der Schauerromantik, selbst zum ›dämonischen‹ Protagonisten.46 In so unterschiedlichen Filmen wie Roberto Rossellinis Germania, anno zero (I/D 1947/48) und Robert A. Stemmles Berliner Ballade (D 1948, britisch-amerikanisch-französische Lizenz) wird die Ruine gezielt in Szene gesetzt. Beide Filme beginnen mit einem Panoramaschwenk über das zerstörte Berlin, mit einer Überblick verschaffenden Kamerafahrt. Es sind aber nicht die touristischen Wahrzeichen einer europäischen Metropole, die gezeigt werden, sondern die uniforme und fragmentierte Ruinenlandschaft, in der allein der Reichstag identifizierbar ist. Die Ruinen stehen nicht nur für die materielle Zerstörung Deutschlands, sondern versinnbildlichen auch den moralischen Zusammenbruch und vor allem die seelischen Verwüstungen der Menschen: Wie schon in der Ruinen- und Schauerromantik werden die Trümmer als Seelenlandschaft, als psychische Repräsentationen gedeutet. In einer Einstellung von Die Mörder sind unter uns spiegelt sich die aus dem KZ heimgekehrte Susanne Wallner in einer zerbrochenen Scheibe ihres halb zerstörten Wohnhauses, und ihr fragmentiertes und gesprungenes Spiegelbild ist einer der wenigen Hinweise im Film auf die leidvollen Erfahrungen, welche sie in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hat und auf die an keiner Stelle näher eingegangen wird.47 Die verkantete Kameraperspektive zeigt die aus den Fugen geratene Welt der Trümmer, in welcher der ehemalige Wehrmachtssoldat Hans Mertens im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verloren hat.48 Obwohl man seine Verzweiflung oft allein seinen Erinnerungen an das Massaker in Polen zuschreibt, macht Mertens deutlich, dass die Ursache seiner Depression noch weiter in die Vergangenheit zurück reicht. Er definiert den Frieden als »eine flüchtige Station bis zum nächsten Krieg«, wodurch er seine Kriegserlebnisse in eine lange Reihe scheinbar unvermeidlicher menschlicher Katastrophen einreiht. Die Ruine ist also nicht nur konkretes Re46 Der Szenenbildner Otto Hunte arbeitete bereits für Fritz Lang, wie z.B. an dessen Film Metropolis. Vgl. Ibid.: 15f. 47 Die ganze Aufmerksamkeit des Films gilt den Traumata, welche die männliche Hauptfigur Mertens im Krieg erfahren hat. 48 Kameramann Friedl Behn-Grund und Wolfgang Staudte führten eine neue Einstellungsart ein, die als dutch tilt oder ›verkanteter Schwenk‹ bezeichnet wird und die bis heute zum filmsprachlichen Ausdrucksrepertoire gehört. Ludin 1996: 114. 264
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sultat des Zweiten Weltkriegs, sondern wird enthistorisiert und verweist auf den trostlosen Zustand der Menschheit und auf den Krieg als anthropologische Konstante. Die Ruine steht hier allegorisch für eine allumfassende Melancholie; ihre von der Kamera in bedrohlicher Untersicht gezeigten Reste ragen wie mahnend erhobene Finger in den Himmel. Sowohl bei Staudte als auch bei Rossellini wird die Stadt als Naturlandschaft vorgeführt. Die mit Pflanzen be- und überwachsenen Trümmer ermöglichen eine Naturalisierung der von Menschenhand erschaffenen und zerstörten Metropole. Georg Simmel schrieb in seinem ›Ruinen‹-Aufsatz von 1911: »Was den Bau nach oben geführt hat, ist der menschliche Wille, was ihm sein jetziges Aussehen gibt, ist die mechanische, nach unten ziehende, zernagende und zertrümmernde Natur.«49 Die Ruine symbolisiert für Simmel aber auch eine Versöhnung der beiden Kräfte: »Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte.«50 Diese friedliche und tröstende Qualität der Ruine, die Simmel den aus einer erst kurz zurückliegenden gewaltsamen Zerstörung resultierenden Ruinen abgesprochen hatte, ruft Staudte auf, als es in einer Einstellung während eines Weihnachtsgottesdienstes durch das eingestürzte Dach einer Kirche schneit, während die Gemeinde das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« singt. Staudte nimmt aber auch eine kritische Position gegenüber der Naturalisierung der Ruinen ein. So spricht der Kriegsverbrecher Brückner, der die Vergangenheit und damit auch die Ursachen für die Bombenangriffe völlig verdrängt, davon, dass er sich in den ›Ruinenbergen‹ als ›Fremder im Gebirge‹ fühlt, zudem bezeichnet er die Landschaft als ›Wüste‹. Spätestens hier wird deutlich, dass die Verdrängung der historischen Ursachen der Ruinen eng mit deren Naturalisierung verknüpft ist. In diesen Kontext gehört, dass die Ruine auch als Vanitasmotiv und Memento Mori eingesetzt wird: Der Arzt Mertens benutzt Röntgenaufnahmen als Ersatz für die zu Bruch gegangenen Fensterscheiben in der halb zerstörten Wohnung. Sie blenden damit zwar die Ruinenrealität aus, doch das dadurch sichtbar werdende menschliche Skelett – die Ruine des Körpers51 – ist eine ständige Mahnung an die Sterblichkeit des Menschen und an die Toten, die der Krieg gefordert hat. Die ersten Einstellungen in Germania, anno zero und Die Mörder sind unter uns stellen eine Verbindung zwischen Ruinen und Gräbern her. Diese Verbindung ist jedoch keine metaphorische mehr, wie in den Bildern von Caspar David Fried-
49 Simmel 1998: 120. 50 Ibid. 51 Turner 1992: 210f. 265
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rich52 oder in den Gedichten von Friedrich von Matthisson, Friederike Brun und Elisa von der Recke. Vielmehr wird die Stadt als Nekropole gezeigt. Der Beginn von Germania, anno zero zeigt die für den Trümmerfilm beinahe schon obligatorische, Überblick verschaffende Kamerafahrt über das zerstörte Berlin. Während sich die Kamera anfangs noch auf Augenhöhe der Passanten bewegt, steigt sie langsam in die Höhe, um dann am Ende aus der Vogelperspektive auf einen Kirchhof zu zoomen, auf dem ›Trümmerfrauen‹ Gräber ausheben. Indem Rossellini den Film seinem toten Sohn widmete, wird dieser gleichsam als Epitaph, als Grabaufschrift gedeutet. In einer Rezension zu Germania, anno zero nimmt ein amerikanischer Besatzungsoffizier diese Assoziation wissentlich oder unwissentlich auf, indem er schreibt: »Rossellini pflückt in diesem Film nicht Blumen von dem Grab einer Nation, er erbricht sich in den Sarg.«53 Bei Staudte ist der Bezug zwischen Grab und Ruine noch deutlicher. Der Zoom verläuft hier in umgekehrter Richtung: Von einer untersichtigen Großaufnahme zweier Trümmerhügel mit Grabkreuzen schwenkt die Kamera in langsamer Fahrt aufwärts in die Vogelperspektive, wodurch erkennbar wird, dass hier die Ruinen selbst als Grab für die Verschütteten dienen. Die »gespenstisch ausgeleuchtet[en]«54 Ruinen bilden andererseits aber auch den Hintergrund für die erste romantische Annäherung zwischen Mertens und Susanne. In dieser Einstellung vermeidet Staudte sowohl die bedrohliche Nähe der zwischendurch unvermutet einstürzenden Ruinen zu den Figuren als auch die verkantete Kameraperspektive. Vielmehr ist die Kamera statisch und zeigt in einer perspektivisch korrekt ausgerichteten Totalen die beiden Hauptfiguren in der Bildmitte vor einer mondbeschienenen nächtlichen Trümmerkulisse: Mertens hat wieder Halt gefunden, seine Welt stabilisiert sich durch Susanne. Bereits in einer zeitgenössischen Rezension werden diese »erschreckend schöne[n] Ruinenlandschaften«55 bemerkt und die Diskrepanz zwischen der in ihren Auswirkungen noch fühlbaren Katastrophe und der Deutung der Trümmer als Ruinen hervorgehoben. Bei Rossellini wird diese romantische Funktion der Ruine realistisch gebrochen, indem der zwölfjährige Edmund hier unter den Mitgliedern einer frühreifen Jugendbande seine ersten Erfahrungen mit Sexualität und menschlichem Verrat macht. Stemmle scheint gar die Szene zu parodieren, wenn er seinen Protagonisten Otto Normalverbraucher mit dessen Angebeteter (deren herausragende Qualität
52 53 54 55
Vgl. auch Prager 2006. Süddeutsche Zeitung, 28.09.1949, o.S. Filmprotokoll. In: Pleyer 1965: 139-192; 181. Fiedler 1946. Zit. n. Meyers 1998: 164. 266
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darin liegt, dass sie in einem Café Kuchen serviert) durch die Trümmerberge stolpern und sich dort im herumliegenden Schutt verheddern lässt. Bei Staudte wird die Ruine als räumliche und zeitliche Schwelle inszeniert: In der Ruine wird die Zeit räumlich erfahrbar und der Raum erhält eine temporale Dimension. Die heimkehrende Susanne Wallner verharrt bei ihrer Ankunft an der Schwelle ihres ehemaligen Zuhauses, das teilweise zerstört, aber noch bewohnt ist. Die Ruinenlandschaft wird als eine Art ›Vorhölle‹ vorgeführt, aus der sich die darin Gefangenen selbst erlösen müssen, um sich eine Zukunft zu schaffen. Die Vergangenheit erscheint unerledigt, aber weder bei Staudte noch bei Rossellini werden die Bombenangriffe oder wie es dazu kam auch nur erwähnt. Nur in Stemmles kabarettistischer Komödie wird in einem für den Trümmerfilm so typischen Erinnerungsrückblick des Protagonisten die Ursache der Zerstörungen gezeigt. Der Erinnerungswert der Ruinen wird jedoch negiert, indem das moderne Berlin von 2048, das die fiktive Erzählgegenwart bildet, keine Spuren mehr von den Ruinen oder dem historischen Stadtbild zeigt – es besteht ausschließlich aus moderner Architektur. Rossellini belässt die Antwort auf die Frage, ob das Leben in den Ruinen die Folge oder die Ursache der moralischen Verrohung ist, in der Schwebe. Allerdings weist die Tatsache, dass wiedererkennbare offizielle Gebäude mit großem politischen Symbolgehalt wie z.B. das Reichstagsgebäude56 in Trümmern liegen, darauf hin, dass hier ein kausaler Zusammenhang zwischen der von dem nationalsozialistischen Deutschland verfolgten Politik und den gegenwärtigen Trümmern besteht. Die anonyme und abstrakte Trümmerlandschaft wird durch einzelne identifizierbare Gebäude als Ruinenlandschaft lesbar. Bei Rossellini ist dies die Ruine der 1938/39 nach Plänen von Hitlers Hausarchitekt Albert Speer erbauten Neuen Reichskanzlei, die mit ihren enormen Ausmaßen von 441 Metern Länge den Herrschaftsanspruch des Nationalsozialismus widerspiegelt und in deren Garten sich seit 1943 auch der Führerbunker befand. Rossellini zeigt zum einen die von den amerikanischen Soldaten eingenommene touristische Perspektive, die den erhabenen Schauder angesichts der einstigen Repräsentationszwecke des Gebäudes in seiner Ruinenform nun gefahrlos genießen können. In Nazi-Devotionalien sehen die amerikanischen Soldaten attraktive Souvenirs und so hallt die Stimme Hitlers von einer Grammophonplatte noch einmal den Endsieg beschwörend durch das zerstörte Gebäude, das diesen Größenwahn als selbstzerstörerisch entlarvt, während die Kamera eine Einstellung auf die lange Galerie zeigt, in der ein alter Mann ein kleines Kind an der Hand führt. Auch hier treffen also in der Ruine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander. 56 Der zerstörte Reichstag wird sowohl bei Rossellini als auch bei Stemmle gezeigt. 267
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Eröffnen die in den Trümmern Fußball spielenden Kinder bei Staudte noch eine in die Zukunft weisende Perspektive, so ist diese bei Rossellini wiederum gebrochen. Denn hier stoßen auch schon die Kinder den Einzelgänger Edmund aus ihrer Gemeinschaft aus, und die kindliche Unschuld wird in Frage gestellt, da sich insbesondere die unerfahrenen Kinder für die Nazi-Ideologie, hier im besonderen für die Gedanken der Euthanasie und des alleinigen Überlebensrechts der Starken, zugänglich erweisen. Damit wird eine negative Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschworen, die auch bei Stemmle immer wieder durchscheint. Nicht nur ist das Kind bei Rossellini kein Hoffnungsträger für eine neue Kultur, wie in Goethes Gedicht Der Wanderer, die Zukunft wird vielmehr ganz abgeschnitten, indem Edmund Selbstmord begeht und im Schlusstableau des Films als grotesk zerschmetterte Leiche in der Ruinen- und Trümmerlandschaft endet.
Resümee Kuhn und Sebald ›erkennen‹ die über Photographien und Filme vermittelten Bilder der zerstörten Städte, da die Wahrnehmung der Trümmer auf der Bild- und Motivtradition der europäischen Ruinenikonographie basiert. Die Darstellungen der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Städte – im Trümmerfilm ist dies vor allem Berlin – greifen die dominanten Motive der europäischen Ruinenikonographie auf und stellen damit auf der Bildebene eine Kontinuität her, die auf der Ebene der materialen Reste zerstört wurde. Durch die Zerstörung einer Stadt wird ein wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses ausgelöscht, waren die zerbombten Städte doch nicht nur identitätsstabilisierend für ihre Bewohner, sondern auch bekannte Stationen auf einer europäischen Bildungsreise. Die Filmbilder erkennen, indem sie die Zerstörung zeigen, den Bruch in dieser Überlieferung an: »the moving images […] depict the unfamiliar chaos via spatial changes in those very same cities: destruction and rubble consistently resist mental symbolization and integration.«57 Andererseits arbeiten sie auch gegen diesen Bruch an, indem ihre Bilder allegorische und metaphorische Zuschreibungen aufrufen, die sich auf eine gesamteuropäische Ruinenikonographie beziehen und darüber wiederum so etwas wie eine kontinuierliche kulturelle (europäische) Identität evozieren. Es ist der Versuch, die Wahrnehmung der Ruinen in eine europäische Kulturgeschichte einzuordnen, für deren Bruch die Trümmer gleich auf mehreren Ebenen als Zeichen stehen: die gezielte Massenvernichtung als Zivilisationsbruch, die Zerstörung des kulturellen Erbes durch die Natio57 Fisher 2005: 467. 268
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nalsozialisten und die Bombardierung der Städte. Indem sie jedoch nicht als Trümmer, sondern als Ruinen umgedeutet werden, wird diese Bildtradition auf ikonographischer Ebene als unversehrte aufgerufen.
Filme Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, Deutschland 1946) Berliner Ballade (Robert A. Stemmle, Deutschland 1948) Germania anno zero (Roberto Rossellini, Italien/Deutschland 1948)
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BLICKE AUF TRÜMMER. ANMERKUNGEN ZUR FILMISCHEN WAHRNEHMUNGSORGANISATION DER RUINENLANDSCHAFTEN NACH 1945 KAY KIRCHMANN »By God, this looks like a bloody good show!« »Best I’ve ever seen.« »Look at that fire! Oh boy!«1
Als Europa langsam aus dem Alptraum des Zweiten Weltkrieges erwachte, erschlossen sich dessen Folgen durch ein neues, bis dahin nicht gesehenes Bild, ein Bild aus der Luft. Aus zahllosen TV-Dokumentationen sind auch uns Nachgeborenen inzwischen jene Photographien und Filmaufnahmen vertraut, die aus langsam fliegenden alliierten Aufklärungsflugzeugen geschossen wurden. Sie zeigen eine monotone, wüstenähnliche Landschaft voller Trümmer und Schutt, eine gleichmäßig eingeebnete Brachfläche, aus der nur gelegentlich vereinzelte Rudimente von Gebäuden herausragen: vom Bombenhagel ausgesparte Kirchen oder vergleichbare Symbolorte, sowie aus kriegsstrategischen Gründen als bleibende Orientierungsmerkmale verschont gebliebene andere Gebäude. Ansonsten zeigt sich pulverisiert und wortwörtlich dem Erdboden gleichgemacht, was einmal ein differenziertes Gewebe urbaner Lebensformen war. Was der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte – und dies zeigte sich in seinem ganzen Ausmaß erst aus der Luft – das waren Stadtlandschaften, die recht eigentlich keine mehr waren, das waren völlige Nichtungen ehemaliger Urbanität. Die Kameras der Alliierten zeichneten ein radikal anderes Stadtbild auf, als die Menschheit bis dahin jemals gesehen hatte, ein Nicht-Mehr-Stadtbild, das Zeugnis ablegte von der mit dem Symbolart Guernica einsetzenden, entscheidenden kriegstechnologischen Neuerung des 20. Jahrhunderts: der massiven und kalkulierten Zerstörung, wo nicht Auslöschung ganzer Städte und Regionen aus der Luft. Was sich hier unmissverständlich zeigte, war, um eine Formulierung Carl Schmitts 1
Dialog zwischen britischen Bomberpiloten bei einem live in der BBC übertragenen Bombenangriff auf Berlin am 04.09.1943.
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aufzugreifen, »die absolute Entortung und damit de[r] reine[] Vernichtungscharakter des modernen Luftkriegs«.2 Coventry, Liverpool, Brüssel, Dresden, Hamburg – und vor allen anderen die japanischen Orte der Atombombenabwürfe, Hiroshima und Nagasaki – mutierten zu emblematischen Städtenamen, deren Bezeichnungsdifferenzen jedoch im nicht mehr genau identifizierbaren Kamerabild täuschend ähnlicher bis identischer Trümmerlandschaften verwischt und negiert wurden. Welche Stadt war das wohl einmal, deren Ruinen wir jetzt von den Bordkameras der Aufklärungsflugzeuge aufgezeichnet sehen? Kaum einmal bietet sich dem (Kamera-)Auge ein eineindeutiges Merkmal dar, anhand dessen Identifizierung möglich wäre. Endlos scheinen sich die Schuttwüsten zu dehnen, eine breiige, amorphe Masse, gelegentlich durchzogen von schmalen Betonadern, die ehemals wohl Straßen waren. Keine Orientierung, keine Wiedererkennung scheint mehr möglich angesichts der völligen Gleichförmigkeit der Zerstörung, die sich dem Kameraauge anbietet – die ›Entortung‹ scheint in der Tat ›absolut‹. Ein wahrhaft apokalyptisches Szenario, in das jedoch zugleich auch Spuren jener technischen Verdinglichung eingetragen sind, die zu ihrem Entstehen so maßgeblich beigetragen haben: denn dem Blick von oben wandelt sich das konkrete Bild der Verwüstung sehr bald und ganz zwangsläufig zu einer abstrakten Figur, einem Diagramm, einem Maschinenplan: »Ganz besonders verstörend an Luftaufnahmen von zerbombten deutschen Städten ist, dass hier Städte gezeigt werden, die nur aus Straßenumrissen bestehen, reine Stadtpläne, Gittermuster ihren alten Identität […]«.3 Im angesprochenen Sinne ›verstörend‹ ist die Perspektive auf die Trümmerlandschaften nach 1945 aber auch deshalb, weil damit eine entscheidende Neubewertung des sogenannten orbitalen Blicks, der »vertikalen Lokalisation«4 des maschinell induzierten Sehens einhergeht. Dies aber war ehedem ein Blickwinkel, der ideen-, technik- wie mediengeschichtlich utopisch aufgeladen war: Seit den legendären MontgolfièrenFahrten galt der vertikal-distanzierte Blick aus dem Ballon als symbolisch besetzte »Bewusstseinsperspektive, […] [war] der Ballon Medium visionärer Weltenschau«.5 Initiiert wurde damit eine zunächst langanhaltende Allianz von Luftfahrt, (im weiteren Verlauf dann medientechnisch gestützter) Wahrnehmung und dem Ideengut eines sich aufklärerisch und wissenschaftlich emanzipierenden Europas. Der neue Blick von oben, ermöglicht erst durch den Erfindungsgeist einer sich nunmehr auch tech2 Schmitt 1974: 298. 3 Cunningham 2002: 110. 4 Weibel 1987: 82. 5 Asendorf 1997: 38. 274
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nisch definierenden Frühmoderne, avancierte kraft seiner im doppelten Wortsinne ›abgehobenen‹ Perspektive zum Instrument von mobilen »Rund- und Überblicke[n]«6, und damit von Distanzierung und von Relativierung des bis dato gewohnten Bildes der Welt. Der Ballonfahrer wurde entsprechend zur Symbolfigur des modernen Menschen, der sich über seine physische wie intellektuelle Erdverhaftetheit nunmehr erheben kann; sein Blickwinkel aus dem Ballon wurde zum Insignium eines rational beglaubigten Fortschritts schlechthin. Mit den berühmten Photographien Nadars aus dem Fesselballon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann dann jene Allianz von Luftfahrt und Mediengeschichte, die in der neuen Erfassung des Raums, in der Herstellung und Fixierung vertikaler Bildaufnahmen konvergierte. Gesetzt wurde mit der Genese des »airplane eye«7, wie Christoph Asendorf das Medium dieser neuen Raumsicht aus dem Flugapparaturen des 19. und 20. Jahrhunderts benannt hat, zugleich ein zweifacher Fortschrittsoptimismus. Denn im vertikalen Blick der Photo- oder Filmkamera aus dem Flugzeug schien paradigmatisch zur Synthese gebracht, was als endgültige Einlösung jenes ›Neuen Sehens‹, das für so viele Programmatiken der klassischen Avantgarde Leitbegriffcharakter einnahm, wirken musste: die gleich zweifach maschinell gegründete Überwindung der Restriktionen, denen das menschliche Auge durch die begrenzte Mobilität des Körpers unterworfen gewesen war. Auch und gerade in der Emphase des russischen Revolutionsfilmers und Filmtheoretikers Dziga Vertov scheint jenes utopische Versprechen des mobilisierten KameraAuges noch unverhüllt durch: Ich, die Maschine, zeige Euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, […] ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern.8
Mit der ›fliegenden‹ Filmkamera schien mithin jenes Programm verbindlich eingelöst, das in den Ballonfahrten des späten 18. Jahrhunderts seinen Ausgang genommen hatte: die technische Befreiung der menschlichen Wahrnehmung, die erst einen neuen, rational-aufgeklärten Blick auf die Welt ermöglichen und diesen zugleich symbolisch befestigen sollte. Doch schon Nadar – wenngleich dieser noch nicht wirklich vertikal, sondern eher halbschräg von oben nach unten photographierte – stieß dabei auf das Problem, dass die neue, plansichtige Wahrnehmung zugleich 6 Scheurer 1987: 55. 7 Asendorf 1997: 34. 8 Vertov 1923, Repr. 1979: 33f. Hervorhebung im Original. 275
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das Wahrgenommene in die Abstraktion überführte, und vermerkte in seiner Autobiographie, dass sich dem sämtliche Höhenunterschiede nivellierenden Blick von oben alles zur Landkarte wandele: »Die Welt wird zur Fläche.«9 Auch der Gang in die Serialisierung (und damit in die Quasi-Animation) der Einzelbildphotographien konnte diese Begleiterscheinung nicht wirklich beheben: »Diese Art der Erfassung des Raumes schuf ein Interpretationsproblem. Dem ungeübten Auge zeigten die unendlichen Bildserien nur abstrakte Linienmuster.«10 Doch stellte dies auf der einen Seite zwar ein Problem für die konkrete Identifikation des dergestalt Wahrgenommenen dar, so ging andererseits von diesem kühlabstrahierenden, quasi-kartographischen Bild der Welt eine ungeheure Faszination aus, die nicht zuletzt für die Kunstpraxen der Moderne entscheidenden Inspirationscharakter gewinnen sollte, wie Christoph Asendorf materialreich nachgewiesen hat.11 Gerade der abstrakte Charakter der Photo- und Filmaufnahmen aus dem Flugzeug wurde in Analogiebildung zu einem anderen filmischen Ausdrucksmittel als »Raumraffer«12 verstanden und gefeiert, der ein der Moderne adäquates – nämlich dynamisches und wissenschaftliches – Bild der Welt zu liefern imstande sei, das neue Einsichten in den tieferen Zusammenhang der Dinge versprach. Vor dem hier skizzierten Hintergrund besehen, setzte das oben beschriebene Wahrnehmungsproblem in der Betrachtung der Kriegsruinen mittels des »airplane eye« die bekannte Nivellierung des Wahrgenommenen durch die Vertikalperspektive scheinbar nur fort. Jedoch ist die Ausgangslage natürlich eine radikal andere – eine, die sich dann auch keiner utopischen Überformung mehr fügen konnte: der vorherige Abstraktionsgrad war doch einer gewesen, der als reines Perspektiven- und damit Wahrnehmungsproblem figurierte und mit entsprechender Sachkenntnis wieder in die faktische Konkretheit der Blickobjekte rückübersetzt werden konnte. Der Kamerablick aus den Flugzeugen der Alliierten jedoch wurde von dem ›verstörenden‹ Bewusstsein begleitet, dass die sich nunmehr dem (Kamera-)Auge anbietende Abstraktion mitnichten ein pures Wahrnehmungsphänomen darstellte, sondern dass hier tatsächlich die ›Welt zur Fläche‹ geworden, lies: gebombt worden war. Das technisch-rationale Antlitz der Moderne zeigte im Medium des Trümmerbildes nunmehr endgültig seinen fratzenhaften Zug, die kühle Abstraktion der Fläche hatte sich zum kalten Abbild eines durch und durch technisierten Vernichtungskriegs gewandelt. Hatte zuvor eben der Kamerablick von oben als symbolische Form eines irreversiblen ›Aus9 10 11 12
Asendorf 1997: 35. Ibid.: 36. Ibid.: 35-48. Ibid.: 45. 276
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gangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ gegolten, hatte sich dereinst der vertikale Blick voller Stolz auf die kulturellen Errungenschaften Europas, deren ganzer Reichtum und Glanz sich aus der Vogelperspektive recht eigentlich erst erschloss, gerichtet, so fiel dieses ganze Konnotationsspektrum des »airplane eye« bei der Betrachtung der verwüsteten Städte nach 1945 gleich mit in den Schutt. Der orbitale Blick, jenes Instrument des aufgeklärt-technischen Zeitalters par excellence, richtet sich nunmehr auf die makabren Früchte jener ›Dialektik der Aufklärung‹, kann nur noch registrieren, dass »die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei vers[unken ist]«.13 Aus der hehren archimedischen Perspektive der Aufklärung war der profane, technisch-instrumentelle Blick der Luft-Aufklärung geworden, der moralisch reinigende Blick von oben14 hatte sich längst in den transmoralischen und zweckrationalen Blick der Bomberpiloten verwandelt, denen die durch sie herbeigeführte Verwüstung der Städte nur noch als surreales Schauspiel erscheinen mochte. Schon lange hatte sich der militärisch-industrielle Komplex des »airplane eye« angenommen, den motorisierten Kameraflug zur kriegsstrategischen Vermessung der Landschaft genutzt und schließlich in der von Paul Virilio konstatierten »Logistik der Wahrnehmung«15 fortgeschrieben, in der die territoriale Zerstörung des Feindeslandes mit dessen visueller Okkupation in eins geht. Die Allianz von Flugzeug, Kamera und Bombe ist aus Virilios Sicht gleich in mehrfacher Hinsicht unverzichtbar für die moderne Kriegsführung: Sie dient zum einen der Steigerung von Geschwindigkeit, Effizienz und Reichweite von Kommunikation und Logistik im Kampfgeschehen selbst; sie bewerkstelligt in der paradigmatischen Koppelung von Geschütz und Kamera eine quasi doppelte Eroberung des feindlichen Territoriums durch Einschüsse und strategisch verwertbare Bildaufzeichnungen; und sie stellt die notwendige Anschaulichkeit und Aufklärung des Feindgebietes überhaupt erst her, wobei vor allem im Zusammenspiel von Filmkamera und Flugzeug die genannten Mesalliancen kulminieren. Krieg ist für Virilio somit die Kontrolle und gewaltsame Aneignung bzw. Herstellung von Wahrnehmungsfeldern und das von ihm propagierte Wechselspiel der genannten Entitäten ist dabei ein äußerst vielschichtiges: Durch den Einsatz vielfältiger Fahrzeuge wird die Zerstörungskraft der Waffen potenziert, bzw. werden neue Waffensysteme überhaupt 13 Horkheimer/Adorno 1971: 1. 14 So avanciert etwa in Jean Pauls literarischem Kunstgriff in Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch (1800) die entrückte Ballonfahrerperspektive zum Erkenntnismittel gegen die Gräuel des Krieges. Vgl.: Jean Paul 1975: v.a. 110ff. 15 Vgl. Virilio 1986. 277
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erst möglich gemacht; die Waffen ihrerseits stiften optische Sensationen in Gestalt von zerbombten Landschaften, Atomblitzen, Leuchtgarben oder Flakfeuer; die Vehikel reißen die Limitierungen des unbewaffneten Auges nicht minder nieder als die optischen Instrumente, indem sie vollständig neue Perspektiven auf die Welt ermöglichen oder deren äußere Erscheinungsform durch das Tempo der Fahrt oder des Fluges zerstückeln; die optischen Medien wiederum werden zu Waffen in Form von Aufklärungssatelliten, Zielfernrohren, Radargeräten, Infrarot-Kameras und der ganzen Bandbreite extremer Makro- und Mikrophotographie etc. – und sie dokumentieren, wie an den hier zu verhandelnden Luftaufnahmen unzweideutig erkennbar, im nachhinein das ganze Ausmaß der Zerstörung.16 Doch letztlich manifestieren sich in der logistischen Operationalisierung des »airplane eye« nur die übergeordneten Dynamiken einer entfesselten militärisch-industriellen Zurichtung moderner Handlungsfelder, sodass in den Flugbildern der Trümmerfelder des Zweiten Weltkriegs zugleich der Fluchtpunkt einer Vernichtungslogik aufscheint, die in der »Herausbildung der Strategie des Luftkriegs in ihrer ungeheurer Komplexität, [der] Professionalisierung der Bomberbesatzungen in ›geschulte Beamte des Luftkriegs‹«17 ein pervertiertes logisches Kalkül, eine nie dagewesene Anhäufung von »Intelligenz, Kapital und Arbeitskraft in die Planung der Zerstörung«18 offenbart. Auch davon erzählt – gewollt oder ungewollt – der Kamerablick aus dem Flugzeug, auch hieraus resultiert sein ›verstörendes‹ Potential, auch deswegen wollen sich die dergestalt gesichteten Fragmente zu keiner ideellen Ganzheit mehr fügen lassen, weil nämlich der letzte große Ganzheitlichkeitsentwurf der Ideengeschichte – der knapp zweihundertjährige Aufklärungsprozess – in und vor diesen Bildern buchstäblich und unwiderruflich atomisiert worden war. Nun sind Ruinen und Fragmente fraglos immer schon Instrumente und Symbolfelder des Geschichtsskeptizismus gewesen, zeugen Ruinen doch von verlorener Größe (vestigia), wird in ihnen doch der »Zerfall eines repräsentativen Emblems der geglaubten Weltordnung«19 sinnfällig und das architektonische Relikt somit überhaupt erst zum orbis pictus. Tatsächlich wird im »Vergangenheitscharakter der Ruine«20 ein idealer Modus für Reflexionen über Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des menschlichen Tuns eröffnet, jedoch muss andererseits die konjunkturelle Aufwertung der Ruine zum Geschichtszeichen als historisch determinierter, daher bedingter Reflex auf jeweils vorgängige Heils- und Zu16 17 18 19 20
Zur Einführung in und zur Kritik an Virilio vgl. Kirchmann 1998. Sebald 1999: 77. Ibid. Raulet 1996: 187. Vgl. auch Böhme 1989. Simmel 1993: 129. 278
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kunftsgewissheit verstanden werden. Erst und allein der nachfolgende »Ausfall aller Eschatologie«21 allegorisiert die Ruine und weist ihr den Status als »gebrochenes Zeichen der Totalität«22 – oder umgekehrt: als Zeichen gebrochener Totalität – zu; erst das historische Scheitern kollektiver Utopien lässt den Geschichtsphilosophen Geschichte nunmehr »als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls«23 imaginieren. Doch eignet, wie Valentine Cunningham überzeugend dargelegt hat, dem tradierten Blick auf die Ruine aller melancholischen und geschichtsfatalistischen Überformung zum Trotze immer noch ein sinnstiftendes, oft sogar ästhetisierendes Moment an: Traditionell steht die Ruine für die Macht allmählicher Metamorphose. Kanonen mögen die alten Mauern in Zeiten der Belagerung zwar zunächst zerstört haben, aber der Verlauf der Zeit hat diese Arbeit verwischt, erodiert und vervollständigt und ihm eine Patina von Verfall und Moder gegeben, sodass man schwer sagen kann, welche Teile in böser Absicht in die Luft gesprengt oder abgerissen wurden und welche von selbst in Würde gealtert sind. Bei der traditionellen Ruine stellt sich im Lauf der Zeit eine enorme Bedeutungssteigerung und -verdichtung ein. Solche Ruinen besitzen, aufgeladen mit der erzählerischen Kraft der langsamen Zerstörung durch die Zeit, majestätische Würde. Sie erzählen von der Unausweichlichkeit der letzten Dinge, aber mit einer sanften Ruhe. […] In Ruinen kann man auf angenehme Weise unausweichliche Wahrheiten über die Sterblichkeit und sogar Befriedigung darüber aufnehmen.24
Es sind also gerade die Wirkungszeichen von Prozessualität an der Ruine, die Spuren eines langsamen Verfalls, die sie überhaupt erst der geschichtsphilosophischen, und damit ja notwendig an Zeitlichkeitsverläufen orientierten Betrachtung zum geeigneten Objekt werden lässt. Auch diese Deutungstradition jedoch prallt an den Kriegsruinen von 1945 vehement ab, auch diese Semantisierung erfährt im Bild der Trümmerwüsten ihre radikale Nichtung, denn hierin wird doch jegliche Prozessualität, jegliche Verfallsgeschichte negiert zugunsten der ins Extrem getriebenen Instantaneität der Zerstörung, wie sie im Atomblitz von Hiroshima ihren schrecklichsten und zugleich sinnfälligsten Ausdruck gefunden hat: Den Ruinen jedoch, die durch Bomben entstanden, fehlten gerade diese anziehenden Zeichen des Verfalls. Zerbombte Orte verhalten sich zur romantischen 21 22 23 24
Benjamin 1974: 259. Bolz 1996: 9. Benjamin 1974: 353. Cunningham 2002: 108f. 279
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Ruine wie das überraschende Ableben in der Notaufnahme zum ehrwürdigen Totenbett ›reifen‹ Alters. […] Wenn der langsame Verfall von Gebäuden angemessener Verfall ist, so wie allmähliches Sterben angemessenes Sterben ist, so ist diese schnelle Zerstörung, dieses Hervorbringen vorzeitiger Ruinen, unschicklich und obszön – Zerstörung außerhalb der angemessenen Zeit.25
Die Konsequenzen der hier dargelegten Auflösungen tradierter Semantiken sind, was die Frage nach den möglichen künstlerischen Verarbeitungen dieser neuen Art von Ruinen angeht, ausgesprochen weitreichend: Wenn, wie gezeigt, im (filmischen) Bild der Kriegsruine zentrale Deutungsfolien der abendländischen Ideengeschichte ihre totale Negation erfahren, wenn sich hierauf nicht einmal mehr der melancholische Blick des Geschichtsskeptikers alter Prägung projizieren lässt, ja, wenn vor diesem finalen Abbild technischer Destruktionskraft binnen Sekundenbruchteilen, wie von Cunningham angedeutet, selbst die ›erzählerische Kraft‹ an ihre Grenzen stößt, so scheint die fiktionale (Wieder-)Anverwandlung dieser Trümmerfelder von vornherein ein vom Scheitern bedrohtes Unterfangen darzustellen. Wenn das Fragment im Bild der Kriegsruine seine definitive Radikalisierung gefunden zu haben scheint, wie soll hieraus noch Erzählen – sei es in literaler, sei es in filmischer Form – überhaupt gewonnen werden können? Kann man in, aus und über derartige(n) Orten der Zerstörung tatsächlich Filme mit Spielhandlung drehen, und wenn ja wie? Das Problem potenziert sich weiter, wo und wenn mit der Darstellung der Ruinen moralische Fragen nach Kriegsschuld und Opferstatus einhergehen, also Fragen nach der grundsätzlichen Darstellbarkeit von Kriegsruinen in Artefakten mit dem spezifischen moralischen Dilemma der kriegsverantwortlichen Täternationen – allen voran Deutschland, Italien, Japan – zusammenfielen, die nun ihrerseits zu Bewohnern von Ruinenfeldern geworden waren.26 Wie sollte nun gerade aus der Perspektive der vom Bombenkrieg heimgesuchten Täternationen ein ästhetisch gestalteter Blick auf die zu Trümmerwüsten degenerierten Stätten dieser vormaligen Kulturnationen noch aussehen können und dürfen? Welchen Blick könnte entsprechend der sogenannte ›deutsche
25 Ibid. 26 Vgl. zu diesem komplexen Problemfeld von Verdrängung, Schuldfrage und Darstellbarkeit der eigenen Situation als späten Opfern des Luftkrieges die umstrittene Abhandlung von Jörg Friedrich (Friedrich 2002) sowie zu den Auswirkungen dieses Dilemmas auf die (bundes)deutsche Nachkriegsliteratur und -kultur das schon zitierte Werk von Sebald (Sebald 1999), die Gegenrede von Volker Hage (Hage 2003) sowie Assmann/Frevert 1999. 280
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Trümmerfilm‹27 dem prägenden Vertikalblick auf diese Ruinenfelder und dessen zuvor entwickelten Implikationen denn noch entgegenstellen? Zu den narrativen Topoi, zur problematischen Ideologie sowie zu den Produktionsbedingungen des Trümmerfilms existiert eine breite, in den letzten zehn Jahren noch einmal beachtlich angewachsene Forschungsliteratur,28 sodass es hier mit dem reinen Verweis auf den entsprechenden Forschungsstand getan sein soll. Am Trümmerfilm interessiert mich hier, anknüpfend an entsprechende Vorüberlegungen anderenorts,29 letztlich nicht die Debatte um seine Erzählmuster, seine ideologischen Implikationen oder seine strukturellen Unterkomplexitäten, sondern ausschließlich der Teilaspekt seiner inhärenten filmischen Wahrnehmungsorganisation beim Blick auf die Ruinenlandschaft Nachkriegsdeutschlands – und die Frage, wie diese sich gegebenenfalls zu dem zuvor entwickelten vertikalen Blick auf die zerstörten Städte positioniert. Die Antwort hierauf ist in gewisser Weise verblüffend einfach: der fiktionale deutsche Film unmittelbar nach 1945, so und wo er denn die Trümmerlandschaften als Setting wählt, stellt Erzähl- und Abbildbarkeit der urbanen Rudimente wieder her, indem er konsequent auf die Perspektive des »airplane eye« verzichtet und sich stattdessen an einer Rehabilitierung des horizontalen Blicks versucht. Der – fraglos auch durch die Produktionsauflagen der alliierten Besatzungsmächte erzwungene30 – Verzicht auf die Überblicks- und die Rückkehr zur Bodenperspektive generieren überhaupt erst wieder ›Handlungsräume‹, auch wenn sich diese von jenen der Vorkriegskinematographie naturgemäß fundamental unterscheiden. An die Stelle des »airplane eye« rückt in den zentralen Trümmerfilmen zwischen 1946 und 194931 der unstet umherschweifende Blick 27 Die nachstehenden Ausführungen konzentrieren sich auf den deutschen Trümmerfilm, wenngleich identische Tendenzen beim italienischen Neorealismus zu beobachten sind. Eine entsprechende Vergleichsstudie zum japanischen Film nach 1945 steht meines Wissens immer noch aus. 28 Vgl. zur Definition und zur zumeist eher negativen Darstellung des deutschen Trümmerfilms: Becker/Schöll 1995; Bessen 1989; Greffrath 1995 sowie Kreimeier 1973. 29 Vgl. Kirchmann 2002. 30 Vgl. Clemens 1994. 31 Hierzu zählen: Die Mörder sind unter uns (Regie: Wolfgang Staudte), der erste deutsche Nachkriegsspielfilm überhaupt, 1946 ebenso unter sowjetischer Lizenz hergestellt wie der im gleichen Jahr erschienene Irgendwo in Berlin (Regie: Gerhard Lamprecht), Zwischen Gestern und Morgen (Regie: Harald Braun) und Und über uns der Himmel (Regie: Josef von Baky), beide 1947 unter amerikanischer Lizenz entstanden, die filmische Adaption von Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, die Wolfgang Liebeneiner unter den Titel Liebe ’47 1948/49 mit britischer Lizenz drehte, sowie Berliner Ballade (Regie: Robert A. Stemmle), 1948 mit britisch-amerikanisch-französischer Lizenz produziert, seinerseits bereits eine Parodie auf die vorgängigen Trüm281
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des Fußgängers, sodass auch auf dieser Ebene die fatal gewordene Verbindung von Vehikel und Kamerablick außer Kraft gesetzt wird. Es sind die Blickregister der Betroffenen und Beteiligten, die der aus den Trümmern langsam wieder Hervorkriechenden, der ungläubig um sich schauenden Heimkehrer, der sich in den Ruinen wieder einnistenden Überlebenden, die nunmehr gegen den ›Fremdblick‹ der Bombenwerfer,32 gegen den abstrahierend-maschinellen (und darin eben inhumanen) Blick der Aufklärungsflüge gesetzt werden. Die avantgardistische Emphase für das ›neue‹, dem Potential des menschlichen Auges überlegene Sehen der Kamera-Maschine wird hier durch die konsequente Rückbindung des Kamerablicks an die subjektiven Wahrnehmungsbedingungen und -begrenzungen der Akteure abgelöst und ausgesetzt. So entsteht ein in jeder Hinsicht dystopischer Blick, der sich von den vorgängigen ästhetischen, ideengeschichtlichen wie technizistischen Semantisierungen und Hypostasierungen des abstrakt-rationalen Sehens nachdrücklich abzusetzen und als gleichsam ›post-ideologisch‹ markiertes Blickparadigma einer ReAnthropomorphisierung des Sehens zuzuarbeiten sucht. Der prototypische Träger dieses horizontalen Blicks ist der Kriegsheimkehrer, um den herum die meisten Trümmerfilme zentriert sind – ein durch die Kriegserlebnisse zutiefst traumatisierter und/oder den veränderten Lebensbedingungen der Heimat nicht gewachsener Protagonist, der eine Phase tiefster Depression durchläuft und sich allen Anforderungen nach sozialer Reintegration widersetzt, bis er schließlich – meistens durch die selbstlose Liebe einer Frau geheilt – doch wieder zur tätigen Teilnahme an den anstehenden Wiederaufbauarbeiten findet.33 Liest man diese Filme jedoch entlang ihrer intradiegetischen Bewegungssignaturen, so stößt man rasch auf Momente, die diesem simplen teleologischen Zuschnitt zuwiderlaufen. Tatsächlich artikuliert sich der dystopische Charakter des Trümmerfilms als eine Krise der Bewegung und der Aktion, wie er sich in einer ganzen Reihe von verzögerten, abgebrochenen oder scheiternden Bewegungen seines Figurenarsenals zeigt. Gerade der Motorik der Kriegsheimkehrer haftet etwas Idiosynkratisches an, wenn sie nicht gar im Zustand völliger Paralyse gezeigt werden:
merfilme, an der sich die Stileme dieses ›Genres‹ gerade deswegen besonders gut studieren lassen. 32 Diese Bezeichnungswahl ›fremder‹ und ›betroffener‹ Blick ist wohlgemerkt lediglich auf die Perspektivierung des jeweiligen Blicks gemünzt und soll keinerlei ethische und/oder politische Implikationen mit sich führen! 33 Auf eine ausführlichere Paraphrase der Referenzfilme ist hier verzichtet worden. Entsprechende Synopsen finden sich aber z.B. bei Bessen 1989, ausführliche Detailanalysen der Filmhandlungen v.a. bei Greffrath 1995. 282
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Die männlichen Heimkehrer wirken […] oft wie gelähmt. Ihre Bewegungen sind langsam, schlurfend, nicht selten stehen sie mit hängenden Armen in der Szenerie. Worte reichen als Anstoß für das Einschwenken der Männerfiguren in einen aktiven, in die Zukunft gerichteten Kurs zumeist nicht aus. Auch zeigen die Filme fast nie aktive und eigenständige Orientierungsprozesse.34
Der Paralyse vorgeschaltet sind jedoch die angesprochenen ziellosen, abgebrochenen oder vergeblichen Bewegungsversuche, die ideal mit der zerstörten und letztlich entleerten Topographie der Trümmerlabyrinthe korrespondieren. Der Trümmerfilm ist daher auch immer eine Reflexion über eine Krise des Raumes und der Raumbezüge. Wo es überhaupt noch intakte Innenräume gibt, so bleiben sie den Protagonisten oft verschlossen, sind von Fremden besetzt oder völlig unbewohnbar geworden. Diese Erfahrung einer ihr Ziel verfehlenden Bewegung hin zu den ehemaligen Schutz- und Besitzräumen führt letztlich zur völligen Absage an die Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit der Bewegung schlechthin. Wo es keinen fixen topographischen Bezugspunkt der Bewegung mehr gibt, wo die angestrebte Heimkehr wortwörtlich ins Leere läuft, verliert auch der motorisch-teleologische Imperativ von Aufbruch und Fortbewegung jedwede Relevanz. Damit gliedert sich der Trümmerfilm ein in jene spezifische europäische Filmmoderne, die Gilles Deleuze vor allem in den Filmen des Neorealismus eingelöst sieht, und die er als unmittelbaren Reflex auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs versteht: dieser Film nach 1945 zeichnet sich dadurch aus, dass ihm der Glaube an die zustandsverändernde Kraft menschlichen Handelns, wie er noch den klassischen Film auszeichnete, abhanden gekommen ist und daher »an die Stelle der Aktion oder der sensomotorischen Situation die Fahrt, das Herumstreifen […] und das ständige Hin und Her« getreten ist, die moderne Wanderung »zur urbanen Wanderung geworden [ist] und […] jede aktivistische oder affektive Struktur, die es vorher trug, die es anleitete und ihm […] Richtungen gab, abgelegt« hat.35 Aus der gerichteten Bewegung hin zu einem teleologisch aufgeladenen Ort ist ein Mäandern ohne jede Finalität geworden. Die Bewegungen der Figur und der Raum, den sie durchquert, treten auseinander, keine Handlung kann mehr auf ihren situativen Kontext ein- und rückwirken, was bis zur völligen Handlungsunfähigkeit der Figuren führen kann. Die motorische Krise, die der moderne Film nach 1945 ausstellt, ist also untrennbar verbunden mit der Etablierung neuer Figuren- und neuer Raumtypen. Das ziellose Mäandern ereignet sich nunmehr in einem Setting, das seine vorgängige Geschlossenheit verloren hat und von Deleuze als »beliebiger Raum« ohne 34 Greffrath 1995: 294. 35 Deleuze 1989: 278. 283
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Orientierungsfunktion, als »entdifferenziertes städtisches Gewebe«36 beschrieben wird – eine wahrlich treffende Beschreibung der Steinwüsten des Trümmerfilms, die eben keinen Raum mehr lassen für melancholisch-fatalistische Ästhetisierungen von Vergänglichkeit, wie sie vor der klassischen Ruine noch möglich war. All dies sind zugleich unabdingbare Voraussetzungen für die Reetablierung des horizontalen Blicks, denn die Bewegungskrise der Protagonisten in einem ›entdifferenzierten‹, weil ausgebombten Stadtraum führt zur Aufwertung dessen, was Deleuze die »reine optische und akustische Situation« nennt: »Wir haben es nunmehr mit einem Kino des Sehenden und nicht mehr mit einem Kino der Aktion zu tun.«37 Exakt dieser Neuhierarchisierung von Motorischem und Perzeptivem unterwirft der Trümmerfilm seine Figuren und hier v.a. seine Heimkehrerfigur. Sie wandern durch die zerstörte Stadt und sind gezwungen, sich den ›reinen optischen und akustischen Situationen‹ der Trümmerlandschaft zu überantworten. Unfähig auf dieses Milieu noch irgendwie gestaltend einzuwirken, bleibt ihnen nur noch die Option des Sehens. Sehr häufig eröffnen die Filme mit derartigen Bildfolgen, etwa beim Gang von Rott (Zwischen Gestern und Morgen), Otto Normalverbraucher (Berliner Ballade) oder Mertens (Die Mörder sind unter uns) durch die zerbombten Großstädte. Überdeutlich rücken die jeweiligen Inszenierungen die Auslieferung der Figuren an die optischen Sensationen der Ruinenstädte in den Mittelpunkt: Großaufnahmen zeigen die weit geöffneten Augen, das Umherschweifen des Blicks, das haltlose Gleiten von einem Wahrnehmungsobjekt zum nächsten. Hiermit korrespondiert die zentrifugale Motorik, deren mäandernde Ausrichtungen weitaus eher von der nächsten optischen Situation denn von einer vorgängigen Zielsetzung bestimmt werden. In Irgendwo in Berlin wird dabei die Figur des heimkehrenden Vaters parallelisiert mit der eines noch weitaus gravierender traumatisierten Ex-Soldaten, der nur noch stocksteif vor dem Fenster der mütterlichen Wohnung stehen und hinaussehen kann: eine, wenngleich makabre, so dennoch absolut paradigmatische Verkörperung des Sehenden im Deleuzeschen Sinne, die von den Kommentaren der besorgten Mutter (»Er steht den ganzen Tag nur am Fenster und sieht hinaus.«; »Was machst Du denn da? Da draußen gibt es doch nichts zu sehen.«) zusätzlich akzentuiert wird. Diese extreme Ausformung der Figur überzeichnet indes nur das basale Prinzip.
36 Ibid.: 284. 37 Deleuze 1991: 13. 284
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Komplexer, aber vielleicht noch eindrücklicher ist die Motivgestaltung in Und über uns der Himmel, wo es gleich zwei Heimkehrer gibt. Während der Vater Hans Richter schließlich die Ärmel hochkrempelt und rasch auf dem Schwarzmarkt Karriere macht, bleibt es dem erst später heimkehrenden Sohn Werner überlassen, die Rolle des Traumatisierten auszufüllen. Im Krieg vorübergehend erblindet, imaginiert Werner auf der Fahrt zur notwendigen Operation Bilder des Berliner Vorkriegszustandes, während die ihn Begleitenden sich den realen optischen Situationen der Gegenwart gegenüber sehen. Signifikanterweise drosselt der Film während dieser Fahrt sein Inszenierungstempo merklich, verwendet kaum noch Dialoge und überlässt sich in zunehmenden Maße nahezu semi-dokumentarisch den visuellen Eindrücken der Trümmerlandschaft. Nicht nur die Figur, das ganze Filmbild entleert sich hier jeder Handlungspotenz und überantwortet sich seinerseits der reinen Präsentation optischer Situationen. Und über uns der Himmel ist in dieser Hinsicht vielleicht sogar der profilierteste Trümmerfilm, greift er das nämliche Prinzip doch auch in einer zweiten langen Sequenz noch einmal auf, die den Gang des Sohnes durch die Stadt nach erfolgreicher Augenoperation zeigt. Der fassungslose Werner wird nunmehr mit der Realität des zerstörten Berlins, der Trümmeropfer, der Versehrten und Hungernden, also mit dem krassen Gegenbild zu seinen vormaligen Imaginationen konfrontiert. Somit gerät auch diese Figur (unvorbereitet) in eine Situation, die »sie dasjenige sehen und verstehen lässt, was nicht mehr von einer Antwort oder Handlung abhängt. Kaum zur Reaktion fähig, registriert sie nur noch.«38 Die Bewegungs-, Handlungs- und Raumkrise des Trümmerfilms korrespondiert also mit der oben angesprochenen Re-Anthropomorphisierung der Wahrnehmung: Mit der Aufwertung des horizontalen Blicks zum einzig verbleibenden Modus von (wenn auch krisenhafter) Weltwahrnehmung schlechthin mutieren zugleich der Blick aus Augenhöhe, Standort- und Körpergebundenheit, Erdverhaftetheit und relative Immobilität letztlich wieder zu positiven Kategorien. So treten in der filmischen Wahrnehmungsorganisation der Kriegsruinen zwei Blickregister nebeneinander: der dokumentarische Blick des »airplane eye«, der zugleich den Endpunkt einer ehedem utopisch aufgeladenen Perspektive markiert, und der fiktionale Blick des Kriegsheimkehrers, dessen strikte Rückkehr zur Horizontalität bereits die Konsequenzen aus dieser Wahrnehmungs- und Sinnkrise zu ziehen versucht. Diesem Blickregister ist denn auch die Negativerfahrung des vertikalen Kamerablicks als Kontrastfolie immer schon eingeschrieben, ihm eignet ihm Gegensatz zum »airplane eye« keine rationale, wissenschaftliche oder distanzierende Po38 Ibid. 285
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tenz mehr an: es ist der durch die Kamera simulierte Blick eines ›postideologischen‹, eines seinerseits ›verstörten‹, nicht mehr handlungsfähigen Subjekts, das im wahrsten Sinne des Wortes keinen ›Überblick‹ über die Geschichtsverläufe mehr hat, weil diese ihm nur noch in Form von ›absolut entorteten‹ Trümmerlandschaften gegenübertreten.
Filme Die Mörder sind unter uns (Wolfgang Staudte, Deutschland 1946) Irgendwo in Berlin (Gerhard Lamprecht, Deutschland 1946) Zwischen Gestern und Morgen (Harald Braun, Deutschland 1947) Und über uns der Himmel (Josef von Baky, Deutschland 1947) Liebe ’47 (Wolfgang Liebeneiner, Deutschland 1948/49) Berliner Ballade (Robert A. Stemmle, Deutschland 1948)
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BLICKE AUF TRÜMMER
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»FILMEN, WAS VORHER UND WAS NACHHER KOMMT…«. ERINNERUNG IN ROBERTO ROSSELLINIS »GERMANIA ANNO ZERO« DOMINIK SCHREY Durch den Kollektivcharakter ihrer Produktion und die Art ihrer Rezeption bedingt, liefern Filme einer vielzitierten These Siegfried Kracauers zufolge immer »Schlüssel zu verborgenen geistigen Prozessen«1 einer Nation, selbst wenn das Ziel der Filmemacher lediglich die Unterhaltung des Publikums ist. Germania anno zero (1947) von Roberto Rossellini wurde jedoch ganz bewusst genau zu diesem Zweck produziert: die Mentalität einer Nation – Deutschlands – zu einem gewissen Zeitpunkt – dem Jahr bzw. der Stunde Null – zu reflektieren, nicht unbeabsichtigt und in einer Form, die erst der Aufdeckung bedarf, wie bei Kracauer beschrieben,2 sondern offen und unmittelbar. Mit Germania anno zero versuchte Rossellini eine Art Momentaufnahme der deutschen Gesellschaft filmisch festzuhalten und zu vermitteln. Zu diesem Zweck reiste er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in das zerstörte Berlin, dessen Trümmer- und Ruinenlandschaften eine zentrale Rolle in dem Film spielen. Germania anno zero soll – zumindest in dieser Hinsicht noch ganz dem Stil des italienischen Neorealismus entsprechend – als Dokument seiner Zeit verstanden werden. Die eigentliche Spielfilmhandlung tritt dabei hinter diesem Anspruch zurück, sie dient in erster Linie der Verdichtung der Atmosphäre der deutschen Nachkriegszeit. Besonders an der vergleichsweise simplen Handlung entzündete sich die Kritik, vor allem in Deutschland, wo der Film erst dreißig Jahre nach seinem Entstehen das erste Mal öffentlich aufgeführt werden konnte, aber auch in Italien, wo Rossellini zunehmend in Ungnade fiel, während er in Frankreich in André Bazin einen einflussreichen Bewunderer fand. Dass dieser Film so sehr polarisieren konnte und in Deutschland zunächst fast ausschließlich auf Ablehnung stieß, liegt nicht zuletzt daran, dass der Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft von ›außen‹, d.h. 1 2
Kracauer 1984: 13. Ibid.: 11. 289
DOMINIK SCHREY
aus dem Ausland, erfolgt. An dem langsamen Wandel in der Rezeption von Germania anno zero lässt sich einiges über den Umgang der Deutschen mit der Erinnerung an das Dritte Reich, den Krieg und vor allem die Zeit danach ablesen. Das primäre Interesse dieses Beitrags gilt weniger historischen Fragestellungen als vielmehr Aspekten der Erinnerung und des Gedächtnisses in Rossellinis Film, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene: Wie wird Erinnerung thematisiert und welchen Stellenwert nimmt sie ein? Was wird erinnert und von wem? Ist der Blick in die Vergangenheit nostalgisch verklärend oder versucht er Kontinuitäten aufzudecken? Wie wird dieses Erinnern filmisch umgesetzt und welche Absicht wird dabei verfolgt? In welchem Verhältnis stehen Vergangenheit, Gegenwart (und Zukunft) im Film zueinander und wie subjektiv sind die Erinnerungen? Die Theorie des sozialen Gedächtnisses nach Maurice Halbwachs und deren aktuelle Rezeption bilden die theoretische Grundlage für diese Analyse, werden aber um spezifisch filmische Diskurse – vor allem die Überlegungen von Gilles Deleuze zum ›Zeit-Bild‹ – erweitert, da der Spielfilm als Medium der Erinnerung in vielerlei Hinsicht eine Sonderrolle einnimmt.
Das kollektive Gedächtnis nach Maurice Halbwachs Obwohl es sich bei den Termini ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ um häufig verwendete Begriffe des Alltagslebens handelt, sind sie in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen durchaus nicht verbindlich und einheitlich definiert: je nach Perspektive – etwa psychologisch, philosophisch, historiographisch oder neurologisch – rücken unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund und bestimmen andere Metaphern die Beschreibung der komplexen und schwer erforschbaren Vorgänge des Erinnerns. Verschiedene Unterscheidungen, wie etwa die in Langzeitund Arbeitsgedächtnis oder die weitere Unterteilung des Langzeitgedächtnisses in semantisches und episodisches Gedächtnis, erschweren zusätzlich die Arbeit mit den Begriffen. In der von Aristoteles geprägten Begriffstradition wird Erinnerung verstanden als »psychologisches Vermögen des Gedächtnisses, Vorstellungen in einem zeitlichen Zusammenhang zu behalten«.3 Darauf basiert auch die weit verbreitete Auffassung, das Gedächtnis sei ein gleichsam virtueller Ort, an dem die verschiedenen persönlichen Erinnerungen ›ge3 Günther 2002: 79. 290
»FILMEN, WAS VORHER UND WAS NACHHER KOMMT…«
speichert‹ seien und von wo aus sie auch wieder ›abgerufen‹ werden könnten. Heute gelten solche Gedächtnismodelle in der Wissenschaft weitgehend als widerlegt; das Gedächtnis an einem bestimmten Ort im Gehirn genau zu lokalisieren ist bisher nicht gelungen. Plausibler erscheinen solche Modelle, die »Gedächtnistätigkeit nicht als Aufbewahrungs-, sondern als Konstruktionsarbeit konzeptualisieren«.4 Maurice Halbwachs beschäftigte sich in seinem umfassenden Werk ausführlich mit der »Frage, wie das kollektive auf das individuelle Bewußtsein wirkt«.5 Die Antwort, die er in seinem 1925 erschienenen Buch Les cadres sociaux de la mémoire gibt, bricht radikal mit den traditionellen Erinnerungsmodellen: »Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.«6 Marcel und Mucchielli fassen Halbwachs’ zentrale These folgendermaßen zusammen: »Wir erinnern uns nur, weil unsere Umgebung uns dazu anregt und dabei unterstützt – ohne ein kollektives Gedächtnis wären wir unfähig uns zu erinnern.«7 Das Gedächtnis eines Individuums konstituiert sich nach Halbwachs durch die gesellschaftlichen Gruppen, denen es angehört. Es »entsteht durch Gemeinschaft und es lässt Gemeinschaft entstehen.«8 Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang von »Gedächtnisgemeinschaften«, deren Gruppenidentität geprägt ist durch den Imperativ, bestimmte Ereignisse unter keinen Umständen zu vergessen.9 Nach Halbwachs rekonstruieren Erinnerungen ein Bild von der Vergangenheit, das immer bestimmt wird durch die gegenwärtige Situation des Erinnernden. Da sich diese Gegenwart jedoch naturgemäß stetig ändert, »verändern sich auch die Perspektiven, unter denen Vergangenes in den Blickpunkt gerät, so daß die Repräsentation der Vergangenheit im Gedächtnis […] einer ständigen Modifikation bzw. ›Umschrift‹ […] unterliegt.«10 In dieser Hinsicht gibt es Berührungspunkte der Gedächtnistheorie von Halbwachs mit Sigmund Freuds bekannter Metapher vom Zensor in jedem Einzelnen, der dafür sorgt, dass die eigene Biographie im Geiste immer wieder den aktuellen Gegebenheiten angepasst wird.11
4 5 6 7 8 9 10 11
Ibid.: 378. Marcel/Mucchielli 2003: 195. Halbwachs 1966: 121. Marcel/Mucchielli 2003: 198. Assmann/Assmann 1994: 118. Assmann 1997: 30. Scherer 2001: 53. Vgl. Burke 1993: 300. 291
DOMINIK SCHREY
Assmann weist jedoch darauf hin, dass Halbwachs’ Konzeption des kollektiven Gedächtnisses keineswegs als Metapher zu verstehen sei: »Zwar ›haben‹ Kollektive kein Gedächtnis, aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder. Erinnerungen auch persönlichster Art entstehen nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen.«12 Ändern sich die sozialen Bezugsrahmen, die eine bestimmte Erinnerung bedingen, dann verändert sich auch die Erinnerung; fällt der Bezugsrahmen ganz weg, dann gerät das Erinnerte in Vergessenheit, sofern es nicht in einen neuen Kontext eingebettet werden kann: »Nur das […] bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.«13 Doch das kollektive Gedächtnis ist nicht nur abhängig von der Gruppenzugehörigkeit, sondern auch von Faktoren der Zeit und vor allem des Raumes: Die Beziehung zwischen geographischen und sozialen Orten und Erinnerung nimmt einen hohen Stellenwert in der Theorie des kollektiven Gedächtnisses ein. Demnach benötigt das soziale Gedächtnis Orte, mit denen bestimmte Erinnerungen verbunden werden; diese Verbindung kann jedoch auf Konventionen beruhen, d.h. es muss sich bei einem Erinnerungsort nicht zwingend um den tatsächlichen Ort eines erinnerten Ereignisses handeln.14 Jan und Aleida Assmann, die Ende der 1980er Jahre die Theorien von Halbwachs für die Forschung wiederentdeckt und wesentlich weiterentwickelt haben, unterteilen den Begriff des kollektiven Gedächtnisses weiter in die Unterkategorien ›kommunikatives‹ und ›kulturelles‹ Gedächtnis,15 um begrifflichen Unschärfen, die sie Halbwachs attestieren, zu begegnen und die Rolle der Medien, die bei Halbwachs so gut wie gar nicht besprochen wird, in den theoretischen Entwurf mit einzubeziehen. Ihre Überlegungen zur Medialität der Erinnerung beschränken sich allerdings vor allem auf die Schrift und lassen sich nicht problemlos auf das Medium Film übertragen. Deshalb seien an dieser Stelle nur die hier relevanten Ergänzungen zu Halbwachs kurz vorgestellt. Das kommunikative Gedächtnis ist an seine Träger, die Zeitzeugen, gebunden und vergeht mit deren Tod, da es aus den Geschichtserfahrungen einzelner Individuen besteht. Es umfasst immer eine Zeitspanne von drei bis vier Generationen bzw. etwa achtzig Jahren. Die Nutzbarmachung dieses kommunikativen (Kurzzeit-)Gedächtnisses für die Historiographie ist das Anliegen der ›Oral History‹, einer Richtung innerhalb der Geschichtswissenschaft, die vor allem in den letzten Jahren immer 12 13 14 15
Assmann 1997: 36. Halbwachs 1966: 390. Marcel/Mucchielli 2003: 223. Assmann/Assmann 1994: 119ff. 292
»FILMEN, WAS VORHER UND WAS NACHHER KOMMT…«
mehr an Bedeutung gewinnt, da bald »jene Generation ausgestorben sein [wird], für die Hitlers Judenverfolgung und -vernichtung Gegenstand persönlich traumatischer Erfahrung ist.«16 Um über diesen Zeitraum hinaus erinnert zu werden, muss eine Erinnerung in das kulturelle (Langzeit-)Gedächtnis übertragen werden, das bis in die ›absolute‹ Vergangenheit einer mythischen Urgeschichte17 reicht, dafür jedoch auf spezialisierte Träger oder Medien angewiesen ist. Durch die Möglichkeiten externer Speichermedien werden mehr Erinnerungen im kulturellen Gedächtnis konserviert, als aktualisiert werden können, was dazu führt, dass »die Dimensionen des Gedächtnisses […] in Vordergrund und Hintergrund, in die Bereiche des Bewohnten und des Unbewohnten, des Aktualisierten und des Latenten«18 auseinanderfallen. Jan und Aleida Assmann bezeichnen das ›unbewohnte‹ Gedächtnis als Speichergedächtnis und das ›bewohnte‹ als Funktionsgedächtnis, diese Unterscheidung gilt sowohl für das Individuum als auch für das Kollektiv.
Erinnerung und Gedächtnis in Film und Filmtheorie Am offensichtlichsten ist Erinnerung im Film als individuelle bzw. subjektive Erinnerung einer Filmfigur oder eines Erzählers, das gängigste filmische Verfahren dafür ist die Rückblende, über die Deleuze schreibt: »im allgemeinen kündigt sie sich durch eine Überblendung an, und die von ihr eingeführten Bilder sind oft überbelichtet oder gerastert, als seien sie mit dem Hinweis versehen: ›Achtung, Erinnerung!‹«19 In zahlreichen Filmen werden Erinnerung und Gedächtnis jedoch zum zentralen Element der Handlung und einige der wichtigsten Werke der Filmgeschichte können als ›Erinnerungsfilme‹, d.h. als Filme über Erinnerung, bezeichnet werden: Orson Welles’ Citizen Kane (1941), der in keinem Filmkanon unerwähnt bleibt, besteht beispielsweise fast ausschließlich aus Rückblenden, in denen das Leben des bereits verstorbenen Protagonisten aus unterschiedlichen Perspektiven rekonstruiert wird. In Ingmar Bergmans Smultronstället (1957, dt.: Wilde Erdbeeren) betrachtet der Protagonist seine eigenen Erinnerungen wie einen Film, in den er sogar selbst eintritt. Akira Kurosawas Rashômon (1950, dt.: Das Lustwäldchen) kann als Illustration für Halbwachs’ These der Abhängigkeit individueller Erinnerung von ihren sozialen Bezugsrahmen interpre16 17 18 19
Ibid.: 120. Assmann 1997: 56. Assmann/Assmann 1994: 122. Deleuze 1997: 69. 293
DOMINIK SCHREY
tiert werden: die unterschiedlichen Versionen der Erinnerung reflektieren jeweils die Zugehörigkeit des Erinnernden zu seiner sozialen Gruppe. Diese Liste der Erinnerungsfilme ließe sich nahezu beliebig fortsetzen und natürlich auch um aktuelle Beispiele ergänzen. Auch eines der beständigsten Genres der Filmgeschichte, der Historienfilm, hat prinzipiell immer Erinnerungen zum Gegenstand, nach Deleuze steht »bereits der historische Charakter dieser Filme für das Gedächtnis«.20 Im weitesten Sinn zählen zum Genre des Historienfilms alle Filme, deren Handlung in einer vergangenen Zeit angelegt ist, was dem Zuschauer vor allem durch entsprechende Kostüme, Kulissen und ähnliche Vergangenheitsinidizes vermittelt wird. Einer engeren Definition zufolge werden unter dem Begriff jedoch nur solche Filme subsumiert, in denen »Vergangenheit vergegenwärtigt wird«21, etwa dadurch, dass die handelnden Figuren historische Gestalten verkörpern, an historisch überlieferten Geschehnissen teilhaben oder zumindest vor dem Hintergrund solcher handeln. Genau wie auch das Gedächtnis – und die Historiographie, wie bei Burke beschrieben22 – können diese Filme jedoch nie ein tatsächlich authentisches Bild der Vergangenheit präsentieren, da es sich auch bei ihnen immer lediglich um Rekonstruktionen handelt, die meist mehr Aufschluss über die Zeit ihrer Entstehung als über die geschilderte Epoche selbst geben können,23 wie Rainer Rother feststellt, der allerdings nicht darauf hinweist, dass auch die Zeit der Rezeption und ihre sozialen Bezugsrahmen durchaus die Interpretation beeinflussen. Dasselbe gilt auch für den Dokumentarfilm; dieser kann genauso wenig »wie der Spielfilm Vergangenes präsentieren, allenfalls kann er Aufnahmen aus der Vergangenheit zitieren.«24 Eine Sonderrolle innerhalb dieser Typologie nehmen Filme über die Gegenwart ein, denn sie werden sozusagen in der retrospektiven Rezeption zu Historienfilmen. Der größte Unterschied besteht daher zwischen solchen »Filmen, die als Geschichtsdarstellungen aufgefaßt und solchen, die als Zeugnisse verstanden werden.«25 Allerdings ist nicht jeder Film über die Gegenwart automatisch ein Zeugnis und nicht jeder Historienfilm eine Geschichtsdarstellung. Es zeigt sich also, dass zumindest zwei Typen von Erinnerung im Film unterschieden werden können, wobei Überschneidungen möglich sind: die Erinnerung als Element der Erzählung und die Erinnerung des
20 21 22 23 24 25
Deleuze 1997: 75. Rother 1997: 148. Burke 1993: 290ff. Vgl. Rother 1997: 149. Rother 1991: 13. Ibid.: 11, Hervorhebungen im Original. 294
»FILMEN, WAS VORHER UND WAS NACHHER KOMMT…«
Rezipienten, die der Film aktualisieren oder evozieren kann, wobei letztere weiter zu unterteilen ist in Erinnerung an ein bestimmtes im Film – implizit oder explizit – verhandeltes Ereignis und das, was als assoziative Erinnerung bezeichnet werden könnte und daher nur begrenzt lenkbar ist. In diesen beiden Fällen ist die Art und Weise der Erinnerung abhängig von den sozialen Bezugsrahmen des Zuschauers und nicht von denen der Filmfiguren oder – auf einer Metaebene – der Filmemacher. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Erinnerung und Film beschränkt sich momentan noch in erster Linie auf Analysen einzelner ›Erinnerungsfilme‹ wie der weiter oben genannten, in denen filmische Verfahren zur Visualisierung von Erinnerungen entwickelt oder zumindest verdichtet werden, und auf die Untersuchung von filmischen Geschichtsdarstellungen, meistens aus der Perspektive des Historikers, der die Genauigkeit der Rekonstruktion wissenschaftlich überprüft. Sowohl die Untersuchung der Rolle von Erinnerung im Zeugnisfilm als auch die Nutzbarmachung der Erinnerungstheorie nach Halbwachs für die Filmanalyse spielen erst in jüngster Zeit eine, wenn auch kleine, Rolle in filmwissenschaftlichen Diskursen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist vor allem die Dissertation von Christina Scherer, die für ihre Untersuchung über die ›Erinnerung im Essayfilm‹26 ausführlich auf die Thesen von Halbwachs eingeht. Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses findet sich zwar auch in zahlreichen anderen filmwissenschaftlichen Publikationen wieder, allerdings nur in wenigen Fällen unter expliziter Bezugnahme auf Halbwachs oder seine Rezipienten. Die Folge ist eine Unschärfe des Begriffs, die Jay Winter in einer Kritik an einer amerikanischen Aufsatzsammlung folgendermaßen beschreibt: In different ways, the aim of these essays is to relate film to an inchoate yet dynamic category roughly termed ›collective memory‹. Perhaps this term is intended to follow Maurice Halbwachs’ original usage; perhaps not. The term is simply used without interrogation. Since we are never told precisely what this category is, it is difficult to see how it might relate to other adjacent notions used in these articles: ›popular memory‹ […], ›authentic memory‹ […], or ›cultural memory‹.27
Ähnlich wird in Heike Klippels Aufsatz Das ›kinematographische‹ Gedächtnis der »Zusammenhang zwischen dem kollektiven, also dem Mediengedächtnis, und den individuellen Gedächtnissen«28 untersucht, wo26 Scherer 2001. 27 Winter 2001: 858. 28 Klippel 1998: 39. 295
DOMINIK SCHREY
bei deutlich wird, dass hier unter kollektivem Gedächtnis etwas anderes zu verstehen ist als bei Halbwachs. Klippels Aufsatz ist eine der wenigen deutschsprachigen Publikationen, die sich dem Thema ›Erinnerung und Film‹ auf einer ausschließlich theoretischen Ebene nähern, doch ihre Schlussfolgerungen scheinen wenig plausibel. Die unbedeutende Rolle, die dem Film in der aktuell geführten Medien-Gedächtnis-Debatte zukommt, führt Klippel zurück auf dessen »seltsame Zwitterstellung«29 zwischen Konservierungs- und Übertragungsmedien: Zweck der Konservierungsmedien sei die Überbrückung zeitlicher Distanz und ihr Modus dementsprechend die Vergangenheit, bei den Übertragungsmedien werde nur räumliche Distanz überwunden, weshalb sie durch den Modus des Präsens gekennzeichnet seien. Mit der Photographie habe der Film zwar gemein, dass er immer nur Vergangenes zeigen kann, allerdings geht es Klippel zufolge beim Film […] weniger um den bewahrenden Verweis auf diesen vergangenen Zeitpunkt, sondern um die Erzeugung eines präsentischen Ablaufs. Insofern kann man den Film auch nicht mit der menschlichen Erinnerung […] vergleichen. Es geht ihm nicht um ein Wiederaufleben des Vergangenen, um dessen Rekonstruktion/ Neu-Erschaffen […] wie dies bei der Erinnerung der Fall ist, sondern, was hier stattfindet, ist ein Paradox, nämlich die Reproduktion eines Präsens, und zwar noch dazu eines, das es in dieser Weise – in der der Film jetzt geschnitten ist und abläuft – nie gegeben hat.30
Aus den oben erarbeiteten Gedächtnisdefinitionen geht bereits hervor, dass Vergangenheit auch durch den Erinnerungsprozess nicht authentisch rekonstruiert werden kann – also im Gegenteil sogar immer in »einer Weise, die es nie gegeben hat«, rekonstruiert wird –, doch Klippel hat sicherlich insofern Recht, als der Film nicht problemlos als Speicher- bzw. Konservierungsmedium aufgefasst werden kann, obwohl er einige entsprechende Eigenschaften mit der Schrift gemein hat, wie Christian Metz ausführlich beschreibt.31 Auch die Aussage, dass Film nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart reproduziert, muss kritisch betrachtet werden. Deleuze geht in diesem Zusammenhang sogar so weit, zu behaupten, dass die Vorstellung, »das kinematographische Bild spiele sich zwangsläufig in der Gegenwart ab«, »für jegliches Kinoverständnis fatal« sei und auf »einer allzu oberflächlichen Reflexion«32 beruhe, denn ihm zufolge 29 30 31 32
Ibid.: 41. Ibid.: 42. Metz 1973: 275ff. Deleuze 1997: 346. 296
»FILMEN, WAS VORHER UND WAS NACHHER KOMMT…«
[…] gibt es keine Gegenwart, die nicht von einer Vergangenheit und einer Zukunft heimgesucht wird: einer Vergangenheit, die sich nicht auf eine frühere Gegenwart reduziert, und einer Zukunft, die nicht aus einer zukünftigen Gegenwart besteht. Die einfache Sukzession affiziert die vorübergehende Gegenwart, aber jede Gegenwart koexistiert mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, ohne die sie selbst gar nicht vorübergehen könnte. Es gehört zum Film, diese Vergangenheit und diese Zukunft zu erfassen […]. Filmen, was vorher und was nachher kommt…33
Ausgehend von Bergsons Überlegungen zum Zusammenhang von Wahrnehmung und Erinnerung und unter Verwendung desselben begrifflichen Instrumentariums entwickelt Deleuze seine Idee von der zeitlichen Verfasstheit des Filmmediums. Ihm zufolge ist im ›Zeit-Bild‹ – dem im modernen Film dominierenden Bildtypus, in dem Bewegung und Narration der Zeit untergeordnet sind – die empirische Form des Zeitablaufs aufgehoben, sodass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig und gleichberechtigt vertreten sind und sich achronologisch verzweigen können.34 Das im Sinne Bergsons ontologisch verstandene Gedächtnis, in das der Film ›eintaucht‹, kann deshalb für Deleuze auch »kein Erinnerungsvermögen mehr« sein, sondern wird beschrieben als eine Membran, »die auf verschiedenste Weisen […] die Schichten der Vergangenheit mit den Schichtungen der Wirklichkeit korrespondieren lässt«.35
»Germania anno zero« (1947) Germania anno zero ist der letzte Teil von Rossellinis sogenannter ›Trilogie des Krieges‹, deren erste beiden Teile – Roma, città aperta (1945) und Paisà (1946) – Rossellinis Ruf als »Chronist der Befreiung« und »Vater des Neorealismus«36 begründet hatten. Diese Bewegung des italienischen Nachkriegsfilms brach mit der Ästhetik sowohl des faschistischen Films als auch des traditionellen Hollywoodkinos und vertrat die Auffassung, Film habe die Aufgabe, »Zeugnis der Gegenwart, eine lebendige Chronik der eigenen Zeit zu sein und die Kluft zum Leben zu überwinden.«37 Auch Rossellini »hat bekannt, daß ihn in diesen Filmen
33 34 35 36 37
Ibid.: 56f. Hervorhebungen im Original. Vgl. Ibid.: 132f. u. 346ff. Ibid.: 267. Buchka 1988: 19f. Schlappner 1958: 79. 297
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das ›chorische Element‹ interessiert habe. Objekt ist für ihn der ›kollektive Vorgang‹, die Welt.«38 Germania anno zero wird allgemein zwar dem Neorealismus zugeordnet, bricht aber bereits mit einigen ›Regeln‹ der Bewegung, was Rossellini vor allem von der italienischen Kritik als Verrat an den Idealen des Neorealismus ausgelegt wurde. Besonders die Handlung wurde von den Kritikern als zu literarisch und konstruiert wahrgenommen,39 aber auch der Stil des Films wurde als unrealistisch und expressionistisch angegriffen. Tatsächlich hat Germania anno zero eine sehr klare und lineare Erzählstruktur und wirkt deshalb weniger dokumentarisch als etwa sein Vorgängerfilm Paisà. Untypisch ist auch die offenkundige Symbolik des Films,40 die in manchen Szenen an den filmischen Expressionismus erinnernde Ausleuchtung der Handlungsorte sowie das sich insbesondere in den vielen Nahaufnahmen des Kindergesichtes41 zeigende Interesse des Films für psychologische Prozesse – die meisten neorealistischen Filme zeigen ihre Protagonisten vor allem in Totalen oder Halbtotalen, um sie in ihr räumlich-soziales Umfeld zu integrieren, »anstatt sie durch Nahund Großaufnahmen zu individualisieren und zu psychologisieren.«42 Auf der Ebene der Erzählhandlung scheinen Erinnerungen in Germania anno zero zunächst überhaupt keine Rolle zu spielen, der Film verzichtet gänzlich auf Rückblenden oder andere filmische Verfahren, um Erinnerungen an den vergangenen Krieg zu visualisieren. Auch in den Dialogen zwischen den Figuren der Handlung wird nur selten über Vergangenes gesprochen. Es wird von Handlungsbeginn an deutlich gemacht, dass die gezeigten Menschen andere, dringlichere Sorgen haben, als sich Gedanken über die eigene bzw. die deutsche Vergangenheit zu machen. Der tägliche Überlebenskampf nimmt so viel Raum im Leben der dargestellten Personen ein, dass sie gar keine Gelegenheit haben zurückzuschauen. Im englischen Presseheft zu Germania anno zero schreibt Rossellini über seine Erfahrungen beim Dreh in Berlin: During the shooting in the streets of Berlin I was struck by the indifference of the people. In New York, London, in Paris, or Rome, a motion picture camera and a filming crew are an irresistible magnet for the citizenry. The people of Berlin, it seemed to me, were interested only in one thing: to eat and survive. This, I believe,
38 Kurowski 1972: 84. 39 So etwa bei Gregor/Patalas 1976: 276. 40 Allerdings gibt es auch andere neorealistische Filme, die ihre Geschichten mit solch deutlicher Symbolik erzählen, etwa Sciuscià (1946) von Vittorio de Sica. 41 Zur Rolle des Kindergesichtes in Germania anno zero vgl. Bazin 2004: 243ff. 42 Rother 1997: 211. 298
»FILMEN, WAS VORHER UND WAS NACHHER KOMMT…«
is the fruit of a defeat unparalleled in history which has annihilated the conscience of an entire people.43
Drei der handlungstragenden Figuren erlauben sich im Film einen Blick auf eine – zum Teil nostalgisch verklärte – Vergangenheit: Karl-Heinz, der ältere Bruder des Protagonisten Edmund, der ehemalige Lehrer Herr Enning und Edmunds Vater. Karl-Heinz hält sich aus Angst, in Kriegsgefangenschaft zu geraten, in der Wohnung versteckt und fällt auf diese Weise der Familie zur Last, ohne selbst einen Beitrag zur Verbesserung der Ernährungssituation zu leisten. Er sieht diese Passivität durch die von ihm erlittenen Mühen des Krieges, an die er seine Schwester erinnert, legitimiert. Deutlicher wird der Erinnerungsprozess allerdings bei Edmunds ehemaligem Lehrer dargestellt, der als dekadenter und sexuell pervertierter Altnazi beschrieben wird.44 Auch er entzieht sich dem Überlebenskampf, allerdings mit ungleich größerem Erfolg – er wohnt im unzerstörten Teil einer Jugendstilvilla, deren große sonnendurchflutete Räume mit den hohen Decken erst den klaustrophobischen Charakter der erzwungenen Wohngemeinschaft, in der die Köhlers wohnen, richtig zur Geltung bringen. Enning hat sich krankschreiben lassen, um in Ruhe seinen Schwarzmarktgeschäften nachgehen zu können, wie aus einem kurzen Gespräch, das er mit einem Gesinnungsgenossen führt, hervorgeht. Darin, dass gerade der Lehrer, der Edmund »in der Ideologie Nietzsches geschult hat«45, Krankheit simuliert, um sich eine bessere Ausgangsposition im Überlebenskampf zu sichern, versucht Rossellini, die gesamte Korrumpiertheit des sozialdarwinistischen Weltbilds des nationalsozialistischen Systems auszudrücken – und dessen Fortbestehen auch nach der deutschen Kapitulation aufzuzeigen. Auch der Vater, der tatsächlich krank und deshalb arbeitsunfähig ist, beschäftigt sich mit der Vergangenheit und bereut seine Fehler und seine Passivität während des Dritten Reichs. Erinnerung wird also als Luxus dargestellt, den sich nur leisten kann, wer die Zeit dafür aufbringen kann, d.h. nur wer nicht schon damit ausgelastet ist, für das eigene Überleben sorgen zu müssen.
43 Zit. n. Gallagher 1998: 241. 44 In dieser Darstellung der Nazis als Homosexuelle oder sogar Pädophile – eine zu dieser Zeit nicht unübliche Methode der Diffamierung des politischen Gegners, die sich so ähnlich bereits in Roma, città aperta findet – liegt die größte Schwäche des Films: indem »über den Umweg des Sexuellen der Faschismus als das schlechthin Böse dämonisiert und mystifiziert wird, wird ihm […] seine gesellschaftliche Bedingtheit genommen.« Vowe 1996: 72. 45 Gregor/Patalas 1976: 276. 299
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Ein Interesse für die Vergangenheit bringt außer diesen drei Figuren nur noch eine Gruppe britischer Besatzungssoldaten auf, die dabei gezeigt wird, wie sie die Ruinen der ehemaligen Reichskanzlei besichtigt und sich an der Stelle photographieren lässt, an der die Leichen von Hitler und Eva Braun verbrannt wurden. Diesen Soldaten spielt der kleine Edmund mit einem tragbaren Grammophon im Auftrag Ennings eine auf Schallplatte aufgezeichnete Rede Hitlers vor, um sie ihnen zu verkaufen. Was folgt, ist eine »phantasmagorische Szene«46, in der Rossellini noch einmal von den »zerschossenen Wänden […] gespenstisch die Stimme des ›Führers‹ widerhallen läßt.«47 Während dieser Ansprache Hitlers, in der vom ›Endsieg‹ und dem ›Aufrichten der Nation‹ die Rede ist, schwenkt die Kamera über die Trümmer der zerbombten Hauptstadt, sodass der deutliche Eindruck von Ursache und Wirkung beim Zuschauer entsteht. Rossellini verschränkt in dieser Szene eindrücklich zwei Zeitebenen miteinander,48 Vergangenheit und Gegenwart sind gleichzeitig präsent und offenbaren ihren Zusammenhang. Ein Mann und ein kleines Kind laufen durch die Ruinen und hören die bekannte Stimme, zögern kurz, gehen dann aber ohne sichtbare Reaktion weiter – »auf den Gesichtern von Deutschen im Jahre Null gibt es keine Zeichen, die Gesichter bleiben stumm und stumpf; wir wissen nicht, was in den Menschen vorgeht.«49 Auch hier wird wieder deutlich, dass die aktuelle Situation die unmittelbare Vergangenheit bereits in weite Ferne hat rücken lassen. Nach Brunette symbolisieren der Vater und das Kind in dieser Einstellung eindeutig Deutschlands Vergangenheit und Zukunft50, wodurch zu den zwei Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit noch eine dritte – Zukunft – käme, ganz im Sinne des Zeit-Bildes nach Deleuze: »Filmen, was vorher und was nachher kommt…«51 Rossellini findet mit dieser medialen Wiederbelebung Hitlers zudem eine ausdrucksstarke Metapher für die Kernaussage seines Films: Der Geist des ›Führers‹, die nationalsozialistische Ideologie, lebt als Phantom in der deutschen Gesellschaft weiter. Jean-Luc Godard zeigte deshalb auf einem Filmseminar in Montreal 1978 Germania anno zero in einer Reihe unter anderem mit Dracula (1930) von Tod Browning, mit der Argumentation, »Berlin sei Draculas Grabmal, […] es würde nicht stören, wenn in einer Einstellung mitten in den Trümmern plötzlich Bela Lugosi
46 47 48 49 50 51
Brunette 1987: 80. Meder 1998: o.S. Ibid. Vowe 2005: 87. Brunette 1987: 81. Deleuze 1997: 57. Hervorhebungen im Original. 300
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[…] auftauchte.«52 Dieses Weiterleben der NS-Ideologie über ihren eigentlichen Tod hinaus wird besonders deutlich vor allem in Edmunds Vatermord, der das Euthanasieprogramm des Dritten Reichs fortsetzt. So wird der kleine Edmund unschuldig schuldig, seine Entscheidung, den Vater zu vergiften, stellt Rossellini als »überaus nachvollziehbaren Schritt«53 dar: »keinem anderen Film, der die Nachkriegszeit thematisiert, ist es gelungen, den Gedanken ins Bild zu setzen, dass große Monster kleine produzieren.«54 Interessant an der Reichskanzlei-Szene ist auch die sichtbare Verräumlichung von Erinnerung. Rossellini kannte Berlin nicht und »suchte folglich Orte auf, zu denen es auch den Touristen gezogen hätte«55, er lässt die Stimme Hitlers also nicht einfach über den Ruinen des zerstörten Berlins ertönen, sondern genau in der Reichskanzlei, wo Hitler nur kurz zuvor – der Film spielt Ende 1945 – noch tatsächlich lebte. Die Erinnerung an die Rhetorik Hitlers wird im sozialen Gedächtnis – außerhalb Deutschlands wahrscheinlich noch in weitaus größerem Ausmaß als hier – an das räumliche Bild eines bestimmten Ortes, der Reichskanzlei, gebunden. Doch nicht nur hierin lässt sich die Verbindung von Erinnerung und Raum nachweisen, noch deutlicher und den gesamten Film bestimmend drückt sie sich in den allgegenwärtigen Ruinen aus: The picture that Rossellini tries to give us is that of a world destroyed, whose shattered monuments are no more than the ruins of a culture swept away by an infernal ambition. […] In this film it would seem inappropriate to speak of landscape, at least in the traditional sense, since everything takes place in Berlin. However, ›landscape‹ seems paradoxically the most apt term here: the war and the catastrophe of ideologies have brought the world back to its starting point and have plunged the space that was once a city back into the state of nature.56
Die Ruinen haben in Germania anno zero jedoch nicht nur diese symbolische Dimension, vielmehr sind auch in ihnen Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig präsent, da sie einerseits bereits durch ihr Bestehen die Erinnerung an den Krieg und die Zerstörung aktualisieren und andererseits natürlich immer auch als Spur eines Vergangenen gesehen werden können – sie verweisen somit sowohl auf die Zeit ihrer Zerstörung als auch auf die Zeit davor.
52 53 54 55 56
Vowe 2005: 91. Meder 1995: 223. Vowe 2005: 91. Meder 1998: o.S. Bernardi 2000: 55. 301
DOMINIK SCHREY
Bei Halbwachs ist die Rolle der städtischen Architektur und Infrastruktur und vor allem die Gewöhnung der Menschen an diese Faktoren ein zentrales Thema, besonders ausführlich in seinem posthum erschienenen Werk La mémoire collective in dem er die These vertritt, dass es kein kollektives Gedächtnis gebe, »das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt.«57 Das Aussehen des Wohnraums wandelt sich üblicherweise sehr viel langsamer, als die Menschen bzw. Gruppen, die ihn bewohnen, mit dem Effekt, dass die Bewohner einer Stadt nicht den Eindruck haben, »sich zu verändern, solange das Aussehen der Straßen und Gebäude gleichbleibt.«58 Halbwachs geht so weit, zu behaupten, dass die Mehrzahl der Stadtbewohner »zweifellos das Verschwinden einer bestimmten Straße, eines bestimmten Gebäudes, […] sehr viel stärker empfinden würde als die schwerwiegendsten nationalen, religiösen, politischen Ereignisse.«59 Die Beständigkeit des Lebensumfelds suggeriert der sozialen Gruppe Kontinuierlichkeit; wird das räumliche Umfeld also schneller und tiefgreifender verändert, als die Gruppe selbst sich weiterentwickelt, hat dies weitgehende Konsequenzen für das kollektive Gedächtnis und damit für die Gruppenidentität. Durch die praktisch vollkommene Zerstörung Berlins gerät nicht nur das gesamte soziale Gefüge außer Kontrolle, sondern mit dem verlorenen Lebensumfeld gehen auch damit verbundene Erinnerungen verloren oder verblassen zumindest. Mit dem Neuaufbau verbunden ist daher auch eine Neudeutung der übrig gebliebenen Erinnerungen, worauf in Bezug auf Aspekte der sich im Laufe der Zeit wandelnden Rezeption von Germania anno zero noch einzugehen sein wird. Die Ruinen Berlins, die Rossellini zeigt, sind fast immer menschenleer; im Vorspann, dessen Bilder den Beginn einer klassischen Dokumentation vermuten lassen – ein Eindruck, der von dem Text der begleitenden Voice-Over-Stimme noch verstärkt wird –, sind nur einige Radund Motorradfahrer zu sehen, die die langen, als Plansequenzen aufgenommenen Kamerafahrten durch die Ruinenlandschaft kreuzen. Bernardi stellt anhand der Position der Schatten im Film fest, dass Rossellini die Außenaufnahmen vor allem während der Abenddämmerung gemacht haben muss, wahrscheinlich um den Eindruck der von allem Leben verlassenen Stadt noch zu unterstreichen.60 Die Schauplätze in Germania anno zero fungieren als ›Seelenlandschaften‹, die die Entfremdung Edmunds von sich selbst und seiner Familie und Umwelt widerspiegeln.
57 58 59 60
Halbwachs 1991: 142. Ibid.: 130. Ibid.: 131. Bernardi 2000: 55. 302
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Besonders deutlich wird dies in der letzten Sequenz des Films, Edmunds mehrere Minuten langes und fast dialogloses Umherirren durch die Ruinen des zunehmend entvölkert wirkenden Berlin und sein anschließender Selbstmord. Einzig für diese Sequenz habe er den Film gedreht, sagt Rossellini 1952 in einem Interview, der gesamte Rest des Films habe ihn nicht interessiert.61 Oft wird dieser Schluss des Films als pessimistisch beschrieben, von manchen sogar als nihilistisch – obwohl in der letzten Einstellung, nach Edmunds Sprung in den Tod, eine Passantin zu ihm eilt und sich wortlos neben ihn setzt, in der ewigen Haltung der Pietà«62, wie Bazin schreibt. Durch diese Anspielung auf die Heilsgeschichte bekommt Edmunds Tod eine neue überindividuelle Dimension, sein Selbstmord lässt sich so als Opfer deuten, als konsequente Abkehr von den alten Idealen: The insert of the church and organ and, climactically, the sight of his fathers funeral from high-up in the cave-like abandoned building trigger Edmund’s sense of guilt, a desire to join his father, a wish to be pure. In so doing he destroys his Nazi heritage and, escaping history, creates the year zero from which a new beginning may be made.63
Zu dieser Interpretation passt auch die Entwicklung, die Edmunds Bruder Karl-Heinz parallel durchmacht: Während Edmund den falschen Schluss aus der Situation zieht und den Vater vergiftet, akzeptiert der ältere Bruder endlich seine Verantwortung, stellt sich den Alliierten und wird dafür mit Straffreiheit belohnt. Edmund, der, gemessen an seinem Alter und seiner Lebenssituation, nur eingeschränkt als schuldig bezeichnet werden kann und nicht mit einer nationalsozialistischen Vergangenheit belastet ist, nimmt mit seinem Freitod sozusagen die Schuld der gesamten Nation auf sich und sühnt sie. Hingegen wird seinem älteren Bruder, der als Soldat an dem Krieg beteiligt war und auch danach zunächst nicht fähig ist, mit der Vergangenheit abzuschließen, Amnestie gewährt, sodass er noch einmal neu, sozusagen ›von Null‹, beginnen kann. In diesem Positionswechsel der beiden Brüder drückt sich außerdem die Ambivalenz dieses Jahres Null aus, dessen Stimmung Rossellini in seinem Film einfangen möchte: Bruch mit der Vergangenheit und Kontinuität existieren nebeneinander, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Rossellini, der sich selbst ausführlich zu vielen seiner Filme äußerte, will die Schlussszene »positiv verstanden wissen als das natürliche Wiedererwachen von morali-
61 Forgacs 2000: 152. 62 Bazin 2004: 245. 63 Gallagher 1998: 249. 303
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schem Bewußtsein und Sieg über Indoktrination.«64 In einem Interview sagt er 1967 über das Ende von Germania anno zero: »There is a real light of hope. […] He [Edmund] abandons himself to this great sleep which is death, and from there is born the new way of life, the new way of seeing, the accent of hope and faith in the future, in the future and in people.«65 Gründe für diese zunehmend christliche Symbolik und die Zuwendung zu Themen wie Tod und Schuld liegen sicherlich auch in Rossellinis eigener Biographie. Sie dort zu suchen ist insofern legitim, als Rossellini selbst einen solchen biographischen Zugang zu seinen Filmen nahe legt: »Jeder meiner Filme ist mehr als ein Film. Mein Berufsleben hing immer eng mit meinem Privatleben zusammen. Beides geht Hand in Hand. Jeder Film, den ich mache, drückt meine Probleme, Sorgen und Begeisterungen im jeweiligen Augenblick aus.«66 Im Sommer 1946 stirbt Rossellinis neunjähriger Sohn Romano unerwartet an einem Blinddarmdurchbruch.67 Dem Andenken dieses Sohnes ist Germania anno zero gewidmet, angeblich wurde der kleine Edmund Meschke für die Hauptrolle des Films wegen seiner großen Ähnlichkeit zu Rossellinis verstorbenem Sohn ausgesucht. Dass der Film symbolischer als seine Vorgängerfilme und düsterer im Ton wurde als ursprünglich geplant – eigentlich war der Selbstmord Edmunds nicht vorgesehen –, wird oft diesem Schicksalsschlag in Rossellinis Leben zugeschrieben: »Germany’s fate has melded into Romano’s, Roberto’s personal agony has melded with Germany’s in a struggle of light and darkness.«68 Germania anno zero gerät für Rossellini so zu einem Akt persönlicher Trauer- und Erinnerungsarbeit, was die Diskrepanzen zwischen der von Rossellini beabsichtigten Lesart des Schlusses und der Rezeption dieser Szenen erklären könnte. Denn vor allem in Deutschland tat die frühe Kritik sich schwer, einen positiven Aspekt in Edmunds Tod zu entdecken. Hier stießen zunächst allerdings alle drei Teile von Rossellinis Kriegstrilogie auf strikte Ablehnung, während international vor allem die ersten beiden Teile sehr erfolgreich waren, besonders in Frankreich, wo auch Germania anno zero positiv aufgenommen und Rossellini zum Vorbild für die späteren Regisseure der Nouvelle Vague wurde. In Deutschland konnte Roma, città aperta erst 1960 und nur mit erklärendem Textvorspann und wesentlichen Veränderungen an den Dialo64 65 66 67
Grafe 2004: 420. Zit. n. Gallagher 1998: 250. Buchka 1988: 131. Das Alter des Sohnes wird in verschiedenen Quellen unterschiedlich angegeben, variierend zwischen sechs und zehn Jahren, auch bei der Angabe der Todesursache und des -ortes gibt es Unterschiede. Die hier verwendeten Informationen stammen aus Gallagher 1998, 207-212. 68 Ibid.: 246. 304
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gen öffentlich aufgeführt werden, sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche initiierten Proteste gegen die Aufführung von Paisà. Von einer Aufführung in einem Münchner Filmclub 1952 abgesehen, war Germania anno zero in Deutschland erst 1978 das erste Mal öffentlich zu sehen.69 Der Grund dafür waren vor allem die ›deutschfeindlichen Tendenzen‹ der Filme. Rossellini selbst sagte 1954 in einem Interview mit Eric Rohmer und François Truffaut: »Ich glaube nicht, dass man Schlimmeres über einen Film sagen kann, als was man über Germania anno zero gesagt hat.«70 So schreibt der als amerikanischer Besatzungsoffizier nach Deutschland zurückgekehrte Hans Habe in einer Rezension über Germania anno zero, die am 28.09.1949 in der Süddeutschen Zeitung gedruckt wird: »Rossellini pflückt in diesem Film nicht Blumen von dem Grab einer Nation, […] er erbricht sich in den Sarg.«71 In einer anderen Rezension aus dem Jahr 1952 ist zu lesen: Wenn auch viele der gezeigten Phänomene der Wahrheit entsprechen, an die wir uns noch gut erinnern, ist das Gesamtbild durch die eingeflochtene Spielhandlung so weit verschoben, daß dieser Film keine getreue Reportage mehr ist. Diese Jahre waren nicht nur ein Triumph der Skrupellosigkeit und des Egoismus, sondern auch Bewährung hilfsbereiter, treuer Menschlichkeit. […] Man hat den Eindruck, daß hier nicht nur die Darstellung, sondern auch die Regie Laienarbeit ist. 72
Erst vor ungefähr zehn Jahren wurde der Film auch in Deutschland wiederentdeckt, 1995 schreibt Thomas Meder noch im Metzler Filmlexikon, Germania anno zero sei »bis heute […] hierzulande nicht recht rezipiert«73, drei Jahre später erscheint unter dem Titel »Die Neuerfindung des Kinos fand 1947 statt«74 vom selben Autor ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er die Bedeutung von Rossellinis Film neu bewertet. Als einer von fünfunddreißig Filmen wird Germania anno zero 2003 schließlich in den Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen und damit einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Meder schreibt 1998 in seinem Artikel, dass Rossellini in Deutschland verwehrt blieb, was ihm »in seinem Heimatland in großartiger Manier gelungen war – das Publikum zum Nachdenken und zur Identifika-
69 70 71 72 73 74
Gallagher 1998: 245. Zit. n. Gansera 1987: 61. Zit. n. Meder 1995: 223. o.N. [Ro.] 1952: o.S. Meder 1995: 223. Meder 1998: o.S. 305
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tion mit der eigenen Geschichte zu bringen.«75 Dass der Film dies aktuell, über fünfzig Jahre nach seinem Entstehen, nun scheinbar doch bewirkt und er plötzlich als wichtiges Dokument der Zeit unmittelbar nach dem Krieg angesehen wird, muss also Gründe haben, die nicht nur im Film selbst gefunden werden können, sondern vor allem in den veränderten Rezeptionsbedingungen zu suchen sind. 1947, zum Zeitpunkt des Erscheinens, sind die erinnerten Ereignisse zwar noch sehr jung, doch die deutsche Gesellschaft als Erinnerungsgemeinschaft, die es sich zur Pflicht gemacht hat, das Dritte Reich und seine Verbrechen nicht zu vergessen, existierte zu diesem Zeitpunkt so noch nicht. Wie Halbwachs schreibt, bleibt von der Vergangenheit nur das im kollektiven Gedächtnis bestehen, »was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.«76 Nach dem Krieg veränderten sich diese Bezugsrahmen radikal, nicht nur durch die bereits angesprochene Zerstörung des gewohnten sozialen Raums. Der Wiederaufbau steht im Mittelpunkt des sozialen Lebens, die Erinnerung an die Gründe für die Zerstörung – bei Rossellini eindeutig die korrumpierende Idee bzw. Ideologie – wird als kontraproduktiv wahrgenommen, vor allem, wenn sie von außen kommt, gerade von einem Italiener, der »›im Jahre Null‹ noch allerhand Mühe hatte, den Besatzungsmächten und Italiens tapferen Untergrundkämpfern seine eben erst eingebüßte Begeisterung für den Faschismus zu interpretieren«77, wie Hans Habe in seiner Zeitungskritik schreibt. Der in den Jahren nach Kriegsende weitverbreiteten »Tendenz zur Geschichtsverdrängung kam vermutlich entgegen, wie grob hier übertrieben worden war, um die Erinnerung wachzuhalten.«78 Die Filme, besonders die dokumentarischen, die das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg thematisierten, wurden »vom deutschen Publikum […] mit Indoktrination und dem Umerziehungs-Programm der Alliierten und so mit einer von außen stammenden Geschichtsversion assoziiert«79, wie Thomas Elsaesser feststellt. Die Rezeption des Films, der im Gegensatz zu den deutschen ›Trümmerfilmen‹ dieser Zeit keine sich auf den ersten Blick erschließende positive Botschaft kommuniziert und auch auf den zweiten Blick nicht die Versöhnung mit der dunklen Vergangenheit, sondern vielmehr deren Sühnung propagiert, verändert sich in Deutschland zusammen mit der Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, d.h. mit der Veränderung der sozialen Bezugsrahmen und entspricht damit der These Halbwachs’. 75 76 77 78 79
Ibid. Halbwachs 1966: 390. Zit. n. Meder 1998: o.S. Ibid. Elsaesser 1994: 336. 306
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Fazit und Ausblick Es hat sich gezeigt, dass sich das Konzept des Films nicht auf den Begriff der Momentaufnahme reduzieren lässt, da immer ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ im Bild der Gegenwart präsent ist. Politische und gesellschaftliche Ereignisse der Gegenwart werden kontextualisiert mit Erinnerungen, die sowohl explizit evoziert werden – etwa durch die ›mediale Wiederbelebung‹ Hitlers – als auch implizit in den Bildern ›verschlüsselt‹ sind und auf diese Weise Assoziationen provozieren. Das Ergebnis ist eine Zustandsbeschreibung, die ein Spannungsverhältnis von Kontinuität und Bruch mit der Vergangenheit figuriert und dies mehr oder weniger deutlich an den dargestellten Erinnerungsprozessen festmacht. Germania anno zero lässt sich im Sinne Deleuzes als prototypisches ›ZeitBild‹ deuten, denn Gegenwart koexistiert hier immer mit Vergangenheit und Zukunft und wird sozusagen als deren Gleichzeitigkeit beschrieben. Aus heutiger Sicht sagt der Film darüber hinaus einiges über den zu seiner Entstehungszeit aktuellen Bezugsrahmen aus, innerhalb dessen Vergangenes erinnert wird. Die politischen Implikationen des Umgangs mit kulturellem Gedächtnis lassen sich an dem Filmbeispiel gut nachzeichnen. Eine Erweiterung der Untersuchung unter Einbeziehung weiterer Filme mit ähnlichem Anspruch erscheint viel versprechend, eine sinnvolle Ergänzung könnten hierbei Filme sein, die sich mehr oder weniger explizit auf Rossellinis Vorbild beziehen, wie dies am deutlichsten bei Allemagne année 90 neuf zéro (1991, dt.: Deutschland neu(n) Null) von Jean-Luc Godard der Fall ist. Auch dieser Film ist eine spontane Reaktion auf politische Ereignisse: eigentlich wollte Godard einen Fernsehfilm über die ›Einsamkeit der DDR‹ drehen und hielt sich deswegen gerade in Deutschland auf, als relativ unerwartet die Mauer fiel, so wurde aus seinem Projekt ein Film über die Einsamkeit des wiedervereinten Deutschlands.80 Bereits der Titel mit der doppelten Bedeutung von ›neuf‹ – ›neun‹ und ›neu‹ – enthält eine deutliche Anspielung auf Germania anno zero, der im Verlauf der Filmhandlung – soweit von einer solchen gesprochen werden kann – auch zweimal in kurzen Ausschnitten zitiert wird. In Zeitlupe läuft der kleine Edmund Köhler noch einmal einsam durch das zerstörte Berlin, in der nächsten Einstellung ist die Stadt zwar wieder aufgebaut, doch die Einsamkeit scheint geblieben zu sein: »Die Einsamkeit der Geschichte« lautet der Text eines immer wieder erscheinenden Zwischentitels. Jedes der vielschichtigen Bilder in Allemagne année 90 neuf zéro soll Erinnerungen evozieren, Assoziationen wecken und das Geschichtsbewusstsein des Zuschauers aktivieren. So wird auch jeder Ort der Handlung zum Erinnerungsort, doch verweisen hier nicht mehr Rui80 Theweleit 2003: 10f. 307
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nen auf ihre frühere Form und Funktion, sondern die intakten Gebäude erinnern daran, dass sie auf Ruinen erbaut sind.
Filme Germania anno zero (Roberto Rossellini, Italien 1947) Allemagne année 90 neuf zéro (Jean-Luc Godard, Frankreich 1991)
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SOME ONTOLOGICAL CONSIDERATIONS ON THE DESTRUCTION OF CITIES IN INTERACTIVE MEDIA AND ITS DISCURSIVE REPERCUSSIONS STEFAN WERNING The discussion of war in interactive media, most prominently computerand videogames (CVGs), has already spawned a considerable volume of literature on the topic. However, unlike other media studies discourses, the ›game studies‹ canon currently overlooks the destruction of cities or implications of destroyed cityscapes. While the Anglo-American academic discourse focusing on war and games often comes from the area of media studies,1 cultural studies and military studies,2 the few German interventions into the topic, most notably Hartmut Gieselmann’s Der virtuelle Krieg as well as some earlier studies mentioned in that book, have a rather pedagogical background. This brief initial remark hints at a cultural specificity of the relative scientific approaches considered adequate for the topic; although it is beyond the scope of this article to explore this issue further, sensitivity towards those distinctions is recommended for an introductory text such as this. While presenting a useful source of facts on war games and especially the intertwining of media and war industry, Gieselmann’s Der virtuelle Krieg symptomatically does not offer a sound theoretical framework for assessing a specific yet easily generalized phenomenon such as the destruction of cities in interactive media. Gieselmann bases his distinction between game, reality and simulation on the psychoanalytical ideas of Freud and D. W. Winnicott which focus on playing as a child’s activity.3 Accordingly, games figure as an intermediate stage for children to negotiate the pleasure principle and the reality principle in a separate sphere termed ›third reality‹. I will try to point at some representative deficits of this and other approaches thereby opening a catalogue of complementary concepts, some of which will be elaborated later on in this article. 1 E.g. Jenkins 2003. 2 E.g. Herz/Macedonia 2002. 3 Gieselmann 2002: 11-14. 311
STEFAN WERNING
First, the discursive level of (interactive) media effects is completely left out. Among others, Abhinava Kumar proposed a way of »treating war [in CVGs] as a discourse«4 which partly remedies this deficit. George Lakoff’s linguistic take on the metaphorical level of war and its cognitive functions5 is another useful way which may specifically be applicable to the topic at hand, since virtual as well as real urban spaces fundamentally shape language use. One of the most basic observations to be made here would be the change of semantics used to grapple with urban destruction, shifting away from medical terminology like the »disease«6 towards technological, media-specific imagery. Second, the technological contingencies and the specificity of interactive media are trivialized. An example would be Gieselmann’s attempt to link the ›creative‹ aspect of play derived from Winnicott to CVGs and use the idea of ›omnipotence‹ of the playing child, namely to imbue trivial things with ›magical‹ significance, to explain the popularity of ›modding‹ as a practice of game usage. Third, the thesis that war games provoke a militarization of society, a result of Ralf Streibl’s early project on war and CVGs,7 might hold true but neither specifies this process adequately nor does it allow for a comparative perspective, taking into account remediating effects in interactive media and the complex dynamics of a mixed media landscape. The only concrete effects described are the deployment of demonizing concepts of the enemy and the purely numerical, depersonalized representation of warfare. Streibl also focuses on children as the key target group of digital games, a notion far more prevalent in the late 1990s than today. In this light, a critical investigation of the special case of ›urbicide‹ in the context of interactive media might be useful to attenuate some of these shortcomings. In fact, the destruction of cities and the aesthetics of destroyed cityscapes have always been closely tied to the technologies of contemporary media production. Inversely one could arrive at the (controversial) hypothesis, that the logic of media representation (of destroyed cities) has always been a draft for politico-military decisions. Instances of massive urban destruction, be it »the use of the atom bomb, the firebombing of Tokyo, the conflagration of Dresden [or] the carpet bombing of Hanoi«8, both produce images for strategic deployment through allied media and impose constraints on the presentability in enemy media. The relevance of this idea is exemplified in the case of Dresden, where the images of 4 5 6 7 8
Kumar 2004: 1. Cf. e.g. Lakoff 1991. Graham 2004: 55f. Streibl 1998. Jeffords/Rabinovitz 1994: 303. 312
THE DESTRUCTION OF CITIES IN INTERACTIVE MEDIA
the bombings on British television should present precision bombing rather than wanton destruction as a moral counterweight to the British experience of German conduct during the Blitz, although the overall strategy was the exact opposite, geared towards disheartening the German public.9 Inversely, the German ministry of propaganda inflated the number of victims and proclaimed Dresden a »place of culture and clinics«, a victim of the British »terror bombings«; that is, those selfdescriptions were a direct product of the discourse-shaping power of media representations like pictures taken of destroyed Dresden.10 The interesting questions for the scope of this article now would be whether contingencies of interactive media presentation retroact on current military operations, e.g. which interrelations exist between the omnipresence of ›Close Quarter Battles‹ (CQB) in destroyed cities encountered in contemporary war games and the ›collective imaginary‹ shaping military decision-making. The argument developed in this article consists of four consecutive steps, each branching into several aspects that might justify further investigation. First, I will take up Henry Jenkins’ seminal article of the ›narrative architecture‹ of CVGs as a starting point to reassess the functions of topography in interactive media. The semiotic glance at tools and technology thereby provides a conceptual link between architecture and interactive media production. Consequently, the next step will be to analyse how destructibility is implemented in interactive media as opposed to other media formats and at what levels concepts of urban destruction can and do enter the picture. A third step will be to depart from these contingencies of production to examine the effects which urban topography has on player behavior, player expectations and the players’ interpretation of their ›virtual‹ experiences. The communicative processing of those experiences, again using various ›interactive media‹ such as online forums, will be the object of study in the fourth chapter. Instead of presenting a tentative ›quintessence‹, I will use the closing paragraph to come back to issues like remediation raised in the introduction and broaden the topic by delving into ›peripheral‹ phenomena like the players’ use of game engines and editing tools to produce destroyed cities as game environments, often for games (like Unreal Tournament) which do not explicitly reference a real-world conflict.
9 Taylor 1997: 34. 10 Ibid. 2004: 421. 313
STEFAN WERNING
Narrative Architectures Revisited In his amply quoted article, Jenkins uses architecture as a conceptual role model for bridging the still formative gap between ludologists and narratologists in CVG analysis.11 The debate centered on the question of whether (digital) games should essentially be considered as rule systems or storytelling media products which has implications for the choice of suitable academic tools to approach them. In brief, the former tend more towards the cultural and historical study of games and rule semiotics while the latter attempt to tap literary or film theory for useful ways of coming to terms with the ›new‹ medium. One of Jenkins’s initial arguments holds that ludology often uses a narrow concept of narrative which excludes other, by all means popular, forms of narrative contiguity such as spatial coherence in favor of traditional causal links between narrative events; he thereby provides a first case of overlap between spatial and narrative forms which will be vital for the project of this article, ›environmental storytelling‹. Comparing different media with varying degrees and types of narrative overlay from science fiction literature to theme parks, Jenkins fleshes out his thesis that the ›essence‹ of a media property is often embedded in the spatial setup it uses. However, the concept of ›architecture‹ only appears in the title of the text and is not systematically unfolded. Despite the popularity of the text, the idea of narrative architecture presented within has seldom been effectively applied or differentiated but remained a metaphor rooted in hypertext theory (along with the library metaphor) and Cyberpunk fiction.12 Espen Aarseth e.g. likens CVGs to architecture in his editorial to the first issue of gamestudies.org in the sense that both defy disciplinary boundaries and uses the parallel to argue for a distinct discipline ›game studies‹.13 Speaking of destroyed cityscapes as interactive media environments, it makes sense to start by ›reviving‹ the architectural parallel and have a closer look at the parallels of architecture (or, in this case, software architecture) and CVG production. One level of the parallel is the level of tools and technologies; actually, one could argue that software tools used both for architectural and interactive media production operate in a very similar manner and must be understood as a ›symbolic form‹, to borrow Panofsky’s term originally applied to linear perspective.14 Put differently, the contingencies of 11 12 13 14
Jenkins 2004. E.g. Heuser 2003: 178. Aarseth 2001. Panofsky 1993. 314
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those tools, i.e. the interface and usage patterns of engines and middleware, both shape the spectrum of conceivable (or ›supported‹) output and, just as Renaissance linear perspective, produce perceptual conventions. One further abstraction is necessary to render this idea applicable for interactive media analysis, the understanding of those tools as preformed ways of producing program code. Current tools used both in architectural and game design work processes like Alias Maya and Discreet 3D Studio MAX are entirely scriptable; Maya for instance uses its own scripting language MEL to control its entire graphical user interface (GUI). The description of CVG environments as code thus is both constitutive in the design process and also approximatively revealed to the users/players, e.g. being able to modify the environment by playing with parameters in the game or, much more intensively, by using the tools many games provide to modify/create environments by recombining design elements. In this light, the program code can be understood as the most prominent symbolic form in interactive media as well as an important remediating filter, e.g. pre-structuring the viewing experience of films as will be elaborated in the final chapter. In other words, the symbolic form organizes not only the representation of data just as central perspective organizes visual representation but also »the way we think about [media]«15. What insights, then, does this provide for the study of interactive media environments, i.e. their virtual destruction? First of all, the idea of physical modeling (sculpting), still referenced by some design software functions like the ›extrude polygon‹ tool which mimics techniques of handwork pottery, is being substituted by the idea of environments as code. In her semiotic reading of Alias Maya, Casey Alt states that, in addition, the »financial, technical and social« aspects which influence the development of standardized software tools »become embedded« in the interface of these tools.16 In the case of Maya, Alt argues, the foundational merging of three companies and their proprietary software solutions, Wavefront, Alias and Thomson Digital Image (TDI), under the roof of Silicon Graphics Inc. (SGI) in 1995 provides the necessary backdrop to understand how Maya’s interface and design logic came to pass. The task at hand will be to investigate, how the contingencies of these tools and the design output they produce affect urban environments and their interpretation in digital games. Taking this connection seriously might be a starting point for linking economic rationales, technological constraints, aesthetic conventions and media effects theory to yield accurate and nonbiased insights into this still hotly contested academic phenomenon.
15 Iversen 2005: 193. 16 Alt 2002: 390. 315
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For instance, Alias’s 1985 deal to provide visualization techniques for the Hubble telescope markedly influenced the software design17, only one example of the competition for very diverse markets like the movie industry and scientific purposes between the three companies involved. Examples from film history include the ›pseudopod‹ creature from The Abyss (1989) and the transmogrifying T-1000 from Terminator 2 (1991), both created using spline-based Alias modeling systems, the Alias/2 software in the former and Alias Power Animator in the latter case.18 The design and essentially plot-driving properties (particularly in the case of Terminator 2) of both creatures stem from the desire to capitalize on the cutting-edge spline technology provided by the software. What’s more, the morphing of the T-1000 later became an independent aesthetic convention, both used as a special effect and allegorically, e.g. in films like Species (1995). Casey Alt makes a number of other useful observations which might allow for further research but go beyond the scope of this article. For example, according to Alt, users of Maya usually do not have a complete overview of its complete functionality but »locally navigate through specific parts of it«, guided by a specific goal (e.g. a technical problem).19 In this light, I would argue, the design practice itself very closely resembles ludic activity, especially in digital games, providing game rules, goals and constraints. To take this a step further, the same applies for many scripting languages, e.g. Macromedia Actionscript, used for, particularly independent, game development. One hands-on example might be in order as a transition to the following chapter which broaches the issue of producing destructible cities in CVGs. The MEL scripting language allows for the handling of automated tasks in Maya; since it is ›object-oriented‹, a very important concept which again links the production of environments to the actual engine coding of the game, MEL can produce new objects, primitive shapes or prefabricated parts like columns etc., with dynamic properties and behaviors. Using these functions for the generation of a destroyed city as playspace, Maya can place explosion marks or default objects such as bars, bricks or rubble using a random placement function and apply its internal physics routines to the objects which then ›fall in place‹ to create an authentic-looking scene. Again, the final result which appears as fixed geometry in the game is a quasi-snapshot of an almost ludic simulation process in the design software potentially generating a cornucopia of possible scenes. 17 Alt 2002: 391. 18 Ibid.: 392. 19 Ibid. 397. 316
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Static, Procedural and Virtual Representations of Destruction Let’s take a look at the elements of the actual design processes which are relevant for the topic at hand. From a comparative point of view, every medium develops its own strategies for utilizing destroyed cities; thus, speaking of an ›iconography‹ of destroyed cities in CVGs would require a broader concept of iconography which goes beyond purely static visual aspects. In painting and other early visual forms like e.g. the diorama20 usually static remnants of destroyed cities were portrayed. In fact, dioramas, especially in the sense of a widespread hobby activity as described in Scutts’ World War II Dioramas, are quite illustrative as a tertium comparationis. For instance, Scutts points out how the ruined buildings lend a »structural framework«21 to the scene but are notoriously hard to model because they require a lot of knowledge about the building as it might have looked like before. Schematically speaking, filmic renderings of urban devastation tend to shift towards destruction as a process rather than a result, i.e. the specific elements of the medium cinematography allow but also call for a procedural or kinetic understanding of urban destruction, employing camera panning and movement related to the on-screen movement. To continue this schematic but at least temporarily useful, rather teleological media historical model, interactive media such as CVGs would focus on ›destructibility‹ rather than destruction, which is described by a simultaneously algorithmic and designed system. Of course, this model does not claim universal explanatory value but, when applied critically, can add a regulating, comparative perspective. An interesting theoretical snippet from Paul Virilio’s Bunker Archeology might serve as a starting point for analyzing the sequential logic of the representation of destroyed cities in various media, culminating for the time being in interactive media: the analogy between the structural features of a concrete bunker and the linear argumentative structure of a text.22 Departing from his central assumption of the bunker (or any instance of military topography) as text, Virilio ›translates‹ the destroyed bunker into other metaphors and semantic fields, e.g. theater in his famous dictum of the Atlantic Wall bunkers as a »last theatrical gesture […] of occidental military history«23. Claus Pias takes the idea a step further, term20 An interesting example of an urban WWII diorama can be found in Scutts 2000: 3. 21 Ibid. 22 Pias 1999. 23 Ibid.: 4. 317
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ing the partial destruction of the bunker as an »international style«24, ›designed‹ by »projectiles«, a rather essayistic wording but nonetheless an interesting concept, especially for the context of CVGs. The idea itself is not new but a reformulated version of Marshall McLuhan’s claim, that the capacities of marksmanship and literacy, i.e. shooting a weapon and writing, are historically closely interrelated, a connection suspended by the advent of machine guns and other (semi)automatic weapons.25 The main purpose of this chapter on producing destructible urban environments will be to inquire how urban devastation is technologically implemented, even precipitated, and which ontological implications this process entails. Some recent games have caused quite a stir in public discourse, especially those focusing on the recent military activities in the Gulf like Command & Conquer: Generals (2003), a game predating the invasion of Iraq by a few months and beginning its single-player campaign for the US side with an attack on Baghdad. Although the game’s back story is allegedly fictitious, building on a tripartite power struggle between the USA, China and a mysterious terrorist organization called GLA, the desert scenario, combined with the opportunities for tweaking the game and its environment as indicated above, immediately led to a surge of ›mods‹ substituting the GLA forces for Republican Guard troops and ›rebuilding‹ a virtual, mostly urban Iraq using the iconic inventory (i.e. textures, models, sound files and terrain tiles) provided by the game.26 Urban scenarios in general are a ubiquitous phenomenon in recent war games, already a symptom of the design contingencies imposed by technological developments: the artificial intelligence (AI) routines necessary for urban tactics or close-quarter battles (CQB) in military jargon, e.g. for path-finding and cooperative strategies, are much more complex than the algorithms necessary for open terrain and, until recently, were not convincingly implementable, i.e. technological impact on design and development works both on micro design decisions in a single game and on a macro level, governing agenda setting and long-term continuities. Irrespective of urban contexts, destructible environments are a major selling point of current war games in general, a case of economic and technological factors working hand in hand to consolidate a certain stable aesthetics which produces games like Act of War (2005), revolving entirely around urban warfare or sequels like Brothers in Arms: Earned in Blood (2005) which introduces urban settings as the sequentially new feature. Add to the mix games like Full Spectrum Warrior (2004) and its successor FSW: Ten Hammers (2005), both commercial spin-offs of US 24 Ibid.: 6. 25 McLuhan 2002: 340-341. 26 Anonymus 2003, in: USA Today, 15.04.2003. 318
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Army training tools, and it becomes obvious that a very heterogeneous understanding of destroyed cities is created which blends geographically, culturally and historically distinct elements, mostly not according to hermeneutic reasoning but technological or economic constraints. Finally, the initially mentioned Command & Conquer: Generals is an interesting reminder of the political relevance of interactive media due to their enormous distribution and their lack of consensual theorization. The serialized destructibility of cities like the virtual Baghdad (or, another highly politicized case, London as in Act of War) has far-reaching and manifold political implications, as a cathartic way of venting aggression, as a means of subtly regulating public discourse or, by virtue of their modability, sometimes even as tools of social criticism. Game design history has produced a plurality of techniques for implementing or faking destructible environments. The important assumption for the course of this argument is that the players, in the process of playing CVGs effectively, unravel the game-play mechanism encoded into the game, a case made already in 1999 by Ted Friedman for the simulation game Sim City. Put more dramatically, the player enters a ›cybernetic‹ feedback loop with the game, receiving input and reacting accordingly while recursively honing their understanding of the ›black box‹ of the game. Extending this idea, one can expect the player to ›retrace‹ the game algorithms by performing similar actions and comparing the results, a process very similar to a programmer debugging program code. An ideal game would be designed as to maximize the plausibility of this process while preventing the player from completely ›understanding‹ the code, as was still possible e.g. in early war games.27 In turn, we can expect players to retrace the technical ontology of destroyed cityscapes in games as well and use this knowledge both as an interpretive framework and as a set of indicators for playing behavior as will be elaborated in the following chapter. A very basic instance of the technological ontology of virtual urban destructibility is the distinction between destructible and non-destructible topography, resulting from the limitations of (especially older) graphics engines to modify geometry in real-time because complex effects like soft shadows on walls resulting from static light sources had to be compiled before running the game. Thus, players interpret the siege of Berlin in the game Call of Duty (2003) rather as a them park environment, leading them from one spectacle to the next, than as a freely navigable city because they knew that the rows of houses on both sides of the viewpoint was indestructible except for some instances where destroying a wall might yield more ammunition but no alternative route. Another example, 27 Cf. e.g. Crawford 2003a. 319
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found in most games featuring urban destruction, is the more or less veiled rectangular setup of the city which results both from the fact that rectangular objects are faster to render and, even more so, that the AI code for a rectangular environment is much less complicated. Actually, from an AI design perspective, evidenced both in the logic of game and simulation design28, the iconography of destroyed cities is considered as ›rubble‹, i.e. ›dynamic geometric objects‹ that merely pose a technical AI challenge. Technical design documents in this context are an absolutely understudied phenomenon and reading them as primary sources may be essential to form valid hypotheses. While earlier games often used particular effects metonymically for urban destruction, e.g. a multi-frame sprite of an increasingly damaged window which is simply deleted after being hit a number of times, the topic of destroyed cityscapes in interactive media will probably even become more frequent and differentiated with new external physics peripherals by companies like AGEIA, announcing »massively destructible environments« for the future in their feature overview.29 Drawing on the tools approach sketched in the preceding chapter, many editing tools, both engines and game editors, use CSG-subtract, a function that takes one geometry object to ›carve out‹ parts of another object, thus making ›destruction‹ part of the creative process. To design a torn-down wall, the user would need to create a cube, scale it to make it resemble a wall and then build a small spherical object which is subtracted from the initial cube to create a hole, multiple times if necessary to achieve the desired degree of ›randomness‹. While this technique has some parallels with the task of a sculptor, it essentially mimics the destruction process and thus feeds into the shooting vs. writing equation posited before. On even more basic (and immediately plausible) principle of computerbased design, coming back to the initial remarks about design/CAD tools and their ›scriptedness‹, is the cut and paste function, found in every design software which results in the production and usage of ready-made proxy objects (›prefabs‹30) on different scale levels to conceal the copying process (fig. 1). The exact ramifications of this ›design‹ pattern would warrant further large-scale inquiry, some preliminary assumptions however may be made. Since copying and pasting of recurring parts happens at varying stages of the design process (e.g. assembling a column from four identical rotated parts, then copying the column itself to imitate neoclassical architecture), one might reasonably expect quasi28 Wang 2003: 1041. 29 http://www.ageia.com/pdf/ds_product_overview.pdf 30 Cf. e.g. http://prefabs.gamedesign.net/ 320
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fractal structures, i.e. the recurrence of forms on different scale levels which are also common in organic structures. Other integral software functionality like the ›undo‹ function might lend itself for similar considerations. In general, creating destroyed cities with debris and asymmetrical traces of destruction is one of the hardest tasks for a level designer and, inversely, an important motor of technological development, i.e. urban destruction in games operates both as a showcase of technological sophistication and as an inspiration for technological advancements. Formerly, designers had to decide whether to implement marks of destruction as level geometry or texture details; recently, so-called shaders, small generic rendering functions, were added to the mix of techniques. For instance, parallax mapping is used as a decal overlay for the surface texture to simulate a partial deformation of the environment (fig. 2). One last category derived from the design process and tools is the use of libraries, both open source material circulating on the internet and expensive themed packages of models to work with and use royalty-free in commercial projects. Lev Manovich hints at this phenomenon as a general symptom of new media production31 although his few generalizing remarks are not entirely convincing. He claims that the »logic of selection« replaced the romantic artistic ideal of »[creating] from scratch«32 in the case of New Media; however, neither does Manovich clearly define his concept of ›new media‹ nor does this hold exclusively for the digital media he focuses on in that particular chapter (a very striking counterexample is Frank Capra’s war documentary Know Your Enemy: Japan, a collage of own material, enemy footage and both American and Japanese feature films). A good starting point for the topic at hand would be a simple look at an arbitrary list of military-themed material usable for game development, either freeware or commercial. The sample from 3dcafe.com, a popular site offering free design resources, shows a number of items blending various war contexts, multiple levels of descriptive precision, different file formats and model resolutions which dictate usability of the material and other attributes (fig. 3). Both ›military‹ and ›military style‹ are used as text ascriptions. In brief, the list truncates the multitude of conceivable military scenarios, including urban locales, leading to a subset of actually implementable environments (in this case for amateur designers just as commercial libraries pre-form commercial game projects).
31 Manovich 2001: 123f. 32 Ibid.: 124. 321
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Figure 1: Copy and paste level design
Figure 2: Bullet holes created by a shader in an amateur game project
Figure 3: List of materials from 3d-cafe.com
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An interesting special case is the random generation of destroyed cities as playfields using algorithmic description, i.e. by combining a set of (mostly rectangular) tiles. This fairly old technique is a perfect illustration of Manovich’s distinction between ›database‹ and ›algorithm‹, i.e. a kind of ›generative grammar‹ spawning a multitude of possible (in this case, urban) scenarios from a fixed set of components and a few combinatorial rules. Moreover, it also illustrates the fact that in interactive media, (destroyed) cities are ultimately conceived of as assembled by computable parameters such as frequency (e.g. of ruined house types per square kilometer) and dimensions instead of hermeneutic reasoning. The PC strategy game Axis & Allies (2004), for instance, offers a ›custom mode‹ with random maps on top of the single-player campaign mode, which uses ›real topography‹ obtained from satellite images. The example screenshot from the Berlin scenario shows individual, lowpolygon houses as discrete design elements as opposed to the central church which is a fixed element. The spaces between the houses are conveniently broad enough for an armored vehicle model to fit through, thus structuring the topography according to the game logic as indicated by the red lines (fig. 4). In an inverse process, the game Söldner: Secret Wars (2004) combines ›real‹ topography, rebuilding two million square miles of Eastern Europe derived from satellite images, with randomly generated mission objectives and completely destructible buildings and even roads (to impede vehicles). The fact that the technology to keep track of the physically correct progressive destruction of (urban) topography in the game has a distinct name (Advanced Destruction System, ADS) suggests, that it might be sold as ›plug-in‹ code to other companies and thus achieve a semi-autonomous status. Furthermore, it would be interesting to assess the use of ›real topography‹, e.g. city maps and satellite images, in interactive media as equivalent, for example, to the use of ›real footage‹ in films. The game Kuma/War (2003) provides missions based on current news events complete with maps, satellite date and other information, thus institutionalizing this blurring of boundaries between fiction and perceived reality. A final worthwhile suggested topic is the selection or agenda setting of urban scenarios fit for use in CVGs and the respective applicable reasons. The main criterion, as in every popular medium focused on marketability, is the density of associative links the scenario offers, naturally highlighting cities like Berlin, Stalingrad and some smaller cities from the Rhine area (Remagen etc.), brought to public attention through a number of films on Allied activities in that area.
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Figure 4: An »Axis & Allies« environment
The game Call of Duty: Finest Hour (2004), for example, features the recapture of Stalingrad, the retaking of the Red Square under Soviet control, a bombing run on the city theater in Aachen and the small city Remagen as a stark contrast between German warmongering and rural idyll. A second, equally important but more subtle reason might be the representability with the given technological means. One striking illustration of this thesis is the game Blazing Angels: Squadrons of WWII (2006), where the choice of Paris and London as levels was encouraged by the characteristic shape of the rivers and the easily recognizable urban architecture and infrastructure layout. Apart from the precise reasons, the particular choice has a fundamental impact on the players’ understanding and communicative reproduction of destroyed cities; e.g. in the case of WWII games, the disproportional reliance on the Normandy region (for reasons other than its urban specificity) leads to a very differentiated knowledge of village names and iconic topography and, thus, an interpretive overemphasizing of said region compared to other regions. As this chapter was designed to show, representations of destroyed cities in interactive media are both shaped by technological factors such as tools and practices of collaborative design (imposing an algorithmic rather than hermeneutic ›reading‹ of the environment) and the projected patterns of interacting with the environment. The aspect will be elaborated taking Sim City as an example in the next chapter, followed by a comparative look at how exactly the behavioral patterns can look like.
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Visibilizing the City as Code: The Case of Sim City The game Sim City (Maxis, 1989), a precursor to the immensely popular The Sims by Will Wright, both made its creator one of the few game ›auteurs‹ and is a name which comes to mind immediately considering the topic of urban devastation in interactive media. Basically, a set of disasters (flooding, tornadoes, fires, riots, earthquakes, monster attacks; later disasters include lightning strikes, volcanoes and meteors) can either be deliberately unleashed by the player to test the sustainability of their virtual city or is implemented, one at a time, in the preset scenarios and, thereby, narratively framed. For instance, the ›Hamburg 1944‹ scenario referencing the Second World War comprises a number of characteristically distributed fires (with random variation) mimicking the effects of bombs. Ted Friedman’s canonical essay on the semiotics of Sim City33 highlights aspects like the continual demystification of the game-internal value system, expressed within an algorithmically defined system, and the ›operational‹ subjectivity of switching between various roles (mayor, chief of police, real estate agent etc.) according to gameplay necessities rather than hermeneutically guided empathy. Diane Carr, on the other hand, tries to map Sim City onto Michel de Certeau’s idea of the »concept city«34 and briefly refers to an on-topic forum where notions of realism concerning the game are being discussed.35 I will take up the idea and elaborate it by using forum transcripts later on in this argument. The disasters threatening the city, in this technologically-informed understanding, are characteristic, sometimes interrelated variable modifications and procedures. The case of fire is an instance of the logic of object-oriented programming (OOP) although no such techniques were probably used in its programming. Each ›fire‹ tile on the screen has a variable probability of spreading in all directions, depending e.g. on the adjacent tiles; fire occupying a ›nuclear plant‹ tile might lead to the creation of additional devastation (both fire and pollution) behaving in a similar manner. The Godzilla-type monster, in turn, causes fire and transforms buildings into rubble tiles along its way while going for clusters of ›polluted‹ tiles. Thus, urban devastation in Sim City is basically an ecology of algorithmically expressed, interlocking rules that present the only ›external‹ challenge and make the game a ›game‹ in the first place by defining discrete goals. 33 Friedman 1999. 34 Carr 2004: 8. 35 Ibid.: 9. 325
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Interestingly, the Japanese SNES version narrativizes e.g. the ›Godzilla‹ monster differently by changing the character graphics to a sprite of Nintendo’s signature villain Bowser; thus, while the code level remains untouched, the visual aspect seems to exhibit traces of cultural specificity. Furthermore, Sim City with its sequels has always been on the forefront of visibilizing the code layer of digital games by a number of novel techniques, e.g. ingame tools like the early terrain editor, the SCURK (Sim City Urban Renewal Kit) and the B.A.T (Building Architect Tool). Furthermore, Sim City 2000 maps were exportable into games like Sim Copter and Streets of Sim City, highlighting the arbitrary representability of the city as data; the fourth installment allowed the player to export his city as a contained .sc4 file into The Sims 2, marking it as a discrete entity in terms of the technological ontology of the game.
Renegotiating the Topography of Destroyed Cities Jeremy Chubb, one of the key designers of the video game Black (2006), a game actually making environmental destruction its key element, confessed in a video interview: »we want people shooting the environment.«36 He goes on to claim that »people play exactly like [they] wanted them to play in the first place«, thus assuming that it is possible to encourage players to do things by creating a suitable topography and technical ontology. One preliminary hypothesis from watching gameplay videos would hold that destroying the level structures is actually an approximative process of ›testing‹ the environment for compatibility with one’s own expectations of ›realism‹ in interactive media (thereby recursively adapting these expectations). That is, it is essentially a ›technical‹ process, again similar to debugging, which includes provoking extreme situations and assessing the program’s behavior. At the same time, methodological issues come to the fore such as the generalizability of those findings; while playing the game critically and watching gameplay videos can be sufficient for a convincing conceptualization, empirical methods, supported e.g. by the option to record sessions within the game with little memory requirements, might be useful for future research. Thus, how does the topography of destroyed cities in CVGs shape symbolic patterns of interaction, which prototypical situations or behavioral scripts are triggered by which micro topographies? Consequently, 36 mms://zdmedia.wmod.llnwd.net/a111/o1/1UP/BlackInterview_56k.wmv 326
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this is to inquire into the players’ interpretation of the environment, paying special attention to how this interpretation might be guided by the expected player behavior. A thorough investigation of this phenomenon would require some psychological groundwork, provided for instance by the Gestalt theories of Kurt Koffka and Kurt Lewin who describe a similar process for the impact of ›life world‹ topography. Both make a distinction between geographical and behavioral space with ›mediation‹ as conceptual connector. Lewin developed the concepts of ›life space‹ [Lebensraum] (1943) and ›play space‹ [Spielraum] (1941), elaborated in his field theory of psychology.37 The idea that phenomenological structures, e.g. the physical constellation of places relevant for one’s everyday life, are mirrored in psychological structures is deeply rooted in formalism and other contemporary concepts and should be handled with care; nonetheless, it can still yield valuable insights today, especially given the terminological overlaps with ›new media‹ discourse, the rhetoric. For example, Lewin posits that the ›life space‹ creates psychological ›vectors‹, i.e. directed forces, which determine individual behavior. A byproduct of this idea is the insight that the actual ›life space‹ of a person, i.e. the locations relevant in everyday life, is surprisingly small and accurately describable which is a valuable perspective for actual game design. While Lewin fostered experimental social psychology and the impact of group dynamics on spatial orientation, cultural factors are missing from this picture and form a complementary level of analysis. As exemplified above, interactive media environments, most conspicuously in the case of CVGs, are ontologically closer to network topologies, as described by graph theory, than to ›real‹ geographies or urban spaces, stemming from a complex interplay of natural processes and human intervention. Claus Pias provides an excellent introduction into this analogy, taking text-based adventure games as an example.38 Initially, he describes how the ›dimensions‹ of the virtual environment in the form of memory allocation and variable declaration must be set before the rest of the game code. As indicated above, the understanding of virtual environments as (program) code or text exhibits a similar phenomenon in more recent examples. Pias continues by exploring older concepts of labyrinths in order to arrive at a juxtaposition of in-game environments and network topologies, claiming that both the environment (in his example, William Crowther’s Adventure cave) and the game narrative, structured by »IF/THEN 37 Downs 1973/2005: 5. 38 Pias 2002: 94. 327
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branches«39, are examples of mathematical graphs. The important idea to take away from this is the close interrelation of topography and emergent narrative. One potentially fruitful challenge would be to use Pias’s model of though and apply it to more recent examples like the technological makeup of three-dimensional environments. Before entering into a discussion of the behavioral impact of destroyed cities in interactive media, it is important to differentiate between multiplayer games without imposed narrative and single-player games in which the traversal of the ravaged cityscape is often the key objective and narrative frame. For instance, many environments, especially in the context of multiplayer games using the iconography of destroyed cities are symmetrical because this adds to the game-play balance (fig. 5).
Figure 5: Examples of diagonal axis symmetry
Thus, symmetry is a common expected pattern in CVGs and the logic behind the symmetry is quietly adopted by the players, thus denaturalizing the virtual urban environment. An introductory example which reveals the topicality of urban destruction in interactive media is the aforementioned controversial game Command & Conquer: Generals, particularly the tutorial mission set in Baghdad. After the player manages to breach Baghdad, the opposing GLA scud storm devastates the city, a scripted event which, however, does not present a moral dilemma but only a new objective, namely locating the scud launchers responsible for the attack. The ›trigger‹ code used to initiate the attack in the game is so commonplace that most players recognize it as a conventional program structure. Furthermore, the destruction of buildings to look for ›secret objects‹ such as ammunition crates is encouraged and works as a frame or better, ›script‹, in both the discourse analysis and, in some sense, computer science understanding. The psychological concept of ›script‹, developed by Schank and Abelson, traditionally refers to narrative schemas producing automatized behavior.40 In this case, it could be modified to map an inter39 Ibid.: 136. 40 Eysenck/Keane 2000: 354. 328
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active or better, interactemic, constellation designed to produce a certain behavior. Similar concepts exist for the field of discourse analysis, exemplified in the following chapter.41 The third mission of the terrorist GLA faction in Command & Conquer: Generals involves a new ›unit‹, the mob, which the player must lead through the Kazakh capital of Astana to burn down every Civilian building. Hiding in the destroyed buildings is the only safe way for the player using the ›mob‹ unit to destroy the patrolling police units. Furthermore, the player can construct new buildings, though only structures with military functions like barracks, factories and even a ›GLA palace‹, which reshape the topography of the city. Progressing from general notions of spatial orientation and behavior in urban environments to the actual topography requires other analytical tools. One popular concept potentially applicable to interactive media in a modified form is the chronotope, originally developed by Michail Bakhtin for literary analysis. Geoffrey Rockwell tentatively proposed the idea for game studies in 1999 in a preprint version of his 2002 article.42 According to Rockwell, Bakhtin’s thinking about the novel originating from Socratic dialogue can be extrapolated to describe a »poetics« of CVGs43, e.g. using the idea of the chronotope. By ›chronotope‹, Bakhtin refers to the »intrinsic connectedness of temporal and spatial relationships« in literature which is a defining element of genre distinction. An illustrative example of a literary chronotope is the ›river‹ in Joseph Conrad’s Heart of Darkness, expressing both a spatial structure, temporal structure and an interpretive framework for the plot, e.g. the idea of not being able to turn back like a river flowing in one direction. A chronotope which comes closer to the urban theme discussed herein is the ›ruin‹, amply exploited e.g. in Coppola’s filmic rendering Apocalypse Now!. The chronotope of the ruin is commonplace in literature and film, both in war contexts and others and often operates as a link between both.44 In this light, the ruin operates as a spatial ›model‹ for a specific use of time, ›frozen‹ and retrospective, referencing past grandeur and cultural achievements. How, then, would this translate to the specificity of interactive media? Ruined environments often allow for a maximum of navigability with few obstructing walls etc. but offer a minimum of interactemic density. Games like Shadow of the Colossus (2005) use ruins in parallel with an extremely slow narrative and exploratory pace; the absence of sound 41 42 43 44
E.g. Van Dijk 1997. Rockwell 1999. Ibid. 2002: 9. Smethurst 2000: 59. 329
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adds to the feeling of signification the players’ actions are imbued with which, however, is never narratively substantiated. While Rockwell uses the idea loosely and unconvincingly to arrive at a typology of game applications, a chronotope analysis of (urban) interactive media environments may prove insightful. Contemporary war games often pursue an inverse strategy, juxtaposing elaborate, often oriental ruined environments as indexical signifiers for the ›lost‹ civilizing ancestry of the theater of war with fast-paced fighting game-play, often combined with time limits. Thus, the players’ perception of the environment is deliberately fragmentary, a patchwork of affects creating a dramatic mood but impeding an empathetic relationship. As a preliminary hypothesis, one could assume that destroyed cityscape in interactive media are both ›de-urbanised‹ and ›re-purposed‹ according to the interactemic setup, often encouraging a utilitarian reading of the topography. This stems in part from the fact that players know about the mechanics of creating those environments outlined in the previous chapter and use them to inform their ›player experience‹. The player experience is recursively modified during each play session and through external sources of information, leading to a more or less refined understanding of interactive media environments as what they are, representations of data that can be represented in any other given form, e.g. dynamic overhead automaps derived from the same data. Thus, player experience incorporates also technical shortcomings, e.g. the fact that earlier games often used s-shaped corridors as transitions between discrete environments, because the limited visibility allowed for a plausible concealing of the fact that only one part of the whole scenario fit into the computer memory at once. A multitude of those experiences feeds into the player experience which, increasingly, is compared, complemented and corrected through online communication channels. The example of Prince of Persia: The Two Thrones (2005) can serve to illustrate this aspect of de-urbanization and, at the same time, broadens the scope from urban environments in ›historical‹ games to entirely fictional scenarios. In the large, streaming city-environment of Babylon, no doors can be used (which would establish an inside/outside differentiation) in the game and there are no hermeneutic anchors of a city as could be derived from Lewin (e.g. shops, gathering spots etc.) which creates a profound alienation effect. In fact, the city is a ›playground‹ for the elaborate movement repertoire, encouraging the player to look for specific functional micro topographies (e.g. narrow alleys for split jumps, assessing walls for their size as to be suitable for wall runs). Furthermore, the striking similarity of PoP:T2T’s Babylon to urban environments from recent war games (Full Spectrum Warrior, Socom II etc.) in-
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dicates, that Orientalism or, more precisely, a romanticized notion of Oriental cities is still a major influence even in portraying contemporary conflict scenarios. Hartmut Winkler argued already in 1994 that architecture (clearly visible in the terms ›system or network architecture‹) and the topology of the metropolis [Großstadttopologie]45 were being used as models for the »data space« [Datenraum], i.e. the organization of data according to spatial paradigms. In the case of virtual destroyed cities as playfields, the opposite is the case: the principles of digital, computational media are used as a framework for making sense of the virtual urban environment. An example to illustrate this usage of urban topography to meaningfully conceal the implied linearity in the environment is the ›SF village defense map‹ from America’s Army (2002), a popular multiplayer shooter commissioned by the US Army. The pretended openness of the partially destroyed urban environment is linearized by the positioning of successive goals; streets and allies constrict maneuverability in a hermeneutically coherent way. Looking at player discourse, e.g. in the online forums, the semantics of ›coherence‹ and ›believability‹ already substituted formerly important terms like ›authenticity‹. In a similar manner, the use of iconography or iconology46, a traditional tool of assessing urban design and even the aesthetics of urban devastation, must be re-thought in the case of interactive media. The reuse and differentiation of iconic ornaments, e.g. windowsills or oriels, against the backdrop of prefabs and model libraries displays a wholly different logic from the one informing traditional iconographical analysis. However, an iconography of interactemic patterns, i.e. micro-environments demanding a specific player behavior which attain an iconic status over time by being attributed with signification, might be a rewarding strategy. One such recurring constellation is the run-down row of houses, often ›adorned‹ with extremely detailed rubble textures that complicate finding the snipers hiding in the windows. A concluding aspect of interactive media topographies is the increasing overlap with military training simulations; in joint projects between the entertainment and the military industry like Full Spectrum Warrior, ›player experience‹ mentioned above and expected trainee behavior in combat situations are considered in the same terms by the producers of the game. Thus, the question of how to model expected ›player experience/behavior‹, based on the aforementioned assumption that players need to adopt the computational logic of the game, necessitates a closer look at AI technologies, both in game and military training con45 Winkler 1997: 229. 46 Cosgrove/Daniels 1988: 2. 331
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texts. The creators of the game Brothers in Arms: Earned in Blood highlight their ›situational AI‹, optimized for urban combat strategies, as one of the key innovations compared with its predecessor.47 The military subdivision between types of engagement (e.g. Military Operations on Urban Terrain [MOUT], branching into CQBs) influences both the logic of military strategy, of AI design and, in a ›remediated‹ fashion of player experience in interactive media.48 That is, using the topography as a proxy and indicator, the AI logic of separating ›states‹ is appropriated by the player trying to fight the AIdriven characters effectively, resulting in a convergence of the logic of military training and the logic of interactive media design. Human cognition is understood in this process as discretely dividable, i.e. the question is »how much of human cognition we actually are able to model«.49 The adoption of algorithmic thinking on the part of the player can be further illustrated by the criterion of »location quality« which quantifies the strategic value of a micro topography into a single parameter (calculating protection, proximity to exits etc.). That is, to be able to interact successfully, the player develops no concept of the environment as a whole but only an acute awareness of the immediate surroundings or, in graph theory terms, the own node plus paths to immediate neighbor nodes. Thus, contemplating the destroyed city as a whole, maybe as a culmination point for critical thinking, is structurally impeded. Another category is the typology of scenarios used in military simulations, e.g. the »bombed hospital«, »fortified house«, »elementary school« environment types,50 which emerge as a product of congruent entertainment industry and military reasoning and form new chronotopes. Interestingly, the AI developing company, obliged by market pressure, evaluates the perceived realism of their character behavior using Turing test experiments, e.g. a mixed population of player characters (PCs) and non-player characters (NPCs), combined with qualitative interviews in which the players are asked to identify the characters they believed were AI-guided. To conclude this chapter, again coming back to Manovich, we could summarize the findings in a simplified way, by speaking of the deconstruction of the destroyed city into a database, where the algorithms of recombining the data only partially appear in the guise of hermeneutic 47 Cf. the official online documentation: http://www.brothersinarmsgame.com/ uk/newspost.php?id=12924 48 Cox/Fu 2005: 57. 49 Ibid.: 58. 50 Ibid.: 61. 332
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rationales. The game Killzone bases its aesthetic concept exactly on this principle, assembling photographs of ravaged urban environments from various military contexts (from the Second World War to the Second Gulf War), scanning them and cataloguing them in a database with metadata such as color, object type and other, user-selected tags, and implementing them in the form of a collage in the game, thus constituting an aesthetic of urban destruction as a ›plug-in‹, a library modifiable and useable in other projects.
Discursive Repercussions of Urban Destruction in Interactive Media This chapter attempts, in a concise and experimental form, to shed some light on how players narrativize their virtual experiences with destroyed cities in linear form, as forum posts, fan fiction etc. Two initial quotes taken from the Kuma/War forum might serve as a basis for own considerations: I personally find these Fallujah maps to be the best single-player experiences. The urban environment mixed with the afternoon-evening lighting really adds a unique quality to the experience. One thing I would suggest though is either some slight fog (or smoke) or rain, as Fallujah was bombed etc and when it was seiged (sic!) there was a great amount of dust and/or smoke residing from the blasts. This carried in the breeze, limiting visibility further! Otherwise, Best Maps Ever!51 I really liked the bit I played through. This is what I love about tactical shooters: CQB. I can play through the open urban areas often using just one guy, but clearing buildings of this size is a challenge I welcome, and teams help. Nice job!52
To follow an idea set out by Benedict Anderson, the representations of destroyed cityscapes create an ›imagined community‹ of people not bound by their potential experience with ›real‹ destroyed cities or cultural background but by in-game experiences, interpreted by the mechanisms outlined above, and communicated/processed just like experiences with ›real-world‹ objects. Zhan Li, for example, argues with Habermas and the Frankfurt School’s critique of the transformation from 19th century »bourgeois […] democratic capitalism« to 20th (and 21st?) century »militaristic/ corporatist« culture, ana51 SilentKillerZ on the map Falluja: Operation al-Fajr, Oct. 2005. 52 ESFsaysHi on the Mosul-Al Qaeda Connection mission. 333
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lyzing America’s Army as a ›Public Sphere‹.53 On top of that, rhetorical discourse analysis, using tools such as frame analysis mentioned earlier, could provide a more thorough understanding of how both interactive media production and consumption feed into an ongoing discourse about war, (virtual) destroyed cities and the reshaped collective imaginary. This undertaking might be supported by social network analysis which already researches the impact of ›psychological environments‹ on the constitution of social groups.54 As one very basic hypothesis derived from the forum examples one could posit that the ›code paradigm‹ and the constructed-ness of the environment are clearly part of the players’ disposition or interpretive schemes towards the game. First, the lighting is discussed as a discrete design element and not part of an integral scenario. Second, the utilitarian reading of the environment far outweighs hermeneutic or affective readings; e.g. SilentKillerZ requests smoke/fog (or, technically speaking, particle effects) as an added authenticity factor and simultaneously contemplates its game-play function, the entailed limited visibility. To sum up, both basic principles of design and usage in the two previous chapters are discursively reproduced and differentiated in player discourse; a more thorough analysis might reveal further communicative strategies or evidence.
Closing Remarks in the Guise of a Quintessence First of all, it becomes obvious that the phenomenon ›interactive media‹ is hard to define; still, authors often feel the need to define it.55 Second, it is essentially linked with remediated forms of other media. For instance, footage from the aforementioned Brothers in Arms: Earned in Blood was used in a History Channel documentary.56 This was not the first instance of using games (or, more specifically, game engines like the Rome: Total War engine) as footage for documentaries, thus inscribing the aesthetics of computer graphics more deeply into the collective memory, e.g. by juxtaposing it by montage with interviews of eyewitnesses during the broadcast.
53 Li 2003: 65. 54 Scott 2004: 11. 55 Friedl 2003: 58; Crawford 2003b: 3f. and various other sources, often pointing out the general hype around the term and its often irrationally positive connotations. 56 http://www.gamespot.com/pc/action/brothersinarmsnewchapter/news.html? sid=6140685&mode=recent 334
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Pursuing the link between digital games and film-based media, it becomes obvious that the code-based logic of interactive media can recursively influence viewing dispositions e.g. for feature films depicting urban destruction, not just in the closer sense of remediation as formulated by J. D. Bolter57 but as techniques of ›re-reading‹. The film Enemy at the Gates, for instance, closely integrates images of destroyed cities into the logic of cinematography. Most pronouncedly, the love story develops within the constraints of the topography of destroyed Stalingrad, e.g. the claustrophobic narrowness in the bunker where the protagonists’ affection for each other culminates in a brief sexual encounter. However, the whole viewing of the film invites a (re-)reading against the backdrop of syntagms developed in CVGs. The chasm scene where Koulikov dies and especially the trap for Vassily in the factory, for instance, are a brilliant example of ›level design‹, and closely resemble archetypal micro-topographies from WWII games. The ›solution‹ in the factory, involving cooperative play and deductive reasoning, propels the plot on a micro-level and adheres to the cause-andeffect rule ecologies easily computable by algorithms used in interactive media (e.g. seeking cover behind debris, blinding the opponent). As another example, the forum snippet by SilentKillerZ is a clear indicator of the fact, that also media representations like the pictures of besieged Fallujah, presented in TV news programs, are at least implicitly read as ›levels‹ and potential source material for interactive experiences. Rather then condemning this development, it is advisable to intensify the attempts at understanding them as symptoms of interactive media effects. As a final outlook it is worthwhile to consider that, as the forum dynamics reveal, destroyed cities in interactive media are not just ›imposed‹ by the industry but are also a powerful source of inspiration for fan projects as ramifications of what Pierre Lévy termed ›collective intelligence‹.58 While fan groups operating according to this pattern, i.e. a decentralized process of information gathering and re-production, usually do not act in a predictable way, the outcome can exhibit an astounding depth and often radically new perspectives. Project: Urban Terror, a total conversion (TC) of the somewhat dated multiplayer shooter Quake III, introduces a frame narrative of terrorist escalation after the fall of the Soviet Union which mainly surfaces in urban areas; the project encourages the creation of (mostly) urban scenarios from amateur designers, repurposing the TC as basically a ›label of quality‹. Project: Urban Terror can clearly be interpreted as a reaction to the recent increase of terrorist activities in Western metropolises (Ma57 Bolter 2001: 23. 58 Levy 2001: 111. 335
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drid 2004, London 2005). The game manual features a fictitious enlistment59 designating the players as ›recruits‹. The list of environments may appear arbitrary at first but provides an illustrative profile of the contemporary collective imaginary revolving around urban themes in interactive media (e.g. Orientalist topoi in the Near-East scenarios or the picturesque romanticism of the prototypical ›European village‹). The Third Reich60 is another useful example, portraying the battle at the village of Hürtgen which usually slips through historiographical filters. Whether these instances of amateur media production should be addressed as a very elaborate form of ›retelling‹, one of the narrative operators Celia Pearce proposed for CVGs61, or an entirely new phenomenon is debatable. However, they are a culmination point of the aforementioned specificities of urban destruction in interactive media and a suitable model for future developments that, given the intensive ›interaction‹ of amateur designers with the historical material, might even lend itself to being interpreted according to more traditional topoi like the devastated city as a site of collective contemplation.
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MODELLKATASTROPHEN UND DAS PUZZLE DER REZEPTION. DIE ÄSTHETIK DER ZERSTÖRUNG IM WERK VON CHRISTOPH DRAEGER SEBASTIAN BADEN Der Untergang der Städte, vor allem Roms, hat sich nämlich nicht deswegen ins Bewusstsein der europäischen Gesellschaften geschrieben, weil die Architekturen als materiale Zeichenträger hinfällig wurden, sondern weil in ihrer Vergängnis der Ruin von Sinn und mit ihm die Diskontinuität von Geschichte erfahren wurde.1 Die Enttäuschung des Desasters: es antwortet nicht auf die Erwartung, hilft einem nicht, den Standort zu bestimmen, ist überhaupt keine Hilfe, gibt keinerlei Orientierung, auch nicht als Desorientierung oder einfaches Verirren.2
Das gegenwärtig meistdiskutierte Bild der urbanen Zerstörung ist das Attentat des 11. September, weil es zu einem ›universalen Zeichen des Terrors‹ geworden ist, bei welchem die Gewalt so wenig zu sehen war wie bei keinem anderen Ereignis dieser Art.3 Es ist die Unfassbarkeit des Desasters, wie sie auch Maurice Blanchot in seiner L’écriture du désastre (1980) verfolgt.4 Nur die Wiederholung des Ereignisses durch die Be1 Böhme 1989: 291f. 2 Blanchot 2005: 64. 3 Vgl. Rauterberg 2006: 48 sowie Beuthner 2003. 4 Blanchot 2005. Auch Klaus Scherpe bezieht sich mit seiner Ausführung zu Beschreibung (und Wiederholung) als einzigen Möglichkeiten des Versuchs einer Darstellung und Bewältigung des Desasters auf Blanchot. Vgl. Scherpe 2002. ›Desaster‹ bedeutet bei Blanchot die Reflexion über das Unheil, das Fragment als Denkform, entwickelt aus seiner Reflexion über den Holocaust. Christoph Draeger verwendet den Begriff als Ausstellungstitel, da er seine ausschließliche Konzentration auf die Katastrophe beschreibt. Die Beschreibung bleibt auch in seinem Werk eine Annäherung. Im Gegensatz zu Blanchot ergibt sich die Distanz aber durch selbstreflexive Ironie, die sich nicht auf die Ursache des Desasters, sondern auf seine mediale Repräsentation bezieht. Vgl. Poppenberg/Weidemann 2005: 185; Draeger 1999. 339
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schreibung ermöglicht eine Annäherung an das, was für Außenstehende nicht erfahrbar ist.5 Die Repräsentation von Gewalt und Zerstörung in den Medien stellt deshalb eine Herausforderung für das künstlerische Schaffen dar, denn das Erleben der Katastrophe ist nur dem real anwesenden Augenzeugen möglich, die indirekte Vermittlung der Katastrophe durch den Künstler als einem ›zweiten Beobachter‹ dagegen muss Beschreibung bleiben. Entgegen dieser erkennbaren Distanz behauptet die Berichterstattung der Medien aber ihre Authentizität. Das übertragene Ereignis soll als reales eingestuft werden.6 Die zusehends erschwerte Differenzierbarkeit zwischen fiktiven und realen Katastrophen in der medialen Repräsentation ist ein zentrales Element des künstlerischen Schaffens von Christoph Draeger. Der Künstler reinszeniert Katastrophen, er baut sie als begehbare Modelllandschaften nach, lässt Archivaufnahmen großformatig auf Puzzle drucken und photographiert die bekannten Schauplätze lange nach dem Geschehen. In seinen photographischen und installativen Arbeiten ergibt sich ein Spannungsfeld aus der Darstellung der Katastrophe und der distanzierten Position des Betrachters. Gleichzeitig wird die Sensationslust des Zuschauers ausgenutzt, denn die katastrophalen Ereignisse in den Werken von Draeger orientieren sich, wie Christoph Doswald feststellt, an dem journalistischen Motto »Only bad news is good news« und thematisieren den buchstäblichen Kampf um Einschaltquoten.7 Für die Presse ist die Berichterstattung zu Katastrophen eine große Herausforderung, muss die Reaktion doch ad hoc erfolgen. Die Plötzlichkeit des Ereignisses lässt sich nicht medial vorbereiten, im Nachhinein dagegen dienen die Bilder der Rekapitulation des Geschehens, welches nur noch in seinen Konsequenzen sichtbar ist. Die Permanenz der Bilder ist durch die mediale Aufmerksamkeit bedingt und löst sich auf, sobald ein neues Ereignis sich aufdrängt. Den Bildern kommt somit eine größere Bedeutung zu als den eigentlichen Ereignissen. Die Katastrophe ist zum Lieferanten der Eventkultur geworden. Daniel Binswanger spricht von der »Melancholie des Informationszeitalters […]: nur Desaster sind noch Geschehnisse, und das bedeutet, dass nichts mehr geschieht.«8 Seine Sichtweise mag für die Gegenwart als überpointierte Veranschaulichung einer kulturellen Entwicklung 5 Blanchot 2005: 16. 6 Zur Diskussion des ›Realen‹ in der Selbstbehauptung von Medien und Kritik, speziell im Zusammenhang mit dem 11. September, unterzieht Klaus Theweleit einige prominente Denker anhand ihrer veröffentlichten Artikel einer scharfsinnigen, pointierten und nicht unpolemischen Analyse. Vgl. Theweleit 2002. 7 Doswald 1999: 64. 8 Binswanger 1999: 59. 340
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gelten und ist eine gedankliche Fortführung von Blanchots Aussage, der zufolge das Desaster »die Gefahr schon hinter sich gelassen [hat], selbst wenn wir unter seiner Androhung stehen.«9 In unmittelbarer Betroffenheit ist von der Gefahr nichts zu spüren, gegenüber den Kunstwerken von Draeger aber steht die Ahnung ihrer Reichweite vor dem Betrachter. Durch die Repräsentation im Bild bleibt die physische Erfahrbarkeit aus, das Desaster wird zu einer Projektion in weiter Ferne – und lässt den Zuschauer einsam in seiner Distanz. Umso mehr ist die Gewalt bereits in ihrer reinen Sichtbarkeit überwältigend. Das Motiv der Überwältigung und Zerstörung steht innerhalb von Draegers Werk zudem in einer kunstgeschichtlichen Tradition, deren Beginn sich in einer besonderen Beachtung antiker Architekturfragmente seit dem 18. Jahrhundert verorten lässt. Die Bildungsreise zu den Schauplätzen der Antike und die damit einhergehende Ästhetisierung der Ruine bereiteten das Feld für einen Diskurs des Gewesenen. Zudem gelten für die Kunst der Romantik die überwältigende Eindrücklichkeit und Unbezwingbarkeit der Natur als zentrale Motive bei ihrer Veranschaulichung der Vergänglichkeit des Lebens. Im Zuge der Rückbesinnung auf christliche Mystik entstand der romantische Eskapismus, der den Menschen in der Einsamkeit der Natur und in seiner Untergeordnetheit gegenüber der Schöpfung darstellt. Als Accessoires bei der Bildgestaltung dienen dabei die Metaphern der Vergänglichkeit, wie kahle Bäume, karge Landschaft und die aus einer Orientierung an der Antike geschaffene Ruinenarchitektur.10 Die Vergänglichkeit, auf welcher die dargestellte Zerstörung beruht, steht gleichzeitig für die Sehnsucht nach einem anderen Sein. Die Ruine ist weniger als Schrecken denn als Zeichen einer unheimlichen Naturmystik zu lesen. Sie ist das ›Relais‹, in dessen Leeraum die Imagination des Vergangenen projiziert wird.11 In ihrer Zeit entspricht sie dem Gedanken einer Gegenaufklärung und betont die Hinwendung zu einer gottgegebenen Fatalität. In der Nachwirkung der Romantik ist das Naturbild nicht mehr »Wirklichkeitsstoff, der ins Göttliche transzendiert wird und in dem sich das Universum offenbart, sondern Spiegel der eigenen Gefährdung.«12 Die Kunst Draegers transformiert diesen eschatologischen Gedanken in eine Parodie auf die Erlösungskultur des Blockbusterfilms – das Böse wird immer besiegt – und auf Sitcom-Sendungen, welche eine Zurschaustellung scheinbarer Lebenswirklichkeit behaupten. Außerdem findet die Behandlung des Unheimlichen und der Vergänglichkeit in Draegers Werk neue Symbole im direkten Umgang mit der 9 10 11 12
Blanchot 2005: 12. Vgl. Hartmann 1981. Geimer 2002: 8. Jensen 1983: 234. 341
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Katastrophe und ihrer Vermitteltheit. Eine diesbezügliche Annäherung an das Katastrophische bzw. an seine Erklärung sind das Beschreiben und Verfolgen. Die Kartographie des Desasters, wie sie Draeger in seinen photographischen Arbeiten verfolgt, steigert die mediale Repräsentation der Katastrophe ins Absurde. Seine Voyages apocalyptiques sind deshalb mehr die sarkastische Adaption des bekannten Katastrophentourismus und der Ironie der ›voyages pittoresques‹ des 18. Jahrhunderts – den Aufzeichnungen und Rekonstruktionen der antiken Schauplätze. Eine Verbindung zwischen den Bildungsreisen der Neuzeit und Draegers kartographischem Konzept findet sich im literarischen Ursprung des Aufzeichnungsprozesses. Als zeitgenössischer Bezugspunkt soll deshalb Georges Perecs Roman La vie. Mode d’emploi das literarische Bindeglied stellen. Das Puzzle dient hier als Projektionsfläche für die Zusammensetzung und Auflösung eines Bruchteils der Totalität der Welt. Mittels eines radikalen Konzeptes wird die Unmöglichkeit von Abbildung thematisiert. Ein Vergleich zwischen dem romantischen und dem katastrophalen Bildnis beweist das Umkehrprinzip der Darstellung: Die schöne Welt ist vergänglich, das Unglück aber bleibt visuell in Fragmenten konserviert. Eine Bewältigung liegt in der künstlerischen Strategie fortlaufender Beschreibung.
Die inszenierte Katastrophe Der Allgegenwart von Katastrophen und ihrer Austauschbarkeit hinsichtlich der medialen Repräsentation und Aufmerksamkeitsgewinnung begegnet Draeger durch die künstlerische Simulation, welche das zeitliche Verhältnis zwischen Geschehen und Effekt umkehrt.13 Der flüchtige Moment der Realität wird umgewandelt in die akribische, monatelange Konstruktion einer zerstörten Modelllandschaft. Die frühe Photoarbeit Catastrophe #1 (Abb.1)14 von 1994 zeigt beispielsweise die Aufnahme von drei zerstörten Straßenzügen einer Vorstadt. Die wenigen noch vereinzelt stehenden Gebäude lassen darauf schließen, dass es sich um eine Siedlung aus Einfamilienhäusern handelt, die offenbar einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen sind. Der Lage der Trümmer nach zu urteilen entspricht das Bild den bekannten Aufnahmen nach einem verheerenden Wirbelsturm. Holz, Steine, Äste, Ein13 Vgl. Doswald 1999: 64. 14 Der Druck von Photographien auf PVC war in der Bildenden Kunst zu Beginn der neunziger Jahre noch eine Seltenheit, vor allem, weil es in der Schweiz auch nur wenige Unternehmen gab, welche Drucke in diesen Dimensionen ausführen konnten. 342
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richtungsgegenstände und Fahrzeuge liegen chaotisch gehäuft seitlich der Straßen. Die Zerstörung hat flächendeckend stattgefunden, nichts scheint sich mehr an Ort und Stelle zu befinden. Durch die verwirrende Lage der Teile orientiert sich der Blick des Betrachters zunächst nur an den Straßenzügen und nimmt das Trümmerchaos für gegeben hin. Betrachtet man die Zerstörung aber im Detail, treten verwirrende Elemente zu Tage, welche in ihrem Verhältnis zum augenscheinlichen Maßstab irritieren: Sonderbare Holzreste, eine überdimensionale Halbleiterplatte, das Fragment einer PET-Flasche, die dürren Äste, die modellhaften Autos, die Einfachheit von Rasengrün und Straßenbelag… Allmählich offenbart sich in der erschreckenden Zerstörung das geordnete Chaos des Modells. Was dem durch die Bilder von wirklichen Hurrikanverwüstungen erfahrenen Auge als authentisches Szenario erschien, relativiert sich durch die Entlarvung des Modells. Das Reiz-Reaktions-Schema, welches beim Anblick eines solchen Bildes gewöhnlich aufgerufen wird, wird irritiert.15 Die ursprüngliche Betroffenheit und das Mitgefühl mit den Opfern einer Naturkatastrophe wandeln sich in amüsierte Erleichterung ob des gelungenen Kunstgriffes der Täuschung. In aufwändiger Kleinarbeit hatte Draeger in seinem Brüsseler Atelier die Vorstellung einer verwüsteten urbanen Landschaft geschaffen. Dazu stellte er zunächst die intakten Häusermodelle auf, um sie anschließend in Anlehnung an die Auswirkungen eines Wirbelsturms zu zerstören. Es ist also der eigene Zerstörungsakt des Künstlers, der das Kunstwerk schafft.16 Um das Bild der Zerstörung zu vervollständigen, fügte er der Landschaft Bauschutt, Müll und Kleinteile hinzu, die plausible Schäden deutlich machen. Die Maßstabstreue wird durch den Einsatz von Modellautos, Modellpflanzen und Modellhausrat geschaffen, die in Ergänzung mit den Häuserbruchstücken eine einheitliche Größenordnung herstellen. Durch die bewusste Kombination von einheitlichen und irritierenden Elementen gelingt es, den gewünschten Verfremdungseffekt zu erzielen.17
15 Dabei gilt es noch zwischen unterschiedlichen Betrachtern zu unterscheiden. Jüngere Personen, welche an die Manipulation des Blickes gewohnt sind, kommen der Täuschung schneller auf die Spur als ältere Betrachter, deren Erwartungshaltung noch durch den Glauben an die Authentizität der photographischen Wiedergabe beeinflusst ist. Vgl. Baden 2006. 16 Vgl. Doswald 1999: 64. 17 Nach dem gleichen Prinzip hat Christoph Draeger in der Folge auch die Arbeit Catastrophe #2 (1994-1996) geschaffen, allerdings im Modell noch größer, 120 qm, und in der photomechanischen Reproduktion ebenfalls in neuen Dimensionen, 300 x 400 cm. 343
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Abbildung 1: Christoph Draeger, »Catastrophe #1«, 1993-1994, Acrylic paint jet auf PVC, 200 x 330 cm, Modell: 100qm (Photo: Hans Sonneveld)
Die Betrachtung von Draegers Photoarbeit Catastrophe #1 macht bewusst, mit welcher Gewohnheit wir die Bilder von Katastrophenberichten üblicherweise wahrnehmen. Diese ›gewöhnliche Betroffenheit‹ beim Anblick dieser Szenarien ist allerdings auch immer kombiniert mit dem Gefühl der sicheren Distanz: Das Ereignis wird nur vorgeführt. Draeger imitiert damit nicht nur die Funktionsweise von Pressebildern, sondern auch die Auswirkungen einer Naturkatastrophe. Er übertreibt die Imitation aber gezielt dadurch, dass er deutliche Hinweise auf den Modellcharakter der Inszenierung im Bild positioniert.18 Die Nachahmung der Natur wird hier als künstlerisches Paradigma ironisiert: Zunächst zerstört der Künstler sein Modell, um es dann abzulichten und mit dem Bild wiederum die Illusion des Authentischen zu erzeugen und zu hinterfragen. Die überdimensional große Photoarbeit formuliert eine subtile Kulturkritik, denn die Katastrophe wird nicht nur als Modell nachgestellt, ihre überdimensionale Reproduktion im Bild betont die Inszenierung. Im Hinblick auf seine Modelle spricht Draeger auch von ›Miniaturisierungen‹, die versuchen, mit etwas Größerem in Einklang zu kommen.19
18 In einem Kulturationsprozess, welcher das Sehen zu einem unkritischen Automatismus macht, braucht es solche wahrnehmungskritischen Irritationen, um dem Betrachter seinen Umgang mit Bildern bewusst zu machen. 19 Dorothea Strauss (1998): Werkgespräch mit Christoph Draeger, Edition Luciano Fasciati, Chur. Zit. n. Doswald 1999: 64. 344
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Reversible Zerstörung: Das Katastrophenpuzzle Eine besondere Brisanz birgt dieser Ansatz in der weiteren Betrachtung des künstlerischen Werkes von Draeger. Handelt es sich bei Draegers Catastrophe #1 um die Photographie einer nachgestellten Zerstörung, so nehmen seine folgenden photographischen Arbeiten die Gewalt von Katastrophen ganz ohne Transformation auf. Die Bilder dokumentieren Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen oder beziehen sich auf ehemalige Kriegsschauplätze. Der Künstler lässt die Photographien, die er eigenen und Medien-Archiven entnimmt, großformatig auf Puzzleteile drucken. Dabei fällt auf, wie gerade die Ausschnitthaftigkeit und Präsentationsform der Aufnahmen von verwüsteten Vorstädten nach Wirbelstürmen in Florida oder South Dakota dem vorangehenden, inszenierten Katastrophen-Bild gleichen. Die Entdeckung der Täuschung, die bei Draegers Katastrophenmodellen provoziert wurde, führt in der Folge automatisch zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des authentischen Dokuments. Der Puzzledruck lässt seine Mitteilung zur Ironie werden, denn Draeger verwandelt den Anblick der Katastrophe in eine zynische WohnzimmerRomantik. Eine Kritik, welche diesem Zynismus gegenüber angebracht erscheint, wird durch das Kunstwerk selbst wieder reflektiert. Der Künstler arbeitet hier mit Archivmaterial, was bedeutet, dass die Aufnahmen einer offiziellen Quelle entnommen sind und mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im Zusammenhang mit einer sich auf sie beziehenden Nachrichtenmeldung veröffentlicht wurden. Der Betrachter hat also Bilder vor sich, die er eigentlich schon kennt. Die Veränderung der Wahrnehmungssituation beruht allein auf den kontextgebenden Bedingungen. Im vorliegenden Fall bestimmt die Institution Kunst das Wahrnehmungsfeld, die Photographie wird als Readymade-Dokument benutzt und durch die Übertragung auf einen neuen Bildträger verfremdet. Denn gewöhnlich werden Puzzles nicht mit Katastrophenbildern bedruckt, noch nehmen sie diese Größendimensionen an. Draeger setzt Zuspitzung und Übertreibung als stilistische Mittel ein, um eine besondere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Indem er Katastrophen durch das Puzzle mit Spielzeug in Verbindung bringt, erzeugt er zunächst eine Provokation: Die Zerstörung erscheint als gespieltes und revidierbares Ereignis. Der Künstler scheint die fatalen Konsequenzen des Realen zu ignorieren. Diese Provokation führt den Betrachter zu der Erkenntnis, dass das Puzzle nicht primär im Sinne eines Spielzeugs, sondern als Metapher zum Einsatz kommt. Das Puzzle reflektiert mit seinen Bildfragmenten auf haptischer Ebene die grundsätzliche Dekonstruierbarkeit unserer Realitätsvorstellungen und ironisiert die Funktion gewöhnlicher Nachrich-
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tenbilder, welche die Katastrophe als »ästhetisches Spektakel« nutzen, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu gewinnen.20 Die Abbildungen sind aber auch als Memorial-Instanz zu betrachten. Die Archive, aus denen Draeger schöpft, sind das Äquivalent zur persönlichen Erinnerung. Seine Photopuzzles stehen deshalb einerseits für die Zusammensetzbarkeit visueller Eindrücke, welche dem Betrachter nur noch bruchstückhaft im Gedächtnis sind. Andererseits mahnen sie zur Differenzierung der Wahrnehmung, da sie als Photographien automatisch einer Manipulation unterworfen sind und der Betrachter in seinem Glauben an die Authentizität des Bildes noch immer leicht täuschbar ist.
Abbildung 2: Christoph Draeger, Ausstellungsansicht »Critical distance«, ADO Gallery, Antwerpen, v.l.n.r.: »Hurricane Andrew«, 1993 (Acrylic paint jet auf Puzzle, 8000 Teile, 136 x 192 cm), »Teneriffa 1977 (Largest Aircrash Ever)«, »Reims 1918, Mount St. Helens«, 1993 (alle Acrylic paint jet auf Puzzle, 4000 Teile, 96 x 136 cm) (Photo: Kristien Daen, courtesy ADO Gallery Antwerpen)
Die Aufnahme der zerstörten Häuser und der Kathedrale von Reims steht deshalb in einem Kontext mit dem Flugzeugwrack des Absturzes auf Teneriffa 1977 und dem verheerenden Ausbruch des Vulkans Mount St. Helens (Abb. 2). Die Katastrophen werden dadurch als visuelle Ereignisse auf eine gleiche Ebene gebracht. Der Künstler unterstellt mit dieser Prä-
20 Blübaum 1999: 11. 346
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sentation keine undifferenzierte Berichterstattung der Medien,21 vielmehr geht es ihm um die ästhetische Qualität der Aufnahmen. Der Vergleich behauptet die aus der sicheren Wahrnehmung des Betrachters heraus äquivalente Faszinationskraft aller Aufnahmen und die damit verbundene Ehrfurcht vor dem existenzvernichtenden Effekt dieser Katastrophen. Bezüglich des eigenen Operationssystems, der Kunst, in welchem Draeger arbeitet, gewinnt die Arbeit Documenta 0 eine eigene Brisanz. (Abb. 3) Draegers ironischer Titel macht die Nachkriegstrümmerlandschaft zum Kunstwerk. Die Aufnahme zeigt die Stadt Kassel nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Kassel lag zudem als Grenzstadt in engster Nähe zur russischen Besatzungszone und der späteren DDR. Diese geografische und politische Ausgangslage hat die Ausstellungsmacher der ersten Documenta 1955 dazu veranlasst, mit dieser Präsentation zeitgenössischer Kunst eine politische Stellung zu beziehen.22 Erst nach dem Wiederaufbau aber war Raum für eine künstlerische Wahrnehmung geschaffen. Das Gelände der Documenta, der wichtigsten Ausstellung für Gegenwartskunst, ist heute in den sanften Grashügeln über den Trümmern situiert. In ihrer dokumentierenden Funktion ergänzen sich somit der Auftrag der Ausstellung (und ihres Labels) und die historische Photographie auf Draegers Puzzle. Das Paradoxon, durch die Zusammensetzung eines Puzzles ein Bild der Zerstörung zu erhalten, wird hier am eindrücklichsten deutlich. Eine weitere Photographie auf Puzzle zeigt die zerstörten Stahlkonstruktionen des World Trade Centers, WTC (Abb. 4). Sie macht besonders deutlich, wie stark dieses Bild zum Symbol geworden ist, und verweist mit dessen potentieller Zerlegbarkeit in Einzelteile nicht nur auf die reale Zerstörung des Gebäudes, sondern deutet auch auf die Fragmente hin, die in der Erinnerung des Betrachters immer wieder die Schematik dieser bekannten Bildkomposition auftauchen lassen.23 Innerhalb eines künstlerischen Diskurses trifft das Bild außerdem auf die Publikation der Magnum-Pressephotographen, deren Photographien vom zerstörten World-Trade Center ihren Gegenstand unter spezifisch künstlerischen Gesichtspunkten präsentieren. Mark Terkessidis weist in diesem Zusammenhang auf den malerischen Gestus der Magnum-Aufnahmen hin, für den er die Bezeichnung ›Doku-Malerei‹ entwirft, um sie somit als Mischform zwischen dokumentarischer Photographie und komponierter Malerei zu deklarieren.24 21 Die Indifferenz wird gleichwohl angedeutet. In der ästhetischen Dimension kann man deshalb durchaus sogar von Austauschbarkeit sprechen. 22 Mit der letzten Documenta 11 wurde dem politischen Gestus dieser Kunstausstellung noch einmal Nachdruck verliehen. Vgl. Kunstforum International 161/2002. 23 Viehoff/Fahlenbrach 2003: 55f.. 24 Terkessidis 2003: 282. 347
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Er sieht die Faszinationskraft der Bilder in ihrer Interaktion mit dem Betrachter, dem das Gefühl der persönlichen Präsenz in der Photographie vermittelt werden soll.25 Die von Terkessidids den 9/11-Aufnahmen zugeschriebene ästhetische Wirkung bricht sich aber im Falle von Draegers Photopuzzle bereits in der Materialität des Bildträgers. Das Bild wird zur Parodie, weil die spielerische Komponente des Puzzle die Ernsthaftigkeit des Ereignisses aufhebt.
Abbildung 3: Christoph Draeger, »Documenta 0« (Kassel 1945), 1999, Documenta Archiv, Kassel, Acrylic paint jet auf Puzzle, 7500 Teile, 110 x 260 cm, Sammlung Ringier
Abbildung 4: Christoph Draeger, »WTC, 2003«, Acrylic paint jet auf Puzzle, 136 x 192 cm, 8000 Teile, courtesy Galerie Anne de Villepoix, Paris 25 Ibid.: 283. 348
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Apokalyptische Reisen Ganz systematisch sammelt Draeger Daten zu weltweit sich ereignenden Katastrophen, um diese Ereignisse zu einem Teil seiner künstlerischen Arbeit zu machen. Seit 1994 reist er aus den USA und der Schweiz über Mexiko bis Japan um die Welt zur Dokumentation dieser Unglücksstätten. Der Künstler erscheint meistens lange nach der Katastrophe vor Ort zur Bestandsaufnahme des status quo. Hieraus entsteht die Serie der Voyages apocalyptiques, zahlreicher Reisen zu den Unglücksschauplätzen der Welt mit photographischer Dokumentation vor Ort. Mit dieser Photoserie und der vorangehend beschriebenen Werkgruppe Most Beautiful Catastrophies in the World, unter welcher er die Puzzle-Arbeiten zusammenfasst, steht Draeger in der Titeltradition der ›voyage pittoresque‹, der Forschungs- und Bildungsreise des 18. Jahrhunderts, bei welcher der Reisende auf den Spuren der Antike seine Eindrücke und Erkenntnisse schriftlich festhält.26 Auslöser dieser Spurensuche sind besonders die im 17. und 18. Jahrhundert veröffentlichten Beschreibungen und Aufzeichnungen der historischen Architekturfragmente des Mittelmeerraums. In einer Weiterentwicklung der aus der Distanz und auf der Basis vorhandener Bild- und Textdokumente verfassten Abhandlungen, als deren Vorbild Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums gilt, reisten die Gelehrten und Bildungsinteressierten aus Frankreich, England und Deutschland nach Italien, Griechenland und Kleinasien, um auf den Spuren von Homers Epen den Schauplätzen der antiken Mythen nachzuspüren und »um dort mit der Anwesenheit der schönen Reste und der Abwesenheit des noch schöneren Ganzen konfrontiert zu sein.«27 Die Reiseberichte zu ihrer ›Grand Tour‹ wurden unter dem Titel Voyage pittoresque veröffentlicht und verweisen damit auf die Priorität der Bilder gegenüber dem reinen Textmedium, denn die textlichen Erläuterungen wurden neben der Erhabenheit der bildlichen Reproduktion des Monuments marginal.28 Im Vordergrund steht die Demonstration der Ruine als Relais, über 26 Geimer 2002: 10 u. 201. 27 Ibid.: 7. u. 90f. Peter Geimer orientiert sich vornehmlich an englischen und französischen Quellen, seine Aufmerksamkeit gilt u.a. folgenden Schriften: M.G.F.A. de Choiseul-Gouffier (1782): Voyage pittoresque de la Grèce, Bd. I, Paris; Jean Houel (1782-87): Voyage pittoresque des Isles de Sicile, de Malte et de Lipari, où l’on traite des Antiquités qui s’y trouvent encore; des principaux Phénomènes que la Nature y offre, du Costume des Habitans & quelques Usages, 4 Bde., Paris; Richard de Saint-Non (1781-86): Voyage pittoresque ou description des royaumes de Naples et de Sicile, 4 Bde., Paris. 28 Ibid.: 162. Die Reiseberichte verfolgen die Nachträglichkeit ihres Gegenstandes, denn das »Fantasma dieser Bilder ist der archäologische Kontext, in dem sie erscheinen.« Überwiegend konzentrierten sich die Abbildungen auf die Reste des Altertums, Herkulaneum und Pompeji, Syrakus, Taormina, 349
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dessen entleerten Referenzraum neue Imaginationen möglich sind.29 Die Vorstellung des Alten, eine Rekonstruktion der Ruine, erfolgt nicht über die Hinweise des Bildes, sondern über vorangegangene Lektüre. Durch die literarische Konditionierung des Betrachters projiziert er in die Ruinen seine Vorstellung und sein Wissen über die alte Welt. Wichtig ist dabei die Authentizität der Wiedergabe, um die Gegenwärtigkeit der Ruine in ihrer physischen Präsenz wahrzunehmen.30 Diese Tradition der Ruinenästhetik kehrt bei Draeger in seinen Voyages apocalyptiques wieder. Auch Draeger bedient sich des Vergangenseins des Reproduzierten. Wie seine historischen Vorgänger tritt er als Kartograph der Zerstörung auf und verzeichnet die entsprechenden Orte systematisch.31 Auffällig bei seinen Photographien ist allerdings, dass sie fast keine Auswirkungen der Katastrophen zeigen, weder Trümmer noch Feuersbrünste oder Wrackteile, sondern die friedliche Alltäglichkeit eines Ortes irgendwo auf der Welt. Die Spuren des früheren Unglücks sind verblasst. Allein die systematische Wahl der Schauplätze lässt Rückschlüsse auf die Hintergründigkeit des Bildes zu. Im Zusammenhang mit Draegers Arbeitsthematik muss dies zunächst seltsam erscheinen, erwartet der Betrachter doch apokalyptische Szenarien. Draeger benennt die Photographien immer nach dem Ort und dem Datum der Aufnahme und ergänzt sie mit erläuternden Legenden.32 Die Indexqualität der Bilder bekommt durch die-
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Selinunt, Agrigent und Pozzuoli. In diese Alterehrwürdigkeit konnte 1783 Messina als Ausnahmeerscheinung eingereiht werden, nachdem die Stadt durch ein Erdbeben vernichtet worden war. Die Schönheitsprinzipien der ›voyage pittoresque‹ fanden plötzlich in der Gegenwart ihre Anwendung. Ibid.: 196-201. Ibid.: 8. Ibid.: 171. Die Publikation Disaster Zone beinhaltet die Carte apocalyptique du monde 10/99 auf der Innenseite des Katalogdeckels. In variabler Dimension darstellbar basiert die Karte auf der Gestaltungsidee von Richard Buckminster Fuller, erstellt durch Jens-Ingo Brodesser, und ist seit 1994 in der Aufzeichnung konstant aktualisiert worden. Der Begriff einer politischen Landkarte wird dadurch neu konnotiert. (Vgl. Draeger 1999.) Der Katalog kommt selbst einer Kartographie von Draegers Kunstwerken nahe, dokumentiert er doch wiederum die Ausstellung der Katastrophenszenarien. Eine spezielle Form der umgekehrten Landkarte taucht auch in Georges Perecs Das Leben. Gebrauchsanweisung auf; dort ist sie Teil einer historischen Landkartensammlung von Percival Bartlebooth und deutet in diesem Zusammenhang kartographischer Kuriositäten auf die Möglichkeit der differenzierten Weltbeschreibung hin. Vgl. Perec 1982: 609. Vgl. Bianchi 1997: 105. Die ritualisierte Integration der Katastrophenbewältigung in der japanischen Kultur, der ›Tag der Katastrophe‹ alljährlich am 1. September, war ausschlaggebendes Ereignis für die vertiefende Auseinandersetzung Draegers und Freis mit dem Phänomen der Katastrophe in der östlichen Welt. Vgl. Doswald 1999: 64. 350
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se raum-zeitliche Zuschreibung eine Unbedingtheit, die über die reine Präsenz der Aufnahme weit hinausgeht. Denn auch Jahre danach kann sich der Betrachter das in den Medien präsentierte Bild der Katastrophe noch in Erinnerung rufen. Dieser Funktionsmechanismus verbindet sein Werk mit den Ruinen- und Architekturabbildungen in den ›voyages pittoresques‹, deren Bildlegenden ebenfalls Auskunft über die Darstellung erteilen – mit dem bedeutenden Unterschied jedoch, dass eine Gegenüberstellung von Ruine und Rekonstruktion eine Differenz herstellt, die auf ein Bewusstsein von Historizität hinweist. Durch die Rekonstruktionszeichnung wird die Zerstörung der Ruine kompensiert. Draegers Photographien sind dagegen die direkte Metamorphose von Vergangenheit und Gegenwart: Die in ihnen enthaltene Rekonstruktion resultiert nicht aus Künstlerhand, sondern aus der Distanz zur Katastrophe und der tatsächlichen Rekonstruktion von Gebäuden bzw. der Wiederherstellung des Landschaftsbildes.33 Am Beispiel der Photos von Hiroshima und Nagasaki 18250 Days After34 (Abb. 5 u. 6), welche genau fünfzig Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf die beiden Städte aufgenommen wurden, zeigt sich diese Diskrepanz zwischen Sehen und Vorstellung deutlich. Außerdem gibt es kaum ein anderes Motiv, welches eindringlicher für das kataklysmische Moment einer humanen Katastrophe stehen würde. Gerade aus dem Kontrast zwischen der Neutralität der Aufnahme und dem Abgleich aus dem Gedächtnis ergibt sich die Spannung der Bilder. Draegers Photographien funktionieren in dieser Form genau umgekehrt wie die Abbildungen der ›voyages pittoresques‹, bei welchen von der Ruine auf die Pracht der ursprünglichen Architektur zu schließen ist. Draeger führt mit dieser Serie vor, wie viel eindrucksvoller für den Betrachter der Anblick einer kontextgebundenen Photographie ist, wenn ein ungewöhnliches, überwältigendes oder unglaubliches Ereignis repräsentiert wird. Diese Photoserie illustriert das rasche Fortschreiten der Geschichte und das schwindende Erinnerungsvermögen. Nur dort, wo die Katastrophe eintrat, verharrt sie im Gedächtnis der Opfer, für Außenste33 Geimer 2002: 173f. Eine ähnliche Verdichtung zum Einzelbild tritt bei Torquilino Borra auf, dessen Überblendung in einem Bild sowohl die Ruine als auch den intakten Tempel zusammenfasst, »as it was und as it is« – wie Geimer aus Robert Woods Les ruines de Balbec autrement dit Heliopolis dans la Coelosyrie (London 1751, Tab. XXVIII) zitiert. Ibid.: 182f. 34 Zusammen mit Martin Frei hat Christoph Draeger 1995 anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Atombombenabwürfe eine reisetagebuchartige Filmcollage über das Vergessen, d.h. über die Ritualisierung des Gedenkens gedreht. Der Titel des Films Un ga nei (Kein Glück gehabt, 1995) bezieht sich auf einen Ausspruch der Japaner, mit welchem sie die vom Unglück betroffen Menschen bezeichnen. Die für ihre Katastrophen bekannte Insel Japan hat deshalb einen wichtigen Stellenwert im Werk von Christoph Draeger. Vgl. Bianchi 1997: 105. 351
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hende bleibt sie ein verdrängbares mediales Phänomen. Draeger verdeutlicht die Existenz dieser zu einem Großteil eigentlich unscheinbaren Orte, die oftmals allein deshalb im Gedächtnis bleiben, weil sie zur Ereigniszone des tragischen Geschehens wurden. Durch die Gewinnung dieser Einsicht allerdings prägt sich auch die Erinnerung an das Katastrophenbild erneut ein, mnemotechnisch bedingt womöglich noch stärker als zuvor, da gerade durch das Auslassen die Imagination angeregt wird. Draegers neue Aufnahme des Unglücksortes belässt dessen Gegenwart unberührt. Das Bild wird zur mentalen Projektionsfläche des Vergangenen.
Abbildung 5 u. 6: Christoph Draeger, »18250 Days After«, 1995; v.o.n.u.: Hiroshima, August 6 1995, 8.15 a.m.; Nagasaki, August 9 1995, 11:02 a.m., CPrint, 110 x 158 cm
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Apokalyptische Räume Eine der ersten raumfüllenden Installationen, in welcher die Katastrophe vom zweidimensionalen Bild in die Dreidimensionalität ausgeweitet wurde, ist die Arbeit Apocalypso Place (1999/2000), für welche Christoph Draeger die Innenräume einer amerikanischen Vorstadtwohnung bzw. ein Duplex-Appartement gemäß ihrer Erscheinung nach einem katastrophalen Szenario nachgebaut hat. Die bis ins kleinste Detail gestaltete Einrichtung des zerstörten Raumes ist ähnlich auffallend wie bei der frühen photographischen Arbeit Catastrophe #1, bei der sich der Betrachter vor allem wundert, unter welcher Art von Gewalteinwirkung der Schaden entstanden sein muss. Für Draeger stehen die simulierte und die wahre Zerstörung in einem verhängnisvollen Zusammenhang,35 denn mit dem 11. September 2001 ist die inszenierte Katastrophe mit realen Folgen eingetreten. Indem der Künstler dieses Ereignis ästhetisiert, droht ihm der Vorwurf der Komplizenschaft. Doch mit der ironischen Distanznahme bei der Darstellung des Schreckens ist vielmehr eine Bewältigung verbunden. Draegers Installationen sind Beschreibungen dessen, was potentiell erfahrbar ist.36 Seine Arbeit Ode to a Sad Song/If You Lived Here, You Would Be Dead Now (Abb. 7) von 2001 steht deshalb in einem neuen Zusammenhang mit der Ubiquität des Katastrophischen, als welche die postmoderne Simulationstheorie weltpolitische und kulturelle Entwicklungen vorausdeutete. Zu seiner Ausstellung in der Galerie Roebling Hall in New York verfasste Draeger im September 2001 den ironischen Entwurf eines Pressetextes. Darin lässt die Galerie verlautbaren, der traurigen Pflicht einer Ausstellung Draegers nachzukommen. Der Künstler habe die Galerie verwandelt in […] a shattered area of decay, a smelly wasteland, a kingdom of terror and destruction. For one month, the viewers will have to anticipate what the End might look like … […] Come, if you must, and see how humanity might come to an end. […] Enter the remains of a sunken civilisation. […] We decline all responsibility.37
Der Eröffnung der Ausstellung am 20. September kamen allerdings die Ereignisse des Terroranschlages vom 11. September 2001 zuvor. Die Katastrophe, welche in der künstlerischen Institution Galerie inszeniert werden sollte, ist in dem real-politischen Umraum bereits umgesetzt 35 Vgl. Munder/Milla 2001. 36 Vgl. die Funktion kultureller Artefakte in der Auseinandersetzung mit Gewalt nach Auschwitz bei Scherpe 2002: 129. 37 Draeger 2003: 4. 353
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worden. Die Realität bot somit ein wahres Ereignis, welches die künstlerisch inszenierte Katastrophe bei weitem übertraf. Dennoch wurde die Ausstellung eröffnet, begleitet allerdings von einem erklärenden Text des Galeristen Christian Viveros-Fauré, in welchem er das Thema der Ausstellung in Bezug auf das jüngste Ereignis in New York rechtfertigt. Eschewing morbidity and voyeurism of any kind, the gallery presents Draeger’s Ode to a Sad Song, a symbolic exploration of both the decline and rebirth of civilisation, a subject we broach with the utmost sympathy and respect for the magnitude of the tragedy that has befallen our city, New York.38
Die political correctness blieb somit gewahrt und Draegers Provokation entschärft. Die zufällige Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse, die für das künstlerische System einzigartig ist, bringt die ästhetische Folgenlosigkeit des Kunstwerks zweifelsfrei zur Geltung. Das diskursive Potential hinsichtlich einer fragwürdigen Moraldarstellung allerdings verstärkt sich in diesem Zusammenhang. Im Galerieraum befinden sich das Wrack eines ausgebrannten Trailers sowie weitere, vom Feuer beschädigte Gegenstände, welche als räumliche Installation den Anblick eines katastrophalen Szenarios bieten. Mehrere Videoprojektionen zeigen den Ablauf der Brände und chaotische Szenarien, »images of deadly personal chaos and its aftermath«39, und setzen die bewegten Bilder der Zerstörung als rahmende Umgebung zu den verkohlten Überbleibseln. Der Betrachter schreitet praktisch durch die Reste des Szenarios, welches ihm die großen Projektionen vorführen. Während der Film das Geschehen vor Augen führt und die Bilder des ausbrennenden Campingwagens zeigt, füllen bereits der Geruch und die verbrannten Reste des Wracks den Ausstellungsraum. Die Vernichtung des Wohnwagens ist das pars pro toto eines globalen Infernos. Die mobile und kompakte Wohneinheit des modernen Nomaden, die Behausung für Urlauber, Siedler und Fahrende, das Modell für flexible Urbanität und das beschleunigte Entstehen und Verschwinden von Städten. Der Camping-Trailer ist die Schnittstelle von Sesshaftigkeit und Nomadentum, seine Zerstörung deshalb das Symbol für das Ausgeliefertsein an das Schicksal. Durch die Ausstellung des Reliktes im System der Kunst wird der Moment der Zerstörung, der bislang nur Teil der Fiktion im bewegten Bild gewesen ist, begreifbarer Teil der haptischen Realität. Das übertriebene Szenario des Videos wird aber nie richtig glaubhaft, denn seine Präsentation erhält die Aura des Artifiziellen. Draegers zumeist amateurhaft 38 Ibid.: 5. 39 Ibid. 354
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inszenierte Videos wirken gerade dadurch authentisch, dass die Fiktion erkennbar bleibt. Daniel Binswanger spricht sogar von einer »Poesie der Panne«40. Über die Projektion von Videos oder deren Abspielen auf Fernsehern, welche in die Rauminstallationen integriert sind, ist der Betrachter in das räumliche Desaster eingebettet, welches umfassende Sinnesreize auslöst. Das Prinzip der Imitation, das bereits für die Konzeption von Draegers frühen Photoarbeiten grundlegend war, hat der Künstler um eine ganzheitliche Raumerfahrung erweitert. Dadurch gibt es bei der Rezeption weniger Maßstäbe, um das Gesehene an einer externen Realität zu messen. Der Betrachter betritt die Szenerie und kann die visuellen Eindrücke nur mit seinen mentalen Bildern abgleichen. Zwar impliziert schon die Fiktionalitätskonvention, dass der zu betretende Raum real, die Katastrophe dagegen inszeniert ist, die künstlerische Intention verlangt aber, diese Abgrenzung zunächst zu ignorieren, nur um die Täuschung kurz darauf umso intensiver wahrzunehmen. Draegers katastrophale Inszenierungen bleiben Modell und werden deshalb auch als ein solches betrachtet. Das Erstaunen entsteht dadurch, dass der Betrachter auf der Bühne steht und Teil des Spiels aus Simulation und Brechung wird.
Abbildung 7: Christoph Draeger, »Ode To A Sad Song (If You Lived Here, You Would Be Dead Now)«, 2001, DVD, 7 Min. (Screenshot: Sebastian Baden)
40 Binswanger 1999: 59. 355
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Die Romantik des Desasters Draeger steht mit seinen Bildern in einer künstlerischen Tradition, die sich dem Motiv der Zerstörung in einer historisch verklärenden Form zuwendet: Die Ruinen in der Landschaftsmalerei und Landschaftsgestaltung des 18. und besonders des 19. Jahrhunderts sind die Vorbilder der Darstellung von zerfallener oder zerstörter Architektur. Peter Geimer spricht von »Strategien der Nachträglichkeit« als den Diskursen des 18. Jahrhunderts, »die immer schon mit dem Vergangensein der Antike rechneten, um in ihre Leerstellen Schriften, Bilder und Phantome einzusetzen.«41 Buch und Ruine sieht er deshalb als Mittler dieser Vergangenheit, als Instanz einer Hermeneutik des Unsichtbaren, zu welcher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ruine geworden sei. Die RelaisFunktion der künstlichen Trümmer und der antiken Architekturfragmente bedeutet für ihn, Bedeutungen im Leeren zu erzeugen und eine Verschränkung von Vorhandenem und Verschwundenem, Erhaltenem und Zerstörtem zu ermöglichen. Mit Hartmut Böhme stimmt Geimer darin überein, die Ruine als freien Schauplatz neuer signifikatorischer Akte zu begreifen.42 Als Projektionsfläche der Imagination dient das Architekturfragment in literarischer, bildnerischer oder skulpturaler Form dem Sehen und Lesen der Vergangenheit sowie dem Winckelmann’schen Betrachtungsmodus des zu sehen Glaubens.43 Vor allem das über Bücher reproduzierte Wissen wurde als Grundlage des hermeneutischen Vorgehens genutzt. Die Unsichtbarkeit der Vergangenheit gibt der Deutung des Sichtbaren neuen Raum. Aus dieser Differenz konnte die Ästhetik der Ruine überhaupt erst entstehen.44 Die Ruine transportiert als zentrales Motiv die Mittelaltersehnsucht der Romantik und zerfällt seitdem in verschiedene sinngebende Diskurse, wie der »Tendenz zur Universalisierung des Ruinenemblems.«45 Diesen Gedanken formulierte bereits im 17. Jahrhundert Thomas Burnets Theorie der Erde, eine eschatologische Deutung der globalen Ruine, des Desasters, dessen Undenkbarkeit Blanchot nach den humanen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in seiner L’écriture du désastre wiederholt zu beschreiben versucht.46 Die Ruine, und somit die Katastrophe, sei – so Böhme – das »Dementi des Scheins des Schönen« und Grundlage der Ästhetik des Schocks in der Moderne.47 Eine mildere, poetischere Beschreibung findet Norbert Miller, der das 41 42 43 44 45 46 47
Geimer 2002: 8. Ibid.; Böhme 1989: 288. Geimer 2002: 9. Böhme 1989: 288. Ibid. Ibid. 295f.; Blanchot 2005. Ibid.: 294. 356
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Vergangensein der Kunst, welches sich in einem Bewusstsein der Historizität niederschlägt, aus einer Gegenbewegung zum Klassizismus und der Aufklärung entstanden sieht. Seinen Ausführungen über Horace Walpoles Landhaus ›Strawberry Hill‹ stellt er die »Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit« im Titel voran.48 Horace Walpole begründete mit der Konstruktion dieses Landsitzes in Europa die Wiederentdeckung des feudalen Mittelalters. Damit einher gehen neue Formen des Denkens im Entwicklungsdrang der Aufklärung, wobei Horace Walpoles Neuerungen nach Miller aber keinen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des aufklärerischen Kunstdenkens hatten. »Das gilt für die Zeitmoden, die durch Horace Walpole in die Kunst- und die Literaturgeschichte seiner Zeit eingeführt wurden, für die Wiederentdeckung des seit der Renaissance geächteten, mit der Barbarei gleichgesetzten ›gotischen‹ Stilideals in der Architektur und für den Schauerroman.«49 Dennoch verweist Miller auf die spätere Verklärung des ritterlichen, feudalen Mittelalters durch die Romantik, manifestiert in den gotisierenden Einsiedeleien, Ruinen, Kapellen und Burganlagen und dem Inventar des Schauerromans. Der Autor stellt seine Untersuchung zu dem von Horace Walpole geprägten ›gothick revival‹ in Widerspruch zum ihrem Begründer, dessen Absicht es nicht war, eine Epoche zu prägen, sondern herauszufinden, […] ob und wie zwangsläufig aufklärerische Gesinnung dann in ihr Gegenteil umschlagen muss, wenn sie im Experiment die Grenzen ihrer Wirksamkeit prüft. […] Ob nicht Aufklärung gerade darin besteht, die eigenen Voraussetzungen und die eigenen Lösungen selbstkritisch, ironisch, in Jean Pauls Sinne humoristisch immer wieder in Frage zu stellen.50
Aus diesem Blickwinkel kann auch Draegers Werk betrachtet werden. Seine kritische Hinterfragung der Systematik der Medien kommt einem aufklärerischen Impuls gleich.51 Die Art der Präsentation, besonders der Bildträger bei den Puzzles, führt das Misstrauen aber auf eine humorvolle Ebene. Aus der Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit wird bei ihm die Ästhetik der spielerischen Zerstörung. Die Fiktion findet ihre Umsetzung im lebensgroßen Modell der Katastrophe. Die Ruinanz dieser gebastelten Modelllandschaft erinnert an die romantische Landschafts-
48 49 50 51
Miller 1986. Ibid.: 10. Ibid.: 25. Draeger vertritt allerdings keine politische Kritik, wie sie die Kunst des Fluxus oder die Situationistische Internationale in den sechziger Jahren proklamierten und damit auch einige Künstler der Gegenwart noch beeinflussen konnten. Vgl. Arns 2004. 357
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malerei, die sich gerne des Desasters annahm, um die Geborgenheit des Betrachters in der heimischen Stube illusionistisch zu verstärken.52 Die Verbindung von Draegers Werk und der Darstellung der Ruine in der Romantik beruht auf den ähnlichen Einflüssen und Zwecken. Architektur, Gartenkunst, Malerei, Grabmalkunst und Bühnendekoration übernahmen das Motiv der Ruine in ihre Komposition.53 Günter Hartmann führt die Ruine als Dekorationselement des Landschaftsgartens auf einen italienischen Ursprung zurück. »Hauptsächlich veranlasst durch das Interesse der Humanisten für die Antike wurden in italienischen Renaissancegärten gelegentlich antike Ruinen in die Anlagen einbezogen […] oder antike Gebäude nachgebildet.«54 Vor allem vermittelt durch die Malerei sei die Ruine schließlich in die Architektur eingegliedert worden. Hartmann geht näher auf die Gestaltung dieser architektonischen Elemente ein, erwähnt dabei den Einfluss Piranesis und zieht daraus Konsequenzen für die Art der Zerstörung, in welcher die Ruine präsentiert sein soll. Mit der Kunstfertigkeit eines Hubert Robert gelangte die bildliche Darstellung der Ruine zu ihrem Höhepunkt.55 Seine gleichzeitige Tätigkeit als Maler und Landschaftsgärtner begünstigte einen wechselseitigen Einfluss von malerischer und plastischer Gestaltung. Besser als jede intakte Architektur wertet die künstliche Ruine den Naturbegriff auf und sorgt in ihrer Darstellung für eine Differenz, welche als Beginn der Historisierung in der Kunst lesbar ist. Speziell Roberts Gemälde Imaginäre Ansicht der Grande Galerie des Louvre als Ruine (1796) ist als dichte und treffende Beschreibung der Vergänglichkeit der Welt und des ästhetischen Diskurses zu deuten.56 Seine Darstellung der Zerstörung fungiert in ähnlicher Weise gleichermaßen als systeminterne Kritik und Selbstironie, wie Draegers Documenta 0 – eine Vorführung der Fragmentarisierung. Roberts Vision aber ist fiktional und in die Zukunft gerichtet, die Kulissenhaftigkeit der Ruine steht als Projektionsfläche im Vordergrund.
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Vgl. Blübaum 1999: 12. Hartmann 1981. Ibid.: 123. Vgl. Burda 1967. »Der historische Blick, der sich von einem fernen, zukünftigen Ort aus auf die Reste der Gegenwart richtet, ist eine Fiktion, ein Gedankenspiel mit der Zeitreise. Für die Ruine des Louvre nahm der Maler immerhin an, dass sie seinen zeitgenössischen ästhetischen Kategorien des Pittoresken und Erhabenen genügen würde, zumal da sie in den Bauformen an römischer Architektur orientiert war. Neu aber ist der Gedanke an geschichtliche Prozesse, denen auch die Gegenwart nicht entkommen kann, und die Vorstellung, dass mit den Bauwerken alle in ihnen materialisierten Zwecke, Ziele und Werke, den späteren Zeiten nur als Fragmente überliefert werden könnten.« Holländer 2002: 424. 358
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Die Nutzung der Ruinenlandschaft als Theaterbühne kann als Kulminationspunkt einer Entwicklung angesehen werden, da hier Betrachter und Zuschauerraum Teil der Szene sind und alle Bereiche dieselbe Realitätsebene umfassen.57 Bei Draeger wird die Katastrophe allumfassend und bleibt dennoch künstlich, weil der Künstler bewusst auf Momente der Verfremdung setzt, um die Brüchigkeit der Präsentation aufzudecken. Ähnlich wie er bereits in seinen Katastrophenmodellen Maßstabsverwirrungen stiftet, führt seine Ausdruckspalette über die reine Bildreproduktion zur Rauminszenierung. Draeger kombiniert die romantische Sehnsucht nach der artifiziellen Ruine mit der Freizeitpark-Sehnsucht der modernen Unterhaltungskultur. Das Vanitassymbol, welches die Landschaftsruine verkörpert,58 liegt in der Realität dokumentarischer Aufnahmen und ihrer räumlichen Reinszenierung. Die ästhetischen Prinzipien bleiben gewahrt, nur auf der inhaltlichen Eben wechseln die Zeichen, da entsprechend unserer Gegenwart Medien und Ausdrucksformen angepasst werden müssen.
Georges Perec: Literarisches Puzzle Sowohl Peter Geimer als auch Hartmut Böhme führen die Beschreibung der Ruine auf ihren literarischen Ursprung zurück. Die Bibliotheken, welche die Reisenden mit sich führten, waren zugleich Anleitung zur Betrachtung der Architekturfragmente, deren Deutung allein auf der Basis antiker Überlieferung möglich schien.59 Dort, wo keine Ruinen mehr zu betrachten sind, »wo Geschichte sich restlos in Natur aufgelöst hat, dort hat Erinnerung keinen Halt mehr oder muß vollständig in Schrift übergegangen sein – wie in dem berühmten Satz: ›campus ubi Troia fuit‹.«60 Das homerische Epos fungiert als Ersatz physischer Präsenz, die Schrift als Bewahrer und Vermittler der Geschichte jenseits aller bildnerischen Anschaulichkeit. Diese Thematik des Archivs, der systematischen Aufzeichnung und Beschreibung, die Draeger anhand der Katastrophe verfolgt – weil die Ruine Signatur der Gegenwart und ubiquitär ist61 – findet ihr literarisches Pendant in Georges Perecs Roman La vie. Mode d’emploi (1982). Der französische Autor setzt das Puzzle als Leitmotiv, um die Vielteiligkeit seiner Erzählung zu veranschaulichen. Sein Werk ist als Hypertext 57 Vgl. Hartmann 1981: 321. Gewöhnlich blieb die Ruine architektonische Zierde im Hintergrund und wurde – als unberührbares Kunstwerk – nur aus der Distanz betrachtet. 58 Vgl. Ibid.: 181. 59 Geimer 2002: 8 u. 91; Böhme 1989: 288f. 60 Böhme 1989: 289. 61 Ibid.: 300. 359
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angelegt, in welchem alle Teile miteinander in Zusammenhang stehen. Perec verweist darauf, dass das Puzzle als ›Schmalspurkunst‹ angesehen würde, doch müsse seine Eigenschaft als Gesamtheit, Form und Struktur beachtet werden: Das Element existiert nicht vor dem Ganzen, […] sondern das Ganze bestimmt die Elemente. […] Nur die zusammengefügten Teile erlangen die Eigenschaft der Lesbarkeit, bekommen einen Sinn: einzeln betrachtet hat der Baustein eines Puzzles keine Bedeutung; er ist nur eine unmögliche Frage, eine undurchsichtige Herausforderung.62
Die zentrale Figur in Georges Perecs Roman ist Percival Bartlebooth, ein äußerst wohlhabender Pariser, der aufgrund seines Vermögens und seiner pflichtbefreiten Lebensweise ein für sich lebensfüllendes Projekt plant und konzeptionell bis zu seinem Tode durchführt: Nach einem zehnjährigen Aquarellzeichenkurs bei dem Maler Serge Valène beginnt Bartlebooth eine zwanzig Jahre dauernde Weltreise, während der er gemeinsam mit seinem Diener Smautf fünfhundert von ihm aufs ›Geratewohl‹ ausgesuchte Seehäfen auf der ganzen Welt aufsucht, um dort je ein ›Seestück‹ zu malen.63 Dies ist sein kartographisches Konzept, um die Ganzheit der Welt in einer bestimmten Anzahl von Bildern zu sammeln. Jedes Mal, wenn eines dieser Seestücke fertiggestellt wäre, würde es einem spezialisierten Handwerker geschickt werden (Gaspard Winckler), der es auf eine dünne Holzplatte kleben und dann in ein aus siebenhundertfünfzig Einzelteilen bestehendes Puzzle zerlegen würde. Zwanzig Jahre lang, von 1955 bis 1975, würde Bartlebooth, nach Frankreich zurückgekehrt, der Reihe nach die Puzzles wieder zusammenfügen und zwar wieder jeweils ein Puzzle alle vierzehn Tage. Sobald die Puzzles dann zusammengesetzt wären, würden sie wieder ›ineinsgebracht‹ werden, so dass man sie von ihrer Unterlage ablösen und an den Ort zurückbringen könnte, an dem sie – zwanzig Jahre zuvor – gemalt worden waren, wo man sie in eine Reinigungslösung legen würde, aus der lediglich noch ein Blatt Papier Marke Whatman, intakt und jungfräulich, herauskäme. So würde von diesem Wirken, das seinen Urheber fünfzig Jahre lang in Bewegung gehalten hätte, keine Spur zurückbleiben.64
Bartlebooth verfolgt dieses Konzept, entsprungen einem Wunsch seiner Jugendzeit, mit eiserner Disziplin. Sein Vorhaben basiert auf der radikalen künstlerischen Strategie, ohne Rücksicht die geplante Handlung zu 62 Perec 1982: 13. 63 Ibid.: 97. 64 Ibid.: 198. 360
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vollführen, die nur für sich selbst betrachtet Sinnhaftigkeit hat. Es geht ihm um die Erfassung eines Bruchteils der Totalität der Welt und darum, »ein sicherlich beschränktes, aber in sich ganzes, intaktes, unerbitterliches Programm völlig zu Ende zu führen. Mit anderen Worten, Bartlebooth beschloss eines Tages, sein ganzes Leben auf ein einziges Projekt hin auszurichten, dessen willkürliche Notwendigkeit allein Selbstzweck wäre.«65 Der Selbstzweck ist dritter Leitgrundsatz seines Vorhabens und ästhetischer Art: Nutzlos, da die Zweckfreiheit die einzige Garantie für seine Strenge ist, würde sich das Projekt in dem Maße, in dem es verwirklicht werden würde, selbst zerstören; seine Vollkommenheit wäre kreisförmig: eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, die, ineinandergreifend, sich selbst aufheben würden: von nichts ausgegangen, würde Bartlebooth von Fertigerzeugnissen wieder bei nichts ankommen.66
Wie die Sprache ein flüchtiges Medium ist, das mit der Äußerung schon wieder vergangen ist – die Aussage kann lediglich memoriert werden –, so wird die Abbildung in Perecs Roman zur Metapher der Vergänglichkeit. Es geht ihm um Vorführung von Erfahrung, die aus zerstückelter Erinnerung wachgerufen wird, und die Schwierigkeit beim Zusammensetzen des gedanklichen Puzzles. Bei Draeger ist es die gezielte Spurensuche, die ihn um den Globus führt. Kriterium zur Aufnahme eines Ortes in das Archiv des Künstlers ist die stattgefundene – und medial repräsentierte – Katastrophe. Sein Reproduktionsverfahren aber ist rein mechanisch: die Photographie. Zu unterscheiden sind auch seine beiden unterschiedlichen Herangehensweisen, mit denen er die Katastrophen verfolgt. Für die Serie Voyages apocalyptiques werden die Orte katalogisiert und anschließend aufgesucht, um dann als friedliche Photographie den Ort des Ereignisses zu präsentieren. Für die Reproduktion auf Puzzle nutzt Draeger in der Serie Most Beautiful Catastrophes in the World bereits vorhandene Aufnahmen von Katastrophen aus Pressearchiven, um sie abzudrucken. In diesem Fall erübrigt sich die Reise, da sich Bilder global bemerkbarer Katastrophen auch über den digitalen Datenweg global abrufen lassen – bzw. die Katastrophe im posthistoire, als welches Hartmut Böhme die Gegenwart bezeichnet, überall stattfindet. Während Draeger die Suche nach dem Desaster zum Zentrum seiner desillusionierenden Betrachtung macht, verfolgt Bartlebooth die romantische Illusion. Gerade der Zeitraum, für den seine Reise veranschlagt ist, von 1935 bis 1954, birgt die größten humanen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Doch die historisch-politischen 65 Ibid.: 196. 66 Ibid.: 197. 361
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Umstände hatten ausdrücklich keinen Einfluss auf die Realisation des Konzeptes, abgesehen von ein paar Reiseeinschränkungen.67 Draeger konserviert die Katastrophe, Bartlebooth vernichtet den Anblick des Schönen, um ihn für das eigene Gedächtnis zu bewahren und um die Nichtaufzeichenbarkeit von Welt zu demonstrieren. Draeger dagegen verfolgt Spuren, um sie aufzudecken und vorzuführen. Seine Bilder werden keiner Vernichtung zugeführt und zeigen deshalb nicht die radikale Konsequenz von Seherfahrung, wie Perec sie Bartlebooth als künstlerisches Konzept verfolgen lässt. Perec bringt genau den Moment der vergeblichen Bewahrung ins Spiel, wenn der Kurator Beyssandre um jeden Preis eines der Aquarelle von Bartlebooth in seinen Besitz bringen möchte, um sie der Nachwelt als Repräsentant eines radikalen Prinzips vorzuführen.68 Dadurch wird die Spirale aus Zusammenfügung und Vernichtung noch weitergedreht, denn Bartlebooth nutzt die Arbeit von Kameramännern aus, um letztendlich die Vernichtung der Bilder von ihnen durchführen zu lassen, wenn er körperlich nicht mehr dazu in der Lage ist. Die auf Umkehrfilm festgehaltene Vernichtung des Bildes wird Bartlebooth vorgeführt, um im Anschluss den Film ebenfalls zu zerstören. Auf diese Art sieht Bartlebooth sein Werk prinzipientreu abgeschlossen. Er wollte, dass das ganze Projekt sich von selbst wieder schließt, ohne Spuren zu hinterlassen, […] er wollte, dass nichts, aber absolut nichts davon übrig bleibt, dass nichts anderes als die Leere daraus hervorgehe, das makellose Weiß des Nichts, die zweckfreie Vollkommenheit des Nutzlosen…69
Auf ähnliche Weise verschwinden auch die Spuren bei Draeger, seine Installationen werden nach der Ausstellung zum Teil entsorgt, wodurch ihre Begehbarkeit auf das Zeitintervall der Ausstellung beschränkt bleibt. Die Photographien der Voyages apocalyptiques zeigen nur neutrale Landschaftsansichten, die Spuren der Zerstörung sind beseitigt. Percival Bartlebooth allerdings verfolgt sein Konzept des Ikonoklasmus bis in die letzte Konsequenz. Die romantische Ironie, die sich hinter dieser Strenge verbirgt, kann natürlich nur durch sich selbst aufgelöst werden. In diesem Sinne beendet seine eigene Vergänglichkeit die konzeptuelle Demonstration. Es ist der dreiundzwanzigste Juni neunzehnhundertfünfundsiebzig und es wird acht Uhr abends sein. Vor seinem Puzzle sitzend, ist Bartlebooth gerade gestorben. Auf dem Tischtuch zeichnet irgendwo im Dämmerhimmel des vierhun67 Ibid.: 100. 68 Ibid.: 675. 69 Ibid.: 622. 362
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dertneununddreißigsten Puzzles das schwarze Loch des einzigen Einzelteils, das noch nicht eingefügt ist, die fast vollkommene Silhouette eines X. Doch das Einzelteil, das der Tote in den Fingern hält, hat, in seiner Ironie schon lange vorhersehbar, die Form eines W.70
Die extreme Konzentration, mit welcher Bartlebooth sein Konzept verfolgt, hat die ironische Auflösung zur Folge. Die ›voyage pittoresque‹ von Percival Bartlebooth hat die totale Negation das Abbildes als Konsequenz und kehrt praktisch zu ihrem Ursprung zurück – zur Buchstäblichkeit der Schrift.
Im Kontinuum des Desasters Bei Draeger herrscht die Überfülle des Materials. Sein Ziel ist nicht die Herstellung und Vernichtung eines pars pro toto, als welches sich das Konzept Percival Bartlebooth’ hinsichtlich einer summarischen Abbildung der Welt lesen lässt. Draeger setzt seine Sammlung von Katastrophenschauplätzen fort, sie wird zur unendlichen Aufgabe, wachsend mit der Zunahme an Ereignissen. Im posthistoire tritt die Universalisierung der Ruine ein.71 Die Bedrohlichkeit des Desasters ist verschwunden, da alles ruiniert ist und dennoch bestehen bleibt,72 in »der ersehnten entropischen Ruhe.«73 Denn die Oberfläche der Repräsentation ist intakt – wie die Abbildungen Messinas nach dessen Zerstörung seine Originalansicht bewahren.74 Das Abbildungsprinzip in Draegers Arbeit folgt deshalb gelassen dem Facettenreichtum der Zerstörung. Angelehnt an das Genre des pittoresquen Ruinenbildes und an die scheinbare Gleichschaltung von Katastrophenbildern in der Presseberichterstattung gilt auch hier das Sensationsbedürfnis des Zuschauers als ein Motiv für die Demonstration der Zerstörung. Es geht dem Künstler um die Fragilität der Wahrnehmung, um deren Dekonstruierbarkeit in der Anwendung von Täuschung und Inszenierung. Die Gestaltung zerstörter Räume und die Reproduktion von Katastrophenlandschaften lesen sich als parodistische Strategie gegenüber dem Bedürfnis nach einer Darstellung von Schönheit und Oberflächenglanz.75 Die Übertreibung in Draegers Desaster-Zonen bringt dagegen ihre eigene Ästhetisierung mit sich, resultierend aus einer romanti-
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Ibid.: 773. Böhme 1989: 299. Blanchot 2005: 9. Böhme 1989: 299. Geimer 2002: 199. Zu den verschiedenen Zwecken der Ruinendarstellung vgl. Böhme 1989: 293f. 363
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schen Vorstellung der Überwältigung und des Übermenschlichen – und deren gleichzeitiger Ironisierung. Außerdem entsteht durch die Anhäufung von Puzzleteilbergen aus winzigen Bildfragmenten die Metapher eines Ikonoklasmus. In Kombination mit den Installationen und Videos ergibt sich die überfordernde Präsentation von Zerstörung, deren Einzelheiten kaum noch wahrgenommen werden können. Wiederholung, Beschreibung und Übertreibung der Katastrophe setzten sich ad infinitum fort.
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»GUERNICA (NACH PICASSO)«. PAUL DESSAUS VERTONUNG DES PICASSO-GEMÄLDES CHRISTINE BAUR Paris – 27. April 1937. Die ersten Zeitungen berichten von dem Luftangriff auf Guernica, bei dem die deutsche Fliegereinheit Legion Condor die baskische Stadt am Vortag vollständig zerstört hat.1 Es handelt sich hierbei weder um den ersten Luftangriff auf eine Stadt während des Spanischen Bürgerkriegs. Auch das Baskenland wurde bereits ins Visier genommen. Noch ist es der erste Angriff, der von Deutschen geflogen wurde. Denn nur wenige Wochen zuvor griffen deutsche Flieger, die ebenfalls in der Region Vizcaya gelegenen Städte Durango und Éibar an.2 Waffen gegen eine zivile Bevölkerung zu richten, ohne dabei ein militärisches Ziel treffen zu wollen, war daher bereits vor der Bombardierung Guernicas traurige Realität. Dennoch ruft das Ereignis eine unvergleichlich starke weltweite Entrüstung hervor, insbesondere im katholischen Frankreich.3 Eine Grundvoraussetzung hierfür liegt vor allem in der schnellen Berichterstattung, wodurch die brutale Zerstörung der heiligen Stadt der Basken in der internationalen Öffentlichkeit zeitnah bekannt geworden ist.4 Pablo Picasso, seit 1904 in Paris wohnhaft, war zu diesem Zeitpunkt mit der Ausgestaltung eines Auftrags der spanischen republikanischen Regierung beschäftigt: einem etwa 3,5 × 7,7 m großen Wandgemälde für den spanischen Pavillon der Exposition internationale des arts et techniques dans la vie moderne, die im selben Jahr in Paris stattfinden sollte. Schockiert und wütend über die grundlose Zerstörung eines kriegerisch unbedeutenden Städtchens, ließ der pro-republikanisch eingestellte Picasso sein bisheriges unpolitisches Projekt Das Atelier: der Maler und sein Modell fallen und begann am 1. Mai 1937 mit den Skizzen zu dem Gemälde, das später Guernica heißen sollte. Am 4. Juni war das riesige 1
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Die links orientierte Abendzeitung Ce Soir und die auflagenstärkste Zeitung Frankreichs Paris-Soir brachten die ersten französischen Berichte. Vgl. Southworth 1975: 37. Vgl. die Artikel »Durango« und »Guernica« in Rubio Cabeza 1987. Vgl. Zeiller 1996: 42. Vgl. hierzu Southworth 1975: 11-45. 367
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Wandgemälde fertig gestellt und mit der Einweihung des spanischen Pavillons ab dem 12. Juli, fast zwei Monate nach Eröffnung der Weltausstellung, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (vgl. Abb. 1).5 Auch Paul Dessau hatte aus französischen Medienberichten von dem Luftangriff auf Guernica erfahren können. Denn der 1894 in Hamburg geborene Komponist hatte aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sein Heimatland verlassen müssen und befand sich seit 1933 im Pariser Exil, wo er noch bis zu seiner Ausreise in die USA im Jahre 1939 blieb. Jedoch war es nicht das Ereignis an sich, sondern erst die Berührung mit dem Gemälde von Picasso, die Dessau als künstlerische Triebfeder diente. Im Rahmen eines Besuchs der Pariser Weltausstellung sah Dessau das Gemälde und war davon sehr beeindruckt. So sehr, dass er später eine Abbildung Guernicas in seiner Wohnung aufhängte.6 Das Ergebnis der Auseinandersetzung Paul Dessaus mit dem Gemälde ist ein kurzes Stück für Klavier, das den Titel Guernica (nach Picasso) trägt.7 Da die Zeit des Pariser Exils dokumentarisch kaum belegt ist,8 entzieht sich auch der Entstehungsprozess des Werkes heutiger Kenntnis. Während der Schaffensprozess Picassos durch mehrere Skizzen und Photographien nachvollziehbar ist, existieren von Dessaus Guernica lediglich zwei Abschriften, eine des Widmungsträgers René Leibowitz und eine spätere, veränderte von der Hand des Komponisten. Die Datierung beider Abschriften auf das Jahr 1935 kann nicht korrekt sein, da sowohl die Bombardierung Guernicas als auch Picassos Guernica auf 1937 datiert werden. In seinem eigenen Werkverzeichnis nennt Dessau das Jahr 1938 als Zeitpunkt der Entstehung, was auch im Allgemeinen akzeptiert ist. Möglicherweise entstand das Stück bereits innerhalb des zweiten Halbjahres 1937.9
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Vgl. das Kapitel »Guernica und die Weltausstellung Paris 1937«, in Spies 1988: 63-99, hier: 65-71. Seit 1981 befindet sich das Gemälde im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid. Vgl. das Kapitel »Guernica. Musik im Exil von Paul Dessau« in Phleps 2001: 119-147, hier: 119 u. 123. Das Stück ist beim Verlag Breitkopf & Härtel in Leipzig 1958 erstmals in gedruckter Form erschienen. Es liegen heute zwei Einspielungen vor: von Siegfried Stöckigt aus dem Jahr 1979 (1996 neu digital bearbeitet herausgegeben) und von Stefan Litwin aus dem Jahr 2001. Vgl. Phleps 2001: 145. Vgl. Ibid.: 134f., insbes. Fußnote 40 und 41. 368
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
Paul Dessaus Guernica ist demnach eine Komposition, die sich konkret auf das Gemälde Guernica von Picasso bezieht. Dies wird dem Rezipienten durch die Überschrift, die den Gemäldetitel und den Namen des Malers nennt, unmissverständlich mitgeteilt. Dem Werk liegt also ein außermusikalisches Sujet, das Gemälde, welches wiederum durch ein historisches Ereignis initiiert wurde, zugrunde und ist daher dem Bereich der Programmmusik zuzuordnen. Die Anfänge der neueren Programmmusik reichen ins Ende des 18. Jahrhunderts zurück, als in Frankreich erstmals symphonies à programmes erschienen.10 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt die Programmmusik wie auch die um sie geführte Diskussion ihren Höhepunkt. Neben dem Problem, den Begriff Programmmusik konkret zu fassen und zu definieren, ist bis heute ein Streit um die Legitimation einer derartigen Musik im Gange.11 Von den Gegnern der Programmmusik wird in Frage gestellt, dass die Form eines musikalischen Kunstwerks durch einen nicht-musikalischen Stoff beeinflusst werden dürfe. Für sie soll Musik nur innermusikalischen Gesetzen gehorchen und ihr Gegenstand, nach dem einflussreichen Vertreter der Autonomieästhetik Eduard Hanslick, als »absolute Tonkunst« nur »tönend bewegte Formen« sein.12 Die Vertreter einer programmatischen Musik, wie Hector Berlioz, Franz Liszt oder Richard Strauss, betonen jedoch die Bereicherung, die die Musik durch die Einbeziehung anderer Künste erfahren kann. Die Musik erreiche hiermit neue Ausdrucksmöglichkeiten und werde in der Stellung innerhalb der Künste erhöht.13 Eine besondere Rolle bei der Betrachtung und dem Hören von Programmmusik spielt das zugrunde liegende Programm, welches dem Hörer bekannt sein muss, damit er die Musik in ihrer ursprünglichen Intention verstehen kann. Bei Programmmusik, deren Sujet verschwiegen wurde – dies kann aus ganz unterschiedlichen Gründen der Fall sein –, bestehen zwar für den Forscher Möglichkeiten, das Programm offen zu legen, der Rezipient jedoch wird ohne weitere Hilfestellung das Werk nicht im ursprünglichen Sinne deuten können.14 Da Musik ihrem Wesen nach asemantisch ist, lässt sie ohne Zusätze keine Deutungsmöglichkeiten zu; erst das Programm semantisiert die Musik auf eindeutige Weise. Das Programm bildet demnach mit dem Musikwerk eine untrennbare Einheit. Aus diesem Grund werden von Komponisten allgemein bekannte 10 Vgl. Floros 1989: 68. 11 Vgl. Ibid.: 67. 12 Vgl. Eduard Hanslick (1854): Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig. Zit. nach: Strauß 1990: 52 u. 75. 13 Vgl. Fink 1988: 13. 14 Vgl. das Kapitel XV »Verschwiegene Programmusik«, in Floros 1989: 140154, insbes. 150. 369
CHRISTINE BAUR
Werke als programmatische Grundlage bevorzugt, bei denen ein Vorwissen des Hörers vorausgesetzt werden kann. Das Programm kann in Form einer Überschrift oder einer Textbeigabe bekannt gemacht werden.15 Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Programmmusik zunehmend an Bedeutung16 und so kommt es, dass Musik nach Bildern zu komponieren zum Zeitpunkt der Entstehung von Guernica zwar keine gängige Kompositionsform mehr war, aber dennoch eine fast hundertjährige Tradition hatte.17 Der Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, von Modest Mussorgskij (1839-1881) im Jahr 1874 komponiert und durch eine Ausstellung der Bilder Viktor Hartmanns (1834-1873) inspiriert, kann wohl als das berühmteste Beispiel einer musikalischen Umsetzung von bildlichen Vorlagen gelten.18 Jedoch bildet nicht jedes Werk, das nach außen hin erscheint, als ob es nach einer bildlichen Vorlage gestaltet wäre, auch tatsächlich die oben genannte Einheit mit seiner Vorlage. Es gibt durchaus Werke, die lediglich durch den Titel, aber nicht das Bild selbst angeregt sind und daher sich auch nicht auf das Bild, sondern direkt auf das durch den Titel Bezeichnete beziehen. Außerdem gibt es Werke, bei denen das Bild in keiner Form in die Komposition einfließt und sich daher keine synästhetische Verbindung von Musik und Malerei ergibt. Die Nennung eines bekannten Gemäldetitels dient hier meist nur dazu, das Interesse an der Komposition zu wecken, ohne jedoch musikalisch Bezug zu nehmen.19 Welche Möglichkeiten aber stehen einem Komponisten offen, der ein Gemälde in Musik übertragen will? Sofort denkt man an die Tonmalerei, die musikalische Nachahmung des bildlich Dargestellten, wie zum Beispiel die Imitation von Tierstimmen oder auch von Schlachtengeräuschen, wie Schüsse. Da die Vertreter der Programmmusik aber die »poetische Idee« ausdrücken20 und nicht nur abbilden wollen, setzen sie in einer programmatischen Komposition nicht notwendigerweise Tonmalerei ein. Wie Monika Fink in ihrer grundlegenden Arbeit zur Programmmusik nach bildlichen Vorlagen ausführlich dargelegt hat, ist eine Übertragung des Bildes in Musik auf verschiedenen, sich überlappenden Ebenen mög-
15 Vgl. Fink 1988: 12f. 16 Vgl. Floros 1989: 66. 17 Im Jahr 1839 hatte Liszt mit dem Klavierstück Lo Sposalizio, das auf das gleichnamige Gemälde von Raffael zurückgeht, den Anfang der Tradition, musikalische Kompositionen nach Bildern zu verfassen, markiert. Vgl. Fink 1988: 15f. 18 Die zehn Kompositionen sind ursprünglich für Klavier konzipiert, wurden aber erst in der Bearbeitung für Orchester von Maurice Ravel (1875-1937) von 1922 bekannt. Heute liegen zahlreiche weitere Orchestrierungen vor. 19 Vgl. hierzu Fink 1988: 55-60. 20 Vgl. Liszt 1855: 77a. 370
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
lich, nämlich in Thematik, Stimmungsgehalt, Struktur, Stil, Intention und Symbolik.21 Da ihre Ausführungen für den späteren Vergleich zwischen der Komposition und dem Gemälde Guernica von Bedeutung sind, möchte ich hier einen kurzen Einblick in die aufgezählten Mittel geben: Eine Umsetzung der bildlich dargestellten Thematik in die musikalische Komposition greift nur bei Bildern, die eine Handlung darstellen. Hier kann das im Bild komprimierte Handlungsgeschehen mit den Mitteln der Tonmalerei in der Musik zeitlich ausgedehnt dargestellt werden. Knüpft der Komponist beim Stimmungsausdruck des Bildes an, wird er versuchen, den Gesamteindruck in ein musikalisches Pendant umzuwandeln. Hierbei geht es also nicht um die tonmalerische Darstellung von einzelnen bildlichen Details, sondern um die möglichst adäquate Wiedergabe des Stimmungsgehaltes. Bei einer Strukturgleichheit können den Gestaltungsmerkmalen des Bildes (wie Farbe, Linienführung, Anordnung der Elemente usw.) Gestaltungsmerkmale in der Musiksprache (wie Harmonik, Melodik, Aufbau usw.) entsprechen. Diese Vorgehensweise bietet sich vor allem für die musikalische Übertragung von abstrakten Bildern an. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass der Komponist beim charakteristischen Stil eines Künstlers ansetzt und diesen in der Musik übernimmt. Hierbei wird oft über ein einzelnes Bild hinausgegangen und der Personalstil des Malers auszudrücken versucht. Ein Maler, der beispielsweise hauptsächlich großformatige oder symmetrische Werke malt, würde den Komponisten zu einer Vertonung in Form eines großangelegten oder symmetrisch aufgebauten Musikstückes inspirieren. Um eine bestimmte politische Aussage in Musik auszudrücken, kann ein Komponist auf ein entsprechendes Bild zurückgreifen. Die politische Intention des Künstlers wird hierbei in die musikalische Komposition aufgenommen und durch die Offenlegung des Programms dem Hörer bewusst gemacht. Auch eine Übertragung der Elemente des zugrunde liegenden Bildes mittels Symbolen in Musik ist denkbar. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Hörer mit den Symbolen die entsprechenden Elemente des Bildes in Verbindung bringt. Zum einen können musikalische Zitate, beispielsweise eines bekannten Volksliedes oder Chorals, eine symbolhafte Funktion übernehmen. Der Hörer assoziiert mit den Zitaten eine Aussage, die im Zusammenhang mit dem Bildinhalt oder der Bildaussage steht. Als symbolisch kann man im weiteren Sinne aber auch bezeichnen, wenn ein Komponist die künstlerische Epoche, aus der seine Vorlage entstammt, in die Musik einfließen lässt, indem er musikalische Stilcharakteristika dieser 21 Vgl. Fink 1988: 23-55. Die folgenden Ausführungen folgen den dort zu findenden Ergebnissen. 371
CHRISTINE BAUR
Zeit einsetzt. Auch der Einsatz von bestimmten Instrumenten kann die Funktion eines Symbols für das bildliche Programm übernehmen.
*
Im Folgenden werde ich untersuchen, welche Übertragungsebenen Dessau für seine Vertonung von Picassos Bild wählte. Für die Analyse ist aus genannten Gründen eine Orientierung an der programmatischen Vorlage unausweichlich; vergleichende Aspekte werden daher in die analytischen Bemerkungen zu der Komposition einbezogen. Die Komposition Dessaus ist ein 78-taktiges Stück für Klavier. Es mag zunächst verwundern, dass Dessau gerade das Klavier als einziges Instrument wählte, um das überdimensionale Gemälde umzusetzen. Das Klavier ist aber – neben dem Orchester – in der Geschichte der Vertonungen von bildlichen Vorlagen das am häufigsten verwendete Instrument, da es für die Darstellung sämtlicher Ausdrucksnuancen, vom privaten, intimen Kammermusik-Charakter bis zum grandios wirkenden »orchestralen« Satz, eingesetzt werden kann.22 Als Kompositionsprinzip liegt dem Klavierstück die Schönberg’sche Zwölftontechnik zugrunde. Um 1908 hatte sich Arnold Schönberg (18741951) von der spätromantischen Harmonik gelöst und begonnen, frei atonal zu komponieren. Mit der »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen«23, der sogenannten Dodekaphonie, entwickelte er dann um 1920 Richtlinien für das atonale Komponieren, um dessen absolute Freiheit, die zugleich auch die Gefahr von Willkür und Beliebigkeit in sich birgt, wieder in theoretisch bestimmbare Bahnen lenken zu können. Ausgangspunkt einer Zwölftonkomposition ist eine sogenannte Grundreihe, die aus allen zwölf Tönen einer Oktave, in einer vom Komponisten vorab festgelegten Abfolge, besteht. Diese Reihe stellt das klangliche Grundmaterial der Komposition dar; hiermit kann der Komponist nun im Laufe des Stückes arbeiten. Als Bearbeitungsmöglichkeiten stehen dem Komponisten offen, die Reihe – komplett oder Abschnitte daraus – transponiert, d.h. auf einer anderen Tonstufe, als Krebs, d.h. rückwärts laufend, als Umkehrung, d.h. in der Intervallrichtung vertauscht oder als Krebs der Umkehrung, d.h. rückwärts und intervallisch gespiegelt, zu bringen. Paul Dessau hatte die Zwölftontechnik seit 1936 von René Leibowitz (1913-1972) gelehrt bekommen. Die Mischung aus Expressivität und 22 Vgl. Ibid.: 22. 23 Schönberg 1941: 75. 372
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
zugleich Vernunft, die durch die Verwendung der Zwölftontechnik in einem Musikstück erreicht wird, sprach den politischen Komponisten Dessau an; er sah sie »als Mittel, Zeitereignisse zu spiegeln und als beherrschbar darzustellen.«24 Mit diesem Ziel setzte Dessau sie auch in Guernica ein: Die Zwölftontechnik verwandelt das Chaos der Zerstörung Guernicas in eine ordentliche Struktur, worauf der Rezipient mit Vernunft reagieren kann, um es dann zu überwinden.25 Die Bedeutung der Verwendung der Zwölftontechnik in Guernica geht aber über die persönliche Ästhetik Dessaus hinaus; sie ist auch eine konkrete politische Stellungnahme. Die Nationalsozialisten hatten die Zwölftontechnik, vor allem wegen ihrer Erfindung durch den Juden Arnold Schönberg, für ›entartet‹ erklärt. Sie wurde daher den Gegnern des Faschismus ein Mittel, musikalisch Widerstand zu leisten. Da es aber trotz allem im nationalsozialistischen Deutschland zu Aufführungen von Zwölfton-Kompositionen kam, sollte man das kritische Potential der Methode allein nicht überschätzen: Mit der Wahl des Tonmaterials [der Dodekaphonie; C.B.] endete die Verantwortung der Komponisten noch lange nicht. Sie mußten mehr tun, um den Mißbrauch ihrer Kompositionen zu verhindern und um den richtigen, aufklärerischen Gebrauch zu ermöglichen.26
Der Rückgriff auf das Bild Picassos ermöglichte es Dessau, sich politisch zu positionieren. Denn die Verbindung von der Verwendung der Zwölftontechnik und dem zugrunde liegenden antifaschistischen Programm macht die politische Aussage der Komposition Guernica eindeutig. Guernica zählt zu Dessaus ersten Zwölfton-Werken.27 Monika Fink hat erstmals auf die Grundreihe des Klavierstücks hingewiesen:28
Notenbeispiel 1: Zwölftonreihe von Dessaus »Guernica«
24 25 26 27 28
Hennenberg 1965: 40f. Vgl. Ibid.: 38 u. 40f. Dümling 1990: 98f. Vgl. Reinhold 1995: 42f. Vgl. Fink 1988: 110. Für eine Analyse dieser Grundreihe vgl. Phleps 2001: 137f. 373
CHRISTINE BAUR
Das Stück folgt jedoch nicht streng der Zwölftontechnik.29 So ist die Grundreihe, die üblicherweise gleich zu Beginn deutlich exponiert wird, sehr schwer zu entziffern. Auch gibt es im Stück Passagen, die sich überhaupt nicht auf sie beziehen lassen.30 Die Reihe an sich ist nicht das melodische Thema des Stücks – dieses wird aber, wie ich später zeigen werde, aus ihr entwickelt. Der Komposition liegt ein dreiteiliger Aufbau zugrunde: Doppelstriche gliedern die Komposition in einen ersten Teil (Takte 1-33), einen kurzen, ruhigen Mittelteil (Takte 34-38) und einen Schlussteil (Takte 3978). In dieser Dreiteiligkeit spiegelt sich der Aufbau des Gemäldes wider. Auch wenn dem Betrachter die Ordnung in Picassos Bild nicht sofort klar wird,31 war sich Dessau ihrer bewusst: Kunst, die keine Ordnung hat, ist keine. Der Picasso war ordentlich, da kann ich jeden Strich nachweisen. Guernica ist nicht unordentlich. Es ist in genialer Weise ordentlich, erdacht, konzipiert und lebendig.32
Um die Dreigliedrigkeit des Gemäldes zu erkennen, muss man gedanklich von den beiden unteren Ecken eine Linie zu dem Windlicht am oberen Bildrand leicht links von der Mitte ziehen (vgl. Abb. 1). Der dem Thympanon eines griechischen Tempels ähnelnde Mittelteil besteht aus der Frau am Boden, dem verwundeten Pferd und dem toten Krieger. Rechts davon befinden sich die Fallende und die Lichtträgerin. Der linke Teil zeigt den Vogel, den Stier und die Mutter mit dem toten Kind.33
Abbildung 1: Picassos »Guernica« 29 Vgl. Reinhold 1995: 43. 30 Vgl. Phleps 2001: 139. Auf der folgenden Seite ist eine vollständige Reihenanalyse der ersten 16 Takte abgedruckt. 31 Vgl. Fisch 1983: 25. 32 Dessau 1974: 11. 33 Vgl. Fisch 1983: 25f. u. 39. 374
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
Dessau beginnt seine Komposition mit einem Dreiklang in der linken Hand im forte (vgl. Notenbeispiel 2). Dieser Akkord besteht von unten nach oben gelesen aus einem Tritonus und einer Quinte. Der Tritonus, das Intervall aus drei Ganztönen, steht, als besonders scharfe Dissonanz, in der Musik des Barock und der Klassik oft als klangmalerische Beschreibung für Tod oder Leid. In diesem Sinne setzt Dessau ihn hier gleich zu Beginn ein. Die rechte Hand fügt auf das zweite Taktviertel einen Akkord aus vier Tönen hinzu, worin auch ein Tritonusintervall zu finden ist (es1-a1). Die beiden folgenden Takte greifen den Akkord der linken Hand wieder auf (im dritten Takt zusätzlich mit einem g). Der Vierklang der rechten Hand schreitet währenddessen in kleinen Terzen nach oben fort. Er behält dabei das Außenintervall einer großen Septime (auch dieses ist in der traditionellen Musiklehre eine scharfe Dissonanz) und ändert jeweils die Akkordzusammensetzung.34 Die Abfolge der Akkorde der linken und rechten Hand entspricht einem jambischen Rhythmus (kurz – lang). Diese crescendierenden Akkorde führen zu einem Höhepunkt im fortissimo auf dem zweiten Viertel des dritten Taktes. Die ersten drei Takte stellen durch die Dissonanzen (Tritonus und Septime) – Dessau würde sie ›Spannungsmomente‹ nennen35 –, die Dynamik (forte bis fortissimo) und die statischen, mit Akzenten versehenen Akkorden gleich zu Beginn das Leiden und den Schmerz sehr kraftvoll und eindringlich dar. Durch das mittlere Tempo, die Aneinanderreihung von ausgehaltenen Akkorden ohne melodische Führung und die Akkordwiederholung im Bass wird das Gefühl der Ohnmacht beim Hörer hervorgerufen. (q = ca. 63)
f
ff
p
sf
6
sf
espr.
mf
sf
Notenbeispiel 2: Dessaus Guernica, Takte 1-10
Auf dem genannten Höhepunkt im dritten Takt setzt mit c1 beginnend eine Melodielinie ein, die nach ihrem akzentuierten Anfangston in ein pi34 Vgl. Phleps 2001: 136. 35 Vgl. Dessau 1974: 13f. 375
CHRISTINE BAUR
ano übergeht (vgl. Notenbeispiel 3). Sie besteht aus einem Großterzschritt nach unten mit einer anschließenden kleinen Sekunde. Diese drei Töne können als Beginn des Krebses der Grundreihe erklärt werden (c1-as-g). Die folgenden vier Töne fis, d1, es und a1 stellen die Reihentöne 4 bis 7 der Grundreihe dar. Durch die Oktavierung des fünften Reihentons entsteht zwischen dem fis und dem d1 der Intervallschritt einer kleinen Sexte. Diese als Exclamatio bezeichnete musikalische Figur wird im Barock und der Klassik für den Ausdruck von Schmerz und Schrecken eingesetzt. Zusammen mit den kleinen Sekundschritten und dem Tritonus, mit dem die Melodie endet (es-a1), drückt Dessau in musikalischen Mitteln die in Picassos Gemälde dargestellte Qual aus. Hierbei kombiniert er das avancierte kompositorische Mittel der Zwölftontechnik mit der aus der Barockzeit tradierten musikalisch-rhetorischen Figurenlehre. Diese Guernica-Melodie36 kann als das melodische Thema des Klavierstücks betrachtet werden. Indem sie mehrfach variiert aufgegriffen wird, prägt sie das komplette Klavierstück. Durch die Einstimmigkeit, mit der sie vorgetragen wird, rückt die Melodie bereits bei ihrem erstmaligen Erklingen dem Hörer deutlich ins Bewusstsein.
3
ff
p
espr.
Notenbeispiel 3: »Guernica«-Thema
Die rechte Hand schiebt in den Takten 5, 7 und 8 synkopisch akzentuierte Akkorde mit anschließenden Seufzerfiguren, das sind Intervallschritte einer kleinen Sekunde, dazwischen (in Takt 8 zu einer großen Sekunde erweitert). Hier greift Dessau mit den Akkorden auf den Anfang zurück, rhythmisch geschärft, und kombiniert diese mit melodischen Ausschnitten aus dem Guernica-Thema. Mit diesem Material wird dann in den Takten 8 bis 10 weitergearbeitet (vgl. Notenbeispiel 2). Diese ersten zehn Takte führen zum einen in die klagende, düstertraurige Stimmung ein, stellen aber auch alle bedeutenden kompositorischen Elemente vor, die, wie ich zeigen werde, im weiteren Verlauf auf vielfältige Weise erweitert und miteinander kombiniert werden: das sind der jambische Rhythmus, die akzentuierten Akkorde, die Synkopen und das Guernica-Thema. Es folgt ein bewegter Abschnitt, in dem die bereits bekannten synkopischen Akkorde mit einer schnellen Sechzehntelfigur kombiniert werden. Der Takt 16 bringt in der linken Hand viermal denselben Ton f in 36 Vgl. Fürst 2005: 364. 376
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
einem markanten Rhythmus. Da die rechte Hand zu Beginn dieses Taktes pausiert, wird gerade der Anfang des Rhythmusmotivs (kurz – lang) sehr deutlich. Dieses Rhythmusmotiv ist eine Weiterverarbeitung der jambischen Abfolge in den ersten Takten der Komposition. Es wird sogleich in den Takten 18 bis 21 mit dem auf cis gebrachten Guernica-Thema verbunden (vgl. Notenbeispiel 4).
18
(
p p
più
)
(
dolce
mfp
)
dim.
dolce
Notenbeispiel 4: »Guernica«-Thema in den Takten 18-21
Die synkopischen Tonwiederholungen steigern sich ab Takt 22 durch das Beharren auf einem einzigen, sich ständig wiederholenden Ton (zunächst h1, dann h2) und die Zunahme des Tempos. Die Spannung entlädt sich dann in Takt 27 in zwei aufeinander folgenden lauten Akkorden, die linke Hand greift hierbei den Anfangsakkord wieder auf. Ein Abschnitt, der wieder von Sechzehntelfiguren und akzentuierten Akkorden geprägt ist, schließt sich an. Mit einer Pendelfigur im Bass läuft dieser erste Teil der Komposition aus. Der kurze Mittelteil (Takte 34-38) arbeitet hauptsächlich mit dem Guernica-Thema. Dieses wird, auf seine ersten drei Töne verkürzt, in zweistimmigen Imitationen geführt. Durch die zurückgenommene Dynamik, den ruhigen Charakter (cantabile) und den Einsatz der Polyphonie entsteht ein starker Kontrast zu den diese Takte umgebenden Teilen. Der dritte Teil verbindet zunächst Sechzehntelläufe und Synkopen miteinander, bringt dann aber später sämtliches, im ersten Teil exponiertes Material wieder. Als motivische Neuerung erscheint in Takt 47 ein einprägsamer Rhythmus ›a la tromba‹ (vgl. Notenbeispiel 5). Der Beginn (kurz – lang) zeigt, dass dieses Motiv aus dem jambischen Rhythmusmotiv des Beginns entwickelt ist, das bereits in Takt 16 eine erste Variierung erfahren hat. Dieses Rhythmusmotiv ist hier nun durch die repetierenden Töne in seinem Ausdruck verstärkt. ›A la tromba‹ bedeutet trompetenhaft und betont als Ausdrucksanweisung nochmals die von Dessau erwünschte Signalfunktion dieser Stelle. Der ›a la tromba‹-Rhythmus wird im Folgenden noch sechs Mal aufgegriffen (in den Takten 48, 52, 53, 54, 72 und 77); er erklingt insgesamt also sieben Mal. Im Zusammenhang mit dem aus sieben Tönen bestehenden Guernica-Thema fällt die Betonung der Zahl sieben im Musik-
377
CHRISTINE BAUR
stück auf. Auch in Picassos Gemälde ist sie repräsentiert: es sind sieben Figuren zu erkennen (der Vogel tritt durch seine dunkle Färbung deutlich in den Hintergrund und die Mutter wird zusammen mit dem toten Kind als eine Figur wahrgenommen). Außerdem sind im rechten Teil des Bildes, in der Umgebung der fallenden Frau, sieben Flammen abgebildet. Die Sieben kann hier aus der griechischen Zahlensymbolik heraus als ein Symbol für Tod angesehen werden. 3
47
sff 3 a la tromba
sf
Notenbeispiel 5: ›A la tromba‹-Rhythmus in Takt 47
Dieses Rhythmusmotiv bleibt bei seiner Wiederaufnahme jedoch nicht in der ursprünglichen Gestalt bestehen, sondern wird kombiniert, beispielsweise mit dem Guernica-Thema (Takte 54 bis 57). Mit den Takten 61 bis 63 rückt dann der Anfang wieder zurück in die Erinnerung des Hörers. Wie gehabt erklingt im Bass in dreimaliger Folge der Anfangsakkord. Die rechte Hand bringt nun jedoch nicht einen Vierklang, wie man erwarten würde, sondern das Tonmaterial des siebten Taktes (einen synkopisch akzentuierten Akkord, der mit einer Seufzerfigur kombiniert ist), das dann in Takt 62 und 63 leicht verändert aufgenommen wird. Diese Figuren werden beibehalten und im Weiteren mit Fragmenten des Themas verknüpft, bis in Takt 71 das jambische Rhythmusmotiv aus Takt 16 aufgegriffen wird, das in den ›a la tromba‹Rhythmus (Takt 72) und schließlich in das Guernica-Thema (Takte 7376) auf cis mündet. Der solistische Vortrag der Melodie erinnert an den Anfang des Stücks. Der Basston e greift nochmals den ›a la tromba‹Rhythmus auf und verlöscht schließlich langsam (vgl. Notenbeispiel 6).
3
71
3
75
( )
( )
( )
3
3
perdendosi
Notenbeispiel 6: Dessaus »Guernica«, Takte 71-78
378
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Der Schluss des Klavierstücks bezieht sich also konkret zurück auf den Anfang und stellt somit Geschlossenheit und Symmetrie her – ein Ordnungsgefüge, das wiederum seine Entsprechung in Picassos Gemälde hat. Vergleicht man die durch eine Mittelsenkrechte geteilten Gemäldehälften fällt die symmetrische Anordnung auf, beispielsweise findet das nachgezogene Bein der Frau am Boden seine Entsprechung im ausgestreckten linken Arm des Kriegers, das vergrößerte Knie der Frau im Kopf des Kriegers und die Fallende in der Frau mit dem toten Kind und dem Stier.37 Die strukturellen Korrespondenzen beider Kunstwerke sind damit aber noch nicht ausgeschöpft: Das Verhältnis des ersten Teils der Komposition mit 33 Takten zu den beiden letzten Teilen mit 45 Takten entspricht in etwa der Teilung des Gemäldes durch dessen formalen Höhepunkt, der Deckenlampe am oberen Bildrand.38 Ein in Picassos Guernica bedeutender struktureller Aspekt betrifft die Bewegungsrichtung innerhalb des Gemäldes. Jede Bewegung im Bild verläuft nach links: die Köpfe sind nach links ausgerichtet und auch der Stier sowie das Pferd, deren Körper nach rechts zeigen, drehen ihren Kopf zur linken Seite. Somit ist auch die Leserichtung des Betrachters der natürlichen Richtung von links nach rechts entgegengesetzt. Im spanischen Pavillon war das Gemälde daher so aufgehängt, dass der Besucher von der rechten Seite an das Bild herantrat. Diese strukturelle Eigenschaft konnte Dessau nicht in die Musik übernehmen, denn hier sind die Grenzen des Mediums Musik erreicht. Musik als Kunst der Zeit kann ihre Bewegungsrichtung nicht ändern und muss durch ihren zeitlichen Ablauf stets in derselben Richtung gehört werden. Im Gemälde ist aber zudem eine Zunahme an zeitlicher Konsistenz von rechts nach links zu vermerken. Denn der Betrachter wird von zeitlich kurzen Geschehen zu längeren geführt: Ausgehend von dem nur Sekunden dauernden Ereignis des Fallens der Frau rechts im Bild, dauert das Aufrichten der Frau am Boden bereits Minuten. Das Pferd wird erst nach Stunden oder Tagen seinem Todeskampf erliegen, der Krieger ist als Symbol zeitlos und die Trauer der Mutter um ihr totes Kind wird Jahre andauern.39 Sieht man davon ab, dass die Leserichtung in der Musik nicht der Leserichtung des Gemäldes entspricht, hätte Dessau die Zunahme an Zeitdauer musikalisch beispielsweise durch Verlängerung der Notenwerte oder Verringerung des Tempos übertragen können. Wie in der Analyse herausgestellt, geben mehrere Elemente dem Stück durch ihre stete Wiederkehr eine einheitliche Struktur und charak37 Vgl. Fisch 1983: 26. 38 Vgl. auch Phleps 2001: 142. 39 Vgl. Fisch 1983: 24f. 379
CHRISTINE BAUR
teristische Prägung. Diese sind schwer getrennt voneinander zu nennen, da sie durchweg neu miteinander kombiniert werden. Als melodisches Thema dient die Guernica-Melodie, die auch stark verkürzt als Seufzerfigur auftritt. Des Weiteren sind Akzente im Allgemeinen, aber auch akzentuierte Akkorde für den kraftvollen Ausdruck des Stücks bedeutend. Auf der rhythmischen Ebene ist der Jambus grundlegend, der sich allmählich zum tonrepetierenden ›a la tromba‹-Rhythmus entwickelt. Schließlich sind Synkopen für das Stück bezeichnend, deren Einsatz sich mit der antimilitärischen Aussage der Komposition verbindet: Eine Aversion gegen die Betonung des sogenannten ›guten‹ Taktteils verpflichtet mich, seit geraumer Zeit beim Komponieren den Schwerpunkt, der allgemein auf der ›Eins‹ des Taktes zu liegen pflegt, zu verlagern, und das aus verschiedenerlei Gründen: einerseits wegen der Abgebrauchtheit dieses Mittels und zum anderen wegen meines unversieglichen Abscheus gegen das, was ›Drill‹ heißt, wie beispielsweise meine Erinnerungen an den preußischen Kommiß. Da geht es bekanntlich ›links, rechts‹, ›eins, zwei, eins, zwei‹.40
Diese Komponenten werden im Stückverlauf collageartig miteinander verbunden. Die Collagetechnik Dessaus sehe ich, in Anlehnung an Frank Schneider und Monika Fürst,41 als den Versuch an, die Maltechnik Picassos in die Musik zu übertragen. Im Kubismus werden die dargestellten Gegenstände auf ihre stereometrischen Grundformen zurückgeführt. Grundformen, die als kompositorische Bausteine dienen können, gibt es in der Musik jedoch nicht a priori. Dessau muss sie zunächst in den ersten Takten der Komposition vorstellen (Guernica-Thema, Akzente bzw. akzentuierte Akkorde, jambischer Rhythmus und Synkopen) und kann dann im Folgenden darauf zurückgreifen. Wie im Kubismus werden diese Grundstrukturen dann verschiedenartig miteinander kombiniert. Dessau knüpft also in politischer Aussage, Stimmungsgehalt und Struktur an der Vorlage von Picasso an. Zudem gibt es Ansätze, den kubistischen Stil in die Musik zu übernehmen. Da eine symbolische Übertragungsebene fehlt, bleibt zu fragen, wie die Komposition inhaltlichthematisch auf das Gemälde bezogen ist. Weder das Bild noch die Komposition stellen die Zerstörung von Guernica dar. Seit der Aufhängung des Gemäldes Guernica im spanischen Pavillon ist der mangelnde Realitätsbezug einer der Hauptkritikpunkte an dem Bild.42 Die Auftraggeber hatten sich nämlich ein anti40 Dessau 1974: 14. 41 Vgl. Schneider 1989: 282 sowie Fürst 2005: 361. 42 Vgl. Cabanne 1992: 25f. Weiter kritisiert wurden die »[f]ehlende positive Aussage« und der »Mangel an Verständlichkeit«. Spies 1988: 89. 380
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
nationalistisches Propagandabild erhofft und erwogen sogar, das Bild wieder abzuhängen. Allein pragmatische Gründe, wie die Bekanntheit Picassos und die Befürchtung, durch die Entfernung einen Skandal hervorzurufen, ließen sie ihre Meinung ändern.43 Seit dem Einzug des Kubismus in Picassos Schaffen sind dem Maler realistische Darstellungen fremd.44 Und so gibt es auch in Guernica – obwohl es nach der von Deutschen zerstörten Stadt benannt ist – keine Hinweise darauf, dass hier tatsächlich Guernica abgebildet ist. Das Gemälde könnte (wenn vom ereignisnahen Zeitpunkt der Entstehung abgesehen wird) genauso gut Coventry oder Dresden, aber auch Durango oder Éibar heißen. Das Bild zeigt nicht konkret die Zerstörung der Stadt Guernica, sondern den Zustand nach einem nicht näher präzisierten Angriff. Die tatsächliche Ursache des Leids ist nicht abgebildet: Picasso malt weder Flieger noch fallende Bomben. Auch die mehr als zehntausend Menschen, die sich zur Zeit des Angriffs in Guernica befanden, werden im Gemälde nicht aufgegriffen. Es gibt weder einen Hinweis auf den Ort des Geschehens noch auf den Zeitpunkt. Im Gegenteil: Picasso verfremdet sogar bewusst die realen Umstände. So gewinnt man durch die Deckenlampe und das Fenster den Eindruck, man befinde sich in einem Innenraum; Bezüge zu einer Stadt werden hierdurch gänzlich vermieden. Die Beschränkung auf Schwarz-Weiß-Töne lässt den Betrachter zudem auf ein nächtliches Umfeld schließen, der Angriff geschah jedoch an einem sonnigen Nachmittag.45 Das Bild bezieht sich also allein durch den Titel auf das Ereignis der Zerstörung von Guernica. Die Kenntnis darüber, dass Picasso selbst nur wenige Bilder mit Titel versehen hat,46 macht die bewusste Namensgebung in diesem Fall deutlich. Der Titel stand nicht von der ersten Skizze an fest, erst später gab Picasso den Namen in einer Presseerklärung bekannt.47 Das weit verbreitete Entsetzen über den Luftangriff auf die Stadt Guernica ließ das Gemälde Picassos schnell berühmt werden. Bereits auf der Weltausstellung konnte man Guernica-Karten in alle Welt versenden48 und auch die Presse brachte zahlreiche Berichte über das Gemälde.49 Doch nicht erst Picassos Gemälde machte die Zerstörung Guer-
43 Vgl. Larrea 1947: 72. 44 Vgl. Spies 1988: 72. 45 Vgl. den ausführlichen Vergleich des Gemäldes mit der Realität in Arnheim 1964: 23-33. 46 Vgl. Spies 1988: 89. 47 Vgl. Zeiller 1996: 11. 48 Vgl. Ibid.: 12. 49 Vgl. Spies 1988: 86. 381
CHRISTINE BAUR
nicas weltweit bekannt, sie war bereits durch die Medien verbreitet.50 Durch den mangelnden Bezug des Bildes zu dem Ereignis konnte das Bild zu einem Symbol für »die Schrecken des Faschismus und des Krieges, aber auch den Willen zum Widerstand gegen sie«51 werden. Dessau bleibt in seiner Vertonung streng an der Vorlage Picassos und fügt keine weiteren Informationen zu dem historischen Geschehen hinzu. Dies wäre etwa durch den Einsatz tonmalerischer Mittel möglich gewesen, durch die beispielsweise das Fallen von Bomben, Schreie oder aber auch Glockengeräusche, die auf eine Stadt hinweisen, dargestellt werden können. Zum Beispiel komponierte der für seine Bildvertonungen bekannte Walter Steffens in seine Guernica-Vertonung von 1978 JunkerBomber ein. Diese sind am Anfang und am Ende der Partitur hineingemalt und können aleatorisch musiziert werden.52 Aber auch der Rückgriff auf einen illustrierenden Text, wie einen Zeitungsartikel, hätte das historische Ereignis näher konkretisiert. Dessau bildet also bewusst nicht das Ereignis an sich musikalisch nach, sondern übernimmt vollständig die allgemeine antifaschistische Aussage von Picassos Bild in seiner Musik.
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Guernica ist das meistvertonte Gemälde Pablo Picassos.53 Paul Dessau war der Erste, den das Wandbild zu einer Verklanglichung inspirierte, und, gemeinsam mit Jean Kurt Forest (1909-1975), überhaupt einer der Ersten, der ein Musikstück nach Picasso komponierte.54 Bis heute vertonten zahlreiche weitere Komponisten das Gemälde; exemplarisch seien Georges Auric (1950) und Luigi Nono (1954) genannt.55 Einigen, wie den beiden Genannten, diente ein Gedicht des Surrealisten Paul Éluard 50 51 52 53
Vgl. Held 1989: 53. Ibid. Vgl. Fink 1988: 110. Weitere Gemälde Picassos wurden nur vereinzelt musikalisch umgesetzt. Hierunter sind beispielsweise Mädchen mit der Taube, Pagenspiele, Frau mit Tambourin und Der Tanz von Johannes Aschenbrenner (1957); Suite Vollard und Traum und Lüge Francos von Reiner Bredemeyer (1978 und 1982); Der blaue Harlekin durch Volker David Kirchner (1981); Sylvette von Helge Jung (1970) und Nature Morte à la guitare von Tomás Marco (1975). Zudem gibt es Kompositionen, u.a. von Francis Poulenc, die durch das Gesamtschaffen Picassos inspiriert wurden. Vgl. Ibid.: 235-238. 54 Jean Kurt Forest komponierte 1937 ein Klavierstück mit dem Titel Für Pablo Picasso. Alle vor 1988 entstandenen Kompositionen nach Picasso findet man im Verzeichnis der Kompositionen nach Werken bildender Kunst in Ibid. 55 Eine vollständige Übersicht findet man in Fürst 2005: 371f. 382
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
als direkte Textvorlage: La victoire de Guernica, das durch Picassos Bild beeinflusst ist und während der Pariser Weltausstellung neben dem Wandbild hing.56 Neben den Reaktionen auf Picassos Guernica regte aber auch die Komposition Dessaus selbst zur musikalischen Produktion an. Da sich Dessau zum Kommunismus bekannte (er ließ sich nach dem Krieg in Ost-Berlin nieder), verwundert es nicht, dass das Werk hauptsächlich in der Deutschen Demokratischen Republik rezipiert wurde. Erstmals bearbeitete Dessaus Meisterschüler Friedrich Schenker die Komposition im Jahr 1975 für Kammerensemble. Nach Dessaus Tod im Jahr 1979 folgten zum neunzigsten Geburtstag vier weitere Bearbeitungen für Kammerbesetzung (Hans-Peter Jannoch, Frank Suske, Jacob Ullmann und Johannes Wallmann). Im gleichen Jahr entstand auch eine freie Adaption für ein Blechbläserensemble von Hannes Zerbe.57 Die Ausschließlichkeit aber, mit der die Rezeption durch die erwähnten Komponisten zeitlich und örtlich auf die DDR beschränkt blieb, lässt doch nach dem Grund des Desinteresses westdeutscher Musiker fragen. Dieser ist sicherlich hauptsächlich darin zu sehen, dass Dessaus Kompositionen aufgrund der in der Bundesrepublik vorherrschenden antikommunistischen Haltung kaum aufgeführt wurden58 und damit ein wichtiger Anknüpfungspunkt mit seinem Werk nicht gegeben war. Dies erklärt aber noch nicht, warum auch unter den zahlreichen Komponisten, die direkt auf das Picasso-Gemälde zurückgriffen, lediglich ein Westdeutscher zu finden ist.59 Hierfür muss kurz auf den Umgang mit dem eigentlichen Ereignis im geteilten Nachkriegsdeutschland eingegangen werden. In der DDR konnte die Zerstörung von Guernica als Beispiel für die grausame imperialistische Vergangenheit Deutschlands dienen. Da die sozialistische Gesellschaft für sich in Anspruch nahm, diese überwunden zu haben, war im Sinne der sozialistischen Ideologie ein offener Umgang mit dem Ereignis möglich. In Westdeutschland dagegen gestaltete sich die Verarbeitung der Vergangenheit schwieriger. Der Angriff auf Guernica wurde hier, wie übrigens auch in Spanien,60 zu einem Tabuthema. Mehrere ehemalige 56 Vgl. Ibid.: 358. 57 Die Werke entstammen der Liste der Guernica-Kompositionen in Ibid.: 371f. Zudem bedanke ich mich bei Johannes Wallmann und Hannes Zerbe für die Informationen zum Entstehungsanlass ihrer Kompositionen. 58 Vgl. Petersen 1991: 57. 59 Der 1934 in Aachen geborene Walter Steffens komponierte 1976/78 eine Elegie für Bratsche und Orchester (op. 32) nach dem Gemälde Picassos. Vgl. die Liste von Guernica-Kompositionen in Fürst 2005: 371f. 60 Erst im Jahr 1970 gab Franco einen Luftangriff auf Guernica zu. Vgl. Kurlansky 2000: 257. 383
CHRISTINE BAUR
Führungskräfte der Wehrmacht befanden sich nach dem Krieg in Verantwortungspositionen der neu gegründeten Bundeswehr61 und hatten wenig Interesse an einer Aufarbeitung. Viele Verbrechen der Wehrmacht, hierunter auch das Ereignis Guernica, gerieten bewusst in Vergessenheit.62 Ein öffentlicher Diskurs über den Angriff fand in Westdeutschland bis in die Mitte der 1970er Jahre daher nicht statt; zudem gibt es bis heute kein Schuldbekenntnis von Seiten der Bundesregierung. Erst seit jüngster Zeit zeigen sich Versuche, die vergangenen Taten der Legion Condor aufzuarbeiten. So ordnete im Januar 2005 der damalige Verteidigungsminister Peter Struck an, Kasernen umzubenennen, die den Namen von Mitgliedern dieser Fliegereinheit trugen.63 Der bevorstehende siebzigste Jahrestag des Bombardements am 26. April 2007 wird zeigen, ob die neue Bundesregierung diesen Weg weitergehen und den Anlass nutzen wird, um sich mit diesem Teil der faschistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich ihrer Verantwortung zu stellen.
Literatur Arnheim, Rudolf (1964): Picassos Guernica. Entstehung eines Bildes, München. Cabanne, Pierre (1992): Le siècle de Picasso. Bd. 3: Guernica et la guerre (1937-1955), Paris. Dessau, Paul (1974): Aus Gesprächen. Erschienen anlässlich des 80. Geburtstages von Paul Dessau, Leipzig. Dümling, Albrecht (1990): Zwölftonmusik als antifaschistisches Potential. Eislers Ideen zu einer neuen Verwendung der Dodekaphonie. In: Otto Kolleritsch (Hg.), Die Wiener Schule und das Hakenkreuz. Das Schicksal der Moderne im gesellschaftspolitischen Kontext des 20. Jahrhunderts, Wien/Graz 1990, S. 92-106. Fink, Monika (1988): Musik nach Bildern. Programmbezogenes Komponieren im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck. Fisch, Eberhard (1983): Picasso – Guernica. Eine Interpretation, Freiburg/Basel/Wien. Floros, Constantin (1989): Musik als Botschaft, Wiesbaden. Fürst, Marion (2005): »Barbarischer Sturm, der eine Welt zerschmiß, musischer Sturm, der solche Scherben zusammenfegte!« Zu Pablo Picassos Gemälde Guernica und seiner produktiven Rezeptionsgeschichte. In: 61 Hierunter beispielsweise der am Angriff auf Guernica beteiligte Heinz Trettner (1907-2006), der von 1964 bis 1966 Generalinspekteur der Bundeswehr war. 62 Vgl. Kasper 1998: 29f. 63 Vgl. Knab 2005. 384
PAUL DESSAUS »GUERNICA«
Nina Ermlich Lehmann et al. (Hg.), Fokus Deutsches Miserere von Paul Dessau und Bertolt Brecht. Festschrift Peter Petersen zum 65. Geburtstag, Hamburg, S. 353-374. Held, Jutta (1989): Faschismus und Krieg. Positionen der Avantgarde in den dreißiger Jahren. In: Jutta Held (Hg.), Der Spanische Bürgerkrieg und die bildenden Künste, Hamburg, S. 53-75. Hennenberg, Fritz (1965): Paul Dessau. Eine Biographie, Leipzig. Kasper, Michael (1998): Gernika und Deutschland – Geschichte einer Versöhnung, Bilbao. Knab, Jakob (2005): Zeitlose soldatische Tugenden. In: Die Zeit 46, 10.11.2005. Kurlansky, Mark (2000): Die Basken. Eine kleine Weltgeschichte, München. Larrea, Juan (1947): Guernica. Pablo Picasso, New York. Liszt, Franz (1855): Berlioz und seine Haroldsymphonie. In: Neue Zeitschrift für Musik 43. Petersen, Peter (1991): Botschaft aus dem Exil. Das Deutsche Miserere von Dessau und Brecht. In: Festschrift H.-P. Reinecke, Regensburg S. 41-58. Phleps, Thomas (2001): Zwischen Adorno und Zappa. Semantische und funktionale Inszenierungen in der Musik des 20. Jahrhunderts, Berlin. Reinhold, Daniela (Hg.) (1995): Paul Dessau: 1894-1979. Dokumente zu Leben und Werk, Berlin. Rubio Cabeza, Manuel (1987): Diccionario de la guerra civil española, 2 Bde., Barcelona. Schneider, Frank (1989): Denken in harten Widersprüchen. Politische Motive in Dessaus Musik. In: Musik und Gesellschaft 39, H. 6., S. 282-287. Schönberg, Arnold (1941): Komposition mit zwölf Tönen. In: Ders., Gesammelte Schriften 1, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. v. Ivan Vojtech, Frankfurt a.M. 1976, S. 72-96. Southworth, H. R. (1975): La destruction de Guernica: journalisme, diplomatie, propagande et histoire, Paris. Spies, Werner (1988): Kontinent Picasso, München. Strauß, Dietmar (Hg.) (1990): Eduard Hanslick: Vom Musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Teil 1: Historisch-kritische Ausgabe, Mainz et al. Zeiller, Annemarie (1996): Guernica und das Publikum. Picassos Bild im Widerstreit der Meinungen, Berlin.
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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Dr. Silke Arnold-de Simine, geb. 1966, ist seit September 2006 Dozentin für Germanistik am Birkbeck College, University of London (Großbritannien). Neuere Veröffentlichungen: (Hg.): Memory Traces: 1989 and the Question of German Cultural Identity, Oxford 2005; The museum as memory site and memory medium in W.G. Sebald’s ›Austerlitz‹ (2001). In: Gabriele Rippl/Christian Emden (Hg.), The Irreducibility of Images. Intermediality in Contemporary Literary and Cultural Studies, Oxford 2006. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Musealisierungsprozesse und Gedächtnismedien, Cultural und Gender Studies, W.G. Sebald. Sebastian Baden, geb. 1980, studiert Kunsterziehung und Germanistik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe und der Universität Karlsruhe (TH). Neuere Veröffentlichungen: Schnittstellen-Shortcuts. Videokunst im Oberstufenunterricht. In: Film, Video und Fotografie in der Schule, hg. v. Siemens Arts Program, München 2006; (Hg.): Terminator – Die Möglichkeit des Endes. Bewältigung und Zerstörung als kreative Prozesse, Karlsruhe/ Bern 2007. Thema der Examensarbeit: Schrecken und Spektakel. Künstlerische Avantgarde und der Geist des Terrorismus im 21. Jahrhundert. Christine Baur M.A., geb. 1980, ist Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung, lebt zur Zeit in Paris und bereitet ihre Promotion zum Thema Wechselwirkungen in der deutschfranzösischen Musikgeschichte vor. Christine Baur studierte Musikwissenschaft, Mathematik und Philosophie an der Universität Karlsruhe (TH); den Magister Artium machte sie im März 2006. Prof. Dr. Andreas Böhn, geb. 1963, ist seit 2001 Professor für Literaturwissenschaft/Medien am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe (TH). Neuere Veröffentlichungen: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001; (Hg.): Formzitat und Intermedialität, St. Ingbert 2003. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Komik und Normativität; Erinnerung und Medialität. 387
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Dr. Maria Virginia Cardi, geb. 1958, ist Dozentin für Kulturanthropologie an der Accademia di Brera in Mailand (Italien); Promotion an der Universität Bologna (Italien) in Kunstsoziologie. Neuere Veröffentlichungen: Le rovine abitate. Invenzione e morte in luoghi di memoria, Florenz 2000; (Hg.): Immaginario e comportamento. Percorsi sulle arti e le culture contemporanee, Rimini 2000. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Die Stadt als Erinnerungsort und Raum sozialer und symbolischer Beziehungen. Prof. Dr. Götz Großklaus, geb. 1933, ist emeritierter Professor für Neuere Philologie an der Universität Karlsruhe (TH) sowie assozierter Professor für Mediengeschichte an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe; Mitglied des Graduiertenkollegs ›Bild – Körper – Medium‹ an der HfG. Neuere Veröffentlichungen: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit, Frankfurt a.M. 2004; Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raum-zeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a.M. 1995. Simone Finkele M.A., geb. 1968, ist seit 2000 Lehrbeauftragte am Institut für Literaturwissenschaft/Mediävistik der Universität Karlsruhe (TH) im Bereich Sprache und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Derzeit promoviert sie am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Karlsruhe (TH) über Bertolt Brecht. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Inszenierungs- und Performanzstrategien in hochmittelalterlichen Texten, Automation im Mittelalter. Dr. Jakub Kazecki, geb. 1974, ist seit 2006 Assistant Professor für deutsche Sprache und Literatur im Department of Linguistics and Languages an der McMaster University in Hamilton, ON (Kanada). Neuere Veröffentlichungen: Der Plakatkrieg: Die Unterschiede in der Rechtfertigung des Konflikts in den deutschen und amerikanischen Propagandadesigns des Ersten Weltkriegs. Revista Estudios Filológicos Alemanes 9 (2005): 219-228; Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Komik, Gewalt und Maskulinität in der deutschen Literatur des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik.
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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Prof. Dr. Kay Kirchmann, geb. 1961, ist seit 2004 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und besitzt Lehraufträge an der Ruhr-Universität Bochum und an der Universität St. Gallen (Schweiz). Neuere Veröffentlichungen: (Hg. zus. mit Frank Furtwängler et al.): Zwischen-Bilanz. Eine Internetfestschrift zum 60. Geburtstag von Joachim Paech, Konstanz 2002; (Hg. zus. mit Fabio Crivellari et al.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Medientheorie und -geschichte, Zeit und Medialität, Film- und Fernsehtheorie. Prof. Dr. Burkhardt Krause, geb. 1950, ist Professor für Germanistische Mediävistik an der Universität Karlsruhe (TH) und Leiter des Studienzentrums für Angewandte Kulturwissenschaft/Kulturarbeit. Neuere Veröffentlichungen: Burkhardt Krause/Ulrich Scheck (Hg.), Emotions and Cultural Change. Gefühle und kultureller Wandel, Tübingen 2006; darin: Scham(e), schande und êre: Selbstwahrnehmung – zwischen Affekt und Tugend, S. 21-76. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Mentalitätsgeschichtliche und kulturanthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur, Emotionsforschung. Dr. Christine Mielke, geb. 1971, ist seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale der Universität Karlsruhe (TH) und Lehrbeauftragte für Medienwissenschaft am Institut für Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaft der Universität Karlsruhe (TH). Neuere Veröffentlichungen: Zyklisch-serielle Narration. Intermediale Rekonstruktion einer Erzähltradition von ›Tausendundeine Nacht‹ über die romantischen Rahmenzyklen bis zur Seifenoper, Berlin/New York 2006. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Thanatologie in der Literatur- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Städtezerstörung im Zweiten Weltkrieg, Erzähltheorie, Serialität sowie Kulturgeschichte im Film.
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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Claudia Pinkas M.A., geb. 1976, ist seit Oktober 2006 Promotionsstipendiatin des Landes Baden-Württemberg an der Universität Karlsruhe (TH) und seit Dezember 2005 Mitarbeiterin in dem vom Land Baden-Württemberg geförderten Projekt »Luftkrieg und Städtezerstörung in Europa. Erinnerungskulturen und Identitätsbildung«. Sie studierte Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Multimedia an der Universität Karlsruhe (TH). Thema des Dissertationsprojektes: Phantastik in den Medien des 19. und 20. Jahrhunderts. Dominik Schrey, B.A., geb. 1980, studierte Germanistik und Multimedia an der Universität Karlsruhe (TH) und befindet sich derzeit im Masterstudiengang. Aktuelle Schwerpunkte: Intermedialität, Film- und Medientheorie, japanische Filmgeschichte. Dr. Izabela SkórzyĔska, geb. 1967, ist seit 2000 Dozentin für Geschichtsdidaktik/Geschichtswissenschaft am Institut für Geschichte der Adam Mickiewicz University PoznaĔ (Polen). Neuere Veröffentlichungen: (Hg. zus. mit Joanna Ostrowska): Dialog(i) w kulturze, PoznaĔ 2001; Teatry poznaĔskich studentów 1953-1989. Konteksty. Historie. Intepretacje, PoznaĔ 2002. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Transkulturelle Geschichts- und Erinnerungsprozesse; Geschichte und Theorie der Aufführung und der sozialen Inszenierung, Theaterpädagogik. Stefan Werning M.A., geb. 1978, promoviert derzeit über technologische Konvergenzen zwischen militärischen Simulationen und kommerziellen Computer- und Videospielen an der Universität Bonn. Von Oktober bis Dezember 2005 verbrachte Stefan Werning einen DAAD-geförderten Aufenthalt am MIT in Cambridge/MA, dem er weiterhin als faculty advisor verbunden ist. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Game studies, Medien- und erzähltheoretische Ansätze, insbesondere nichtlinearer Medien, Theoriebildung in Bezug auf synästhetische Phänomene (z.B. Musikvideos), pädagogische Konzepte im Bereich E-Learning.
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Kultur- und Medientheorie Ramón Reichert Im Kino der Humanwissenschaften Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens Juli 2007, 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-647-2
Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments Mai 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-640-3
Christoph Lischka, Andrea Sick (eds.) Machines as Agency Artistic Perspectives Mai 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-646-5
Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen April 2007, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-419-5
Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899) April 2007, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-596-3
Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen April 2007, ca. 248 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-611-3
Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung April 2007, 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2
Meike Kröncke, Kerstin Mey, Yvonne Spielmann (Hg.) Kultureller Umbau Räume, Identitäten und Re/Präsentationen April 2007, ca. 176 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-556-7
Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960
Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹ Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹
April 2007, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-615-1
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Kultur- und Medientheorie Michael Charlton, Tilmann Sutter Lese-Kommunikation Mediensozialisation in Gesprächen über mehrdeutige Texte März 2007, ca. 150 Seiten, kart., ca. 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-601-4
Christian Bielefeldt, Udo Dahmen, Rolf Großmann (Hg.) PopMusicology Perspektiven der Popmusikwissenschaft März 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-603-8
Björn Bollhöfer Geographien des Fernsehens Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken Februar 2007, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-621-2
Karin Knop Comedy in Serie Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format Januar 2007, 364 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-527-7
Florian Werner Rapocalypse Der Anfang des Rap und das Ende der Welt Februar 2007, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-608-3
Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity Februar 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-614-4
vidc (Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit) / kulturen in bewegung (Hg.) Blickwechsel Lateinamerika in der zeitgenössischen Kunst Februar 2007, 198 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-660-1
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