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German Pages [276] Year 2021
Dariusz Komorowski (Hg.)
Die Wiederkehr der res publica Zu literarischer Repräsentation einer politischen Idee im globalen Zeitalter
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Dariusz Komorowski (Hg.)
Die Wiederkehr der res publica Zu literarischer Repräsentation einer politischen Idee im globalen Zeitalter
Vandenhoeck & Ruprecht
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Gutachterin des Bandes: Prof. Margrit Zinggeler (Eastern Michigan University)
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Das moderne Grütli, 1887/88. Hodler, Ferdinand. 1853–1918. © akg-images / André Held Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Umschlagsgestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978–3–666–31123–9
Danksagung Die Organisation der Tagung und die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes wären ohne Unterstützung von folgenden Personen und Institutionen nicht möglich. Sehr herzlich danke ich der Schweizerischen Botschaft in Warszawa, namentlich dem Botschafter Jürg Burri für die freundliche Übernahme der Schirmherrschaft für die Tagung. Mein bester Dank für die finanzielle Unterstützung der Tagung geht an Credit Suisse in Wrocław, insbesondere an die Leiterin von Credit Suisse Wrocław Katarzyna Józefowicz für ihr freundliches Entgegenkommen. Für die Finanzierung des Bandes danke ich sehr herzlich dem Institut für Germanistik und der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław. Einen besonderen Dank für die freundschaftliche Hilfe bei der Korrektur der Texte möchte ich Dominik Müller aussprechen. Für Anregungen in der frühen Vorbereitungsphase des Projekts danke ich sehr herzlich Gerhard Lauer. An alle Beitragsautorinnen und -Autoren geht mein bester Dank für eine freundliche und anregende Atmosphäre während der Tagung sowie für ihre erkenntnisreichen Beiträge.
Inhalt Vorwort ..........................................................................................
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Tobias Weger (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München) Die Bedrohung der res publica. Überlegungen aus historischer Perspektive ..................................................................................... 17 Adrian Madej (Uniwersytet Wrocławski) Das Politische bei Chantal Mouffe. Zur Aktualität der ‚radikalen Demokratie‘ ..................................................................... 35 Thomas Fries (Universität Zürich) Die Gruppe von Coppet (1804–1817). Weiterführung der res publica litteraria nach der politischen Revolution? ................................ 47 Eda Sagarra (Trinity College Dublin, University of Dublin) Citoyen Fontanes res publica. Revolution – Vaterland – Kunst................. 69 Jacek Rzeszotnik (Uniwersytet Wrocławski) Von vernunftfanatischen Kolonisatoren, republikanischen Philobaten und antidemokratischen Antibaten. Zur fantastischen Vision des weltraumutopischen Res publica-Konzepts in Kurd Laßwitz’ Marsroman Auf zwei Planeten (1897) ................................................................... 91 Dominik Müller (Université de Genève) Schriftsteller als Staats-Schreiber? Politische Interventionsformen der Literatur in der Schweiz ‒ von Gottfried Keller zu Guy Krneta ............................ 105 Peter Rusterholz (Universität Bern) Wurzeln oder Füsse? Deutschschweizer Literatur zwischen globaler Öffnung, Begrenzung und Verwandlung ................................. 123 Daniel Rothenbühler (Hochschule der Künste Bern) Doppelbürgerschaft. Räume des Politischen bei Melinda Nadj Abonji und Dana Grigorcea .............................................................. 135
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Inhalt
Jürgen Barkhoff (Trinity College Dublin, University of Dublin) Inlandskorrespondent und Alpenschrat. Thomas Hürlimann und die res publica der Schweiz .......................................................... 159 Wojciech Kunicki (Uniwersytet Wrocławski) Leere Herzen von Juli Zeh als eine philosophische Parabel ..................... 187 Elias Zimmermann (Université de Lausanne) Kannibalische res publica. Werner Schwabs ÜBERGEWICHT und die Gewalt der Demokratie ......................................................... 199 Guglielmo Gabbiadini (Università degli Studi di Bergamo) Poetik der Partizipation für eine Aufarbeitung der Zukunft. Zu Andres Veiels Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! (mit einem Seitenblick auf Das Himbeerreich) ..................................... 213 Claudia Nitschke (Durham University) Verteidigung des Paradieses? Res publica und Utopie bei Thomas Steinaecker.......................................................................... 229 Dariusz Komorowski (Uniwersytet Wrocławski) Der Gemeinsinn im Lokalen. Zum Verständnis der res publica in den Reportagen Fredi Lerchs ......................................................... 251 Autorinnen und Autoren .................................................................. 269
Vorwort In einer relativ kurzen Zeitspanne zwischen der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts vollzieht sich eine bedeutende Akzentverschiebung in der deutschsprachigen Literatur von einem in der postmodernen Ära dominierenden Desinteresse am Politischen zu einem direkten Engagement des Schriftstellers in der Tradition von Émile Zola. Auf der einen Seite stehen Schriftsteller wie Alexander von Schönburg, der feststellt, dass man sich in einem postideologischen Zeitalter befinde und es deswegen für die Zeitgenossen keine res publica mehr gebe1 . Auf dem Gegenpol platziert sich z. B. Milo Rau mit seinen performativen Projekten und Theaterstücken des Reenactments, mit denen er die Kluft zwischen der fiktiven Welt des literarischen Werks und der Erfahrungswirklichkeit zu überwinden und die letztere mitzugestalten trachtet. Soziale, kulturelle und politische Veränderungen im globalen Ausmaß veranlassen die Schriftsteller zur literarischen Befragung dieser Veränderungsprozesse. Eine der wichtigsten Fragen, die in diesem Kontext erörtert werden, ist die nach den Formen der gesellschaftlichen (Neu)Organisation. Von der Prämisse ausgehend, dass die aktuellen Prozesse in der Literatur ihre Wiederspiegelung finden, und dass diese literarischen Repräsentationen ihrerseits eingreifend die außerliterarische Wirklichkeit diskursiv beeinflussen und mitgestalten, stellen die im Band versammelten Beiträge die literarische Repräsentation der res publica in den Fokus. Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Historikerinnen und Historiker aus verschiedenen europäischen Forschungszentren richten ihren Blick vor allem auf die deutschsprachige Literatur, um der Frage nachzugehen, welche Vorstellungen des Politischen und des Gemeinwohls, welche des Bürgers und der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in der Gegenwartsliteratur verhandelt werden. In manchen Fällen wird gefragt, ob und wie in der heutigen deutschsprachigen Literatur utopische oder dystopische Gemeinschaftsmodelle konstruiert werden. In diesem Kontext scheint das Verhältnis der Nationalstaaten und übernationalen Institutionen zur res publica von besonderer Relevanz. So gestellte Fragen provozieren eine Fokussierung des Blicks auf verschiedene Aspekte des Gemeinsinns, der im Zentrum der im vorliegenden Band präsentierten Analyse steht. Die behandelten Fragen reichen von der res publica als politischem Strukturgefüge mit Gewaltenteilung und definierten Volksrechten, 1 Bessing, Joachim, Kracht, Christian et al.: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre, München 2001 (1999), S. 100.
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Vorwort
über die Rolle und Selbstwahrnehmung der politisch engagierten Schriftsteller, die außer(partei)politischen Formen des Engagements fürs Gemeinwohl, die sich im Raum zwischen der Familie und dem Politischen entfalten können, bis hin zu alternativen Gemeinschaftsformen, in denen Beziehungen zwischen den Menschen, Tieren und der Umwelt neu gedacht werden. All diese Modelle werden vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung der Idee der res publica untersucht. Tobias Weger geht in seinem Beitrag von der Annahme aus, dass derzeit die republikanisch-demokratische Ordnung in Europa als zunehmend fragil wahrgenommen werde. Er spürt der Frage nach, ob die gegenwärtigen Entwicklungen tatsächlich etwas Neues in der europäischen Geschichte sind oder sie vielmehr eine Neuauflage eines Diskurses darstellen, der die europäische Geistesgeschichte bereits seit der Aufklärung durchzieht. In einer Perspektive der langen Dauer geht er dem Gedanken nach, dass die res publica alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist und stets aufs Neue erkämpft, gesichert und verteidigt werden muss. Zugleich untersucht er, wie in der transnationalen Kommunikation die Verflechtungen der einzelnen nationalen Gesellschaften beleuchtet werden, um zu erfahren, ob es bei aller Diversität der Einzelvorstellungen so etwas wie ein Grenzen und Gesellschaften übergreifendes Gefühl der Solidarität zugunsten der res publica gab und gibt. Aus einer anderen Perspektive nähert sich Adrian Madej dem Problem des Weiterbestehens der liberalen Demokratie. Er geht von einem Widerspruch aus, den der deutsche Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde in der freiheitlichen, säkularisierten Staatsordnung konstatiert. Die als sog. BöckenfördeDiktum bekannte Theorie stellt einen krassen Gegensatz zwischen den Freiheitsansprüchen der Gesellschaft und der Notwendigkeit, diese Ansprüche mithilfe der rechtlichen Vorschriften zu sichern, fest: die Sicherung der Freiheit erzwingt deren Einschränkung. Diesem Paradox begegnet die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe mit ihrem Projekt der „radikalen Demokratie“, die den Antagonismus als einen konstitutiven Bestandteil des Politischen betrachtet. Madej erwägt in seinem Beitrag, ob ihr Projekt der agonistischen Konfrontation, in der widerstrebende Kräfte um die Vormacht kämpfen, um dann als Sieger „alles zu nehmen“, tatsächlich eine Chance für eine pluralistische Gesellschaftsordnung bildet und wie darin ein Gemeinsinn herauskristallisiert werden kann. Den zwei ideengeschichtlich fundierten Beiträgen folgen literaturwissenschaftliche Analysen, von denen sich die ersten drei der Vorstellung von res publica im 19. Jahrhundert widmen. Thomas Fries geht am Beispiel der Gruppe von Coppet (1804‒1817) Mechanismen nach, die die Aufrechterhaltung der freiheitlichen Auffassung der Bürgerlichkeit und des Gemeinsinns ermöglichen konnten. Die insgesamt fast 600 Teilnehmer zählende Gruppe unabhängiger
Vorwort
Autoren und Publizisten aus ganz Europa um das Autorenpaar Madame de Staël und Benjamin Constant pflegte regen Meinungsaustausch in Form von Gesprächen, Briefwechseln oder Theateraufführungen. In dem aufgeklärten Dialog sahen die Gruppenmitglieder die Möglichkeit, einen Gemeinsinn jenseits nationaler Grenzen zu entwickeln, zu gestalten und zu bewahren. Fries analysiert die Position der Schriftsteller in der öffentlichen Debatte der Aufklärung, die über Jahrzehnte eine res publica litteraria ermöglichte und aufrechterhielt. Eine rege Debatte über die Staatsordnung wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des blühenden Nationalismus, in den deutschen Staaten geführt. Einem prominenten Schriftsteller jener Zeit, Theodor Fontane, und seiner Vorstellung von der res publica wendet sich Eda Sagarra zu. Trotz Fontanes scheinbarer politischer „Wetterwendigkeit“ sieht Sagarra in dessen Verständnis der res publica in der aufgewühlten Zeit von Imperialismus und Nationalismus eine Konstante. Im Zentrum steht seine Hoffnung, dass sich „ein freies Volk“ entfalten kann. Eine der wichtigen Fragen, die sich dabei stellen, ist die, wie Fontane diese Zielsetzung mit den neuen Bedingungen des kommerzialisierten Büchermarktes zu vereinigen versucht. Der Frage nach den Grundlagen der res publica und dem Freiheitsverständnis in der Zeit des europäischen Imperialismus geht Jacek Rzeszotnik nach, der sich in seinem Beitrag mit dem Roman Auf zwei Planeten (1897) eines Breslauer Schriftstellers des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Kurd Laßwitz, beschäftigt. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des berühmten Romans Looking Backward: 2000–1887 von Edward Bellamy entwirft Laßwitz „sein phantastisches Bild außerirdischer ‚Implementierung‘ republikanischer Ideale“ (Rzeszotnik). In der Schilderung der Konfrontation zwischen den Erdenbewohnern und den Aliens wird das imperial-koloniale System der europäischen Mächte bloßgestellt und einer scharfen Kritik unterzogen. Dabei werden, wie Rzeszotnik darlegt, die ethischen Grundlagen der res publica und einer ihrer bedeutendsten Kategorien, der Freiheit, kritisch befragt. Im kurzen 20. Jahrhundert fühlen sich die Schriftsteller besonders zur kritischen Auseinandersetzung mit Ideologien und ihrer Umsetzung berufen, was seinen Ausdruck u. a. im wirkungsmächtigen Begriff der littérature engagée von Jean Paul Sartre findet. Die Konsequenzen der Globalisierungsprozesse und die wiederkehrenden Nationalismen um die Wende zum 21. Jahrhundert geben den Fragen nach der res publica in der Literatur heute wieder eine besondere Brisanz und Relevanz. Es werden neue Muster kultureller Interventionen entfaltet, die auch auf die technologische und mediale Entwicklung reagieren. Dominik Müller lässt unterschiedliche Arten politischer Intervention von Gottfried Keller über Carl Spitteler, Max Frisch bis zu Guy Krneta Revue passieren und zeichnet Veränderungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Schriftsteller als politische Akteure und in der Organisation der politischen Debatte nach.
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Vorwort
Vor dem Hintergrund des Stichworts ‚die Wiederkehr der res publica‘ richtet Müller seinen Blick vor allem auf das literarisch-politische Profil von Guy Krneta, der sein Schreiben und öffentliches Wirken besonders klug und effizient zu verbinden und den medialen Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen weiß. Krneta gehört zu den Autoren, die weniger auf altbewährte literarische Gattungen zurückgreifen als neue erproben wie das postdramatische Theater oder spoken words. Diese Text-Performances, die seit der Jahrhundertwende weltweit einen beispiellosen Aufschwung erleben, schaffen einen besonderen Raum der Teilnahme. Müller konzentriert sich auf Krnetas Engagement für eine unabhängige Presse als Grundlage einer funktionierenden res publica. Peter Rusterholz wendet sich einer anderen Form der öffentlichen Auftritte im politischen Raum der Schweiz zu, den Erst-August-Reden zum Nationalfeiertag. Er untersucht solche politischen Reden, die von Literaten gehalten wurden, um anschließend die Frage zu stellen, inwiefern literarische Texte politische Funktionen haben sollen und können und wie die Autoren selbst zu dieser Frage stehen. Ins Zentrum seiner Analyse rückt Rusterholz eine Auseinandersetzung über die Beziehung von Ästhetik und Politik zwischen Lukas Bärfuss und Peter Stamm, die in der deutschen und der schweizerischen Presse ausgetragen wurde. Diese Diskussion und das Engagement der beiden Autoren insgesamt sind Beispiele für eine Entwicklung, die im Gegensatz zu Pia Reinachers These steht, die besagt, dass die jüngere Generation von Autorinnen und Autoren im Laufe der 1990er Jahre das politische Engagement aufgegeben habe2 . Auch Autorinnen bezeugen ein wachsendes Interesse an der Politik. Melinda Nadj Abonji und Dana Grigorcea, beide in die Schweiz eingewandert, haben einen entscheidenden Schritt von der Literatur zum direkten Engagement gewagt, als sie 2015 bei den Schweizer Nationalratswahlen für die Liste „Kunst und Politik“ in Zürich kandidierten. Damit griffen sie auf eine Tradition der 70er und 80er Jahre zurück, als sich Autoren wie Adolf Muschg oder Peter Bichsel in der Schweiz oder auch Günter Grass in Deutschland direkt am politischen Geschehen beteiligten. Daniel Rothenbühler analysiert das Engagement der beiden Autorinnen im Kontext ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft und zeigt, inwiefern beide Schriftstellerinnen literarisch und politisch wirksam zu Veränderungen der res publica beitragen können. Einer kritischen Auseinandersetzung mit der Demokratie im globalisierten Zeitalter spüren zwei weitere Beiträge nach, die dem Schaffen von Thomas Hürlimann und Juli Zeh gewidmet sind. Hürlimann begleitet in seinen Texten seit Jahrzehnten kommentierend die Innen- und Außenpolitik der Schweiz und wird als eine der wichtigsten Stimmen des engagierten „kritischen Patriotismus“ 2 Reinacher, Pia: Je Suisse, München/Wien 2003, S. 7‒37.
Vorwort
(von Matt) wahrgenommen. Seinen literarisch und rhetorisch differenzierten Strategien geht Jürgen Barkhoff nach, um Hürlimanns skeptisches Verhältnis zur EU, seine Stellung zur direkten Demokratie oder zum Nationalbewusstsein in der globalisierten Welt zu befragen und dabei Impulse für die Neugestaltung oder Wiederbelebung der res publica zu finden. Auch im dystopischen Roman Leere Herzen von Juli Zeh steht die Frage nach dem Zustand der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum einer kritischen Auseinandersetzung. Laut der Analyse von Wojciech Kunicki schreibt Zeh einerseits eine Satire auf die Wohlstandphilister und spielt andererseits den problematischen Rettungsversuch der Demokratie mit den Mitteln einer terroristischen Organisation durch, um die Frage aufzuwerfen, ob das demokratische Ziel jegliche Mittel heilige. Angesichts der Bedrohung seitens der Terroristen rückt das Problem der Verantwortung des Staates und seines Verhältnisses zu den Bürgern in den Vordergrund. Juli Zeh warnt davor, dass der Staat eher geneigt sein könnte, um seiner Macht willen gekonnt die Angst der Bürger zu verwalten als echte Probleme zu lösen. Der res publica gegenüber würde sich der Staat damit destruktiv verhalten. Auf einen der res publica immanenten Selbstzerstörungstrieb weist Elias Zimmermann in seiner Analyse des Topos einer „kannibalischen Republik“ hin. Zimmermann geht auf Platons Verständnis der Demokratie zurück, von der quasi kannibalische Gefahren ausgehen, da die demokratisch gewählten Volksvertreter zu tödlichen Tyrannen mutieren können. Platon stützt seine These vom „kannibalischen Charakter“ der res publica mit dem Hinweis auf ein arkadisches Ritual, bei dem aus einem gemeinsamen Topf gegessen wird, worin sich Menschenfleisch befindet. Wer davon isst, verwandelt sich in einen menschenfressenden Werwolf. Zimmermann sieht darin eine Analogie zu demokratischen Prozessen, an denen sich verschiedene Bevölkerungsgruppen beteiligen, die differente Interessen haben. Die Literatur hat sich der Vorstellung eines demokratischen Prozesses, der beständig in Kannibalismus umzuschlagen droht, immer wieder mit den ihr eigenen ästhetischen Mitteln zugewandt. Zimmermann beschreibt eine sich seit den 1990er Jahren abzeichnende Tendenz, die die Verbindung neuer Eskalationsstufen des politischen Diskurses mit intrikaten politischen Fragestellungen einer vermeintlich post-ideologischen Zeit verrät. So steht, Zimmermann zufolge, die plötzliche kannibalische Eruption in Werner Schwabs ÜBERGEWICHTIG, unwichtig: UNFORM (1991) sinnbildlich für eine unterdrückte Sehnsucht nach Gemeinschaft, die nicht zufällig auf revolutionäre und religiöse Subtexte zurückgreift. Zu den Kernmerkmalen demokratischer Lebensgestaltung in der res publica gehört das Prinzip der Partizipation, das zunächst als effektive Teilnahme der Einzelnen an Entscheidungsprozessen oder als Teilhabe an gemeinschaftlichen Prozessen in verschiedenen Bereichen der öffentlichen Sphäre verstanden wird.
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Vorwort
Darüber hinaus hat gleichzeitig auch die gegenwärtige Ästhetik diesen Begriff zu einer zentralen Kategorie poetologischer Reflexion avancieren lassen, was etwa im Kunstverständnis eines Max Glauner3 seinen Ausdruck findet. Den partizipativen Formaten der Poetik von Andres Veiel geht Guglielmo Gabbiadini nach. In Veiels Stücken von Das Himbeerreich bis hin zu Welche Zukunft?! sieht er die Partizipation auf zweifache Weise realisiert. Einerseits werden bei Veiel die für die res publica grundsätzlichen Bereiche wie Justiz, Finanz oder Umwelt repräsentiert, andererseits erweist sich, da seine Stücke auf Überarbeitungen von Gesprächen, Interviews und Workshops basieren, das Partizipationsprinzip entstehungs- und wirkungsgeschichtlich als eine produktive Kategorie künstlerischen Schaffens. Einen anderen Zugang zur Repräsentanz des Gemeinwesens in der Literatur sucht Claudia Nitschke, die anhand von Thomas Steinaeckers Roman Die Verteidigung des Paradieses die Frage nach dem Gemeinwohl jenseits nationaler Grenzen aufgreift. Sie analysiert, wie Steinaecker die gegenwärtigen klimatischen, geo- und biopolitischen Veränderungen darstellt, geht Steinaeckers Forderung nach, das Verhältnis Mensch-Tier-Umwelt neu zu konzeptualisieren und untersucht ausgehend von Roberto Espositos Idee der Communitas die Implikationen seines Dystopieentwurfs. Partizipation steht schließlich auch im Zentrum des Beitrags von Dariusz Komorowski, der anhand von Fredi Lerchs Reportagen eine Form der res publica analysiert, die in ihren Grundlagen an die Florentiner Republik der Frührenaissance erinnert und in Anlehnung an Friedrich Schillers Wilhelm Tell zum Kernbestand der schweizerischen Res-publica-Vorstellung gehört. Im Schaffen von Lerch analysiert Komorowski dessen Bestreben, Modelle eines intakten Gemeinwesens zu beschreiben, das möglichst weite Kreise der Einwohner, auch der ausgeschlossenen oder am Rande stehenden, einschließt. Darüber hinaus hebt er auch Lerchs eigenes konkretes Engagement für die Bildung und Entwicklung des Gemeinsinns in kleinen, überschaubaren politischen Einheiten hervor. Es ist kein Zufall, dass die im Band versammelten Beiträge zum großen Teil Literatur aus der Schweiz behandeln. Die Schweizerische Eidgenossenschaft rühmt sich nicht nur selbst, die älteste funktionierende Demokratie zu sein, sondern gilt europaweit als ein vorbildhaftes Politikmodell. Und auch wenn die Grundsätze ihrer demokratischen Ordnung nicht wesentlich in Frage gestellt werden, werden ihre Alternativen in der Literatur immer öfter erörtert. Der vorliegende Band bietet somit interdisziplinäre Zugänge zum höchst aktuellen Thema der Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die ihre 3 Vgl. Glauner, Max: Get involved! Partizipation als künstlerische Strategie, in: Kunstforum international Bd. 240, Juni–Juli 2016, S. 30–55.
Vorwort
Vorstellungen und Projektionen in der Literatur findet. Dank differenzierter Forschungsperspektiven aus Geschichte, Literatur- und Kulturwissenschaft wendet er sich nicht nur an Germanistinnen und Germanisten, sondern an alle, die am Verhältnis von Literatur und Politik interessiert sind und den wichtigen Beitrag von Literatur und Kultur an der Reflexion der gegenwärtigen Krisen der sozialen Ordnung genauer in den Blick nehmen wollen. Dariusz Komorowski
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Tobias Weger (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München)
Die Bedrohung der res publica Überlegungen aus historischer Perspektive
1.
Hinführung
Aktuelle publizistische und wissenschaftliche Diskurse in Europa warnen zunehmend vor einer Bedrohung des demokratischen Systems. Unter den vielfältigen Meinungsäußerungen trifft man zahlreiche alarmistische Stimmen an, aber auch abgewogene akademische Analysen. Die subjektiv als „bedrohlich“ empfundenen Kräfte scheinen sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts mehrfach gewandelt zu haben: Richtete sich in der Zwischenkriegszeit der Fokus unter dem Eindruck von Benito Mussolinis „Marsch auf Rom“ (1922) und Adolf Hitlers Machtergreifung in Deutschland (1933) vor allem auf faschistische Ideologien im weitesten Sinne, war in den demokratischen Systemen des Westens der Kalte Krieg stark von antikommunistischen Tendenzen durchzogen. Seit dem 11. September 2001 schien sich die Aufmerksamkeit hin zu religiös motivierten Ideologien, insbesondere dem so genannten Islamismus, zu verlagern.1 Unter dem Schlagwort „Islamismus“ werden fundamentalistische Strömungen des politischen Islam zusammengefasst, die auf die Errichtung eines religiös begründeten Staats- und Gesellschaftswesens abzielen. Spätestens seit der Wahl von Donald Trump (*1946) zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten wird weltweit der Populismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen als Bedrohung der res publica diskutiert. Auch wenn bei den jüngsten Europawahlen 2019 in vielen Ländern eine Rekordwahlbeteiligung – im Schnitt ein Urnengang von über 50 Prozent der Wahlberechtigten – zu verzeichnen war, bleibt die tiefe Legitimitätskrise, in der die Europäische Union gegenwärtig steckt, unübersehbar. Der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (1954) machte in seiner Rede zur Lage der Union am 14. September 2016 unterschiedliche Krisenphänomene aus: die mangelnden Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedsstatten, divergierende Auffassungen und andere Prioritäten bei nationalen Regierungen und EU-Institutionen. Im November 2016 spitzte Juncker in einer weiteren Rede in Berlin seine Skepsis noch zu und sprach von einer 1 Vgl. Accetti, Carlo Invernizzi, Zuckerman, Ian: What’s Wrong with Militant Democracy?, in: Political Studies 65 (2017), S. 182–199, S. 184.
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Tobias Weger
„Polykrise“2 der EU. Doch auch auf nationaler Ebene sind zahlreiche Anzeichen für eine Krisenhaftigkeit des Staates, des politischen Systems und der demokratischen Kultur zu entdecken. Die res publica, die im Laufe von Jahrhunderten in schwierigen Aushandlungsprozessen, zum Teil aber auch in Emanzipationsbestrebungen, Revolutionen und Kriegen erkämpfte Errungenschaft der Partizipation des Volkes an öffentlichen Entscheidungsprozessen, scheint in vielen Ländern Europas in Frage gestellt zu sein. Als Ursachen dafür werden unter anderem das Aufkommen und Erstarken populistischer und autoritärer Parteien und Bewegungen, die Aufweichung der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, eine zunehmende geheimdienstliche Kontrolle der elektronischen Kommunikationsmedien, die rückläufige Bereitschaft zu zivilgesellschaftlichem Engagement, die rasante Zunahme von „fake news“ und staatliche Eingriffe in die öffentlich-rechtlichen Medien genannt. War es in den Jahren nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Europa lange Zeit üblich gewesen, aus westlicher Perspektive auf Defizite in den postsozialistischen Reformstaaten hinzuweisen, die im Zuge des EU-Beitritts vieler Staaten in langen Aufgabenlisten abgearbeitet werden mussten, so zeigt heute ein unverstellter Blick, dass viele der oben genannten Erscheinungen zwischenzeitlich auch die so genannten westlichen Staaten betreffen. Die Stärke rechtspopulistischer Parteien in Italien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden sowie eine gewisse Verrohung der politischen Kultur in den populistischen Parteien der genannten Ländern sind etwa mögliche Indizien dafür. Besteht deshalb Grund zur Beunruhigung? Ist die res publica tatsächlich einer Gefährdung ausgesetzt, oder vermag sie solchen Anfechtungen zu widerstehen? Faktoren wie die von vielen beklagte Globalisierung, die zunehmende Einbindung der Nationen in supranationale Strukturen wie die Gliederungen der Vereinten Nationen, des Europarats oder der Europäischen Union, um nur die wichtigsten zu nennen, tragen heute paradoxerweise dazu bei, viele egoistische Sonderentwicklungen zu vermeiden, indem sie zum einen die Einzelnationen zur Einhaltung internationaler Verpflichtungen und zur Mäßigung zwingen, zum anderen einen supranationalen Kommunikationsraum schaffen. Anhand von drei historischen Beispielen, zwei antiken und einem zeithistorischen, soll im Folgenden aus historischer Warte gezeigt werden, dass das Sprechen vom Untergang oder Zumindest der Bedrohung der res publica nicht erst eine Begleiterscheinung moderner totalitärer Regimes ist, sondern tatsächlich Jahrhunderte zurückreicht – mit Mustern, die wir zum Teil auch in der Gegenwart wiederfinden, wie noch zu zeigen sein wird. Die ersten beiden Exem2 Zit. nach: Steppat, Sabine: Die Krise der Europäischen Union. Diagnosen und Therapien, https:// www.pw-portal.de/die-krise-der-europaeischen-union/401215-die-krise der-europaeischenunion-diagnosen-und-therapien, letzter Zugriff: 1. Juli 2019.
Die Bedrohung der res publica
pel betreffen zwei der bedeutendsten Rhetoriker des Altertums – den Griechen Demosthenes und den Römer Cicero. Das dritte Fallbeispiel betrifft die Frage, wie nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland in den westlichen Besatzungszonen bzw. der entstehenden Bundesrepublik Vorkehrungen vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen von Experten, bei denen die Erfahrung mit dem Totalitarismus zum eigenen Horizont gehörte, begründet wurden, um künftig eine Wiederholung dieser Diktatur zu verhindern. 2.
Beispiele aus der Vergangenheit
2.1 Demosthenes gegen Philipp von Makedonien Das erste Beispiel führt uns in die Endphase der attischen Demokratie im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Die Eliten der Stadt Athen und ihres Umlandes hatten durch die Schaffung der Voraussetzungen für einen öffentlichen Diskurs in ihrem Stadtstaat (Polis, griech. πόλις) erstmals in der Geschichte ein Verständnis für Politik geschaffen, das unserem neuzeitlichen Begriff bereits relativ nahe kommt3 . Er umfasste bereits die heute zur Unterscheidung herangezogene englische Begriffstrias Policy, Politics und Polity, wobei unter Policy die normative, unter Politics die prozessuale und unter Polity die institutionelle Komponente der Ausgestaltung eines Gemeinwesens angesprochen wird.4 Im antiken Athen wurden nicht nur die Institutionen, sondern auch der Raum und die Spielregeln dafür entwickelt, dass sich die Bürger der Stadt eigenverantwortlich und in einem kontinuierlichen Diskussionsprozess für das Gemeinwohl ihrer Polis einsetzen konnten. Der Althistoriker Christian Meier hat die Genese dieses Bewusstseins als eine der größten Errungenschaften der Alten Geschichte herausgearbeitet und bei deren Darstellung auch die Rolle kulturhistorischer Faktoren – etwa die Bedeutung des antiken Theaters – betont. Die so entstandene innere Verfassung der attischen Demokratie verlieh dem Gemeinwesen auch nach außen eine nicht zu unterschätzende Stärke, die es ihm gestattete, sich lange Zeit gegen konkurrierende Stadtstaaten des antiken Griechenlands, aber auch gegenüber dem mächtigen Perserreich zu behaupten.5 Im vierten Jahrhundert v. Chr. erwuchs Athen in dem aufstrebenden Makedonien im Norden ein neuer Gegner, dessen militärische Stärke und politisches System gleichermaßen als Bedrohung für die eigene Verfassung empfunden wurden. In aller Deutlichkeit artikulierte dies Demosthenes von Athen 3 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, passim. 4 Rohe, Karl: Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, S. 61f. 5 Meier, Christian: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 2004, passim.
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Tobias Weger
(384–322 v. Chr.), der bis heute als der bedeutendste politische Redner der Antike gilt, aber auch lange Zeit selbst politische Verantwortung in Athen trug. Dabei besaß er, so zumindest die Legende, ursprünglich sogar einen Sprachfehler, den er allerdings durch Selbstdisziplin und unermüdliche Sprechübungen mit Kieselsteinen im Mund überwunden haben soll. Er erlebte, wie Philipp II. von Makedonien (um 382–336 v. Chr.) sich im Jahre 365 zum König seines Landes ausrufen ließ. Als überzeugter Demokrat sah sich Demosthenes verpflichtet, gegen Usurpation, Machtmissbrauch und die Bedrohung der Freiheit Athens sowie der übrigen griechischen Poleis vorzugehen. Er stieg 346 für über zwei Jahrzehnte zum führenden Staatsmann Athens auf, eine Rolle, zu der er unter anderem aufgrund der Überzeugungskraft seiner Argumente kam.6 Als Philipp sich anschickte, sein Herrschaftsgebiet auf Kosten anderer Staaten auszudehnen und dabei unter anderem auch die Halbinsel Chalkidike bedrohte, die zur Einflusssphäre und zum agrarischen Versorgungsgebiet Athens zählte und wohin zwei Halbbrüder Philipps geflüchtet waren, rief das Demosthenes auf den Plan. Er hielt seine erste „Philippika“, eine Brandrede gegen Philipp, mit der er allerdings bei seinen Mitbürgern zunächst auf wenig Gehör stieß.7 Als Philipp seine Drohung wahr machte, Olynth angriff und dieser Bündnispartner Athen formal um Hilfe ersuchte, ließ Demosthenes zwei weitere Reden folgen.8 Sie beruhten im Wesentlichen auf begrifflichen Oppositionen: die Verteidigung der Demokratie und der Freiheit gegenüber der drohenden Tyrannis, die kultivierten Hellenen gegenüber den minder kultivierten „Barbaren“ oder „Erzfeinden aller Hellenen“. Demosthenes baute eine klare Dichotomie zwischen „gut“ und „böse“ auf, die als rhetorisches Mittel aufging.9 Seinen Adressaten, der athenischen Öffentlichkeit, warf Demosthenes vor, stärker an Festen und Spielen interessiert zu sein als an den drängenden militärischen Problemen ihrer Zeit. Er versuchte den Athenern andererseits Mut zuzusprechen, indem er die Lage der Polis als bedroht, aber nicht hoffnungslos darstellte. Er hielt den Athenern glorreiche Exempel aus ihrer eigenen Geschichte vor Augen, um sie zum aktiven Handeln zu bewegen. Philipps militärischen Fähigkeiten zollte Demosthenes durchaus Anerkennung, seinem Charakter konnte er allerdings nichts Gutes abgewinnen. Philipp selbst soll einmal geäu6 Lehmann, Gustav Adolf: Demosthenes von Athen. Ein Leben für die Freiheit. Biographie, München 2004, S. 26. 7 Demosthenis Orationes Olynthicae tres, & quatuor Philippicae. Cum quibusdam aliis eiusdem argumenti nunc primum adiectis in usum adolescentum recte Grece discere cupientium separatim editae, Lipsiae [Leipzig] 1614. 8 Erbse, Hartmut: Zu den Olynthischen Reden des Demosthenes, in: Rheinisches Museum für Philologie N. F. 99/4 (1956), S. 364–380. 9 Yunis, Harvey: Taming Democracy. Models of Political Rhetoric in Classical Athens, Ithaca/London 1996, S. 284f.
Die Bedrohung der res publica
ßert haben, die Redekunst des Demosthenes habe ihm mehr geschadet als alle Truppen und Flotten der Athener. Letztlich konnte Demosthenes aber das territoriale Vordringen des Makedonerreiches und damit auch den Niedergang der attischen Demokratie nicht verhindern. Er musste die Eroberung seiner Heimatstadt miterleben, sich gegen Anfeindungen verteidigen, schließlich ins Exil gehen. Als geschlagener Mann beging er letztlich Suizid. 2.2 Ciceros Philippicae orationes Auf das Wirken des Demosthenes und seinen politischen Einsatz berief sich 300 Jahre später ein römischer Sprachkünstler. Aus verschiedenen Gründen geriet auch die Römische Republik im letzten Drittel des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, nach dem Ende der Punischen Kriege, in eine ernste Krise, die erst mit der Errichtung des Prinzipats durch Octavian/Augustus (63 v. Chr.– 14 n. Chr.) endete.10 Die ungelöste soziale Frage, die damit zusammenhängende Militärverfassung, die fortschreitende territoriale Expansion und das Machtstreben einzelner Politiker bedrohten das komplexe Machtgefüge, das bereits auf einer Gewaltenteilung zwischen unterschiedlichen Institutionen beruhte. Einer der entschiedensten Fürsprecher des republikanischen Systems war der Jurist, Politiker und Publizist Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), der sich in seinen zahlreichen Reden, Briefen und theoretischen Schriften für dessen Erhalt stark machte. Er setzte sich insbesondere dafür ein, die Macht des Senats gegenüber den Ansprüchen einzelner Protagonisten zu verteidigen und diejenigen Kräfte zu bekämpfen, die dem offenen politischen Diskurs, dem bewährten Rechtswesen und der Gerechtigkeit einen Riegel vorzuschieben trachteten. Nach der Ermordung des Caius Iulius Caesar (100–44 v. Chr.) sah Cicero in dessen einstigem Mitkonsul Marcus Antonius (86–30 v. Chr.) seinen Hauptgegner. Gegen ihn hielt er in den Jahren 44 und 43 v. Chr. vierzehn Reden, die so genannten Philippicae orationes. Mit diesem von ihm selbst gewählten Namen wollte er bewusst an die bereits erwähnten Reden des Demosthenes anknüpfen. Ciceros rhetorische Kunst bestand darin, Marcus Antonius als einen kriminellen Einzeltäter zu diskreditieren, dem er Lichtgestalten aus der römischen Geschichte und Gegenwart entgegenhielt. Marcus Antonius hielt er Habsucht, Überheblichkeit, Unverschämtheit, Anmaßung, Skrupellosigkeit, Gier, Frechheit, Hemmungslosigkeit, Grausamkeit und Leichtfertigkeit vor. Diesem Kanon an negativen Charaktereigenschaften stand in seinen Augen die „mos maiorum“ entgegen, die Gesamtheit der Tugenden der Vorväter, die für ihn die positiven moralischen Werte der Römischen Republik ausmachten. 10 Rilinger, Rolf: Die Interpretation des Niedergangs der römischen Republik durch ‚Revolution‘ und ‚Krise ohne Alternative‘, in: Archiv für Kulturgeschichte 64/2 (2016), S. 279–306.
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Cicero sah in der Republik am ehesten die Freiheit der Rede und des Urteils verwirklicht, die manche seiner Zeitgenossen zu verfälschen trachteten.11 Noch eindeutiger als in manchen Reden äußerte Cicero seine staatsrechtlichen Vorstellungen in seiner Schrift De res publica [Vom Gemeinwesen]. Er bediente sich darin eines literarischen Tricks, indem er in einem fiktiven Gespräch herausragende Persönlichkeiten aus der römischen Geschichte miteinander ins Gespräch kommen lässt und somit unterschiedliche Positionen artikulierte. Auf der Grundlage eines breiten historischen Wissens präsentierte er unter Rückgriff auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) die drei Grundtypen staatlicher Verfassung – die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie. Jede dieser Formen besitze ihre Vorzüge, für sich genommen aber auch eine Reihe von Nachteilen, die sich in Gestalt von Machtmissbrauch, Anmaßung oder einem uneingeschränkten Populismus äußern könne. Die Abart der Monarchie sei die Tyrannis, die der Aristokratie die Oligarchie und die der Demokratie, die in ihrer direkten Form nur in einem begrenzten Herrschaftsgebiet wie der griechischen Polis gelingen könne, die Herrschaft des Pöbels. Ein funktionierendes Gemeinwesen erfordere jedoch Besonnenheit und Beständigkeit. Daher sah Ciceros Idealvorstellung eine staatliche Mischform vor, wie er sie konkret in der Idealform der Römischen Republik verwirklicht sah, in der die Konsuln für das monarchische, der Senat für das aristokratische und die Volksversammlung für das demokratische Element stünden: Ich behaupte, dass derjenige Staat die beste Verfassung hat, der maßvoll aus jenen drei Arten – der monarchischen, aristokratischen und demokratischen – verschmolzen ist. Und der so den unmenschlichen, wilden Sinn nicht durch Strafen reizt.12
Erst das Wechselspiel aller Verfassungsorgane und deren gegenseitige Kontrolle führe zu einem ausgewogenen staatlichen Handeln und schütze vor einem Abgleiten in mögliche Gefährdungssituationen. Als Träger des Gemeinwesens sah er das Volk an, und dessen Definition lässt bei Cicero bereits anklingen, was moderne Staatstheoretiker als die Willensnation bezeichnet haben: Es ist also […] das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.13
11 Bringmann, Klaus: Geschichte der römischen Republik. Von den Anfängen bis Augustus, München 2002, S. 359. 12 Cicero, Marcus Tullius: De re publica/Vom Gemeinwesen, übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1995, S. 31. 13 Ebd., S. 53.
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2.3 Die Idee der „streitbaren Demokratie“ Das staatliche Denken der Antike wie auch das sie vermittelnde Sprachmedium, die Redekunst, blieben über Jahrhunderte Bestandteile des Bildungskanons und wurden daher auch von politischen Denkern späterer Zeiten immer wieder rezipiert. Beispiel dafür liefern die Staatstheorien der englischen und französischen Aufklärung, die theoretischen Erwägungen der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika sowie auch die politischen Philosophen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Auch die Frage, wie sich ein Gemeinwesen gegen Anfechtungen von innen wie von außen schützen könne, blieb auf der Agenda berühmter Wissenschaftler. Die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Verbrechen führte im Staatsdenken des deutschsprachigen Exils zu der Vorstellung von einer „wehrhaften“ oder „streitbaren“ Demokratie. Ganz neu waren entsprechende Überlegungen nicht, gab es doch bereits in früheren Zeiten die Vorstellung von einem Widerstandsrecht der Menschen gegen einen Missbrauch der Macht. Es wurde im Allgemeinen mit naturrechtlichen Argumenten begründet, wonach es um die Wiederherstellung einer naturgemäßen Ordnung gehe, die etwa durch eine Tyrannis in Bedrängnis gebracht worden sei. Nach John Locke (1632–1704), dessen Einfluss etwa auf die Gründergeneration der USA erheblich war, besteht ein Widerstandsrecht, wenn das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Bürger in Gefahr und damit dem Gesellschaftsvertrag die Grundlagen entzogen seien.14 Allerdings war die Legitimität von Widerstand von jeher kontrovers diskutiert worden.15 Es war daher nach dem Zweiten Weltkrieg auch ein langer Weg, das Widerstandsrecht in Artikel 20 des Grundgesetzes zu verankern: „[…] Gegen jeden der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Grundlegend für diese staatsrechtliche Festlegungen waren etwa auch Überlegungen des antifaschistischen Exils. Über eine „wehrhafte“ oder „streitbare“ Demokratie hatten etwas aus juristischer oder soziologischer Sicht die Theoretiker Karl Loewenstein (1891–1973) und Karl Mannheim (1893–1947) sinniert. Loewenstein, ein Absolvent der Juristischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München, fand im Jahre der nationalsozialistischen Machtergreifung ein akademisches und persönliches Refugium an der renommierten Yale 14 Marshall, John: Resistance, Religion and Responsibility, Cambridge 1994, passim. 15 Vgl. Natour, Elisabeth: Die Debatte um ein Widerstandsrecht im frühen elisabethanischen England 1558–ca. 1587, München 2016; Köhler, Michael: Die Lehre vom Widerstandsrecht in der deutschen konstitutionellen Staatsrechtstheorie der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973; Schieder, Tobias: Ethisch motivierter Rechtsungehorsam. Rechtsdebatten zur Widerstandsrecht, Gewissensfreiheit und zivilem Ungehorsam in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, Tübingen 2018.
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University. In seinem 1937 publizierten Aufsatz Militant Democracy and Fundamental Rights16 schilderte er zunächst die starke zeitgenössische Verbreitung des Faschismus in Europa und darüber hinaus, wobei er zum einen auf die Schwierigkeit verwies, eine gemeinsame Kausalität für die faschistischen Regime in den einzelnen betroffenen Staaten zu formulieren. Zum anderen sah er den Faschismus weniger als eine in sich geschlossene Ideologie denn eine perfide, aber äußerst erfolgreiche „politische Technik“, deren militanter Charakter und massiver Einsatz politischer Emotionen ihre Grundzüge darstellten. Gleichwohl sei es, so Loewenstein 1937, Staaten wie Belgien, den Niederlanden und der Tschechoslowakei bislang geglückt, durch klare legislative Bestimmungen und deren Durchsetzung den Faschismus insofern einzudämmen, als er sich in diesen Staaten bisher nicht über die Ebene einer Partei hin zu einer Bewegung habe entwickeln können. Aus den zeithistorischen Erfahrungen leitete Loewenstein die absolute Notwendigkeit einer streitbaren Demokratie ab, die im Extremfall sogar die vorübergehende Einschränkung von Grundrechten durch eine legale Exekutive in Kauf nehmen müsse: […] Fascism has declared war on democracy. A virtual state of siege confronts European democracies. State of siege means, even under democratic constitutions, concentration of powers in the hands of the government and suspension of fundamental rights. If democracy believes in the superiority of its absolute values over the opportunistic platitudes of fascism, it must live up to the demands of the hour, and every possible effort must be made to rescue it, even at the risk and cost of violating fundamental principles.17
Nach Auffassung Loewensteins beruhte der Erfolg der faschistischen Gegner der Demokratie darauf, dass es ihnen gelungen sei, sich den Spielregeln der Demokratie anzupassen und deren Toleranz für die Aushöhlung und Zerstörung des Systems zu missbrauchen. „Unter dem Deckmantel von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit“ hätten die Antidemokraten die demokratischen Methoden für sich in Anspruch genommen, diskreditiert und sie schließlich zerstört. Einer solchen Entwicklung gelte es von Anbeginn an Einhalt gebieten, um das demokratische System zu erhalten. Auf ähnlichen Erfahren beruhten auch die Gedankengänge des in seiner Jugend noch in der Habsburger Monarchie geprägten Karl Mannheim, für den London der Zufluchtsort wurde, wo er sich wie bereits zuvor an der Universität Heidelberg mit gesellschaftlichen und politischen Theorien befasste. Seine Überlegungen, die er bereits während des Zweiten Weltkriegs an verschiedenen Stellen formuliert hatte, mündeten 1951 in den grundlegenden Essay Freedom, 16 Loewenstein, Karl: Militant Democracy and Fundamental Rights, in: The American Political Science Review 31/3 (1937), S. 417–432. 17 Ebd., S. 432.
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Power and Democratic Planning 18 , in dem er sich dafür stark machte, im demokratischen Geschehen nichts dem Zufall der freien Kräfte, dem „laissez-faire“, zu überlassen und auch nicht auf die Widerstandskräfte des Staates zu vertrauen, wie es Loewenstein formuliert hatte, sondern das zivilgesellschaftliche Engagement zu stärken. Als vorbildlich stand Mannheim das Engagement der politischen Eliten in England vor Augen, in deren Kreisen er selbst verkehrte. Die Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland kamen aus unterschiedlichen politischen Richtungen; sie verband lediglich ihre Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus. Die Lehren von Loewenstein und Mannheim sind in ihre theoretischen Überlegungen allerdings kaum eingeflossen, da sie die „wehrhafte“ oder „wachsame Demokratie“ stärker vom staatlichen Handeln her dachten als etwas dies Karl Mannheim vorschwebte. In der Zeit des Kalten Krieges war darüber hinaus auch der Fokus der Verfassungsorgane vor allem gegen den kommunistischen Gegner gerichtet, während rechtsextreme Parteien und Vereinigungen in weniger starkem Maße geahndet wurden, ja anfangs sogar einer Elitenkontinuität gegenüber Toleranz geübt wurde. Zwar wurde am 23. Oktober 1952 die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) verboten (Urteil 1952), besonderes Aufsehen erlangte aber insbesondere das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) durch das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956, dem ein fünfjähriges Verfahren vorausgegangen war (Urteil 1956). Ein gemeinsamer Antrag des Deutschen Bundestages, des Bundesrats und der Bundesregierung aus dem Jahre 2001 für ein Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) scheiterte 2003 an formalen Einwänden des Bundesverfassungsgerichts, da sich herausstellte, dass zahlreiche Verfassungsschützer als V-Leute in den Reihen der NPD tätig waren. Auf einen zweiten Verbotsantrag des Bundesrats hin konstatierte das Bundesverfassungsgericht 2016, es existierten bei der NPD keine „Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele“; gleichwohl stellte das Gericht die Verfassungsfeindlichkeit fest, woraufhin der Deutsche Bundestag beschloss, dass eine Partei bei gerichtlich festgestellter Verfassungsfeindlichkeit künftig von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen wird.19 Parteienverbote als ultima ratio der res publica zur Verteidigung ihrer freiheitlichen Ordnung gehen in der Regel mit komplizierten und langwierigen Verhandlungen einher. Das erfuhr etwa schon die Tschechoslowakische Republik der Zwischenkriegszeit. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 18 Mannheim, Karl: Freedom, Power and Democratic Planning, in: Science and Society 15/3 (1951), S. 278–280. 19 Vgl. Wolf, Joachim: Die NPD-Verbotsdebatte, www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41872/debatte-ums-npd-verbot, letzter Zugriff: 20. November 2018.
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im Deutschen Reich drohte sie aufgrund eines Gesetzes zum Schutz der Republik von 1923 der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP), einer Schwesterpartei der „reichsdeutschen“ NSDAP, sowie der Deutschen Nationalpartei (DNP) das Verbot an. Beide lösten sich daraufhin am 3. Oktober 1933 selbst auf.20 Parallel dazu entstand die Sudetendeutschen Heimatfront (SHF) als rechtsextreme Nachfolgepartei der Deutschen in der Tschechoslowakei, gegen die eine juristische Handhabe in den 1930er-Jahren nicht mehr wirksam wurde. Neben Karl Loewenstein und Karl Mannheim bewegten noch einen weiteren zentraleuropäischen Denker während des Zweiten Weltkriegs im angelsächsischen Exil Fragen nach dem Schutz des Gemeinwesens: den in Wien geborenen und vor der NS-Diktatur nach Großbritannien geflüchteten Philosophen Karl Popper (1902–1994). In seinem Denkschema bildete die „offene Gesellschaft“ das Ideal eines republikanisch verfassten Gemeinwesens. In seinem 1945 herausgebrachten Werk The Open Society and Its Enemies, in dem er unter dem Eindruck des deutschen Einmarschs in seine Geburtsstadt Wien im März 1938 seine Idee des kritischen Rationalismus ausführte, ging er der Frage nach, wie tolerant eine „offene“, freiheitliche Gesellschaft gegenüber ihren Gegnern sein dürfe. Als „intolerant“ definierte Popper Menschen, die sich einem rationalen Diskurs widersetzen bzw. aktiv zur gewaltsamen Bekämpfung von Andersdenkenden und Anhängern konkurrierender Denksysteme aufrufen. Popper formulierte als Conclusio seiner Reflexionen über den Umgang von Intoleranz das „Paradoxon der Intoleranz“: […] Less well known is the paradox of intolerance. Unlimited tolerance must lead to the disappearance of tolerance even to those who are intolerant, if we are not prepared to defend a tolerant society against the onslaught of the intolerant, then the tolerant will be destroyed, and tolerance with them. In this formulation, I do not imply, for instance, that we should always suppress the utterance of intolerant philosophies, as long as we can counter them by rational argument and keep them in check by public opinion, suppression would certainly unwise. But we should claim the right to suppress them if necessary even by force, for it may easily turn out that they are not prepared to meet us on the level of rational argument, but begin by denouncing all argument; they may forbid their followers to listen to rational argument, because it is deceptive, and teach them to answer arguments by the use of their fists or pistols. We should therefore claim, in the name of tolerance, the right not to tolerate the intolerant.21
20 Osterloh, Jörg: Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (Tschechien), in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, München 2012, S. 155–157. 21 Popper, Karl: The Open Society and Its Enemies, Bd. 1: The Age of Plato, London 1945, S. 581.
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Toleranz gegenüber Intoleranten führt, so Popper, zu Intoleranz, während paradoxerweise Intoleranz gegenüber Intoleranten letztlich die Toleranz befördere. Als „offene Gesellschaft“ verstand Popper ein Gemeinwesen, bei dem sowohl das individuelle Denken als auch die Institutionen einem ständigen Prozess der Veränderung und der Anpassung unterworfen sind, wodurch Fortschritt, rationales Denken und infolgedessen Wissen gefördert würden.22 Karl Poppers Diktum ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig herangezogen worden, wenn es darum ging, aggressive Kräfte innerhalb einer demokratischen Gesellschaft zu bekämpfen. Einer solchen simplifizierenden Instrumentalisierung seines Denkens von verschiedenen Seiten hätte Popper mit Sicherheit entschieden widersprochen. Als Vertreter einer liberalen Grundhaltung und als politisch aktiver Mensch, der selbst am eigenen Leibe die Einschränkung der Meinungsfreiheit und anderer Grundrechte erlebt hatte, war für ihn die Frage, ab welcher Grenze die Intoleranz-Schwelle greife, ein wichtiger Gesichtspunkt. Karl Popper hat damit einen bis zum heutigen Tage nicht abgebrochenen Reflexionsprozess darüber ausgelöst, wie viel Gegnerschaft ein republikanisches System von Innen her ertragen kann. In der Bundesrepublik Deutschland spielten solche Debatten etwa im Kontext der so genannten Radikalenerlasse eine Rolle. Am 18. Februar 1972 beschlossen die zuständigen Minister der deutschen Bundesländer ein Quasi-Berufsverbot für Personen links- oder rechtsextremer Gesinnung im öffentlichen Dienst. Als derartige Gesinnung galt nicht nur die nominelle Zugehörigkeit zu entsprechenden Parteien und Organisationen, sondern auch individuell nachweisbare Haltungen.23 Nach zahlreichen öffentlichen Widersprüchen und Kritik von verschiedenen Seiten ist der Kompromiss bereits 1979 von einzelnen Bundesländern aufgekündigt worden und seit 1991 der Radikalenerlass in sämtlichen Bundesländern wieder aufgehoben worden. In- und ausländischer Kritiker hatten insbesondere bemängelt, dass die bundesdeutsche Politik inkonsequent gehandelt habe. Der französische Politologe und Publizist Alfred Grosser (* 1925) etwa wies darauf hin, dass die frühe Bundesrepublik kritiklos große Teile der ehemaligen nationalsozialistischen Funktionseliten in den öffentlichen Dienst und in die Politik übernommen habe, und unterstellte den Radikalenerlassen somit eine gewisse Scheinheiligkeit: „Wenn man die Gestapo-Polizeirechte gerechtfertigt hatte, durfte man in der freiheitlichen Grundordnung Rektor und Kultusminister werden. Die Kriterien, Dorfschullehr oder Zollbeamter zu werden, scheinen 22 Engel, Gerhard: Kritischer Rationalismus und offene Gesellschaft. Zur Theorie einer demokratischen Wissensgesellschaft, in: Pies, Ingo, Leschke, Martin (Hg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen 1999, S. 39–70, hier S. 41. 23 Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst. Gem. RdErl. d. Ministerpräsidenten u. aller Landesminister v. 18.2.1972, in: Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 25/20 (1972), S. 342.
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mir wahrlich strenger zu sein.“24 Der Terminus „le berufsverbot“ ging seinerzeit als Fremdwort in den französischen Diskurs ein. Neben dem Liberalen Grosser kritisierten insbesondere französische Linke wie der Philosoph JeanPaul Sartre (1905–1980) oder der damalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei (Parti socialiste français, P.S.F.), François Mitterand (1916–1996), die deutsche Praxis.25 Hintergrund dieses Denkens war etwa die Erkenntnis, dass in Frankreich zu jener Zeit ein erheblicher Anteil der Lehrerschaft der Kommunistischen Partei (Parti communiste français, P.C.F.) nahestand, ohne dass dadurch ihre grundsätzliche Loyalität gegenüber der Französischen Republik und ihren freiheitlich-demokratischen Werten in Frage gestellt worden wäre. Dem lagen auch divergierende geschichtliche Erinnerungen zugrunde: In Frankreich hatten während des Zweiten Weltkriegs politisch Extreme Seite an Seite mit Gemäßigten im Widerstand gegen die deutsche Okkupationspolitik gekämpft und so nach dem Krieg den Mythos begründet, die gesamte Nation habe gegen den gemeinsamen Gegner gekämpft. In Deutschland wurde das linke Spektrum des antifaschistischen Widerstands für den Gründungsmythos der DDR reklamiert, während die Bundesrepublik sich lange schwer tat, Gruppen wie die „Rote Kapelle“ oder auch die Taten linker Einzelkämpfer wie Georg Elser (1903–1945) als gleichberechtigt neben dem militärischen Widerstand der Offizierseliten vom 20. Juni 1944 anzuerkennen.26 Doch auch in der Bundesrepublik mehrten sich zunehmend Stimmen, die dem Radikalenerlass seine Sinnhaftigkeit absprachen. Das Bundesverfassungsgericht entschied im Jahre 1975, dass nicht die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern die Persönlichkeit und das Verhalten eines Anwärters über dessen Zulassung zum öffentlichen Dienst und damit zur Arbeit für das Gemeinwesen entscheidend sein sollte. Unter dem Druck dieses Urteils musste die Bundesregierung um Kanzler Helmut Schmidt am 19. Mai 1976 eine modifizierte Fassung des Radikalenerlasses vorlegen, um ihn schließlich 1979 gänzlich ad acta zu legen. 3.
Ausblick
Diskurse über die Bedrohung des Gemeinwesens durch gegnerische Kräfte lassen sich in der Ideengeschichte weit zurückverfolgen. Dies anhand ausgewählter 24 Stichtag. 19. Mai 2006 – Vor 30 Jahren: Neue Richtlinien zum Radikalenerlass, https://www1. wdr.de/stichtag1570.html, letzter Zugriff: 5. Oktober 2018. 25 Lappenküper, Ulrich: Mitterand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 116f. 26 Bender, Peter: Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte. 1945–1990, Stuttgart 2007, S. 47f.
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Beispiele aufzuzeigen ist das Anliegen der vorliegenden Skizze. Die Gegner wurden dabei an unterschiedlichen Stellen identifiziert: für den athenischen Redner und Politiker war er der expansionssüchtige Herrscher eines fremden Staates, gegen dessen Machtstreben er seine Landsleute zum militärischen Aufgebot zu animieren versuchte. Der römische Philosoph Cicero hatte seinen Gegner in der Person des usurpatorisch wirkenden Politikers Marcus Antonius – er kämpfte gegen einen Widersacher aus den eigenen Reihen, der das überkommene System der Römischen Republik umzustürzen drohte. Den im Exil wirkenden Wissenschaftlern Karl Loewenstein, Karl Mannheim und Karl Popper ging es, wenngleich mit jeweils eigenen Akzentuierungen, vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und verwandter politischer Ausrichtungen darum, die Demokratie und – insbesondere bei Popper – die sie konstituierende „offene Gesellschaft“ gegen extreme politische Feinde zu verteidigen und sie künftig zu stärken. Es ist bis heute umstritten, wie weit das Gemeinwesen bei seiner Selbstverteidigung gehen darf. Ein Blick in die Rechtsnormen der EU-Mitgliedstaaten zeigt, dass hier sehr unterschiedliche Rechtsnormen wirksam sind, die zum Teil auf divergierenden historischen Traditionen und Erfahrungen beruhen. Es gibt weder im staats- und rechtsphilosophischen Denken noch in der politischen Praxis allgemeingültige Normen, die hier wirksam werden könnten. Insofern muss letztlich jede nationale Gesellschaft selbst mit ihren Gegnern fertig werden, wenngleich im Extremfall Akte wechselseitiger Solidarität denkbar sind. Darin verbirgt sich allerdings ein weiteres Problem: Gerade in den vergangenen Jahren sind internationale Interventionen in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten – mit oder ohne Mandat der Vereinten Nationen – relativ häufig zu einer Praxis des politisch-militärischen Handelns geworden. Der Schutz des bedrohten Gemeinwesens war dabei in vielen Fällen ein begründetes Argument, wenn es etwa um die Garantie elementarer Menschen- und Grundrechte ging. Die internationalen Einsätze in Bosnien etwa gehören nach den Massakern von Srebrenica und anderen Vorkommnissen in diese Kategorie. In anderen Fällen schien für außenstehende Beobachter die argumentative Grundlage mancher Begründungen relativ dünn zu sein. Am 11. März 2002 etwa erklärte der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck (1943–2012) in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag, die deutsche Sicherheit werde „nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“27 . Ähnliche Aussagen sind auch von dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush (1946) in Bezug auf die US-Sicherheits- und Außenpolitik bekannt. An diesem Punkte 27 Eckert, Dirk: Die Sicherheit Deutschlands wir auch am Hindukusch verteidigt, https://www. heise.de/tp/features/Die-Sicherheit-Deutschlands-wird-auch-am-Hindukusch-verteidigt3427679.html, letzter Zugriff: 20. Oktober 2018.
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wäre nach der stereotypen Fundierung solcher Aussagen zu fragen, die etwa in dem polarisierenden Weltbild des Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington (1927–2008) zu finden wären, der in seinem bekanntesten Buch The Clash of Civilizations (1996) von einem immanenten Kulturkonflikt zwischen dem westlichen und weiteren Kulturräumen ausging und für diese Thesen heftige Kritik einstecken musste. Ein spezifisches Denkproblem offenbart sich etwa bei Demosthenes und Cicero, aber auch bei manch anderem Denker: Sie waren allesamt geniale Redner, und nicht von ungefähr sind deshalb ihre literarisch aufbereiteten Texte über Jahrhunderte beispielhafte Schullektüren geblieben, an deren Aufbau und rhetorischen Figuren sich Generationen von humanistischen Eleven abgearbeitet haben. Ihre argumentative Schwäche besteht allerdings darin, dass sie sich jeweils auf eine politische Gegnerfigur kaprizieren, die nach allen Regeln der negativen Stereotypisierung abgekanzelt wird. Bei Demosthenes war dies der Makedonierkönig Philipp II., Cicero hatte im Laufe seiner langen politischen Laufbahn gleich mehrere Antihelden, an denen er all jene charakterlichen und politischen Eigenschaften auszumachen glaubte, die in seiner Optik den traditionellen römisch-republikanischen Werten entgegenstehen. Diese Stereotypisierung beruht auf einer leicht durchschaubaren konfrontativen Argumentation, die nur wenige Elemente einer strukturellen Analyse enthält, auf deren Grundlage das Handeln der jeweiligen Protagonisten zu erklären wäre. Insofern erinnern diese antiken Reden in mancher Hinsicht an die Argumentationsschemata moderner Totalitarismuskritiker einerseits und zeitgenössischer Journalisten andererseits. Die Fixierung auf Antihelden wie Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Josef Stalin, Mao Tse-Tung oder Nicolae Ceaușescu ist bei aller Unermesslichkeit von deren Verbrechensregister für sich genommen nicht geeignet, den Aufstieg, die Herrschaft und die Übergriffigkeit der faschistischen Regime in Deutschland, Italien und Spanien oder der kommunistischen Diktaturen in der UdSSR, China oder Rumänien zu erklären. Hierbei scheint es sich allerdings um ein sehr altes Denkmuster zu handeln, das vermutlich Zuschreibungen tradiert, die früher gegenüber gekrönten Häuptern geübt wurden: für den französischen Hochabsolutismus stand der „Sonnenkönig“ Louis XIV. (1638–1715), für den lange Zeit so bezeichneten „aufgeklärten Absolutismus“ Friedrich II. von Preußen (1714–1786) oder Joseph II. von Österreich (1741–1790). Dieses populärhistorische Denken findet seine Fortsetzung im zeitgenössischen Journalismus. Korrespondenten ausländischer Medien arbeiten sich gerne an Figuren wie Jarosław Kaczyński, Viktor Orbán, Vladimir Putin, aber auch an den populistischen Figuren Westeuropas wie Geert Wilders, Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Alexander Gauland ab. Auf sie projizieren sie nach dem bekannten Muster eine Vielzahl negativer Eigenschaften und kreieren damit einen Typ des „bad guy“, eine
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Projektionsfläche für jegliche Kritik. Darüber scheinen Journalisten die sehr viel schwierigere, aber zugleich für die Existenz der res publica entscheidende Frage zu übergehen, wie sich die Machtfülle oder zumindest die führende Parteirolle dieser Personen in der heutigen Zeit erklären lässt. Viele von ihnen sind letztlich auf dem Wege demokratischer Wahlen an die Macht gelangt und passen daher nicht in das Schema früherer Putschisten, Junta-Führer oder Guerilleros. Kurzum, wer die Funktionsweise, aber auch die Schwächen und die Gefährdungen der res publica begreifen möchte, braucht keine personifizierte, auf einfachen Schwarz-Weiß-Schemata beruhende Sprechweisen, sondern einen aufgeklärten Diskurs, der Raum für komplexe Systemanalysen gewährt. In einer immer stärker kommunikativ vernetzten Welt, in der die destruktiven Kräfte längst die Macht des Internets und der sozialen Medien entdeckt haben und durch Akteure wie den US-amerikanischen Rechtsextremen Steve Bannon verknüpft werden, mögen solche Analysen immer schwieriger und komplexer werden. Das entbindet aber aufmerksame Beobachter des Zeitgeschehens nicht von ihrer Pflicht, sich dieser Komplexität zu stellen. Die Tatsache, dass weder Demosthenes den Untergang der attischen Demokratie verhindern konnte noch Cicero sich dem Übergang der Republik zum Prinzipat entgegenstemmen konnte, soll auch für die Gegenwart ein mahnendes Beispiel sein. Literaturverzeichnis Accetti, Carlo Invernizzi, Zuckerman, Ian: What’s Wrong with Militant Democracy? in: Political Studies 65 (2017), S. 182–199. Bender, Peter: Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte. 1945–1990, Stuttgart 2007. Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst. Gem. RdErl. d. Ministerpräsidenten u. aller Landesminister v. 18.2.1972, in: Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 25/20 (1972), S. 342. Bringmann, Klaus: Geschichte der römischen Republik. Von den Anfängen bis Augustus, München 2002. Cicero, Marcus Tullius: De re publica/Vom Gemeinwesen, übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1995. Demosthenis Orationes Olynthicae tres, & quatuor Philippicae. Cum quibusdam aliis eiusdem argumenti nunc primum adiectis in usum adolescentum recte Grece discere cupientium separatim editae, Lipsiae [Leipzig] 1614. Eckert, Dirk: Die Sicherheit Deutschlands wir auch am Hindukusch verteidigt, https://www.heise.de/tp/features/Die-Sicherheit-Deutschlands-wirdauch-am-Hindukusch-verteidigt-3427679.html, letzter Zugriff: 20. Oktober 2018.
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Tobias Weger
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Adrian Madej (Uniwersytet Wrocławski)
Das Politische bei Chantal Mouffe Zur Aktualität der ‚radikalen Demokratie‘
Einleitung Die Begriffe von Demokratie und Republik werden in den populärwissenschaftlichen Diskursen häufig synonym verwendet, obwohl der Begriff ‚Demokratie‘ auf die Legitimierungsmethode der Macht, in den westlichen Demokratien also auf die Bürger und ihre Partizipation an den Wahlen zurückzuführen ist, während der Begriff ‚Republik‘ sich auf Formen des Machtvollzugs, also auf die Staatsform, bezieht. Die Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger erblickt in den Wahlen die Grundlagen der Demokratie, obwohl das demokratische System unterschiedliche Facetten annehmen kann: Wahldemokratien, Flächendemokratien, Massendemokratien, liberale Demokratien – Begriffe, die eines gemeinsam haben: Ihr Verständnis von Demokratie konzentriert sich auf Wahlen und Wahlprozesse. Freie, kompetitive Wahlen sind in diesen Demokratiekonzeptionen die Methode zur Bestellung und Abwahl von politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Die in vielen politischen wie politikwissenschaftlichen Diskussionen strapazierte Idee der Volkssouveränität wird hier nicht als Selbstherrschaft – Herrschaft des Volkes – interpretiert, sondern als Herrschaft durch auf Zeit gewählte Vertreterinnen und Vertreter – also Herrschaft durch das Volk. Gewählte Politiker und Politikerinnen treffen im Namen oder im Interesse der Wahl-Bevölkerung, jedenfalls stellvertretend, die politischen Entscheidungen.1
Laut Angaben der Nichtregierungsorganisation Freedom House gab es im Jahr 2019 unter den 195 untersuchten Ländern 146 Staaten, die als freie oder eingeschränkte Demokratien definiert wurden, wobei man unter ihnen etwa 114 als Wahldemokratien klassifizierte.2 Aus den angeführten Statistiken ergibt sich, dass es auch andere Kriterien als Wahlen gäbe, die es erlaubten, ein politisches System als demokratisch einzustufen, z. B. die Einhaltung der gewährleisteten Bürger, -und Menschenrechte oder politische Teilhabe der Bürger. Republiken,
1 Rosenberger, Siegelinde: Wahldemokratien. Der Bürger im Staat, http://www.buergerimstaat.de/2_09/bundestagswahl_09.pdf. Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg, 59, 2–2009, S. 118, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019. 2 Vgl. https://freedomhouse.org/report-types/freedom-world, letzter Zugriff: 06. Juli 2019.
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die als Staatsformen verstanden werden, in denen die Macht von einem gewählten Organ ausgeübt wird, können untereinander gravierende Unterschiede bezüglich des Demokratisierungsniveaus des öffentlichen Lebens aufweisen. Somit kommt die Frage auf, ob es ein universelles Republikmodell gibt, oder ob man eher von Republiken sprechen sollte, die sich nicht ad abstracto definieren lassen, und ihre Form erst in einem konkreten politischen und kulturellen Umfeld annehmen. Die belgische Philosophin Chantal Mouffe entwickelte zusammen mit ihrem Ehemann Ernesto Laclau die Theorie der radikalen Demokratie, die eine vorherrschende Form der repräsentativen Demokratie, die auf dem Prinzip des politischen Konsens beruht, in Frage stellt. 1.
Radikale Demokratie und Krise der Partizipation
Chantal Mouffes 2014 veröffentlichte Monografie Agonistik diskutiert die Frage alternativer Konzepte zur repräsentativen Demokratie, da diese nicht mehr den Anspruch erfüllen kann, alle Gruppen der Gesellschaft zu vertreten. Die Hauptkritik am repräsentativen Demokratiemodell zielt auf dessen Anspruch, dass staatliche Organe und Institutionen die Umsetzung des Volkswillens zu garantieren vermöchten. Das Modell will sich ausschließlich durch Wahlen legitimieren, die demzufolge zum Maßstab der freiheitlichen und demokratischen Entwicklung des Landes gemacht werden. Neben Chantal Mouffe hinterfragt der Sozialwissenschaftler Alex Demirović kritisch die Legitimierungsmethode, die lediglich auf den Wahlen fußt. Im Zentrum des konventionellen Demokratieverständnisses steht die Annahme, dass die demokratische Verfassung auf dem Willen eines Volkssouveräns beruht. Er wird vom Staat repräsentiert, sein Wille nimmt die Form des allgemeinen Gesetzes an. Der Staat ist die Sphäre der Allgemeinheit und gewährleistet die rechtlichen Rahmenbedingungen, die es den Mitgliedern der Gesellschaft erlauben, in Sicherheit und gleicher Freiheit ihre Interessen verfolgen zu können. Soweit der Allgemeinwille ermittelt werden muss, ist dafür das Parlament vorgesehen, in dem die RepräsentantInnen als VertreterInnen des gesamten Volkes nach gemeinsamen Beratungen über Gesetzesvorlagen entscheiden. Die politische Agenda wird von den RepräsentantInnen des Volkes und der Regierung festgelegt. Das Verständnis von Partizipation der BürgerInnen an der repräsentativen Demokratie ist dementsprechend eng. Es wird erwartet, dass sie sich an den Wahlen beteiligen. Darüber hinaus können sie zu einem Publikum gehören, das sich durch Medien über die politische Diskussion und über Entscheidungen in den politischen Gremien informieren lässt.3 3 Demirović, Alex: Radikale Demokratie und Sozialismus Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Form, 21/2017, S. 6, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/OnlinePublikation/21‒17_Online-Publ_Radikale_Demokratie.pdf, Rosa-Luxemburg-Stiftung, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019.
Das Politische bei Chantal Mouffe
Die Hauptschwäche der funktionierenden Formen der repräsentativen liberalen Demokratien westlicher Prägung ist demnach die Notwendigkeit, am allgemeinen politischen Konsens zu arbeiten, der erst von spezialisierten Organen und Institutionen umgesetzt wird. In diesem Demokratiesystem sollen diese dafür sorgen, den Willen der Bürger im Plenum des Parlaments zu diskutieren und in Form von Gesetzen zu realisieren. Damit werden die Bürger in der liberalen parlamentarischen Demokratie auf die Rolle der passiven Zuschauer reduziert, deren Wille in der institutionalisierten Form des Gesetzes zum Ausdruck gebracht wird. Dies führt zu einer Partizipationskrise von Demokratien der westlichen Prägung, die als Entfremdung des Souveräns von den immer mehr spezialisierten Organen wahrgenommen wird. Die Organe können demnach den Anspruch stellen, den Willen nicht nur umzusetzen, sondern auch zu ergänzen bzw. eigenwillig zu modifizieren. Laut dem Konzept der radikalen Demokratie sollen demgegenüber die Bürger eher auf die Aushandlungsprozesse ihrer Interessen achten und sich an diesen aktiv beteiligen, als diese an die staatlichen Institutionen zu delegieren. Damit würde die Entstehung der verwaltungsspezialisierten technischen Organe vermieden, die zwar über die fachlichen Kompetenzen verfügen, aber das Demokratiedefizit vertiefen. Mouffe und Laclau erblicken in der Radikalisierung der konsensorientierten liberalen Demokratie die Chance, die Partizipation der Bürger nicht nur an Wahlen, sondern an allen politischen Entscheidungsprozessen des Landes, intensiver zu artikulieren und in vollem Umfang umzusetzen. Die Radikalisierung soll jedoch als Reform des demokratischen Systems und nicht als Bruch mit dem liberalen Demokratieverständnis betrachtet werden. In ihrer Studie zum Populismus betont Mouffe die Notwendigkeit, Demokratien im Rahmen und mithilfe der bestehenden und funktionierenden Institutionen zu reformieren. Die von uns verfochtene ‚radikale und plurale Demokratie‘ lässt sich daher als eine Radikalisierung der bestehenden demokratischen Institutionen beschreiben, mit dem Ergebnis, dass die Prinzipien Freiheit und Gleichheit in einer wachsenden Zahl sozialer Beziehungen wirksam werden. Dazu bedürfe es keines radikalen, revolutionären Bruchs im Sinne eines kompletten Neuanfangs.4
2.
Theorie der Agonistik Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen
4 Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 51‒52.
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Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.5
Dieses bekannte Diktum des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst Wolfgang Böckenförde betrifft im Prinzip den Kern jedes einzelnen Rechtsstaates westlicher Prägung, der auf der Idee der Universalität eigener Werte basiert. Zwar finden viele Menschen- und Bürgerrechte, die in Europa entstanden sind, in den meisten UN-Ländern Anerkennung, werden jedoch nicht nur im unterschiedlichen Ausmaß, sondern auch in unterschiedlicher Form umgesetzt. Laut Mouffe besteht das Paradox der liberalen Demokratie darin, dass man mit ihrer Hilfe vergeblich versucht, sich gegenseitig ausschließende Werte zu verschmelzen. Dies sind einerseits der Liberalismus mit der Betonung der individuellen Freiheit und andererseits die Gleichheit, deren Umsetzung in jedem Fall nur auf Kosten der Freiheit realisiert werden kann. Der politische Philosoph Karol Morawski weist in seiner Studie zu gegenwärtigen politischen Konzepten darauf hin, dass die liberale Demokratie zwar eine vorherrschende politische Form der modernen Gesellschaften bildet, aber kein kohärentes Konzept darstellt. Wenn die Idee des Liberalismus den Akzent auf die Freiheit legt, liegt der Schwerpunkt des demokratischen Prinzips auf der Gleichheit. Die Spannung, die daraus entsteht, dass die beiden Werte nicht gleichzeitig und in vollem Umfang realisiert werden können, ist konstitutiv für die modernen liberalen Demokratien.6 Der Schwerpunkt der Kritik der liberalen Demokratie ist bei Morawski der unauflösbare Konflikt zwischen den sich ausschließenden Konzepten der Freiheit und Gleichheit, die ihre Grundlage bilden. Mouffe erblickt in dem Projekt der radikalen Demokratie, die nicht auf dem Konsens, sondern auf der permanenten Spannung zwischen den politischen Kontrahenten basiert, die Lösung des demokratischen Paradoxes. In ihrer politischen Theorie geht sie auf den deutschen Juristen Carl Schmitt zurück, indem sie die Freund/Feind Opposition als einen immanenten Bestandteil einer demokratischen Ordnung bestimmt, der in keinem Widerspruch zu den demokratischen Prinzipien steht, vor allem zum politischen Pluralismus, den Schmitt als unvereinbar mit der Existenz einer politischen Gemeinschaft betrachtet hat. Mouffe hält dagegen die Oppo-
5 Böckenförde, Ernst Wolfgang: Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 112‒113. 6 Morawski, Karol: Dyskurs, hegemonia, demokracja. Analiza krytyczna, projektu demokracji radykalnej E. Laclau i Ch. Mouffe, Warszawa 2016, S. 161‒163.
Das Politische bei Chantal Mouffe
sition wir/sie mit dem pluralistischen Universum gegenwärtiger Demokratien für kompatibel.7 Wir können nie sichergehen, dass wir eine gute Wahl getroffen haben, denn eine Entscheidung im Sinne einer bestimmten Alternative fällt immer zu Ungunsten einer anderen. […] Politisierung endet nie, denn Unentscheidbarkeit lebt in der Entscheidung fort. Jeder Konsens erscheint als Stabilisierung von etwas, das essentiell instabil und chaotisch ist. Chaos und Instabilität sind irreduzibel, aber dies ist zugleich ein Risiko und eine Chance, da kontinuierliche Stabilität das Ende von Politik und Ethik bedeuten würde.8
Die politische Auffassung der radikalen Demokratie geht in ihren Grundzügen auf Schmitt zurück, der von der Unmöglichkeit der liberalen Demokratie ausgegangen ist. Wie die Demokratie verwirklicht wird, entscheidet sich von Fall zu Fall angesichts der besonderen Umstände und kulturellen Traditionen. Die im Westen dominierende Idee von der Volkssouveränität und dem säkularisierten Staat ist keinesfalls Teil der politischen Kultur jedes einzelnen Landes, auch wenn dieses eine republikanische Verfassung hat. Somit stellt sich die Frage nach einem gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen, als demokratisch betrachteten Republiken. Mouffe hält fest: Wir müssen uns von dem Anspruch verabschieden, der Prozess der Demokratisierung müsse in der weltweiten Übernahme des liberalen, demokratischen Modells westlicher Prägung bestehen. Die Demokratie kann in einer multipolaren Welt eine Vielzahl an Formen annehmen, da das Ideal der Demokratie in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann.9
Für die Verfechter der radikalen Demokratie gibt es demzufolge keinen universellen Anspruch der westlichen Demokratie, deren Prinzipien in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext entstanden sind und somit in jeweiligen kulturellen und politischen Kontexten unterschiedlich umgesetzt werden. Die Werte, die meistens auf die Aufklärung zurückgehen, bilden die Grundlagen und den Handlungsraum für die gewählten Staatsorgane im liberalen Demokratiesystem, dürfen aber keinen universellen Anspruch stellen. An dieser Stelle müsste man dem Politologen Francis Fukuyama Recht geben, der in seinem Buch Das Ende der Geschichte betont, dass sich in der politischen Praxis eher die Idee des Liberalismus als dessen Grundsätze durchgesetzt hat.
7 Vgl. Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox, Wien 2008, S. 131. 8 Ebd. 9 Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2016, S. 58.
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Die Welt kennt aber keine universelle Ideologie, welche die Ideologie der liberalen Demokratie herausfordern könnte.10 Ungeachtet der Form und der orts- und kulturgebundenen Eigenschaften der Demokratien ist für Mouffe das Poltische, begriffen als aktives Handeln von Bürgern, ein immanenter Teil jeder politischen Ordnung. Der Begriff des Politischen hat Mouffe von Schmitt übernommen, der ihn als antagonistische Freund-Feind Unterscheidung definierte. Das Politische wird von der belgischen Philosophin als das wichtigste Element des Republikanismus, also der gegenseitigen Beziehungen zwischen Bürgern und staatlichen Organen und Institutionen, wahrgenommen. Eine zentrale Bedeutung spielt für Mouffe die These, dass Konflikte in jeder Gesellschaft vorprogrammiert sind und die Aufgabe jeder demokratischen Politik darin bestehe, einen konflikthaften Konsens zwischen den politischen Kontrahenten zu ermöglichen. Anders als bei Schmitt werden hier die Beziehungen nicht als antagonistisch betrachtet, weil die Opponenten keine Feinde sind, sondern als agonistisch, weil sie im Rahmen der republikanischen Institutionen als Partner bzw. Kontrahenten gegeneinander handeln.11 Die These gründet auf der Annahme, dass jede politische Ordnung hegemonialer Natur ist und somit die politischen Opponenten immer eine politische Hegemonie anstreben, die jedoch in der agonistischen Republik mithilfe der in der Verfassung festgeschriebenen und in der politischen Kultur respektierten Methoden durchgesetzt wird. Die Relevanz der Partizipation an den politischen Auseinandersetzungen wird auch von dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder als ein wichtiger Ausdruck des Politischen begriffen. Über Tyrannei: Zwanzig Lektionen für den Widerstand ist der Titel eines im Februar 2017 von ihm veröffentlichten Essays. Snyder geht auf die signifikanten Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts ein und weist auf die Faktoren hin, die demokratische Systeme in faschistische oder totalitäre Regime überführen.12 Die Machtverhältnisse bleiben demzufolge über Jahrzehnte hinweg gleich, und so wird von den Bürgern gefordert, dass sie nicht nur an Wahlen teilnehmen, sondern aktiv und engagiert an Debatten, Demonstrationen und, falls nötig, der Verteidigung der demokratischen Verfassungsordnung partizipieren. In seiner ersten Lektion warnt er vor einem blinden Vertrauen in die demokratischen Prozesse selbst, da diese in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts den Diktatoren den Weg zur Macht geebnet haben. 10 Koczanowicz, Leszek: Antagonizm, agonizm i radykalna demokracja. Koncepcja polityki Chantal Mouffe, http://www.dsw.edu.pl/fileadmin/user_upload/wydawnictwo/seria_BWMS/ mouffe-wstep.pdf, S. 9, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019. 11 Vgl. Mouffe: Agonistik, S. 12. 12 Vgl.: Snyder, Timothy: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, München 2017, S. 9.
Das Politische bei Chantal Mouffe
Einen Großteil seiner Macht erhält der Autoritarismus aus freien Stücken. In Zeiten wie diesen denken Individuen im Voraus darüber nach, was eine repressivere Regierung möglicherweise will, und dienen sich ihr anschließend an, ohne gefragt worden zu sein. Ein Bürger, der sich auf diese Weise anpasst, lehrt die Macht, wie weit sie gehen kann.13
Zwar soll man die Thesen von Snyder im Sinne der liberalen Demokratie verstehen, doch findet man bei ihm einige Parallelen zu dem Konzept der radikalen Demokratie von Mouffe. Die beiden Forscher schreiben den demokratischen Institutionen eine relevante Bedeutung zu, die in der Festigung der politischen Ordnung besteht. Die demokratischen Institutionen spielen für die Autoren in demokratischen Praktiken wie z. B. Parlamentswahlen oder Kontrollfunktionen eine entscheidende Rolle. Die belgische Philosophin argumentiert jedoch, dass die radikale Demokratie keinen Rückzug aus den Institutionen fordert, weil die gefestigten Institutionen ihren Fortbestand garantieren. Somit setzt sie voraus, dass die gegeneinander agierenden Parteien, die nach der Hegemonie ihrer Konzepte streben, die Institutionen schützen werden, um den konflikthaften Konsens zu ermöglichen. Die Schwäche der liberalen Demokratie erblickt Mouffe in der ersten Linie in der Leugnung der antagonistischen Interessen der politischen Subjekte, die nicht an einem universellen und vernunftbasierten Konsens arbeiten, sondern eigenen Interessen folgen. Für sie machen Konflikte das Wesen des Politischen aus und bilden einen wichtigen Bestandteil jeder res publica. Die Angst vor Konfrontation betrachtet sie als den größten Fehler der liberalen Demokratie, die die affektive Dimension der politischen Strukturen völlig missachtet und deswegen, paradoxerweise, unfähig ist, die Antagonismen zu tilgen.14 Wichtig ist, dass Konflikte nicht die Form eines ‚Antagonismus« annehmen (eines Kampfes zwischen Feinden), sondern die eines ‚Agonismus‘ (einer Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten). Aus agonistischer Perspektive ist die zentrale Kategorie demokratischer Politik die Kategorie des ‚Kontrahenten‘, des Opponenten, mit dem man grundlegende demokratische Prinzipien wie das Ideal ‚allgemeiner Freiheit und Gleichheit‘ teilt. […] Kontrahenten bekämpfen einander, weil sie wollen, dass ihre Interpretationen dieser Prinzipien hegemonial werden, stellen aber das legitime Recht ihrer Kontrahenten, für ihre Position zu streiten, nicht infrage.15
Eine gut funktionierende Demokratie erfordert demzufolge den Widerstreit demokratisch-politischer Positionen, der garantiert, dass sich das politische Leben nicht auf die Auseinandersetzung um die moralischen Werte oder die
13 Ebd., S. 14. 14 Vgl. Mouffe: Agonistik, S. 24. 15 Ebd., S. 28‒29.
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Bildung eines politischen Konsenses konzentriert, weil eine zu große Konsensorientierung in Verbindung mit einer Abneigung gegen Konflikte zu Apathie und Entfremdung von der politischen Partizipation führt.16 Der Kern des Politischen ist das aktive Handeln im Rahmen der demokratischen Staatsordnung, das jedoch nicht auf den Kompromiss, sondern auf die Konfrontation zwischen den organisierten Bürgerinitiativen abzielen soll. Im Gegensatz zu der Vision eines geordneten Konfliktes von Mouffe erblickt Snyder in der Etablierung einer eigenen Position auf der politischen Bühne eine ernste Gefahr für die demokratischen Institutionen. Die Institutionen sind nicht imstande, automatisch die Angriffe auf ihre Autonomie abzuwehren, auch wenn die Parteien mit ihrer Hilfe und gemäß den demokratischen Prozeduren an die Macht gekommen sind. Dies sei die größte Schwäche des Konzeptes der belgischen Philosophin, die vom Prinzip der Unantastbarkeit der festgelegten Institutionen ausgeht. Institutionen helfen uns, den Anstand zu wahren. Sie brauchen aber auch unsere Hilfe. Sprich nicht von ‚unseren Institutionen‘, bevor du sie dir nicht zu Eigen gemacht hast, indem du für sie und in ihrem Namen aktiv wirst. Institutionen schützen sich nicht selbst. Sie stürzen eine nach der anderen, wenn nicht jede von ihnen von Anfang an verteidigt wird. Such dir also eine Institution, die dir am Herzen liegt – ein Gericht, eine Zeitung, ein Gesetz, eine Gewerkschaft –, und ergreife für sie Partei.17
Das Konzept der radikalen Demokratie basiert auf der Annahme, dass alle Kontrahenten die Regeln beachten, weil sie die Chance bekommen, ihre Interessen zu artikulieren, statt, wie in der liberalen Demokratie, nach einem Kompromiss zu suchen. In jeder demokratischen Ordnung kommt dem Wahlerfolg eine zentrale Rolle zu, weil er die Verwirklichung der eigenen Interessen ermöglicht. Mouffe übergeht in ihrer Theorie jedoch stillschweigend die Tatsache, dass ein günstiges Wahlergebnis nicht unbedingt die vorgesehene agonistische Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten um die Verwirklichung einer eigenen politischen Vision stärkt, sondern die Sieger eher zum Abbau der demokratischen Institutionen verführt, um den zu erwartenden Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Zwar betont Mouffe, dass sie unter „den hegemonialen Praktiken die Artikulationspraktiken versteht, durch die eine gegebene Ordnung geschaffen und die Bedeutung der gesellschaftlichen Institutionen festgelegt wird“18 , übersieht dabei aber die Gefahr eines Rückzugs aus dem demokratischen System nach
16 Vgl. Ebd., S. 29. 17 Snyder: Über Tyrannei, S. 20. 18 Mouffe: Agonistik, S. 22.
Das Politische bei Chantal Mouffe
der Machtübernahme, was man als den Systemfehler ihrer Theorie betrachten kann. Radikale Demokratie kann im Rahmen der existierenden Demokratien funktionieren, ohne diese revolutionär abbauen zu müssen. Paradoxerweise erfordert dies jedoch einen weitgehenden Konsens unter allen Kontrahenten auf der politischen Bühne, die Unantastbarkeit aller konstituierenden Institutionen für die liberale Demokratie sowie Einhaltung ethisch-politischer Werte der politischen Auseinandersetzung. Erst an diesem Punkt eröffnet sich für Mouffe die Perspektive der Meinungsverschiedenheiten über die Interpretationen der gemeinsamen ethisch-politischen Prinzipien, die den Bürgern die Chance anbieten, unterschiedliche Identifikationen zu bilden, um den politischen Leidenschaften ein demokratisches Ventil zu geben. Die Hauptaufgabe demokratischer Politik besteht nicht darin, die Leidenschaften zu eliminieren oder sie in die Privatsphäre zu verbannen, um in der Öffentlichkeit einen rationalen Konsens herstellen zu können. Sie besteht vielmehr darin, diese Leidenschaften zu „sublimieren“ […].19
Dies soll die Entstehung populistischer Bewegungen verhindern, die in liberalen Demokratien die Konsequenz der zu starken Konsensorientierung sind, weil man damit breiten Gruppen der Gesellschaft die Möglichkeit bietet, ihre Auffassung des Politischen in der Öffentlichkeit zu äußern. Dabei muss man aber betonen, dass der Begriff ‚populistische Bewegung‘ aus den Mainstreammedien übernommen wurde, und in der politischen Debatte häufiger missbraucht wird. Mouffe setzt sich gegen die Verwendung des Begriffs im Sinne der Abqualifizierung derjenigen, die gegen den politischen bzw. gesellschaftlichen Status quo sind. Laclau definierte in seinem Buch On Populist Reason den Populismus als eine politische Kampfstrategie, die an sich jeder politischen Richtung zugeschrieben werden kann, da es sich um eine Art politischen Marketings handelt. Und Mouffe schreibt: Populismus ist keine Ideologie, und man kann ihm keinen spezifischen programmatischen Inhalt zuordnen. Ebenso wenig stellt er ein politisches Regime dar. Es handelt sich um eine Art, Politik zu betreiben, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche ideologische Formen annehmen kann und mit einer Vielzahl institutioneller Rahmenbedingungen kompatibel ist.20
19 Ebd., S. 31–32. 20 Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 21.
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Schlussfolgerungen Die Radikalisierung der Demokratie in der von Laclau und Mouffe geforderten Form, also im Rahmen des demokratischen Systems, wird von dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek kritisiert. Laut Žižek wird die Agonistik nie eine Alternative zum liberalen Demokratiemodell, weil sie es reformieren möchte, statt es auf dem revolutionären Weg abzuschaffen. Die Defizite der mangelnden Partizipation der Bürger an den demokratischen Prozessen und die gleichzeitige Marginalisierung der bewährten demokratischen Institutionen ergeben sich aus der fehlenden Durchsetzungskraft des agonistischen Modells, das lediglich die stärkere Einbeziehung der Bürger in demokratische Ordnung fordert. Der Soziologe Piotr Dybel hebt in der Studie Granice polityczności hervor, dass die agonistische Strategie im Kampf um Hegemonie im Rahmen der geltenden liberal-demokratischen Ordnung durch die revolutionäre Strategie im wahren Sinne des Wortes ersetzt werden sollte.21 Erst dann kann die prozedurale Demokratie der Partizipation der Bürger auf der politischen Bühne weichen. Literaturverzeichnis Böckenförde, Ernst Wolfgang: Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991. Demirović, Alex: Radikale Demokratie und Sozialismus Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Form, 21/2017, https://www.rosalux.de/ fileadmin/rls_uploads/pdfs/Online-Publikation/21-17_Online-Publ_ Radikale_Demokratie.pdf, Rosa-Luxemburg-Stiftung, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019. Dybel, Piotr, Wróbel, Szymon: Granice polityczności. Od polityki emancypacji do polityki życia, Warszawa 2008. Koczanowicz, Leszek: Antagonizm, agonizm i radykalna demokracja. Koncepcja polityki Chantal Mouffe, http://www.dsw.edu.pl/fileadmin/user_upload/ wydawnictwo/seria_BWMS/mouffe-wstep.pdf, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2016. Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox, Wien 2008. Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018. Mouffe, Chantal: Polityczność. Przewodnik Krytyki Politycznej, Warszawa 2008. 21 Vgl. Dybel, Piotr, Wróbel, Szymon: Granice polityczności. Od polityki emancypacji do polityki życia, Warszawa 2008, S. 312.
Das Politische bei Chantal Mouffe
Morawski, Karol: Dyskurs, hegemonia, demokracja. Analiza krytyczna, projektu demokracji radykalnej E. Laclau i Ch. Mouffe, Warszawa 2016. Rosenberger, Siegelinde: Wahldemokratien. Der Bürger im Staat, http://www. buergerimstaat.de/2_09/bundestagswahl_09.pdf. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 59, 2–2009, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019. Snyder, Timothy: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand, München 2017. Žižek, Slavoj: Rewolucja u bram. Pisma Lenina z 1917, Warszawa 2007. https://freedomhouse.org/report-types/freedom-world, letzter Zugriff: 27. Oktober 2019.
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Thomas Fries (Universität Zürich)
Die Gruppe von Coppet (1804–1817) Weiterführung der res publica litteraria nach der politischen Revolution?
„Die Wiederkehr der res publica“: So lautet das allgemeine Thema des vorliegenden Tagungsbandes. Wiederkehr welcher res publica? In der Französischen Revolution, auf welche im Tagungstitel wohl angespielt wird, stehen sich zwei Republiken gegenüber: die ehrwürdige res publica litteraria,1 die ideale Gemeinschaft der Wissenschaftler, Philosophen und Literaten, seit der Zeit des Humanismus, und die aus der Revolution entstehende Republik, die sich ihrerseits auf die römische Republik beruft und die ideale Gemeinschaft der res publica litteraria für ein ganzes Staatswesen Realität werden lassen wollte. Löst die politische Republik in ihrem Anspruch die République des lettres ab? Oder impliziert das letztliche Scheitern der politischen Revolution die Rückkehr der frei denken Wollenden zur res publica litteraria? Und mit welchen Perspektiven? Das sind die Leitfragen dieses Beitrags. Mitten in der Schwellenzeit zwischen Revolution und Restauration (1789‒1815) sind in der Gruppe von Coppet sowohl die Tradition der älteren wie die Erfahrung der neuen Republik lebendig, außerdem ergibt sich mit ihr möglicherweise eine neue Perspektive für ein europäisches Staatswesen oder zumindest eine europäische Kulturpolitik.2 Sie bietet damit ein gutes Beobachtungsfeld für die Prüfung dieser Fragen, die, wir mir scheint, von ungebrochener Aktualität sind. Die ‚Gruppe von Coppet‘ ist eine Verlegenheitsbezeichnung für ein Netzwerk von intellektuellen Frauen und Männern, im Zeitraum 1804‒1817, aus vielen Ländern Europas und den USA, tätig in ganz verschieden Bereichen von Kultur, Wissenschaft und Politik. Andere Bezeichnungen sind: ‚Kreis von ‚Coppet‘, ‚Konstellation‘, ‚Ideenlaboratorium‘, ‚Hebamme des europäischen Geis-
1 Zur ‚res publica litteraria‘ und zur ‚République des Lettres‘: Anonymus (2018), Bots und Waquet (1997), Fumaroli (2007 und 2015), Goodman (1994), Knoche, Santini (2007), Lamy (2013), Neumeister, Wiedemann (1987), Schalk (1971), van Miert (2016), Waquet (1989). 2 Vgl. dazu: Balayé (1972), Dieterle (2007): speziell S. 175–180, Hoock-Demarle (1999 und 2008), Mortier (1994), Rougemont (1980). Zum Zitat von Stendhal, welches diese Perspektive begründete, vgl. das Zitat zu FN 42.
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Thomas Fries
tes‘, ‚Réunion d’écrivains‘, ‚Foyer‘ und ‚Carrefour de l’Europe‘.3 Die bis zu 500 Personen, die zu dieser Gruppe gezählt worden sind,4 haben sich selbst nie als Gruppe konstituiert und sich auch nicht als solche verstanden; wenn in einzelnen Texten auf ein gemeinsames Denken von Coppet verwiesen wird, geht es immer nur um einzelne Autorinnen und Autoren. Inwiefern kann man doch von einer gemeinsamen Basis sprechen, was macht die Faszination eines Phänomens aus, das zu einer Unzahl von Publikationen geführt hat?5 Gemeinsam ist den Personen, die zur Gruppe gezählt werden, die Erfahrung der Französischen Revolution mit dem nachfolgenden Terror, dem Direktorium und der Diktatur Napoleons, der mit Madame de Staël – der Gastgeberin und, zusammen mit Benjamin Constant, der zentralen Gestalt von Coppet – auch andere Gäste von Coppet ins Exil verdrängte.6 Für die meisten ist auch die letzte Zeit der Aufklärung und des Ancien régime eigene Erfahrung. In ihrer politischen Haltung befürworten sie die Republik ebenso wie sie den Terror und das Diktat Bonapartes ablehnen – und alle Restaurationsbestrebungen ebenso: Sie situieren sich zwischen allen etablierten politischen Positionen. Mit verschiedenen politischen Vorstellungen und Rezepten verteidigen sie gegenüber dem mächtigen Strömungen der Zeit aufklärerisches Denken nach der Revolution, aufklärerische Denkpraxis vor allem. Was dieses Denken implizit und explizit anstrebte: die Republik, wurde erreicht – und durch Terror und reine Machtpolitik alsbald wieder verspielt. Mitten in der großen Zeitenwende
3 Vgl. Hoffmann, Etienne, Rosset, François: Le Groupe de Coppet. Une constellation d’intellectuels européens, Lausanne 2005, S. 10. Die Autoren weisen darauf hin, dass man im Zusammenhang mit Coppet allerdings nie von ‚Partei‘ oder ‚Club‘ gesprochen hat. 4 Priebe, Martina: Les Modes de sociabilité au château de Coppet à l’époque de Germaine de Staël (1766–1817), Genève 2017, S. 111–116. Die Autorin zählt 78 Besucherinnen und Besucher in Coppet zwischen 1791 und 1817, aus Deutschland, Österreich-Ungarn, USA, England, Frankreich, Italien, Polen, Russland, Portugal, Dänemark und der Schweiz; doch diese Aufstellung beschränkt sich auf die registrierten Besucherinnen und Besucher in Coppet. Stendhal spricht von 600 Personen (vgl. FN 42). 5 Hofmann und Rosset verzeichnen allein zehn Kolloquien, die zwischen 1966 und 2006 zu Coppet stattfanden und zu umfangreichen Tagungsbänden führten (Hofmann, Rosset: Le Groupe de Coppet, S. 138). 6 Während die Stadt Genf 1798 der ‚République française‘ einverleibt wurde, als Hauptort des ‚Département Léman‘ (bis 1813), war das benachbarte Coppet bis 1798 Berner Untertanengebiet und gehörte dann zum unabhängigen ‚Pays de Vaud‘, der 1803 ein Schweizer Kanton wurde. Die Nähe zu Genf, die Unabhängigkeit von Frankreich, der protestantische Hintergrund und die Zugehörigkeit zur Schweiz waren wichtige Faktoren für die Bildung der Gruppe von Coppet zwischen verschiedenen politischen Systemen und Konfessionen, zwischen Norden und Süden Europas.
Die Gruppe von Coppet (1804–1817)
1789–1815, doch an der Peripherie des politischen Geschehens obliegt der Gruppe von Coppet die Kritik der Revolution, „die Revolution zu denken“7 . Der Begriff der res publica litteraria oder République des lettres gibt der aufklärerischen Denkpraxis von Coppet ein Gesicht und steht auch in direktem Bezug zur Schweizer Familie Necker, welche Coppet erst ermöglicht hat: mit dem Genfer Bankier und Staatsmann Jacques Necker (1732–1804), der in den letzten 15 Jahren des Ancien régime und im ersten Revolutionsjahr französische Geschichte schrieb, mit seiner Frau Suzanne Necker-Curchod (1737–1794) aus Crassier (Waadt), die durch ihren Salon in Paris ihrem Mann ein politischphilosophisches Beziehungsnetz schuf,8 vor allem aber durch deren gemeinsame Tochter Germaine, allgemein als Madame de Staël (1766‒1817) bekannt, die nach dem Tod ihres Vaters 1804 im Schloss Coppet das allgemein anerkannte Zentrum der Gruppe wurde und mit deren Tod auch diese ein Ende nahm. Die res publica litteraria und später République des lettres (in verschiedenen Schreibweisen und mit alternativen Bezeichnungen (darunter Gelehrtenrepublik) entstammt dem Humanismus, einer ihrer bekanntesten Vertreter war Erasmus. Sie war ein internationales Netzwerk von Gelehrten und Wissenschaftlern in allen Disziplinen, in ganz verschiedenen Funktionen und aus allen Ländern Europas. Res publica bedeutet, dass sich ihre Mitwirkenden (zu denen auch die bereits verstorbenen Gelehrten und Wissenschaftler gezählt wurden) als eine ideale Institution verstanden: ohne Standesunterschiede und Standesvorurteile, ohne Verfassung und Gesetze, ohne nationale Grenzen, ohne konfessionelle Dogmen. Das Adjektiv litteraria verweist auf die Realität, die mediale Basis dieser scientific community: einerseits den Brief und andererseits auf die stetig wachsende Gesamtheit des Geschriebenen als ‚Literatur‘ (im Gegensatz zur heutigen, eingeschränkten Verwendung des Begriffs). In der res publica litteraria geht es jedoch nicht um die wissenschaftlichen Werke selbst, also die Bücher, sondern um deren Vermittlung und Diskussion, um ein Publikum, eine beschränkte Öffentlichkeit zu schaffen für die wissenschaftliche Produktion. Sie basiert auf regelmäßigen Korrespondenzen, mit denen Wissen ausgetauscht und kritisch gewürdigt wird; ihr Ideal ist das freie Räsonnement. Die aktive Teilnahme am Briefwechsel war die einzige Bedingung für den Zugang, mit der Verbesserung der Reisemöglichkeiten kamen gegenseitige Besuche hinzu.
7 Hofmann, Rosset: Le Groupe de Coppet, S. 17. Die Formulierung „penser la révolution“ wurde vom Historiker Antoine Furet geprägt. 8 Zu den Salons im Allgemeinen und zu jenem Suzanne Neckers: Goodman Dena: The Republic of Letters. A Cultural History of the French Enlightenment, Ithaca 1994. Darin speziell das Kapitel 2: „Philosophes and Salonnières: A Critique of Enlightenment Historiography“, 53–89, mit zahlreichen Informationen zu Neckers Salon. – Suzanne Necker begründete außerdem 1778 den bekannten ‚Hôpital Necker‘ in Paris.
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Verkehrssprache war zunächst Latein, ab dem 17. Jahrhundert immer mehr auch Französisch. Pierre Bayle drückt im Vorwort von 1684 zu der von ihm geschaffenen neuen Zeitschrift Nouvelles de la République des Lettres das humanistische Ideal dieser Republik wie folgt aus (und prägt dabei pointiert zwei der drei Schlagworte der Revolution von 1789): Es geht hier nicht um Religion, es geht um Wissenschaft; man muss also alle Begriffe zurückstellen, welche die Menschen in verschiedene Fraktionen teilen, und ausschließlich jenen Aspekt ins Auge fassen, unter dem sie sich vereinigen, und das ist die Qualität des aufgeklärten Menschen in der République des Lettres. In diesem Sinn sollen sich alle Gelehrten als Brüder verstehen, von gleichwertiger Herkunft, die einen wie die anderen. Sie sollen sagen: Wir sind alle gleich, als Kinder Apollos Wir gehören alle zur selben Familie.9
Das dritte Schlagwort der Revolution neben égalité und fraternité, die liberté, tritt im späteren Dictionnaire historique et critique (1694‒1697) markant in Erscheinung, mit einer charakteristischen Relativierung der Brüderlichkeit: Diese Republik ist ein extrem freier Staat. Es wird hier nur die Herrschaft von Wahrheit und Vernunft anerkannt, und unter ihren Auspizien führt man auf unschuldige Weise Krieg gegen alle, wer immer es sei. Die Freunde müssen sich hier vor ihren Freunden hüten, die Väter vor ihren Kindern; es ist wie im Eisernen Zeitalter: ‒ ‒ ‒ Nicht ist der Gastgeber sicher vom Gast, Nicht der Schwiegervater vom Schwiegersohn, [auch brüderliche Dankbarkeit ist selten]. (Ovid, Metamorphosen, I, V. 144 f.) Jeder ist hier ganz souverän und gleichzeitig der Gerichtsbarkeit von jedem unterworfen.10 9 Bayle, Pierre: Nouvelles de la République des Lettres, Bd. I. Amsterdam 1684, S. 6: „Il ne s’agit point ici de Religion: il s’agit de Science: on doit donc mettre bas tous les termes qui divisent les hommes en différentes factions, et considérer seulement le point dans lequel ils se réunissent, qui est la qualité d’Homme illustre dans la République des Lettres. En ce sens-là tous les Savants se doivent regarder comme frères, ou comme d’aussi bonne maison les uns que les autres. Ils doivent dire, Nous sommes tous égaux „comme enfants d’Apollon“. Nous sommes tous parents.“ 10 Bayle, Pierre: Dictionnaire historique et critique, 4 Bde [1697], Amsterdam 1740, Art. CATIUS, Bd. 2, S. 102: „Cette République est un Etat extrêmement libre. On n’y reconnaît que l’empire
Die Gruppe von Coppet (1804–1817)
Diese Stelle zitiert Reinhart Koselleck an einer zentralen Stelle von Kritik und Krise und deutet sie, gewissermaßen von Hobbes zu Rousseau, radikal: Der Bürgerkrieg, den der Staat eliminierte, taucht unversehens wieder auf; und zwar genau in dem privaten Innenraum, den der Staat dem Menschen als Menschen konzedieren musste. In ihm herrscht absolute Freiheit, das bellum omnium contra omnes; das gemeinsame Ziel aller ist die Wahrheit, und der wahre Souverän im geistigen Streit ist die Kritik, die ein jeder übt und der sich jeder unterwirft. Gnadenlos waltet die Souveränität, an der jeder partizipiert. Die totale Demokratie, die Rousseau ein halbes Jahrhundert später konzipieren sollte, ist die auf den Staat ausgeweitete Gelehrtenrepublik des Bayle.11
Liest man die beiden Zitate von Bayle, die in ihrer Konstruktion deutliche Parallelen aufweisen (konstitutionelles Bekenntnis zur République des lettres mit markanten Schlagworten, das zu einer abgehobenen inscriptio, mit antiker Abstützung, und lehrhafter Anwendung führt) zusammen, so ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild, vor allem in Bezug auf die Brüderlichkeit: Das erste Zitat will zeigen, dass die Teilnehmer der République mit ganz verschiedener Herkunft sich als Brüder (im übertragenen Sinn) sehen sollen, indem sie jenen Aspekt ins Auge fassen, der sie mit den anderen verbindet, nämlich der Freiheit und Gleichheit in der République des lettres (bei allen verbleibenden übrigen Differenzen), das zweite dagegen, dass diese Gleichheit nicht als familiärer Nepotismus gesehen werden darf, dass es gegenüber dem Souverän der Wahrheit überhaupt keine Rücksichtnahme gibt.12 Das bellum omnium contra omnes setzt die konstituierte Gelehrtenrepublik voraus; „unschuldig“, aber nicht harmlos ist dieser Krieg, weil seine Waffen nur jene der Wahrheit sind – und sein müssen. (Es ist leicht zu sehen, wie diese Problematik auch die scientific communities unserer Zeit dominiert, ohne dabei als ‚unschuldig‘ gelten zu können!) Entscheidend ist aber zweifellos Kosellecks Einsicht, dass die politische Republik in der Konsequenz der Gelehrtenrepublik liegt. Und
de la Vérité et de la Raison, et sous leurs auspices on fait la guerre innocemment à qui que ce soit. Les amis s’y doivent tenir en garde contre leurs amis, les pères contre leurs enfants, les beaux-pères contre leurs gendres: c’est comme au siècle de fer: ‒ ‒ ‒ Non hospes ab hospite tutus, Non socer a genero. Chacun y est tout ensemble Souverain, et justiciable de chacun.“ 11 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt a. M. 1973, S. 91. Meine Unterstreichung (Th.F.). 12 Im zitierten Artikel CATIUS von Bayle geht es vor allem um einen Gelehrtenstreit in Bezug auf die Einschätzung der epikuräischen Philosophie und wie mit diesem umzugehen sei; dabei lobt Bayle ausdrücklich die Brüder Bernoulli, die auf ihr Verwandtschaftsverhältnis in ähnlichem Streit keine Rücksicht nahmen.
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dass die Souveränität gerade keiner Person und keiner Instanz, sondern der Wahrheit als Prozess zukommt, somit dialogischen Wesens ist. Doch neben der res publica gewinnt im Zeitalter der Aufklärung auch das Adjektiv publica ‚öffentlich‘ eine neue Bedeutung; dieser Wandel ist von Reinhart Koselleck und Jürgen Habermas eingehend analysiert worden. Für Koselleck stehen Freimaurerlogen und Gelehrtenrepublik exemplarisch mit ihrer als privat verstandenen Kritik an politischen und religiösen Dogmen in einem markanten Gegensatz zum absolutistischen Staatswesen, das selbst nicht oder nur zögernd öffentlich wird. Einen solchen Schritt vollzog Jacques Necker 1781 mit seinem Compte rendu au Roi, in welchem er den Zustand der Staatsfinanzen öffentlich machte, was zu seiner sofortigen Entlassung führte und zugleich seinen Ruf als unbestechlichen Staatsmann begründete. Habermas zeigt, wie Öffentlichkeit selbst im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer politischen Kategorie wird. Erste Institutionen dieser Öffentlichkeit waren in England das Kaffeehaus, in Frankreich der Salon und in Deutschland die Gelehrtenrepublik, in allen drei Ländern die wissenschaftlichen Zeitschriften. Habermas drückt den Widerhaken von publica in res publica sehr treffend aus: Nicht sowohl die politische Gleichheit der Mitglieder als vielmehr ihre Exklusivität gegenüber dem politischen Bereich des Absolutismus überhaupt ist das Entscheidende: die soziale Gleichheit war zunächst nur als eine Gleichheit außerhalb des Staates möglich. Der Zusammenschluss der Privatleute zum Publikum wird deshalb im Geheimen, Öffentlichkeit noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit praktiziert. […] Die Vernunft, die sich in der rationalen Kommunikation eines Publikums gebildeter Menschen im öffentlichen Gebrauch des Verstandes verwirklichen soll, bedarf, weil sie jedes Herrschaftsverhältnis bedroht, selbst des Schutzes vor einer Veröffentlichung.13
Eine solche beschränkte Öffentlichkeit und damit die aktuelle Form der République des lettres bildet der Salon. Zum weiterhin praktizierten Briefwechsel und zu den Zeitschriften tritt das unter der Ägide einer Frau stehende institutionalisierte Gespräch an einem jour fixe unter Gelehrten und Wissenschaftlern, zunehmend auch von Staatsmännern und anderen Salonnières. Das gepflegte Räsonnement bildet seine Basis, neben dem reinen Wissen sind Witz und Geselligkeit (sociabilité) gefragt. Berühmte Salons wurden von Louise d’Epinay, Louise Dupin, Marie-Thérèse Geoffrin, Julie de Lespinasse und Suzanne Necker veranstaltet, an letzterem, jeweils am Freitag, wirkten u. a. Diderot, d’Alembert, Buffon, Bernardin de Saint-Pierre, Julie de Lespinasse, Grimm, Raynal, Turgot, Condorcet mit. Die überaus geistreichen Dialogues sur le commerce des blés des Abbé Galiani, mit der Unterstützung von Diderot und Madame d’Epinay 1770 publiziert, ver13 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit [1962], Neuwied 1965, S. 46.
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mitteln ein anschauliches Bild vom dialogischen Wesen des Salons. Verhandelt wird ein zu dieser Zeit äußerst brisantes Thema: die periodisch wiederkehrenden Hungersnöte, welche das Régime in Frankreich in große Schwierigkeiten brachten und letztlich dann mit zur Revolution führten. Zwei Positionen stehen sich gegenüber: die merkantilistische, welche mit Preisschutz, Speicherung, Kanälen und Zöllen auf die Staatsversorgung setzte, und die physiokratische der Économistes, welche das Heil in einem freien Markt ohne Restriktionen sahen. Die erste Position vertritt im Dialog ein bürgerlicher Staatsmann, die zweite ein Aristokrat; hinzu tritt ein italienischer Chevalier, mit großem Witz und Erfahrung mit Hungersnöten, der dann, mit ständigen Widerlegungen der dogmatischen Behauptungen beider Seiten, demonstriert, wie wenig binäres Denken als Entweder-Oder den realen Verhältnissen gerecht wird: Die Relativität der Bedingungen erfordert ein sich ständig verfeinerndes, alles in Betracht ziehendes Denken. Auf die immer verzweifeltere Frage der Dialogpartner, für welche der beiden Positionen (für oder wider den Export von Getreide) er denn nun einstehe, antwortet der Chevalier: „Ich bin für nichts. Ich bin dafür, dass man nicht gegen die Vernunft verstößt. Der Export des gesunden Menschenverstandes ist der einzige, der mich in Zorn versetzt.“14 Diese Passage bezeichnet die politische Position der République des lettres sehr gut: Das Interesse für die intensive Auseinandersetzung mit den Staatsgeschäften ist gegeben, doch geht es nicht darum, eine bestimmte Partei zu verteidigen, eine Position zu beziehen, sondern um die vernünftige Grundlage der Auseinandersetzung, die Qualität des Räsonnements selbst. Aus diesem Grund kann der Chevalier sagen, dass der Hunger nur den Fehlern der Menschen zuzuschreiben ist und dass sich diese Fehler letztlich auf einen einzigen reduzieren. Das Problem liege nicht bei jenen, die über keine Vernunft verfügten, sondern im mangelhaften Gebrauch der Vernunft: Marquis: Ich verstehe. Also ist, Ihnen zufolge, die totale Unvernunft selten unter den Menschen? Chevalier: So selten, dass man sie nicht in Betracht ziehen muss. Marquis: Die schlecht gebrauchte Vernunft, die schlecht angewendete Erfahrung, die aus einem unähnlichen Sachverhalt entwickelte Analogie sind die Gründe von allen unseren Fehlern? Chevalier: Genau.15
14 Galiani, Ferdinando: Dialogues sur le commerce des blés [1770], in: Opere di Ferdinando Galiani, hg. von Diaz, Furio, Guerci, Luciano: (Illuministi italiani, Bd. VI) Milano/Napoli 1975, S. 357‒612, hier S. 369: „Je ne suis pour rien. Je suis pour qu’on ne déraisonne pas. L’exportation du sens commun ets la seule qui me fâche.“ 15 Ebd., S. 363: „M.: J’entends. Ainsi selon vous, la déraison totale est rare parmi les hommes. – Ch.: Si rare qu’il ne faut pas la mettre en ligne de compte. – M.: La raison mal discutée,
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1775 veröffentlichte Jacques Necker seine eigene, merkantilistisch geprägte Sicht des Kornhandels. Diderot schrieb ihm dazu am 12. Juni 1775 einen Brief, in welchem er sich die Frage stellt, wie und bei wem denn eine solche Schrift ihre angemessene Wirkung entfalten könnte. Diderot sieht diese Wirkung vor allem in der Bildung einer opinion, die hier noch nicht opinion publique, öffentliche Meinung heißt, aber bereits deren Merkmale trägt: „dieses Mobil (dieser Motor, diese Triebfeder), deren Stärke zum Guten wie zum Schlechten Sie so gut kennen.“16 Die opinion wird als veränderungsmächtige und gleichzeitig unzuverlässige Kraft erkannt, und Diderot fragt sich, wie denn die offensichtlich ambivalente Meinungsbildung geprüft werden kann. Mit der Vernunft! Aber wer verfüge über diese Vernunft? Die Staatsmänner (Politiker) hätten sicher Vernunft, aber wer alles zu wissen glaube, werde wenig Drang verspüren, sich belehren zu lassen. Das Volk? Habe leider keine Zeit, seine Vernunft zu pflegen und zu entwickeln. Weltmänner und Geschäftsleute? Selbst wenn man sie dazu bringen könnte, die Frivolität ihrer Vergnügungen für eine aufmerksame Lektüre zurückzustellen, würden sie nicht verstehen, weil das Interesse an unmittelbarem Profit einer sorgfältigen Prüfung entgegenstehe. Diderots Antwort ist zuletzt die République des lettres, mit zwei eindrücklichen Bildern: das Licht der Aufklärung in der Nacht des Gelehrten, umgeben vom Schlaf der bürgerlichen Welt; die kleinen sehenden Köpfe des Leviathans Menschheit, welche die große blinde Menge nach sich ziehen: Wer wird überhaupt von Eurem Werk sprechen können – und wer auf gerechte Weise? Wer wird dessen Verdienst sichern und seine Früchte beschleunigen? Es ist jener, dessen Funktion gewöhnlich in der Meditation besteht, jener, der Ihre Seiten [Neckers Buch] im Laufe der Nacht erleuchtete, während die restliche bürgerliche Welt um ihn herum schlief, erschöpft von Arbeit oder Vergnügungen. Es ist der Gelehrte, der Literat, der Philosoph. […] Wie auch immer: Wir sind diese kleine Zahl von Köpfen, welche, auf dem Hals des großen Tiers platziert, die blinde Menge seiner Schwänze nach sich ziehen.17
l’expérience mal appliquée, l’exemple tiré d’une chose dissemblable sont les causes de toutes nos fautes? – Ch.: Précisément.“ 16 Diderot, Denis: Supplément aux œuvres complètes de Denis Diderot, Paris 1819, S. 332: „L’opinion, ce mobile dont vous connaissez toute la force pour le bien et pour le mal, n’est à son origine que l’effet d’un petit nombre d’hommes qui parlent après avoir pensé, et qui forment sans cesse, en différents points de la société, des centres d’instructions d’où les erreurs et les vérités raisonnées gagnent de proche en proche, jusqu’aux derniers confins de la cité, où elles s’établissent comme des articles de foi.“ 17 Ebd. „A qui vous êtes-vous donc adressé? Qui est-ce qui parlera de votre travail et en parlera dignement? Qui est-ce qui en assurera le mérite et en accéléra le fruit? C’est celui dont la fonction habituelle est de méditer, celui dont la lampe éclairait vos pages pendant la nuit, tandis que le reste des citoyens dormaient autour de lui, épuisés par la fatigue des travaux ou des plaisirs; c’est l’homme de lettres, le littérateur, le philosophe. […] Quoi qu’il en soit, nous
Die Gruppe von Coppet (1804–1817)
Die Republik des Geistes, das eigentliche Publikum der geistigen Produktionen, soll, als ständige Auseinandersetzung, die Qualität der öffentlichen Meinung (die sich ja ebenso zum Guten wie zum Schlechten wenden kann), bilden und sichern. Die öffentliche Meinung steht zwischen aufklärerischem Denken und politischem Handeln. 15 Jahre nach diesem Brief, nachdem die meisten großen französischen Aufklärer gestorben sind, waren, ließ „das große Tier“ von einzelnen Köpfen nicht mehr führen, und Jacques Necker selbst wurde zum Spielball zwischen König und opinion publique: Nachdem er 1786 von Louis XVI zum zweiten Mal als Staatsminister eingesetzt worden war, versuchte er im Frühjahr 1789, nach der Einberufung der Etats généraux und der selbstbewussten Konstitution der Assemblée nationale am 17. Juni, alles, um einerseits durch konstitutionelle Reformvorschläge zwischen König und Assemblée zu vermitteln und andererseits um die desaströse Finanz- und Versorgungslage des Landes zu verbessern. Der König quittierte seine Vermittlungsaktion durch seine Entlassung mit konsequenter Landesverweisung am 11. Juli, was, wegen Neckers Ruf (Kompetenz und Integrität als Staatsmann), unmittelbar zur Revolte am 14. Juli (Bastille) beitrug. Der König war gezwungen, Necker am 16. Juli aus Basel nach Versailles zurückzurufen, die Rückkehr (von der ihm seine Frau abriet, die Madame de Staël jedoch befürwortete) nach Versailles wurde zu einem Triumphzug. Doch sein Ziel einer konstitutionellen Monarchie (nach englischem Vorbild) blieb zwischen einem stets zaudernden König und einer immer selbstbewussteren und sich gleichzeitig in verschiedene Clubs aufsplitternden Nationalversammlung chancenlos, die opinion publique wandte sich immer mehr von ihm ab, und Anfang September 1790 musste Necker, selbst von Gewalt bedroht, zurücktreten und aus Paris definitiv in die Schweiz und nach Coppet zurückkehren. An die Stelle der République des lettres traten die Clubs (Cordeliers, Jacobins, Girondins, Feuillants usw.), die Vorläufer der späteren Parteien, die sich erbittert bekämpften und zum Teil den Terror zur Vernichtung der Gegner und zur Errichtung einer Republik nach je eigenem Muster legitimierten. Mit der Französischen Revolution verändert sich die Stellung der République des lettres grundlegend. Zwei Aspekte scheinen besonders wichtig: 1. Indem nun mit der Orientierung an der antiken römischen Republik und an der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 eine politische Republik18 als Staatswesen existiert (und auch nach 1799 bzw. 1815 als Modell stets wirksam bleibt), gibt es nun, neben der République des lettres für sommes ce petit nombre de têtes qui, placées sur le cou du grand animal, traînent après elles la multitude aveugle de ses queues.“ 18 Die erste Französische Republik entstand im Herbst 1792 nach der Abschaffung der konstitutionellen Monarchie mit der Constitution de l’an I.
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den begrenzten Kreis der Gelehrten und Wissenschaftler, die andere, man ist versucht zu sagen: die richtige Republik für alle citoyens (die freilich auch nur einen beschränkten Teil der erwachsenen Bevölkerung ausmachten). Damit bekommen Philosophen und Literaten wie alle anderen Bürger die Möglichkeit der direkten Mitwirkung, laufen aber, gerade als Meinungsmacher, Gefahr, von der Staatsmacht bzw. von jenen, die sich diese aneignen wollen, ebenso direkt bedroht, exiliert oder vernichtet zu werden. Liberales Denken kann ebenso gefährlich sein wie ein Adelstitel, es sei nur etwa an die Schicksale von Condorcet und Philippe d’Orléans erinnert. Oder sich für gleiche Frauenrechte engagieren: Olympe de Gouges und Madame Roland enden unter der Guillotine. An die Stelle der Salons treten die Clubs, die Sociétés populaires, in welchen nicht mehr das Ideal eines übergreifenden Denkens gesucht, sondern ein bestimmtes Parteiinteresse verfochten wird. 2. Die Stellung der Frauen verschlechterte sich eher. Während der Einbezug der Frauen im Dialog der Aufklärung eine konstitutive Rolle spielte, wurden sie bei den Menschenrechten ausgeschlossen, und die weiblichen Clubs, die sich in relativ großer Zahl gebildet hatten, wurden nach kurzer Zeit von den revolutionären Behörden aufgelöst, in den staatlichen Institutionen spielten sie ohnehin keine Rolle. Einzelne Zugeständnisse wie das Tragen der Cocarde oder eherechtliche Besserstellungen relativieren die grundsätzliche Zurückstellung nur leicht. In den Schicksalen der beiden zentralen Gestalten von Coppet, Germaine de Staël und Benjamin Constant, zeigen sich diese Veränderungen deutlich. Madame de Staël, welche seit 1786 einen eigenen Salon führte (u. a. mit Condorcet und La Fayette) machte sich – im Unterschied zu den früheren Salonnières – auch als Autorin einen allerdings umstrittenen Namen. Den SeptemberMassakern von 1792 entging sie nur mit knapper Not und musste nach Coppet fliehen. 1794 begegnete sie Constant zum ersten Mal. 1795 kamen beide nach Paris, wo Madame de Staël ihren Salon zunächst weiterführte. Für eine Zeitschrift verfasste Constant Briefe, die als royalistisch verstanden wurden und ein subtiles Korrekturmanöver Constants erforderten, trotzdem wurde er verhaftet. Auch Madame de Staël war suspekt, beide wurden aufgefordert, Paris zu verlassen und kehrten zurück nach Coppet. (Paris ist offensichtlich das politische Zentrum, Coppet das intellektuelle Nebenzentrum für Geflüchtete in der von Paris unabhängigen Waadt.) 1796 verfasste Constant eine neue politische Schrift,19 in welcher er für die Republik und gegen den Terror Stellung nahm. Sie führte zu heftigen Auseinandersetzungen, in welchen Constant auch aufgrund seiner Schweizer Herkunft kritisiert wurde, und zu einem Duell. Im folgenden 19 Constant, Benjamin: De la force du gouvernement actuel de la France et de la nécessité de s’y rallier (1796), Paris 1988.
Die Gruppe von Coppet (1804–1817)
Jahr trat er, wie später Madame de Staël auch, dem Cercle constitutionnel de l’Hôtel de Salm bei, beteiligte sich am öffentlichen Diskurs mit Schriften und Reden. Im gleichen Jahr kam die gemeinsame Tochter von Madame de Staël und Constant zur Welt. 1798 sprach sich Madame de Staël vor Bonaparte gegen die Intervention Frankreichs für die Helvetische Republik aus und verscherzte sich damit zum ersten Mal dessen Sympathien. Constant seinerseits bewarb sich 1798 und 1799 in Paris und dann in Genf erfolglos um einen Abgeordnetensitz, wurde aber, nachdem er den Staatsstreich 1799 unterstützt hatte, Mitglied des Tribunats, in welchem er die Regierung des Ersten Konsuls angriff und 1802 wieder entlassen wurde. Madame de Staël hatte bereits 1799 gegen Bonaparte Stellung genommen und veröffentlichte 1800 ihre erste Hauptschrift: De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales.20 Bereits der Titel gibt zu erkennen, dass es darin auch um die Beziehung der beiden Republiken, der literarischen und der politischen, geht. Dazu später mehr. In Benjamin Constant und Madame de Staël treten neue, moderne Muster von Autor und Autorin in Erscheinung, mit allen Diversifikationen als Einheit zu denken. Constant und Staël verbindet Wunsch und offener Wille zu einem intensiven Liebesleben, gemeinsam und mit anderen. Der Autor nimmt öffentlich Stellung und sucht bzw. übernimmt selbst politische Ämter, seine Stellungnahmen für und gegen Napoleon und andere bringen ihn immer wieder in Schwierigkeiten, erfordern heikle Korrekturen. Constants Hauptengagement nach 1815, teilweise wiederum als Abgeordneter, gilt den liberalen Freiheiten, insbesondere der Pressefreiheit (für die Bildung der opinion publique). Doch daneben schreibt er u. a. einen berühmten Liebesroman (Adolphe, 1816) und seine Journaux intimes, in ständiger Selbstbefragung der eigenen Person. Und die Salonnière tritt aus dem begrenzten Raum des Salons heraus, wird selbst Autorin von ebenso berühmten Romanen (Delphine, 1802 und Corinne ou l’Italie, 1807), von literaturkritischen, sprach- und kulturvergleichenden Texten. Und exponiert sich einer Staatsmacht gegenüber, die sie immer stärker kujonieren will – und einer öffentlichen Meinung, die sie ebenso für wie gegen sich hat. Und auch für Madame de Staël ist die überreiche eigene Innenwelt immer wieder Thema; aus ihr resultiert, wie Jean Starobinski sehr schön gezeigt hat,21 jene expansive Bewegung, jener Wille, den anderen, die anderen zu gewinnen, welche für Salonnière und Autorin gleichermaßen wichtig sind. 1803 wurde Madame de Staël gezwungen, zuerst Paris und dann Frankreich zu verlassen, zusammen mit Constant trat sie ihre große Deutschlandreise 20 Staël, Germaine de: Œuvres, hg. von Seth, Catriona, Cossy, Valérie, Paris 2017, S. 1–303. 21 Starobinski, Jean: „Madame de Staël: passion et littérature“, in: Ders.: Table d’Orientation: L’auteur et son autorité, Lausanne 1989, S. 83–110. Vgl. dazu Hofmann, Rosset: Le Groupe de Coppet, Kap. 7 (zu Coppet): „L’écriture du moi au milieu du monde“, S. 58–69.
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an, aus der ihr zweites Hauptwerk, De l’Allemagne22 , hervorging. Am 9. April 1804 starb Jacques Necker in Coppet, seine Tochter kehrte, in Begleitung von Constant und August Wilhelm Schlegel, sofort nach Coppet zurück, um dort u. a. die Publikation der zurückgelassenen Schriften ihres Vaters vorzubereiten, mit einer eigenen Einleitung.23 Dies kann man als den zeitlichen Beginn der Gruppe von Coppet sehen. Ist Coppet somit einfach eine Weiterführung des Salons der République des lettres, von Paris ins kleine Coppet verlegt? Ja und nein. Ja, weil auch Coppet unter der Ägide einer Gastgeberin steht, weil liberaler Gedankenaustausch und Festhalten an einer Gemeinsamkeit des Denkens ebenso wie Witz und Geselligkeit seine Voraussetzungen bilden, weil auch Coppet ein Netzwerk darstellt, weil der Tagesablauf geregelt ist und die Kommunikationsformen dieselben sind: Gespräche, Theateraufführungen und Korrespondenzen, mit Briefwechseln mit den Abwesenden. Nein, weil Coppet natürlich nicht Paris ist, und die Gedanken aus dem idyllischen Schloss am Genfer See nach Paris gehen, wo um die andere Republik gekämpft wird. Nein, weil die Mitwirkenden nicht regelmäßig an einem Wochentag hinkommen, sondern auf einer längeren Reise für kürzere oder längere Zeit bleiben und sonst – wie jene, die überhaupt nicht kommen können – nur mit Korrespondenzen und Schriftenaustausch mit der Gruppe verbunden sind. Einzig die Kerngruppe, bestehend aus Madame de Staël, Benjamin Constant, August Wilhelm Schlegel, Karl Viktor von Bonstetten und Charles de Sismondi halten sich lange Zeit bzw. regelmäßig in Coppet auf, Constant und August Wilhelm Schlegel wegen ihrer persönlichen Beziehung zu Madame de Staël, Bonstetten und Sismondi, weil sie in unmittelbarer Nähe in Genf wohnen, vor allem in Coppet ein Milieu finden, das ihrem europäischen Denken entspricht.24 Dafür ist das Beziehungsnetz rein geographisch viel größer, es reicht von Amerika bis Russland und von Skandinavien bis Spanien und Italien.25 Dem tagtäglichen Leben auf Schloss Coppet und dessen Räumen ist man bis auf kleinste Détails nachgegangen,26 wichtiger scheint mir die Frage, was 22 Staël, Germaine de: Œuvres complètes de Madame la Baronne de Staël-Holstein, Genève 2014. (Neudruck der Ausgabe von Paris: Firmin, 1861), Bd. 2, S. 1–257. 23 Ebd., S. 261–290 („Du caractère de M. Necker et de sa vie privée“). 24 Vgl. dazu die Reaktionen von Bonstetten („Elle me manque comme un membre perdu. Je suis manchot de pensée.“) und von Sismondi („C’est donc fini de ce séjour où j’ai tant vécu, où je me croyais si bien chez moi. C’en est fait de cette société, de cette lanterne magique du monde que j’ai vu s’éclairer pour la première fois et où j’ai appris tant de choses! Ma vie est douloureusement changée.“), in: Hofmann, Rosset: Le Groupe de Coppet, S. 9f, ohne Angaben zitiert. 25 Vgl. dazu die Karte bei Priebe: Les Modes de sociabilité, S. 57. 26 Ebd., S. 69–108 (mit Illustrationen und Literaturangaben).
Die Gruppe von Coppet (1804–1817)
denn das Verbindende dieses ganzen Beziehungsnetzes ausmacht und was aus Coppet in die spätere Zeit ausstrahlt. Ich beschränke mich auf die wichtigsten Aspekte. 1.
Verbindung von freiem Denken, Kultur und Geselligkeit
Die Tradition des Salons ist in Coppet ganz lebendig, wobei „Geselligkeit“ nicht folkloristisch, sondern als sociabilité, als aktive Fähigkeit, ein sozialer Mensch unter Frauen und Männern zu sein, zu verstehen ist. Dazu gehören Gespräche in kleinen und großen Gruppen, Briefe mit den Abwesenden und kleine Billets in Coppet, Theateraufführungen mit den Anwesenden, gemeinsame Mahlzeiten und Spaziergänge. 2.
Publikum für geistige Produktion
Coppet bietet seinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit eines bestimmten, kritischen Publikums für eigene Gedanken und Texte. Wie in der Korrespondenz und auch beim Theaterspiel ist man immer in beiden Funktionen dabei, als Sender und Empfänger, das Ganze beruht auf Wechselseitigkeit. In klarem Gegensatz dazu steht der Journal intime, das Schreiben zu sich selbst, überhaupt die Einsamkeit des modernen Autors und wohl auch Gelehrten mit seiner Schrift. Aus dem homme de lettres wird der Intellektuelle. 3.
Aufklärung als republikanisches Prinzip, Kritik am 18. Jahrhundert
Auf die Angriffe von einzelnen Vertretern der Republik gegen die Aufklärung, diese sei ihrem Wesen nach aristokratisch, repliziert Madame de Staël in De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales: „Was gibt es Republikanischeres in der Welt als Aufklärung und Liebe zur Tugend?“27 Was an der Aufklärung mangelhaft sei, könne nur durch mehr Aufklärung verbessert werden, nicht gegen sie. Die Trennung von Philosophie und Politik im 18. Jahrhundert (wie sie hier beschrieben wurde), sei für beide Seiten fatal gewesen: „Was die Lettres abwertete, war der fehlende [öffentliche] Nutzen, und
27 Staël, Germaine de: Œuvres, hg. von Seth, Catriona, Cossy, Valérie, Paris 2017, S. 226: „Les furieux appellent aristocratie ce qu’il y a de plus républicain au monde, l’amour des lumières et la vertu.“
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was die Maximen der Regierung so wenig liberal machte, war die absolute Trennung von Politik und Philosophie.“28 Die Republik müsse die Menschen vom blinden Glauben befreien, den man früher für die Geheimnisse der Regierungskunst forderte. Die Republik brauche die freie Kritik, und die Intellektuellen brauchten deren Schutz. Auf die Gefahr von Machthabern, die sich der freien Geister nur so lange bedienten, bis zur Macht kämen, und von der „Tyrannei“ von Parteimeinungen, welche die Form der öffentlichen Meinung annehmen würden, wird deutlich hingewiesen.29 4.
Émulation (aemulatio)
Der Begriff der émulation30 – als Wettkampf, Steigerung, produktive Konkurrenz verstanden – ist zentral für Madame de Staël (und für Coppet). Er muss einerseits in Ergänzung zum gerade Gesagten (Stellung des Intellektuellen in der Republik) und andererseits zusammen mit dem anderen Schlüsselbegriff der perfectibilité 31 gesehen werden. Was nur bei sich selbst ist – ob das nun die geistige Welt eines einzelnen Menschen, eine Sprache oder eine Nation ist – droht mit der Zeit zu verarmen, wird steril. Es braucht das Gegenüber des anderen Menschen, der mich nicht bedroht, aber in Frage stellt, die fremde Sprache, welche die eigene nicht gefährdet, sondern bereichert, die Kultur der anderen Nation, welche die eigene auf den friedlichen Prüfstand bringt. Eine gesicherte Stellung könnte ja auch zu Indolenz führen. Das Verhältnis von Staatsmacht und Literatur (im breiteren Sinn des Schrifttums) wird deshalb als émulation verstanden, was einen Gegensatz voraussetzt. „Die Stärke des Geistes entwickelt sich ganz erst mit dem Angriff gegen die Macht.“32 So gewinne der 28 Ebd., S. 228f.: „Ce qui dégradait les lettres, c’était leur inutilité; ce qui rendait les maximes du gouvernement si peu libérales, c’était la séparation absolue de la politique et de la philosophie.“ 29 Ebd., S. 230. 30 Das Kapitel II/3 aus dem oben genannten Text, dem auch die vorangehenden Zitate entstammen. Ebd., S. 224–233: „De l’‚émulation‘“. Über die ‚émulation‘ selbst im zweiten Teil des Kapitels, S. 230–233. 31 Vgl. Hofmann, Rosset: Le Groupe de Coppet, S. 85–87. Die entgegengesetzten Einschätzungen der ‚Perfectibilité‘ von Rousseau und Condorcet (für den ersteren fatal und für den letzteren Quelle des Optimismus) sind bekannt, Madame de Staël folgt hier Condorcet. Vgl. dazu das Vorwort zur zweiten Ausgabe, Staël, Germaine de: Œuvres, hg. von Seth, Catriona, Cossy, Valérie, Paris 2017, S. 7–11, sowie den folgenden Satz aus dem „Discours préliminaire“: En parcourant les révolutions du monde et la succesion des siècles, il est une idée première dont je ne détourne jamais mon attention; c’est la perfectibilité de l’espèce humaine.“ Ebd., S. 31. 32 Staël, Germaine de: Œuvres, hg. von Seth, Catriona, Cossy, Valérie, Paris 2017, S. 226: „La force de l’esprit ne se développe tout entière qn’en attaquant la puissance; c’est par l’opposition que les Anglais se forment aux talents nécessaires pour être ministre.“
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spätere Staatsmann (der also zuerst als Intellektueller erscheint) sein geistiges Potential. Für den homme de lettres bedeute dies aber eine verbleibende Distanz zum Staatswesen, auch wenn er von diesem bezahlt werden sollte, er verbleibe im Gegensatz zum staatlichen Handeln, sein Denken sei in diesem Sinn nicht unmittelbar politisch, so wie der Staatsmann die Herausforderung annehmen, aber eigenständig politisch handeln müsse. 5.
Literatur
Die erste Schrift der 20-jährigen Madame de Staël beschäftigte sich mit dem Werk Jean-Jacques Rousseaus. Von ihm übernimmt sie einen sehr breiten Begriff des literarischen Werks und versteht ‚Literatur‘ überhaupt im umfassenden Sinne des allgemeinen Schrifttums, gelegentlich aber auch im heutigen, engeren Begriffsverständnis.33 (In diesem Schwanken zeigt sich die symptomatische Verschiebung des Literaturbegriffs zwischen dem 18. Jahrhundert und der Moderne an.) In der erwähnten Schrift von 1800 werden aus dieser Gesamtheit die Naturwissenschaften, die sciences physiques, ausgeschieden; die verbleibenden Texte werden, ohne klassifikatorische Reflexion, in ouvrages d’imagination (die Literatur im engeren Sinn) und philosophie aufgeteilt, wobei im Bereich der philosophie sich bereits die spätere Unterscheidung von Geistes- und Sozialwissenschaften abzeichnet.34 Der große erste Teil der Abhandlung ist im Grunde bereits eine Literaturgeschichte, von Homer bis 1789, neben der Opposition Anciens-Modernes ist eine zweite zwischen Norden und Süden, germanische littérature du Nord und griechisch-lateinisch-romanische littérature du Midi, mit Ossian und Homer als Urvätern bedeutsam. Der zweite Teil befasst sich zuerst mit der aktuellen Frage, was die Revolution mit der Aufklärung gemacht hat und was Literatur und Philosophie zu einer „freien und gerechten Republik“ beitragen könnten,35 und geht dann auf mehr systematische Fragen ein 33 In deutlichem Gegensatz zur Begriffsverwendung des 18. Jahrhunderts, in welcher im Französischen das mehr philosophisch-geisteswissenschaftliche Schrifttum als ‚lettres‘, die Literatur in unserem Sinn als ‚poésie‘ und ‚belles-lettres‘ bezeichnet werden, ‚littérature‘ dagegen mehr die Bildung einer Person bzw. die Gesamtheit des Schrifttums zu einer bestimmten Frage im Sinne der Bibliographie meint. 34 Ebd., S. 14: „Avant d’offrir un aperçu plus détaillé du plan de cet ouvrage, il est nécessaire de retracer l’importance de la littérature, considérée dans son acceptation la plus étendue; c’est-à-dire, renfermant en elle les écrits philosophiques et les ouvrages d’imagination, tout ce qui concerne enfin l’exercice de la pensée dans les écrits, les sciences physiques exceptées.“ 35 Ebd., S. 106f: „Personne ne conteste que la littérature n’ait beaucoup perdu depuis que la terreur a moissonné, dans la France, les hommes, les caractères, les sentiments et les idées. […] [J]e considérerai de quelle perfectibilité la littérature et la philosophie sont susceptibles, si nous
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wie eben die émulation, die Rolle der Frau in der Literatur, literarischen Geschmack, Stil und Rhetorik. Nebst einigen Unterscheidungen, welche in die Zukunft weisen, wird die bisherige Offenheit des Literaturbegriffs weitgehend übernommen und vor allem auch selbst praktiziert: Ganz offensichtlich wird es in Coppet als wünschenswert angesehen, dass man schreibend sich in verschiedenen Gebieten und auf beiden Seiten: literarisch und philosophisch betätigt. Das ist nicht nur bei Madame de Staël und Constant so, als Beispiel sei jetzt nur Jean de Sismondi aus Genf erwähnt, dessen eigentliches Arbeitsgebiet die Ökonomie war, zu der er bedeutende Schriften verfasste; gleichzeitig schrieb er aber auch nebst vielem anderem eine Geschichte der romanischen Literatur, eine Geschichte der italienischen Kleinrepubliken des Mittelalters und einen historischen Roman. Den Plan für eine gesamteuropäische Literaturgeschichte konnte er nur entwerfen, nicht ausführen.36 6.
Komparatistik: Vergleichende Sprache und Kultur als Gegenwelt
Coppet ist mehrsprachig, alle Mitglieder der Kerngruppe beherrschen mehrere Sprachen und übersetzen auch. Der Zusammenhang von Übersetzung und Kulturvergleich ist evident, Madame de Staël formuliert ihn prägnant: Man kann der Literatur keinen größeren Dienst erweisen, als die Meisterwerke des menschlichen Geistes von einer Sprache in die andere zu übersetzen. Es gibt so wenige erstrangige Werke, und das Genie, welcher Art auch immer, ist ein so seltenes Phänomen, dass jedes moderne Land, wenn es denn auf seine eigenen Reichtümer reduziert würde, immer arm bleiben würde. Im Übrigen verspricht die Zirkulation der Ideen, unter allen Arten des Austauschs [commerce], den sichersten Gewinn.37
Identität und Differenz sind für das Politische wichtig, für Sprache und Kultur geht es um die Kollation des Verschiedenen, das verschieden bleibt, aber vergleichbar wird. Mit Madame de Staël beginnt die Komparatistik. nous corrigeons des erreurs révolutionnaires, sans abjurer avec elles les vérités qui intéressent l’Europe pensante à la fondation d’une république libre et juste.“ 36 Vgl. dazu Rosset, François: Écrire à Coppet: nous, moi et le monde, Genève 2002, Kap. III, S. 65–82: „Sismondi et l’histoire de la littérature européenne“. 37 De „l’esprit des traductions“ (1816), in: Staël, Germaine de: Œuvres complètes de Madame la Baronne de Staël-Holstein, Genève 2014. (Neudruck der Ausgabe von Paris: Firmin, 1861), S. 294–297, hier 294: „Il n’y a pas de plus éminent service à rendre à la littérature, que de transporter d’une langue à l’autre les chefs-d’œuvres de l’esprit humain. Il existe si peu de productions du premier rang; le génie, dans quelque genre que ce soit, est un phénomène tellement rare, que si chaque nation moderne en était réduite à ses propres trésors, elle serait toujours pauvre. D’ailleurs, la circulation des idées est, de tous les genres de commerce, celui dont les avantages sont les plus certains.“
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In De l’Allemagne versucht Madame de Staël dem französischen Publikum deutsche Geschichte und Kultur vergleichend zu vermitteln; dass dieser Versuch auf beiden Seiten des Rheins neben Begeisterung auch auf große Kritik stieß, ist bezeichnend. Es steht außer Frage, dass sie dabei von den früheren sprach- und literaturvergleichenden Arbeiten von August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie deren Übersetzungen38 profitieren konnte, es bestätigt nur die produktive Wirkung von Coppet gegenüber nur der nur allzu rasch einsetzenden Tendenz, Französisch und Deutsch als unversöhnlichen Gegensatz zu denken. Die Liebe zu Vergleich und Gegenüberstellung findet sich bei vielen anderen Autoren im Umkreis von Coppet, als Beispiel sei die deutsch-französische Doppelverwurzelung der beiden Schweizer Karl Viktor von Bonstetten und Johannes von Müller in Sprache und Werk erwähnt. Es gab sogar eine komparatistische Erotik von Charles de Villers, dem Kant-Übersetzer und Freund Constants, in welcher, ausschließlich mit Bezug auf Literatur, die idealistische deutsche Liebe mit der frivolen französischen konfrontiert wird, ein anderes, bleibendes Cliché.39 7.
Geographischer Raum
Von der Erstreckung des geographischen Raums war bereits die Rede. Er wird von zwei Hauptgegensätzen durchmessen: Norden versus Süden (NordeuropaSüdeuropa) und Osten versus Westen (Deutschland-Frankreich). Auffällig ist das weitgehende Fehlen der slawischen Welt, obwohl auch Personen aus Russland und Polen zum Umkreis von Coppet zählen. In den Nord-Süd-Vergleich fließen nicht nur Vorurteile ein, wie sie auch heute aktuell sind, sondern auch die Vorstellung, dass in politischen Dingen eher die britisch-amerikanische Welt Vorbild sein kann, in kulturellen die romanische Welt. 8.
Europa
Zwei einzelne Äußerungen von Madame de Staël und von Stendhal werden immer wieder als Zeugnisse für die Entstehung Europas aus Coppet (in einem Theaterstück wurde diese Geburt sogar buchstäblich in den Schoß der Mutter
38 Die Schlegel-Tiecksche Shakespeare-Übersetzung wird als ein besonders geglücktes Beispiel hervorgehoben. Ebd., S. 296. 39 Eggli, Edmond: L’„érotique comparée“ de Charles de Villers (1806). Paris 1927.
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von Madame de Staël gelegt40 ) zitiert. Madame de Staël in De l’Allemagne: „In den modernen Zeiten muss man einen europäischen Geist haben.“41 Und Stendhal schreibt 1817 in einem Reisetagebuch Coppet „die Etats généraux de l’opinion eurpéenne“42 zu. Beide scheinbar emphatischen Äußerungen sind mit Vorsicht zu genießen: Madame de Staël bezieht sie auf Jean Paul, es geht um den literaturvergleichenden Raum Europa. Und Stendhals Äußerung ist ein on-dit, welches er in späteren Fassungen des Textes gestrichen hat; Europa als Kulturraum und die politische Dimension bleiben deutlich getrennt, Coppet könnte allenfalls eine politische Bedeutung haben. Die Etats généraux von Europa haben auch heute noch nicht stattgefunden, dem vergleichenden Europa von Coppet fehlte schon damals eine politische Konstitution, vielmehr war man sich einig in der Ablehnung von Napoleons vereinigtem Europa. Und auch das vergleichende Europa war für viele eine Phase, eben die Zeit und die Gruppe von Coppet, schon vor und erst recht nach 1815 orientierten sich viele in nationalen und nationalistischen Zusammenhängen, die Schlegel-Brüder sind da nur das bekannteste Beispiel. 9.
Ausstrahlung in die Schweiz
Diesen Teil kann man kurz fassen, von einer Ausstrahlung lässt sich, von den direkt Beteiligten abgesehen, im 19. Jahrhundert kaum sprechen. Und auch im 20. Jahrhundert beschränkt sich das Interesse für Coppet, für Germaine
40 Dieses „Geisterstück“ von Yves Laplace (Staël ou la Communauté eurpéenne [1989] bzw. la Communauté des esprits [1992]) erwähnt Bernhard Dieterle: „Jenseits des Rheins – Germaine de Staël und August Wilhelm Schlegel.“ In: Knoche, Ritter-Santini (2007), S. 175–192, S. 175. 41 Staël: Œuvres complètes (1861/2014), S. 151: „Il faut, dans nos temps modernes, avoir l’esprit européen; les Allemands encouragent trop dans leurs auteurs cette hardiesse vagabonde qui, tout audacieuse qu’elle paraît, n’est pas toujours dénuée d’affectation. […] On pourrait prier J. Paul de n’être bizarre que malgré lui […].“ 42 Stendhal: Rome, Naples et Florence en 1817. Paris 1817 S. 335f.: „ SALON DE COPET [sic]. 6 juillet [1817]. On me raconte qu’il y a eu cet automne, sur les bords du lac, la réunion la plus étonnante; c’étaient les états généraux de l’opinion européenne. […] Ai-je besoin de nommer le personnage étonnant qui était comme l’âme de cette grande assemblée? A mes yeux ce phénomène s’élève jusqu’à l’importance politique. […] Les auteurs évri[v]aient pour être estimés dans le salon de Cop[p]et. Voltaire n’a jamais eu rien de pareil. Il y avait sur les bords du lac six cents personnes des plus distingués de l’Europe. L’esprit, les richesses, les plus grands titres, tout cela venait chercher le plaisir dans le salon de la femme illustre que la France pleure.“ (Offensichtlich wurde der Text nach dem Tod von Madame de Staël am 14. Juli 1817 redigiert.) Vgl. Mortier, Roland: „Les États généraux de l’opinion européenne.“ Le groupe de Coppet et l’Europe, 1789–1830, in: Actes du cinquième colloque de Coppet. Annales Benjamin Constant 15–16 (1994), S. 17–24.
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de Staël und für Benjamin Constant weitgehend auf die Romandie. Man ist versucht, Johannes von Müllers Vorrede seiner Allgemeinen Aussicht über die Bundesrepublik im Schweizerland von 1777 zu zitieren: „In kleinen Staaten ersterben große Gedanken aus Mangel großer Leidenschaften.“43 Ob das ein Glück oder ein Unglück ist, bleibe dahingestellt. 10.
Coppet: Fortführung oder Ende der „République des lettres“?
Mit der Französischen Revolution und der aus ihr entstehenden politischen Republik verändern sich die Positionen: Mit der politischen Republik, auch wenn diese nur ein fernes Ideal in der öffentlichen Diskussion ist, verliert die République des lettres ihre Ausnahmestellung. Wie am Beispiel Benjamin Constants gezeigt, stehen viele Autoren (und später auch Autorinnen) vor der Wahl zwischen einem politischen Engagement und der Einsamkeit des Schreibens, eine vermittelnde Öffentlichkeit, ein bestimmtes Publikum im Sinne des Salons gibt es nur in den seltensten Fällen. Die Bindung an das Schrifttum, die Vermittlung durch Publizieren verstärkt sich. Zugleich beginnt sich das Schrifttum neu zu organisieren: national und in Disziplinen und Hochschulen. In diesem Sinn nimmt Coppet mit seiner weiten Ausstrahlung eine Zwischenstellung ein, in welcher der Glanz der Res publica litteraria für einen beschränkten Zeitraum bewahrt bleibt, der mit dem Tod von Madame de Staël und dem Beginn der Restauration sein Ende findet. Daran hat sich wohl bis heute nichts mehr geändert. An die Stelle der Res publica litteraria tritt nur wenige Jahre später, in ersten Notizen und Anmerkungen Goethes, der Begriff der Weltliteratur.44 Doch das ist eine andere Geschichte. Literaturverzeichnis Anonymus: „Brève histoire de la République des lettres.“ http://republique-deslettres.com, letzter Zugriff: 31. Oktober 2018. Balayé, Simone: ‚Madame de Staël. Le groupe de Coppet‘. In: Manuel d’histoire littéraire de la France, hg. von Pierre Abraham, Roland Desné et al. Bd. IV.1: 1789–1848 (1972), S. 176–201.
43 In: Howald, Stefan: „In kleinen Staaten ersterben große Gedanken aus Mangel großer Leidenschaften“. Begegnungen mit Johannes von Müller. Ein Lesebuch, Göttingen 2003, S. 141. 44 Birus, Hendrik: Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung, in: Schmeling, Manfred (Hg.): Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, Würzburg 1995, S. 5–28.
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Eda Sagarra (Trinity College Dublin, University of Dublin)
Citoyen Fontanes res publica Revolution – Vaterland – Kunst
Der Ausdruck „Gemeinwohl“ (engl. common good bzw. das ältere common weal1 ) im Sinn des Wohls aller citoyens ist beim Macaulay- und Carlisleleser Theodor Fontane bislang nicht belegt,2 wohl aber kämpft der im Vormärz sozialisierte und im Revolutionsjahr 1848‒1849 Radikaldemokrat um die Republik im Sinne einer res publica. Fast ein halbes Jahrhundert später, als es den hochbetagten Fontane bei abnehmender Kraft drängte, seine vielen Projekte zu Ende zu bringen, widmete er dem Roman von den spätmittelalterlichen Nord- und Ostsee Likedeelern [nd. ‚Gleichteiler‘],3 die eine utopische Republik der Gleichen anstrebten, seine beste Arbeitszeit. Das Likedeeler-Projekt blieb zwar Fragment, aber sein Ideengehalt bildete den Subtext von Fontanes letztem großen politischen Zeitroman Der Stechlin (1898). Das Solidaritätsgefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten im Dienst der Freiheit und Gleichheit ‚ihrer‘ Republik, die bei allen Unterschieden von Temperament und persönlichen Umständen die Vormärzgeneration kennzeichnete, sollte Fontane in den wechselhaften Stadien seiner späteren Laufbahn als Schriftsteller nie wieder so erfahren. Zum Teil war das den politischen Umwälzungen seines ‚Jahrhunderts in Bewegung‘4 zu verdanken, als sich der mittellose nicht mehr ganz junge Dichter im Literaturmarkt der Zeit zu etablieren suchte. Dennoch wird man Fontane sowohl in seiner politischen Haltung wie auch in seinem wandelnden Verständnis von Gemeinwohl ein opportunistisches Element nicht absprechen können, namentlich im Nachmärz, als der einstige Freiheitsdichter5 im Herbst 1850 bei den neuen 1 Vgl. das heutige Wort Commonwealth. 2 Ich bin für diese Information Gabriele Radecke Herausgeberin (u. a.) der Fontaneschen Notizbücher zu Dank verpflichtet. 3 Auch Vitalienbrüder genannt, vgl. Fontane, Theodor: Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays, Bd. 1, hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, Berlin/New York 2016, S. 38‒96. 4 So der Untertitel von D’Apriles Biographie: D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018. 5 S. seine Antwort vom 12. Oktober 1848 auf Lepels Anklage (s. u.): „[…] ich will keine Republik, um sagen zu können, ich lebe in solcher. Ich will ein freies Volk, Namen tun nichts zur Sache […]“ oder 17. Juni 1876 an Mathilde von Rohr: „mir ist die Freiheit Nachtigall“, in: Fontane,
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Machthabern eine Anstellung annahm, wie auch in seiner Kreuz-Zeitungszeit 1860‒1870 und in den gelegentlichen patriotischen Gedichten der Bismarckzeit. Schon September 1848 konnte ihm sein Freund Bernhard von Lepel mit Recht die Unbeständigkeit seiner politischen Gesinnungen vorwerfen: „Du warst erst ein Liberaler u [sic] Rationaler, dann ein gemäßigter Liberaler u machtest den Supranaturalisten Concessionen und nun bist Du ein Republikaner u. im Uebrigen vielleicht ein Heide geworden“6 (FL I. 84). Historisch versiert und politisch interessiert von Jugend auf dank der ‚sokratischen Lehrmethode‘ seines Vaters Henri7 war dem 1819 in Neuruppin/ Brandenburg geborenen Fontane der politische Kontext seiner Welt stets gegenwärtig. Als Koloniedeutscher8 bürgerlich geboren ‒ sein Vater war ein damals wohlhabender Apotheker, dessen Vater Bartholémy einst Prinzenerzieher und Kabinettssekretär der Königin Luise von Preußen war, seine Mutter eine Seidenfabrikantentochter ‒ wurde Theodor als ältester Sohn bis zur Pubertät bürgerlich erzogen. Wegen Henri Fontanes Spielfreudigkeit und dem Verlust des Familienvermögens blieb ihm jedoch angesichts seiner von ihm selbst als lückenhaft bezeichneten Schulbildung und als Nichtstudierter ein selbstverständlicher Platz in der hierarchischen und vom Statusdenken beherrschten Welt des preußisch-deutschen Bürgertums versagt, was große und lang anhaltende Auswirkungen für sein Selbstbewusstsein und auf seine politische Haltung gegenüber dem offiziellen Preußen mit sich brachte. Immer wieder in den mittleren Jahren seiner Karriere ‒ und gelegentlich um den Preis eines gewissen Grads an Anbiederung bei den Machthabern ‒ versuchte er sich eine Position als freischaffender Künstler in seiner Heimat zu sichern, wie es anderen Theodor: Briefe. Erste wort- und buchstabengetreue Edition nach den Handschriften, hg. von Kurt Schreinert und zu Ende geführt von Charlotte Jolles, Berlin1968–71. 4 Bde. Bd. 3: An Mathilde von Rohr; Bd. 4: An Karl Zöllner, S. 7–135, An Hesekiel, S. 139–160, hier S. 163. Weiter im Text als BSJ I–IV. 6 Fontane, Theodor, von Lepel, Bernhard: Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. von Gabriele Radecke (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 5). 2 Bde, Berlin/New York 2006, S. 84. Im Text als FL 1‒2. Für Charlotte Jolles, die für ihre 1939 abgeschlossene Dissertation sämtliche der inzwischen nur z. T. noch vorhandenen Tagebücher verwerten konnte, waren hier mitverantwortlich Fontanes lebenslänglich starke Stimmungsschwankungen. Vgl. Jolles, Charlotte: Theodor Fontane, (Sammlung Metzler, Bd. 114) Stuttgart 1972, 4. erw. Aufl. 1993, S. 16. 7 Fontane, Theodor: Autobiographische Schriften, Bd. 1: Meine Kinderjahre, hg. von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1982, S. 125‒126. 8 Einige 20,000 französische Kalvinisten, die nach der 1685 erfolgten Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. Frankreich verlassen mussten, fanden dank dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm in Brandenburg/Berlin eine neue und privilegierte Heimat. Vgl. Erhard, Walter: Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, in: von Grawe, Christian, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 24: „Der Abkömmling französischer Glaubensflüchtlinge war Hugenotte und Preuße zugleich“.
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gelang; immer wieder schlug sie fehl. Die „ideologischen Häutungen“, die er durchgemacht hat9 , sind in der Tat auffällig: Im Vormärz liberal-oppositionell, im Sommer 1848 Barrikadenbauer in der Berliner Revolution mit Kontakten etwa zum Zweiten Kongress der Deutschen Demokraten in Berlin, von 1849 bis Anfang 1850 mit feuriger journalistischer Stimme in den Spalten der radikalen Berliner- bzw. Dresdner Zeitung gegen den ‚Schandstaat‘ Preußen eifernd, fand man ihn ein knappes Jahr danach im Pressedienst der Konterrevolutionären. Dieser Schritt brachte dem arbeitslosen und heiratslustigen Apothekergehilfen ein karges Unterkommen im Pressedienst der restaurativen Regierung. Am 9. November 1851 gestand er, dass er wie manch damaliger Dichterkollege ein „Glorifications-Gedicht“ auf den Ministerpräsidenten „Herrn von Manteuffel“ geschrieben habe.10 Der Entschluss stürzte ihn in einen inneren Zwiespalt und jahrelang andauernde Unsicherheit, führte aber zu den an Erfahrungen so reichen England-Jahren (1852, 1855‒1859), die seine ganze weitere literarische Produktion beeinflussten.11 Zwanzig Jahre lang blieb er im Dienst des konservativen preußischen Staats bzw. ab 1860 als Englandkorrespondent für das ultrakonservative Presseorgan und Bismarckische Leibblatt, die Neue-Preußische Zeitung, genannt Kreuz-Zeitung. Vormittags absolvierte er sein Arbeitspensum, nachmittags wurde der jetzt preußentreue und stets marktbewusste Patriot zum ‚vaterländischen‘ Dichter. Zwischen 1862 und 1876 erschienen vier Bände lokalpatriotischer Wanderungen durch die Mark Brandenburg und weitere vier Bände bzw. acht Halbbände Kriegsbücher. Vom Autor sind diese im Kontext der politischen Umwälzungen der Zeit als Beitrag zur Stärkung des preußischen Staatspatriotismus gedacht. Drei Bände beinhalteten die eigenen Reiseerlebnisse, darunter das lebhaft geschriebene Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 (1871). 1871 wurde nicht nur für Deutschland, sondern auch für Fontane zum Schicksalsjahr: Im Oktober 1870 der standesrechtlichen Erschießung als preußischer Spion knapp entgangen und im Dezember 1870 nicht zuletzt dank Bismarcks Vermittlung aus französischer Kriegsgefangenschaft befreit, tauschte er auf weitere zwanzig Jahre seine Arbeit bei der Kreuz-Zeitung mit der liberalen Vossischen Zeitung als deren Theaterkritiker. 1876 erlangte Fontane zum ersten Mal eine feste, pensionsberechtigte Position im preußischen Staatsdienst, gab sie jedoch nach sechs Monaten wieder auf, um im Alter von siebenundfünfzig endgültig den Schritt zu wagen, sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Damit 9 Streiter-Buscher, Heide: Die politische Journalistik, in: Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 788‒806, hier, S. 788. 10 FL I, S. 307. Zum Zeitkontext siehe Fischer, Hubertus: Theodor Fontane, der „Tunnel“, die Revolution. Berlin 1848/49, Berlin 2009, S. 17‒38: Fontanes ‚Achtzehnter März‘. Neues zu einem alten Thema; ‚Hurra Blücher!‘ und ‚Hurra Wrangel!‘, S. 180‒192. 11 Vgl. Jolles, Charlotte: Theodor Fontane, (Sammlung Metzler, Bd. 114) Stuttgart 1972, 4. erw. Aufl. 1993, S. VII.
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stürzte er sich in eine familiäre Krise, die seine Ehe, bisher das einzig wirklich Stabile in seinem Leben, ernstlich gefährdete.12 Zwei Jahre später erschien sein erster von ihm als „vaterländisch“ bezeichneter Roman Vor dem Sturm, die Frucht fast fünfzehnjähriger Arbeit, gefolgt von sechzehn weiteren Novellen und Romanen. Keines der Fontaneschen Erzählwerke ausser Effi Briest (1895) erzielte mehr als einen Achtungserfolg. Enttäuscht verglich er 1883 seinen ‚mäßigen Anstands-Erfolg[e]‘13 mit dem seiner Schriftstellerkollegen Gustav Freytag, Friedrich Spielhagen oder des späteren Nobelpreisträgers Paul Heyse.14 Doch im nun sicheren künstlerischen Selbstgefühl wusste er endlich, was er im Gegensatz zu den meisten Bestsellerautoren seiner Zeit zu leisten vermochte ‒ die Romankunst. Die hohen Ansprüche, die er an seine Kunst stellte, welche ihm gelegentlich tagelanges Suchen nach dem ‚richtigen‘ Wort abverlangten und auch schon mal ein ganzes Jahr für eine einzige Novelle erforderten, dienten nach seiner Ansicht dem ,Gemeinwohl der Kunst‘, auf die er stolz war. Nun meint er ohne Arroganz feststellen zu können: Er sei „ein Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt, als eine Kunst, deren Anforderungen er versteht“15 . Oder ein Jahr später anlässlich des Romans Graf Petöfy: „Und doch darf ich erhobenen Hauptes die Frage stellen: wer ist denn da, der dergleichen schreiben kann? Keller, Raabe, Storm, drei große Talente, - aber sie können das gerade nicht […]“16 . Ein beträchtlicher Teil des Fontaneschen Briefkorpus von mehr als viertausend noch vorhandenen Briefen dokumentiert des Autors Bewusstsein, die eigene literarische Produktion, ob als Lyriker, Balladendichter, Dramatiker, Journalist, Feuilletonist, vaterländischer Schriftsteller, Theater- und Kunstkritiker und schließlich Erzähler an die Anforderungen des dynamischen deutschen 12 Zum Teil dokumentiert in: Fontane, Emilie und Theodor: Der Ehebriefwechsel, 3 Bde. Bd. 1: Dichterfrauen sind immer so. Der Ehebriefwechsel 1844–1857; Bd. 2: Geliebte Ungeduld. Der Ehebriefwechsel 1857–1871; Bd. 3: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898, hg. von Erler, Gotthard unter Mitarbeit von Therese Erler (Große Brandenburger Ausgabe), Berlin/Weimar 1998, hier Bd. 3, S. 63–77. (Briefe vom 31. Juli bis 18. August 1876). Weiter im Text als FE 1–3. Dazu die Briefe an die Sympathisante Mathilde von Rohr vom 1. Oktober und 30. November 1876, in: Fontane, Theodor: Briefe. Erste wort- und buchstabengetreue Edition nach den Handschriften, hg. von Kurt Schreinert und zu Ende geführt von Charlotte Jolles, Berlin 1968–1971. 4 Bde. Bd. 3: An Mathilde von Rohr; Bd. 4: An Karl Zöllner, S. 7–135, An Hesekiel, S. 139–160, hier Bd. 3, S. 169–176. Weiter im Text als BSJ I–IV. 13 BSJ III, S. 208 14 Etwa im Kontrast seines einfachen Hotels mit dem von Friedrich Spielhagen in der Sommerfrische auf Nordernei, aber auch (so Fontane) im höchst unterschiedlichen künstlerischen Niveau (FE 3, S. 345–346, 21. Juli 1883). Fontane neigte allerdings dazu, seinen im Vergleich geringeren Erfolg zu übertreiben ‒ nicht von ungefähr haben die Vereinsfreunde ihn zeitweise mit dem Namen ‚Nöhl‘ (‚Klagegeist‘: nöhlen= beklagen) bedacht. 15 17. August 1882. FE 3, S. 279. 16 16. Juni 1883. FE 3, S. 316.
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Literaturmarkts anpassen zu müssen. Gleichzeitig und namentlich im Ehe- und Freundesbriefwechsel dokumentiert er sein Bestreben jenen Anforderungen zu genügen, die er an seine Kunst als selbstverständliche gesellschaftliche Aufgabe des Schriftstellers in seiner Zeit stellte, d.i. unabhängig von seinen wechselnden politischen Haltungen, die anders motiviert waren. Solches Selbstbewusstsein lag allerdings in weitester Zukunft, als der knapp zwanzigjährige Fontane seine ersten lyrischen Gedichte in der Berliner Zeitschrift Figaro publizierte. Die Vormärzzeitschriften, die der sein Leben lang eifrige Zeitungs- und Zeitschriftenleser in den Lesezirkeln, Lesehallen und Cafés von Berlin, Leipzig und Dresden vorfand, wurden trotz der Zensur neben den literarischen Klubs und Vereinen zu seiner politischen Schule. Kaum ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts bewegte sich in dem Geflecht von Verlagen, Buchhandel, Literaturkritik, Publikationsorganen aller Art, literarischen Gruppen und Vereinen, kulturpolitischen Institutionen mit gleicher Intensität wie Fontane, kaum einer hat es so treffend und einsichtsvoll reflektiert wie er.17 War Fontane früher Anhänger des dem lyrischen Stimmungsgedicht gewidmeten Berliner Lenau- bzw. Platen-Klubs, nahm er 1843 während seiner Dresdener Lehrzeit Kontakt zum illegalen, burschenschaftlichen HerweghKlub auf.18 Im Berliner Literatenverein „Tunnel über der Spree“, in den Lepel ihn 1843 einführte, trafen sich die Mitglieder allwöchentlich zum Lesen und kritischen Diskutieren ihrer dichterischen Werke. Die Mitglieder, egal ob adlige Offiziere, Akademiker, höhere Staatsbeamte, Kunstmaler, Gymnasiallehrer oder wie Fontane Apothekergehilfe, bekamen beim Eintritt gleich einen Dichternamen ‒ Fontane zum Beispiel hieß „Lafontaine“ ‒, so dass hier Rangunterschiede tatsächlich keine Rolle spielten.19 Er blieb über ein Jahrzehnt aktives Mitglied, zeitweilig auch Protokollant.20 Im Laufe der 50er Jahre zog er allmählich den intimeren Kreis zweier Abspaltungen des Tunnels vor, den nach Schillers Wilhelm Tell genannten Rütli- und den Ellora-Verein. Das ausgedehnte poetologische 17 Fontane und das literarische Leben seiner Zeit, in: von Grawe, Christian, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000b, S. 192–280, hier S. 192. 18 „Es kam die Herwegh-Zeit. Ich machte den Schwindel gründlich mit, und das Historische schlug ins Politische um“, schrieb Fontane 1854 an Storm, abgedrückt in Von Zwanzig bis Dreißig, in: Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Nebst anderen selbstbiographischen Zeugnissen, hg. von Kurt Schreinert und Jutta Neuendorff-Fürstenau, München 1973, S. 434. 19 Zum Tunnel siehe Berbig, Roland: ‚[…] den lang entbehrten Lafontaine wieder in seiner Mitte‘. Fontanes Rückkehr in den ‚Tunnel über der Spree‘ 1859/60 (Fontane Blätter 58, 1994), S. 43–61. 20 Fontane, Theodor: Autobiographische Schriften, Bd. 1: Meine Kinderjahre, hg. von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1982, S. 195–344.
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Briefgespräch mit Lepel, seinem Vorgesetzten im Militärjahr (1844‒1845) beim Kaiser-Franz-Regiment, gewährt uns einen Einblick in Fontanes Gedankenwelt und die dichterische Entwicklung dieser Jahre. Beide Männer waren erfüllt vom Glauben an ihre Dichtersendung. In Gespräch und Brief wurde wöchentlich, zuweilen auch täglich, jedes entstehende Werk, ob Lyrik oder Drama, Wort für Wort von dem Briefpartner kritisch erwogen und diskutiert. In den so bewegten 40er Jahren herrschten unter diesen Möchtegern-Dichtern gerade für Preußen seltene demokratische Umgangsformen, so dass Fontane abends ohne Umstände seine ärmliche chambre garnie mit Lepels bequemen Offiziersquartieren tauschen konnte. 1840 war der als liberal geltende Kronprinz seinem Vater Friedrich Wilhelm III. (1797‒1840) als Friedrich Wilhelm IV. auf den Thron gefolgt. Kaum drei Jahre später jedoch ließ der neue König die von ihm kürzlich aufgehobene Pressezensur wiedereinführen, und zwar mit polizeilichen Strafmaßnahmen gegen Oppositionelle. Über Nacht wurden das lyrische und das vertonte Gedicht zu „Medien der politischen Kommunikation und Agitation“21 . Die Gestalt des armen schlafenden deutschen Michel22 diente nun als Kampfaufruf an die Deutschen gegen ihre staatliche Unterdrückung, versinnbildlichte jener doch ‒ neben vielen anderen Dichtern bei Heinrich Heine in den Zeitgedichten ‒ die erbärmliche politische Lage und die Labilität des deutschen citoyen.23 In den Folgejahren avancierte auch der „vorher scheinbar farblose Literat“ noch vor Ausbruch der Revolution am 18. März 1848 „zu einem politisch hochmotivierten Autor mit markanter Stimme“24 , zunächst im Sinne der res publica. Diese „markante Stimme“ ist in geradezu allen Fontaneschen Texten der Folgejahrzehnte zu verspüren, ob es vordergründig um den Ton der Debatten im englischen Unterhaus als Charakterisierung des dortigen politischen Systems, um die Rolle der Landadligen in den Wanderungen, um ein Huldigungsgedicht an den ‚Reichsgründer‘ Otto von Bismarck geht, oder 21 Fischer, Hubertus: Theodor Fontane, der „Tunnel“, die Revolution. Berlin 1848/49, Berlin 2009, S. 9. 22 Als Beispiel unter Hunderten sei Robert Sabatkys immer wieder nachgedrucktes Flugblatt Der deutsche Michel mit dem Text von Marx-Gefährten Karl Köppen (1842), abgedruckt bei Szarota (1988, S. 161), erwähnt. Köppen beschreibt hier das Gedränge vor einer Berliner Buchhandlung, wo die gerade erst erschienenen politischen Flugblätter, Gedichte oder Karikaturen ausgestellt lagen, bevor die Poliziei sie konfiszieren konnte. Hierzu Sagarra, Eda: ‚Das war ich?‘ Der deutsche Michel in Fontanes Jahrhundert“, in: Fontane Blätter 100, 2015, S. 12‒29. 23 Noch im seinem letzten Roman wird im Gespräch zwischen Czako und Dubslav auf den mangelnden Sinn des „Bourgeois“ für die civitas angespielt: Fontane, Theodor: Der Stechlin, in: Ders.: Das erzählerische Werk, Bd. 17, hg. von Klaus-Peter Möller. Große Brandenburger Ausgabe, Berlin/Weimar 2001, S. 30. 24 Erler, Gotthard: Das Herz bleibt immer jung. Emilie Fontane. Eine Biografie, Berlin/Weimar 2002, S. 10.
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aber in den hundertfachen verschleierten, zumeist kritischen Anspielungen auf Zeitaktuelles, Persönlichkeiten wie Begebenheiten, die im Subtext seiner Erzählwerke eingebettet sind.25 In den verschiedenen Stadien seiner schriftstellerischen Laufbahn mochte sein Verständnis des Gemeinwohls, dem der Dichter zu dienen habe, geschwankt haben, konstant verblieb ihm sein Sendungsbewusstsein als Dichter und homo politicus, dessen Mangel an Erfolg er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1891: Die gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers in unserer Zeit beklagte. Fontanes aktive Teilnahme an der Berliner 1848er Revolution ‒ die er später sorgfältig zu kaschieren wusste26 ‒ hatte unausweichliche Folgen für seine Berufsaussichten nach der gewaltsamen Unterdrückung der Aufständischen durch das preußische Militär. Seit fünf Jahren verlobt und noch immer ohne feste Arbeit ergab sich der einstige Apothekergehilfe in sein Schicksal. Dank Vermittlung des einflussreichen väterlichen Freundes und Vereinskollegen Kammergerichtsrat Heinrich von Merckel27 kam der allmählich durch seine Balladen bekannt werdende Dichter beim Regierungsorgan, dem Literarischen Kabinett, unter. Äußerst verbittert (nicht zuletzt gegen sich selbst) schrieb er an Lepel: „Ich habe mich heut der Reaction für monatlich 30 Silberschillinge verkauft. […] Man kann nun ’mal als anständiger Mensch nicht durchkommen“28 . In den nächsten zwei Dezennien blieb Fontane von der (Un)gunst eines reaktionären Regiments abhängig. In dieser Situation kam ihm eine sozusagen alternative öffentliche Sphäre zu Hilfe, die als Produkt literarisch interessierter Berliner Freundeskreise in der Jahrhundertmitte entstanden war. Wie Fontane es selbst am 7. Januar 1851 an Lepel formulierte: „Es bleibt einem nichts übrig als sich mit dem Geist in die Vergangenheit und mit dem Herzen in den Freundes- und Familienkreis zu flüchten, - das geschieht denn auch und geschehe immer mehr“29 . Denn anders als in den Staaten West- bzw. Nordeuropas wie Großbritannien, 25 Zum politischsten deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts neben Heine gibt es eine reichhaltige Literatur: Sieh neben Jolles (1983) etwa Loster-Schneider und zur wilhelminischen Epoche Sagarra (1986) und Craig (1997). 26 Schon 1939 machte Charlotte Jolles in der erst nach einem halben Jahrhundert erschienenen Druckfassung ihrer Berliner Doktorarbeit ‒ als Arbeit einer Halbjüdin durfte diese nicht veröffentlicht werden ‒ auf die Vorsicht aufmerksam, mit der Fontanes Bild seiner Tätigkeit im Revolutionsjahr in Von Zwanzig bis Dreißig und seine Stellung zur Berliner Revolution zu lesen sei. Siehe Jolles, Charlotte: Theodor Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, Berlin/Weimar 1983, S. 19, 48‒55. Hierzu auch Fischer, Hubertus: Theodor Fontane, der „Tunnel“, die Revolution. Berlin 1848/49, Berlin 2009, S. 17‒38. 27 Dank seiner Heirat mit Henriette von Mühler war Merckel (1810‒59) mit hochstehenden Staatsbeamten und Ministern verschwägert. 28 31. Oktober 1851. FL I, S. 302. 29 FL I. S. 226.
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Frankreich, den Niederlanden und Skandinavien fehlte im mitteleuropäischen Deutschen Bund (1815‒1867) und danach im Zweiten Kaiserreich eine authentische öffentliche Sphäre. Die kompensatorische Funktion dieser halb-privaten ‚Öffentlichkeit‘, dieser res publica der Geister im Kleinen, wird in Fontanes ausgedehnter Korrespondenz der Zeit anschaulich. Ihre Ausdrucksformen waren dreierlei: Privatkorrespondenz, die einen institutionellen Rahmen vorgebenden Literaturvereine und die charakteristischen sozialen Rituale des städtischen deutschen Mittelstands. Den Begriff ‚Privatkorrespondenz‘ haben wir nicht im heutigen Sinn zu verstehen, denn die einzelnen Briefe wurden zu einer Art Gemeingut, im weiten Familien- und Freundeskreis herumgereicht und kommentiert. Trotz ständiger Zeitnot widmete Fontane, der „Mann der langen Briefe“30 , seiner Korrespondenz stets viele Wochenstunden. Und nicht nur er: Acht- bis zwölfseitige Antwortbriefe waren im geistigen Austausch mit Lepel und Merckel keine Seltenheit. In der Lepelkorrespondenz der 40er und 50er Jahre ‒ sie schrieben einander bis zu Lepels Tod (1884), distanzierten sich jedoch ab 1859 voneinander ‒ war die Poesie im weitesten Sinn zentrales Anliegen. Fontanes intensiver Briefwechsel der Jahre 1850‒1860 mit dem zwar konservativen, aber aufgeschlossenen und selber dichterisch tätigen „Tunnel“-Kollegen Merckel31 dokumentierte beider brennendes und wohlinformiertes Interesse an der Gegenwartspolitik, so dass mancher Fontanesche Brief „in den politischen Essay hineinwächst“32 . Überhaupt belegt seine vielseitige Korrespondenz dieser Jahre den Versuch der Epoche „der kulturpolitischen Misere der Reaktionsperiode mit speziellen Formen geselliger und künstlerisch-kreativer Kommunikation zu begegnen“33 . Schon als angehender junger Dichter mit offensichtlich sehr gewinnender Persönlichkeit zeigte Fontane ein Genie für Freundschaft und investierte seinerseits sehr viel Zeit, Aufmerksamkeit und auch Fantasie in die Pflege dieser z. T. lebenslänglichen Freundschaften. Er wusste sie allerdings auch im Eigeninteresse zu nützen oder, wie im Fall der beiden treuen Jugendfreunde Lepel und Wilhelm Wolfsohn, geradezu auszunützen. Von beiden wurde immer wieder Unterstützung eingefordert, die die beiden hochherzigen Männer gerne gewährten. Bei ersterem ging es in der Frühzeit meist um Geld, das der Freund Fontane zu leihen bereit war, während Wolfsohn, der hochgebildete Maskil aus Odessa, der sich seine Existenzgrundlage selbst schwerstens erkämpfen 30 13. July 1881 an Karl Zöllner. BSJ IV, S. 79. 31 Merckel hat sich im „Tunnel“ durch seine satirischen Erzählungen und Dichtungen einen Namen gemacht ‒ er war (freilich anonymer) Autor der notorischen Verse von 1849: „Gegen Demokraten/ Helfen nur Soldaten“. 32 Erler, Gotthard: Das Herz bleibt immer jung. Emilie Fontane. Eine Biografie, Berlin/Weimar 2002, S. XXVIII. 33 Ebd.
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musste, für Fontanes Werke wirken sollte, wofür er von seinem Freund oft bloß „Kränkungen und schlechte Witze“ als Dank erntete.34 Eine Schlüsselrolle in Fontanes ‚Erziehung‘ im Sinn vom Gemeinwohl spielte sein „Tunnel“-Freund Merckel. In den Londoner Exil-Jahren wurde dieser zum echten väterlichen Freund und Mentor, der der Ichbezogenheit des Jüngeren durch eine glückliche Mischung von Schärfe und Humor zu begegnen verstand. Fontane wehrte sich anfangs dagegen, lernte aber bald Merckels Mentorrolle dankbar zu akzeptieren. Überhaupt profitierte Fontane wie kaum ein deutscher Schriftsteller seiner Zeit von der „Vielfalt der ihn fördernden Beziehungen“35 und pflegte lebenslänglich sorgfältigst seine ‚Netzwerke‘. Das strukturgebende Forum der ‚(halb)Privatöffentlichkeit‘ war jahrelang der wöchentlich stattfindende literarische Verein. Im „Tunnel“ wurde der damalige Apothekerlehrling, der sonst als armer Schlucker galt, dem demokratischen Habitus der Vereinigung entsprechend in den Vormärzjahren und danach von den meist viel besser situierten Mitgliedern als talentvoller und umgänglicher Kollege in dieser authentischen ‚Republik der Geister‘ als ihresgleichen anerkannt. In der Reaktionszeit (1850‒1858) boten für einen engeren Kreis um Fontane der „Rütli“, dem er bis ins hohe Alter angehörte, bzw. die kurzlebigere „Ellora“ (beide ab 1852 als Abspaltungen des „Tunnel“) gemütliche ‒ und preiswerte ‒ Geselligkeit. In den für den Dichter tristen 1850er Jahren wurde seine Mitgliedschaft dieser Vereine zum echten Ersatz für die fehlende, weil staatlich reglementierte Öffentlichkeit, gegen deren kleinliche Kontrolllust sogar bei der Gestaltung fiktiver Dramenfiguren Fontane gegenüber der mütterlichen Freundin Henriette von Merckel polemisierte: „In Zeiten, wo man bei der Polizei anfragen muß, ob sie einem diesen oder jenen alten Markgrafen in künstlerischer Verarbeitung gestatten und in der 3. Szene des 3. Akts einen halben Freiheitsgedanken erlauben will […]“36 (12. Dezember 1856). Wie in den „Tunnel“-Protokollen nachzulesen ist, summierte die Anzahl der vorgetragenen Dichtwerke der Mitglieder mit den Jahren auf beachtenswerte Weise. 34 So in Wolfsohns verhaltener Klage über Fontanes Benehmen ihm gegenüber vom 19. Januar 1852 oder dessen taktloses Zitieren einer antijüdischen Berliner Ballade am 10. Oktober 1850. Hierzu: Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn ‒ eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Itta Shedletzky. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 71), Tübingen 2006, Einleitung, S. XI‒XXIV; D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 94–97. 35 Grawe, Christian, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 255. 36 Fontane, Theodor, von Merckel, Wilhelm: Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin/Weimar 1986, 2 Bde, hier Bd. 1, S. 88. Weiter im Text als FM 1‒2.
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Fontane konnte am 15. Dezember 1857 berichten, dass der „Tunnel“ in den ersten dreißig Jahren seiner Existenz „etwas über 7000 Gedichte producirt, vorgetragen und kritisiert“37 habe. Wie lebenswichtig für ihn die rege Diskussion, die Geselligkeit und das Gefühl, einer kunstverständigen Gemeinschaft anzugehören waren, lässt sich exemplarisch an den Briefen ermessen, die Fontane aus dem Londoner Exil mit den engeren Bekannten im Rütlikreis wechselte. So berichtete Fontanes mehrseitiges Schreiben vom 31. Oktober 1855 von Leben und eigener Arbeit als ‚Amanuensis‘ bei der Londoner Gesandtschaft und sprach das Werk individueller Rütlianer an. Diese beteiligten sich dann einzeln am gemeinsamen (in der Druckfassung) vierzehnseitigen Antwortbrief (mit einer Federzeichnung der Sitzung von Adolf von Menzel)38 . Dazu gehörten auch die geselligen Rituale. Bis ins hohe Alter musste Fontane regelmäßig Toasts, Geburtstags-, Hochzeits-, Tauf- und andere Gratulationsverse liefern, die als obligate gesellschaftliche Verpflichtung vom Dichter abverlangt und von ihm auch bereitwillig als eine Solche anerkannt wurde. Er mochte über den Zeitverlust oft seufzen; jede Stunde, die ihm von seinem Werk abzog, war gleichzeitig ein Verdienstverlust. „Sie glauben gar nicht“, schrieb er am 1. Dezember 1880 an seine Vertraute Mathilde von Rohr, „was ich jahrelang unter der Gesellschaftslauferei gelitten habe!“ (BSJ III. 196). Allein die Toasts zu geselligen Anlässen, für die er als eine Art „Franz Liszt oder Paganini des Toasts“39 bekannt war, ‒ waren extrem zeitraubend, doch nie zu umgehen. Denn „jedem seiner Toasts [ist] anzumerken, dass Fontane über ein klares Verständnis der sozialen Funktion des Toasts verfügte“, nämlich die „Herstellung von Harmonie durch die symbolische Repräsentation eines Ausgleichs zwischen den um den Tisch Versammelten“40 ‒ und dass er sich gern als Virtuose des Worts inszenierte.41 Zu solchen obligaten Gesellschaftsritualen gehörten auch noch die vielen Gratulationsbesuche und die häufige Abholung von Familiengästen am Bahnhof, die seine Frau Emilie ihm gelegentlich abnahm. Sie waren einfach Teile des selbstverständlichen Diensts in den Kreisen, in denen die Fontanes lebten, 37 FL 1, S. 481. 38 FM 1, S. 14‒21; 30‒43. 39 Osterkamp, Ernst: Fontanes Kunst des Toasts, in: Fontane Blätter 101, 2016, S. 78‒99, hier S. 80. Vgl. sein Wort an den Dichter- und Tunnelkollegen Paul Heyse vom 23. Dezember 1860: „… so schreib ich nur noch Toaste, worin ich nach gerade eine solche Routine habe, daß ich zu jeder Tageszeit jeden beliebigen Menschen in jeder beliebigen Form hoch leben lassen kann“, in: Fontane, Theodor: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, hg. von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1972, S. 97. Weiter im Text als FH. 40 Osterkamp: Fontanes Kunst des Toasts, S. 81. 41 Fontane, Theodor: Gedichte, hg. von Joachim Krueger und Anita Golz. 3 Bde, Berlin/Weimar 1989, hier Bd.3. Die auf S. 7‒298 gesammelten Toasts und anderen Widmungsgedichte datieren von 1839 bis 1898.
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der aber nur der privaten Gruppe galt und dem eine politische Ausrichtung nach Muster solcher englischen und schottischen Vereine fehlte. Diese Berliner Literatenvereine verstanden sich als Institution im Dienst der Kunst, vor allem der Dichtkunst, wenn gleich Kunstmaler wie Adolf von Menzel oder Kunsthistoriker wie Franz Kugler und Friedrich Eggers eine gleichwertige Rolle in der Vereinstätigkeit spielten. Tagespolitik spielte überhaupt keine Rolle, sollte auch nicht bei Anwesenheit so vieler hochstehenden Persönlichkeiten im Staatsdienst, Militär und Hof (Menzel wurde ja durch seine Friedrich II.-Bilder als halboffizieller Hofmaler anerkannt). Merckel pflegte Fontane im Briefwechsel nach England scherzhaft als (politischen) Hitzkopf zu rügen. Doch im Lauf der 50er und in den Jahren der Reichseinigung zeichnet sich bei Fontane ein politischer Gesinungswandel ab und zwar in Richtung preußischen Staatspatriotismus. Der durch Finanznot und die Erfahrungen der Konterrevolution Ernüchterte mochte noch im Privaten bitterböse Kritik am pietistischen Gehabe seiner Brotgeber des erzkonservativen Kreises um Manteuffel üben. Nach dessen Sturz näherte sich Fontane dem ebenfalls konservativen Regiment des Kronprinzen Wilhelm (1858), der 1861 seinem Bruder auf den Thron folgte. Vorher in London hatte sich der Autodidakt Fontane in die englische Literatur, namentlich das Schaffen von Shakespeare, Scott, den Dichtern der Romantik, Thackeray und Dickens, und in die Geschichte Englands ‒ dies vor allem mittels historischer Monumente ‒ sowie in die Werke der viktorianischen Historiker und ihrer Vorgänger (neben Macaulay und Carlisle auch Gibbon und Hume) vertieft.42 In seiner Rezension der großen Kunstausstellung in Manchester (1857) entdeckte er als einer der ersten Kunstkritiker die Bedeutung der Präraffaeliten, deren Spuren man im disguised symbolism seiner späten Romane immer wieder begegnet.43 Seine offizielle Aufgabe als Berichterstatter über die englische Presse in der Epoche des Aufstiegs des Viktorianischen Englands zur Weltmacht und auf dem Höhepunkt seiner industriellen Revolution ermöglichte ihm Einsichten in den meinungsbildenden Einfluss und die weltpolitische Bedeutung der modernen Medien. Diese Exiljahre wiesen nun seine Dichtung in eine neue Richtung: Ende August 1858 reiste er mit Lepel in den Fußstapfen seines geliebten Walter Scott nach Schottland. Hier war es, mitten im Leven-See in Kinross auf dem Weg zu Maria Stuarts letztem Gefängnis, dass er seine brandenburgische und preußische Heimat, ihre Denkmäler und ihre Menschen neu entdeckte, wie er uns im poetischen Vorwort zum ersten Band seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg erzählt: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“.44 Aus London 42 Hierzu generell Neuhaus (1996). 43 Wie beispielsweise in der Figur der Armgard in Der Stechlin. 44 Vorwort zur 1. Auflage, in: Fontane, Theodor, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Berlin/Weimar 1980.
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vertraute er am 20. Juni 1858 Merckel an, dass er nun gedenke, „väterländisches Leben künstlerisch zu gestalten“45 . Zurück in der Heimat und bald darauf in der Redaktion der früher von ihm verpönten Kreuz-Zeitung ‚untergekommen‘ machte Fontane wieder eine ideologische Häutung durch. Der Schritt war von ihm wohl marktstrategisch gedacht, doch nicht ohne innere Überzeugung, wie unter vielen Bekenntissen zu den Konservativen exemplarisch das seines „Kreuzzeitungsthum[s]“46 oder seine Tätigkeit 1862 als Wahlmann für die Konservative Partei nahelegen ‒ die er später in Von Zwanzig bis Dreißig schlicht unterdrückte.47 In den folgenden Jahren wurde aus dem Autor patriotischer Balladen „der vaterländische Schriftsteller, der sein öffentliches Gepräge von der preußisch-patriotischen Richtung seines Schaffens empfing“48 . Schon 1859 unternahm Fontane seine erste Reise in die Mark. 1862 erschien ein stattlicher Band, seiner eigenen Heimat gewidmet: Wanderungen: Erster Teil. Die Grafschaft Ruppin; 1863 und 1873 folgten der zweite und der dritte Teil, 1882 der vierte; ein fünfter folgte 1889. Immer wieder umgearbeitet, in verschiedenen Zeitungen vorabgedruckt und neuverlegt, begleitete dieses Werk sein restliches Leben; noch drei Tage vor seinem Tod plante er einen weiteren Band. Hierin bildete er jenen reizvollen anspielungsreichen feuilletonistischen Stil aus49 , der später die Kunst der Erzählung seiner Romane charakterisieren sollte. Als Fundgrube an topographischem, kunsthistorischem, archäologischem, sozialund zeitgeschichtlichem Wissen, das zum Subtext fast jedes Fontaneschen Erzählwerks gehörte, bildeten die Wanderungen eine wesentliche Vorstufe zu den großen Romanen. Aber darüber hinaus repräsentieren sie ein eigenes Kapitel in Fontanes Verständnis von Gemeinwohl. Sie waren keine sentimentale Heimatliteratur, sondern ein echt vaterländisches Werk, das die zähe märkische Landschaft einem großen Lesepublikum erschloss und nach Scottscher Manier poetisierte. „Wer in der Mark reisen will, der muß zunächst Liebe zu ‚Land und Leuten‘ mitbringen“. Es sei „mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen,“ meint er verschmitzt. „Auch die häßlichste – sagt das Sprichwort – hat noch sieben Schönheiten“. Ganz so sei es mit dem „Lande zwischen Oder
45 FM 2, S. 120. 46 Wie im Brief vom 8. Dezember 1861 an den Verleger seiner Wanderungen Wilhelm Hertz. Vgl. Fontane, Theodor: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz (1859–97), hg. von Kurt Schreinert, vollendet und mit einer Einführung versehen von Gerhard Hays, Berlin 1972, S. 62. Weiter im Text als FHe. 47 Hierzu Fischer (1994 und 1995). 48 Wruck, Peter: Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellernden Sozialverhalten, in: Fontane Blätter VI, 44, 1987, S. 644‒667, hier S. 651. 49 Jolles, Charlotte: Theodor Fontane, (Sammlung Metzler, Bd. 114) Stuttgart 1972, 4. erw. Aufl. 1993, S. 26.
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und Elbe“.50 Die künstlerische Leistung und die Attraktivität des Werks lagen nicht zuletzt darin, dass die Reisenden nun durch Einsatz der eigenen Einbildungskraft zur Mitarbeit am Text aufgefordert werden, so daß „in Zukunft jeder Märker, wenn er einen märkischen Orts- und Geschlechtsnamen hört, sofort ein bestimmtes Bild mit diesem Namen verknüpft“.51 Durch alle Umwälzungen der deutschen Geschichte bis in unsere Zeit hat das Werk etwas von seiner Aktualität beibehalten. In den Jahren nach Errichtung der Mauer (1961) wurde die Mark Brandenburg beim Auslandsreiseverbot für DDR-Bürger ein beliebtes Reiseziel mit den Wanderungen als unerlässlichem Reiseführer. Dass die Mark nach dem Mauerbau für Westdeutsche praktisch unerreichbar geworden war, erweckte in diesen das Interesse an eine ‚verlorene‘ Landschaft. Nach dem Mauerfall 1989 und bis ins Heute andauernd, dienten und dienen die Wanderungen der Förderung des Lokaltourismus wie auch Fontanes Ruf beim allgemeinen deutschen Lesepublikum.52 Neben den Wanderungen und der peniblen Arbeit an seinem Roman Vor dem Sturm, der erst 1876 in seinem achtundfünfzigsten Lebensjahr erscheinen sollte, widmete sich Fontane von 1864 bis 1876 einem dritten patriotischen Werk, der Geschichtsschreibung der sog. deutschen Einigungskriege gegen Dänemark (1864), Österreich (‚Bruderkrieg‘ 1866) und Frankreich (1870–1871). Wie ein heutiger Journalist bereiste er erst geflissentlich die vielen Kriegsschauplätze und kehrte noch vor Ende des 1870–1871 Kriegs nach Frankreich zurück, wo er ein halbes Jahr zuvor als Kriegsgefangener inhaftiert gewesen war. Die Kriegsbücher sind Mischtexte aus Reisefeuilleton, Berichterstattung und Kompilation aus zeitgenössischen Quellen verschiedenster Art. Hier wird der Leser direkt angesprochen; er soll sich ‚eingemeindet‘ fühlen in das große Werk der Nationbildung unter Preußen ‒ alles gut patriotisch und zugleich marktstrategisch gedacht. Seiner schriftstellerischen Aufgabe lag die weiterhin aktuelle Frage zugrunde: Wie schreibt man heute Kriegsgeschichte? Wesentlich war ihm, dass sie „Sache literarischer und nicht bloß militärischer Kritik“ sei.53 Wie bewältigt ein Einzelner die enorme Stofffülle? Bis in unsere Zeit blieben die Kriegsbücher ein wenig Stiefkind der Fontaneforschung. Doch Fontane rühmte sich dieser 50 Vorwort zur 2. Auflage, in: Fontane: Wanderungen (1980), S. 5. Es ärgerte den Dichter, dass die Wanderungen zur Lebzeit von der Leserschaft viel eher als seine Romane wahrgenommen wurden: „Mein Metier besteht darin, bis in alle Ewigkeit hinein, ‚Märkische Wanderungen‘ zu schreiben“. An Wilhelm Friedrich. 19. Januar 1883, in: Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe, hg. von Nürnberger, Helmuth, Keitel, Walther, 22 Bde in 5 Abteilungen, München 1962–1997, hier HA IV. 3, S. 230. Weiter im Text als HA [mit Abt., Bd., S.] 51 An Ernst von Pfuel. 18. Januar 1864, in: HA. IV. 2, S. 115. 52 Vgl. Erhard, Walter: Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, in: von Grawe, Christian, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 818–850, hier S. 822‒825. 53 HA III. 4, S. 115.
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Problematik gerecht geworden zu sein. So schrieb er am 29. August 1870 an den Chefredakteur der Vossischen Zeitung: „Selbst meine Freunde (ja diese oft am wenigsten) haben keine Ahnung davon, was es mit diesem Buche eigentlich auf sich hat, und daß ich mir, gerade wie in meinen ‚Wanderungen‘, eine Behandlungsart erfunden habe, die vorher nicht da war.“54 Und zurecht, denn er war sich im Sinn der heutigen kritischen Sicht auf Historiographie bewusst, dass Geschichtsschreibung mythenbildende Kraft habe, gerade wenn man von Vorgängen der allerjüngsten Vergangenheit berichte. So heißt es etwa in den Reisebriefen vom Kriegsschauplatz Böhmen (1866): „So die Erzählung. Ob sie die Wahrheit trifft, stehe dahin, denn die sagenbildende Kraft ist noch immer groß und nirgends größer als auf den Schlachtfeldern“55 . Das preußisch-deutsche Publikum, auf das er sich seine Hoffnungen sozusagen als selbsternannter Erzieher zur Nationbildung gesetzt hatte, sah das allerdings anders. Dass seine Kriegsbücher nicht bloß der Verherrlichung des Kriegs dienten und vor allem, dass er die Franzosen gerade im 1871 schon erschienenen Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 oft in positivem Licht darstellte, brachte ihm im Siegestaumel des gerade erst gegründeten Zweiten Deutschen Kaiserreichs viel Kritik.56 Kaiser Wilhelm I., den er als „Held[en]“ der Kriegsbücher gefeiert hatte, erwies sich als spröde. Bei allem Stolz auf die welthistorische Bedeutung der nationalen Einigung unter Preußen im Januar 1871, zu der Fontane sich als preußischer und deutscher Patriot stets bekannte, ließ die Aufnahme seiner vaterländischen Kriegsbücher, an denen er, wie er am 30. November 1876 an Rohr schrieb, „Zwölf Jahre […] Tag und Nacht gearbeitet habe“57 , eine Erbitterung zurück, die ihn zwang, sich mit den Widersprüchen seiner bisherigen affirmativen Position gegenüber dem Bismarckschen Staat zu konfrontieren. Anlässlich seiner 120-seitigen Darstellung der Entscheidungsschlacht zu Sedan 54 Fontane, Theodor: Briefe an Hermann Kletke. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N., hg. von Helmuth Nürnberger, München 1969, S. 23‒24. 55 HA III. 5, S. 360. Hierzu: Osborne, John: Theodor Fontane ‒ vor den Romanen: Krieg und Kunst, Göttingen 1999, S. 15‒17; 125‒126. „Vor allem angesichts des Deutsch-Französischen Krieges beginnt sich Fontane als einer der ersten deutschen Schriftsteller mit den Problemen der literarischen Darstellung des Krieges in der Moderne auseindanderzusetzen“, in: FontaneHandbuch, S. 863. 56 Sein Eingehen auf den Einzelmenschen auf deutscher wie auf ‚Feindesseite‘ wurde „als nationale Laschheit, als Dänen-, Österreicher- und – besonders verwerflich – als Franzosenfreundlichkeit“ empfunden und scharf mißbilligt“. Siehe Grawe, Christian: Vom Krieg und Kriegsgeschrei. Fontanes Kriegsdarstellungen im Kontext, in: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Mit einem Vorwort von Otfried Keiler, Berlin 1987 (Beiträge aus der Deutschen Staatsbibliothek 6), S. 67‒106, hier S. 89. 57 BSJ III, S. 174.
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am 2. September 1870, dem Tag, der bald zum Nationalfeiertag des neuen Reichs emporgehoben werden sollte, stellte sich Renate Boeschenstein treffend die Frage: „Gibt es unter dieser betont nüchternen Schilderung einen Subtext, der das Gepresste seiner Position zwischen Anpassung an die preussische Mentalität, Wissen um den Zusammenhang der ‚Feinde‘ mit der eigenen Herkunft, selbstverständlicher Akzeptanz des Phänomens ‚Krieg‘ und unterdrücktem Schaudern davor verrät?“58 Das Erzählwerk 1876–1898 gibt darauf Antwort. In einem für sein Kunstverständnis überhaupt eloquenten Brief reflektierte er am 17. August 1882 gegenüber Emilie: „Ich sehe klar ein, daß ich eigentlich erst bei dem 70er Kriegsbuche und dann bei dem Schreiben meines Romans [Vor dem Sturm] ein Schriftsteller geworden bin d. h. ein Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt, als eine Kunst, deren Anforderungen er kennt“59 . In den letzten zwei Dezennien seines Lebens wurde allmählich aus dem poetischen Chronisten Preußens Fontane dessen zunächst zurückhaltender, bald aber scharfer und zunehmend erbitterter Kritiker. An die Stelle der angestrebten vaterländischen Gemeinde, in der er sich heimisch fühlen und seinen Beitrag zum Gemeinwohl liefern könne, tritt das Erzählwerk als Kunst, elitär und isolierend in den hohen Ansprüchen, die der Dichter an sich stellt: „[…] man thut sein Bestes und sucht seinem Publikum zu gefallen“, schreibt er am 29. Januar 1878 an Rohr, „aber zuletzt – wenigstens gilt das von mir – schreibt man sich selber zu Liebe, will sich ein Genüge thun […]“60 . Die Notwendigkeit, nunmehr den größten Teil seines Lebensunterhalts durch sein dichterisches Werk zu verdienen ‒ und seiner klugen, stets zu zielgerichteter Kritik bereiten Lebensgefährtin Emilie gegenüber den riskanten Entschluss des Jahres 1876 zu legitimieren ‒ fesselte Fontane an den Schreibtisch. Bei nachlassender Kraft zog er sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück, las zwar nach wie vor intensiv die Tageszeitungen, besuchte öfters bis in die 90er Jahre den Reichstag und äußerte sich eingehend in der Korrespondenz mit Vertrauten zur Tages- und Weltpolitik. Der Ton seiner Briefe aus diesen letzten Lebensjahren wurde zusehends herber. Gegen die geliebte Tochter Martha und vor allem in den 276 erhaltenen Briefen bzw. Postkarten an den Amtsgerichtsrat Georg Friedlaender aus Schmiedeberg/Kovary, einer Bekanntschaft spätestens seit 1884 aus der schlesischen Sommerfrische und „de[m] wichtigste[n] Briefpartner des alten Fontane“61 , wie auch mit dem Schotten James Morris, den er 58 Böschenstein, Renate: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane (Fontaneana. Bd. 3), hg. von Delf von Wolzogen, Hanna, Fischer, Hubertus. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan, Würzburg 2006, S. 12. 59 FE 3, S. 279. 60 BSJ III, S. 183. 61 Jolles: Theodor Fontane, S. 17.
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aus der Londoner Zeit her kannte, wurde sie zuweilen überaus harsch.62 Hier wurden Zeiterscheinungen und –ereignisse in Deutschland und Übersee, politische und historische Persönlichkeiten scharf diskutiert und kommentiert und fanden Eingang „in aufschlußreich verwandelter Form“ in das Erzählwerk.63 Denn es ging ihm nur darum, im nunmehr sicheren künstlerischen Selbstgefühl einen neuartigen und überaus anspruchsvollen Beitrag zur deutschen Erzählliteratur zu liefern ‒ ‚wie es sein sollte‘. Über seine Kinder und jüngere Freunde wie Otto Brahm und den späteren Burgtheaterdirektor Paul Schlenther und die Schauspielerin Clara Konrad(-Schlenther) fand er Anschluss an die Moderne und zog daraus Konsequenzen für das eigene Werk. Auffallend ist der Unterschied in Ton und Schärfe zwischen den Altersbriefen und dem Erzählwerk, der seinen einstigen Briefpartner Maximilian Harden irritierte. Fontane, meinte Harden, der selber kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, habe in der Diskrepanz zwischen dem milden Bismarckbild im Erzählwerk und der schonungslosen, zuweilen brillianten Porträtierung des Reichskanzlers in den damals gerade veröffentlichten Privatbriefen, eine Unehrlichkeit begangen. Hardens Angriff verdanken wir einen der schönsten Briefe des Ironikers Thomas Mann, der, in Fontane einen ihm verwandten Geist wohl erkennend, vom Inbegriff der „Fragwürdigkeit des Typus Künstler, dieser Kreuzung aus Luzifer und Clown“ sprach.64 Statt beckmesserisch Harden, wie er es hätte tun können, auf die Unterschiede der beiden Textsorten Roman und Brief hinzuweisen, gab Mann ihm scheinbar recht: „Zugegeben, daß das nicht sehr deutsch ist“. Dann aber: „ich wüßte keinen zweiten Fall, wo menschliche Charakterlosigkeit – oder Charakterschwäche – soviel künstlerischen Charakter, soviel Ton und Physionomie hervorgebracht hat.“65 Und wer, fragt Mann, könne sich mit dem „Romancier“ messen? Wer habe so viel „für den deutschen Roman gethan“‚wie er? ‚Effi Briest‘ ist für mich der beste deutsche Roman seit den ‚Wahlverwandtschaften‘. Was gab und giebt es denn sonst?“66 (30. August 1910). Hier, könnte man vielleicht sagen, nähert sich Mann des alten Fontanes Ansicht des anspruchsvollen künstlerischen Schaffens als Dienst am Gemeinwohl. 62 Zu Morris siehe Phillips, John: James Morrison, der unbekannte Freund Fontanes, in: FontaneBlätter 1.8 1969, S. 427‒449. Morris versorgte ihn mit englischem Lesematerial zum Zeitgeschehen u. a. vom Leader der jungen Labour-Partei Keith Hardie, die sein wachsendes Interesse am ‚vierten Stand’ schürte. 63 Walter Hettche im Nachwort zu: Fontane, Theodor: Briefe an Georg Friedlaender, hg. und erläutert von Kurt Schreinert, Heidelberg 1954, S. 445‒458, hier 447. Weiter im Text als FFr. Leider fehlen die Gegenbriefe. 64 Im Essay Der alte Fontane, in: Mann, Thomas: Gesammelte Werke, Bd. IX, Berlin 1974, S. 18. 65 Sehr schön, wie Mann hier Harden sozusagen ‚unter’m Strich‘ porträtiert als dem Fetisch deutscher Literaturkritik im 19. Jahrhundert behaftet, nämlich dass der Charakter des Künstlers Aufschlüsse auf den Wert seiner Kunst gebe. 66 Mann, Thomas: Briefe 1889–1936, Frankfurt a. M. 1962, S. 85.
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Anders als bei den meisten seiner in ganz unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Traditionen beheimateten schweizerischen Dichterkollegen war für Fontane das Konzept Gemeinwohl weder ein selbstverständliches noch in seiner schriftstellerischen Praxis kohärentes Konzept. Am nächsten kam er der westeuropäischen Vorstellung von Gemeinwohl in seiner Frühzeit, unter den oppositionellen Intellektuellenkreisen des Vormärz, exemplarisch in seinen Übertragungen ins Deutsche der Arbeiterlyrik des Webers John Prince, die sein ehemaliger Herwegh-Klub und Freund Max Müller zum rückblickenden Urteil veranlasste: „Er hätte ein zweiter Heine werden können.“67 Und am anderen Ende seiner langen schriftstellerischen Karriere fand der bis ganz zuletzt erstaunlich zeitoffene und entwicklungsfähige Autor ‒ nicht zuletzt dank Kontakt zum 1884 gegründeten naturalistischen Literatenkreis „Die Zwanglosen“ ‒ zu einem Verständnis von der Dichtkunst, die fern von der Tagespolitik gerade in ihrer künstlerischen Qualität humanisierend wirkt. In ihrer Differenziertheit und Fähigkeit, Widersprüche zu vereinbaren sind Fontanes Spätromane hierfür ein exemplarisches Beispiel.68 Literaturverzeichnis Berbig, Roland: ‚[…] den lang entbehrten Lafontaine wieder in seiner Mitte‘. Fontanes Rückkehr in den ‚Tunnel über der Spree‘ 1859/60 (Fontane Blätter 58, 1994), S. 43–61. Berbig, Roland (Hg.):Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft. Bd. 3). Berlin 2000. Berbig, Roland: Fontane Chronik, 5 Bde, Berlin/New York 2010. Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft. Bd. 3), Berlin 2000. Böschenstein, Renate: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane (Fontaneana. Bd. 3), hg. von Delf von Wolzogen, Hanna, Fischer, Hubertus. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan, Würzburg 2006. Craig, Gordon A: Über Fontane, München 1997.
67 Müller, Max: Alte Zeiten ‒ Alte Freunde, Gotha 1901. Zitiert bei D’Aprile: Fontane, S. 97. 68 Die Wirkung der Kunst qua Kunst, die Fontane angestrebt aber zu Lebzeit schwer vermisste ‒ „ich sehne mich nach einem wirklichen Erfolg“ (an Emilie 21. März 1880. FE 3, S. 194) wird durch die sog. Fontane-Renaissance bezeugt, die in der DDR seit den 1950er Jahren beginnend seitdem bis heute Wissenschaftler/Innen wie Durchschnittsleser/Innen gleichermaßen umfasst.
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D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung, Reinbek bei Hamburg 2018. Delf von Wolzogen, Hanna, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, 3 Bde. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs, Würzburg 2000. Dieterle, Regina: Theodor Fontane. Biografie, München 2018. Erhard, Walter: Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, in: von Grawe, Christian, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 818–850. Erler, Gotthard: Das Herz bleibt immer jung. Emilie Fontane. Eine Biografie, Berlin/Weimar 2002. Fischer, Hubertus: Theodor Fontane, der „Tunnel“, die Revolution. Berlin 1848/49, Berlin 2009. Fontane, Emilie und Theodor: Der Ehebriefwechsel, 3 Bde. Bd. 1: Dichterfrauen sind immer so. Der Ehebriefwechsel 1844–1857, Bd. 2: Geliebte Ungeduld. Der Ehebriefwechsel 1857–1871, Bd. 3: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898, hg. von Erler, Gotthard unter Mitarbeit von Therese Erler (Große Brandenburger Ausgabe), Berlin/Weimar 1998. Im Text als FE 1–3. Fontane, Theodor: Briefe an Georg Friedlaender, hg. und erläutert von Kurt Schreinert, Heidelberg 1954. Im Text als FFr. Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe, hg. von Nürnberger, Helmuth, Keitel, Walther, 22 Bde in 5 Abteilungen [im Text als HA mit Abt., Bd., S.], München 1962–1997. Fontane, Theodor: Sämtliche Werke, hg. von Edgar Gross u. a., Bd. 17, Aus England und Schottland, hg. von Charlotte Jolles unter Mitwirkung von Kurt Scheinert, München 1963. Fontane, Theodor: Briefe an Hermann Kletke. In Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N., hg. von Helmuth Nürnberger, München 1969. Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Nebst anderen selbstbiographischen Zeugnissen, hg. von Kurt Schreinert und Jutta Neuendorff-Fürstenau, München 1973. Fontane, Theodor: Briefe. Erste wort- und buchstabengetreue Edition nach den Handschriften, hg. von Kurt Schreinert und zu Ende geführt von Charlotte Jolles, Berlin 1968–1971. 4 Bde. Bd. 3: An Mathilde von Rohr; Bd. 4: An Karl Zöllner, S. 7–135, An Hesekiel, S. 139–160. Im Text als BSJ I–IV. Fontane, Theodor: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, hg. von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1972. Im Text als FH. Fontane, Theodor: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz (1859–97), hg. von Kurt Schreinert, vollendet und mit einer Einführung versehen von Gerhard Hays,
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Berlin 1972. Im Text als FHe. Fontane, Theodor, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Berlin/Weimar 1980. Fontane, Theodor: Autobiographische Schriften, Bd. 1: Meine Kinderjahre; Bd. 2. Von Zwanzig bis Dreißig. Bd. 3. I. Tunnel-Protokolle, hg. von Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1982. Fontane, Theodor, von Merckel, Wilhelm: Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin/Weimar 1986, 2 Bde. Im Text als FM 1–2. Fontane, Theodor: Gedichte, hg. von Joachim Krueger und Anita Golz. 3 Bde, Berlin/Weimar 1989. Fontane, Theodor: Tagebücher, Bd. 1: 1852, 1855‒1858, hg. von Charlotte Jolles unter Mitarbeit von Rudolf Muhs; Bd. 2: 1866–1882, 1884–1898, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler, Berlin 1994. Fontane, Theodor: Briefe an Georg Friedlaender. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann, Frankfurt a. M./Leipzig 1994. Fontane, Theodor, Eggers, Friedrich: Der Briefwechsel. Mit Fontanes Briefen an Karl Eggers und der Korrespondenz von Friedrich Eggers mit Emilie Fontane, hg. von Roland Berbig (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 2), Berlin/New York 1997. Delf von Wolzogen, Hanna, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts, 3 Bde. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs, Würzburg 2000. Fontane, Theodor: Der Stechlin, in: Ders.: Das erzählerische Werk, Bd. 17, hg. von Klaus-Peter Möller. Große Brandenburger Ausgabe, Berlin/Weimar 2001. Theodor Fontane und Martha Fontane: Ein Familienbriefnetz, hg. von Regina Dieterle (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 4), Berlin/New York 2002. Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn ‒ eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen, hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Itta Shedletzky. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 71), Tübingen 2006. Fontane, Theodor, von Lepel, Bernhard: Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. von Gabriele Radecke (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft 5). 2 Bde, Berlin/New York 2006. Im Text als FL 1‒2. Fontane, Theodor, Storm, Theodor: Briefwechsel. Kritische Ausgabe, hg. von Gabriele Radecke (Stormbriefwechsel, Bd. 19). Berlin 2006.
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Fontane, Theodor: Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays, 2 Bde, hg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen, Berlin/New York 2016. Grawe, Christian, Nürnberger, Helmuth (Hg.): Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000. Grawe, Christian: Vom Krieg und Kriegsgeschrei. Fontanes Kriegsdarstellungen im Kontext, in: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam. Mit einem Vorwort von Otfried Keiler, Berlin 1987 (Beiträge aus der Deutschen Staatsbibliothek 6), S. 67‒106. Jolles, Charlotte: Theodor Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, Berlin/Weimar 1983. Jolles, Charlotte, Müller-Seidel, Walter (Hg.): Die Briefe Theodor Fontanes. Verzeichnis und Register, München 1988. Jolles, Charlotte: Theodor Fontane, (Sammlung Metzler, Bd. 114) Stuttgart 1972, 4. erw. Aufl. 1993. Jolles, Charlotte: Ein Leben für Theodor Fontane. Gesammelte Aufsätze und Schriften aus sechs Jahrzehnten, hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Helen Chambers, Würzburg 2010. Loster-Schneider, Gudrun: Theodor Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–98 und ihre ästhetische Vermittlung, Tübingen 1986. Mann, Thomas: Briefe 1889–1936, Frankfurt a. M. 1962. Neuhaus, Stefan: Freiheit, Gleichheit, Selbstzucht? Fontane und Großbritannien, Frankfurt a. M. 1996. Nürnberger, Helmuth: Der frühe Fontane. Politik – Poesie – Geschichte 1840 bis 1860, Reinbek bei Hamburg 1967. Osborne, John: Theodor Fontane – vor den Romanen: Krieg und Kunst, Göttingen 1999. Osterkamp, Ernst: Fontanes Kunst des Toasts, in: Fontane Blätter 101, 2016, S. 78‒99. Rasch, Wolfgang: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung, in Verbindung mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem TheodorFontane-Archiv Potsdam, hg. von Ernst Osterkamp und Hanna Delf von Wolzogen. 3 Bde. Berlin/New York 2006. Sagarra, Eda: Der Stechlin, München 1986. Sagarra, Eda: Germany in the Nineteenth Century. History and Literature, New York et al. 2001. Sagarra, Eda: ‚Das war ich?‘ Der deutsche Michel in Fontanes Jahrhundert“, in: Fontane Blätter 100, 2015, S. 12‒29. Streiter-Buscher, Heide: Die politische Journalistik, in: Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 788‒806. Szarota, Tomasz: Niemiecki Michel. Dzieje narodowego symbolu i autostere-
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otypu, [Der deutsche Michel. Geschichte eines Nationalsymbols und Autostereotypen], Warszawa 1988. Wruck, Peter: Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellernden Sozialverhalten, in: Fontane Blätter VI, 44, 1987, S. 644‒667. Wülfing, Wulf, Bruns, Karin, Parr, Rolf (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933 (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte 18), Stuttgart/Weimar 1998, S. 500–502.
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Jacek Rzeszotnik (Uniwersytet Wrocławski)
Von vernunftfanatischen Kolonisatoren, republikanischen Philobaten und antidemokratischen Antibaten Zur fantastischen Vision des weltraumutopischen Res publica-Konzepts in Kurd Laßwitz’ Marsroman Auf zwei Planeten (1897)
Die Verwertung republikanischer Ideen in fantastischen Texten instrumentalisiert, insbesondere in der Zeit nach 1945, die komplexen Konzepte der modernen und postmodernen Weltreferenzialität, unter die sich auch die mediale Inanspruchnahme der Res publica-Modelle eingliedert. Die Konstruktionen und Destabilisierungen der so fabulierten Weltbezüge eröffnen intensive Diskussionen, in denen reale Phänomene in literarischem Gewand kontinuierlich einer ideologisch-gesellschaftlichen Verifikation bzw. Falsifizierung unterzogen werden. Doch auch die Periode davor ist reich an literarischen Ideen-Designs, die einerseits erkenntniskritische ideelle Entwürfe generieren und andererseits die Verwirklichbarkeit ihrer Inhalte validieren. Deren Ausgestaltung trennt sie unter dem Aspekt ihrer Realisierbarkeit in Ideologien und Utopien: Ideen, von denen es sich nachträglich herausstellte, dass sie über einer gewesenen oder aufstrebenden Lebensordnung nur als verdeckende Vorstellung schwebten, waren Ideologien; was von ihnen in der nächsten gewordenen Lebensordnung adäquat verwirklichbar wurde, war relative Utopie.1
Gewisse utopische Vorstellungen können sich auch mit republikanischen Werten vernetzen, wie es Edward Bellamys sozialkritische Zukunftsvision Looking Backward 2000–1887 (1890) illustriert, die als ein Versuch interpretiert werden kann, sich eine technologisch orientierte Gesellschaft unter republikanischer (demokratischer) Regierung zu vergegenwärtigen. Der Roman lässt sich als künstlerisch-imaginärer Versuch begreifen, „Technologie und republikanische Werte in Einklang zu bringen“2 . Ein solcher Standpunkt erschließt sich vor allem in technisch fortschrittlichen Gesellschaften, in denen die Gemeinschaften einen entsprechend hohen
1 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Bonn 1929, S. 182. 2 Kasson, John F.: Civilizing the Machine; Technology and Republican Values in America 1776–1900, New York 1977, S. 230.
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Entwicklungsstand erreicht haben, der es ihnen ermöglicht, einschlägige Zukunftsträume zu ersinnen. Eine solche Stufe der technischen und zivilisatorischen Entfaltung können neben den USA auch einige europäische Länder beanspruchen, zu denen abendländische Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland gehören. Kaum ein Jahrzehnt nach Bellamy entwirft ein Deutscher sein fantastisches Bild außerirdischer ‚Implementierung‘ republikanischer Ideale. Der Breslauer Kurd Laßwitz (1848–1910), seines Zeichens Gothaer Gymnasiallehrer und Mathematikprofessor – „eine Tätigkeit, die ihm mit zunehmendem Alter immer weniger Freude bereitet[…], ja die er als Fron betrachtet[…], die ihm aber auf der anderen Seite genügend Zeit [lässt] für sein literarisches Schaffen, das ihm immer wichtiger [wird]“3 – darf für sich das Recht auf die ‚theoretische und praktische Vaterschaft‘ der modernen Science-Fiction reklamieren4 . Nach einigen frühen kurzerzählerischen Fingerübungen innerhalb der Gattung5 gelingt ihm im Alter von 39 Jahren ein großer literarischer Wurf, der ihn in die erste Riege der kontinentaleuropäischen SF-Vorreiter – in illustrer Gesellschaft mit Jules Verne und H.G. Wells – katapultiert und ihn im zukünftige Wunschbilder propagierenden Schrifttum Geschichte schreiben lässt: Sein Meisterwerk Auf zwei Planeten (1897) gehört zum Eindrucksvollsten, was das Genre […] hervorgebracht hat. Das über tausend Seiten starke Buch [wird] kurz nach Veröffentlichung in mehrere Sprachen übersetzt, [ist] möglicherweise die bekannteste europäische Weltraumutopie ihrer Zeit.6
Sie bewegt sich auf den Spuren von H.G. Wells’ scientific romances, „deren Bandbreite von Kurd Lasswitz und seinem philosophisch untermauerten Marsroman“7 definiert wird. Ähnlich wie der im selben Jahr als Fortsetzungsroman
3 Weigand, Jörg: Das weite Feld der Phantasie. Aspekte deutschsprachiger Unterhaltungsliteratur. 111 Aufsätze aus 28 Jahren, Passau 1996, S. 212. 4 Vgl. Rzeszotnik, Jacek: Kurd Laßwitz’ „Reise bis zum Nullpunkt des Seins. Zum 100. Todestag des Vaters der deutschen Science-Fiction und des deutschen Vaters der Science-Fiction in Personalunion, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 19, Oldenburg 2011, S. 149‒192. 5 Hierzu zählen Bis zum Nullpunkt des Seins. Culturbildliche Skizze aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert (1871) und Gegen das Weltgesetz. Erzählung aus dem Jahre 3877 (1877), die im Band Bilder aus der Zukunft (1878, ausgeliefert bereits im März 1877) zusammengefasst vorliegen. 6 Alpers, Hans-Joachim, Fuchs, Werner, Hahn, Roland M., Jeschke, Wolfgang (Hg.): Lexikon der Science Fiction Literatur. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe in einem Band, München 1987, S. 644. 7 Innerhofer, Roland: Science Fiction, in: Brittnacher, Hans Richard, May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 318‒328, hier S. 323.
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erschienene literarische Geniestreich des Briten Der Krieg der Welten8 positioniert die Zukunftsschilderung des Deutschen ihre Protagonisten mitten in eine interplanetare Konfliktsituation. Sie lässt Fremdwesen aus dem All, die Marsianer, auf der Erde landen – und zwar am Nordpol, wo sie sich installieren und wo es zum ersten, im Unterschied zur englischen Vision der kosmischen interspeziellen Begegnung, eher friedlichen Kontakt kommt: Die Besucher vom roten Planeten bergen nämlich zwei deutsche Polarfahrer, die in der Arktis notgelandet sind, als sie „bei einer Ballonexpedition eine Insel [entdecken], deren Bewohner sich bald als Marsmenschen erweisen“9 . Die Gäste vom vierten Planeten unseres Sonnensystems bieten den Geretteten Platz an Bord ihrer Raumstation, die „als Weltraumbahnhof für Reisen zwischen den beiden Planeten dient“10 . Die erfolgreiche Rettungsaktion führt die beiden Spezies zusammen, denn es gilt hier das laßwitzsche „Gebot der Ähnlichkeit zwischen Außerirdischen und Menschen“11 . Diese mindestens auf die Biologie beschränkte Affinität – die „Marsbewohner, die Laßwitz schildert, sind äußerlich von den Menschen der Erde nicht zu unterscheiden“12 – öffnet einer Annäherung zwischen den beiden Rassen Tür und Tor, denn „Laßwitz‘ Marsianer erweisen sich als wesentlich menschlicher als die wellssche Version“13 , wohingegen die Letztgenannten als „hybride, aus organischem und technischem Material zusammengesetzte Kampfmaschinen“14 die menschliche Domäne invadieren. Den in der Arktis Geborgenen mangelt es in der Obhut ihrer marsianischen Retter zunächst an nichts: Die beiden deutschen Nordpolfahrer verbrachten ihre Tage wie in einem köstlichen Märchen […] Die Martier behandelten die beiden Erdbewohner als ihre Gäste, denen jede Freiheit gestattet war. Gegenüber den kleinen, unansehnlichen, schmutzigen und tranduftenden Eskimos erschienen ihnen die stattlichen Figuren der Europäer in ihrer reinlichen Tracht schon äußerlich als Wesen verwandter Art. Nicht wenig trug dazu die körperliche Überlegenheit bei, welche die Martier, sobald sie sich nicht im Schutz des abarischen Feldes befanden, an den Menschen anerkennen mussten. Aufrecht und leicht
8 „Es ist bedauerlich, dass Laßwitz’ großer Roman nicht in einer besseren englischen Übersetzung vorliegt“ (Aldiss, Wingrove, 1990, S. 243). 9 Weber, Thomas P.: Science Fiction, Frankfurt am Main 2005, S. 24. 10 Ebd., S. 25. 11 Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870‒1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 263. 12 Wenzel, Dietmar: Der Marsroman, in: Ders. (Hg.): Kurd Laßwitz: Lehrer, Philosoph, Zukunftsträumer. Die ethische Kraft des Technischen, Meitingen 1987, S. 99‒108, hier S. 48. 13 Aldis, Brian W., Wingrove, David: Der Milliarden-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction, Bergisch Gladbach 1990, S. 241. 14 Innerhofer: Deutsche Science Fiction, S. 263.
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schritten diese einher und verrichteten spielend Arbeiten, denen die unter dem Druck der Erdschwere gebeugt einherschleichenden Martier nicht gewachsen waren.15
Im obigen Zitat verwirklicht sich die zu Laßwitz‘ Zeit weitverbreitete Anschauung von Fremden, die ihre physischen Defizite durch maschinelle prothetische Äquivalente zu kompensieren wissen. Sie scheinen nämlich die Einheimischen (d. h. die Erdlinge) in jeder Hinsicht zu überragen, sei es im Technischen, sei es im Ethischen. Sie seien die Ehrlichkeit und der Anstand selbst, denn „an Vernichtungsfeldzügen finden die Marsianer keinen Gefallen“16 . Im Gegensatz zu ihren kriegerischen ‚wellschen Genossen‘17 , die in ihrem Körperbau einen augenfälligen Kontrast zu den von ihnen bekämpften Erdbewohnern bilden, ähneln die laßwitzschen Reisenden vom Mars dem Homo sapiens sehr18 : Die beiden Gestalten auf dem Bild waren, wie es schien, menschlicher Art. Die stehende Figur, welche nach dem Stern hinwies, sah nicht anders aus als eine ideale Frauengestalt mit auffallend großen Augen; um ihren Kopf spielte ein seltsamer Lichtschimmer – sollte dies eine symbolische Figur mit einem Heiligenschein sein? Die Gewandung – soweit überhaupt von solcher die Rede war – ließ keine Schlüsse zu, sie konnte ja einer Laune des Künstlers entsprungen sein. Die sitzende Gestalt, welche das Bild des Sternes beobachtete und dem Beschauer den Rücken zuwandte, schien einen eng anliegenden metallenen Panzer zu tragen; in der Hand hielt sie einen Grunthe [einem der beiden geretteten Deutschen – J.Rz.] unbekannten Gegenstand. Sollten diese beiden Figuren Vertreter der Bewohner der Polinsel sein? Aber die Landschaft selbst war keine Landschaft der Erde. Also wohl eine Erinnerung an die Heimat, aus welcher die Polbewohner stammten? Und wenn es so war – diese beiden Monde –, sie konnten keiner andern Welt angehören als dem Mars.19
Laßwitz folgt in dieser Schilderung dem noch aus der Antike überlieferten philosophischen Prinzip, demzufolge das Gute ins Schöne (und umgekehrt) gekleidet sein müsse. In seiner Parallelisierung „aus progressiven Ideen Immanuel Kants20 , einem schillerschen Humanismus und einem konsequenten 15 Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern, Bd. 1, Leipzig 1905, S. 150‒151. 16 Aldis, Wingrove: Der Milliarden-Jahre-Traum, S. 241. 17 Wells’ „Marsianer sind eine Inversion der Laßwitz’schen, und auch die Bakterien, die im Krieg der Welten den Untergang der angreifenden Marsianer verursachen, kommen schon bei Laßwitz vor; wieder in Inversion und als harmlosere Spielart: in Form eines von den Martiern auf die Erde eingeschleppten Schnupfens“ (Rottensteiner, 2014, 138). 18 „Laßwitz, dessen Martianer gleich denen von Wells auf Lowells vorgebliche Befunde gründen, hatte eine klare Vorstellung davon, was SF sein und tun sollte“ (Aldiss, Wingrove, 1990, 242). 19 Laßwitz, S. 89. 20 „Als überzeugte Kantianer unterscheiden sie [d. h. die Marsianer] zwischen Pflicht und Neigung und gestatten es dieser nie, jene zu beeinflussen. Die freie Bestimmung der Persönlichkeit, die Verwirklichung des sittlichen Willens, ist die oberste Richtschnur auf dem Mars“ (Rottensteiner, 2014, 138).
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Antimilitarismus“21 wagt er noch einen weiteren Schritt, indem er durch den gloriolenähnlichen Schein das Gute ins Höhere der Heiligkeit hebt: Ein rosiger Schleier umhüllte den größten Teil der Gestalt, ließ jedoch hier und da den metallischen Schimmer des Unterkleides durchblicken. Die Haare kräuselten sich über dem Nacken in beweglichen Löckchen, die als Grundfarbe ein lichtes Braun zeigten, aber bei jeder Bewegung irisierten wie das Farbenspiel auf einer Seifenblase. Alle Bewegungen ihres Körpers glichen dem leichten Schweben eines Engels, der von der Schwere des Stoffes unabhängig ist. Und sobald der Kopf an eine dunklere Stelle des Zimmers geriet, leuchtete das Haar phosphoreszierend und umgab das Gesicht wie ein Heiligenschein.22
Man kann daher die Behauptung aufstellen, Kurd Laßwitz fasse sich insgesamt als „Humanist im Sinne Goethes“23 auf „der idealisierten Basis einer kantischen Ethik“24 auf. Das humanistische Element in seinem Roman erschöpfe sich darin, dass die Marsianer der Erde einen Besuch abstatten, um „die Menschen zu erziehen“25 . Da sie aber ungeachtet ihrer hohen Entwicklungsstufe anscheinend doch okkasionellen gewalttätigen Konfliktlösungen oder Lösungskonzepten dieser Art nicht zu entsagen vermögen, wird ihre ethische Erhabenheit dramatisch infrage gestellt: Die ethische Superiorität der Martier wird erst dann prekär, als sie den Kontakt mit den Menschen aufnehmen. Die Absicht der Martier, den Menschen bei ihrer Höherentwicklung beizustehen, verwandelt sich angesichts der Widerstände der zu Entwickelnden bald in die Realität einer Erziehungsdiktatur […]. Das Verhalten der Marsianer wird immer mehr von den irdischen Zuständen kontaminiert.26
Es geht hier um den sogenannten „umgekehrten Kolonialismus“27 , wo die von ihrem aufklärerischen Sendungsbewusstsein angetriebenen kulturell höherstehenden Wesen, die eigentlich das Licht der Erkenntnis unter die ‚Wilden‘ tragen sollten, in Wirklichkeit auf deren vehementen Widerstand stoßen und sich dabei unerwarteterweise deren Verhaltensweisen aneignen, die ihnen selber eigentlich wesensfremd sind. Nicht aus den Augen zu verlieren ist die Tatsache, 21 Simon, Erik, Spittel, Olaf R.: Die Entwicklung der deutschen Science-fiction im 19. und 20. Jahrhundert als belastendes/vergessenes/lebendiges Erbe der DDR-SF, in: Dies. (Hg.): Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke. Ein Lexikon, Ostberlin 1988, S. 16. 22 Laßwitz, Bd. 1, S. 78. 23 Aldiss, Wingrove: Der Milliarden-Jahre-Traum, S. 242. 24 Innerhofer: Deutsche Science Fiction, S. 261. 25 Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane. Ein Streifzug durch 100 Jahre Unterhaltungsliteratur, Passau 1998, S. 291. 26 Innerhofer: Deutsche Science Fiction, S. 261. 27 Rottensteiner, Franz: Ordnungsliebend im Weltraum: Kurd Laßwitz, in: Ders. (Hg.): Polaris 1. Ein Science Fiction Almanach, Frankfurt am Main 1973, S.133‒164, hier S. 137.
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dass hier einer „Affirmation der kulturellen und moralischen Wertdifferenz zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten“28 das Wort geredet wird. Als Akteure des laßwitzschen Zukunftsdramas haben sie eine Doppelfunktion zu erfüllen: „Sie sind einerseits ein Vorbild […] und andererseits ein Gegenbild. In ihrer Funktion als Gegenbild stehen sie stellvertretend für den europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts“29 . Es bleibt also an keiner Stelle im Text die Frage offen, wem Laßwitz die Rolle der Kolonisatoren und wem die der Kolonisierten zuschreibt: Die Kultur der Kolonisatoren wird als fortschrittlicher und wertvoller angesehen als die der Kolonisierten, denen Kultur im emphatischen Sinne überhaupt abgesprochen wird. Diese Auffassung bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Marsianern und Menschen, sondern genauso, auf der nächsttieferen Stufe, auf das zwischen Westeuropäern und ‚Wilden‘, als deren Repräsentanten etwa die Eskimos auftreten. So wird der Kolonialismus von Laßwitz zugleich infrage gestellt und bestätigt. Während die politische Praxis kolonialistischer Unterwerfung und Unterdrückung kritisiert wird, wird deren ideologische Grundlage, die Überzeugung von der kulturellen und moralischen Überlegenheit der ‚zivilisierten‘ gegenüber den kolonisierten Völkern, bestärkt, auch wenn sie gegenüber den Marsianern relativiert wird.30
Die bilaterale Situation gestaltet sich umso interessanter, als diese eindeutige moralische Zuweisung mit umgekehrten Vorzeichen stattfindet: Die laßwitzschen Marsmenschen hatten ursprünglich geplant, die Erde als Rohstoff- und Energielieferant auszubeuten, aber der verfrühte Kontakt mit den Erdenmenschen offenbart einen Konflikt zwischen den instrumentellen Zielen der Marsianer und ihrer fortschrittlichen Ethik. Sollen die Mars-Bewohner ihre Kultur der primitiven Erde aufzwingen und damit die ihnen heilige Norm der persönlichen Autonomie verletzen? Die Würde der Erdenmenschen lässt es nicht zu, sich einfach von höheren Wesen zu einem angeblichen Utopia hinführen zu lassen.31
Darin manifestiert sich die „zeitkritische Stoßrichtung Kurd Laßwitz‘, der sich damit gegen den Kolonialismus aus[spricht], zu einer Zeit, da das Deutsche Reich sich gerade anschickt[…], sich als Kolonialmacht seinen ‚Platz an der Sonne‘ (so das damalige Schlagwort) zu erkämpfen“32 . Angesichts einer solchen negativen Entwicklung beginnt sich unter den Erdlingen eine Opposition unter der Bezeichnung ‚Menschenbund‘ gegen die angeblich sittlich so edlen Vertreter der Marszivilisation zu formieren, die mit ihren ökonomischen 28 29 30 31 32
Innerhofer: Deutsche Science Fiction, S. 261. Wenzel: Der Marsroman, S. 103. Innerhofer: Deutsche Science Fiction, S. 261. Weber: Science Fiction, S. 25. Wenzel: Der Marsroman, S. 103.
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Zwangsmaßnahmen zwar allgemeinen Wohlstand herbeiführen, doch die individuelle irdische Independenz supprimieren. Der Ruf nach Freiheit wird unter den sich zunehmend versklavt und fremdbestimmt fühlenden Erdenbürgern immer lauter: Je schwerer die Hand der Martier auf den Völkern ruhte, um so rascher und mächtiger verbreitete sich der allgemeine Menschenbund. Seine Prinzipien waren noch dieselben: […] Erringung der Kulturvorteile, die der höhere Standpunkt der Martier bieten konnte, um die Erde unabhängig von ihrer Herrschaft zu machen.33
Die Marsianer ihrerseits „streben zwar eine friedliche Zusammenarbeit an, es kommt aber erst einmal zu Divergenzen, ehe beide Planeten zu einer vernünftigen Koexistenz gelangen“34 . Die anfänglichen Antagonismen resultieren aus der Tatsache, dass die beiden Rassen mental allzu sehr voneinander differieren und durchaus divergierende Ziele verfolgen. Die Marsianer suchen die Erde zwar auszubeuten, indem sie Gewinne aus der Nutzung der Sonnenenergie eigenen Zwecken zuführen, doch gegen den Aufbau dieser von einem Teil der Marsianer eher wohlgesinnt in die Praxis umgesetzten klimaschützenden und ressourcenschonenden ‚Zwangsstrukturen‘ revoltieren wiederum die Menschen, die sich ja von der Bekanntschaft mit den fortschrittlichen Bewohnern des roten Planeten ganz andere Profite versprechen und in dieser Hinsicht eigene Schwerpunkte setzen: So hatten die Martier allerdings durch ihre Tributforderungen die Menschen gezwungen, der neuen Quelle des Reichtums in der direkten Sonnenstrahlung sich zuzuwenden und der Menschheit einen ungeahnten wirtschaftlichen Fortschritt verliehen. Aber sie hatten dies nicht, wie die Menschenfreunde auf dem Mars wollten, durch allmähliche Erziehung zur Freiheit getan, sondern durch Zwang. Und dieser Zwang war es, der die Menschen des äußeren Segens nicht froh werden ließ. Es war Fremdherrschaft, die auf ihnen lag, und je leichter ihnen der Gewinn des Unterhalts wurde, um so schwerer empfanden sie den Verlust der Freiheit und Selbständigkeit. Und der gemeinsame Druck ward wider Willen der Martier ein schnell wirkendes Mittel zur Erziehung des Menschengeschlechts.35
Die Begegnung der Marsianer mit den Erdbewohnern hinterlässt also nicht nur unter den Terranern tiefe zivilisatorische ‚Entwicklungswunden‘, sondern sie reißt auch in der angeblich monolithisch strukturierten marsianischen Gesellschaft eine profunde emotionale Kluft, die ihrerseits ein großes Fragezeichen hinter die moralische Integrität der Marsianer setzt und ihre gesellschaftliche 33 Laßwitz: Bd. 1, S. 509. 34 Galle: Volksbücher, S. 291. 35 Laßwitz: Bd. 1, S.508‒509.
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Harmonie in Zweifel zieht, indem sie sie in zwei grundsätzlich unversöhnbare quasi-politische Lager spaltet: einerseits progressive, republikanisch denkende Philobaten (Menschenfreunde) und andererseits reaktionäre, antidemokratisch eingestellte Antibaten (Menschenfeinde), die ihre konträren Einstellungen zu den Erdlingen zur Schau stellen. Die beiden Parteien haben sich antithetische Programme auf die Fahnen geschrieben. Sie zerstreiten sich prinzipiell über die Frage, ob die Menschen kulturfähig seien oder man „ihnen die Numenheit [d. h. marsianische Sittlichkeit/Geistigkeit – J.Rz.] aufzwingen, sie also kolonisieren“36 müsse? Die Anfänge dieses internen marsianischen Dissens liegen noch in den anfänglich misslungenen Bemühungen, mit der Erde in Kontakt zu treten, für die unterschiedliche Gründe ins Feld geführt wurden: Es hatte nicht an Versuchen der Martier gefehlt, sich mit den von ihnen vermuteten Erdbewohnern in Verbindung zu setzen. Aber die gegebenen Zeichen waren wohl nicht bemerkt oder nicht verstanden worden. Jedenfalls mochten die Erdbewohner nicht in der Lage sein, darauf zu antworten. Die Erde war ein sehr viel jüngerer Planet und in ihrer ganzen Entwicklung auf einer Stufe, wie sie der Mars schon vor Millionen Jahren durchlaufen hatte. Da sagten sich die Marsbewohner selbstverständlich, dass die Bate, wie sie die hypothetischen Bewohner der Erde nannten, jedenfalls auf einem viel niedrigeren Standpunkt der Kultur ständen als sie, die Nume; ja wer weiß, ob sie sich überhaupt schon bis zur Höhe der ‚Numenheit‘, zur Vernunftidee der Martier, erhoben haben! Um jene Zeit, als man auf der Erde von einem Jahrhundert der Naturwissenschaft zu sprechen anfing, blickten die Martier längst nicht nur auf das Zeitalter des Dampfes, sondern auch auf das Zeitalter der Elektrizität wie auf ein altes Kulturerbe zurück. Damals vollendete sich bei ihnen eine wissenschaftliche Entdeckung, die eine Umgestaltung aller Verhältnisse nach sich zu ziehen geeignet war. Die Enthüllung des Geheimnisses der Gravitation war es, die einen ungeahnten Umschwung der Technik herbeiführte und die Martier zu Herren des Sonnensystems machte.37
Gänzlich in kolonialistischer Denkweise befangen, interpretieren die aufgeklärten und technisch versierten Marsianer also das irdische Schweigen dahingehend, es sei die Folge der geistigen Unterentwicklung der ‚Wilden‘ oder ihrer intellektuellen Fehlbildung. Daraus erwachse ihrer Einschätzung nach auch die staatszivilisatorische ‚Abnormität‘ der irdischen Verhältnisse: „Rassen, Staaten und Stände in heißem Konkurrenzkampfe um Lebensunterhalt und Genuss, die ethischen und ästhetischen Ideale noch nicht rein geschieden von den theoretischen Bestimmungen.“38 Dies seien die Gegebenheiten, die alle irdischen Einigungsanstrengungen torpedierten und die Bemühungen, der planetarischen Zersplitterung ein Ende zu setzen, im Keim erstickten. Anders 36 Alpers et al: Lexikon, S. 248. 37 Laßwitz: Bd. 1, S. 106. 38 Ebd., S. 245.
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das Heimatgestirn der im Zitat angesprochenen ‚Herren des Sonnensystems‘: der Mars ist ein technologisches Utopia. […] Beachtenswerter noch als [die] technologischen Wunder, die zum Großteil bereits verwirklicht sind, sind die sittlichen Errungenschaften der Marsianer, die noch heute ohne Parallele dastehen. Laßwitz‘ autonome individualistische Einstellung zeigt sich sehr deutlich in der Organisation seines planetenweiten utopischen Staatswesens. […] Der Mars ist eine pluralistische Gesellschaft, ein loser Staatenbund, dessen einzelne Glieder Monarchien und Republiken, Oligarchien, auch sozialistische und kommunistische Staaten sind; Kapitalismus und Sozialismus koexistieren friedlich. Jeder Bürger kann formlos in jeden anderen Staat übersiedeln und die Regierungsformen können jederzeit durch einfache Willensbekundung der Staatsbürger geändert werden. Die demokratische Grundhaltung auf dem Mars geht so weit, dass der Martier, will er seines Wahlrechts nicht verlustig gehen, gehalten ist, am Tage mindestens zwei Zeitungen zu lesen, darunter eine oppositionelle.39
Die menschenfreundlichen Philobaten, die sich im republikanischen PolitGefüge wohlfühlen, streben an, „nach Möglichkeit bessere Ansichten über die Erdbewohner zu verbreiten“40 . Die menschenfeindlichen Antibaten hingegen fassen andere Ziele ins Auge: Den Menschen sollte die Würde der freien Selbstbestimmung abgesprochen, die Menschheit in eine Art Knechtschaft zum Dienst der Nume gestellt werden. Die Erde wollte man lediglich als ein Objekt der wirtschaftlichen Ausnutzung zugunsten des Mars behandeln und das Kulturinteresse der Menschheit nur insofern berücksichtigen, als es zum Mittel für die größere Leistungsfähigkeit dieser tributären Geschöpfe dienen konnte. Und diese Auffassung des Verhältnisses zur Erde war jetzt auf dem Mars zum Sieg gelangt.41
Die immer entschlossenere und offensivere Einstellung der Erdlinge, die sich als Reaktion auf die immer offensichtlichere ‚anti-irdische‘ Politik der reaktionären, menschenfeindlichen Partei auf dem Mars führt schließlich zu „militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Planeten und zu [schon oben erwähnten – J.Rz.] Spannungen innerhalb der marsianischen Gesellschaft zwischen Pazifisten und aggressiven Imperialisten“42 . Der am Rande des Ausbruchs schwelende interplanetarische Konflikt, den der Menschenbund einerseits und die Antibaten andererseits gezielt provozieren, eskaliert immer mehr und gipfelt vorerst in einer tiefen Demütigung der Menschheit, indem der kriegslüsterne Teil der Marsianer sein irdisches Protektorat auf Russland und die USA 39 Rottensteiner, Franz: Ordnungsliebend im Weltraum: Kurd Laßwitz, in: Ders. (Hg.): Polaris 1. Ein Science Fiction Almanach, Lüneburg 2014, 133‒157, hier S. 139. 40 Laßwitz: Bd. 2, S. 118. 41 Ebd., S. 505. 42 Weber: Science Fiction, S. 26.
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ausweitet und dem Homo sapiens ein nicht abzulehnendes Ultimatum stellt, „wonach die gesamte Bevölkerung der Erde des Rechts der freien Selbstbestimmung für verlustig erklärt werde“43 . Den solcherart in die Enge getriebenen Menschen bleibt nichts anderes übrig, als zum Gegenschlag anzusetzen. Die Verstrickung vor allem Amerikas in den interspeziellen Streit erweist sich in ihren Folgen als höchst problematisch, denn der Versuch der Niederringung des ,letzten Bollwerks der Freiheit‘, wie Laßwitz im ausgehenden 19. Jahrhundert die Rolle der Vereinigten Staaten in antizipatorischer Voraussicht definiert, zwecks Annahme des Ultimatums schlägt fehl. Den Erdlingen gelingt es unter der amerikanischen Führung, die marsianischen Kommunikationssysteme zu sabotieren und ins Chaos zu stürzen, weshalb die Invasoren vom vierten Planeten keine sinnvolle Verteidigungstaktik anwenden können. Der erfolgreichen Bewältigung der Befreiungsaufgabe auf der Erde kommt auch die Tatsache zugute, dass die geheimen Absichten der Menschheit, die besser ausgerüsteten Marsschiffe nachzubauen, tatsächlich Früchte tragen. Die Replikas können beim direkten bewaffneten Zusammenstoß mit den marsianischen Originalen zwar nicht das Feld behaupten, sind aber nichtsdestoweniger im Stande, fremde Maschinen im Schach zu halten. „Die Marsianer könnten natürlich durch ein vernichtendes Bombardement der Erde aus dem Weltraum fürchterliche Rache nehmen, doch verbietet ihnen ihr Gewissen Genozid“44 . Auf diese Weise kehrt sich die wahre Stärke der Marsianer, das Prinzip der entwaffnenden Wirkung der Ethik der Vernunft, gegen sie selbst. Der gerade noch verhinderte militärische Schlagabtausch im globalen Maßstab und die darin imminent vorhandene Gefahr eines interplanetaren Holocaust bringen die beteiligten Parteien zur Räson: „Ein Friedensvertrag wird geschlossen und in einem irdischen Weltstaat kooperieren Marsianer und Menschen eng miteinander. Die Vernunft hat auf beiden Planeten gesiegt“45 . Die Ereignisse auf dem Blauen Planeten bleiben nicht ohne Folgen auf die innermarsianischen Verhältnisse. Es kommt zu grundlegenden, ja dramatischen Umwälzungen im herrschenden traditionellen politischen Machtgefüge: Die Niederlage der Martier, der Verlust der Herrschaft über die Erde, hatte der AntibatenPartei zunächst einen schweren Schlag versetzt. Die Vertreter einer menschenfreundlichen Politik wiesen darauf hin, wie allein das scharfe und ungerechte Vorgehen gegen die Bewohner der Erde die Schuld trage, dass der Nume nun vor dem Menschen sich demütigen müsse. Es sei dies aber eine gerechte Strafe für die Fehler der Antibaten, die sich somit als unfähig zur Führung der Regierungsgeschäfte erwiesen hätten. Die Idee der Numenheit, die Gerechtigkeit gegen alle Vernunftwesen verlange als die allein würdige 43 Laßwitz: Bd. 2, S. 512. 44 Rottensteiner: Ordnungsliebend, S. 136. 45 Ebd.
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Sühne die Bestätigung der Freiheit, welche die Menschen sich erkämpft hätten. Es gäbe überdies kein Mittel, die Menschen, seitdem sie sich im Besitz der Waffen der Martier befänden, auf eine andre Weise zu bezwingen, als durch eine vollständige Verheerung ihres Wohnorts; eine solche Barbarei aber könne den Numen nie in den Sinn kommen. Sie seien der Erde genaht, um ihr Frieden, Kultur und Gedeihen zu bringen, nicht um einen blühenden Planeten zu vernichten, nur damit sie seine Oberfläche zur Sammlung der Sonnen-Energie ausbeuten könnten.46
In ihrer ethisch-politischen Verblendung gestehen die Marsianer den Menschen also gnädig Rechte zu, die diese sich bereits selbst erkämpft haben und so nicht mehr auf die Gunst der Bewohner des roten Planeten vertrauen müssen. Doch die zivilisatorische Emanzipation der Erdenbürger passt vielen antidemokratisch und imperialistisch denkenden Antibaten, die sich einerseits für die eigene technische und ethische Überlegenheit stark sensibilisiert fühlen und andererseits den Verlust der Erde als ‚gute Gewinne abwerfender prosperierender ökonomischer Goldgrube‘ schmerzhaft empfinden, nicht ins Konzept. Wie wenig vertrauenswürdig sie in der Tat sind, wie wenig zuverlässig und solide sie sich der neuen, für sie unfassbaren Neuordnung der bilateralen Beziehungen nähern, veranschaulicht ihre Neigung, an der eigenen hochgehaltenen moralischen Superiorität Verrat zu üben, indem sie sich die Vorbereitung eines barbarischen Anschlags auf die Erde zuschulden kommen lassen: Unheimliche Gerüchte über die Absichten der Martier durchschwirrten die Erde. Eines vor allen nahm immer deutlichere Gestalt an und erfüllte die Gemüter mit Grausen. […] Es handelte sich um nichts Geringeres als die Absicht, die tägliche Umdrehung der Erde um ihre Achse aufzuheben. Diese Rotation der Erde sollte so verlangsamt werden, dass der Tag allmählich immer länger wurde und endlich mit dem Umlauf der Erde um die Sonne zusammenfiele, dass also Tag und Jahr gleich würden. Dann würde die Erde in derselben Lage zur Sonne sein wie der Mond zur Erde, das heißt, sie würde der Sonne stets dieselbe Seite zukehren. Es gäbe keinen Unterschied mehr von Tag und Nacht, die eine Seite der Erde hätte ewigen Sonnenschein, die andere ewige Finsternis […]. Eine Eiszeit, der kein Leben widerstehen könnte, würde auf die Schattenseite der Erde hereinbrechen, während die Sonnenseite in Gluten verdorren würde. Wohl nur auf einer schmalen Grenzzone könnte sich Leben erhalten. Aber wer vermochte zu sagen, welch andere, verderbliche Umwandlungen bei einer derartigen Änderung des Gleichgewichts von Luft und Wasser auf der Erde noch eintreten mochten?47
Als die geheimen Erdenvernichtungspläne der menschenfeindlichen Antibatenpartei aufgedeckt und öffentlich gemacht werden, gelingt es den menschenfreundlichen Philobaten, auf dem Weg demokratischer Wahlen den antibatischen Demokratiefeinden den Boden unter den Füßen wegzuziehen und die 46 Laßwitz: Bd. 2, S. 526f. 47 Ebd., S. 529‒531.
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Macht mit dem Ziel zu übernehmen, mit der Erde einen Friedensvertrag zu schließen. Die Darstellung verschiedener Systeme, die politisch und wirtschaftlich unterschiedlich organisiert und nicht selten verfeindet sind, reflektiert die latente Instabilität der staatlichen Strukturen auf beiden Planeten. Die ähnlich konzipierten politischen Ordnungen bieten Laßwitz genügend Angriffspunkte, um die Entwicklungstendenzen auf dem blauen Heimatplaneten kritisch zu kommentieren. So schießt er sich etwa auf die ihm vertrauten monarchischen Positionen ein. Doch als kaiserlicher Staatsbeamter darf er sich nur eine rücksichtsvoll geübte ‚utopische‘ Systemkritik erlauben, deren problematische Komponenten wie etwa ‚reaktionäres Denken‘ und ‚oligarchische Traditionen‘ realitätsreferenzielle Decodierungen suggerieren. Die relativ profane Wiedererkennbarkeit des systemischen Kontextes lenkt auch die Aufmerksamkeit der Vertreter der ‚anderen Seite‘ auf sich. Gewisse Monarchisten fühlen sich von den programmatisch geleiteten Schilderungen politischer Ordnungen im Roman zu hasserfüllten Ausfällen gegen den Autor provoziert. Ein Kritiker machte seinem Ärger folgendermaßen Luft: Die erhabenen Nume sind nichts als Typen der internationalen Friedensapostel, nach dem Vorbild der Frau von Suttner, Vertreter des doktrinären Verstandeshochmuts, der auf alle Regungen des Herzens mit lächelnder Geringschätzung herabsieht, Übersetzungen und zwar schlechte Übersetzungen von Originalen, die wir nur zu wohl kennen […] Durch den ganzen Roman geht die kalte Überhebung einer Gruppe von Vernunftfanatikern […] soldatenhassende Fantasie […] einfache Sensationserregung […] anmaßende Tendenz […] hohle[s] Pathos.48
Seine Vorstellungen von Patriotismus angesichts der waffenstarrenden Ideologen konkretisiert Laßwitz in den Worten eines der menschenfreundlichen Anführer der Marsianer: „Deutschland oder Frankreich oder England, irgendeine Nation oder ein Staat ist ja kein Selbstzweck; Selbstzweck kann nur die Menschheit als Ganzes sein. Die einzelnen Völker und Staaten sind Mittel, im gegenseitigen Wettbewerb, die Idee der Menschheit zu erfüllen“49 . Auf diese Weise erteilt der Visionär Kurd Laßwitz in seinem weltraumutopischen Marsroman Auf beiden Planeten allen nationalistischen, militaristischen, antidemokratischen Ideen und deren irdischen Realisationen eine deutliche Abfuhr.
48 NN.: Der technische Chiliasmus in der neuen Dichtung, in: Die Grenzboten 57 (1898), S. 499‒509, hier S. 507ff. 49 Laßwitz: Bd. 1, S. 322f.
Von vernunftfanatischen Kolonisatoren
Literaturverzeichnis NN.: Der technische Chiliasmus in der neuen Dichtung, in: Die Grenzboten 57 (1898), 499‒509. Aldis, Brian W., Wingrove, David: Der Milliarden-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction, Bergisch Gladbach 1990. Alpers, Hans-Joachim; Fuchs, Werner, Hahn Roland M. (Hg.): Reclams Science Fiction Führer, Stuttgart 1982. Alpers, Hans-Joachim, Fuchs, Werner, Hahn, Roland M., Jeschke, Wolfgang (Hg.): Lexikon der Science Fiction Literatur. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe in einem Band, München 1987. Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane. Ein Streifzug durch 100 Jahre Unterhaltungsliteratur, Passau 1998. Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870–1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien/Köln/Weimar 1996. Innerhofer, Roland: Science Fiction, in: Brittnacher, Hans Richard, May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 318‒328. Kasson, John F.: Civilizing the Machine; Technology and Republican Values in America 1776‒1900, New York 1977. Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern, Leipzig 1905. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Bonn 1929. Rottensteiner, Franz: Ordnungsliebend im Weltraum: Kurd Laßwitz, in: Rottensteiner, Franz (Hg.): Polaris 1. Ein Science Fiction Almanach, Frankfurt am Main 1973, S. 133‒164; Lüneburg 2014, S. 133‒157 (2. Ausgabe). Simon, Erik, Spittel, Olaf R.: Die Entwicklung der deutschen Science-fiction im 19. und 20. Jahrhundert als belastendes/vergessenes/lebendiges Erbe der DDR-SF, in: dies. (Hg.): Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke. Ein Lexikon, Ostberlin 1988. Weber, Thomas P.: Science Fiction, Frankfurt a. M. 2005. Weigand, Jörg: Das weite Feld der Phantasie. Aspekte deutschsprachiger Unterhaltungsliteratur. 111 Aufsätze aus 28 Jahren, Passau 1996. Wenzel, Dietmar: Das Eckchen vom Märchengarten. Über Leben und Werk von Kurd Laßwitz, in: Ders. (Hg.): Kurd Laßwitz: Lehrer, Philosoph, Zukunftsträumer. Die ethische Kraft des Technischen, Meitingen 1987, S. 11‒64. Wenzel, Dietmar: Der Marsroman, in: Ders. (Hg.): Kurd Laßwitz: Lehrer, Philosoph, Zukunftsträumer. Die ethische Kraft des Technischen, Meitingen 1987, S. 99‒108.
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Dominik Müller (Université de Genève)
Schriftsteller als Staats-Schreiber? Politische Interventionsformen der Literatur in der Schweiz ‒ von Gottfried Keller zu Guy Krneta
1.
„Dann wird sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch“: Gottfried Keller
Im Zürcher Rotpunktverlag – der Name ist Programm, die erste Veröffentlichung des Verlags war 1976 eine Sammlung von Reden Fidel Castros – erschien 2015 ein Buch mit dem langen Titel: Dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.1 Der Titel ist jener Novelle entnommen, die als Gottfried Kellers patriotischstes Werk gilt. Der Untertitel stellt dies klar: „Das Fähnlein der sieben Aufrechten von Gottfried Keller, gelesen von Urs Widmer, wiedergelesen von Guy Krneta“. Das Buch enthält drei Texte: – Kellers Novelle, die in Bernhard Auerbach’s deutschem Volks-Kalender von 1861 erstmals erschienen war und 1876 in die Sammlung der Züricher Novellen einging. – Die lange Einleitung, die Urs Widmer 1989 für eine Neuausgabe der Novelle im Wagenbach-Verlag geschrieben hatte.2 – Der einzige Originalbeitrag: die Erzählung Schneidermeister Hedigers Erben von Guy Krneta. Schneidermeister Hediger ist einer der sieben Aufrechten, schon etwas ins Alter gekommene Handwerker aus Zürich, Radikaler der ersten Stunde, die einen patriotischen Zirkel bilden und als eine kleine Delegation mit eigener Fahne – sie bezeichnet metonymisch auch die Gruppe – an einem eidgenössischen Schützenfest teilnehmen. Dieses findet in Aarau statt, womit für zeitgenössische Leser klar war, dass die Novelle sich um das Schützenfest von 1849 dreht. Dieses war das erste, das nach der Bundesstaatsgründung von 1848 stattfand und so mitzuhelfen hatte, die Gräben zuzuschütten, die der Sonderbundskrieg 1 Dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch. Das Fähnlein der sieben Aufrechten von Gottfried Keller. Gelesen von Urs Widmer. Wiedergelesen von Guy Krneta, Zürich 2015. 2 Vgl. Keller, Gottfried: Das Fähnlein der sieben Aufrechten. Neu entrollt und hochgehalten von Urs Widmer, Berlin 1989 (Wagenbachs Taschenbücherei 141).
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zwischen den konservativen, mehrheitlich katholischen und den schließlich siegreichen liberalen Kantonen aufgerissen hatte. Von den Erben Hedigers, denen Krnetas Erzählung gewidmet sein wird, kommt in Kellers Geschichte erst einer vor, Karl, der jüngste Sohn des Schneiders. Er – „ein angehender Beamter auf einer Regierungskanzlei“3 ; außerhalb der Fiktion hätte er so ein Untergebener des Staatsschreibers Gottfried Keller sein können – hilft seinem Vater und dessen sechs Freunden aus der Patsche, wenn er auf dem Schützenfest auf seine gewinnende Art für sie den obligatorischen Toast ausbringt, weil keiner der Sieben zu sprechen bereit war. Der Titelsatz des angereicherten Fähnlein-Reprints des Rotpunktverlags ist emblematisch für eine linke Keller-Rezeption in der Schweiz.4 1975 stand er auf einem Werbeplakat des Kandidaten der sozialdemokratischen Partei für einen der beiden Zürcher Sitze im Ständerat, der kleinen Kammer des eidgenössischen Parlaments. Der Ausschnitt auf dem Plakat ist etwas länger. Er umfasst auch den vorangehenden Nebensatz, der festlegt, wann der Fahnentest denn an der Zeit sein werde: Es wird eine Zeit kommen, wo in unserem Lande, wie anderwärts, sich große Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein; dann wird es gelten, dem Teufel die Zähne zu weisen; dann wird sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch!5
Der Kandidat, für den so geworben wurde, war Adolf Muschg, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und im Gegensatz zu den meisten, die in der Schweiz Keller zitieren, ein profunder Kenner des Dichters. Zwei Jahre nach der erwartungsgemäßen, aber doch überraschend ehrenvollen Nichtwahl veröffentlichte der Germanistik-Professor der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich (ETH) seine epochemachende Keller-Monographie.6 Entnommen ist das Zitat einer enragierten Rede, die Hediger seiner Frau hält. Er, der später ums Sterben am Schützenfest nicht öffentlich reden will, erklärt darin weitschweifig, warum er nichts von einer Heirat seines Sohns Karl mit Hermine wissen will, der Tochter des reichen Zimmermeisters Frymann, des 3 Keller, Gottfried: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe, Basel/Zürich 1996–2013, Bd. 6, S. 259f. 4 Dazu: Müller, Dominik: Der 48er und die 68er. Die Gottfried-Keller-Rezeption bei Adolf Muschg, Peter Bichsel, Hugo Loetscher, Otto F. Walter und Urs Widmer, in: Pormeister, Eve, Graubner, Hans (Hg.): Tradition und Moderne in der Literatur der Schweiz im 20. Jahrhundert, Tartu 2008, S. 19–37. 5 Keller: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 287. 6 Muschg, Adolf: Gottfried Keller, München 1977.
Schriftsteller als Staats-Schreiber?
anderen Aufrechten, den die Erzählung aus dem Kollektiv heraushebt. Diese Heirat, so setzt Hediger seiner Frau wortreich auseinander, würde dem Sohn zu einem nicht selber verdienten Reichtum verhelfen. Solchem Reichtum sei zu misstrauen, denn es sei ein Vorzug der Schweizer Gesellschaft (der damaligen!), dass es „keine ungeheuer reichen Leute“ gebe. Sollte sich das ändern, könnte das für das Gemeinwesen gefährliche Folgen haben: „laß aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, die politische Herrschsucht besitzen, und du wirst sehen, was die für Unfug treiben!“7 Hedigers Frau lacht ihren Mann wegen seiner „großen und steifen Worte“8 aus und nennt ihn einen Narren, der sich ohne Not Frymanns Wunsch unterwerfe, für seine Tochter einen begüterten Mann zu finden. Ironisiert wird Hedigers Dogmatismus rückwirkend auch durch den Ausgang der Novelle, der Karl und Hermine zusammenführt. Obwohl Keller das Happy End in gewohnter Weise nur noch kurz und mit leichter Hand abtut, legt dieses doch nahe, die am Schützenfest gestiftete Ehe eher als gesellschaftliches Reifezeichen denn als Warnsignal zu verstehen. Hedigers Befürchtung, dass ein wildwüchsiger Kapitalismus für die Demokratie zur Bedrohung werden könnte, ist damit jedoch keineswegs entkräftet. Eine Vorstellung des Buches, das Gottfried Kellers Novelle von 1862, Urs Widmers Kommentar von 1989 und Guy Krnetas erzählerische Weiterführung von 2015 zusammenführt, eignet sich aus mehreren Gründen als Einleitung zu den nachfolgenden Überlegungen zur politischen Literatur aus der Schweiz. Diese drehen sich einerseits um die Frage, wie sich die Interventionsformen, mit denen sich Schriftsteller in politische Debatten einschalten, seit Kellers Zeiten gewandelt haben, und beschäftigen sich andererseits ausführlicher mit dem Schriftsteller Guy Krneta, weil dieser – so die These – in der Geschichte der politischen Literatur der Schweiz neue Formen erprobt. Guy Krnetas Wirken, das sich literarischer Mittel bedient, aber nicht darauf beschränkt, möchte ich vorsichtig mit dem in Zusammenhang bringen, wonach der vorliegende Sammelband Ausschau hält, nach der „Wiederkehr der res publica“ – vorsichtig, weil eine Schwalbe noch keinen Frühling macht und weil es in der Natur der Sache liegt, dass eine solche „Wiederkehr“ nicht von einzelnen herbeigeführt werden kann. Das Wort „Wiederkehr“ implizierte, dass es früher schon einmal Zeiten gab, in denen die res publica ‚da war‘ und das Geschehen bestimmte. In der Schweiz sieht man, besonders in linksliberalen Kreisen, die Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Bundesstaat von 1848 geschaffen wurde, gerne als eine solche Zeit an. Der Umstand, dass damals eine Verfassung geschaffen wurde, die in ihren Grundzügen bis heute in Kraft geblieben ist, mag als ein Indiz dafür 7 Keller: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 287. 8 Ebd.
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angesehen werden, dass diese Einschätzung sich nicht bloß einem verklärenden historischen Blick verdankt. Der Band des Rotpunktverlags, dessen Titel auf die Zukunft verweist, nimmt diesen charakteristischen Rückgriff auf die politische Kultur der Gründerjahre des Bundesstaats selber vor, obwohl das Stichwort der res publica darin nicht auftaucht. Vor diesem Hintergrund wird hier in Anlehnung an die Publikation des Rotpunktverlags Kellers Novelle als ein Dokument politischer Literatur aus einer Blütezeit der res publica betrachtet. Ihr haftet ein durchaus euphorischer Zug an, doch übersetzt sie die Vorstellungen von einer intakten res publica auf äußerst subtile Art in ein realistisch-allegorisches Narrativ. Die Mikrogemeinschaft der sieben Patrioten wird zwar auf anrührende Weise geschildert, aber keineswegs als spannungsfrei. Und ihre Repräsentativität für ein mehr oder weniger funktionierendes Staatswesen wird nicht einfach behauptet, sondern mit ironischer Reserve zur Diskussion gestellt. Der Verdacht, dass die sieben alten Republikaner nicht mehr in ihre Gegenwart passen, wird durch die Festeuphorie zwar vorübergehend suspendiert, lässt sich aber nicht wirklich ausräumen. Als die Novelle 1861 erstmals erschien, lag das Aarauer Schützenfest bereits 12 Jahre zurück. Fünfzehn Jahre später passte das Fähnlein dann vollends zu den anderen historischen Novellen, die Keller unter dem Titel Züricher Novellen zusammenstellte. Keller umschrieb das Werk jetzt als eine Erzählung, die von „glücklicheren tempi passati“9 handle, von der damaligen „Freude über den Besitz der neuen Bundesverfassung“10 , und in einer Zeit, die „soziales Mißbehagen, Eisenbahnmisere, eine endlose Hatz“ prägten, wie ein „antiquiertes Großvaterstück“11 wirke. Trotz eines noch viel geringeren historischen Abstandes ist in Kellers Novelle so bereits angelegt, was der kleine Sammelband des Rotpunktverlags dann im übernächsten Jahrhundert weiterspielen wird: Etwas Altes wird hervorgeholt, um daran das Neue zu prüfen. Für Urs Widmer verdiente es Das Fähnlein der sieben Aufrechten schon Ende des 20. Jahrhunderts neu ‚entrollt und hochgehalten‘ zu werden, wie der Untertitel der Neuausgabe verkündet, für die er sein ausführliches Nachwort schrieb (Keller 1989). Zwar sei es eine „Jubelgeschichte“12 , „C-dur-Blechmusik“13 , in die sich aber auch „Molltöne“14 mischten. Widmer hat dabei insbesondere jene düsteren Zukunftsvisionen im Blick, für die der Schneidermeister Hediger als
9 Keller an Julius Rodenberg, 27. März 1878, in: Keller: Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 554. 10 Biographische Notiz von Gottfried Keller (1889), in: Keller: Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 420. 11 Keller an Theodor Storm, 25. Juni 1878, in: Keller: Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 554. 12 Dann wird es sich zeigen, S. 166. 13 Ebd., S. 164. 14 Ebd., S. 166.
Schriftsteller als Staats-Schreiber?
Sprachrohr dient. Das Fähnlein mache klar, dass Demokratie und grenzenloses Renditestreben nicht unter einen Hut zu bringen seien und führe der Schweiz am Ende des 20. Jahrhunderts vor Augen, wie weit sich insbesondere die Freisinnig-demokratische Partei – damals (vor dem Aufstieg der vom Milliardär Christoph Blocher angeführten Schweizerischen Volkspartei SVP) mit ca. 25 % Wähleranteil noch die tonangebende bürgerliche Partei der Schweiz – sich von den demokratischen Hoffnungen von 1848 entfernt habe. Widmer nutzte den hoch kanonisierten literarischen Text also, um an den aktuellen politischen Zuständen der Schweiz Kritik zu üben. Guy Krneta tut dies ebenfalls, knüpft 2015 aber an ein scheinbares Detail an, die Einleitungsszene der Novelle, in der sich Schneidermeister Hediger eine Pause gönnt und Zeitung liest. Sein Leibblatt ist der Schweizerische Republikaner, das Organ der radikalen Liberalen. Es ging 1839 aus Anlass des „Züri-Putsches“, bei dem die erste liberale Regierung des Kantons Zürich von einem Aufstand der Konservativen aus dem Amt gejagt wurde, aus dem 1830 gegründeten Republikaner hervor (dieser Umsturz ist nicht nur in lokal-, sondern auch in sprachgeschichtlicher Hinsicht ein wichtiges Ereignis, weil hier die Weltkarriere des schweizerdeutschen Dialektwortes „Putsch“– für ‚Zusammenstoß‘ – begann). In der Realität stellte die Zeitung ihr Erscheinen schon 1851 ein. Guy Krneta schenkt ihr nun ein fiktives Weiterleben bis in unsere Gegenwart. Seine Fortschreibung der Keller’schen Novelle erzählt im Stil eines nüchternen journalistischen oder historiographischen Berichts, wie der Schweizerische Republikaner Anfang des 21. Jahrhunderts neu positioniert wird. Die Finanz- und – wenn man so sagen darf – Ideologiejongleure, die im Hintergrund die Fäden ziehen und die Journalisten zu Marionetten degradieren, bringen dabei die Zeitung um das, was ihr Titel verheißt, ihre republikanische Seele. Und der Zufall bzw. der Wille des Autors will es, dass sie wieder ihrer sieben sind. Sie werden am Schluss in einer Art erweitertem Personenverzeichnis in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet, angefangen mit Alexander Abegg, der die Zeitung in vierter Generation geerbt hat, bis zu Arnold Winkler, einem schwerreichen Industriellen und Politiker, der die Zeitung schließlich kauft und auf rechtsnationalen Kurs bringt. Von ihm wird unter Anderem vermerkt, dass er es sich nicht habe nehmen lassen, „anlässlich des hundertfünfundzwanzigsten Todestages Gottfried Keller als ‚Dichter des Bundesstaates‘ im Schweizerischen Republikaner persönlich zu würdigen.“15 Das ist eine Anspielung auf die traditionsreiche Vereinnahmung Kellers als Apologet des Schweizerischen Bundesstaats, die dessen offizielle Berufsbezeichnung während seiner Anstellung beim Kanton Zürich zwischen 1862 und 1876, „Staatsschreiber“, gerne als Bezeichnung für
15 Dann wird es sich zeigen, S. 199.
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einen Schriftsteller metaphorisiert, der sein Schreiben in den Dienst des Staates stellt.16 Für Leserinnen und Leser, die mit der Schweizer Politik vertraut sind, liegt auf der Hand, dass Arnold Winkler ein reales Vorbild hat: Christoph Blocher. Auch dieser äußerte sich schon wiederholt zu Keller.17 Die Erzählung ist ein Schlüsseltext, dem die Vorgänge zugrunde liegen, in denen es Blocher nach 2010 gelang, mehr oder weniger im Versteckten die Basler Zeitung – abgekürzt: BaZ –, die wichtigste Tageszeitung im Raume Basel, unter seine Kontrolle und auf einen SVP-nahen Kurs zu bringen. Guy Krneta hat sich im Zusammenhang mit dieser Umpolung einer liberalen Zeitung stark engagiert. Davon wird noch die Rede sein. 2.
Vom 19. ins 21. Jahrhundert
Vorher nun aber der angekündigte skizzenhafte Überblick über die sich verändernden politischen Interventionsformen von Schriftstellern aus der Schweiz. Schriftstellerinnen kommen darin – nicht ganz zu recht – nicht vor, wie denn dieser Abriss überhaupt eine halsbrecherische Verkürzung darstellt. Für Keller – wie übrigens kurz vorher auch schon für Jeremias Gotthelf – kam die Politik vor der Literatur. Das Engagement für die liberale Sache verhalf Keller Anfang der 1840er Jahre zum Stoff für erste Gedichte, zu Publikationsmöglichkeiten und schließlich zu einem großzügigen Stipendium für einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Heidelberg und Berlin. Für seine Erzählwerke, die 1854, sechs Jahre nach der Bundesstaatsgründung, zu erscheinen begannen, wählte Keller gerne schweizerische Schauplätze, deren politischgesellschaftliche Dimensionen er mehr oder weniger gründlich, aber immer nuanciert ausleuchtete. Dass sich Keller nie damit begnügte, einfach die realen Zustände abzubilden, illustriert am besten die Erfindung der fiktiven Schweizer
16 Der Germanist Hans Jürg Lüthi zum Beispiel sagte 1975 in seiner Rektoratsrede am Dies academicus der Universität Bern, in dem er Gottfried Keller als gutes Beispiel eines „Schweizer Dichters“ gegen Max Frisch ausspielte: Der „Staatsbürger“ braucht „Vorbilder, Verbesserungsmuster, und von wem sollte er sie erwarten, wenn nicht vom Schweizer Dichter, der immer auch ein wenig Staats-Schreiber sein soll!“ In: Lüthi, Hans Jürg: Schweizer Schriftsteller und die Schweiz, Bern 1975 (Berner Rektoratsreden), S. 23. 17 Vgl. als Beispiel: Blocher, Christoph: Gottfried Keller. Neujahrsanlass vom 2. Januar 2012 in Niederglatt, https://www.blocher.ch/wp-content/uploads/pdf_assorted/111230_GottfriedKeller.pdf, letzter Zugriff: 16. Dezember 2019.
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Stadt Seldwyla, die auf eine höchst intrikate Weise gleichzeitig eine bissige Karikatur und ein utopisches Gegenbild helvetischer Zustände ist.18 Keller publizierte neben seinen frühen liberalen Programmgedichten und seinen Erzählwerken mit ihren mannigfaltigen Vexierbildern der Schweiz auch etliche Zeitungsartikel zu politischen Themen. Darin äußert er sich als Staatsbürger, nüchtern, sachbezogen, nicht selten anonym. Er versagt es sich in diesen Zeitungsartikeln strikt, zu ‚schriftstellern‘ und sein wachsendes Renommee als Dichter in die Waagschale zu werfen. Dass sich bloß eine Generation später der Ton politischer Einmischungen von literarischer Seite radikal ändert, soll hier mit einem berühmten Text illustriert werden, der so beginnt: So ungern als möglich trete ich aus meiner Einsamkeit in die Öffentlichkeit, um vor Ihnen über ein Thema zu sprechen, das mich scheinbar nichts angeht. Es würde mich auch in der Tat nichts angehen, wenn alles so wäre, wie es sein sollte. Da es aber nicht der Fall ist, erfülle ich meine Bürgerpflicht, indem ich versuche, ob vielleicht das Wort eines bescheidenen Privatmanns dazu beitragen kann, einem unerquicklichen und nicht unbedenklichen Zustand entgegenzuwirken.19
Natürlich: da ist Rhetorik im Spiel, captatio benevolentiae und Bescheidenheitstopos. Schwer vorstellbar, dass sie verfing. Jeder, der das hörte oder las, wusste, dass hinter der vorgeschobenen Autorität des „bescheidenen Privatmanns“ die des angesehenen Autors und früheren NZZ-Redakteurs steht. Carl Spitteler reagierte mit seiner berühmten Rede vom 14. Dezember 1914, die sofort auf Deutsch, Französisch und Italienisch im Druck erschien, auf den bedrohlichen Antagonismus zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die einseitigen Sympathien zu Deutschland bzw. zu Frankreich hatte ihn aufbrechen lassen. Spitteler mahnte: „Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn, und bis auf weiteres liebe Nachbaren; alle, die diesseits wohnen, sind mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder.“20 Das hier appellativ eingesetzte Possessivpronomen in der ersten Person im Plural ist auch das Anfangswort von Spittelers Titel: Unser Schweizer Standpunkt. 18 Dazu vgl. Müller, Dominik: Von Seldwyla nach Barbarswyla. Werkübergreifende poetische Topographien bei Gottfried Keller, Otto F. Walter und Gerold Späth, in: Mauz, Andreas, Weber, Ulrich (Hg.): Verwunschene Orte. Raumfiktionen zwischen Paradies und Hölle, Göttingen/Zürich 2014, S. 77–98. 19 Spitteler, Carl: Unser Schweizer Standpunkt [1914], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8.: Land und Volk, hg. von Werner Lauber. Zürich 1947, S. 577–594, hier S. 579. 20 Ebd., S. 581.
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Spitteler kommt im weiteren Verlauf dann doch noch auf seine Schriftstelleridentität zu sprechen, wenn er – nun sehr selbstbewusst – seine Leserschaft nördlich des Rheins erwähnt: „heute blüht mir Sympathie und Zustimmung wie ein Frühling aus Deutschland entgegen, unabsehbar, unerschöpflich.“21 Spitteler machte sich aber keine Illusionen, was ihn denn auch eine Weile hatte zögern lassen, die Rede überhaupt zu halten: Er setzte mit ihr genau diese Sympathie aufs Spiel. Kaum ein Autor aus der Schweiz hat seit der Bundesstaatsgründung für eine Intervention einen höheren Preis bezahlt. Er gewann zwar in der Westschweiz viele glühende Verehrer, wurde aber Ziel massiver Anfeindungen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus deutschfreundlichen Kreisen der Schweiz. Was mir diese Interventionen von denen Kellers (und auch von denen Gotthelfs) fundamental zu unterscheiden scheint, ist, dass Spitteler das symbolische Kapital seines unpolitisch verstandenen Dichtertums in die Waagschale wirft und seine Intervention außerhalb der politischen Diskurse zu situieren sucht. Mit der Art, wie der Autor sich selber positioniert, modelliert er auch sein Gegenüber, den Zuhörer, die Leserin, packt er diese doch bei dem, was fiktionale Literatur von ihnen verlangt: Einfühlungsvermögen, Empathie. Das zeigen insbesondere die eindrücklichen Schlusssätze: Wenn ein Leichenzug vorüber geht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Nicht wahr, das brauchen Sie nicht erst zu lernen? Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache. Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab. Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.22
Der feierliche Ton der Rede war der Ausnahmesituation angemessen und scheint seinen Zweck auch erfüllt zu haben. Mir scheint, dass Spittelers Dispositiv im 20. Jahrhundert für die politischen Interventionen von Schriftstellern bestimmend wurde, auch in weniger exponierten Situationen. Frisch, Dürrenmatt, Muschg oder in neuerer Zeit Lukas Bärfuss setzten und setzen ihr symbolisches Kapital als angesehene Autoren ein, wenn sie sich in politische Debatten mischen. Damit kann durchaus ein 21 Ebd., S. 583. 22 Ebd., S. 594.
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Risiko verbunden sein, auch wenn dieses in der Schweiz im 20. Jahrhundert vergleichsweise gering war. Es entstanden und entstehen Essays, Reden, Pamphlete mit literarischem Anspruch und manchmal von literarischem Rang. Persönliche Erfahrungen – Spittelers Hinweise auf sein deutsches Publikum wären dafür ein Beispiel – kommen zur Sprache. Die Verlautbarungen situieren sich in einem Randbereich der politischen Debatte. Im besten Fall mischen sie die politische Debatte neu auf, wie das etwa Frisch 1966 mit seinem denkwürdigen Referat zur sog. „Überfremdung“ gelang, dessen Anfangssätze sich im kollektiven Bewusstsein eingeprägt haben: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“23 Im schlimmsten Fall lösen sie Kopfschütteln aus, wie das – nach meiner Einschätzung – Adolf Muschgs Essay Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt 24 passierte. A propos Adolf Muschg: In seinem Zusammenhang stieß ich bei meinen Recherchen für diesen Beitrag zum einzigen Mal auf das Leitwort dieser Publikation: In Manfred Dierks „biographischem Porträt“ Adolf Muschgs ist das sechste Kapitel überschrieben mit „Res publica und Heimatland“. Muschg, so Dierks, habe der res publica gegenüber „Pflicht und Schuldigkeit“25 empfunden. Das ist eine Herleitung, wie sie Muschg in seiner Monographie26 selber für das politische Engagement Kellers vornimmt. Das Eintreten für die res publica wird dabei – psychoanalytisch – auf persönliche Hintergründe und Verlusterfahrungen zurückgeführt. Ein Interesse für die Politik um der Politik willen scheint da nicht vorgesehen zu sein. Auch das ist ein Hinweis auf eine Art Entpolitisierung des politischen Schriftstellers, wie sie Spitteler in seiner Rede anstößt. 3.
In Formation: Guy Krneta
Kommen wir nun aber zurück zu Guy Krneta, zu einem politischen Schriftsteller, für den diese paradoxe Entpolitisierung nicht gilt. Dass die Dinge hier ganz anders liegen, zeigt sich schon an der Quellenlage: Es gibt keine eleganten Publikationen mit gesammelten politischen Aufsätzen oder Reden Guy Krnetas. Die grundsätzlichen Reflexionen über Politik und den gesellschaftlichen Status der 23 Frisch, Max: Überfremdung 2 [1966], in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Sechs Bände, hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1976, S. 377–399, hier S. 377. 24 Adolf Muschg veröffentlichte den Essay im Zürcher Tages-Anzeiger vom 24. 1. 1997. Kurz danach erschien er in einem Sammelband, der als ganzer seinen Titel trug. Vgl. Muschg, Adolf: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation, Frankfurt a. M. 1997, S. 7‒15. 25 Dierks, Manfred: Adolf Muschg: Lebensrettende Phantasie, München 2014, S. 161. 26 Muschg, Adolf: Gottfried Keller, München 1977.
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Literatur, die auch er anstellt, sind nicht in Essays mit literarischem Einschlag niedergelegt, die den Namen ihres Autors im Gespräch halten. Sie sind vielmehr umgemünzt in mannigfaltige Projekte und Aktionen, die Krneta initiierte oder mitinitiierte, und denen er seine Eloquenz und seinen analytischen Blick zur Verfügung stellt. Er ist dabei immer umgeben von Mitstreiterinnen und Mitstreitern, so dass es nicht möglich und dem Vorgehen auch gar nicht angemessen wäre, den genauen Anteil Krnetas bestimmen zu wollen. Im engeren Bereich der Literatur war Guy Krneta die treibende Kraft bei der 2006 erfolgten Gründung des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel, dessen Leitung er dann anderen überließ. Der gesunde Menschenversand, der führende Verlag für innovative Deutschschweizer Mundartliteratur, nennt ihn als „Ideengeber“27 für die vielbeachtete und erfolgreiche Reihe „edition spoken script“, die mit einem Buch von ihm eröffnet wurde und in der er noch mit zwei weiteren Titeln vertreten ist. Der 1964 in Bern geborene und dort aufgewachsene Autor studierte Theaterwissenschaft und arbeitete dann an verschiedenen Theatern. Er schrieb Theaterstücke, wurde aber vor allem durch seine Auftritte in der spoken-word-Szene bekannt. Sein Talent, kurze, humorvoll-pointierte Mundarttexte, die in diesem Kontext gefragt sind, zu verfassen, prädestinierte ihn auch zur Radioarbeit. So wie Peter Bichsel, der die geschriebene Zeitungskolumne zum Stimulus seiner literarischen Kreativität machte, wurde Krneta zum Meister der gesprochenen Radiokolumne, für welche im ersten Programm des öffentlich rechtlichen Radios der deutschen Schweiz das Sendegefäß „Morgengeschichte“ zur Verfügung steht. Sammlungen dieser Radiotexte erschienen auch in Buchform28 . Im buchfüllenden Monolog Zmittst im Gjätt uss29 und im Roman Ungder üs30 , der 2015 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet wurde (dem Preis der Eidgenossenschaft, nicht zu verwechseln mit demjenigen der Deutschschweizer Buchhändler und Verleger, dem „Schweizer Buchpreis“), ist ihm der Übertritt zu größeren Prosaformen gelungen. Der mündliche Duktus, der Witz, die Repetitionsstrukturen sind darin erhalten geblieben, die Themenfelder und ihre Vernetzungen haben sich aber vervielfältigt. Die kleine Erzählung Schneidermeister Hedigers Erben scheint für Krnetas literarisches Schaffen auf den ersten Blick nicht typisch zu sein. Das liegt allein schon daran, dass sie in der Standardsprache geschrieben ist und ihr der sprachspielerische Witz der Mundarttexte zu fehlen scheint. Immerhin trifft man auch 27 Vgl. https://menschenversand.ch/?sect=detail&id=100142, letzter Zugriff: 19. Dezember 2019. 28 Vgl. Krneta, Guy: Mittel Land. Morgengeschichten, Luzern 2009 (edition spoken skript 1) und Krneta, Guy: Filet Schtück. Geschichten, Luzern 2016 (edition spoken skript 20). 29 Krneta, Guy: Zmittst im Gjätt uss / Mitten im Nirgendwo, Berlin 2003. 30 Krneta, Guy: Unger üs. Familienallbum, Luzern 2014 (edition spoken skript 14).
Schriftsteller als Staats-Schreiber?
hier wieder auf Krnetas Kunst des Porträts, die Psychogramm und Soziogramm verbindet. Für Krnetas Wirken, das weit über das Verfassen von literarischen Texten im engeren Sinn hinausgeht, ist die Erzählung dann aber deshalb doch typisch, weil sie eingebettet ist in eine Reihe anderer Reaktion auf die politischen „Umpolungen“ der Basler Zeitung zu einem ‚rechts-ideologischen Kampfblatt‘31 . Die Erzählung hat in diesem Kontext einerseits die Funktion, die Zeitungsübernahme in einen historischen Kontext zu stellen, eine Funktion, die sie – und auch das ist bezeichnend für den Text eines ausgesprochenen Teamplayers – nur im Zusammenspiel mit Gottfried Kellers und Urs Widmers Texten entfalten kann. Andererseits geht es darum, einen äußerst komplizierten Vorgang in einer Erzählung nachvollziehbar zu machen. Der Vorgang war deshalb so kompliziert, weil Blocher nicht einfach als Käufer der Basler-Zeitung auftrat, sondern sich mit Investoren seines politischen Lagers zusammentat und verschiedene Mittels- und Strohmänner und -frauen vorschickte, um die Besitzverhältnisse zu vertuschen. Die Erzählung wirft so auch die Frage auf, ob modernem Wirtschaftsleben mit traditionellen Erzählmitteln überhaupt noch beizukommen sei. Am meisten Aufsehen erweckte nach Blochers Coup eine Aktion, die sich an die Abonnenten der Basler Zeitung richtete. Fast 20.000 von ihnen folgten dem Aufruf der Internetplattform „Rettet Basel“, deren Impressum Guy Krneta als einzigen Verantwortlicher nennt, die Zeitung nicht bloß abzubestellen, sondern auch das folgende Statement zu unterzeichnen: Ich habe genug von Blocher, Somm und Tettamanti. Die Stadt Basel hat eine Tageszeitung verdient, die unabhängig denkt und kein Hebel für die SVPisierung der Schweizer Medienlandschaft ist. Ich bin bereit, meinen Teil dazu beizutragen.32
Bei Markus Somm, handelt es sich um den neuen Chefredaktor der BaZ, der sich Blocher als apologetischer Biograph angedient hatte33 , und bei Tito Tettamanti, der sich in den 1960er und -70er Jahren aus einem Anwalt und bürgerlichen Politiker aus dem Tessin zu einem schillernden, international tätigen Financier wandelte. In Schneidermeister Hedigers Erben tragen die beiden die Namen Lukas E. Herbst und Lomazzi. Auf der Webseite von „Rettet Basel!“ findet sich eine Reihe von Artikeln Guy Krnetas, die sich um Blochers Medienaktivitäten drehen.34 Sie zeichnen 31 32 33 34
https://www.rettet-basel.ch/pagina.php?0,519, letzter Zugriff: 22. Dezember 2019. https://www.rettet-basel.ch/pagina.php?0,501, letzter Zugriff: 17. Dezember 2019. Somm, Markus: Christoph Blocher. Der konservative Revolutionär, Herisau 2009. https://www.rettet-basel.ch/pagina.php?0,519, letzter Zugriff: 17. Dezember 2019.
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sich aus durch hohe Sachlichkeit und medientheoretischen Sachverstand. Der Schriftsteller verrät sich hier nicht durch eine persönliche Handschrift, wie sie etwa Adolf Muschg zum Markenzeichen seiner politischen Interventionen machte, sondern höchstens durch eine schnörkellose Sprache. Wesentlich komplizierter als die Organisation des Protestes gegen die „SVPisierung“ der Basler Zeitung gestaltete sich der Versuch, für eine Alternative zu sorgen. Es gelang, eine Internetzeitung auf die Beine zu stellen, die einmal wöchentlich auch in gedruckter Form erschien, die TagesWoche. Als Trägerorganisation wurde die „Stiftung für Medienvielfalt“ ins Leben gerufen. Der Kurswechsel bei der Basler Zeitung führte zu einem drastischen Einbruch der Auflagehöhe (sie beläuft sich aktuell auf 40.42235 ; 2000 lag sie noch bei 110.00036 ). Dass Blocher 2018 sein Engagement bei der Basler Zeitung beendete, dürfte also damit zu erklären sein, dass der Politiker sich von dem Geschäftsmann, der er gleichzeitig ist, sagen lassen musste, dass sich die Investitionen in Basel nicht lohnten: Die Verkaufszahlen gingen zurück, und der neue Kurs der wichtigsten Tageszeitung vermochte nicht, die Begeisterung der Baslerinnen und Basler für die Ideen der SVP zu steigern, im Gegenteil: Deren Wähleranteil bei den Nationalratswahlen fiel von 18,5 % im Jahr 2007 auf 17,6 % 2015.37 Freude und Erleichterung waren aber getrübt, denn beim Käufer handelte es sich um die Zürcher Tamedia-Gruppe, die im In- und Ausland immer mehr Pressetitel zum Zürcher Tages-Anzeiger (für TA im Firmennamen) hinzukaufte und namentlich im Sektor der Tagespresse in der deutschen und erst recht in der französischen Schweiz eine dominierende Stellung einnimmt. Statt Rechtskurs, der Einheitsbrei des Monopolisten. Auch nicht freuen konnte sich Guy Krneta, dass die Stiftung für Medienvielfalt die Mittel für die TagesWoche so massiv reduzierte, dass diese ihren Betrieb einstellen musste.38 In einem offenen Brief bot „Rettet Basel!“ an, die Aktienmehrheit an der Trägerfirma der TagesWoche von der „Stiftung für Medienvielfalt“ zu übernehmen, um so das eigene Kind zu retten.39 Mit diesem Ziel wurde am 21. Dezember 2018
35 https://www.tamedia.ch/de/marken/details/basler-zeitung/tab/mediadaten/type/media-dataprint, letzter Zugriff: 21. Dezember 2019. 36 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024762/2002-07-03/, letzter Zugriff: 21. Dezember 2019. 37 https://www.wahlen.admin.ch/de/bs/, letzter Zugriff: 23. Dezember 2019. 2019 betrug er nur noch 12,4 %, was auch auf Streitigkeiten in der kantonalen Sektion der Partei zurückzuführen gewesen sein dürfte. 38 Krneta, Guy: Fragen zum Ende der Basler TagesWoche, in: Journal B 8. November 2019, https://www.journal-b.ch/de/082013/politik/3186/Fragen-zum-Ende-der-Basler-TagesWoche.htm, letzter Zugriff: 22. Dezember 2019. 39 https://www.rettet-basel.ch/pagina.php?0,201, letzter Zugriff: 15. November 2018.
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der „Verein Medienzukunft Basel“ gegründet, dessen Vorstand Krneta angehört.40 Der Verein lancierte die neue Online-Plattform Bajour, welche mit einem Teil der früheren Unterstützung der TagesWoche betrieben werden kann. Zusammen mit Beat Jans, Umweltexperte, Nationalrat und Vizepräsident der SP Schweiz, rief Guy Krneta 2016 den Verein „Fairmedia“ ins Leben, der sich für „fairen Journalismus“ einsetzt, und „Betroffenen“ hilft, „sich gegen unfaire Medienberichterstattung zu wehren“41 . Weitere medienorientierte Aktivitäten ließen sich nennen; was für den vorliegenden Kontext wichtig ist, dürfte aber klar geworden sein: Guy Krneta hat mit Gleichgesinnten in langer, unermüdlicher Arbeit sehr viel bewegt: Er hat Leute und Geld mobilisiert, verhältnismäßig komplizierte Strukturen auf die Beine gestellt, Krisen durchgestanden. Sein Einspruch gegen die Einstellung der TagesWoche zeigt, dass er die Prozesse, die er anzustoßen half, nicht einfach kontrolliert. Für seine vielfältigen Tätigkeiten weiß Krneta die elektronischen Austauschkanäle zu nutzen. Umso erstaunlicher ist es, dass er, der im Impressum der Webseiten „Kunst + Politik“ und „Rettet Basel“ als einziger Verantwortlicher genannt wird, keine eigene Guy-Krneta-Webseite unterhält. Um seine eigene Auratisierung als Autor ist es ihm nicht zu tun. Neben der kleinen Erzählung Schneidermeister Hedigers Erben gab es noch ein zweites literarisches Nach- oder besser Begleitspiel zu den Aktionen rund um die BaZ. In der Produktion des Theaterstücks In Formation, das am 17. Dezember 2016 am Schauspielhaus Zürich Premiere hatte, bündelte Guy Krneta sein Wirken als Schriftsteller und Aktivist. Der Titel lenkt wortspielerisch die Aufmerksamkeit darauf, dass die Distribution von Informationen einer tiefgreifenden Umstrukturierung unterworfen ist. Wenn man diese Bühnenarbeit als altmodischer Literaturwissenschaftler von der Seite des Textes angeht, wie er im Sammelband Stottern und Poltern erschienen ist, kann man Folgendes festhalten: Nachdem Guy Krneta sich in früheren Theaterstücken noch traditionellerer Formen bedient hatte, wechselte er hier auf die Seite des von Hans-Thies Lehmann so bezeichneten „postdramatischen Theaters“42 . Dessen Autoren schreiben Texte, welche ihre Bühnenrealisierung kaum noch vorzeichnen, und erteilen nicht selten explizit die Lizenz, über diese Texte frei zu verfügen. Eine Handlung im traditionellen Sinn gibt es nicht. Das Textbuch für In Formation mutet wie eine lose Sammlung von Reflexen auf und Reflexionen über die Presse an. Durchgängiges Thema sind die Umstrukturierungen von Zeitungsredaktionen, welche Journalistinnen und Journalisten unter Druck setzen und zu massenhaften Entlassungen führen. 40 https://www.medienzukunftbasel.com/post/bericht, letzter Zugriff: 22. Dezember 2019. 41 https://fairmedia.ch, letzter Zugriff: 22. Dezember 2019. 42 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999.
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Die Neuausrichtung seiner Dramatik gibt Krneta Gelegenheit, Schreibweisen, die seine spoken-word-Produktionen kennzeichnen ins dramatische Genre zu übernehmen. Solche Texte bezwecken keine realistischen Simulationen von Figurenrede mehr: Fakten sind Fakten. Und Fake ist Fake. Und Fakes sind keine Fakten. Und Fakten keine Fakes. Und gefakte Fakten sind Fakes. Und Fakten bleiben Fakten. Auch wenn die FaktenFaker die Fakes zu Fakten erklären. Und die Fakten zum Fake. Wenn die Fakten-Faker erklären, Fakten seien schon immer Fakes gewesen. Und das Faken von Fakten decke die Fakes bloß auf. Es gäbe keine Fakten, bloß Fakes. Und gefakte Fakten seine nicht weniger faktisch als Fakten, die sich für Fakten halten. Die Zeiten seien vorbei, in denen man geglaubt habe, es gäbe Fakten und Fakes.43
Krneta begnügte sich aber bei In Formation nicht damit, wie Elfriede Jelinek – die Ikone des postdramatischen Theaters im deutschen Sprachraum – aus seiner Schreibklause Texte an die Theaterleute zu entsenden, die daran dann ihre Kreativität erproben können. Er wirkte an der Bühnenrealisierung mit und vermittelte unter anderem Pressefachleute, welche die Aufführungen mitdiskutierend begleiteten. Bezeichnend ist auch die Gestaltung des Programmheftes.44 Es enthält im Wesentlichen das Protokoll eines langen Fachgesprächs über den aktuellen Wandel der Medien und ihres Konsums. Der Autor ist daran nicht beteiligt und hält sich, anders als das in den Programmheften von Uraufführung sonst üblich ist, ganz im Hintergrund.45 In einer E-Mail an den Verfasser dieses Beitrags weist Guy Krneta auf Schriftstellerkolleginnen und -kollegen hin, die sich auf ähnliche Weise in den letzten Jahren zunehmend politisch betätigen. Z. B. Dorothee Elmiger (die auch Deutschkurse für Asylsuchende gibt), Melinda Nadj Abonji (mit vielen einzelnen Aktionen, aber auch Essays), Julia Weber und Gianna Molinari (mit ihrem Projekt „Literatur für das, was passiert“), Sibylle Berg (mit dem Referendum gegen Versicherungsspione), Jonas Lüscher (Demo gegen Ausländerhass), Irena Brežná (die auch als Gerichtsübersetzerin arbeitet), Martin R. Dean, Yusuf Yesilöz, Ruth Schweikert…46
43 Krneta, Guy: In Formation. Aus der Zeitung. Stottern und Poltern. Sprechtexte, Frankfurt a. M. 2017, S. 139–188, hier S. 149. 44 Jarren, Otfried, Müller, Irina: In Formation von Guy Krneta. Mit Texten von Laurin Buser und einem Gespräch mit Dirk Baecker, Elisabeth Bronfen, Miriam Meckel und Constantin Seibt, Zürich 2016. 45 Die Produktion gleicht in verschiedener Hinsicht derjenigen von Andres Veiel, die Guglielmo Gabbiadini im vorliegenden Band beschreibt. Die Parallele könnte Anlass geben, von einer spezifischen Rückkehr der res publica im zeitgenössischen Theater zu sprechen. 46 Guy Krneta an Dominik Müller, 17. Januar 2020.
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4. Res publica Dass man Guy Krnetas Wirken mit einer „Rückkehr der res publica“ in Verbindung bringen kann, hat inhaltliche und formale, verfahrensmäßige Gründe. Mit der Presse rückt Krneta eine Instanz ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, die für die res publica eine ausschlaggebende Rolle spielt. Die Presse wird gerne als die vierte Gewalt bezeichnet, neben der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Die öffentliche Debatte, in welcher die res publica sich über sich selber verständigt, findet zu wesentlichen Teilen in den Medien statt: Medienvielfalt ist Voraussetzung, dass in dieser Debatte ein breites Spektrum von Meinungen zu Wort kommen kann. Mit dem Inhalt, dem Kampf gegen die Monopolisierung, stehen Interventionsformen in Einklang, in denen der politische Autor nicht mit seiner rhetorischen Versiertheit seinem Gegner heimzündet und seine Anhänger hinter sich schart, sondern vielmehr Austauschkanäle schafft, Debatten in Gang setzt, andere dazu anstiftet, Position zu beziehen und – sei es nur im kleinen Rahmen – Verantwortung für die res publica zu übernehmen. Die offene Anlage des Theaterstücks In Formation bringt im Zusammenspiel mit den Diskussionsforen im Begleitprogramm Theaterabende hervor, an denen die res publica nicht nur verhandelt wird, sondern sich in einem Mikrokontext konstituiert. Guy Krnetas medienpolitisches Engagement hat aber noch einen anderen Bezug zur res publica. In den Verschiebungen auf dem Basler Pressemarkt spiegeln sich zwar die parteipolitischen Kräfteverschiebungen, welche der SVP bei den Nationalratswahlen von 2015 einen Wähleranteil von fast 30 % brachten.47 Es spiegelt sich vor allem aber die wirtschaftliche Macht, die sich mit dem politischen Einfluss Christoph Blochers paart und diesen zu wesentlichen Teilen auch ermöglicht haben dürfte. Wenn Blocher und seine Parteigänger in Basel die wichtigste Tageszeitung kaufen und sie zum Sprachrohr ihrer politischen Botschaften machen, so ist dies der Versuch, mit viel Geld die renitenten Basler Stimmbürgerinnen und Stimmbürger doch noch gefügig zu machen. Die Einmischung des Kapitals in die politische Debatte und in die demokratische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung tritt so besonders krass ans Licht. Alle Tarnungsversuche vermochten die Unverfrorenheit des Übergriffs nicht zu verschleiern, was der von Guy Krneta mitinitiierten, erfolgreichen Protestaktion zusätzlich geholfen haben dürfte. Geht man von einer Entgegensetzung zwischen der vom demokratischen Staat vertretenen res publica und der Privatwirtschaft aus – natürlich eine reichlich schematische Entgegensetzung, wie sie aber auch von der Theorie des Neoliberalismus vorgenommen wird, welche 47 Dieser ging bei den Nationalratswahlen von 2019 dann auf 25,6 % zurück (https://www.wahlen. admin.ch/de/ch/, letzter Zugriff: 26. Dezember 2019.
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die global agierende Privatwirtschaft „einmanteln“ und so von den politischen Richtungsentscheiden der Staaten abschirmen will48 – kann man den Kampf gegen ein Pressemonopol als Verteidigung der res publica gegen die Kaperung durch die Wirtschaft verstehen. Vor solchen hatte schon Schneidermeister Hediger seine Frau gewarnt: „laß aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, die politische Herrschsucht besitzen, und du wirst sehen, was die für Unfug treiben!“49 Literaturverzeichnis Blocher, Christoph: Gottfried Keller. Neujahrsanlass vom 2. Januar 2012 in Niederglatt, https://www.blocher.ch/wp-content/uploads/pdf_assorted/111230_ Gottfried-Keller.pdf, letzter Zugriff: 16. Dezember 2019. Dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch. Das Fähnlein der sieben Aufrechten von Gottfried Keller. Gelesen von Urs Widmer. Wiedergelesen von Guy Krneta, Zürich 2015. Frisch, Max: Überfremdung 2 [1966], in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Sechs Bände, hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1976, S. 377–399. Dierks, Manfred: Adolf Muschg: Lebensrettende Phantasie, München 2014. Jarren, Otfried, Müller, Irina: In Formation von Guy Krneta. Mit Texten von Laurin Buser und einem Gespräch mit Dirk Baecker, Elisabeth Bronfen, Miriam Meckel und Constantin Seibt, Zürich 2016. Keller, Gottfried: Das Fähnlein der sieben Aufrechten. Neu entrollt und hochgehalten von Urs Widmer, Berlin 1989 (Wagenbachs Taschenbücherei 141). Keller, Gottfried: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung HistorischKritische Gottfried Keller-Ausgabe, Basel/Zürich 1996–2013. Krneta, Guy: Zmittst im Gjätt uss / Mitten im Nirgendwo, Berlin 2003. Krneta, Guy: Mittel Land. Morgengeschichten, Luzern 2009 (edition spoken skript 1). Krneta, Guy: Unger üs. Familienallbum, Luzern 2014 (edition spoken skript 14). Krneta, Guy: Filet Schtück. Geschichten, Luzern 2016 (edition spoken skript 20). 48 Vgl. dazu: Slobodian, Quinn: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Berlin 2019, insbesondere S. 19–24. Zu der von Slobodian vorgeschlagenen Metapher der „Ummantelung (encasement)“ siehe S. 24. 49 Keller: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 287.
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Krneta, Guy: In Formation. Aus der Zeitung. In Ders.: Stottern und Poltern. Sprechtexte. Frankfurt a. M. 2017, S. 139–188. Krneta, Guy: Fragen zum Ende der Basler TagesWoche, in: Journal B 8.11.2019: https://www.journal-b.ch/de/082013/politik/3186/Fragen-zumEnde-der-Basler-TagesWoche.htm, letzter Zugriff: 22. Dezember 2019. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M. 1999. Lüthi, Hans Jürg: Schweizer Schriftsteller und die Schweiz. Bern 1975 (Berner Rektoratsreden). Müller, Dominik: Von Seldwyla nach Barbarswyla. Werkübergreifende poetische Topographien bei Gottfried Keller, Otto F. Walter und Gerold Späth, in: Mauz, Andreas, Weber, Ulrich (Hg.): Verwunschene Orte. Raumfiktionen zwischen Paradies und Hölle, Göttingen/Zürich 2014, S. 77–98. Müller, Dominik: Der 48er und die 68er. Die Gottfried-Keller-Rezeption bei Adolf Muschg, Peter Bichsel, Hugo Loetscher, Otto F. Walter und Urs Widmer, in: Pormeister, Eve, Graubner, Hans (Hg.): Tradition und Moderne in der Literatur der Schweiz im 20. Jahrhundert, Tartu 2008, S. 19–37. Muschg, Adolf: Gottfried Keller. München 1977. Muschg, Adolf: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation, Frankfurt a. M. 1997. Slobodian, Quinn: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Berlin 2019. Somm, Markus: Christoph Blocher. Der konservative Revolutionär, Herisau 2009. Spitteler, Carl: Unser Schweizer Standpunkt [1914], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8.: Land und Volk, hg. von Werner Lauber, Zürich 1947, S. 577–594.
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Wurzeln oder Füsse? Deutschschweizer Literatur zwischen globaler Öffnung, Begrenzung und Verwandlung
Die Schweizerische Literaturzeitschrift Orte hat im Juli 2018 einen Band mit dem Titel Die Heimat freut sich darauf, gemacht zu werden. Die 1. Augustrede als literarische Gattung veröffentlicht. Der in Berkeley lehrende Germanist Jeroen Dewulf stellt darin eine Reihe der Festreden zum Schweizer Nationalfeiertag von Friedrich Glauser bis Peter Stamm und Cornelia Hesse–Honegger vor. Es ist dies eine, wie Dewulf sagt, „innerhalb der deutschsprachigen Literatur einzigartige Schweizer Gattung, die es in dieser Form weder in Österreich noch in Deutschland“1 gibt. Ich kann aus diesen Texten nur wenige auswählen, aber ergänzend entsprechende Beispiele von Peter Bichsel, E.Y. Meyer und Erika Pedretti nennen, die in Dewulfs Sammlung fehlen. Sowohl die Existenz dieser Gattung als auch ihr bewusstes Fehlen zeigt das Verhältnis der Autoren zur Problematik schweizerischer Identität. 1.
Prägnante Momente öffentlicher Reden zum 1. August
Max Frisch hielt am 1. August 1957 seine Rede im Züricher Dialekt auf einem Schulhof im Industriequartier. Sie beginnt: „Liebe Eidgenossinnen und Eidgenossen. Wir sind heute Abend zusammengekommen, um uns darüber zu freuen, dass wir Schweizer sind.“2 Er wolle nicht die alten Heldengeschichten von Wilhelm Tell und Winkelried erzählen, sondern fragen, „was für Helden wir heutige Schweizer sind“3 . Kritisch, selbstkritisch tadelt er, dass die Schweiz sich selbst überschätze, alles Üble bei anderen aber nicht bei sich selbst sähe und Angst habe, Angst vor der verdrängten Vergangenheit, Angst vor der Zukunft, vor dem Risiko und vor allem Neuen. Mit dem Appell: „Machen sie Gebrauch von der Freiheit, sonst verrottet sie“4 schließt er ab. 1965 hat Frisch den jungen 1 Dewulf, Jeroen: Einleitung, in: Die Heimat freut sich darauf, gemacht zu werden, orte. Schweizer Literaturzeitschrift, Nr. 197, 2018, S. 5‒11, hier S. 5. 2 Frisch, Max: Festrede zum Nationalfeiertag am 1. August 1957, in: Die Heimat freut sich darauf, S. 24‒31, hier S. 24. 3 Ebd., S. 24. 4 Ebd., S. 30.
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Peter Rusterholz
Autoren die Frage gestellt: „Wie weit wird die schweizerische Vergangenheit, die Zeit von 1933‒1945, in unserer Literatur dargestellt?“5 Darauf hat vorerst nicht die Zunft der Historiker reagiert, sondern literarische Autoren und Journalisten wie z. B. Walter Mathias Diggelmann, Werner Rings, Alfred A. Häsler (Das Boot ist voll, 1967) und Niklaus Meienberg haben das Geschichtsbild der Schweiz zu verändern begonnen. Die Angst vor dem Fremden, vor Überfremdung prägte nicht nur die Kriegs-, sondern auch die Nachkriegszeit. Ebenfalls 1965 schrieb Frisch seine Kurztexte Überfremdung 1 und 2, im ersten die vielzitierten Worte: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen und es kommen Menschen.“6 Auch da warnt er vor dem falschen Selbstbild, vor dem Mythos, der keine Probleme löse aber eine Hysterie der Hilflosigkeit auslöse, deshalb sein Appell, bewältigt eure Probleme selbst und „schickt den Begriff der Schweiz in die Reparatur. Hoffentlich gelingt sie“7 . Peter Bichsel, 23 Jahre jünger als Max Frisch, hielt 1966, kurz bevor die internationale Jugendbewegung auch die Schweiz erfasste, eine Augustrede in Grenchen im Blick auf die junge Generation, mit dem Motto: „Die Jugend wird nie bereit sein, das Land der Väter zu bewahren, sie wird bereit sein, es durch Veränderung lebendig zu erhalten.“8 Im Gegensatz zu Frisch nennt er den Bundesbrief von 1291 als Gründungsakte, interpretiert ihn aber als Selbstbestimmungsrecht und beurteilt die Unterjochung des Aargaus als gemeine Herrschaft als inneren Widerspruch. Wir neigten dazu, unsere Geschichte zu glorifizieren, sie sei voller dunkler Stellen und deshalb sei es ein Rätsel, wie sich die Idee der Männer von 1291 durch all die Wirren, durch alle äusseren und vor allem inneren Widerstände hindurch halten konnte. Er spricht von der zweiten Geburt des Landes 1848 – als Demokratie. Aber er gibt sich damit nicht zufrieden. Er wünscht sich alle 20 bis 25 Jahre eine Revision der Bundesverfassung. Er unterscheidet die völlig verschiedenen Funktionen der in traditionellen Reden viel beschworenen Einheit und Einigkeit, nötig bei der Bedrohung von außen, im Frieden aber sei die Demokratie gefährdet, wenn sie nur einer Meinung folge. Demokratien lebten von der Pluralität der Meinungen. Der Wechsel der Generationen bringe Veränderung der Lebensformen, die politischen und gesellschaftlichen Formen hätten dem aber nicht immer Rechnung getragen. Bichsel verteidigt die damals neuen Lebensformen: „Wir müssen uns damit abfinden, dass auch eine Jazzband, eine Beatband gesellschaftsbildend und 5 Frisch, Max: Unbewältigte schweizerische Vergangenheit, in: Ders.: Werkausgabe edition Suhrkamp in 12 Bänden, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1976, S. 370‒371. 6 Frisch, Max: Überfremdung 1, in: Ders.: Werkausgabe edition Suhrkamp in 12 Bänden, 10. Band, Frankfurt a. M. 1976, S. 374. 7 Ebd., S. 374, 376. 8 Peter Bichsel hielt diese Rede am 1. August 1966 in Grenchen. In: Die Weltwoche, 5. August 1962.
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damit politisch sein kann, so wie es bei der älteren Generation der Männerchor und die Musikgesellschaft ist.“9 Bichsel nennt aktuelle Aufgaben des neutralen solidarischen Staates und mahnt, Entwicklungshilfe und Asylpolitik nicht zu vergessen und sich in aktiver Mitarbeit für die Einigung Europas einzusetzen. Der Mut zu Neuem ließ freilich zu wünschen übrig. Die Angst vor Fremden hatte in den 60er Jahren große Teile des Volkes ergriffen. 1961 hatte James Schwarzenbach die Nationale Aktion gegen Überfremdung gegründet, die von ihm lancierte Bundesinitiative gegen Überfremdung wurde 1970 dann zwar knapp, aber doch mit der Mehrheit von 54 % abgelehnt. Teile der sogenannten „Aktivdienst-Generation“ waren skeptisch gegenüber fremden Kulturen, überschätzten die Funktion des bewaffneten Widerstands 1939‒1945, verdrängten die Anpassung an die Forderungen des Deutschen Reiches und hatten die Tendenz, alles, was nicht ihren Normen entsprach, als kommunistisch zu betrachten. Das in diesem Geist unter aktiver Beteiligung des Präsidenten des Schweizerischen Schriftstellerverbands verfasste Zivilverteidigungsbuch (1969) führte zur Spaltung der Kulturschaffenden. Mitglieder, die sich für die Bildung einer sozialistischen Gesellschaft und für die Menschenrechte engagierten, gründeten 1971 die Gruppe Olten, unter ihnen Peter Bichsel, Walter Mathias Diggelmann und Max Frisch.10 Die Zeit der Jugendunruhen (1968/1980) ermunterte nicht zu patriotischen Feiern. Franco Supino nannte die ersten Augustfeiern, die er in der Schweiz sah, von verknurrten Behördenmitgliedern veranstaltete Pflichtübungen. E. Y. Meyer (1946 geboren) beginnt seine Augustrede 1976 in Pratteln mit dem Titel: 1. August oder von der Freiheit und vom Risiko mit dem Geständnis, wenn er nicht hier reden müsste, würde er wahrscheinlich nicht an einer Bundesfeier teilnehmen, sondern bei Bekannten ein Stück Fleisch grillieren und chinesisches Feuerwerk anzünden. Er spricht vom stillen Sterben der Freiheit, möglicherweise müsste man einen Skandal provozieren, um die Feier wieder ins Gespräch und die Leute an die Feier zu bringen. Aber dann fragt er wie Bichsel nach dem historischen Sinn von 1291 und 1848, und schließt dann im Sinne Frischs, das Recht zu feiern hätten nur die, die den Mut zu Neuem hätten, in unserem Land und der Welt gegenüber.11 In besonderer Weise zeigt die in Mähren geborene, seit 1945 in der Schweiz lebende Erika Pedretti am 1. August 1987 das Schweizbild der Schweizer im 9 Ebd. 10 Nach dem Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (2002), lösten sich die Gruppe Olten und der Schweizerische Schriftsteller- und Schriftstellerinnenverband auf und gründeten den gemeinsamen Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz. 11 Meyer, E.Y.: 1. August oder von der Freiheit und vom Risiko, in: Ders.: Die Hälfte der Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980, S. 161‒168.
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Spiegel ihrer Sprache12 . Sie verfremdet vaterländische Sprachspiele, indem sie idealisierende Klischees nachahmt bis zur urhelvetischen Manier, Behauptungen ein bekräftigendes „oder“ anzuhängen, ein „oder“, das eigentlich eine Frage einleiten sollte, aber zur Bekräftigung unhinterfragbarer Aussage umfunktioniert wird: Wir wissen alle, dass es uns gut geht, besonders gut, und das haben wir uns natürlich selbst zu verdanken, wir wissen, dass es uns, selbst wenn es dem einen oder dem anderen nicht so gut geht, selbst wenn es uns schlecht geht, es uns hier doch um vieles besser geht als den meisten Menschen auf dieser Welt. […] Und diesem Bewusstsein entsprechend gehen wir ja auch damit um, mit all dem Schönen, dem ganzen herrlichen Land. So wie wir mit uns selber umgehen und wie wir mit unseren Lieben umgehen, so wie wir halt mit allem, was uns lieb und teuer ist, verfahren, genau so. Oder?13
Zwischen den beiden Kriegen war die Schweiz noch kein reiches, sondern ein armes Land, vor allem Kinder aus kargen Gebirgstälern mussten oft auswandern. Die Rede begründet satirisch ein verlogenes Verständnis, das aber als Bild einer Utopie der Schweiz gelesen werden kann, wie sie nicht ist, aber dem Wunsch von Erika Pedretti entspräche: Für Hungernde, für die Not sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge haben wir von Natur aus das grösste Verständnis. Neuerdings senden wir sogst Leute aus, um sie schon an der Grenze liebevoll zu empfangen. […] Weil wir Jahr für Jahr unsere Unabhängigkeit feierten, weil wir unsere Freiheit so sehr lieben, wie andere Menschen die ihre, darum habe auch ein jeder drei vier Tamilen oder einen Kurden am gut gedeckten Familientisch.14
Doch die Schweiz und die Schweizer entwickelten sich nicht nach dem Wunsch ihrer kritischen Augustredner und Augustrednerinnen. In den späten 1980er Jahren wurde öffentlich bekannt, dass Bundesbehörden und kantonale Polizeidirektionen seit langer Zeit und vor allem politisch aktive, links orientierte Bürgerinnen und Bürger überwachten und dies in Akten des Staatsschutzes, so genannten Fichen, dokumentiert hatten. Dies erschütterte das Vertrauen des Volkes in den Staat. Die Begeisterung für Augustreden ging merklich zurück. Selbst Autoren, die sich besonders mit Problemen der Schweizer Identität beschäftigt hatten, lehnten entsprechende Anfragen Augustreden zu halten dezidiert ab, z. B. Hugo Loetscher. Franco Supino hat ein besonderes Verhältnis zur Augustrede und zu deren historischer Entwicklung. Er ist als Kind einer italienischen Gastarbeiterfamilie 12 Erica Pedretti hielt die Rede Ein schönes Land am 1. August 1987 in Stein (AppenzellAusserrhoden), publiziert in: einspruch, Zeitschrift der Autoren, Heft 7/1988, S. 36–37. 13 Ebd., S. 36. 14 Ebd., S. 37.
Wurzeln oder Füsse?
in der Schweiz aufgewachsen, hat aber die ersten neunzehn Jahre seines Lebens die Ferien und den 1. August immer in der Heimat seiner Eltern verbracht. 1976 hielt er als junger Mann, noch ohne Schweizer Pass, seine erste Augustrede, war aber enttäuscht, weil es kein Feuerwerk gab und nur wenige kamen, weil, wie noch im vergangenen Jahr, kein Politiker angefragt worden sei. Seine zweite Augustrede 2004 aber war dann eine wichtige politische Rede über die Ausländer und Ausländerinnen der zweiten Generation, über deren erleichterte Einbürgerung er mit „Ja“ zu stimmen empfahl.15 Die jüngsten Augustreden, z. B. die von Adolf Muschg in Samedan im Engadin oder von Peter Stamm in Winterthur, beide 2006, betonen ihr Verhältnis zu ihrer Lieblingslandschaft oder zu ihrer bevorzugten Region. Adolf Muschg spricht aber vorerst von den historischen Katastrophen, die sich später als Glücksfälle erwiesen hätten. Mit der Niederlage von Marignano 1515 habe die schweizerische Neutralitätspolitik begonnen. Ohne die Invasion der Franzosen 1798 wären weder die Abschaffung der Untertanen-Verhältnisse noch die Bildung eines gesamtschweizerischen Bundesstaates möglich gewesen. Dann aber lobt er das Engadin, für ihn die schönste Landschaft der Schweiz, weil das wunderbare Licht dieses Tales ein gleichsam geistiges Licht sei, weil es gesättigt sei „von Erinnerung an das Freieste und Kühnste, das in unserem Teil der Welt gedacht, gedichtet und geträumt worden ist“16 . Er schließt nicht nur mit dem Lob der Bundesverfassung von 1848, sondern wünscht sich und den Schweizern „eine solidarische, eine unerschrockene Schweiz; eine, die sich auch heute nicht fürchtet, im größeren Rahmen der Weltgesellschaft zu leisten, was sie gestern in ihrem kleineren Rahmen erreicht hat; sonst gäbe es für uns hier und heute nichts zu feiern.“17 Peter Stamm, 1963 im Thurgau geboren, betont in seiner in Winterthur 2006 gehaltenen Rede, unser Heimatgefühl sei eher lokal als national. „Wenn ich im Ausland bin, kann ich mich an meine Region erinnern. Ich habe eine Vorstellung von ihr. Von der Schweiz habe ich keine Vorstellung.“18 Im Ausland denkt er aber doch wehmütig an zu Hause: „Die Schweiz ist das, was wir aus ihr machen.“19 Die Schweiz gehöre nicht den Konservativen und auch nicht den Neonazis. Er schließt mit dem Appell für eine moderne und weltoffene Schweiz, für ein Land, „für das ich mich verantwortlich fühle wie für meine Kinder“20 . Diese Bundesfeierrede war eine öffentliche politische Rede von 2006. 15 16 17 18 19 20
Supino, Franco: 1. Augustrede 2004, in: Die Heimat freut sich darauf, S. 39‒42. Muschg, Adolf: 1. Augustrede 2006, in: Die Heimat freut sich darauf, S. 43‒51, hier S. 45. Ebd., S. 51. Stamm, Peter: 1. Augustrede 2006, in: Die Heimat freut sich darauf, S. 53‒58, hier S. 56. Ebd., S. 58. Ebd.
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Was sagen Peter Stamm, seine Kollegin Meral Kureyshi und sein Kollege Jonas Lüscher zu ihrem Land zum 1. August 2018? Andreas Tobler und Martin Ebel haben sie in einem gemeinsamen Gespräch befragt.21 Meral Kureyshi hat noch einen serbischen Pass. Sie ist Türkin, in Kosovo geboren und in der Schweiz aufgewachsen und bemüht sich um einen Schweizer Pass, weil sie sich der Schweiz verbunden fühlt und hier politisch aktiv mitgestalten will. Sie schämt sich manchmal fast wie viele Möglichkeiten sie hier hat, sie weiss ja, wie hart das Leben anderswo ist. Sie lebe nicht zwischen, sondern in zwei Welten, empfindet die Möglichkeit doppelter Perspektive als Bereicherung und fühlt sich verpflichtet, auch die Verantwortung mit zu tragen für das, was in der Vergangenheit in der Schweizer Geschichte passiert ist. Jonas Lüscher ist in Zürich geboren. Er lebt aber in Deutschland und bejaht seine Verantwortung für Deutschlands Geschichte, seit er den deutschen Pass bekam. Er fürchtet, dass die Schweiz zum Modellfall für isolationistische und nationalistische Bewegungen wird, z. B. für die AfD und bejaht seine Verantwortung für Deutschlands Geschichte. Er wendet sich gegen die These, die Mehrheit habe immer recht, wenn sie ohne die demokratischen Traditionen der Berücksichtigung der Minderheiten durchgesetzt werden soll. Peter Stamm entgegnet, er glaube nicht, dass das Schweizer Volk mehr Fehlentscheidungen treffe als die deutschen Politiker. Während Lüscher für aktive Formen alterativer Politik eintritt, hält Stamm sich nicht für den richtigen Mann für Politik. Er will sich auf das Schreiben der Literatur seiner Zeit beschränken. Doch er gibt Lüscher recht, dass in der Schweiz oft nicht immer über die richtigen Themen diskutiert und debattiert würde. Alle drei halten das Thema Flüchtlinge für eines der wichtigsten Probleme unserer Zeit. Sie vertreten verschiedene Formen des Engagements und des Schreibens. Weitgehend einig sind sie aber in ihren Antworten auf die Frage, ob Literatur für die Lage der Flüchtlinge sensibilisieren könne. Stamm sieht Lesen als eine Art Training, uns in andere Menschen zu versetzen. Kureyshi betont die Fähigkeit der Literatur, den Lesenden anderes Denken nahe zu bringen, im besten Fall Menschen zusammen zu führen. Lüscher sieht als Funktion der Literatur eine Erlebnis- und Erfahrungsgemeinschaft zu bilden, eine Denkgemeinschaft von Leuten, die sich die gleichen Fragen stellen, auch wenn sie nicht die gleichen Antworten finden. Alle drei sind auch einverstanden, dass ihre Antworten mit der Überschrift Selbstverständlich sind wir für dieses Land verantwortlich 21 Sie stellten ihnen die Fragen: Hat die Mehrheit immer Recht? Braucht man einen Schweizer Pass, um Schweizer zu sein? Ihre Antworten wurden im Einverständnis mit den Befragten unter der Überschrift Selbstverständlich sind wir für dieses Land verantwortlich publiziert, in: Sonntagszeitung, Kultur, 28. Juli 2018, S. 47‒48.
Wurzeln oder Füsse?
publiziert werden sollten. Ob aber literarische Texte auch politische Funktionen haben sollten oder dürften, ist allerdings auch unter diesen Autoren und Autorinnen umstritten. 2.
Literatur und Politik
Peter Stamm hat in seiner Rede zur Eröffnung des Zyklus Zürich liest (2015), mit dem Titel Mein Kerngeschäft besteht aus Nichtstun der Literatur Grenzen gesetzt mit der These: „Literatur hat keinen Zweck, keine Funktion im Räderwerk der Welt.“22 Im folgenden Jahr hielt Jonas Lüscher, der Verfasser des dezidiert politischen Romans Kraft, am gleichen Anlass die Eröffnungsrede mit dem gegen Stamms These gerichteten Titel: Literatur darf und kann fast alles23 . Peter Stamm erklärte, seine Rede sollte und wollte nicht der Literatur Grenzen setzen, sondern wolle sie von allen gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen, die an sie gestellt werden könnten, befreien. Er wende sich aber gegen Autoren, die vorwiegend über aktuelle Themen schreiben wie die Finanzkrise, die Flüchtlingsproblematik und den Klimawandel. Stamm wendet sich entschieden gegen Lüscher, ein kritischer Autor sei nicht einer, der die Welt kritisiere, sondern einer, der sich selbst befrage und hinterfrage. Wenn Literatur, wenn Kunst einen Zweck haben solle, dann sei es der, zwecklos zu sein. – Drohe aber dem prinzipiell zwecklosen Text nicht der Verzicht auf Wirkung? erwiderte darauf Lüscher und fragte, ob für Literatur und Leben nicht nichts so tödlich sei wie die Idee der Reinheit? Gebe es nur die Alternative zwischen dem polemischpolitischen Text, der leicht zu missbrauchen sei und seine literarische Qualität riskiere und dem reinen Text der Literatur? Es sei aber eine gut schweizerische Tradition, dass Schweizerinnen und Schweizer sich nicht nur als Autorinnen und Autoren verstünden und bekennten, sondern auch als verantwortliche Bürgerinnen und Bürger. Ob ihre Texte dann literarisch bedeutend sind oder bedeutungslos wären, sei keine Frage der Inhalte, sondern eine Frage des Stils. Lukas Bärfuss hat Texte in verschiedener Stilart geschrieben, polemische Texte mit politischer Funktion wie Swissemania oder die Schweiz ist des Wahnsinns24 und literarische Texte mit politischer Bedeutung und der Frage nach der politischen Funktion der Schweiz und der Schweizer Literatur. Sein ers22 Stamm, Peter: Mein Kerngeschäft besteht aus Nichtstun, in: Tages Anzeiger, 21. Oktober 2015, https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/mein-kerngeschaeft-besteht-aus-nichtstun/story/15384256, letzter Zugriff: 16. August 2019. 23 Lüscher, Jonas: Literatur darf und kann fast alles, in: Tages Anzeiger, 26. Oktober 2016. 24 Bärfuss, Lukas: Krieg und Liebe. Essays II, Göttingen 2018, S. 263‒271.
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ter Roman über den Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl zur Zeit des Völkermords der Hutu an den Tutsi in Ruanda Hundert Tage25 hat selbst im Kreis eindeutig politisch engagierter Autoren und Autorinnen nicht nur Zustimmung gefunden. Ruth Schweikert, eine engagierte, originelle Autorin hielt dieses Buch für missglückt.26 Sie meinte, Bärfuss hätte besser eine Reportage geschrieben. Sie verkennt, dass das Buch außerordentlich gut an Ort recherchiert worden ist und übergeht die literarischen Qualitäten des aus völlig verschiedenen Perspektiven des Protagonisten David Hohl und aus der Sicht von Figuren verschiedener Art und Rasse gestalteten Texts. Man kann den Roman weder als generalisierendes Urteil über den Völkermord in Ruanda noch als einfache Negation des Unternehmens Schweizer Entwicklungshilfe lesen. Bärfuss vermittelt den Lesenden die Erkenntnis der Schuld dieses Scheiterns aus der Sicht des eigenen und des fremden Landes. Das entschuldigt die Illusionen, die Fehler und die nicht nur uneigennützigen Aktionen der Schweizer Entwicklungshilfe nicht. Aber es ermöglicht den Lesenden, sich ein Urteil zu bilden, wie es dazu kam und darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen für gelingende Entwicklungshilfe nötig wären. Durch die komplexe Form seines Erzählens vermittelt er keine eindeutige Moral, und durch die Wandlungen und die Krisen von David Hohl provoziert er Fragen nach der nationalen Identität der Schweiz und der Schweizer im Zeitalter der Globalisierung. Wenn Peter Stamm zu Jonas Lüscher sagte, ein kritischer Autor sei nicht einer, der die Welt kritisiert, sondern einer, der sich selbst befragt und hinterfragt, so könnte er das auch bei Bärfuss in seinem Roman Koala finden. In diesem autofiktionalen Roman erzählt Bärfuss selbstkritisch die Geschichte der Beziehung zu seinem Halbbruder, die unterschiedlichen Gründe der Entwicklungen ihrer Identität und die Wandlungen seines eigenen Verhältnisses zur helvetischen Gesellschaft. In seinem Essay Das Volk und Ich27 bekennt er sich als politisch aktiver Staatsbürger und möchte, seine Kinder würden das auch. Er nimmt sie zur Stimmabgabe an die Urne mit und lässt sie die Zettel selbst in die Urne werfen, um ihnen zu zeigen, dass dies nicht nur eine Pflicht, sondern ein seltenes und kostbares Privileg sei, das ein Großteil der Menschen bis auf den heutigen Tag entbehren müsse.28 Vor allem schätzt er die Volksinitiative – „für mich der vornehmste Ausdruck meiner Teilhabe an der Macht, vornehmer als das Referendum, mit dem das Volk befindet, ob es ein vom Parlament beschlossenes Gesetz verabschieden will.“29 Aber in jüngster 25 26 27 28 29
Bärfuss, Lukas: Hundert Tage, Göttingen 2008. Sourlier, Stefanie, Schweikert, Ruth: Ich will wirken, in: Die Zeit 47, 17. November 2011, S.15. In: Bärfuss, Lukas: Stil und Moral, Essays, Göttingen 2015, S. 139‒150. Ebd., S. 141. Ebd., S. 139.
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Zeit zweifle er an der Volksinitiative, weil er nicht mehr sicher sei, dass sie ihren in der Bundesverfassung gesetzten Zweck erfülle. Art. 2 der BV lautet: „Die Schweiz. Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.“30 Dieser Zweck setze aber etwas voraus, was nie der Fall war und immer weniger ist, die Unabhängigkeit. Viele Abhängigkeiten seien zu bedauern, andere aber zu unseren Gunsten. Gibt es einen Zeitpunkt, fragt Bärfuss, an dem wir zugeben müssten, dass der Staat seinen Zweck nicht mehr erfülle, weil einige Probleme unserer Zeit durch Institutionen bestimmt werden, in denen die Schweiz keine Stimme hat? Er kommt zum Schluss, wir Schweizer seien dabei, unsere Rechte zu einem Selbstzweck zu machen, zur formalen Definition unserer Eigenart, unserer Identität und er wünscht sich, „dass wir unseren Staat wieder mehr als Zweck begreifen und nüchtern prüfen, ob seine Mittel noch tauglich sind.“31 Er bekennt sich nach wie vor als Kind der politischen Kultur seiner Heimat, sagt aber in seiner Ode an die Schüler, einer Rede an die Maturanden der Zürcher Kantonsschule Enge 201432 deutlich, was er sich von der Jugend wünscht: neue Sichtweisen in Politik, Wissenschaften und Künsten und neue Formen, wie wir zusammen leben wollen.33 Wichtiger und noch aktueller aber ist für mich die Maturitätsrede Mani Matters: Die Mitarbeit des Bürgers im Verwaltungsstaat 34 . Er hat sie vermutlich schon 1965 gehalten; seine Witwe Joy Matter hat sie aus aktuellem Anlass 2016 publiziert. Der Liedermacher Mani Matter ist der wohl berühmteste Schweizer Chansonnier. Er hat mit seinen Liedern ein humorvoll-kritisches Bild der Schweiz gezeigt, mit allen Tugenden und Lastern. Dass er, der Jurist und Rechtsberater der Stadt Bern, auch ein mit allen Krisen, Gefahren und Chancen der Demokratie vertrauter Staatstheoretiker war, zeigt seine Rede an die Gymnasiasten.35 Die zentrale Frage lautet: Was verstehen wir unter Demokratie? Er nennt dreierlei in der Schweiz verbreitete Vorstellungen: 1. Das Volk ist der Souverän. Staatsgewalt und Staatsapparat sind als Vorgegebenes vorhanden. Das Volk übt die Gewalt aus, indem es Abgeordnete wählt oder über die Verfassung abstimmt, oder über unter Referendum stehende Gesetze, die die Abgeordneten dem Volk vorlegen, entscheidet, ihnen 30 31 32 33 34
Ebd., S. 143. Ebd., S. 150. Bärfuss, Lukas: Stil und Moral, Essays, Göttingen 2015, S. 163‒173. Ebd., S. 172‒173. Matter, Mani: Rede an die Gymnasiasten. Die Mitarbeit des Bürgers im Verwaltungsstaat, in: Das Magazin: 19, 14. März 2016, S. 19‒24. 35 Vgl. auch Mani Matters Aufsatz Der Bürger und die demokratischen Institutionen in: Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft. 1966. Der Titel seiner Habilitationsschrift: Die pluralistische Staatstheorie, Gümligen 2012.
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zustimmen oder sie ablehnen kann. Die Bürger sind dann in einer Doppelstellung, einerseits Teil des Souveräns, anderseits als Einzelne der Staatsgewalt unterworfen. 2. Der Staat ist eine Institution, in der es an sich gar keinen Unterschied zwischen Regierenden und Regierten gibt. Der Staat betrachtet sich an sich als Selbstregierung des Volkes. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Interessen des Volkes und den Interessen der Bürger. Es ist dies die nirgends realisierte Utopie einer klassenlosen Gesellschaft. (Marx) 3. Eine ähnliche Vorstellung der Demokratie als Selbstregierung des Volkes, die eine Gemeinschaft von Gleichen voraussetzt, beschränkt die politische Gleichheit auf Angehörige der gleichen Rasse, der gleichen Religion und Kultur. Sie bemerken die Nähe zur Staatslehre von Carl Schmitt und deren Bedeutung für die Rechtfertigung des Rassismus und des extremen Nationalismus. Mani Matter meint, nicht jeder, der von der Selbstregierung des Volkes spreche, sei schon ein Nazi oder ein Kommunist, aber er will die Begriffe klären und zeigen, dass die Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger oft widersprüchlich sind. Den Vertretern des zweiten Modells, der Selbstregierung des Volkes, gibt er insofern Recht, als es eine Staatsmacht, die außerhalb der Bürger existierte, ja gar nicht gebe. Es gebe zwar Polizei und Verwaltung, aber das sei nichts für sich selbst Bestehendes, sondern stehe im Dienst einer Aufgabe, die im Staat erst verwirklicht werden sollte. Das Volk sei keine Einheit, sondern eine Vielheit mit ganz verschiedenen Meinungen und Interessen verschiedener sozialer Schichten und in der Schweiz auch von ganz verschiedenen Sprachen und Kulturen. Wenn aber diese Leute einen Mehrheitsentscheid fällten, so sei das nur eine unter vielen Möglichkeiten, den Volkswillen zu ermitteln, dazu kämen aber, was Matter betont, nicht nur die Möglichkeiten des Referendums und der Initiative, sondern nötig sei auch die Mitwirkung der Bürger und Bürgerinnen. Dies aber setze nicht nur zentrale, sondern auch föderalistische Strukturen voraus, die nicht nur der Mehrheit, sondern auch den Minderheiten Rechnung trügen. Wir müssten uns, vor allem die Deutschsprechenden, vor der Verführung hüten, die im Singular des Wortes Volk liege, dass wir uns das Volk als eine Überperson vorstellten, als eine Einheit; englisch people aber wird meist mit dem Plural konstruiert. Wenn wir Volk als eine aus verschiedenen Faktoren gebildete Mehrheit verstünden, laute die Frage nicht: Wie kann das Volk herrschen? Sondern: Wie müssen wir es anstellen, dass die gemeinsamen Aufgaben der res publica, die, wie dieses Wort sagt, allen gemeinsame Aufgaben sind, auf eine Weise gelöst würden, dass alle irgendwie mitbeteiligt sind und dass keiner sich anmassen darf, abschließend zu beurteilen, was für die anderen gut ist. Für Mani Matter ist Demokratie ein nicht vollkommen realisiertes Ideal, dem Staat sich nähern, es aber nie erreichen zu können. Auch in der Schweiz gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie.
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Die Schweizerische Volkspartei (SVP) organisierte eine Volksinitiative gegen Masseneinwanderung. Sie ist am 9. Februar 2014 mit der hauchdünnen Mehrheit von 50,3 % der Stimmen angenommen worden. Jene Partei forderte darauf die buchstäbliche Umsetzung, ohne differenzierende, juristische Bedenken des Parlaments zu berücksichtigen und reagierte mit einer neuen Initiative, der Durchsetzungsinitiative. Sie wurde, nach öffentlicher Diskussion in allen Gremien und Medien, am 26. Februar 2016 mit 58,9 % der Stimmen abgelehnt. Auch die jüngste Initiative dieser Partei, die Volksinitiative Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative) hat das Volk in der Abstimmung vom 25. November 2018 mit einer Mehrheit von 66 % der Stimmen verworfen. Diese Initiativen sind Ausdruck eines extremen Rechtsverständnisses dieser Partei. Sie betrachtet Mehrheitsentscheidungen als Ausdruck des direkten, unabänderlichen Willens des Volkes und achtet transnationale Verträge nur soweit die Bundesverfassung und die eidgenössischen Gerichte in letzter Instanz entscheiden können. Es zeigt sich hier nicht nur ein anderes Verhältnis zur Demokratie und zum Begriff des Volkes, sondern auch prinzipielles Misstrauen gegen alles Fremde und gegen jede Öffnung zu Europa. Mani Matters Lied Dynamit zeigt in der für ihn charakteristischen Mischung von Scherz und Ernst den Kontrast zwischen jener fundamentalistischen Sicherheit, Recht zu haben und seiner offenen, selbstkritischen Sicht: Einmal als er nachts spät nach Hause gelaufen sei, habe er vor dem Bundeshaus einen Kerl angetroffen, der sich mit Dynamit zu schaffen gemacht habe. Er sei erschrocken und habe zu dem Mann gesagt, das sähe ja gerade so aus, als ob er dieses Haus in die Luft sprengen wollte: „Ja, seit dä Ma mir mit Für, es muess siy/ Furt mit däm Ghütt, i bi für d’Anarchi.“36 [Ja sagt mir der Mann, es muss sein, fort mit der Hütte. Ich bin für die Anarchie] Was bleibe ihm als Bürger, sagt Mani, als zu versuchen, ihn davon abzubringen und ihm alle Vorteile unseres Staats zu beschreiben, so gut er das konnte. Die Angst hätte ihn sein Rednertalent entfalten lassen, sagt Mani, kühl hätte der Wind um sie geweht in der Nacht. Während er ihm eine „Augustrede“ gehalten habe „Dass es es Ross het patriotisch gmacht […] So han i schliesslech dr Staat chöne rette/Är isch mit sim Dynamit wieder hei.“ [So habe er schliesslich den Staat retten können. Er ging mit seinem Dynamit wieder nach Hause]. Abends im Bett hätte er sich selbst einen Orden zugesprochen; eigenartig sei nur, dass ihm schon am nächsten Tag Zweifel erfassten: „Han ig ihm d’Schwyz mit Rächt eso prise / Fragen i mi no bis hüt hinderdry. [Habe ich ihm mit Recht die Schweiz so sehr gelobt, frage er sich immer wieder und bis heute hinten drein. Und wenn er heute am Bundeshaus vorbeilaufe, denke er immer: „S’ steit nume uf Zyt/ / S’ länge fürs z’ 36 Matter, Mani: dynamit, in: Ders.: Warum syt dir so truurig? Berndeutsche Chansons, Zürich, Köln 1973, S. 12‒13.
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spränge paar Seck Dynamit.“ [Es steht nicht auf ewig, nur auf Zeit. Es reichen, um es zu sprengen, einige Säcke Dynamit]. Literaturverzeichnis Bärfuss, Lukas: Krieg und Liebe. Essays II, Göttingen 2018, S. 263‒271. Bärfuss, Lukas: Hundert Tage, Göttingen 2008. Bärfuss, Lukas: Stil und Moral, Essays, Göttingen 2015. Bichsel, Peter: Rede am 1. August 1966 in Grenchen, in: Die Weltwoche, 5. August 1962. Dewulf, Jeroen (Hg.): Die Heimat freut sich darauf, gemacht zu werden, orte. Schweizer Literaturzeitschrift, Nr.197, 2018, S. 5‒77. Frisch, Max: Werkausgabe edition Suhrkamp in 12 Bänden, Frankfurt a. M. 1976. Lüscher, Jonas: Literatur darf und kann fast alles, in: Tages Anzeiger, 26. Oktober 2016. Matter, Mani: Rede an die Gymnasiasten, in: Das Magazin 19, 14. März 2016, S. 19‒24. Matter, Mani: dynamit, in: Matter, Mani: Warum syt dir so truurig? Berndeutsche Chansons, Zürich, Köln 1973, S. 12‒13. Meyer, E.Y.: 1. August oder von der Freiheit und vom Risiko, in: ders.: Die Hälfte der Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980, S. 161‒168. Pedretti, Erica: Ein schönes Land, in: einspruch, Zeitschrift der Autoren, Heft 7/1988, S. 36‒37. Sourlier, Stefanie, Schweikert, Ruth: Ich will wirken, in: Die Zeit 47, 17. November 2011, S.15. Stamm, Peter: Mein Kerngeschäft besteht aus Nichtstun, in: Tages Anzeiger, 21. Oktober 2015, https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/meinkerngeschaeft-besteht-aus-nichtstun/story/15384256, letzter Zugriff: 16. August 2019. Sonntagszeitung, Kultur, 28. Juli 2018.
Daniel Rothenbühler (Hochschule der Künste Bern)
Doppelbürgerschaft Räume des Politischen bei Melinda Nadj Abonji und Dana Grigorcea
Im Sonderband von Text+Kritik zur Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur machte die Schweizer Literaturkritikerin Elsbeth Pulver 1988 auf eine neue Generation von Schreibenden aufmerksam, deren Namen „auf Doppelbürgerschaft, auf ein Leben zwischen zwei Kulturen“, hindeutet und deren Schaffen „ein neues Kapitel Literaturgeschichte“1 einleiten könnte. 1985 hatte Dante Andrea Franzetti, dessen Vater aus Italien stammte, die Erzählung Der Großvater veröffentlicht, 1986 waren ihm Dragica Rajčić, kroatischer Herkunft, mit den Halbgedichten einer Gastfrau und Francesco Micieli, italienischer Herkunft, mit Ich weiß nur, dass mein Vater große Hände hat gefolgt. Das „neue Kapitel Literaturgeschichte“, das Elsbeth Pulver ankündigte, ist heute nicht mehr wegzudenken in der deutschsprachigen Literatur aus der Schweiz. Eine wachsende Anzahl junger Autorinnen und Autoren mit kultureller Doppelbürgerschaft hat seit Ende der 1980er Jahre in der Schweiz und darüber hinaus immer grössere Anerkennung erfahren. Mit den Schweizer Buchpreisen von 2009 bis 2011 erreichte dieser Prozess einen Höhepunkt: 2009 ging der Preis an Ilma Rakusa, slowenischer und ungarischer Herkunft, für Mehr Meer, 2010 zeitgleich mit dem Deutschen Buchpreis an Melinda Nadj Abonji, serbisch-ungarischer Herkunft für Tauben fliegen auf und 2011 an Catalin Dorian Florescu, rumänischer Herkunft, für Jacob beschließt zu fliegen. Obwohl die drei Bücher ihre Preise allein ihrer literarischen Qualität verdanken, markiert ihre höchste Auszeichnung nicht nur in literarischer Hinsicht einen wichtigen Meilenstein in der Ankunft von Autorinnen und Autoren der Migration in der Schweiz, sondern auch in politischer. So sah Adrian Riklin in der schweizerischen Wochenzeitung in der doppelten Auszeichnung von Tauben fliegen auf in der Schweiz und in Deutschland nicht nur für die Schweizer Literatur ein Signal. In Zeiten, da ‚Swissness‘ und (staatlich geförderte) Refolklorisierung bis weit in den Kulturbetrieb hineindringen und ‚Integra1 Pulver, Elsbeth: Von einem nächtlichen Fassadenkletterer, von Ambrosio, dem Spanier, und der neuen Lindauerin. Das Fremde als literarische Figur in der deutschschweizerischen Gegenwartsliteratur, in: Arnold, H. L. (Hg.): Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur, Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Österreich, Schweiz (Text + Kritik), München 1988, S. 267–281, hier S. 280.
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tion‘ weitgehend als ‚Unterordnung‘ definiert wird, tut es gut zu wissen, dass hierzulande in den nächsten Wochen aller Voraussicht nach ein Buch die Bestsellerliste anführen wird, welches das Leben in diesem Land aus einer anderen Welterfahrung zu erzählen vermag.2
1.
„Als Gegebenes noch gar nicht bekannt“
Tatsächlich wirken preisgekrönte Werke von Autorinnen und Autoren der Migration schon politisch, indem sie Zeugnis davon ablegen, dass es eingewanderten Menschen möglich ist, mit der Sprache und Lebenswelt ihres Herkunftslandes verbunden zu bleiben und zugleich in einer der Landessprachen des Ankunftslandes besser zu Hause zu sein als die meisten gebürtigen Schweizerinnen und Schweizer. Zum Politikum wird dies nicht nur, wie Riklin betont, für die Öffentlichkeit, sondern auch für die Autorinnen und Autoren selbst. In seinem Essay The Writer as Migrant bezeichnet Ha Jin, US-amerikanischer Autor chinesischer Herkunft, den Wechsel des literarischen Schreibens einer Autorin oder eines Autors der Migration in die Sprache des Ankunftslandes als den endgültigen Akt des Verrats, der ihn von seiner Herkunft entfremdet, und betont: „This linguistic betrayal is the ultimate step the migrant writer dares to take; after this, any other act of estrangement amounts to a trifle.“ [Dieser sprachliche Verrat ist der letzte Schritt, den der Schriftsteller wagt; danach kommt jeder andere Akt der Entfremdung einer Bagatelle gleich.]3 Trotzdem bleibt verlassene Vergangenheit lebendig und eine wesentliche Quelle des Schreibens: „However, we should also bear in mind, no matter where we go, we cannot shed our past completely – so we must strive to use parts of our past to facilitate our journeys.“ [Wir sollten aber auch bedenken, dass wir, egal wohin wir gehen, unsere Vergangenheit nicht vollständig aufgeben können – deshalb müssen wir uns bemühen, Teile unserer Vergangenheit zu nutzen, um unsere Reisen zu erleichtern.]4 In einem Gespräch mit der Tageswoche spricht Melinda Nadj Abonji von einer ähnlichen Erfahrung: Meine Muttersprache und Herkunft waren immer präsent, aber wirklich einschneidend ist das Thema mit 30 geworden. Mir wurde bewusst, dass ich nicht einfach nur von Anfang an mehr Sprachen sprach. Ich merkte, dass meine Herkunft viel mehr mit sich bringt.
2 Riklin, Adrian: Die ‚Jugos‘ vom Café Mondial, in: WOZ. Die Wochenzeitung Nr. 40/2010, https://www.woz.ch/1040/ungarisch-serbisch-schweizerische-literatur/die-jugos-vom-cafemondial%C2%A0, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. 3 Jin, Ha: The Writer as Migrant, Chicago/London 2008, S. 31. 4 Ebd., S. 85‒86.
Doppelbürgerschaft
[…] Die Literatur hat da eine wichtige Funktion, nämlich das Verschüttete, Abgeschobene wieder aufleben zu lassen. Schreiben heisst, sich zu erinnern. Und das hat nichts mit Nostalgie oder Kitsch zu tun, sondern mit Arbeit und Vorstellungskraft.5
Die Spannung zwischen diesen zwei gegenläufigen Quellen des Schreibens, der auf die Zukunft gerichteten Sprache des Schreibens und der aus der Vergangenheit wirkenden Sprache und Lebenserfahrung, erweist sich nicht nur als literarisch höchst fruchtbar, sie hat immer auch eine politische Komponente, wenn das Politische im Sinne Hanna Arendts in der Freiheit besteht, „etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab, das nicht vorgegeben ist, auch nicht für die Einbildungskraft, und zwar deshalb, weil es als Gegebenes noch gar nicht bekannt ist.“6 Aufgrund ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft vertreten Melinda Nadj Abonji und Dana Grigorcea dieses Politikverständnis in der deutschsprachigen Schweiz sowohl in ihrem Schreiben wie in ihrem politischen Auftreten auf besonders prägnante Weise. Im Schreiben haben sie eine gegenläufige Entwicklung durchgemacht. In Melinda Nadj Abonjis erstem Roman Im Schaufenster im Frühling (2004) spielt das Herkunftsland der Autorin keine Rolle, in Tauben fliegen auf (2010) tritt es neben ihr Ankunftsland, in Schildkrötensoldat (2017) tritt es ganz in den Vordergrund. Dana Grigorceas erster Roman Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare (2011) spielt umgekehrt ganz im Herkunftsland der Autorin, Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit (2015) macht ihr Ankunftsland im Hintergrund sichtbar, die Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen (2018) schließlich spielt nur noch im Ankunftsland, wenn auch mit zwei Hauptfiguren, die der Migration entstammen. Bei beiden Autorinnen ist der Roman in der Mitte ihres bisherigen Werkes für das Thema der kulturellen Doppelbürgerschaft am ergiebigsten. Beide Autorinnen nahmen neben ihrer breit anerkannten literarischen Tätigkeit immer wieder auch an politischen Debatten teil. Anlässlich der Schweizer Nationalratswahlen 2015 kandidierten sie beide auf der Liste Kunst und Politik in Zürich und versuchten so, auch in die parlamentarische Politik das hineinzutragen, was „als Gegebenes noch gar nicht bekannt ist“. In ihrer dreiteiligen Zürcher Poetikvorlesung vom November 2018 unterstreicht Melinda Nadj Abonji diese Notwendigkeit des politischen Eingreifens und erwartet vom literarischen Schreiben besonders tief greifende Schlagkraft: „Literatur stellt
5 Mustedanagic, Amir: Heimat ist für mich etwas Sinnliches. Interview, in: TagesWoche 17. Oktober 2012, https://tageswoche.ch/form/interview/heimat-ist-fuer-mich-etwas-sinnliches/, letzter Zugriff 4. Juli 2019. 6 Arendt, Hanna: Freiheit und Politik, Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994 [1959], S. 449‒461, hier S. 454.
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unhinterfragte gesellschaftliche Annahmen infrage, die Fundamente der normativen Ordnung. Nichts kann politischer sein, auch der politische Aktivismus nicht, der stets ein bestimmtes Ziel hat und immer auf die Gegenwart reagiert“, während das journalistische Schreiben, das Reagieren auf Gegenwart eine andere Sprache erfordert, die an der Formulierbarkeit festhält und somit am Status quo, am ausgesprochen konservativen Charakter der Sprache; eine Sprache, die unabhängig von mir bereits existiert und mir eine Denkweise aufzwingt, die ich im Grunde wieder bekämpfen muss.7
Radikaler kann das literarische Schreiben wirken, weil es, wie Nadji Abonji Imre Kertèsz zitiert, „die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert“: Die Demaskierung der Sprache im Schreiben entspringt einer Verantwortung gegenüber der grundsätzlichen Freiheit jedes Menschen; der gelernten Sprache wird eine Sprache gegenübergestellt, die erst im Schreiben oder, wie Herta Müller es formuliert hat, im eigenen Mund entsteht.8
Dass Nadj Abonji sich hier neben Herta Müller nicht auch auf Arendt beruft, erklärt sich wahrscheinlich daraus, dass für diese die zukunftsoffene Freiheit nur für das politische Handeln gilt, während die künstlerische Tätigkeit in ihren Augen ein Herstellen ist, ein Vollbringen, und dieses „wenn es glückt, nie mehr realisiert als den zu Beginn ergriffenen Gedanken oder das von der Einbildungskraft vorweg vorgestellte Ding, dem der Herstellungs- oder Denkprozess unterworfen ist.“9 Nadj Abonji hingegen betrachtet die Freiheit, zu realisieren, was „nicht vorgegeben ist, auch nicht für die Einbildungskraft, […] weil es als Gegebenes noch gar nicht bekannt ist“10 , als Wesensmerkmal auch des Kunstschaffens und des literarischen Schreibens im Besonderen. Dana Grigorcea sieht dies ähnlich. In einem Interview anlässlich der Leipziger Buchmesse 2018 und des Erscheinens ihrer Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen wendet sie sich gegen eine „‚Zeigefingerliteratur‘, die die Leser aufdringlich belehren will“, und stellt ihr eine Literatur gegenüber, die „aus der Sicht des Einzelnen über die Welt reflektiert“11 . Politisch wer-
7 Nadj Abonji, Melinda: Aus einem Hund wird kein Speck. Dunkelkammer, Teil II. Zürcher Poetikvorlesung, https://www.republik.ch/2018/11/16/aus-einem-hund-wird-kein-speck, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. 8 Ebd. 9 Arendt: Freiheit und Politik, S. 459. 10 Ebd., 454. 11 Grigorcea, Dana: Bücher können viel verändern, 21. März 2018. https://www.dw.com/de/ dana-grigorcea-bücher-können-viel-verändern/a-43059441, letzter Zugriff: 4. Juli 2019.
Doppelbürgerschaft
de eine solche Literatur dadurch, dass sie gegenüber festen Sprachregelungen Räume der Freiheit eröffne. Man spreche „laut von einem ‚Wir‘ und einem Allgemeinwohl“, und meine, es deutlich erkannt zu haben, hielt sie im Oktober 2017 in einem Essay fest, dabei hinke „auch die Sprache längst der Realität hinterher“12 . 2.
‚Offene‘ versus ‚abgeschlossene‘ Schweiz
In der deutschsprachigen Literatur der Schweiz gibt es eine Tradition des Politischen, für die Namen wie Max Frisch, Peter Bichsel, Otto F. Walter und Adolf Muschg stehen. Mit Autorinnen und Autoren, die in der angenommenen Sprache des Ankunftslandes schreiben und jener des Herkunftslandes ebenso verbunden bleiben wie dessen Kultur und Natur, gewinnt das Politische aber eine neue Qualität. Insbesondere hat ihr Auftreten in Literatur und Politik einen wesentlichen Einfluss auf das, was der deutsche Rechtswissenschaftler Friedrich Müller in seiner Schrift Wer ist das Volk? 1997 als das „Volk als Ikone“ oder das „ikonische Volk“13 bezeichnet hat. Zum Volk ikonisiert werden die Bürgerinnen und Bürger eines Landes nach Müller immer dann, wenn versucht wird, ihre Einheit in der Verneinung der tatsächlichen sozialen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Differenzen zu behaupten und so bestimmte politische Entscheidungen und Maßnahmen zu rechtfertigen. Müller stellt dem ikonischen Volk drei andere Bedeutungsrichtungen des Volksbegriffs entgegen: das aktive Volk der Wahl- und Abstimmungsberechtigten, die tatsächlich wählen und abstimmen gehen, das Zurechnungsvolk aller Staatsbürgerinnen und -bürger, die die so herbeigeführten Entscheidungen und Maßnahmen anerkennen oder nicht, und das Adressatenvolk, die Gesamtheit der in einem Land anwesenden Bevölkerung, also auch Angehörige fremder Staaten, Staatenlose und Durchreisende, die von diesen Entscheidungen und Maßnahmen in ihren Grundrechten getroffen werden können. Der demokratische Rechtsstaat, die res publica, muss sich gegenüber dem Volk in diesen drei Bedeutungsrichtungen legitimieren, gegenüber dem Aktivvolk in der Respektierung seiner Entscheidungen, gegenüber dem Zurechnungsvolk in einer Umsetzung derselben, die nicht nur der jeweils vom Aktivvolk hervorgebrachten Mehrheit, sondern dem Wohl der ganzen res publica dient, 12 Grigorcea, Dana: Mein Europa: Was ist das, Heimat? 20. Oktober 2017. https://www.dw. com/de/mein-europa-was-ist-das-heimat/a-41047115, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. 13 Müller, Friedrich: Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente der Verfassungstheorie VI, Berlin 1997, S. 32.
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und gegenüber dem Adressatenvolk in der Respektierung seiner Menschenrechte und vor allem des nach Hanna Arendt ersten unter ihnen, des Rechts auf Rechte. Für Entscheidungen und Maßnahmen spielt in allen drei Hinsichten aber auch das „ikonische Volk“ eine maßgebliche Rolle, obwohl oder vielleicht gerade weil es im Unterschied zu demjenigen in den drei anderen Kategorien weder politisch noch soziologisch oder gar juristisch auf verbindliche Weise definiert werden kann, sondern vor allem eine ideologische Funktion hat. Das ikonische Volk beziehe sich zwar im Rahmen des Legitimierungsdiskurses auf niemanden, schreibt Müller, bei wachsender Politisierung und pseudosakralem Gebrauch könnten „die Ein- und Ausgrenzungen aber energisch“14 werden. Der Sänger und Dichter Jurczok hat dies in einer Performance im Herbst 2017 mit dem Wort „Scheinbevölkerung“ verdeutlich, durch das die angeblichen Halbschweizer vom eigentlichen Volk abgetrennt würden, und er hat die mit solchen Unterscheidungen verbundene Haltung im aufrüttelnden Satz auf den Punkt gebracht: „Wer Scheinbevölkerung sagt, muss auch Blutbürger sagen.“15 Ideologische Basis des Volkes als Ikone können in sprachlich und kulturell homogenen Ländern Vorstellungen von ethnischen oder gar „rassischen“ Gemeinsamkeiten bilden. In Ländern mit mehreren Sprachen und Kulturen basiert das Volk als Ikone meist auf der Annahme einer gemeinsamen Geschichte und Zukunftsperspektive. Diese Vorstellung ist Gegenstand dessen, was Paul Ricoeur die „narrative Identität“ nennt. Nach Ricoeur mündet das Problem der Identität eines Volkes ebenso wie derjenigen einer Person ohne „die Hilfe der Narration“ unausweichlich in eine unlösbare Antinomie: denn entweder postuliert man ein bei aller Vielfältigkeit seiner Zustände selbstidentisches Subjekt oder man vertritt wie Hume und Nietzsche die Ansicht, dieses identische Subjekt sei bloß eine substantialistische Illusion […]. Das Dilemma verschwindet, wenn man die im Sinne eines Selben (idem) verstandene Identität durch die im Sinne eines Selbst (ipse) verstandene Identität ersetzt; der Unterschied zwischen idem und ipse ist kein anderer als der zwischen einer substantialen oder formalen und der narrativen Identität. […] Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die für die Ipseität konstitutive narrative Identität auch die Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen.16
14 Ebd., S. 39. 15 Jurczok 1001: Scheinbevölkerung [2017], https://masterplanet.ch/jurczok/texte/scheinbevolkerung, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. 16 Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit, aus dem Französischen von Andreas Knop, München 1991, S. 396.
Doppelbürgerschaft
Deshalb ist sie auch „keine stabile und bruchlose Identität“17 . Sie bleibt „in ständiger Bildung und Auflösung begriffen“18 , weil sie Gegenstand ethischer und im Fall einer ganzen Gesellschaft auch politischer Entscheidungen ist. In jedem Narrativ ist eine Sicht der Welt enthalten, die niemals ethisch [bzw. politisch, D. R.] neutral ist, sondern vielmehr implizit oder explizit eine neue Bewertung der Welt und des Lesers selbst induziert: so gesehen gehört die Erzählung bereits ins Feld der Ethik (bzw. Politik, D. R.), und zwar aufgrund des untrennbar mit der Narration verbundenen Anspruchs auf ethische (bzw. politische, D. R.) Richtigkeit.19
In der so verstandenen narrativen Identität der Schweiz rivalisieren – wohl seit deren Ursprüngen – zwei Sichtweisen miteinander. Die eine sieht das ikonische Volk der Schweiz dadurch konstituiert, dass Einflüsse von außen abgewehrt werden, die andere dadurch, dass sie als Bereicherung zu begrüßen sind. Der Beitrag literarischer Werke zu solch ethisch und politisch motivierten Kontroversen um die narrative Identität der Schweiz bestand von jeher darin, dass sie die vereinfachende Gegenüberstellung von ‚offener‘ versus ‚abgeschlossener‘ Schweiz in ihrer Unzulänglichkeit, ja Ausweglosigkeit darstellten. Das weltweit wohl bekannteste Beispiel ist der Roman Stiller von Max Frisch. Eszter Pabis zeigt in ihrer Dissertation über Die Schweiz als Erzählung auf, wie sich mit Stiller als angeblichem US-Bürger White und seinem Verteidiger Bohnenblust zwei Sichtweisen gegenüberstehen, die – mit Walter Schmitz gesagt – im Begehren übereinstimmen, „das Selbstbild einer ‚offenen Schweiz‘ zu überprüfen“20 : Bohnenblust verteidigt das Bild einer ‚Schweiz für die Schweizer‘21 , Stiller/White bestätigt ihn insofern, als er behauptet, dieses Bild präge bis in die Details der Gefängnisordnung die Schweizer Realität, gegen die er anrennt. Beide sehen die Schweiz so im Sinn von Ricoeurs idem-Identität „als eine einheitliche und zeitlich beständige Substanz“22 . Bohnenblust erscheint in seinen Reden über die Schweiz als karikierter Vertreter des ‚Schweizerischen‘ in Opposition zu allem ‚Unschweizerischen‘, Stiller/White wendet sich gegen alles ‚Schweizerische‘ und hält ihm Geschichten seines vermeintlichen Herkunftslandes entgegen, die ebenso „auf einem Nationalmythos, auf dem der Vereinigten Staaten“23 17 18 19 20
Ebd., S. 399. Ebd. Ebd., S. 400. Schmitz, Walter: Handbuch Literatur der Migration in den deutschsprachigen Ländern seit 1945. Band I. ‚Einwanderungsländer wider Willen‘. Prozess und Diskurs. Dresden 2018, S. 171. 21 Ebd. 22 Pabis, Eszter: Die Schweiz als Erzählung. Nationale und narrative Identitätskonstruktionen in Max Frischs Stiller, Wilhelm Tell und Dienstbüchlein, Frankfurt a. M. 2010, S. 100. 23 Ebd., S. 104.
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beruhen. Die Ironie des Romans besteht darin, dass White/Stiller durch eben jenes Erzählen als Stiller überführt wird, mit dem er sich als Stiller verleugnen will. Denn mit dem Erzählen geht als solchem eine narrative Identität einher, „eine dynamische Identität, die Identität und Verschiedenheit miteinander verknüpft“24 . Diese kann Stiller für sich aber nicht fruchtbar machen, weil sie nicht aktiv von ihm entwickelt wird, sondern sich sozusagen hinter seinem Rücken einstellt und ihm aufgenötigt wird, so dass er sich bloss resigniert der Tatsache fügt, Stiller und ein Schweizer zu sein. So führt er dann in Glion ein Leben, das wiederum der Karikatur entspricht, die er als White von der Schweiz gezeichnet hat. Denn als er seine „Keiferei gegen alles in diesem Land“, also der Schweiz, aufgibt, weil er keinen Grund mehr hat, „den Fremdling zu spielen“ und es annimmt, „ein Schweizer zu sein“25 , fällt seinem Freund Rolf auf, dass „sein Leben im Schwyzerhüsli gerade mit jenen Eigenschaften zu charakterisieren ist, die White an der Schweiz scharf kritisierte“26 . Stiller gelangt in seiner Resignation also nicht über substantialistische Bilder hinaus. Der Roman hingegen macht deren Ausweglosigkeit deutlich und betont damit die Notwendigkeit, von den Vorstellungen einer scheinbar „stabile[n] und bruchlose[n] Identität“ des idem Abschied zu nehmen und zu einer narrativen Identität des ipse „in ständiger Bildung und Auflösung“27 zu gelangen. 3.
„Ich begann zu erzählen, was es damit auf sich hat“
So haben Autorinnen und Autoren ebenso wie Historikerinnen und Historiker immer wieder versucht, die substantiale Identität des ikonischen Volkes in Bewegung zu bringen und damit zum Gegenstand der narrativen Identität zu machen. Mit dem Auftauchen der Autorinnen und Autoren, die ihre kulturelle Doppelbürgerschaft in ihrer Person und in ihren Werken manifestieren, begegnet die deutschsprachige Literatur aus der Schweiz dem ikonischen Volk und seiner „abstrakten Identität des Selben“28 nicht mehr bloß dadurch, dass sie herkömmliche Mythen dekonstruiert, sondern so, dass sie Erzählungen schafft, die transnationale Verbindungen und die mit ihnen verknüpfte Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit ins Zentrum stellen und so die „Veränderung und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens“29 nicht nur einzelner Individuen sichtbar macht, sondern auch der Gesellschaft, der sie angehören. 24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 17. Frisch, Max: Stiller, Frankfurt a. M. 1973 [1954], S. 414. Pabis: Die Schweiz als Erzählung, S. 115. Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 399. Ebd., S. 396. Ebd.
Doppelbürgerschaft
Aufgrund ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft widmen Melinda Nadj Abonji und Dana Grigorcea ihr literarisches Schreiben ebenso wie ihr politisches Auftreten hauptsächlich dem Bemühen, Freiheit zu finden in der konsequenten Absage an jegliche nationalistische oder auch nur nationale Zuordnung ihrer Existenz und Tätigkeit. Sie sei 2004 veranlasst worden den Roman Tauben fliegen auf zu schreiben, sagte Nadj Abonji in einem Interview mit der TagesWoche im Herbst 2012, weil sie im damaligen Abstimmungskampf zur erleichterten Einbürgerung der zweiten Generation eingewanderter Familien von allen Seiten mit Worten der festen Zuschreibung konfrontiert worden sei: „Ich begann zu erzählen, was es damit auf sich hat.“30 Erzählend wendet sie sich gegen die „begrenzenden Einteilungen wie Nation, Nationalität“ und betont: Die Kreation von Nation und Nationalität ist immer etwas Hochkünstliches. Das, was man selbst hat oder in sich trägt, ist der Bezug zu einzelnen Menschen, zu einer Sprache, der Umgang, der einen geprägt hat als Kind. Das ist ein riesiger Schatz, aber der gehört einem selbst, nicht einer Nation! Die Frage nach der Heimat ist primär die Frage nach der individuellen Geschichte, also nach etwas Kleinem, und obwohl diese Geschichte einzelmenschlich klein ist, ist sie ein unermesslicher Schatz.31
Auch für Girgorcea hat die Suche nach Heimat nichts mit Nation oder Nationalität zu tun. Im schon zitierten Essay vom Oktober 2017 schreibt sie, in Orson Welles Filmklassiker Citizen Kane könne man erfahren, was Heimat sei: Was […] Kanes letztes Wort, Rosebud, bedeutet, wird der Reporter, dem wir durch den Film folgen, nie erfahren. Denn Kanes geliebtes Rosebud war seine Heimat, eine Heimat, die man nur in einer flüchtigen letzten Einstellung zu sehen bekommt, kurz bevor sie, in Form eines alten Schlittens aus Kindertagen, mit weiteren als wertlos eingestuften Besitztümern Kanes ins Feuer geworfen wird. […] Dieses Gefühl der Beheimatung habe auch ich in meinem letzten Roman, Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit, beschrieben. Ich erzähle von dem, was Heimat und eine emotionale Topografie ausmachen könnte. Rosebud nimmt bei jedem eigene Formen an.32
In erstaunlicher Übereinstimmung sagt Nadji Abonji in ihrer Zürcher Poetikvorlesung Heimat sei „an keinem Ort sichtbar und auffindbar, ganz im Gegenteil“:
30 Mustedanagic, Amir: Heimat ist für mich etwas Sinnliches. Interview, in: TagesWoche 17. Oktober 2012, https://tageswoche.ch/form/interview/heimat-ist-fuer-mich-etwas-sinnliches/, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. 31 Ebd. 32 Grigorcea, Dana: Mein Europa: Was ist das, Heimat? 20. Oktober 2017. https://www.dw. com/de/mein-europa-was-ist-das-heimat/a-41047115, letzter Zugriff: 4. Juli 2019.
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Heimat ist unsichtbar. Sie ist ausschliesslich durch die Kindheit bestimmt, die von der Imagination, der Vorstellungskraft geprägt ist. Das heisst, alle Menschen teilen dieselbe Heimat, da wir ‚alle aus der Kindheit kommen‘, so Ugričić. Heimat ist deshalb von einem Nimbus umgeben, weil wir in der Kindheit diese umfassende Kraft der Imagination erlebt haben, die wir dann im Laufe der Zeit verlieren. Und wenn wir uns nach Heimat sehnen, sehnen wir uns nicht nach einer bestimmten Geografie, nach einer spezifischen Küche etc., sondern wir sehnen uns nach der verlorenen Kindheit, dem Königreich der Imagination.33
4.
Anpassung oder Widerstand
Dass die „Kreation von Nation und Nationalität […] immer etwas Hochkünstliches“34 ist, wird in Tauben fliegen auf (201035 ) nicht einfach behauptet, sondern für die Lesenden dadurch erfahrbar gemacht, dass die Romanfiguren, die sich auf ihre nationale oder ethnische Zugehörigkeit berufen, über keine gemeinsame narrative Identität im Sinne Ricoeurs verfügen. Sie sind nicht in der Lage, im Dialog „zwischen den zahlreichen Vorschlägen des ethisch [bzw. politisch, D. R.] Richtigen“36 etwas Gemeinsames entstehen zu lassen. Dieses Defizit zeigt sich im Roman darin, dass seine Figuren zwar oft „den spezifisch eigenkulturellen Hintergrund“37 betonen, untereinander aber, auch wenn sie diesen teilen, sofort zu streiten beginnen, wenn über die Vergangenheit gesprochen wird, über Faschismus, Kommunismus und Kapitalismus. Ihre politische Zerrissenheit erhöht ihre Anfälligkeit für Konstrukte einer scheinbar evidenten Zusammengehörigkeit auf ethnischer, religiöser, kultureller oder auch nur sprachlicher Basis. Sie nennen ihre Streitigkeiten Politik, aber zum Politischen im Sinne Arendts fehlt ihnen die Bereitschaft, „etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab“38 , weil sie nicht in Dialog zueinander treten, um eine wohldosierte Verbindung verschiedener Erfahrungen zu ermöglichen, sondern monologisch auf ihren jeweiligen Positionen beharren. Wenn also in der Familie gesagt wird, dass die Männer „ins Politische kippen, 33 Nadj Abonji, Melinda: Aus einem Hund wird kein Speck. Dunkelkammer, Teil II. Zürcher Poetikvorlesung, https://www.republik.ch/2018/11/16/aus-einem-hund-wird-kein-speck, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. 34 Mustedanagic: Heimat. 35 Im Folgenden wird mit Seitenzahlen in Klammern auf diesen Roman hingewiesen. 36 Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 400. 37 Kazmierczak, Madlen: Nation als Identitätskarte? Zur literarischen Auseinandersetzung mit ‚Nation‘ und ‚Geschichte‘ bei Marica Bodrožić und Melinda Nadj Abonji, in: Germanica 51/2012: La littérature interculturelle de langue allemande, S. 21‒33. https://journals.openedition.org/germanica/1978, letzter Zugriff: 4. Juli 2019, S. 39. 38 Arendt: Freiheit und Politik, S. 454.
Doppelbürgerschaft
dann ist es so, wie wenn man zu kochen anfängt, und man weiss von Anfang an, […] dass das Essen misslingen wird, zuviel Salz, zu wenig Paprika, angebrannt, ganz egal, das Politische bringt Gift, so Mamika.“ (24) Mamika ist die Großmutter der Ich-Erzählerin Ildikó – oder auch Ildi – Kocsis. In der Obhut von Mamika sind Ildi und ihre Schwester Nomi als Kinder Ende der 1970er Jahre mehr als vier Jahre in Jugoslawien zurückgeblieben, als ihre Eltern in Schweiz zogen, um sich den sozialen Aufstieg zu erarbeiten. Der Roman beginnt mit einer Rückfahrt der Familie in die Vojvodina, wo sie mit einem Chevrolet den im Land Verbliebenen den ökonomischen und sozialen Erfolg der Ausgewanderten vor Augen führt. Nur in der Bewunderung des Autos entsteht unter den Männern des Heimatdorfs eine Art Gemeinschaft. Sie versammeln sich um das Auto herum, „als wären sie gekommen, um dem Wagen die Ehre zu erweisen […], und die Männer werden […] auf die wichtigen Einzelheiten zeigen, die es eben braucht, damit es ein Ganzes gibt, ein schönes Ganzes, das nicht nur rollt oder fährt, sondern eben auch ein perfektes Fahrgefühl bietet.“ (23) Diese Einheit um das schöne Ganze des Autos bricht sofort auf, wenn „das einmütige Schwärmen plötzlich in einen Streit ausartet, weil womöglich einer behauptet, das sozialistische System habe trotz allem seine Vorteile“ (24). Auch in der Schweiz hört Ildikó unter den Ausgewanderten „Sätze, die die Männer in die Luft schleuderten, […] lauter Behauptungen, die dann bloss da hingen in der Luft, eigenartig fremd und verloren“ (211), und sagt zu ihrer Schwester, es komme ihr so vor, wie wenn wir alle Stellung bezogen hätten: die Männer betrunken, politisierend am Tisch, die Mütter flüsternd geheimnisvoll am Tischrand, und wir, die Töchter, stünden hier am Fenster, könnten das Ganze beobachten, seien beteiligt und unbeteiligt. (211)
Dieses beteiligt-unbeteiligte Beobachten kennzeichnet auch die Haltung, die Ildikó als Ich-Erzählerin einnimmt zu dem, was sie erzählt. Es ergibt sich aus ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft, die gegenüber dem Herkunftsland und seinen Konflikten sowohl große emotionale Nähe wie deutliche politische Distanz beinhaltet. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn sie die ethnischen bzw. politischen Konflikte darstellt, die sie mit derselben Heftigkeit berühren, wie sie sich von ihnen distanziert: Dragana und ich, zwei Tiere, die sich in die Augen schauen, wir, die Todfeinde sein müssten, weil Dragana bosnische Serbin ist oder serbische Bosnierin? Und ich zur ungarischen Minderheit in Serbien gehöre (der Irrsinn, der sich weiterdreht, in meinem Kopf, in allen Köpfen), und es ist absurd und absolut möglich. (157)
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Ildikó ist auch als Ich-Erzählerin an dieser Realität beteiligt und schildert sie mit Emphase, weil sie Personen betrifft, die ihr nahestehen. Zugleich ist sie insofern unbeteiligt, als sie sich politisch über ihren Irrsinn und ihre Absurdität erhebt, weil sie sich keiner der einander bekämpfenden Parteien zugehörig fühlt. Sie stammt zwar aus der „ungarischen Minderheit in Serbien“, sieht sich aber nicht durch diese Herkunft definiert. Wichtiger bleibt ihr ihre Herkunft aufgrund der „Atmosphäre meiner Kindheit“ (19), die von den sinnlichen Eindrücken lebt, die sie als Kind in der Vojvodina empfangen hat. Dieses Heimatgefühl kann sie als Schweizerin kaum jemandem verständlich machen: “[…] wie sagt man, dass man eine Ebene liebt, die Pappeln, staubig, gleichgültig, stolz, und die Luft dazwischen?“ (8) Diese Pappeln bleiben ein Leitmotiv im ganzen Roman. Als sie bei ihrer Arbeit im Café Mondial von einigen Kunden gebeten wird, ihnen „doch etwas über die Verhältnisse in Ihrem Land“ (240) zu erzählen, stellt sie sich vor, wie sie reagieren würden, wenn sie sagte, was ihr allein wichtig wäre: Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren – nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, den Staub, den Dreck, über Béla… (241‒242)
Heimat bleibt für Ildikó das, was nicht vermittelbar ist. Das bleibt tief in ihr haften und hindert sie nicht daran, sich geistig ganz darauf einzustellen, nun Schweizerin zu sein und im Studium mehrerer Fächer an der Universität sich nur für „die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte“ (98) zu interessieren. Der Roman zeigt, wie sie ihre feste Bindung an ihre Heimat bewahrt und über verschiedene Etappen hinweg lernt, doch ganz Schweizerin zu sein, nicht nur halb. Bei der Arbeit im Café Mondial ist sie zunächst wie ihre Eltern darum bemüht, sich den Kunden anzupassen, auch wenn ihr innerlich gar nicht danach zumute ist. Sie treibt das so weit, dass sie sich angesichts des Lobs eines fremdenfeindlichen Kunden für ihre Bedienung in ein „Ich“ und eine „Sie“ dissoziiert: „ich, die sich trotz allem geschmeichelt fühlt, ärgere mich, über sie, die ich bin.“ (109) Sie wünscht sich, „einen Ort zu haben, der mich definiert“ (190), und sucht ihn im besetzten Fabrikareal Wolgroth in Zürich. An diesem „Ort, wo es keine Gesetze gibt“ (134) sagt sie zu ihrer Schwester Nomi: „Ich möchte nur ein Gesicht haben“ (143). Doch diese erwidert ihr – wie schon ihre Großmutter und ihre Eltern –, es sei „überlebensnotwendig, verschiedene Gesichter zu haben.“ (143) Sie merkt denn auch, dass sie sogar im Wolgroth zweigeteilt bleibt, weil sie dort das tut, „was die meisten Politiker tun, die Dinge beschönigen“, während sie sich doch zugleich schutzlos fühlt, „am ganzen Körper angreifbar“ (190).
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Einen Ort, der sie definieren würde, findet sie so bis zum Ende des Romans nicht, weder bei den ihr Gleichgesinnten im Wolgroth noch bei ihrer Familie im Café Mondial, stattdessen findet sie zu sich selbst. Bedingung für diese Selbstfindung ist der offene Konflikt mit ihren Eltern. Er kündigt sich an, als sie mit ihrer Mutter darüber spricht, dass man ihnen das Leben schwer machen könnte. „Du gibst also zu, dass sie uns nicht mögen, dass sie uns weghaben wollen?“ (180), sagt sie und fügt als Erzählerin in Klammern hinzu: „(Meine Stimme, die triumphieren will.)“ (180) Doch die Mutter gibt nichts zu, sie will sich dem vorherrschenden Diskurs fügen: „[…] es kommen jetzt so viele Jugos, da sind die Schweizer abweisend, wir wären auch abweisend in ihrer Lage, verstehst du?“ (180) Doch die Tochter versteht nicht: Und damals, als ihr gekommen seid?, hattest du auch so viel Verständnis für die Angst der Schweizer? Nein, damals habe ich das noch nicht begriffen, sagt Mutter und legt das frisch gebügelte zusammengelegte Tischtuch auf den Stapel, wir müssen uns unter Kontrolle haben, nichts weiter, damit müssen wir uns abfinden. Kann man so leben, frage ich Mutter. Ja natürlich. (181)
So entspricht die Mutter gleich in dreifacher Hinsicht dem Klischee der Personen, die sie generalisierend als „die Schweizer“ bezeichnet: Sie versteht die fremdenfeindlichen Ängste, die sie ihnen unterstellt, sie fordert die Selbstkontrolle, die „den Schweizern“ zugeschrieben wird, und sie bleibt wie die stereotype „Schweizer Hausfrau“ ganz auf die Arbeit mit dem „frisch gebügelte[n] zusammengelegten Tischtuch“ konzentriert. Der Streit bricht offen aus, als fremdenfeindliche Kräfte die Toilette des Café Mondial mit Kot beschmieren und die Eltern stillschweigend darüber hinweggehen wollen. Ildikó versteht ihren Vater nicht mehr: […] keine Flüche, keine Verwünschungen, keine Fragen, wahrscheinlich auch keine Erinnerungen an früher, wo Vater als Feind des Systems galt, mein konterrevolutionärer Vater, so habe ich ihn insgeheim manchmal genannt, nicht ohne Stolz, denke ich, und jetzt? (293)
Wieder ist es die Mutter, die erklärt, man müsse sich fügen, „schweigen können, Sachen wegstecken, und wenn hinhören, dann eben nur mit halbem Ohr“ (297). Doch diesmal mündet die Differenz in den offenen Bruch zwischen Eltern und Tochter: […] wir verkeilen uns ineinander, unser gegenseitiges Unverständnis, wir müssen uns anpassen, sagt Mutter mit diesem Blick, den ich nicht mehr sehen will, an die Scheiße?, schreie ich, und wo fängt der Widerstand an? (300)
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Vor die Alternative von Anpassung oder Widerstand gestellt sieht sich die Familie Kocsis mit der Frage, wie sie sich als Schweizerinnen und Schweizer verhalten, deren Name „auf Doppelbürgerschaft, auf ein Leben zwischen zwei Kulturen“39 hindeutet, und die deshalb fremdenfeindlichen Angriffen ausgesetzt bleiben, bis hin zur Verschmierung der Restaurant-Toiletten mit Kot. Die im Grunde tragische Ironie der Eltern besteht darin, dass gerade die von ihnen proklamierte Anpassung sie daran hindert, ganz Schweizerin und Schweizer zu werden, weil sie auf die Rechte verzichten, die damit einhergehen, zunächst auf jenes zu klagen und, wie ihre Tochter sagt, „eine Anzeige [zu] erstatten, gegen unbekannt“ (292), dann auch auf jenes, zur Besonderheit ihrer Geschichte zu stehen. Der Vater wagt „keine Flüche, keine Verwünschungen, keine Fragen, wahrscheinlich auch keine Erinnerungen an früher“ (293) zu äußern und bleibt so trotz oder gerade aufgrund der von der Mutter proklamierten Anpassung nur ein halber Schweizer. Mit dieser Halbheit will die Tochter Schluss machen, Anzeige erstatten und „verschwinden aus dieser Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln“ (293): […] nein, ich, die sich nicht setzt, will keine Wildkarte schreiben – Ildi, die so schön und korrekt schreibt -, will verschwinden aus diesem halbierten Leben, diesem Alltag, in dem der Dienstleistungsbetrieb zum Schicksal wird, ‚mundtot‘ geht mir durch den Kopf, ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es einmal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch“ (294).
Das Gegenteil von mundtot bleiben besteht darin, sich zu Wort zu melden, sowohl im Erlangen und Verteidigen von politischen Rechten wie auch im Sprechen darüber, wie es dazu gekommen ist, im Erzählen. Ganze Schweizerin sein heisst für Ildikó, voll zu ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft zu stehen, politischen Widerstand zu leisten gegen Festlegungen, die von außen über sie verhängt werden – ob in freundlicher oder feindlicher Absicht –, und das heisst auch zu „erzählen, was es damit auf sich hat.“40 Die Eltern wollen ihre kulturelle Doppelbürgerschaft verbergen und totschweigen und berufen sich darauf, bloße „Individuen“ zu sein, wie die Mutter sagt: […] wisst ihr was, wir müssen den Leuten zeigen, wir sind Individuen, und irgendwann werden sie uns nicht mehr bemerken, dann sind wir Luft für sie, das ist am besten, und wenn euch irgendjemand nach eurer Meinung fragt, wir haben keine Meinung. (151)
Dieser Versuch, sich als unsichtbare „Individuen“ vor jeder Zuschreibung zu schützen, scheitert auf zweifache Weise: nicht nur mit den Kotschmiererei39 Pulver: Von einem nächtlichen Fassadenkletterer, S. 280. 40 Mustedanagic: Heimat.
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en, sondern auch insofern, als die Eltern gar keine Individuen im Wortsinn sind, ‚unteilbar‘, denn sie bleiben in doppelter Hinsicht halbiert, halb in der verschwiegenen Herkunft und halb in den Schweizer Bürgerrechten. Ildikó beansprucht beides voll, und das ist nur im Widerstand, also politisch, möglich. Dazu muss sie sich auch persönlich aus vorgegeben Zwängen befreien. Sie zieht von Zuhause aus, nicht um mit ihren Eltern zu brechen, sondern um ein Individuum im starken Sinn zu werden, während ihre Eltern aufgrund ihrer nach außen verschwiegenen Bindung an die Gepflogenheiten ihres Herkunftslandes „eine tiefe Scham“ über diesen Auszug der Tochter empfinden: „[…] was würden unsere Verwandten dazu sagen?, in ihren Augen konnte ich lesen, dass mein persönlicher Aufbruch für sie die Abkehr von der Familie bedeutete“ (309). Das sitzt so tief, dass Ildikó nicht mit ihnen darüber sprechen kann, „weil ich einsah, dass es keine lindernden Worte geben würde, das Wesentliche blieb unübersetzbar.“ (310) Ansatzweise übersetzen lässt sich das Wesentliche nur im weit ausgreifenden Erzählen Ildikós. Sie bewährt sich als Individuum, das „Identität und Verschiedenheit miteinander verknüpft“41 nicht nur dadurch, dass sie ihre kulturelle Doppelbürgerschaft im politischen Widerstand und persönlichen Aufbruch bekräftigt, sondern auch, so dass sie im Erzählen verschiedene Stimmen und Sichtweisen aufgreift und sie für uns Lesende dadurch verständlich macht, dass sie die Bedingungen und Motive aufzeigt, die diese und ihre Gegensätzlichkeit hervorbringen. In ihrem Erzählen erweist sich ihr persönlicher Aufbruch nicht einfach als „Abkehr von der Familie“ (309), wie die Eltern meinen, und auch nicht als Bruch mit der Vergangenheit, wie Stiller sie als White – vergeblich – versucht. Ildikós Aufbruch ist kein Bruch, sie wendet sich erzählend vielmehr beidem zu, der Vergangenheit sowohl im Herkunfts- wie im Ankunftsland, was nur in vielen Teilgeschichten, in Digressionen, Rückblenden, Zeitsprüngen, Vorausdeutungen möglich ist und erst zum Schluss ein Selbst, ein ipse, der narrativen Identität hervorbringt, wie es Ricoeur vorschwebt: „Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall, wie Proust es sich wünschte, als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens“, dabei „wird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten“, aber so, „dass das Selbst der Selbsterkenntnis nicht das egoistische und narzisstische Ich ist“, sondern „seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat.“42 Diese Refiguration hat „aufgrund des untrennbar mit der Narration verbundenen
41 Pabis: Die Schweiz als Erzählung, S. 17. 42 Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 396.
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Anspruchs auf ethische Richtigkeit43 neben der kulturellen auch eine politische Dimension. 5.
Befremdlich und amüsant wirkendes Kaleidoskop
Dana Grigorceas Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit (201544 ) enthält wie Tauben fliegen auf ein „Gewebe erzählter Geschichten“45 , die Refiguration im Sinne Ricoeurs gilt aber nicht hauptsächlich der Entfaltung einer Person wie bei Nadj Abonji jener der Ich-Erzählerin Ildikó, sie betrifft ein ganzes Land, Rumänien, das Herkunftsland der Ich-Erzählerin Victoria. Sie hat als Kind und Jugendliche die Diktatur Ceausescus erlebt und ist nach der Wende in den Westen gezogen, nach Zürich, kehrt aber jetzt nach Bukarest zurück und will dort als Bankangestellte wieder heimisch werden. Dabei hat sie von ihren in Nizza lebenden Eltern auch den Auftrag erhalten, „das Administrative für die meiner Familie zurückerstatteten Häuser, Wälder und Weinberge zu regeln – die vier Grüfte auf dem Bellu-Friedhof nicht zu vergessen“(19). Im Zentrum des Romans steht jedoch eine „Zurückerstattung“, die sich nicht im „Administrativen“ regeln lässt: jene der völlig zerrissenen Geschichte Rumäniens. Sie hat in der Hauptstadt Bukarest zwar wie im Unterbewusstsein eines Individuums viele Spuren hinterlassen, lässt sich aber weder im Bewusstsein Victorias noch in jenem der Menschen, die sie trifft, zu einem kohärenten Ganzen fügen. Die Erzählung Victorias zerfällt deshalb in eine Vielzahl von Teilgeschichten, anekdotische Begebenheiten stehen neben historischen Ereignissen, persönliche Schicksale neben politischen Vorgängen, ohne dass sich auf der Ebene des Erzählens eine fassbare Einheit ergäbe. Diese kann sich im Wechselspiel zwischen dem Roman und seinen Lesenden einstellen, so wie in der Psychotherapie im Austausch zwischen Analysanden und Analytiker sich eine narrative Identität des Ersteren ergeben kann, obwohl bzw. gerade weil er seine Erinnerungen auf ungeordnete und zusammenhangslose Weise erzählt. Den Vergleich mit der psychoanalytischen Therapie legt der Roman selbst nahe. Victoria hat als Bankangestellte nämlich einen – eher burlesken – Banküberfall erlebt und wird aufgrund des ihr „zugeschriebenen Schockzustandes“ (19) beurlaubt, um sich einer Therapie unterziehen, die ihr erlauben soll, sich von einem Trauma zu erholen, an dessen tatsächlicher Existenz ihr Verhalten eher zweifeln lässt. Viel schwerer als dieses „zugeschriebene“ (19) Trauma 43 Vgl. Ebd., S. 400. 44 Im Folgenden wird mit Seitenzahlen in Klammern auf die Taschenbuchausgabe von 2017 verwiesen. 45 Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 396.
Doppelbürgerschaft
wiegen im Lauf des Romans die Traumata der Geschichte Rumäniens. Sie haben in der Topografie Bukarests ebenso ihre Spuren hinterlassen wie in den Menschen, die Victoria trifft oder an die sie sich erinnert. In „distributive[r] Aufmerksamkeit“ (52) schweift sie von einer Geschichte zu anderen, und das ergibt eine Fülle von Erzählungen und Anekdoten über Personen und Orte aus verschiedenen Zeiten, der Königsdiktatur Carols II., der faschistische Diktatur Antonescus und der kommunistischen Diktatur Ceausescus ebenso wie der Nachwendezeit. In immer neuen Digressionen entsteht ein befremdlich und amüsant wirkendes Kaleidoskop der in mancher Hinsicht gegensätzlichen und einander doch wieder sehr ähnlichen Zeiten. Victoria geht davon aus, „dass die Zeit, in der ich lebe und gelebt habe, nur ein Abklatsch jener Zeiten [ist], die ich mir am besten vorstellen kann.“ (76) Um so grösser ist ihr Interesse an dem, was andere Menschen ihr erzählen. Das ist aber nur möglich, wenn diese bereit sind, sich auf das einzulassen, was beim Erzählen auf unerwartete Weise zum Vorschein kommen kann. Wo diese Bereitschaft fehlt, weil Schuld- oder Schamgefühle über Begangenes oder Erlittenes vorherrschen, wird auch das Erzählen abgeblockt. Ironischerweise stellt sich ein solches Abblocken gerade in der Psychotherapie Victorias bei Madame Miclescu ein, wenn Victoria ein Stichwort äußert, das an die Ceausescu-Diktatur erinnert: „Frau Miclescu winkt ab, als hätte dieses Früher nichts mit ihr zu tun, als wäre sie gerade in aller Frische von woanders gekommen, über jegliche Unpässlichkeit der Geschichte erhaben.“ (87) Das ist eines der „Zeichen dafür, dass Gespräche, in denen auch nur anekdotisch eine gewisse Vergangenheit gestreift wird, für sie das Comme-il-faut verletzen.“ (161) Dass ausgerechnet die Analytikerin mit Berufung auf das „Comme-il-faut“ ein Trauma der Vergangenheit verdrängen will und es so weiterwirken lässt, ist nicht nur eine der vielen halb komisch, halb tragisch wirkenden Ironien des Romans, es verweist auch darauf, dass „die sogenannte ‚geschichtslose Zeit‘“ (199) der Ceausescu-Diktatur auch eine Zeit der Lügen war. Victoria hat das zum Beispiel als Kind erlebt, als sie eines Nachmittags mit ihren Eltern auf einem Spaziergang war, „niemanden um uns sah“ und sie bat, ihr „die Wahrheit zu sagen“: ‚Welche Wahrheit?‘ ‚Ihr mögt den doch gar nicht.‘ Und meine Mutter hat mich entsetzt angeschaut: ‚Meinst du unseren obersten Genossen?‘ Und dann hat sie mich geohrfeigt: ‚Wie kannst du so was Idiotisches sagen‘, und ist heulend nach Hause gelaufen. (223)
Das Verhalten von Madame Miclescu zeigt, dass solche Tabusierungen und die ihnen zugrunde liegenden Ängste auch nach der Wende fortbestehen und sich in Scham- und Schuldgefühlen melden. Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit hat Victoria zwar verloren. Aber aufgrund ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft
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hat sie ein gelösteres Verhältnis zu den Geschichten ihres Herkunftslandes als die Menschen, die sie erlebt haben, weil sie während der Ceausescu-Diktatur und der Wende im Land geblieben sind. Nur ein „sogenanntes Nachwendekind, das keine Schuld auf sich geladen hat“ (213) sieht sich in Victorias Augen wieder frei von Schuld, aber nicht in einem primären Gefühl kindlicher Naivität, sondern so, „dass es dieses arrogante Gefühl der Schuldlosigkeit vor sich herträgt.“ (213) Das ist bei Victoria als Angehöriger der „Wende-Generation“ nicht der Fall. Für sie gilt eher, was ein Historiker allgemein festgehalten hat, dass nämlich ein Mensch nicht für das, was er getan hat, Anerkennung findet in der Gesellschaft, sondern für das, was erzählt wir über das von ihm Getane oder zumindest über das vermeintlich von ihm Getane, ‚ein Mensch wird also erst dann anerkannt, wenn er anfängt, mit seiner Karikatur zu leben‘. (55)
Nach Madame Miclescu hat die „Wende-Generation“ Victorias diesen Gedanken noch weitergeführt: Wenn es einem gelingt, durch Erscheinung und Art des Umgangs die Vermutung zuzulassen, hinter ebendieser Erscheinung und Art des Umgangs stünde erheblich mehr, dann bleibt jede weitere Unternehmung sekundär und ein privates Spiel – umso nobler, als dass es jeglicher Notwendigkeit entbehrt. (55‒56)
An die Stelle der Verdrängungen im Lügen und Tabuisieren der Vor-WendeGenerationen ist in der Wende-Generation Victorias also die Lust zur Exhibition im Erzählen getreten, das Einverständnis, „mit seiner Karikatur zu leben“, um Anerkennung zu finden, und damit einhergehend die Bereitschaft, jede Unternehmung als „sekundär und ein privates Spiel“ zu betrachten, das „jeglicher Notwendigkeit entbehrt“. Tatsächlich bewahren die vielen Geschichten, die Victoria aus zweiter oder dritter Hand erzählt, und die Abschweifungen, zu denen sie dabei bereit ist, durchweg etwas Spielerisches, Witziges und Humoriges und nähern sich oft der Karikatur, gerade auch jener der Erzählerin selbst. So macht sie sich auch über ihr eigenes Erzählen lustig und weckt Zweifel an dessen Zuverlässigkeit: „Ich kann nicht dafür verbürgen, dass dies die wahrheitsgetreue Geschichte ist, aber nicht, weil ich sie vergessen hätte sondern weil ich sie nicht richtig gelesen habe.“ (248) So offenbart sie nicht nur, dass sie ihre Geschichten aus zweiter Hand hat, sie gibt auch zu, dass sie sie wahrscheinlich nicht richtig rezipiert hat und damit auch nicht wahrheitsgetreu wiedergibt. Indem sie ihren eigenen Umgang mit ihren Geschichten zum Thema macht und sich als unzuverlässige Erzählerin offenbart, relativiert sie die Möglichkeit, einer in
Doppelbürgerschaft
viele Teilgeschichten zerfallenen Wirklichkeit gerecht zu werden, noch mehr als durch die Häufung und Uneinheitlichkeit ihrer Erzählungen. All dies verleiht diesen gesamthaft eine Leichtigkeit, die im Kontrast steht zu den oft verhängnisvollen und schmerzhaften Vorgängen, von denen sie handeln. Mit dieser Leichtigkeit geht der Verzicht auf moralische Beurteilung und Einteilung in Gut und Schlecht oder gar Böse einher. So bekommen auch Personen, die die Ceausescu-Diktatur bis in die obersten Ränge vertreten haben – selbst Ceausescu und seine Frau – menschliche Züge, weit entfernt von jeder Dämonisierung. Das ist Victoria auch deshalb möglich, weil sie als Ausgewanderte die Geschehnisse zur Zeit der Diktatur und der Wende aus Distanz wiedergeben und beurteilen kann. Sie ist als kulturelle Doppelbürgerin ähnlich wie Ildikó in Tauben fliegen auf in ihrem Erzählen eine zugleich beteiligte und unbeteiligte Beobachterin der Dinge, Personen und Geschehnisse. Nur dass sie in beidem, dem Beteiligt- und Unbeteiligtsein weniger emphatisch ist als Ildikó, beteiligt in ihrer unbezwingbaren Neugier und in ihrem Hunger auf Geschichten, unbeteiligt in ihrer (Selbst-)Ironie und Verspieltheit. Wie sehr ihre humorvolle Nähe und zugleich Distanz zu dem, was sie erzählt, mit ihrer doppelten Zugehörigkeit sowohl zur Schweiz wie zu Rumänien verbunden ist, zeigt sich überall dort, wo sie sich an Zürich erinnert und Vergleiche zu Bukarest anstellt. Schon in diesen Vergleichen liegt eine gewisse Relativierung. Aber diese wird noch dadurch verstärkt, dass mit ihr immer auch eine gewisse Ironie einhergeht. So wenn sie die „Einheimische[n] in Zürich“ (44) und ihr trotziges Wegsehen vom Zürichsee vergleicht mit der ostentativen Abwendung ihres Blicks als Kind von den monumentalen Bauprojekten Ceausescus, dann in der Erinnerung an Ratespiele in der „Confiserie Sprüngli am Paradeplatz Zürich“ (88) und an die Benutzung eines „Bankschließfach[s] des Liebesgottes Cupido“ (89) durch einen Zürcher Kollegen und schließlich im Bild des Bodenschachspiels im „sogenannte[n] Lindenhof “ in Zürich, mit den Holzfiguren, die „verwittert, aufgequollen und da und dort gesprungen“ sind und an „ein uraltes, längst vergessenes Spiel“ (172) erinnern, wenn es eigentlich um ihr gutes Gedächtnis, ihr früheres Schachspiel und ihre Freundin Doina geht. Am weitesten aber geht die Ironisierung des Vergleichs zwischen Bukarest und Zürich dort, wo sie von den beiden Küken erzählt, die im Haushalt ihrer Eltern zu Hähnen auswuchsen und zur „Attraktion für alle Freunde“ (184) wurden: Dass ich in Zürich einem Kollektiv angehört habe, das von einer nahe gelegenen Hennenfarm acht Hühner erstanden und vorm Kochtopf gerettet hat – acht Hennen mit kleinem Mangel, zum Beispiel mit krummem Schnabel und geknicktem Kamm –, lasse ich unerwähnt, obwohl meine Geschichte auf dieses Ende hinerzählt ist. (184)
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Hier treibt Victoria als Ich-Erzählerin im Hinweis auf Zürich den ironischen Umgang sowohl mit dem Erzählten wie mit dem Erzählen auf einen Höhepunkt. Sie behauptet, sie lasse ihre Erfahrung mit Hühnern in Zürich „unerwähnt“, nachdem sie sie gerade erwähnt hat, und begründet dies damit, dass sie die Geschichte mit den Hühnern in Bukarest und in Zürich „auf dieses Ende hinerzählt“ habe, daraufhin also, ihre absolute Souveränität über Inhalt und Art des Erzählens zu bekräftigen und die Paradoxien zu betonen, die damit einhergehen. Diese Souveränität beruht darauf, dass sie sich in ihrer kulturellen Doppelbürgerschaft in beiden Städten, Bukarest und Zürich, zu Hause fühlt. Das geht so weit, dass diese Städte an bestimmten Orten in ihrer Wahrnehmung und Erinnerung miteinander verschmelzen: Er [ihr Zürcher Kollege Daniel, D. R.] wohnte neben dem Obergericht, vor dem es so viele Kastanienbäume gibt, dass ich mich in Cotroceni wähnte, auf der Heldenstraße. Denn das habe ich so an Zürich gemocht, dass ich die Orte erkannte, an denen ich noch nie zuvor gewesen war, es ist mein Bukarest gewesen, aber nicht das nämliche, in dem ich nur ein paar Straßen kannte, sondern jenes, das ich immer als ganz gewähnt hatte, mein Treppenhaus mit seiner angestauten Stille und der schweren Tür mit dem klebrigen Löwengriff, ein bestimmter Einfall des Mondlichts, das die Geometrie der Straße aufhebt, und ein kleiner Star, der mit seinem Pfeifen Gebell nachahmen will.“ (89‒90)
Das Bukarest, das Victoria „immer als ganz gewähnt hatte“ und das es nur in den Atmosphären gibt, an die sie sich auch in Zürich manchmal erinnert, steht im Gegensatz zu dem Bukarest der Wirklichkeit, das weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart ein Ganzes bildet und sich nur in einer Vielzahl von unzusammenhängenden Geschichten annäherungsweise fassen lässt. Die Atmosphäre, die Victoria in Bukarest und Zürich manchmal wiederfindet und die die beiden Städte in ihrem Empfinden ineinander verschmelzen lässt, ist nicht an Orte gebunden, sondern an Dinge: die Stille eines Treppenhauses, ein bestimmter Einfall des Mondlichts, das Pfeifen eines Vogels und anderes mehr. Diese Dinge wecken in ihr heimatliche Gefühle, ob sie sich nun in Zürich oder in Bukarest aufhalte. 6.
Der eigentliche Raum des Politischen
Auf ähnliche Weise hat Ildikó in Tauben fliegen auf zum Beispiel „die Nachtviolen und Aprikosenrosen, derbe Flüche, die unerbittliche Sommersonne“ und mehrmals die Pappeln als „Atmosphäre meiner Kindheit“ (19) bezeichnet. Während Ildikó als Jugendliche sich vor dem Hintergrund solcher Heimatgefühle ihre kulturelle Doppelbürgerschaft im Widerstand gegen Zuschreibungen
Doppelbürgerschaft
und Angriffe von außen aber noch erkämpfen muss, scheint die schon erwachsene Victoria über die dynamische Identität zu verfügen, „die Identität und Verschiedenheit miteinander verknüpft“46 und es ihr erlaubt, in Zürich mühelos Orte zu erkennen, „an denen ich noch nie zuvor gewesen war“ (89‒90), weil sie zu jenem Bukarest gehören, „das ich immer als ganz gewähnt hatte“ (90): als Heimat bildende Atmosphäre nämlich, unabhängig von den „paar Straßen und Quartiere[n[“ (90), die sie tatsächlich kannte. Politisch wird die kulturelle Doppelbürgerschaft für Victoria also im Unterschied zu Ildikó nicht dadurch, dass sie sie im Widerstand entwickelt und festigt, sondern so, dass ihr leichtfüßiges Erzählen in humoristischer Verbindung von Nähe und Distanz, von Beteiligt- und Unbeteiligtsein neue Gemeinsamkeiten herstellt wie zum Beispiel zwischen ihr und ihrem Freund Flavian: „[…] mit jeder Geschichte, die ich ihm erzähle, wird er mir vertrauter, wohl auch in der Annahme, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht und ihm meine Erzählungen uralte, wohl gemeinsame Erinnerungen wecken.“ (76) Das Erzählen beider, Ildikós wie Victorias, schafft also narrative Identität individueller und kollektiver Art „in ständiger Bildung und Auflösung […] aufgrund des untrennbar mit der Narration verbundenen Anspruchs auf ethische (bzw. politische, D. R.) Richtigkeit“47 , im einen Fall – jenem Ildikós – eher im politischen Widerstand gegen inakzeptable Stigmatisierungen, im anderen – jenem Victorias – eher in der politischen Utopie der Gemeinschaftsbildung durch den Austausch von Geschichten. Diese Utopie skizziert Dana Grigorcea im Mai 2017 im Rückblick auf den verloren gegangenen Brauch des jour fixe, den sie als Kind in Rumänien erlebte: Im Rumänien meiner Kindheit hatten viele Menschen, die ich kannte, einen jour fixe: Meine Großmutter traf ihre Freundinnen jeden Donnerstag zum Kartenspiel, meine Eltern ihre Kollegen von der Uni jeden Samstag zum quasi-heimlichen Videonachmittag, meine Nachbarin hatte einen Lesezirkel, Sonntagmittag aß man mit Freunden. Auf dem Land hatte jedes Haus eine Sitzbank vor dem Tor, auf der sich die Nachbarn bis tief in die Nacht unterhielten; im Winter musste man kaum noch den Schnee zwischen den Häusern wegschaufeln, weil die Nachbarn die Wege plattgestampft hielten. Jetzt kennen sich viele Nachbarn nicht mehr, weder in den Städten noch auf dem Land. Und ich kenne niemanden mehr in Rumänien, der einen jour fixe hätte.48
Im handelnden und erzählenden Austausch zwischen Menschen, entsteht nach Hanna Arendt „zusammen mit den Geschichten, die das Handeln erzeugt, 46 Pabis: Die Schweiz als Erzählung, S. 17. 47 Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 399‒400. 48 Grigorcea, Dana: Mein Europa: Ein Manifest der Sinnlichkeit, 12. Mai 2017, https://www.dw. com/de/mein-europa-ein-manifest-der-sinnlichkeit/a-38808457, letzter Zugriff: 4. Juli 2019.
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der eigentliche Raum des Politischen“49 . Tauben fliegen auf und Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit schaffen solche Räume des Politischen, indem ihre Ich-Erzählerinnen einem Erzählbedürfnis nachkommen, das sich um so stärker bemerkbar macht, als die Welt, in der sie leben, sowohl in diachroner wie in synchroner Hinsicht auseinander gefallen ist. Im fortgesetzten Erzählen suchen sie, mit Arendt gesagt, danach, „etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab“50 , eine Gemeinschaft der res publica, die „eher den Charakter einer Geschichte [hat], die solange weitergeht, als gehandelt wird, deren Ende und Endresultat aber keiner, auch nicht der, welcher die Geschichte anfing, voraussehen und konzipieren kann“51 , der also, nach Ricoeur, nur die Form der narrativen Identität gerecht zu werden vermag. Literaturverzeichnis Arendt, Hanna: Freiheit und Politik, Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994 [1959], S. 449‒461. Frisch, Max: Stiller, Frankfurt a. M. 1973 [1954]. Grigorcea, Dana: Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare, Zürich 2015 [2011]. Grigorcea, Dana: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit, Zürich 2015, Lizenzausgabe Berlin 2017. Grigorcea, Dana: Mein Europa: Ein Manifest der Sinnlichkeit, 12. Mai 2017, https://www.dw.com/de/mein-europa-ein-manifest-der-sinnlichkeit/a38808457, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. Grigorcea, Dana: Mein Europa: Was ist das, Heimat? 20. Oktober 2017. https://www.dw.com/de/mein-europa-was-ist-das-heimat/a-41047115, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. Girgorcea, Dana: Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen, Zürich 2018. Grigorcea, Dana: Bücher können viel verändern, 21. März 2018. https:// www.dw.com/de/dana-grigorcea-bücher-können-viel-verändern/a43059441, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. Jin, Ha: The Writer as Migrant, Chicago/London 2008. Jurczok 1001: Scheinbevölkerung [2017], https://masterplanet.ch/jurczok/texte/ scheinbevolkerung, letzter Zugriff: 4. Juli 2019. Kazmierczak, Madlen: Nation als Identitätskarte? Zur literarischen Auseinandersetzung mit ‚Nation‘ und ‚Geschichte‘ bei Marica Bodrožić und Melinda 49 Arendt: Freiheit und Politik, S. 460. 50 Ebd., S. 454. 51 Ebd., S. 459.
Doppelbürgerschaft
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Jürgen Barkhoff (Trinity College Dublin, University of Dublin)
Inlandskorrespondent und Alpenschrat Thomas Hürlimann und die res publica der Schweiz
Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann ist für das Verhältnis der Literatur zur res publica aus mindestens drei Gründen relevant. Erstens gehört er seit seinen schriftstellerischen Anfängen im Jahre 1981 bis heute zu denjenigen Schweizer Autoren, die sich zu politischen Fragen äussern und in Debatten zum Zustand der Schweizer Demokratie einmischen und in dieser Rolle auch von den Medien nachgefragt werden. Der 1950 geborene Thomas Hürlimann ist generationell den 68ern zuzurechnen, für die die Nähe von politischem und literarischen Diskurs besonders charakeristisch ist. Hürlimann teilt viele ihrer Erfahrungen und Merkmale und identifizierte sich zunächst mit dieser Generation, und zwar in einer besonders interessanten helvetisch-bürgerlich-katholisch geprägten Variante. In den letzten zwei Jahrzehnten äusserte er sich dann zunehmend skeptisch gegenüber dem Traditionsabbruch im Gefolge der 68er Bewegung und fragte besorgt nach den damit einhergehenden gesellschaftlichen Verlusten. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven nahm und nimmt er zu vielen Fragen Stellung: etwa zur Rolle bürgerlicher Werte in der Politik, zu Fragen der republikanischen Partizipation innerhalb der direkten Demokratie, zur Bedeutung von kollektivem Gedächtnis und Identitätsnarrativen für das Schweizer Gemeinschaftsmodell, zu den Herausforderungen durch Globalisierung und Migration und zum Verhältnis des Nationalstaats Schweiz zu internationalen Institutionen, insbesondere der EU. In der Laudatio bei der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-AdenauerStiftung 1997, die für Thomas Hürlimanns Karriere ein wichtiger Meilenstein war, griff August Everdink in diesem Sinne eine hintersinnige Selbstcharakterisierung des Autors auf und bezeichnete ihn als „Inlandskorrespondent“1 ; eine Kennzeichnung, die im Horizont dieses Beitrags und dieses Bandes durchaus politisch zu verstehen ist. 1 Everdink, August: Schwere mit Schwung: Die Abgründe der Details. Laudatio auf Thomas Hürlimann, in: Vogel, Bernhard (Hg.): Der Freiheit das Wort. Literaturpreis der KonradAdenauer-Stiftung 1993–2002, St. Augustin 2002, S. 81–93, hier S. 83. Wie Hürlimann in einem Interview 1981 erzählt, stammt die Charakterisierung ursprünglich von seinem verehrten Berliner Philosophiedozenten Jürgen Rollwage. Vgl. Ubenauf, Georg: ‚In der Fremde bin ich daheim.‘ In Berlin schrieb Bundesratssohn Thomas Hürlimann das Stück Grossvater und Halbbruder, in: Die Woche, 16. Juni 1981, S. 39–41.
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Zweitens sind politische Themen und mit ihnen verbundene Motive und Gedankenfiguren bei Hürlimann quer durch alle Textgattungen und Äußerungsformen präsent und verbinden seine Dramen, seine Prosa, Essays, Reden, Zeitungsartikel und Gespräche in einem dichten intertextuellen Geflecht, wobei in verschiedenen Textsorten deutlich unterschiedliche Schreibstrategien und Wirkungsmechanismen zur Anwendung kommen. Dabei fällt, kurz gesagt, seiner Literatur die reflektierte und differenzierte Arbeit am kulturellen Gedächtnis zu, während er in Interviews auch schon mal gern den provokanten Polterer gibt, der sich auch kontrovers zur Tagespolitik äußert. Seine Essays stellen dazwischen eine besonders ergiebige und noch nicht untersuchte Mischform dar. Diese genrespezifischen Differenzierungsstrategien sind über den Einzelfall hinaus aus gattungstheoretischer Perspektive interessant. Drittens lässt sich bei Hürlimann im Laufe der Jahre eine Verschiebung seiner politischen Positionen und wie sie artikuliert werden beobachten. In seinen Anfängen war Hürlimann ein entschiedener Kritiker der Hohlheit und Überlebtheit bürgerlicher Werte, der mit „knapp zwanzig […] die Gebäude, die ich bewohnte, verlassen oder einreißen“ wollte und dies noch 1994 in einem Streitgespräch zu Literatur und Poltik „für etwas Wichtiges, Schönes“2 hielt. Wie Walther Matthias Diggelmann, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Peter Bichsel, Otto F. Walter und viele andere Vertreter des von Peter von Matt treffend so charakterisierten „kritischen Patriotismus“3 , arbeitete er intensiv daran, die aus der Zeit der geistigen Landesverteidigung in den Kalten Krieg geretteten beschönigenden Bilder einer idyllischen, neutralen, moralisch unkomprommitierten Schweiz in Frage zu stellen und durch ehrlichere und selbstkritischere Geschichtsnarrative zu ersetzen. Indem sie über das sprachen, worüber die Politiker gerne schweigen wollten, schrieben die Autoren des kritischen Patriotismus das kulturelle Gedächtnis der Schweiz um. Thomas Hürlimann hat zwischen 1981 und 2006 Wichtiges zu diesem kritischen Gegendiskurs beigetragen, wie die Dramen Großvater und Halbbruder (1981), Der Gesandte (1991) und Das Lied der Heimat (1998), seine Novelle Fräulein Stark (2001) und seinen Roman Vierzig Rosen (2006) sowie eine Reihe von Essays. Als er Anfang der 80er Jahre als Schriftsteller hervortrat, auch das hat Peter von Matt analysiert, hatte sich dieser kritische Gestus unter den linken und liberalen Intellektuellen bereits durchgesetzt, vermochte in den (kultur-)politischen Debatten der Schweiz aber durchaus zu provozieren und spielte eine entscheidende Rolle 2 Hürlimann, Thomas, Muschg, Adolf, Weber, Peter: Der Glaube an die ‚Steuerbarkeit der Realität‘ ist verlorengegangen: Streitgespräch über Literatur und Politik mit Adolf Muschg, Thomas Hürlimann und Peter Weber, in: Tages-Anzeiger, 18. Februar 1994, S. 2. 3 Von Matt, Peter: Kritischer Patriotismus: Die Auseinandersetzung der Schweizer Schriftsteller mit der guten und mit der bösen Schweiz, in: Ders.: Der Zwiespalt der Wortmächtigen: Essays zur Literatur, Zürich 1991, S. 13–30.
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bei der Öffnung und Pluralisierung gesellschaftlicher Diskurse.4 Gleichzeitig artikuliert Hürlimann seit den 80er Jahren, also von Anfang an und in den letzten Jahrzehnten zunehmend, eine stark philosophisch grundierte und eher konservative Zivilisations- und Zeitkritik, die mit dem Bedauern des Verlusts des Transzendenzbezugs und eines selbstbewussten christlich-abendländischen Wertesystems, der Kritik an einem weichen, standpunktlosen Toleranzbegriff, einer tiefen Skepsis gegenüber einer zunehmend intoleranten und dialogunwilligen Political Correctness und entschiedener EU-Gegnerschaft Positionen besetzt, die immer wieder den Widerspruch des linksliberalen mainstream provozieren und ihm gelegentlich den Beifall von Seiten der rechtspopulistischen und euroskeptischen Schweizer Volkspartei eintragen. Diese Entwicklung zum, wie er selber sagt, „Wehmuts-Konservativen“5 , die sich ähnlich auch bei Autoren wie dem von ihm geschätzten Martin Walser oder Botho Strauß, mit dem er befreundet ist und regelmäßig in der Uckermark spazieren geht, beobachten lässt, gilt es mit Blick auf das Gesamtwerk in Kontinuität und Veränderung darzustellen und einzuschätzen. In jedem Fall greift es zu kurz, das sei schon vorweggenommen, hier einen gradlinigen Weg von links nach rechts ausmachen zu wollen, wie gelegentlich zu lesen ist, denn Hürlimanns Positionen weisen erstens große Kontinuität auf und sind zweitens zu differenziert, als dass er sich je von einem politischen Lager hätte vereinnahmen lassen können. 1.
Zum Generationenzusammenhang: Hürlimann als 68er
Thomas Hürlimann, 1950 in Zug in der Innerschweiz geboren, entstammt dem konservativ-christlichen Bürgertum, das ihn nachhaltig geprägt und mit dem er sich zeitlebens intensiv auseinandergesetzt hat. Sein Vater war in den 70er und 80er Jahren einer der bekanntesten und einflussreichsten Politiker der Schweiz, der als Jurist, Militär und Mitglied der CVP, der Christlichdemokratischen Volkspartei, Karriere gemacht hat; erst in der Zuger Kantonsregierung, dann als Nationalrat im Schweizer Parlament und schließlich von 1973 bis 1982 in der Regierung als einer der sieben Bundesräte, und zwar als hochgeachteter und beliebter Innenminister. Im Jahre 1979 war Hans Hürlimann gemäß den Gepflogenheiten des Schweizer Kollegialsystems für ein Jahr als Bundespräsident auch Staatsoberhaupt, was der Sohn in seinem Romanerstling Der große Kater 1998 verarbeitete. Thomas Hürlimann entstammt also einem konservativen, ebenso politiknahen wie diskutierfreudigen Milieu, in dem „die Freiheit des 4 Vgl. Ebd. 5 Sprecher, Margrit: Heimkehr: Was für ein Trip, was für ein Flug!, in: Zeit Schweiz, 22. November 2018.
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Wortes galt“6 und geschätzt wurde, und wuchs im Schatten eines starken, prinzipientreuen Vaters auf, dessen Autorität durch seine prominente öffentliche Rolle enorm verstärkt wurde. Die zweite Prägekraft seiner Kindheit und Jugend ist der Katholizismus. Hürlimann besuchte wie sein Vater acht Jahre lang das der berühmten Benediktinerabtei Einsiedeln angeschlossene Klosterinternat und war dort viele Jahre Messdiener. Gegen dessen Strenge, Konformität und ritualisierte tägliche Frömmigkeitspraxis begehrte der 15 Jährige auf, unter anderem, indem er einen Club der Atheisten gründete. 1968 machte Thomas Hürlimann die Matur, und in diesen Jahren probten er und seine Mitschüler im Geist und Gestus der 68er die Rebellion. Mit Rektoratsbesetzungen und dem Verbrennen ihrer Kutten imitierten sie die radikalen Protestformen der Studentenbewegung, diskutierten mit den Patres, die ihre Lehrer und Erzieher waren und stellten Forderungskataloge auf, die ein wenig mehr Freiheit innerhalb des streng geregelten und kontrollierten Alltags zulassen sollten: mehr Ausgang, Coca Cola, Zivilkleidung, die Erlaubnis, Bob Dylan und die Beatles hören zu dürfen. Zugeständnisse wurden gemacht; der tägliche Besuch der Messe war damals allerdings nicht verhandelbar.7 Hürlimann stellt den eigenen Aufbruch in die Unabhängigkeit ganz explizit in den Generationszusammenhang der 68er: „Wir hatten den 68er Wind im Rücken. Das brach ja von Berkeley bis Einsiedeln im gleichen Moment aus.“8 Konstitutiv für sein Lebensgefühl und das seiner Generation ist für Hürlimann, dass er am eigenen Leib einen Epochenbruch erlebt hat. „Ich gehöre einer Generation an, die noch eine beschreibbare Herkunft hat.“9 „In der Klosterschule habe ich zum ersten Mal erlebt – was sich dann später wiederholt hat –, wie eine Epoche zu Ende geht.“10 Hürlimann betont, dass die von festen Werten, klaren Überzeugungen, gelebten Traditionen und einer strikten Ordnung geprägte bürgerlich-konservative Welt seines Herkommens ihm die Möglichkeit bot, dagegen zu rebellieren, gegen seinen Vater und dessen Welt zu kämpfen und sich dadurch in mühsam erkämpfter Abgrenzung selbst zu definieren; ein Widerstand, der ihm heute für die junge Generation fehlt. 1971 begann Hürlimann 6 Hürlimann, Thomas: ,Komm, mein Sohn, dein Alter zeigt dir, wie man in die Biere fällt‘: Schriftsteller Thomas Hürlimann über sein Leben als Sohn und imaginärer Vater, seinen neuen Roman Vierzig Rosen und Schwachsinniges von Angela Merkel, in: Sonntagsgespräch. Sonntagszeitung, 13. August 2006, S. 21–23, hier S. 21. 7 Siehe von Matt, Beatrice: Wir brauchen eine Vergangenheit, an die wir glauben können: Gespräche mit Thomas Hürlimann, in: Neue Zürcher Zeitung, 26./27. Oktober 1991. 8 Hürlimann, Thomas: ‚In der Asche ist noch Glut‘: Interview mit Peter Keller, in: Weltwoche, 25. Juli 2012. 9 Hürlimann, Thomas: ,Komm, mein Sohn…, S. 22. 10 Hürlimann, Thomas: Die EU wird sich von selbst erledigen: Interview mit Felix E. Müller, in: Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 22. April 2017.
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ein Philosophiestudium in Zürich, das er 1974 an der FU fortsetzte. In Berlin lebte er in Kreuzberg im linken Milieu, wo er sich die Mietskaserne mit Kriegerwitwen, türkischen Familien und Kommilitonen aus der Studentenbewegung und der RAF Sympathisantenszene teilte, bevor er 1978 sein Studium und seine Doktorarbeit über Kant abbrach und als Dramaturg ans Schiller-Theater ging. Viel mehr 68 geht kaum, könnte man meinen, mit dem generationstypischen Vaterkonflikt im Zentrum: Peter Keller: Der Vater Jurist, Offizier, Bundesrat. Der Sohn ein zum Theater entlaufener Philosophiestudent. Auf den ersten Blick würde man von einem klassischen Bruch mit der Familie sprechen. Hürlimann: Das war es auch. Es hat kräftig gekracht. Ich bin nie, wie es heute geschieht, in eine Watte des Verständnisses hineingelaufen, sondern gegen Mauern angerannt. Das hat mir aber auch die Möglichkeit geboten, ein eigenes Weltbild zu entwickeln. Erstaunlicherweise hat sich jeder dem anderen im Verlaufe der Jahrzehnte angenähert. […] Die grössten Konflikte fochten wir über den Glauben und das Militär aus. Für ihn war es nahezu eine Lebenskatastrophe, dass ich nicht Offizier werden wollte.11
Es ist klar, dass Hürlimann sich im Sinne dessen, was die Generationenforscherin Ulrike Jureit „generationelle Selbstbeschreibung“12 nennt, der 68er Generation zurechnet, auch wenn er heute den Auswirkungen des von seiner Generation geführten Kulturkampfs ambivalent und eher kritisch gegenübersteht. Der Generationbegriff erlaubt als „erfahrungsgeschichtliche Kategorie“13 einerseits, die individuelle Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns mit der eines Generationenkollektivs zusammenzuschließen und so Gemeinschaft herzustellen.14 Zum anderen eignet er sich, historischen Wandel zu deuten und einzuordnen und die eigene Position innerhalb der generationellen Abfolge der eigenen Familie in Abgrenzung insbesondere zur Elterngeneration zu bestimmen.
11 Ebd. 12 Jureit, Ulrike: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. Februar 2010, S. 1–12, hier S. 2, http://docupedia.de/zg/Generation, letzter Zugriff: 28. Juli 2019. 13 Ebd., S. 1. 14 Zum Konzept der Generation siehe auch Ohad, Parnes, Vedder, Ulrike, Willer, Stefan: Das Konzept der Generation: Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2008 und Kraft, Andreas (Hg.): Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität, Konstanz 2009; zur 68er Bewegung Glicher-Holtey, Ingrid: Die 68er Bewegung: Deutschland, Westeuropa, USA, München 2005; Klimke, Martin (Hg.): 1968 – Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007; Schaufelbuehl, Janick Marina: 1968–1978: ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz./1968–1978: une decénnie mouvementée en Suisse, Zürich 2009.
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Gerade dieser zweite Aspekt ist wichtig und typisch für die 68er und äußert sich vielfach in literarisch ausgetragenen Vaterkonflikten. In der Tat ist die Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Vaterfigur eine Art basso continuo des Hürlimannschen oeuvres. Das beginnt schon mit seinem Erstlingsdrama Großvater und Halbbruder (1981), das sich kritisch mit Schweizer Nazi-Sympathien, Antisemitismus und Opportunismus während des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt, und in dem „Mein Vater Hans Hürlimann“ als junger, nassforscher Leutnant selbst auftritt und um „Meine Mutter Theres Ott“15 wirbt. Das setzt sich fort im stark autobiographisch grundierten Romanerstling Der große Kater (1998), der den von seinen eigenen Machtphantasien berauschten Bundespräsidenten des Jahres 1979 im Berner Politikbetrieb zum Gegenstand hat, und dem ebenfalls autobiographisch geprägten Roman Vierzig Rosen (2006) über das von Anpassung und Verzicht auf Selbstverwirklichung als Frau geprägte Leben seiner Mutter als brave Politikergattin, die die Karriere ihres Mannes mit ihrem Esprit, Charme und Stil erst ermöglicht.16 Eine letztlich scheiternde oder zumindest in ihren Ergebnissen höchst ambivalente Odyssee zurück zum dominanten Vater steht auch im Zentrum des September 2018 erschienenen 520seitigen Romans Heimkehr über den von einer Nahtoderfahrung desorientierten und getriebenen Helden Heinrich Übel, der mit seinem Autor nicht nur eine solche Grenzsituation, sondern auch den Geburtstag teilt. Wohl verstanden: Es geht in diesen und anderen künstlerisch vertrackten und hochartifiziellen Texten immer um sehr viel mehr als die Vaterbeziehung und in Heimkehr spielt die Politik praktisch keine Rolle, aber sie sind dennoch als eine spezifisch helvetische Variante der generationstypischen Väterliteratur zu verstehen, in denen ein Vertreter der 68er Generation sich offensiv gegen die Vätergeneration positioniert und sich von ihr absetzt, sie im literarischen Tabubruch entlarvt und der öffentlichen Kritik anheimstellt. Wenn Hürlimann in seinem ersten Theaterstück den zur Zeit der Erstaufführung amtierenden und im Premierenpublikum sitzenden Bundesrat Hans Hürlimann als jungen Schweizer Soldaten im Aktivdienst gegen das Dritte Reich auftreten und forsche Sprüche klopfen lässt, die den eigenen antijüdischen Vorurteilsstrukturen gegenüber recht unbekümmert sind und der geschmeidigen Anpassung an den übermächtigen deutschen Gegner das Wort reden, dann stellt der Sohn und Theatermann dem Politikervater die helvetische und damit vergleichsweise harmlose Variante der Urfrage der 68er an die Kriegsgeneration: ‚Was hast du 15 Hürlimann, Thomas: Großvater und Halbbruder, in: Ders.: Das Lied der Heimat. Alle Stücke, Frankfurt a. M. 1998, S. 7–63, hier S. 8. 16 Siehe hierzu Barkhoff, Jürgen: Die Katzen und die Schweiz: Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Thomas Hürlimanns Familientrilogie, in: Sandberg, Beatrice (Hg.): Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2010, S. 181–195.
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eigentlich im Zweiten Weltkrieg gemacht?‘ Er tut dies auf großer Bühne und mit maximalem Effekt. Die Konsequenz, mit der Hürlimann insgesamt biographische Personen, Episoden, Motive und Problematiken seiner prominenten Politikerfamilie ins Zentrum seines Schreibens stellt, kann man im Kontext dieses Bandes zugespitzt auch so deuten, dass er sich auf besonders konsequente und radikale Weise einem Leitsatz der 68er verschrieben hat: ,Das Private ist das Politische‘. Im Kern war damit ja gemeint, die vorpolitischen Sozialisations- und Mentalitätsprägungen aus Alltag, Familie und Milieu in ihrer grundlegenden Bedeutung für gesellschaftliche Orientierungen, politische Überzeugungen und Handlungsmotivationen ernstzunehmen, zu analysieren und zu beeinflussen. Thematisch sind Hürlimanns Dramen, Romane und Kurzgeschichten, die sich mit der Verfasstheit der Schweiz als Gesellschaft und politischem System, ihren historisch-politischen Mythen und ihrer Erinnerungskultur befassen, genau in diesem Bereich angesiedelt, in dem jene privaten Prägungen, Haltungen, Werte, Codices, Rituale und Verhaltensweisen dargestellt und untersucht werden, die gesellschaftliche Positionierung und politisches Handeln determinieren. Ein typischer 68er also? Nicht ganz. Hürlimann setzt von Anfang an in puncto 68er auch deutliche Abgrenzungs- und Distanzignale: „Im Herbst 1971 begann ich in Zürich zu studieren. Der 68er Elan war verrauscht, ich kam zu spät, und zu spät war ich letztlich auch in Berlin.“17 Er betont, dass er sich nicht entschließen konnte, einer der sieben linken Splittergruppen in seiner Fakultät beizutreten, sondern statt dessen eine Lesegruppe zu Heidegger ins Leben rief, wofür er „von einer Art maoistischen Wandzeitung als ‚Anarcho-Solipsist‘ gebrandmarkt“18 wurde; eine Charakterisierung, die Hürlimann zustimmend und mit Stolz zitiert. 2.
Zur Unabhängigkeit des kritischen Intellektuellen
Diese Selbstdefinition als Einzelgänger, als unabhängiger Geist, der zu keinem Lager gehören will und sich politisch nicht vereinnahmen lässt, passt zu seiner bürgerlich-konservativen Herkunft, in der die Liberalität des freien Denkens ein hohes Gut war. Direktes parteipolitisches Engagement, wie es Adolf Muschg und Peter Bichsel für die Schweizer Sozialdemokraten gezeigt
17 Rüedi, Peter: Anpassung und Widerstand: Aus einem Gespräch mit Thomas Hürlimann, in: Tages-Anzeiger Wochenprogramm, 9. Oktober 1981. 18 Hürlimann, Thomas: Die Diktatur der Mittelmäßigkeit, in: Schweizer Monat 10, 27. Juni 2015, S. 37–46.
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haben, ist Hürlimann suspekt.19 Sie berührt aber auch zentrale Elemente seines Selbstverständnisses als Autor und kann dazu dienen, wenigstens ansatzweise Hürlimann und sein Autorschaftsmodell im komplexen und ausdifferenzierten Spektrum dessen, was seit Sarte ,engagierte Literatur‘ genannt wird, zu verorten.20 Die Frage ist eine Grundsätzliche: durch welche Positionierung im literarischen und politischen Feld kann ein Autor wie Hürlimann für seine literarischen wie ausserliterarischen Ansichten zu Gesellschaft und Politik überhaupt Autorität einfordern, bzw. wodurch wird ihm, seinem Werk und seiner Stimme diese Autorität, oder zumindest öffentliches Gehör und Resonanz, verliehen, und wie geht er damit strategisch um? Dazu kann Bourdieus Theorie des engagierten Intellektuellen hilfreich sein. Nach Bourdieu ist es paradoxerweise gerade die mit dem literarischen Feld verbundene bzw. ihm zugeschriebene Autonomie, die Unabhängigkeit des freischwebenden, keinen Parteipositionen oder Partikularinteressen verpflichteten Schriftstellers, aus der ihm als ,neutrale‘, jenseits der Tagespolitik und über den Interessen stehende Figur Autorität und Glaubwürdigkeit zuwächst.21 Wieweit diese letztlich auf Kants Ästhetik des ,interessenlosen Wohlgefallens‘ zurückgehende Diskursfigur die tatsächliche Interessenlage der Autoren jeweils trifft, ist indes fraglich; immerhin haben Autoren aus literatursoziologischer Perspektive zumindest das Interesse, ihre Bücher zu verkaufen, und die Ressource der Aufmerksamkeit ist sowohl im literarischen Markt wie im Markt der Meinungen ein knappes und begehrtes Gut.22 Entscheidend ist aber, dass Hürlimann und anderen Schweizer Autoren im literarischen und politischen Feld von anderen Akteuren, vor allem den Medien, Kritikern und zum Teil auch Politikern oder der Literaturwissenschaft, über die Diskursfigur des Kritischen Patriotismus Aufmerksamkeit erteilt und moralische Autorität in der Interpretation der Befindlichkeit des Gemeinwesens Schweiz zugewiesen wird. Dabei gehören die küstlerische Autonomie der
19 Vgl. Hürlimann, Thomas: Unser Heimatdichter. Interview, in: Das Magazin. Tages-Anzeiger und Berner Zeitung, 24. April 1998, S. 22–25. 20 Siehe zum Engagementbegriff in der Literatur v. a. Peitsch, Helmut: Engagement, Tendenz, Parteilichkeit, in: Barck, Karlheinz et. al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe: Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 178–223 und Wegmann, Thomas: 1968 und der Konflikt um Engagement, Literatur und Interessenlosigkeit, in: Brokoff, Jürgen, Geitner, Ursula, Stüssel, Kerstin (Hg.): Engagement: Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur, Göttingen 2016, S. 213–226, aber auch Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur: Studien zur Geschichte des literarischen Feldes 1960–2000, Berlin 2015 und Sieg, Christian: Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion: Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990, Berlin/Boston 2017. 21 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 2001, S. 209–214. 22 Vgl. hierzu besonders Wegmann: 1968 und der Konflikt, hier S. 219–220.
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Form und die moralische Unabhängigkeit der Position des Sprechers eng zusammen. Auch Hürlimann betont, dass Literatur ihre spezifische Wirkung im vorpolitischen Raum nur entfalten kann, wenn sie sich auf ihr Proprium, die ästhetische Gestaltung, konzentriert und sich direkter politischer Einmischung entzieht. Im schon erwähnten Literaturgespräch 1994 sagt er rückblickend auf die ihrem Anspruch nach stärker und expliziter politisch eingreifende Literatur im Gefolge von 68: „Nur bestand da immer die Gefahr, dass das Engagement mehr galt als der Stil. Aber das ist jetzt vorbei, die Literatur steht wieder an erster Stelle.“23 Dies scheint ihm auch und vor allem eine Reaktion auf die neue Unübersichtlichkeit der politischen Verhältnisse nach dem Ende der polarisierenden Blockkonfrontation des Kalten Krieges, und er sieht darin eine Chance und die „Fröhlichkeit eines Anfangs“24 . Und 1998 betont er in einem Gespräch zu Das Lied der Heimat, dem Stück, das wie kein anderes im Jubiläumsjahr der Bundesverfassung als eine Bestandsaufnahme zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Schweiz wahrgenommen wurde: Ich bin kein Politiker, sondern das pure Gegenteil. Ich nehme Stimmungen auf und will Geschichten von Menschen erzählen. Es geht mir nicht primär um die Schweiz oder ihre Zukunft. […] Ich gerate in eine verrückte Situation und reagiere mit meinen Mitteln darauf. Ich versuche nur, etwas zu erzählen, und nicht jemandem etwas beizubringen: der Schweiz zum Beispiel sagen zu wollen, wie sie sein müsste.25
Es gehört zur paradoxen Dynamik zwischen literarischem und politischem Feld, dass solche Distanzsignale die Wirkung des Sprechers im außerliterarischpolitischen Diskurs nicht schwächen, sondern stärken. Im konkreten Falle Hürlimanns bestätigt das literarische Werk durchaus solche Selbstbeschreibungen, indem es gesellschaftliche Themen zumeist im vorpolitischen Raum verhandelt und dabei sowohl inhaltlich wie stilistisch in der Regel auf Ambiguisierung und Komplexitätserhöhung abzielt. Gleichzeitig ist Hürlimann in seiner familialen Nähe zur Politik ein interessanter und bemerkenswerter Sonderfall. Als schreibender Sohn eines prominenten Politikers verfügte er nolens volens gerade im Überschneidungsfeld von Politik und Literatur über symbolisches Kapital, mit dem sich wuchern lässt. Dieses Alleinstellungsmerkmal trug fraglos dazu bei, die Aufmerksamkeit des 23 Hürlimann, Muschg, Weber: Der Glaube, S. 24. 24 Ebd. 25 Hürlimann, Thomas: Land im Abendlicht – Thomas Hürlimanns Schweizer Ansichten: Interview, in: Neue Zürcher Zeitung, 29. April 1998. Zur Einschätzung dieser neuen Unübersichtlichkeit siehe Sośnicka, Dorota, Pender, Malcolm: Ein neuer Aufbruch? 1991–2011: Die Deutschschweizer Literatur nach der 700-Jahr-Feier, in: Dies. (Hg.): Ein neuer Aufbruch? 1991–2011: Die Deutschschweizer Literatur nach der 700-Jahr-Feier, Würzburg 2017, S. 9–16.
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literarischen Betriebes auf Hürlimann zu ziehen, die Resonanz seiner literarischen Stimme zu verstärken und ihr auch auf dem Feld der Politik Gewicht zu verleihen. So interessierten sich schon einige Premierenberichte zu seinem Debüt Großvater und Halbbruder 1981 mehr für die Anwesenheit des Bundesratsvaters im Premierenpublikum, und dass er sich in der Bühnenfigur „Mein Vater Hans Hürlimann“ selbst begegnete, als für die künstlerische Qualität und gesellschaftliche Brisanz des Stückes. Andere Berichte und Interviews im Vorfeld der Premiere thematisierten auch das Verhältnis von Vater und Sohn, etwa die in Berlin gewonnene nötige Distanz zur Vaterwelt der politischen Schweiz.26 Auch zu den von mir anderorts als „Familientrilogie“27 gekennzeichneten autobiographischen Prosatexten Der große Kater (1998), Fräulein Stark (2001) und Vierzig Rosen (2006) gab es im Feulleton und in der Fachliteratur jeweils Diskussionen, ob diese Werke als Schlüsselliteratur gemeint oder zu verstehen seien.28 Thomas Hürlimann hat sich zum autobiografischen Hintergrund seines Schreibens immer klar bekannt, wies dabei allerdings das label Schlüsselliteratur als reduktiv zurück.29 Solche Abwehrgesten seitens des Autors gehören 26 Siehe zum Beispiel den Premierenbericht im Boulevardblatt Blick oder den Vorbericht in der Woche. Vgl. hierzu: Ubenauf, Georg: ‚In der Fremde bin ich daheim.‘ In Berlin schrieb Bundesratssohn Thomas Hürlimann das Stück Grossvater und Halbbruder, in: Die Woche, 16. Juni 1981, S. 39–41; Ubenauf, Georg: Nach der Theater-Premiere: Ein Kuss – und ein Lob von Papa für Bundesratssohn Hürlimann, in: Blick, 17. Oktober 1981; sowie ausführlicher Schallié, Charlotte: Per distance und aus der Enkelperspektive: Thomas Hürlimanns entstellte Schweiz, in: Barkhoff, Jürgen, Heffernan, Valerie (Hg.): Schweiz schreiben: Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur, Berlin/New York 2010, S. 215–229. 27 Barkhoff: Die Katzen und die Schweiz. 28 Urs Jenny z. B. las im Spiegel Der große Kater als „Schlüsselroman über einen Politiker-Vater“ (Jenny, Urs: Kater Abraham: Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann überrascht mit einem Schlüsselroman über seinen Politiker-Vater, in: Der Spiegel, 24. August 1998) und auch Michael Braun sprach in der Basler Zeitung von einem „autobiographischen Schlüsseltext“ (Braun, Michael: Der Verhängnisforscher und seine subtile Verhüllungskunst: Von symbolischen und realen Menschenopfern. Der große Kater. Thomas Hürlimanns bewegender Vater-Roman, in: Basler Zeitung, 20. Juli 1998). Evelyn Finger hingegen betonte in ihrer Rezension zu Vierzig Rosen in Die Zeit, dass Hürlimann „keine privaten Schlüsselromane“ schreibe, sondern „Figur für Figur […] ein Epochenpanorama“ zeichne (Finger, Evelyn: Im Gefängnis Familie: Thomas Hürlimanns Gesellschaftsroman Vierzig Rosen ist das Buch zum Jahresausklang, in: Die Zeit, 30. November 2006). Siehe hierzu auch den einschlägigen Artikel Braun, Michael: Thomas Hürlimann, in: Rösch, Gertrud Maria (Hg.): Fakten und Fiktionen: Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010, Bd. 1, Stuttgart 2011, S. 317–323. 29 Siehe als nur ein Beispiel ein Interview mit Roger Anderegg zu Der Große Kater: „‚Wie hoch, würden Sie sagen, ist denn der Anteil an Authentischem in Ihrem Roman?‘ Hürlimann: ‚Ich gehe davon aus, dass das Leben spannender ist als jede Konstruktion. Ich nehme die Sachen aus dem realen Leben, aber man kann sie nicht im Maßstab eins zu eins erzählen, man muss
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allerdings, wie unlängst eine gründliche Studie zu den „Indiskreten Fiktionen“ der Schlüsselliteratur nachwies, geradezu zu den konstitutiven Merkmalen der Gattung.30 Eine genauere Untersuchung des autofiktionalen Spiels zwischen Biografischem und Symbolisch-Repräsentativem in Hürlimanns Gesamtwerk steht noch aus. 3.
Literarische Erinnerungspolitik
In den neunziger Jahren boten die beiden großen Jubiläen, in denen die Schweiz sich, ihre Geschichte, ihr politisches System und ihre politische und kulturelle Identität zugleich feierte und kritisch hinterfragte, eine Gelegenheit, Hürlimanns direkter den Bereich des Politischen tangierenden und insbesondere die Schweizer Erinnerungspolitik thematisierenden Werken Gehör und Echo zu verschaffen. Im Jahr der 700-Jahr-Feier der Schweiz 1991, in der man dem Bundesbrief von 1291 und der Gründung der Eidgenossenschaft gedachte, brachte Hürlimann, während die Mehrzahl seiner Kollegen sich am Kulturboykott beteiligte, um gegen die Fichenaffäre, die systematische jahrzehntelange Überwachung kritischer Intellektueller zu protestieren, sein Stück Der Gesandte auf die Bühne, in dem er sich kritisch mit der Neutralitätspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte und das nach Ende des Krieges dominante Geschichtsnarrativ bloßstellte, durch das die Frieden und Unabhängigkeit sichernde Kollaboration mit Nazi-Deutschland in eine Heldenerzählung vom heroischen Widerstand der Schweizer Milizarmee umgedeutet wurde. Der Gesandte ist ein kammerspielartiges Dreipersonenstück, in dem der Schweizer Botschafter in Berlin nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 nach Bern zurückkehrt. Es basiert auf dokumentarischem Material über Hans Fröhlicher, der in Berlin für das Funktionieren der Doctrine Suisse, die die Schweiz praktisch zu einem Protektorat des Deutschen Reiches machte, zu sorgen hatte. Im Stück heisst er Zwygart und personifizert die zwiespältige, schizophrene Position der Schweiz im 2. Weltkrieg. Statt der erwarteten triumphalen Willkommensfeier, in dem ihm der Dank des Vaterlandes zuteil wird dafür, dass er ihm die Besetzung und das Grauen des Krieges erspart hat, wird sie verdichten. Man muss sozusagen die Wahrheit lügen. Im Kern sind die Figuren so, wie ich sie kenne, aber ich entferne mich von dem, was real geschehen ist.‘“ Im gleichen Interview geht Hürlimann auch auf Spekulationen zur Identifizierbarkeit einzelner Figuren ein. Hürlimann, Thomas: Thomas Hürlimann über Dichtung und Wahrheit in seinem ersten Roman Der große Kater: Gespräch mit Roger Anderegg, in: Sonntags-Zeitung, 19. Juli 1998. 30 Vgl. hierzu Franzen, Johannes: Indiskrete Fiktionen: Theorie und Praxis des Schlüsselromans, Göttingen 2018, S. 18–20.
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er unter Hausarrest gestellt, zum Schweigen gebracht und zum Sündenbock gemacht, während General Guisan zum Helden ausgerufen und gefeiert wird. Wie schief und falsch diese Geschichtslüge ist, macht im Stück ein Wutausbruch Zwygarts deutlich: Himmelarsch, wir machen in Berlin die ganze Arbeit, und zum Schluß erklärt ihr diesen graumelierten Onkel zum Helden eines Krieges, den er nie sah, nie roch, geschweige denn geführt hat?!? […] Der General träumte von einer Reise nach Berlin, von einer Wallfahrt zum Führer. […] Es hat mich und meine Leute Tage und Nächte gekostet, Telephonate, Telegramme und Depeschen, um unseren senilen Militärs den Canossagang in den Arschkanal des Führers auszutreiben!31
Das Stück ist ein intrikates psychologisches Kammerspiel, in dem es nicht um Schuld geht, sondern um die Psychologie der Titelfigur als Täter und Opfer und um die politischen Mechanismen, mit denen Diskurshoheit errungen, Geschichtsmythen erzeugt und Identitätsnarrative durchgesetzt werden. Da die Schweiz sich oft und gerne und ganz besonders im Jahr 1991 auf das Jahr 1291 berief, um seine Geschichte mit Wilhelm Tell und Rütlischwur als einen kontinuierlichen heroischen Kampf gegen einen militärisch übermächtigen, aber moralisch unterlegenen Gegner, der der Schweiz Freiheit und Identität rauben will, darzustellen, hatte Hürlimanns Intervention beträchtliche politische Brisanz. Im Jahre 1998 feierte die Schweiz das 150jährige Bestehen ihrer Bundesverfassung, die seit 1848 in Kraft ist und die Confoederatio Helvetica damals zum progressivsten Land Europas und zur einzigen res publica in einem Meer von Monarchien machte. Während 1291 als Erinnerungsdatum und Identitätschiffre vornehmlich vom konservativen Spektrum in Anspruch genommen wird, identifizieren sich die linksliberalen Intellektuellen eher mit 1848. Zu diesem Jubiläum brachte Hürlimann Das Lied der Heimat mit großem Erfolg im Zürcher Schauspielhaus zur Aufführung. Flankiert von zahlreichen Medienporträts und Interviews, in denen Hürlimann zum Zustand des politischen Gemeinwesens Schweiz, zu seinem Heimatbegriff und zur Stellung der Schweiz in Europa befragt wurde, avancierte es zum quasi offiziellen Jubiläumsstück, während sein Autor mit einer gewissen Ironie zum „staatstragenden Dramatiker“32 ausgerufen wurde.33 In der ersten Szene siniert ein missmutiger Gottfried Keller am 31 Hürlimann, Thomas: Der Gesandte, in: Ders.: Das Lied der Heimat. Alle Stücke, Frankfurt a. M. 1998, S. 219–260, hier S. 232–233. 32 Müller, Peter: Jubel für einen besorgten Sänger der Heimat, Tages-Anzeiger, 2. Mai 1998. 33 Vgl. z. B. Fässler, Günther: Ein schön lüpfiger Teller Abgrund: Uraufführung von Thomas Hürlimanns Lied der Heimat in Zürich, in: Bündner Zeitung / Die Südostschweiz, 2. Mai 1998; Linsmayer, Charles: Von der langsamen Erosion des Mythos Schweiz, in: Der Bund, 2. Mai
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Vorabend seines 70. Geburtstags über das Scheitern seiner politischen Hoffnungen auf den Bundesstaat von 1848 und die Wirkungslosigkeit seiner Literatur, während er von Politik und Öffentlichkeit als Nationaldichter gefeiert wird; wie es sich für einen solchen gehört, ist es eine Bedingung dieser Feier, das seine Werke weder bekannt sind noch verstanden werden. An Keller als alter ego arbeiten sich viele Autoren der Schweiz ab. So auch Hürlimann, dem 2019, im Jubiläumsjahr des 200. Geburtstags von Keller, dafür zusammen mit Adolf Muschg der Gottfried Keller-Preis der Martin Bodmer-Stiftung zuerkannt wurde. Auf dieser Ebene ist Das Lied der Heimat auch Hürlimanns skeptischer und selbstironischer Kommentar zum Verhältnis von Politik und Literatur. Im zweiten Teil kommt Hürlimann auf die schuldhafte Verwicklung der Schweiz im 2. Weltkrieg zurück und die falsche und verlogene Idylle einer heilen, unbefleckten Heimat. Hier geht es darum, dass das beliebteste Heimatlied der Schweiz, das seinen Komponisten Indergand reich und berühmt machte, tatsächlich aus der Feder einer polnischen Schönbergschülerin Olga-Maria Kwiatkowska stammte, die als Internierte in einem Schweizer Flüchtlingscamp von Feldwebel Indergand dazu gezwungen wurde, für das Geburtstagsfest des Lagerkommandanten ein Lied zu schreiben, das Indergand als seines ausgeben konnte. Sie ist erst nicht in der Lage, weil sie ihre musikalischen Ideale nicht verraten will, willigt dann aber ein, um ihren Mitinternierten bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. Als sie, Indergand beim Suppe essen beobachtend, den treuherzigrohen, sentimental-verbissenen Nationalcharakter der Schweizer zu begreifen meint, gelingt ihr der bis in die Gegenwart beliebte Hit der Volksmusik, den sie grotesk-schaurig „einen schön lüpfigen Teller Abgrund voll guter Suppe“34 nennt. Das hinter der selbstzufriedenen Heimatseligkeit des offiziellen SchweizBildes ein schauriger Abgrund lauerte, war zu diesem Zeitpunkt durch die internationale Kontroverse um Nazi-Gold und nachrichtenlose Vermögen, die Mitte der 90er Jahre der Schweiz von aussen, vor allem aus den USA, aufgezwungen wurde, das große Thema, das Hürlimann auch in einigen wichtigen Essays zur Sprache brachte.35 1998; Müller, Peter: Jubel für einen besorgten Sänger der Heimat, in: Tages-Anzeiger, 2. Mai 1998; Stadelmaier, Gerhard: Die Wimper in der Abgrundsuppe. Menü im Abendlicht: Hürlimanns Lied der Heimat im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2./3. Mai 1998; Toepfer, Nina: Rundreise mit Freibier: Thomas Hürlimanns Schweizer Reise Das Lied der Heimat, in: Weltwoche, 7. Mai 1998. 34 Hürlimann, Thomas: Das Lied der Heimat, in: Ders.: Das Lied der Heimat. Alle Stücke, Frankfurt a. M. 1998, S. 445–487, hier S. 465. 35 Hürlimann, Thomas: Himmelsöhi, hilf! Mein Land in seiner größten Krise, in: Ders.: Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz und andere Nester, Zürich 2002, S. 9–22; Hürlimann, Thomas: Über das Unheimliche, das aus der Heimat kommt: Dankrede zum Literaturpreis der KonradAdenauer-Stiftung, in: Ders.: Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz und andere Nester, Zürich 2002, S. 23–34.
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Im Jahre 1998 erschien kurz vor der Frankfurter Buchmesse, auf der die Schweiz anlässlich ihres Jubiläums unter dem Motto ,Hoher Himmel, enges Tal‘ Gastland war, auch Hürlimanns erster Roman, Der große Kater. Es ist das der Schweizer Politik naheste aller Hürlimannschen Bücher, das vom Thema her Einblicke in den Berner Politikbetrieb aus der Schlüssellochperspektive versprach. Wer von dem als Politthriller und Roman zum Jubiläum gefeierten Buch allerdings eine Auseinandersetzung mit spezifischen Fragen der helvetischen res publica erhoffte, wurde enttäuscht. Die Stilisierung des großen Katers zum charismatischen Machtmenschen, um den sich in der Welt der Politik alles dreht und der mit einer mafiösen Hinterzimmerintrige aus dem Amt gedrängt wird, verfehlt bewusst und absichtsvoll die kleinschrittige, auf Proporz und Konsens angewiesene und auf Kompromiss und Ausgleich ausgerichtete politische Maschinerie der Schweiz. Rezensenten und Germanisten haben dann auch beklagt, dass die großen Fragen der Schweizer Demokratie in dem Buch praktisch nicht vorkommen. Sein politisches Thema ist, wie ich an anderem Ort entwickelt habe, vielmehr allgemeiner die Performanz und Theatralität der Macht im Medienzeitalter, die der Theatermann Hürlimann an der Figur seines Vaters durchspielt.36 Dieser war vier Jahre zuvor 1994, 12 Jahre nach seinem Abschied aus der aktiven Politik, gestorben, im öffentlichen Bewusstsein aber noch sehr präsent. Mit seinen beiden Beiträgen wurde Hürlimann 1998 als die wichtigste literarische Stimme zum Juiläumsjahr wahrgenommen. Er war auf der Höhe seines Einflusses als ‚kritischer Patriot‘ und Interpret Schweizer Befindlichkeit und indem ihm vom Literatursystem die Position eines der Politik zugleich nahen wie fernen, einflussreichen public intellectual zugewiesen wurde, löste er gewissermaßen den kurz zuvor verstorbenen Vater in seiner öffentlichen Rolle ab. In seinen Interviews nicht nur aus dieser Zeit wurde und wird er jedenfalls immer wieder zu seiner Familie als Einfluss und als Motiv, zur Bedeutung des Biographischen in seinem Werk, zu seinem Verhältnis zum bürgerlichen Milieu oder zum Verhältnis zu seinem Vater befragt und gibt dazu auch durchaus bereitwillig Auskunft. In den letzten Jahren formuliert Hürlimann seine kritischen Positionen zur heutigen Politik zudem zunehmend vor dem Hintergrund einer positiven Einschätzung der Politikergeneration seines Vaters.37
36 Barkhoff, Jürgen: ‚Wie fallen die Schwalben?‘ ‚Perfekt, Herr Bundespräsident‘: Inszenierungen der Macht bei Thomas Hürlimann, in: Vilas-Boas, Gonçalo, Martins de Oliveira, Teresa (Hg.): Macht in der Schweizer Literatur, Berlin 2012, S. 319–334. 37 Vgl. Hürlimann, Thomas: Familienalbum: Meine katholische Familie, in: NZZ Geschichte, 2. Juli 2015, S. 43–58; Hürlimann: Die EU wird sich von selbst erledigen.
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4.
Intrikate Essayistik zwischen Anekdote, Philosophie und Politik
Die Essays sind, wie eingangs erwähnt, bei Hürlimann ein Scharnier, um Literatur und Politik miteinander zu verbinden. Die Essays in den Bänden Das Holztheater (1997), Himmelsöhi hilf (2002), Der Sprung in den Papierkorb (2008) und Abendspaziergang mit dem Kater (2020) sind kleine Meisterwerke der Nachdenklichkeit, in denen sich persönliche Erfahrungen und politische Kommentare mit historischen Exkursen, weitausgreifenden philosophischen Reflexionen, kulturellen Assoziationen und polemischen Effekten anregend mischen. Sie greifen Motive und Themen aus der Literatur auf, spielen mit Metaphern und Bildern und nehmen oft persönliche Erlebnisse als Ausgangspunkt. Sie sind eingreifende Zeitkommentare, die ihre Subjektivität deutlich markieren, aber ins Allgemeine zielen. Zu diesen Zusammenhängen zwei Beispiele: In Der Gesandte nennt die Hauptfigur Zwygart seine Eidgenossen mit Blick auf die Nazigoldgeschäfte „Ein Volk von Tresoristen“38 . Der assoziative Anklang zu ,Terroristen‘ ist beabsichtigt und signalisiert eine Mittäterschaft an dem Terror, mit dem die Nazis Europa und die Welt überzogen. In dem Essay Himmelsöhi hilf! Mein Land in seiner größten Krise zum gleichen Thema greift Hürlimann drei Jahre später das Bild der „Tresoristen, die vom Krieg prima gelebt hatten“39 auf und verknüpft es jetzt ebenso originell wie überzeugend mit der Gnadenlehre und dem Bilderverbot des Calvinismus. Weil die Auserwähltheit vor Gott sich durch die Akkumulation weltlicher Güter zeigt, diese aber im Banne des Bilderverbots nicht ostentativ zur Schau gestellt werden kann, neigen die Schweizer, so Hürlimann, dazu, ihren Reichtum zu verstecken: „Seither weist der Schweizer seine Frömmigkeit auf dem Konto nach, selbstverständlich anonym, es geht ja nur IHN etwas an […].“40 So begründet Hürlimann mit tiefen Mentalitätsprägungen, dass die Schweizer so Mühe haben, die internationale Kritik an ihrem Bankgeheimnis nachzuvollziehen. In seiner vielbeachteten Polemik Herr Steinbrück, Sie haben Mundgeruch. Ein Eidgenosse erklärt die Schweiz gegen den damaligen deutschen Finanzminister, der 2009 auf dem Höhepunkt des Steuerstreits meinte, man müsse den Schweizern vielleicht mal wie einstmals den Indianern mit der Kavallerie drohen, radikalisiert Hürlimann diesen Gedanken. Um zu erklären, warum die Deutschen und die Schweizer einander nie verstehen werden, bemüht er nun die Nationalcharaktere aus Elias Canettis Masse und Macht und stellt das Schweizer Kollektivsymbol ‚Berg‘ dem deutschen ‚Wald‘ gegenüber. Die Schweizer sind als Volk von „Berglern“ ein Volk von „Ver-Berglern“, denen das Horten und Anlegen von Vorräten einst 38 Hürlimann: Der Gesandte, S. 244. 39 Hürlimann: Himmelsöhi, hilf!, S. 17. 40 Ebd., S. 11.
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überlebenswichtig war und sie so nachhaltig prägte. „Später, in der Reformation, wurde der Drang nach innen zum Wahn. Man denunzierte die Außenwelt als äusserlich und kratzte die Bilder von den Wänden.“41 Diese „Ver-Bergler“Mentalität entdeckt Hürlimann auch in der Reduit Taktik im 2. Weltkrieg, als die Schweizer Armee in den riesigen Bunkeranlagen der Alpenfestung verborgen werden sollte, um so versteckt Widerstand gegen eine deutsche Invasion zu leisten. Zweierlei ist typisch und verallgemeinerbar an dieser Assoziationskette. Erstens weisen Hürlimanns Themen und Positionen eine erstaunliche Kontinuität auf. Viele seiner heute als konservativ kommentierten oder kritisierten Standpunkte, wie zum Beispiel seine Sorge um den Verlust historischen Bewusstseins und kultureller Identität oder seine Skepsis der EU gegenüber, hat er bereits in den 80er und frühen 90er Jahren artikuliert. So trat er schon 1992 mit Otto F. Walter, aber auch mit dem SVP-Granden Christoph Blocher gegen den Schweizer EWR-Beitritt auf und war damit damals unter den Schweizer Autoren ziemlich isoliert. Zweitens und gleichzeitig lässt sich innerhalb seiner Argumentation im Laufe der Jahre wie im gerade genannten Beispiel vielfach eine tendenzielle Verschiebung erkennen: von der deutlichen Kritik zur eher neutralen, historisch begründenden Erklärung zu einem zunehmend zustimmenden Verständnis. An dem Verstecken und Verschweigen des Goldes, der Fluchtgelder und der eigenen Vergangenheit äußerte Hürlimann im Drama 1998 schärfere Kritik als 2001 im erklärenden Essay, und in der Intervention von 2009 wird daraus gegenüber den Deutschen ein eher trotziges ‚So sind wir halt‘, was in der konkreten Situation freilich auch dem aktuellen Anlass und der aufgeheizten Stimmung nach Steinbrücks Angriff geschuldet ist. Bei der Beurteilung dieser Unterschiede sind außerdem auch die unterschiedlichen Wirkungsstrategien der jeweiligen Textsorten zu berücksichtigen: die tagesaktuelle Intervention funktioniert am besten über polemische Zuspitzungen, während der analytische Essay aus subjektiv-assoziativer Perspektive große Fragen aufwirft und mit zum Teil ebenso weit ausgreifenden wie gewagten Hypothesen zum Nachdenken anregen will.42 Eine weitere charakteristische Facette von Hürlimanns Auseinandersetzung mit Schweizer Erinnerungspolitik zeigt der 2008 veröffentlichte Essay L’esprit
41 Hürlimann, Thomas: Herr Steinbrück, Sie haben Mundgeruch: Ein Eidgenosse erklärt die Schweiz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 2009. 42 Zu den Spezifika der Textsorte Essay siehe Müller-Funk, Wolfgang: Erfahrung und Experiment: Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995; Zima, Peter V.: Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne. Würzburg 2012.
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de l’escalier. Über die Treppe, und zwar die enge Verschränkung von Kritik und Selbstkritik, die dem bei politisierenden Autoren sonst durchaus anzutreffenden Gestus der selbstgerechten Empörung als Korrektiv dient. Thema des Essays ist das Verschwinden der Treppe aus dem öffentlichen Bewusstsein als liminalen Raums des Aufsteigens und sich nach Oben-Orientierens in seinen sakralen, rituellen und hierarchischen Dimensionen. Dies entwickelt Hürlimann assoziativ und gelehrt in viele Richtungen: von Platos Höhle über die Bettler an den Kirchentreppen und U-Bahn Eingängen oder das vom Zweiten Vaticanum abgeschaffte Stufen- oder (in der Schweiz) Staffelgebet bis zu den Schlosstreppen der Kaiser und Könige und der Gangway der Swissair. Das ist faszinierend zu lesen und greift ein vielfach variiertes kultukritisches Hauptund Grundthema Hürlimanns seit den frühen 90er Jahren auf: den Verlust der Vertikale in unserer Gegenwart, der sowohl historisches Bewusstsein und kulturelle Identität, also ein Wissen und Gespür für Herkommen, Geschichte und Tradition, wie auch ein religiöses Gefühl, also die Orientierung auf Metaphysik und Transzendenz, zunehmend abhanden kommt, und die sich stattdessen im Zeichen globaler Vernetzung in der Jetztzeit nur in der nivellierenden, einebnenden Horizontale bewegt.43 Inbegriff und Verfallsstufe dieser Entwicklung ist für ihn in diesem Essay die Rolltreppe, permanent sich selbst verschlingend und vernichtend; eine Bewegung nach oben, die dem Benutzer die körperliche und geistig-seelische Erfahrung des Aufsteigens verweigert und raubt. In diesem Kontext steht die folgende Episode: Im Herbst 1996, als die Kontroverse um Nazi-Gold und nachrichtenlose Vermögen die internationalen Nachrichten zu dominieren begann, war Hürlimann Max Kade Visiting Professor am German Department des renommierten Dartmouth College in New Hampshire. Hürlimann berichtet, dass amerikanische Kollegen ihn dort vor eine Art internes Tribunal zitierten: Ich versuchte vergeblich, die historischen Zusammenhänge darzustellen, aber an Fakten waren sie nicht interessiert – unsere Schuld sollte ich bekennen, meine Scham sollte ich gestehen. Es war entsetzlich. Hitler hatte immerhin den Anstand besessen, sich von ihnen, den Amis, besiegen zu lassen, während wir Schweizer, ein einzig Volk von Zahngoldräubern, an toten KZ-Häftlingen reich und fett geworden waren. Fernab der Heimat war ich mittendrin. Ich bekam Fieber. Im Unterkiefer eiterte es […] die passende Strafe für einen Zahngoldräuber.44
43 Ähnlich schon in: Hürlimann, Thomas: Der Kosmopolit wohnt im Kosmos, in: Ders.: Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Rand, Zürich 1997, S. 9–25. 44 Hürlimann, Thomas: L’esprit de l’escalier: Über die Treppe, in: Ders.: Der Sprung in den Papierkorb, Zürich 2008, S. 112–135, hier S. 131–132.
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Hürlimann flieht nach Hause und wird am Flughafen in Zürich von seiner Mutter mit einem Hackbraten und zwei Flaschen Merlot begrüßt. Mit rasenden Schmerzen eilt er aber in Richtung Zahnarzt und stolpert auf der Rolltreppe. „Es klirrte, rumpelte, knallte. Schon fetzte das messerscharfe, am unteren Treppenende fortwährend die Stufen verschluckende Maul die Plastiktüten, schon zerfleischte es den Braten, schon erwischte es meinen Mantelsaum […].“45 Gerettet wird er schließlich von einer Gruppe von Männern, die hinter ihm die Treppe herunterkommen: Sie werden es nicht glauben, ich erzähle es trotzdem: Es waren Herren in langen schwarzen Mänteln, mit großen schwarzen Hüten und Schläfenlocken. Orthodoxe Juden. Einer von ihnen konnte die Treppe schließlich stoppen. Alles erstarrte. Nur noch Mamas Merlot gluckerte. Meine Habe zerfleddert, mein Mantel zerrissen. Über mir entsetzte Blicke. Da kam der vorderste Herr zu mir herab, beugte sich über mich und sagte im breitesten Züritütsch; „Hauptsach, mir sind wieder dihei.“46
Wie ist diese mit Sinn für groteske Zuspitzung glänzend erzählte anekdotische Pointe zu deuten? Zum einen sicher so, dass seine Kritik an der an Erklärungen und Verstehen, dem eigentlichen proprium der universitären Geisteswissenschaften, nicht interessierten und statt dessen Kollektivschuld bzw. Kollektivscham einfordernden Haltung der amerikanschen Kollegen nicht als antisemitisch verstanden werden soll und darf. Gleichzeitig dient sie auch zur Erinnerung daran, dass die Schweizer Neutralität die vielen Schweizer Juden vor dem Holocaust bewahrte. Im Kontext des Essays ist die Anekdote schließlich so zu verstehen, dass Hürlimann den verschlingenden Mahlstrom pauschalisierender Verurteilung, deren Opfer er – stellvertretend für die ganze Schweiz – wurde, genau jener Verflachung des öffentlichen Bewusstseins anlastet, um die es in dem Essay insgesamt geht. Die Paralelle, mit der er sich dabei durch den Hinweis auf seinen langen zerfetzten Mantel mit den orthodoxen Juden partiell identifiziert, wirft allerdings Fragen auf, indem sie Hürlimann als Opfer intoleranter und geschichtsblinder political correctness zumindest indirekt und assoziativ den Opfern des Holocaust annähert. Und problematisch scheint auch die der Anekdote implizite Gegenüberstellung von ‚guten‘ Schweizer Juden und ‚bösen‘ internationalen Anklägern, die klassische Ausgrenzungsmechanismen von innen und außen, ‚wir‘ und ‚sie‘, Heimat und feindlichem Ausland aufgreift, die in den Debatten um die Schweizer Rolle im Zweiten Weltkrieg vielfach mobilisiert wurden und auch in den Kontroversen zur Schweizer Einwanderungspolitik eine große Rolle spielt.
45 Ebd., S. 132–133. 46 Ebd., S. 133.
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Von entscheidender Bedeutung für diese Einschätzung ist dabei die Frage nach der Authentizität der Anekdote, deren Einleitungssatz „Sie werden es nicht glauben, ich erzähle es trotzdem“ auf den ersten Blick diese ja zu verbürgen scheint. Tatsächlich ist diese Einleitung bei genauerer Betrachtung allerdings das genaue Gegenteil, ein Ambiguisierungssignal, das die Anekdote in den Bereich der ausgedachten Fiktion hebt. Die versichernde Formel „Sie werden es nicht glauben, ich erzähle es trotzdem“ kommt bei Hürlimann auch sonst vor, nämlich bei dem Innerschweizer Geschichtenerzähler und Meister mündlichen Erzählens Charles Lymbacher. Lymbacher ist, wie dem Hürlimannschen Mundartdrama gleichen Namens als Intertext zu entnehmen ist, allerdings eine erfundene und keine historische Figur und noch dazu der unzuverlässigste Erzähler, der sich denken lässt, der diese Formel ziemlich schamlos einsetzt, um sich aus brenzligen Situationen zu befreien.47 Diese erzähltechnische Perspektive nun gibt der gesamten Episode eine neue und entscheidende Wendung: Wenn Hürlimann, oder zutreffender gesagt der Ich-Erzähler dieses Mini-Dramas, die orthodoxen Juden, die mit ihm Mitleid haben und ihm helfen, erfunden hat, um sich aus der brenzligen Situation, in die ihn die problematische Schweizer Geschichtspolitik und die selbstgerechten amerikanischen Kollegen gebracht haben, herauszuwinden, dann trifft der Vorwurf der Geschichts- oder Geschichtenverfälschung zum eigenen Vorteil ja auch ihn selbst, dann macht er sich in einer höchst raffinierten und hintersinnigen Volte die Vorwürfe, die er in ihrer groben und selbstgerechten Form abweisen musste und kritisieren wollte, wieder zu eigen und gesteht genau das zu, was er in Dartmouth gestehen sollte und unter Druck nicht zugestehen wollte, dass er sich nämlich aus der Verantwortungsgemeinschaft der Schweizer nicht herauserzählen kann und will. Und eine solche Position passt natürlich auch genau zur wichtigen Rolle, die das Hürlimannsche Werk wie oben ansatzweise dargestellt im kulturellen Gedächtnis der Schweiz spielt. 5.
Polterer und Alpenschrat
Eine genauere Untersuchung von Hürlimanns gehaltreichen und kunstvollen Essays steht noch aus. In jedem Fall sind sie für die Artikulation seiner politischen Position ebenso wichtig wie seine polemisch-zugespitzten Einlassungen in Interviews oder Reden, die publizistisch ein sehr viel größeres Echo auslösen. Was er über seine Literatur sagt, gilt ähnlich auch für die Essays:
47 Vgl. Hürlimann, Thomas: Lymbacher. Nach Inglin. Stück, in: Ders.: Innerschweizer Trilogie. Zürich 1991, S. 85–131, hier S. 127: „Iher glaubids ja doch nid, aber ich verzell es jetzt glych.“
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Besucher: „Wieso, Thomas Hürlimann, bleibst du festlich-heiter, wenn es um Letzte Dinge geht, um Leben und Tod, und wieso drehst du durch, wenn es um das Verhältnis der Schweiz zu Europa geht?“ Dichter: „Meine literarischen Texte sind immer sehr sorgfältig gearbeitet. Bei meinen politischen Äusserungen ist das nicht so. Das ist unverdaut, alpenschratmäßig.“ Besucher: „Es gefällt dir auszurufen?“48
In der Tat gefällt Hürlimann das „Ausrufen“, das gelegentliche provokante und wenig differenzierte Poltern. Er hat sichtlich Freude an Kontroverse und ist mit dem eigensinnigen Konservatismus seiner Zeitkommentare gern ein streitbarer und unbequemer Zeitgenosse zwischen den Lagern, der das Denken in eingespielten Schablonen aufrütteln will und ein Gegengewicht zum dominanten Diskurs innerhalb seines intellektuellen Milieus schaffen will. In einem Interview hat er zur Begründung dieser Haltung jüngst auf Thomas Mann verwiesen. „Im Übrigen verhalte ich mich meiner Zeit gegenüber, wie es Thomas Mann unserem Berufsstand geraten hat. Wenn das Boot nach links kippt, soll der Schriftsteller auf der Ruderbank nach rechts rutschen.“49 In Anspielung auf Wilhelm Tell hat er einmal vom „reaktionären Rebellen“ als einem „Innerschweizer Phänotyp“ gesprochen und das damit begründet, „wie eigenständig die Leute denken“50 ; eine Kennzeichnung, die man getrost als Selbstauslegung des Innerschweizer Autors lesen kann. Für solches recht ungefiltertes „Ausrufen“ ein Beispiel aus dem gleichen Artikel zu dem Streitthema, das gewissermaßen sein Markenzeichen geworden ist, seine EU-Gegnerschaft: In einer Supranation würden wir verlieren, was uns ausmacht: die direkte Demokratie. Inzwischen zeigt sich ja, dass Europas Zukunft ein elend zusammengekrachtes Gebilde ist wie die Sowjetunion. Zudem arbeiten Soziologen im Auftrag des EUZentralkommitees ein neues Menschenbild aus. Der Eurotyp hat antirassistisch, areligiös, linksliberal, multikulti, öko und Nichtraucher zu sein und darf im Maximum 75 Kilo haben. Ganze Brigaden von Richtern bereiten sich geifernd darauf vor, dieses Menschenbild demnächst durchzusetzen.51 48 Hürlimann: Unser Heimatdichter, S. 25. 49 Hürlimann, Thomas: ‚Wenn euch Linken die Argumente ausgehen, sagt ihr Stammtisch‘: Der Schriftsteller Thomas Hürlimann über autoritäre Ärzte und den neuen Katechismus der politischen Korrektheit, in: Basler Zeitung, 22. September 2019. Das Thomas Mann Zitat, auf das Hürlimann anspielt, stammt aus dem Jahre 1934 aus einem Brief an Karl Kerényi: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht – und umgekehrt.“ Mann, Thomas: Brief an Karl Kerényi vom 20. Februar 1934, in: Kerényi, Karl (Hg.): Thomas Mann – Karl Kerényi. Gespräch in Briefen, Frankfurt a. M. 1960, S. 42. 50 Hürlimann, Thomas: ‚In der Asche ist noch Glut‘: Interview mit Peter Keller, in: Weltwoche, 25. Juli 2012. 51 Ebd.
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Und ähnlich, ein paar Jahre zuvor: Das Internet ist dabei, den Weltstaat zu weben. Grenzen, ob nationale oder supranationale, heben sich auf. […] Gegen das grosse Ganze kann sich die Brüsseler Bürokratie nicht behaupten. Also wird sie sich nach aussen abschotten und im Innern ein hygienisches Terrorsystem errichten. Wehe den Rauchern, den Fetten, den Kreuzanbetern.52
Neben der Neigung zur Polemik lebt sich hier sicher auch Hürlimanns Freude an farbigen, effektvoll zugespitzten Sprachbildern aus, wie wohl auch der Sinn des im Medienbetrieb versierten Autors dafür, dass im immer dichter und unübersichtlicher werdenden Chorus der Stimmen und Meinungen nicht zuletzt durch Widerspruch Aufmerksamkeit erzeugt werden kann. Im konkreten Fall der EU-Gegnerschaft begründet sich Hürlimanns Position zum einen wie im obigen Zitat angedeutet damit, dass er das Konzept gesichts- und identitätsloser supranationaler Gebilde mittlerer Größe im Kontext der Globalisierung als überholt ansieht. Zum anderen und spezifischer ist er zu Recht und wie viele andere davon überzeugt, dass ein EU-Beitritt mit dem dazugehörigen Abtreten gewisser Souvernitätsrechte unvereinbar sei mit den Errungenschaften und Mechanismen der direkten Demokratie in der Schweiz.53 Ob Hürlimann mit seinen rhetorisch saftigen Rundumschlägen zum Menschenbild der EU dieser und ihren Bemühungen Gerechtigkeit wiederfahren lässt, mag dahingestellt und bezweifelt werden. Zu erinnern ist aber als Hintergrund solch drastisch formulierter Positionen sein entschiedenes Eintreten für persönlichen Individualismus und kulturelle Differenz, für eine spezifisch schweizerische, im Lokalen und Kantonalen wurzelnde Insistenz auf Eigensinn und Unterschied, die am Eigensinn der Literatur ihr Paradigma hat und aus ihr Selbstbewusstsein und Überzeugungskraft bezieht. Mit manchen seiner Formulierungen ist Hürlimann durchaus gedanklich und sprachlich nahe an Positionen der Schweizer Volkspartei und anderer euroskeptischer und rechtspopulistischer Strömungen in Europa. Prominente Vertreter der SVP wie Christoph Blocher loben denn auch gelegentlich den „standhaften Thomas Hürlimann“ für seinen Mut54 . Hürlimann geht, und das gehört ebenso zu seiner streitbaren Unabhängigkeit, allerdings auch immer wieder auf Distanz zur 52 Hürlimann, Thomas: Wir können nein sagen: Der Schriftsteller und Dramatiker Thomas Hürlimann schreibt zum 1. August, warum er gegen die Europäische Union ist, in: Weltwoche, 30. Juli 2008. 53 Vgl. dazu bereits auch Hürlimann, Thomas: ‚Ich beziehe Prügel für meine Haltung‘: Der Innerschweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann über die multikulturelle Gesellschaft, den Liberalismus, Europa und die Zukunft der Moderne, in: Cash, 20. August 1993, S. 24. 54 Vgl. Blocher, Christoph: Es gibt auch andere: Gastkommentar, in: Weltwoche, 10. Dezember 2015.
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SVP und kritisiert zum Beispiel im oben zitierten Essay ihr weiterhin geschöntes Geschichtsbild.55 Er hat 2014 gegen die Masseneinwanderungsinitiative der SVP gestimmt und das auch öffentlich begründet56 und bezieht zu den Instrumenten der direkten Demokratie in der Schweiz, die populistische Parteien in ganz Europa als Vorbild sehen und übernehmen wollen, die Haltung, dass die Entscheidungen in Schweizer Referenda zumeist nur bei niedriger Stimmbeteiligung vernünftig sind, wenn nur die 20–30 % wohlinformierten und politisch bewussten Stimmbürger zur Abstimmung gehen,57 dass also populistische Massenmobilisierung à la SVP der Politik alles andere als zuträglich ist. Insgesamt ist Hürlimanns EU-Gegnerschaft nicht von seiner umfassenderen Globalisierungskritik, seiner Kritik an einem von ihm als standpunktlos begriffenen Toleranzbegriff und seiner Sorge um den Verlust kultureller Identität zu trennen. Um diese und andere politische Äußerungen und Meinungen angemessen einzuschätzen, ist es allerdings nötig, sich nicht auf seine plakativen, alpenschratigen Provokationen zu fokussieren und zu beschränken, sondern deren weiteren Kontext in seinen Essays, seiner Literatur und seiner Poetik zu suchen und darzustellen. Das ist hier nicht zu leisten und steht noch aus, soll aber abschließend im Hinblick auf sein Literaturverständnis wenigstens an einem Punkt angedeutet werden. Als Gegenbewegung zu supranationalen Gebilden wie der EU und zur Globalisierung insgesamt setzt Hürlimann auf die wachsende Bedeutung des heimatlich Regionalen und Lokalen. Damit ist er nicht allein und diese breite Tendenz zur Glocalisierung ist von den Analytikern der Globalisierung auch schon in viele Richtungen erforscht.58 Außerdem passt es auch zur starken Rolle von Gemeinde und Kanton für Politik und Identität der Schweizer insgesamt. Entscheidender für den Schriftseller ist aber die enge Verbindung zu seiner Poetologie, die in der Literatur gerade das Konkrete, Lokale und Vertraute sucht und zum realitätsgesättigten Spiegel und Gegengewicht des Allgemeinen und Abstrakten macht. So beantwortete er schon 1990 die Frage nach einem gesamteuropäischen Ausdruck in der Literatur:
55 Hürlimann: ‚In der Asche ist noch Glut‘. 56 Vgl. Hürlimann, Thomas: Zur Schweizer Einwanderungsdebatte: Der Schweizer als Höhlenmensch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Februar 2014. 57 Vgl. ebd.; Hürlimann: Die Diktatur der Mittelmäßigkeit. 58 Siehe hierzu und zu Hürlimanns Globalisierungskritik: Barkhoff, Jürgen: Heimat in der Globalisierung – Heimat in der Schweiz, in: CH-Studien Nr. 2, 2019, hg. von Komorowski, Dariusz, Fattori, Anna, Jambor, Jan, http://ch-studien.uni.wroc.pl/inhaltsverzeichnis-ausgabe-1-2019/, letzter Zugriff: 15. März 2020.
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Das wäre eine Katastrophe. Wir, die Dichter, haben die Pflicht, die Grenzen, die es bald nicht mehr gibt, mit herrischer Geste zu schließen. Das Aufheben der Grenzen ist immer auch ein Aufheben von Identitäten. Die Literatur hat die Pflicht, Identitäten zu schaffen. […] Das heisst natürlich auch, dass sie die Region betonen muss. Je größer die Welt und je umspannender die Kommunikation wird, um so genauer muss die Literatur auf einer ganz bestimmten Adresse beharren. Sie werden die letzten Orientierungspunkte in einer Zeit sein, die sich im Grenzenlosen verliert.59
In ähnlichem Sinne zitierte er am Ende seiner wichtigen, auch auf die Schweizer Geschichtsvergessenheit eingehenden Dankrede zum Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1997 im Weimarer Nationaltheater das Ende von Max Frischs Rede zum Büchnerpreis 1958. Wie Frisch versuche er „Kunst zu machen, die nicht national und nicht international, sondern mehr ist, nämlich ein immer wieder zu leistender Bann gegen die Abstraktion – sie kann nur ersetzt werden durch die Arbeit jedes einzelnen an seinem Ort.“60 Auf die Frage, wie sich die „Arbeit jedes einzelnen an seinem Ort“ für die res publica der Schweiz bei Thomas Hürlimann gestaltet, konnte hier nur ansatzweise eine Antwort gegeben werden. Sie liegt in der genauen Untersuchung der komplexen Verbindungen zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Poetologie und Politik, zwischen der Gewissenhaftigkeit als Künstler und der Verantwortung als Citoyen, und muss in ihren jeweiligen Wirkungsintentionen, Wirkungsmechanismen und Wirkungsmöglichkeiten in tagesaktueller Intervention, Essayistik und literarischem Werk herausgearbeitet werden.61 Literaturverzeichnis Barkhoff, Jürgen: Die Katzen und die Schweiz: Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Thomas Hürlimanns Familientrilogie, in: Sandberg, Beatrice (Hg.): Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2010, S. 181–195. Barkhoff, Jürgen: ‚Wie fallen die Schwalben?‘ ‚Perfekt, Herr Bundespräsident‘: Inszenierungen der Macht bei Thomas Hürlimann, in: Vilas-Boas, Gonçalo,
59 Hürlimann: ‚Aus der Enge kommt die Welt‘: Interview mit Thomas Hürlimann über die Voraussetzungen regionaler und mondialer Literatur, in: Weltwoche, 4. Oktober 1990, S. 89. Mit dieser Position und besonders auch seiner rhetorisch provokativen „herrischen Geste“ erntete Hürlimann viel Kritik, aber auch Zuspruch. 60 Hürlimann: Über das Unheimliche, S. 34. 61 Diese Zusammenhänge genauer darzustellen ist Teil eines größerern monographischen Projekts zu Thomas Hürlimanns Gesamtwerk, an dem ich arbeite.
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Jürgen Barkhoff
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Leere Herzen von Juli Zeh als eine philosophische Parabel Die Parabel Leere Herzen1 von Juli Zeh schildert eine Wirklichkeit, die sich unter der Schicht der medial vermittelten, kleinbürgerlich geprägten, „korrekten“ Normalität verbirgt und für den durchschnittlichen Konsumenten der Fernsehnachrichten unzugänglich ist. Nein, Juli Zeh ist keine Anhängerin der in der Corona-Zeit immer wieder aufblühenden Verschwörungstheorien, sie spielt nur mit der Möglichkeit, dass ein geheimes, sich in einer Plattenbausiedlung einer mittleren Stadt wie Braunschweig befindliches Büro die Geschicke der Republik und der Demokratie steuern könnte. Trotz diesem provokativen Ansatz ist Juli Zeh eine liberale Demokratin, die in ihrem durchaus ernst gemeinten und gemeinsam mit Ilija Trojanow verfassten Manifest Angriff auf die Freiheit einen militanten Liberaldemokratismus präsentiert, dessen Schlagworte, um nicht zu sagen Floskeln, alle Trumps, Kaczynskis, Orbans dieser Welt in den Abyssus der Nichtexistenz herunterstoßen. (Zu den wahren Tyrannen wie Putin schweigen sich die Autoren aus, aber die sind ja nicht unsere Sache, die bedrohen und überwachen uns ja nicht). Kein Grund zur Beunruhigung also. Alles geschieht zu Ihrem Besten. Der Staat passt auf Sie auf. Der Staat ist Ihr Vater und Ihr Beschützer. Er muß wissen, was seine Kinder treiben. Wenn Sie nichts Schlimmes verbergen, haben Sie auch nichts zu befürchten. Die Entscheidung aber, was schlimm ist, überlassen Sie bitte den Spezialisten. Bedenken Sie, dass Sie sich verdächtig machen, wenn Sie nicht alles offenlegen. Wenn Sie mitspielen, müssen Sie keine Angst haben. Wir sind nicht die Stasi oder das FBI. Sie leben in einer gesunden Demokratie. Da kann man schon ein bißchen Vertrauen von Ihnen erwarten. Was? Der Staat soll Ihnen vertrauen? Wo kämen wir da hin! Schon das Grundgesetz sagt, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Und Gewalt gilt es einzudämmen. Da sind Sie ja wohl einer Meinung mit dem Innenministerium. Gehen Sie nur, Ihr Schatten bleibt hier. Man hört, sieht und liest von Ihnen.2
Es handelt sich vielleicht um eine Nuance, aber der Artikel 20, Par. 2 der Verfassung der Bundesrepublik besagt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, und keinesfalls die Gewalt, die es „einzudämmen“ gilt. Bei der richtigen Lesung des Satzes von Zeh-Trojanow müßte man also feststellen, „dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Und Staatsgewalt gilt es einzudämmen“, das heißt, den 1 Zeh, Juli: Leere Herzen, München 2019. (Erstausgabe 2017). 2 Trojanow, Ilija, Zeh, Juli: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn. Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, München 2009, S. 3.
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Willen des Volkes brechen. Denn ich bin nicht allzu gerne bereit zu glauben, dass die beiden lupenreinen Demokraten sich für eine anarchistische Alternative aussprechen mit der Absicht, die Staatsgewalt in Frage zu stellen, gerade im Namen der bürgerlichen Freiheit, die durch den Staat zum Beispiel durch Verhöre bedroht wird? Oder doch? Bevor ich auf die abgründige Angst mancher Staatsgewaltfreunde, abgehört zu werden, näher eingehe, möchte ich das dystopische Problem des Buches Leere Herzen umreißen. Meine These lautet: In Leere Herzen werden Wirklichkeiten beschrieben, die in unserer Welt der 2020er Jahre durchaus anzutreffen sind, und die mit den möglichen Entwicklungen des individuellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens als eine der Zukunftsmöglichkeiten im Zusammenhang stehen können. Juli Zeh schreibt einerseits eine Satire auf die Wohlstandsphilister, um den politischen Zustand der Merkel-Republik zu umreißen. Das ist die reale Potentialität ihres Buches. Gleichzeitig aber spielt die Autorin die Rettung der Demokratie mit den Mitteln einer terroristischen Organisation durch, um zu beweisen, dass das demokratische Ziel jegliche undemokratischen Mittel heiligt, was umso schneller und auf die von der Erzählerin nicht beabsichtigte und akzeptierte Weise die bestehende Ordnung dem Zerfall preisgeben kann. 1.
(Klein)bürgerliche Idyllen
Das Idyll einer echten Demokratin ist der Gedanke der Menschenrechte, den sie militant als eine schwer erkämpfte Errungenschaft und als etwas darstellt, das ohne jedes Wenn und Aber anzunehmen und zu akzeptieren ist. In ihrem Manifest, das sie mit Ilija Trojanow verfasste, beschäftigt sie sich mit dem Thema Terrorismus, der vom allmächtigen Staat dazu benutzt wird, „Grundrechte abzubauen“, mit Terrorverdächtigungen die eigene Machtgier zu stillen, die Privatsphäre der mündigen Bürger abzuschaffen, durch die Verbreitung von Ängsten Bürger zu disziplinieren. Auf der einen Seite steht also der angeblich – man weiß nicht aus welchen Gründen – machtgierige Staat, der die Bürger bespitzelt, auf der anderen Seite stehen Menschen, die sich in ihrer Unangepasstheit auf die Grundrechte als auf einen „Abwehrschirm gegen staatliche Angriffe“ berufen und sich dem allmächtigen Moloch verweigern. Juli Zeh fing an, sehr undeutsch, gegen den Staat zu argumentieren. Sie scheint demokratisch zu sein und für Menschenrechte als eine konkrete Errungenschaft einzutreten, die sie mit der wohlgeschützten Privatsphäre des Menschen gleichsetzt. Und diese durch die ideelle Macht der Grundrechte geschützte Sphäre ist für sie und Trojanow eine echte Grundlage für die res publica, weil der Staat durch seine Angriffe, insbesondere im technischen Zeitalter einer computergesteuerten Information, die Gesellschaft geradezu atomisiert und
Leere Herzen von Juli Zeh als eine philosophische Parabel
sich selbst als eine integrative, d. h. gesellschaftsbildende Kraft inszeniert und durchsetzt. Das Hauptinstrument der Einschüchterung und der Beeinflussung ist die menschliche Angst, diesmal, also nach dem 11. September 2001, die Angst vor dem Terror. Der Staat verwaltet diese Angst mit Hilfe der öffentlichen Meinung, was ein Bündnis zwischen den Massenmedien und Politik bedeute und den Redakteuren ein Schwimmen im Fahrwasser der vorherrschenden Meinungen ermögliche. So sind, in Kürze dargestellt, die kritischen Hauptprämissen der Warnung der beiden Autoren vor der Unmündigkeit des Bürgers, der als angepasster Mensch lediglich an Einkäufen, Preissenkungen, Plastikkarten interessiert sei und die Gefahr einer umfassenden Bespitzelung nicht nur gering schätze, sondern sie sogar akzeptiere. Der kritische Impetus, der im Grunde ein gerade in den linken Eliten der Bundesrepublik mächtig anschwellender Antiamerikanismus ist, wird legitimiert durch den rhetorischen Rundumschlag gegen alle in Deutschland etablierten Parteien. Auch der Liebling aller Linksliberalen in Deutschland, Barak Obama, wird nicht verschont, kommt jedoch im Vergleich zum später in der deutschen Presse offen und mit allen Instrumenten einer hemmungslosen Propaganda diffamierten Donald Trump noch verhältnismäßig ungeschoren weg. Was ist also dieses Idyll des (Klein)Bürgers? Ganz bestimmt die stolzen Errungenschaften eines Systems, das einen beispiellosen Wohlstand und, gepaart mit der unzweifelhaften Wahrung der Grundrechte, eine über siebzigjährige europäische Friedenszeit sicherte, die in der Westhälfte des Kontinents gerade die Existenz dieses Idylls ermöglichte. Da fragt man sich, warum gerade der Staat, der diese Entwicklungen schlecht und recht garantierte, zu einer Quelle von immensen Gefahren avanciert, zu einer Kraft, die das Gemeinwesen nicht sichert, sondern durch die Verwaltung der Ängste und die allgemein um sich greifende Überwachung geradezu zerstört. Warum wird gerade Amerika, von dem die Bundesrepublik infolge eines blutigen Krieges dieses demokratische System übernehmen musste, zur Zielscheibe der Angriffe? Und noch eine weitere Frage, die ich in diesem Zusammenhang stellen möchte: Sind diese Angriffe auf den Staat nicht sehr deutsch, weil im Namen einer imaginierten Gemeinschaft geführt, die sich heute nicht als eine politische Gemeinschaft oder nationale Gemeinschaft legitimiert, sondern als eine Gemeinschaft derjenigen, die an der Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Sicherheit hängen und sich nach der sicheren, bescheidenen, wohl(an)ständigen Bundesrepublik sehnen, die als ein moralisches Imperium, als ein besseres Amerika die ganze Welt (ganz zu schweigen von ihnen Nachbarn) belehrt, was rechtens und was nicht rechtens sei? Eine weitere Frage ist: Bedeutet die Rede von dem allgegenwärtigen Lausch- und sonstigen Angriff nicht das Schüren der Ängste zwecks einer Machtsicherung? Einer ideellen und im Hintergrunde auch materiellen Macht der Gutmenschen, der Gutmeinenden, der Warner, die sich als einsame Stimme im Dickicht der
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terrorlüsternen Schergen hochstilisieren? Und im Grunde genommen Exponenten der veröffentlichten Meinung bleiben? Mit anderen Worten: Geht es dabei nicht um eine Neudefinition der eigenen intellektuellen Rolle im Sinne eines konservativen Rückgriffes auf die Errungenschaften von 1989? Fragen über Fragen. Weitere werde ich im Laufe meiner Betrachtung noch stellen.3 Und nun zur literarischen Wirklichkeit der angeblich dystopischen Fiktion im Roman Leere Herzen. Seit Juli Zehs hervorragendem Debüt Adler und Engel (2001), in dem es der Autorin gelang, menschlich erschütternde Dimensionen der jugoslawischen Katastrophe literarisch zu schildern, entsprechen ihre literarischen Wirklichkeiten immer mehr dem intellektuellen Zeitbedürfnis einer bestimmten, weil staatsbejahenden Bildungsschicht, die sich mit der veröffentlichten Meinung der ach so idealen Bundesrepublik unter der Maske einer „aufgeklärt kritischen Haltung“ identifiziert. So im als Schullektüre empfohlenen Roman Corpus Delicti, in dem sie den Terror der gesundheitsfördernden Maßnahmen anprangert und an den gerade jetzt, in der Corona-Zeit, zu erinnern ist, oder aber auch in Leere Herzen, wo sie ihren Terrorismus- und Überwachungsdiskurs, freilich unter anderen, ästhetischen Gesichtspunkten fortsetzt. Die Hauptperson ist Britta Söldner, die ein Büro, „eine Praxis“ – die „Brücke“ genannt – unterhält, die ihr offensichtlich das Leben auf einem hohen materiellen Niveau ermöglicht. Im Unterschied zu Zehs übrigen Büchern zielt hier die sprachliche Gestaltung der Erzählweise auf indirekte Diffamierung, indem das Kleibürgerliche fast bis zur Unerträglichkeit herausgestellt wird: so erscheint Britta „mit einer Tüte Geschrei auf dem Arm“4 beim Babyschwimmen, der Keller ist voll vom chilenischen Wein Jahrgang 2020 „den sie möge […] den Rioja mit Schleife am Hals werden sie bei Gelegenheit weiterverschenken“5 . Auf einen angeblichen Ausrutscher wie „Wie hellgelber Chiffon liegt das Licht auf
3 Auch in der Forschung wird die Frage nach dem Politikverständnis von Juli Zeh in ihrem fiktionalen Text gestellt: „Dass Zeh ihre poetologische Prämisse der Vieldeutigkeit (anstelle von eindeutiger Didaxe) in ihrer schriftstellerischen Praxis zuweilen selbst nicht gerecht wird, zeigt über diese Beteuerungen hinweg nicht zuletzt ihr Politthriller Leere Herzen (2017), in dem sie ‚so aufdringlich‘ Gesellschaftskritik betreibt, ‚dass man sich beim Lesen zuweilen fragt, ob man eigentlich ein Buch liest oder eine Moralpredigt gehalten bekommt‘.“ In: Liebert, Juliane: AhaErlebnis mit Fragezeichen. In Leere Herzen hat Juli Zeh die Gegenwart ins 2025 hochgerechnet – die Rechten und Big Data herrschen, in: Die Zeit, 23. November 2017, Nr. 48, S. 61, zit. nach: Meiser, Katharina: Dimensionen des Politischen in Poetikvorlesungen, in: Neuhaus, Stefan, Nover, Immanuel (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart, Berlin/Boston 2019, S. 173. 4 Zeh: Leere Herzen, S. 11. 5 Ebd., S. 10.
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den glatten Flächen der Möbel“6 hat man schon in den Rezensionen des Buches hingewiesen. Britta hält ihr Zuhause fast krankhaft sauber. Das Kind, Vera, muss selbstverständlich „ganz entspannt die übliche Silicon-Valley-Pädagogik“7 durchlaufen. Auch das Spielzeug und die von Anglizismen durchsetzte Sprache, in der es beschrieben wird, sind dem Wohlstandsphilistertum gemäß: „Die Mädchen sind völlig verliebt in Veras Mega-Mall, ein mehrstöckiges Plastikungetüm, das über WLAN, mehrere Displays und programmierbaren Soundtrack verfügt.“8 Die Lebensmittel im Kühlschrank werden „perfekt“ gelagert: „Vegetarische Würstchen, zwei Auberginen, drei Tomaten, eine Kanne Milch.“9 Britta ist ganz nach Geschmack der seelenlos-erfolgreichen Frauen in amerikanischen Romantic Commedies gekleidet: „dazu Oberteile, denen nur ein Kenner ansieht, was sie gekostet haben“10 . Die Architektur ihres Hauses ist „frei von Zweifeln“11 , die widerliche Manier der Wortdehnung bei „O-kaayyy“12 wird wiedergegeben und kommentiert, ganz zu schweigen von den ehemals zur Genüge ausgelachten Unworten wie zum Beispiel „Kollateralschaden“13 . Alles in allem ist die, insbesondere im ersten Kapitel angewandte Erzählweise eine sprachliche Stilisierung, die in satirischer Absicht das Philistertum der neureichen Kleinbürger wiedergeben soll. In schroffem Gegensatz zu Britta und ihrem Ehemann Richard stehen Knut und Janina: er ein erfolgloser Dramaturg ohne feste Anstellung, sie eine romantisch gekleidete und frisierte Frau, die ein „Start-Up namens Schreibmaschine“ entwickeln will, allerdings die richtigen Kunden nicht finden kann; ihr Kind genießt eine musische Erziehung. Auch das Haus, das Knut und Janina kaufen wollen, steht im schroffen Gegensatz zum Braunschweiger Betonklotz Brittas: „Wahrscheinlich mit Holzöfen und Strohmatratzen, und wenn du warmes Wasser willst, stellst du einen Kessel aufs Feuer.“ Und was am schlimmsten für Britta sein müßte: „Unmöglich zu reinigen, weil ständig Staub von der Decke rieselt.“14 Diese äußerst philisterhafte Gestalt Brittas erfüllt alle Klischees, die es seit Sternheims Puchnern gibt: politische Gelichgültigkeit, dubiose Geschäftigkeit im Dunklen, äußerste Anpassungsfähigkeit an den angeblich modernen 6 Ebd., S. 9. Man kann noch ein Beispiel der bewusst kitschigen Sprache aus dem Anfang des zweiten Kapitels, in dem sich der Duktus wesentlich ändert, hinzufügen: „strahlend, blank geputzter Himmel“, Ebd., S. 29. 7 Ebd., S. 12. 8 Ebd., S. 11f. 9 Ebd., S. 12. 10 Ebd., S. 13. 11 Ebd., S. 14. 12 Ebd., S. 15. 13 „Kollateralschaden“ war das Unwort des Jahres 1999. Richard gebraucht auch das Lieblingswort der letzten zwei Jahre, „postfaktisch“, Ebd., S. 20. 14 Ebd., S. 15.
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Lebensstil, innere Brutalität bei der Bewahrung des äußeren Scheins einer liebenswürdigen, obwohl unterkühlten Geschäftsfrau. Britta ist auch eine Frau, die „leere Köpfe“ hasst: „Britta hat große Lust auf die Wahrheit“15 , „sie haßt Wörter wie ,postfaktisch‘ […], die ,leeren Köpfen‘ das Gefühl von politischer Analyse […] vermitteln“16 . Dieser Typus, den man in medialer Wirklichkeit und in den wirklichen Medien leicht antreffen kann, manchmal als das gehobene Bürgertum apostrophiert, wird von Juli Zeh sehr treffend wiedergegeben. Das größte Manko, das solche Menschen wie Britta aufweisen, sind nicht so sehr „leere Köpfe“, sondern vor allem, dem Titel gemäß, „leere Herzen“. Auch der Gegenpol, die Familie von Knut und Janina, widerspiegelt durch ihren ebenfalls treffend wiedergegebenen Habitus das moderne und ebenfalls für die Bundesrepublik der Nach-Merkel Zeit charakteristische Prekariat. Die beiden Flügel des Bürgertums haben bereits einen Verrat an den demokratischen Werten begangen und zwar durch ihr Desinteresse an der politischen Entwicklung, die zu dem Punkt geführt hat, wo sich keine politischen Wahlmöglichkeiten mehr bieten. Es gibt in den dunklen Erinnerungen Brittas ein „Damals“. Damals hat sie die Frage, wen man wählen soll, noch mit anderen diskutiert; heute, nach den gebündelten Übeln dieser Welt – „Flüchtlingskrise, Brexit und Trump, lange vor der zweiten Finanzkrise und dem rasanten Aufstieg der BesorgteBürger-Bewegung“17 – fühlt sie sich von diesen Fragen suspendiert, was sie sich vor sich selbst ekeln lässt. Mit einem Wort: Sie erinnerte sich dunkel an die Zeit, als die Welt nach der Ära der durch Mauer und Atombombe machtgeschützten Innerlichkeit die Bundesrepublik der 90er Jahre hervorbrachte, in der das Gefühl des Stehens auf der richtigen, demokratischen Siegerseite vorherrschte; die prognostizierte, böse Bundesrepublik des Jahres 2025, in den Strudel der Geschichte gerissen, im Großen und Ganzen zur Selbständigkeit und Mündigkeit gezwungen, scheint dagegen ein Überwachungsstaat zu sein, in dem antidemokratische Mächte das Oberwasser gewinnen und die Überreste des weiland demokratischen und föderalistischen Systems abschaffen. Juli Zeh verkompliziert allerdings diese scheinbar plakative Vision18 , indem sie ihre Hauptfigur in einer Welt agieren lässt, in der es darauf ankommt, 15 16 17 18
Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 19. Siehe: Thör, Jacqueline: Gibt es noch Hoffnung in Dunkeldeutschland?, in: Die Zeit, 14. November 2017. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-11/leere-herzen-juli-zeh-politthrillernationalismus-europa, letzter Zugriff: 15. Mai 2020: „Warum nehmen Nationalismus und Extremismus immer weiter zu? Juli Zehs neuer Roman liefert uns klare Antworten: Nicht die Wähler populistischer Parteien sind schuld an der zunehmenden Radikalisierung, die man innerhalb der EU-Staaten beobachten kann. Schuld sind die Demokraten. Schuld sind die, die ihrer Wut entfliehen, indem sie sich in Gleichgültigkeit flüchten. Schuld sind die prinzipienlosen Bürger, die – falls sie sich zwischen ihrer Waschmaschine und ihrem Wahl-
Leere Herzen von Juli Zeh als eine philosophische Parabel
die Möglichkeiten einer allumfassenden Überwachungsstrategien des Staates geradezu zu überbieten. Britta hat dafür ihre Gründe im Motivationsgeflecht des Romans, kurz: Sie zieht sich mit ihren Mitarbeitern in eben das Haus, das die romantisch angehauchte Prekariats-Familie zu kaufen beabsichtigt, zurück. Es handelt sich dabei um ein gedankliches und ästhetisches Experiment. Es wird nämlich die Frage aufgeworfen: Welches sind die Möglichkeiten, eine in ihrer Modernität und Widersprüchlichkeit hochkomplexe Welt zu schildern, aber auch das Gegenteil davon: Welches sind die Möglichkeiten einer literarischen Fluchtsituation, die sich von den Zwängen der Modernität frei macht, ohne in einem der Extreme stecken zu bleiben? Unterlag in dem eingangs erwähnten Buch von Zeh und Trojanow die Überwachungsgesellschaft einer umfassenden, expliziten (was durch die Textgattung eines Pamphlets mitbedingt wurde) und gegen den Staat als solchen zielenden Kritik, mit der die Autoren in der Tradition der staatskritischen deutschen Literatur stehen, so ändert sich die Lage in Leere Herzen grundsätzlich. Nicht der Staat steht hier im Zentrum eines polemischen Angriffes, sondern seine Bürger werden durch zwei präzise umrissene Haltungen charakterisiert und mit den Möglichkeiten eines Wiederaufbaus der zwischenmenschlichen Beziehungen, also der res publica konfrontiert. Der Text ist in seiner weltanschaulichen und ästhetischen Struktur sehr deutsch. Deutsch nicht deshalb, weil der (durch Britta) postulierte Weg zur Wiederherstellung des Staates, der die Grundrechte garantiert, nur über freie Wahlen, und nicht über Staatsstreiche oder Attentate führen kann. Seine deutsche Verwurzelung sehe ich vielmehr in dem, was merkwürdigerweise ziemlich oft übergangen oder nur wenig gewürdigt wird, ich meine hier die Erzählerin Juli Zehs, die sich in Leere Herzen und in ziemlich vielen anderen Romanen19 als eine fleißige Leserin Friedrich Schillers zeigt und ihre Zeitdiagnosen aus den ästhetischen Überlegungen schöpft, die recht entscheiden müssten – ihre Waschmaschine wählen würden.“ Ich möchte hier keine Polemik gegen die Meinungen des Rezensenten vom Zaume reißen, würde aber gerne die Selbstbekenntnisse Brittas (zwei an der Zahl), in denen sie Menschen kritisiert, die sich nicht engagieren und keine Nachrichten lesen: „während meine Freundin ihr Wahlrecht im Geiste gegen eine Waschmaschine eingetauscht hat“ (S. 324) als rhetorische Argumentation innerhalb eines ästhetischen Ganzen lesen und nicht isoliert als ein Glaubensbekenntnis der Autorin. Die Argumentation ist bedeutend für die Indoktrination Juliettas, die als Selbstmörderin demokratische Grundprinzipien militant verteidigen soll. Britta macht in diesem Fall kühl kalkulierend ihren Job und fällt mit ihren Bekenntnissen durchaus nicht aus dem Rahmen der konsequent erzählten Geschichte. 19 Das markanteste und selbstverständlichste Beispiel ist der Roman Spieltrieb (2004). Siehe dazu: Weiß, Gabriele: Spieltrieb. Spiel zwischen „Treiben lassen“ und „strategischem Antrieb“. Differenzen bei Friedrich Schiller und Juli Zeh, in: Heinze, Carsten, Witte, Egbert, Rieger-Ladich, Markus (Hg.): „was den Menschen antreibt“. Studien zu Subjektbildung, Regierungspraktiken und Pädagogisierungsformen, Oberhausen 2016, S. 103‒116.
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Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes (1795) formulierte. Der heutige Staat, in dem die Grundrechte abgebaut werden, beginnt zum „Staat der Not“ zu werden. Wann wird er wieder zum „Staat der Freiheit“? Es geschieht, wenn man die Totalität des Charakters des Volkes wiederherstellt, d. h. wenn die Naturtriebe mit den Vernunfttrieben ein harmonisches Ganzes bilden.20 Es lässt sich nicht leugnen, dass die zutiefst unglückliche und amoralische Britta, die ihre Abneigung gegen „die chaotische Verfasstheit der Natur“21 durch einen paranoiden Sauberkeitszwang manifestiert, fast genau die Erscheinung derjenigen kultivierten „Depravation“ widerspiegelt, die Schiller in seinem fünften Brief schildert: „Mitten im Schoße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft.“22 Sind für die sich aufgeklärt wähnende Britta die Köpfe leer, so postuliert Schiller einen Weg, der von den Köpfen zu den Herzen führt: „Aufklährung der Begriffe kann es allein nicht ausrichten, denn von dem Kopf ist noch ein gar weiter Weg zu dem Herzen, und bey weitem der größere Theil der Menschen wird durch Empfindungen zum Handeln bestimmt.“23 Der „Abstraktionsgeist“ verzehrt oft „das Feuer“, „an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen“, der abstrakte Denker hat oft ein „kaltes Herz“24 , „der Geschäftsmann“ hat ein „enges Herz“25 , die Trägheit der Natur gepaart mit Feigheit des Herzens sind wahre Hindernisse der Aufklärung. Das Titelwort „leere Herzen“ betrifft somit alle Protagonisten nicht nur als fingiertes Zitat einer fingierten Sängerin Molly Richter aus dem Jahre 2025, sondern als Formel der Entemotionalisierung aus dem Bereich der deutschen idealistischen Philosophie. Der Gegenpol zu der rationalistisch trainierten Britta ist Janina, die ihr Leben in einer Naivität26 meistert, die bei Britta eine gewisse, durch den Rationalisierungszwang allerdings gehemmte Bewunderung erweckt: „Janina versteht, sich 20 Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20, Philosophische Schriften, Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 318. 21 Zeh: Leere Herzen, S. 175. Die Natur entzieht sich nicht nur durch ihr Chaos des Ordnungswahns von Britta, sie entzieht sich ihr auch durch Gleichgültigkeit und vor allem durch die Notwendigkeit des Todes, den Britta zu verwalten sucht: „Das ist die Natur, denkt Britta, sie macht einfach immer weiter […]. Würde Britta mit einem Schlag tot zu Boden sinken, wäre das den Spatzen höchstens ein kurzes, erstaunliches Innehalten wert […].“ (S. 247). 22 Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung, S. 320. 23 Ebd., S. 332. 24 Ebd., S. 325. 25 Ebd., S. 326. 26 Ich möchte damit keineswegs behaupten, dass Juli Zeh steif nach den von Schiller geprägten Unterscheidungen (etwa in naiv und sentimentalistisch) arbeitet, obwohl sie eine Konstante
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einzurichten, in ihren Kleidern und Frisuren, in ihrer winzigen Wohnung, in ihrer Familie und ihren Mädchenträumen.“27 Kein Wunder auch, dass es zur Konfrontation mit der Natur (die in Brittas Welt durch den polierten Beton ersetzt wurde) auf dem Lande kommt, und zwar in dem Haus, das Janina und Knut mit Brittas Geldanleihe kaufen sollen. Der Einzug in die tiefste Provinz ist gleichzeitig eine Flucht von der Überwachungsstrategien des Staates, die auch Britta in ihrem Geschäftsmodell mit Hilfe von Babak Hamwi und einer enorm ausgestatteten Suchmaschine namens Lassie wie selbstverständlich anwendet.28 Die Flucht aufs Land antwortet somit auf die Frage, ob es überhaupt möglich und verantwortlich ist, sich der sozialen Wirklichkeit zu entziehen, fast alle Menschenbindungen zu zerschneiden, um in einer ungestört heilen Welt ein eskapistisches Dasein zu führen. Zehs Roman Unterleuten hatte diese Frage sehr eindringlich verneint: Das Dorf wird gerade durch die inzuchtartige Selbstaufopferung Gombrowskis, der auf falschem Wege eine Dorfgemeinschaft erneuern will, fast vergiftet. Leere Herzen tut dies ebenfalls: Der Rückzug in das verwahrloste Haus ist für die klar denkende Britta keinesfalls eine romantische Flucht, sondern eine Kampfhandlung, in der sie ihre Idiosynkrasien gegen den Schmutz überwindet, Gefangene nimmt und foltert, das Attentat zwecks Rettung der Demokratie vorbereitet, also nach wie vor den Tod zu verwalten sucht und verwaltet. 2.
Verwaltung des Todes
Britta beschäftigt sich als „Berufstherapeutin“ mit der Verwaltung des Todes, indem sie Selbstmörder an diejenigen Institutionen und Bewegungen vermittelt, die den in unserer Moderne fehlenden Opfertod mit Hilfe von Selbstmördern inszenieren, um ihre durchaus praktischen Zwecke zu erreichen. Als Leserin von Dostojewski Dämonen weiß Britta, welche Macht der Freitod demjenigen verleiht, der ihn begeht: Dort sagt Kiryllow nämlich zur Erzählerfigur: „Wer sich aber das Leben nimmt, nur um die Furcht zu töten, der wird sogleich zum Gott werden.“29 Zu Julietta sagt Britta ganz im Geiste von Kiryllow: „So ein
in der deutschen Kulturgeschichte bilden und deshalb sie auch, schöpferisch umgestaltet, in dem Roman zu finden sind. 27 Zeh: Leere Herzen, S. 13. 28 Siehe ebd. S. 53: „Lassie ist nicht die Google-Suche, aber auf ihrem Gebiet einsame Spitze. Sie fühlt sich nicht nur im Visible Web, sondern auch im Darknet zu Hause.“ 29 Dostojewski, Fiodor M.: Die Teufel. Roman in zwei Teilen. Vollständige Ausgabe einschließlich des bis zum Jahre 1922 unveröffentlicht gebliebenen Kapitels: Die Beichte Stawrogins, übersetzt von Marianne Kegel, Leipzig o. J., Bd. I, S. 157.
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Selbstmord gibt dir unglaubliche Macht.“30 Kiryllow schwärmt von der Liquidierung Gottes und von einem neuen Menschen, der seine Furcht überwindet und glaubt, dass auf Grund dieser Überwindung nicht ein neuer Mensch, sondern auch eine neue Gemeinschaft möglich wäre. Diese Meinung wird vom Erzähler als Wahnsinn abgetan. Britta ist aber keineswegs verrückt, und das äußerst lukrative Geschäft mit der Selbstmörderklientel macht sogar einen kleineren Teil ihrer Tätigkeit aus, die sie ja umsonst erledigt: „Die Rettung von potenziellen Selbstmördern macht mit Abstand den größten Teil ihrer Tätigkeit aus“ und erfüllt sie mit der Überzeugung, dass sie „viel Gutes“31 tut. Julietta spielt in der Konstellation die Rolle eines Opfers, jene Rolle, die in der liberalen Welt, welche den Tod als Notwendigkeit (wie überhaupt jede Notwendigkeit) leugnet und verdrängt, am schwersten zu imaginieren ist. Die bittere Diagnose des Buches erreicht in dieser Hinsicht ihren vernichtenden Höhepunkt: nur die Selbstmörder sind noch imstande, sich für etwas zu opfern, wofür man in den letzten 200 Jahren ungeheure Opfer dargebracht hatte: die Demokratie und ihre Grundwerte32 . 3.
Verteidigung der demokratischen Grundwerte?
Die Rolle, die Britta Söldner, eine kalte Geschäftsfrau mit sehr militantem Namen, in diesem Buche spielt, ist sehr widerspruchsvoll, genau wie der anscheinend plausible Gedanke des Pamphlets Angriff auf die Freiheit von Zeh und Trojanow: Wir leben sehr wohl in einer Überwachungsgesellschaft, der Staat verwaltet sehr wohl unsere Bedrohungsgefühle, die übrigens nach Brittas Einschätzung jede „Gesellschaft braucht“33 . Und auch der Hauptpunkt der Diagnose, dass unsere Herzen „leer“ sind, d. h. dass wir den Weg vom Herzen in die Köpfe nicht finden können, ist durchaus plausibel. Dass es eine Republik 30 Zeh: Leere Herzen, S. 66. 31 Zur Problematik des Selbstmordes in der Kultur empfehle ich dringend den Aufsatz des polnischen Schriftstellers und Polonisten Chwin, Stefan: Die Romantik und das Recht auf den eigenen Tod, in: Gall, Alfred, Grob, Thomas, Lawaty, Andreas, Ritz, German (Hg.): Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive, Wiesbaden 2007 S. 195‒217. Britta macht Geschäfte mit dem „altruistischen Mord“, der nach Terminologie und Typologie von Emile Durkheim, die Chwin übernimmt, „höhere“, also gemeinschaftsstiftende Ziele verwirklichen soll. Auch in Chwins vielgelobten Roman Hanemann (deutsch: Der Tod in Danzig) spielen die Selbstmorde von Kleist und von Witkacy eine paradigmatisch-kulturstiftende Rolle. 32 Am Rande sei nur erwähnt, dass sich die Heldinnen und Helden von Juli Zeh aus Ekel vor der zutiefst verdorbenen Welt, die nicht imstande ist, einen „moralischen Menschen“ im Sinne Schillers hervorzubringen, vom Leben verabschieden. 33 Zeh: Leere Herzen, S. 72.
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gibt mit Republikanern, die keinesfalls bereit sind, Opfer für das angeblich einzig gerechte System zu erbringen, ist traurig. Man kann sich aber die Frage stellen, ob der Roman der komplexen Wirklichkeit unserer Zeit gerecht wird. Von dem Pamphlet unterscheidet sich der Roman dadurch, dass er diese Widersprüche offenbart. Er zeigt, dass die Überwachungsinstrumente nicht nur Eigentum des Staates, sondern sehr wohl auch privater Firmen sind und dass eine rigorose Durchrationalisierung der Wirklichkeit die „Entleerung der Herzen“ mitverursacht, womit die Gegenmaßnahme in unsere Hände gelegt ist, was dem schillerschen Postulat der Erziehung des Menschengeschlechtes durchaus entspricht – erst durch die Menschen wird der aufgeklärte Staat gegründet. Der Roman zeigt außerdem, dass die Moderne menschliche Instinkte beschneidet und verwaltet, sie nicht duldet, sondern durch die Maschine der Effizienz zügelt. Es ist auch charakteristisch, dass die kritisch erwähnte BBB-Partei (Besorgte-Bürger-Bewegung) nicht nationalistische oder identitäre Züge trägt, was ihre Gleichstellung mit der AfD kaum zulässt, sondern sich eher umgekehrt bei der Abschaffung der demokratischen Institutionen auf die Effizienz beruft. Die Menschen sind demnach also bereit, für den Wohlstand auf demokratische Errungenschaften zu verzichten, obwohl gerade diese teuren Errungenschaften und Institutionen den Wohlstand zumindest in Europa und Nordamerika sichern. Juli Zehs Satire, die mit den Mitteln einer Parabel arbeitet – davon zeugt eine ziemlich rigorose und ästhetisch gelungene Symmetrie der Figuren, der Situationen, der Zeiten und der Räume34 – ist keine Dystopie, die den angeblich vollkommenen Zustand der Demokratie in der real existierenden Bundesrepublik noch stärker hervortreten lässt. Denn man könnte sagen: diese Wirklichkeiten gibt es heute schon, wo vor dem Hintergrund einer Welt, die bestehende Probleme eher verharmlost als zuspitzt, mit antidemokratischen Mitteln die Demokratie „gerettet“ wird. In seiner schillerschen Bezogenheit auf den Einzelnen ist das Werk durchaus gelungen – nach dem durch die Autorin formulierten Motto: „Da. So seid ihr“.
34 Deshalb vielleicht betont die kritische Rezensentin in der „Kleinen Zeitung“, dass das Buch eine „kluge Konstruktion, aber eine blutleere Erzählung“ sei. Vgl. Anonym: Selbstmord als Zukunftsmarkt: Leere Herzen von Juli Zeh, in: https://www.kleinezeitung.at/kultur/buecher/ 5323912/Kritik_Selbstmord-als-Zukunftsmarkt_Leere-Herzen-von-Juli-Zeh, letzter Zugriff: 15. Mai 2020.
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Literaturverzeichnis Anonym: Selbstmord als Zukunftsmarkt: Leere Herzen von Juli Zeh, in: https:// www.kleinezeitung.at/kultur/buecher/5323912/Kritik_Selbstmord-alsZukunftsmarkt_Leere-Herzen-von-Juli-Zeh, letzter Zugriff: 15. Mai 2020. Chwin, Stefan: Die Romantik und das Recht auf den eigenen Tod, in: Gall, Alfred, Grob, Thomas, Lawaty, Andreas, Ritz, German (Hg.): Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive, Wiesbaden 2007, S. 195‒217. Dostojewski, Fiodor M.: Die Teufel. Roman in zwei Teilen. Vollständige Ausgabe einschließlich des bis zum Jahre 1922 unveröffentlicht gebliebenen Kapitels: Die Beichte Stawrogins, übersetzt von Marianne Kegel. Leipzig o. J., Bd. 1. Meiser, Katharina: Dimensionen des Politischen in Poetikvorlesungen, in: Neuhaus, Stefan, Nover, Immanuel (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart, Berlin/Boston 2019. Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band. Philosophische Schriften, Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962. Thör, Jacqueline: Gibt es noch Hoffnung in Dunkeldeutschland?, in: Die Zeit, 14. November 2017, https://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-11/leere-herzenjuli-zeh-politthriller-nationalismus-europa, letzter Zugriff: 15. Mai 2020. Trojanow, Ilija, Zeh, Juli: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn. Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, München 2009. Weiß, Gabriele: Spieltrieb. Spiel zwischen „Treiben lassen“ und „strategischem Antrieb“. Differenzen bei Friedrich Schiller und Juli Zeh, in: Heinze, Carsten, Witte, Egbert, Rieger-Ladich, Markus (Hg.): „was den Menschen antreibt“. Studien zu Subjektbildung, Regierungspraktiken und Pädagogisierungsformen, Oberhausen 2016, S. 103‒116. Zeh, Juli: Leere Herzen, München 2019, (Erstausgabe 2017).
Elias Zimmermann (Université de Lausanne)
Kannibalische res publica Werner Schwabs ÜBERGEWICHT und die Gewalt der Demokratie
Man muß im Leben immer solidarisch sein mit dem ganzen Lebensgebilde, einfach mit allem, was lebensförmig ausschaut, und einfach keinen Unterschied einreißen lassen zwischen den Lebewesen. […] Wissen Sie, Herr Schweindi, bisweilen tritt meine Person einfach an einen schlichten Würstelstand heran und ißt mit den wirklich nur sogenannten einfachen Menschen ein gutes und bloß vermeintlich ordinäres Würstchen. Freilich weiß ich, daß so eine Wurst für einen geistig arbeitenden Menschen keine gesunde Nahrung darstellen kann […]. Aber man muß den Symbolwert so einer Wurst sich rechnen lassen können. Das Würstel als Metapher für eine kulturelle Solidarität, wissen Sie, als billiger massenhafter Zugang zum tierischen Eiweiß.1
Werner Schwabs Drama ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM. Ein europäisches Abendmahl stellt die Frage nach der Solidarität einer Gemeinschaft, deren historische und soziale Position von einer radikalen, fortschreitenden Entsolidarisierung betroffen ist. Es ist 1991, zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, das Jahr, in welchem sich die UDSSR definitiv auflöst, der Moment des finalen Triumphes des westlichen Machtblocks. Jugoslawien bricht auseinander und österreichische Truppen werden an die Grenze verlegt, Schwabs groteske Figuren erleben auf der Bühne des Schauspielhauses Wien ihre Erstaufführung, sie streiten und schlagen sich, bis sie sich töten und verschlingen. Die Protagonisten von ÜBERGEWICHT, wie das Stück im Folgenden der Einfachheit halber genannt wird, wähnen sich in der Mitte einer bürgerlichen Gesellschaft und sind doch keine Nutznießer des Siegs über den Sozialismus, der nur durch die Abwesenheit gesellschaftlicher Alternativen im Drama präsent ist. In einem Gasthof hat sich eine Gruppe von Verlierern zusammengefunden, die sich ihre prekäre Stellung nicht eingestehen wollen: Jürgen, ein eingebildeter Sozialwissenschaftler, doch eigentlich nur Primarschullehrer; Fotzi, eine alternde, obszöne Matrone; Karli, ein Prolet, der seine Freundin Herta misshandelt und diese selbst, eine verbrauchte Schönheit am Rande des Zusammenbruchs. Das kleinbürgerliche Ehepaar namens Hasi und Schweindi spielt Familie, doch macht seine Pädophilie ihren Kinderwunsch zunichte. Über allen thront die Wirtin, bemüht, das soziale Gleichgewicht herzustellen und den Marktgesetzen 1 Schwab, Werner: ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM. Ein europäisches Abendmahl, in: Ders.: Fäkaliendramen, Graz/Wien 2007, S. 59–120, hier S. 65.
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– den einzigen Gesetzen, die hier noch herrschen – Genüge zu tun: „Ich führe mein Regiment, das denen gehört, die bei mir eine Gesellschaft kaufen. […] Eine Gastwirtschaft befreit die Welt von einer falschen Einsamkeit ihrer Bestandteile.“2 Diese Einsamkeit kann durch den ‚freien Markt‘ gelindert werden, der sich zurecht als Verbrechen äußere: Aber ein Verbrechen ist kein richtiges Verbrechen mehr, wenn man friedlich neben einem Verbrechen sitzt und wenn das Verbrechen von einem Kerzenlicht beleuchtet wird. Alle Menschen sind Verbrecher. […] Ein Verbrechen ist ja nichts Schlechtes, man muß nur wissen, was man aus einem Verbrechen machen kann, ein Verbrechen ist der freie Markt im Menschen, darum habe ich immer einen ganzen Haufen Kerzen eingesteckt.3
So schreitet die Tischgesellschaft zur Tat und verübt ein Verbrechen, das kein richtiges Verbrechen sein will, weil es nur auf ein inneres Ungleichgewicht von affektivem Angebot und triebgesteuerter Nachfrage reagiert. Ein schönes und reiches Liebespaar am Nebentisch wird belästigt, kollektiv vergewaltigt, geschlachtet und an Ort und Stelle noch roh und blutig aufgefressen. Danach tritt Trübsal ein, man beschuldigt sich gegenseitig des Übermaßes, erinnert sich daran, dass sich Ähnliches jede Woche einmal im Gasthof abspielt und tröstet sich schließlich damit, dass ganz Europa ein Hort der Verbrechen ist, war und sein wird. Gemeinsam meditieren sie über eine Vision Jürgens, der „ein von Menschen befreites Land“4 beschreibt und damit das radikalste aller Verbrechen, die Auslöschung der Menschen selbst erträumt. In ihr leben sie fort, nun eins mit der Natur: „Einmal sind Herr Schweindi und die Frau Hasi ein Schwarm Saatkrähen, dann ein reifes Tollkirschenunterholz […].“5 Diese Phantasie einer ‚rettenden‘ Entmenschlichung und Naturalisierung wird durch einen kurzen, epiloghaften dritten Akt konterkariert, in dem das Geschehen vor die kannibalische Szene zurückspringt und sich konträr entwickelt: Anstatt gefressen zu werden, macht sich das ‚schöne Paar‘ nun über die „traurige Gesellschaft“6 lustig. Diese ist ein ‚gefundenes Fressen‘ für den Standesdünkel des Paars und so ‚verleiben‘ sie sich die ‚Untermenschen‘ nun – freilich nur noch metaphorisch – ihrerseits ein.7 Als den Privilegierten die
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Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 119. Vgl. Campanile, Anne: ‚Die Diskurse kommen und gehen, der Appetit bleibt!‘ Kannibalismus im Theater der Nachkriegszeit: George Tabori, Werner Schwab, Libuse Monikova, Heiner Müller, in: Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, hg. von Daniel Fulda und Walter Pape, Freiburg i. Br. 2001 (= Reihe Litterae 70), S. 445–481, hier S. 462.
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„geile Show“8 der Tischgesellschaft zu viel wird, lassen sie diese in Tränen zurück. Die gewalttätigen Affekte von Schweindi, Hasi und Co. richten sich nunmehr in Selbstanklagen gegen sich; das große, einigende Vergehen ist ein uneingelöstes Versprechen. Unabhängig davon, ob man das kannibalische Geschehen rückwirkend als Imagination oder als tatsächliches, aber ungeschehen gemachtes Vorkommnis liest, bleibt es weitgehend wirkungslos. Denn auch ein realer Kannibalismus scheint angesichts der im letzten Akt vollends augenscheinlich gewordenen Entsolidarisierung der Tischgesellschaft keine Erlösung zu bringen, so oft die Schlachtung auch realiter oder im Geiste wiederholt wird. ÜBERGEWICHT reflektiert 1991 nicht nur die verdrängte europäische und spezifisch österreichische Vergangenheit nationalistischer und nationalsozialistischer Verbrechen, sondern auch eine anbrechende soziale Restrukturierung im Zeichen liberaler Märkte. Das europäische Abendmahl, das der Untertitel ankündigt, findet in mehrfacher Hinsicht statt: als groteske Apotheose der europäischen Wertegemeinschaft, als geteiltes Opfer und gemeinsame Sühne im Sinne religiöser Heilsversprechen und als perverse Ritualisierung marktwirtschaftlicher Prozesse. Der Titel ÜBERGEWICHT spielt auf ein Bild Europas an, das sich an seinen eigenen Idealen überfressen hat. Versatzstücke der Aufklärung werden als Selbstverständlichkeiten vor sich hergetragen, durchgekaut und ausgespien. So proklamiert der vermeintliche Intellektuelle Jürgen noch kurz vor dem kannibalischen Exzess: „Man muß eine freiheitliche Seelenlandschaft in seinen Innenraum hineinaquellieren. Die Menschenwürde in einem Menschen muß man einfach anerkennen wie die tägliche Wetterlage, dann kann man nicht verstoßen gegen sie.“9 Diese Solidarität, die auf der Anerkennung der Menschenwürde basieren soll, drückt sich für Jürgen bezeichnenderweise in nichts so treffend aus wie im „bloß vermeintlich ordinäre[n] Würstchen“. In Europa um 1990 kann sie nur eine vermeintliche Solidarität von Vielfraßen sein, die sich als Schlächter gerieren und jederzeit auch übereinander herfallen. Das Abendmahl als Akt abendländischer Gemeinschaftsbildung ist hier zwangsläufig ein kannibalischer, aber zur echten Gemeinschaftsbildung untauglicher Akt geworden. 1.
Genealogie der kannibalischen Republik
Diese ganz wörtlich beißende Gesellschaftskritik Werner Schwabs erübrigt sich nicht in ihrer Zeitzeugenschaft, mag das Stück auch zurecht als Abgesangs auf die neue Alternativlosigkeit liberaler und nationaler Ideologie und die 8 Schwab: Übergewicht, S. 118. 9 Ebd., S. 69.
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schwindende Verbindlichkeit einer lächerlich gewordenen Bürgerlichkeit gelesen werden. Der symbolisch derart mehrdeutige Kannibalismus im Zentrum des Stückes steht darüber hinaus mit einer älteren und grundlegenderen Problematik im Zusammenhang: Der Imagination eines kannibalischen Volkswillens, einer dadurch kannibalischen Demokratie und Republik, ja letztlich einer Imagination der res publica, des öffentlichen Gegenstands selbst als menschliches Leben, als Menschenfleisch – oder um es mit Jürgen zu sagen – als „Würstchen“, dessen Konsum Individuen zur Gemeinschaft zusammenschließt. Das politische Imaginäre einer solchen kannibalischen Gewalt der Vergesellschaftung äußert sich nicht zufällig in historischen Umbruchsmomenten wie 1991 am radikalsten. Der Topos wird dabei nicht nur aktualisiert, sondern reformuliert und im Kontext oder im Widerspruch zu hegemonialen Diskursen neu gedeutet. Will man ÜBERGEWICHT mithin als eine solche Deutung verstehen, so muss die Position des Stückes in einer Diskursgeschichte der kannibalischen Demokratie verortet werden. 1.1 Antike Mythologie Die Anfänge einer solchen setzen wie die Ideengeschichte der Demokratie selbst in der Antike beziehungsweise noch etwas früher ein. Der Altphilologe Walter Burkert betont die gesellschaftlich wirkungsvolle Paradoxie eines imaginären Kannibalismus im archaischen Griechenland, wo das Essen von Menschenfleisch einerseits tabuisiert, andererseits stellvertretend an Tieren rituell vollstreckt wird.10 Das Tier – und Burkert denkt hier zweifellos an das Totemtier und seine Interpretation bei Freud – sei dem frühen Menschen noch ein ‚Bruder‘ gewesen, seine notwendige Tötung machte ihn darum schuldig. Im religiösen Opfer der anbrechenden Antike werde diese Schuld immer von neuem heraufbeschworen und verarbeitet. In der gemeinschaftlichen Jagd, so Burkert, fand der erste Schritt zur Aufgabenteilung und Solidarisierung statt, die gewalttätige Schuldigkeit ist darum das sine qua non, unter welchem weiterhin gesellschaftliche Solidarität stehen wird. Auch wenn Burkerts anthropologische Erzählung vom ursprünglichen Jagdmenschen, der bis heute ‚in uns‘ überlebt hat, selbst als bürgerlicher Mythos hinterfragt werden muss,11 hat seine genaue Analyse altgriechischer Mythen, Rituale und Feste trotzdem Geltung. Ihr Verhältnis von Beschreibung und Gegenstand muss jedoch umgedreht werden. Die Mythen des Kannibalen 10 Vgl. Burkert, Walter: Homo necans: Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin u. a. 1972, S. 28–29. 11 Zum Problem vermeintlicher anthropologischer Wahrheiten über einen ‚ursprünglichen‘ und deshalb ewigen Menschen vgl. z. B. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, übers. v. Horst Brühmann, Berlin 2012, S. 292.
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beschreiben keine anthropologische Wahrheit, sondern imaginieren auf apodiktische Weise, was die Ursprünge der Menschengemeinschaft und damit des Menschen als soziales Wesen sind. Zwei altgriechische Mythologeme über die Vergesellschaftung durch Gewalt sind hierbei von besonderem Interesse. Das eine strukturiert nachhaltig die antike Vorstellung, wie politische Ordnung hergestellt wird: Die Abfolge des Göttergeschlechtes von Uranos über Kronos zu Zeus ist bekanntlich von kannibalischer Gewalt gezeichnet. Uranos sichert seine Herrschaft, indem er seine Kinder in den Leib seiner Frau, Gaia, einschließt und damit ungeboren macht. Nachdem ihn Kronos kastriert hat, stellt dieser eine erste politische Götterordnung her. Doch auch Kronos kann nur herrschen, indem er seine eigene Nachkommenschaft von bereits besetzten Machtpositionen fernhält. Anders als sein Vater inkorporiert er seine Kinder selbst, bis ihn Zeus in den Tartaros verbannt und dadurch den Weg für eine fortgesetzte Genealogie, ein komplexeres Machtgefüge und subtilere Machtmittel ebnet.12 Kronos’ Kannibalismus fungiert damit gleichsam als Stufe zwischen dem ungeschlachten Chaos Uranos und der Kulturisation Zeus’. Entsprechend ambivalent ist seine Stellung im altgriechischen Wertesystem: Kronos steht für die Verhinderung von Entwicklung und zugleich für ein goldenes Zeitalter, für Unordnung und ihre basale Beherrschung.13 Das zweite kannibalische Mythologem handelt davon, wie in einer bestehenden Ordnung Gewalt eingegrenzt wird. Der Herrscher Lykaion testet in einem Anflug von Hybris den Göttervater Zeus, indem er ihm Menschenfleisch vorsetzt. Die Bedeutung dieses Affronts wird – über das scheinbar unhintergehbare Tabu des Kannibalismus hinaus – über die Rolle Kronos’ klarer: Lykaion droht Zeus auf die kulturelle Zwischenstufe seines Vaters zurückzuwerfen, will ihn also gleichsam primitivieren und fordert damit seine differenzierte Gesetzesmacht heraus. Zeus reagiert mit der Umkehrung der Straftat in eine Spiegelstrafte: Anstatt sich zum Kannibalen machen zu lassen, verwandelt er Lykaion in einen Werwolf, der sich von Menschenfleisch ernährt.14 Dieser Mythos steht in einem intrikaten Verhältnis zum selbst nur durch Mythen belegten Ritual des arkadischen Tempels des Zeus Lykaion. In ihm wird bei einem jährlichen Fest Menschenfleisch unter anderes Fleisch gemischt 12 Vgl. Hesiod: Theogonie: griechisch und deutsch, in. Ders.: Theogonie. Werke und Tage, hg. und übers. von Albert von Schirnding, Berlin 2012, S. 6–81, hier S. 43. 13 Zur daraus resultierenden Ambivalenz Kronos’ bzw. seiner Festlichkeiten, der Kronia, vgl. Versnel, Henk: Inconsistencies in Greek and Roman Religion, Volume 2: Transition and Reversal in Myth and Ritual, Leiden/New York/Köln 1992, S. 90–135. 14 Die berühmteste Schilderung dieses Mythos findet sich bei Ovid, vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. und übers. von Michael von Albrecht, Stuttgart 2010 (= UniversalBibliothek 1360), S. 21–22 (I, 209–239).
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und in einem Dreifuss-Kessel gekocht. Derjenige, der zufällig das Menschenfleisch isst, verwandelt sich in einen Werwolf und wird für die nächsten neun Jahre in die Wildnis verbannt, bevor er sich erneut in Gesellschaft begeben darf – vorausgesetzt, dass er in dieser Zeit kein Menschenfleisch gegessen hat. Der Verbannte nimmt die Rolle Lykaions an, aber nicht für immer und nicht aus schändlicher Gesinnung, sondern aus purem Zufall. Burkert erklärt diese Abweichung damit, dass das Ritual nicht dem Mythos Lykaions folgt, sondern umgekehrt Lykaions Tat das Ritual dort erklären soll, wo sein eigentlicher Grund, das reenactment der Jagdgemeinschaft, unbewusst bleiben muss. Die Gesellschaft um den Dreifusskessel ist laut Burkert also die rituelle Nachstellung der gewalttätigen, schuldigen Jagdgemeinschaft.15 Sie projiziert ihre tradierte Schuld nun auf den einen ‚Zufallskannibalen‘ und versetzt diesen stellvertretend in einen ursprünglichen Zustand zurück, in dem er als Jäger in der Wildnis überleben muss. Die Ambivalenz Kronos’ und die Ambivalenz des Jägers, der seine tierischen Artgenossen verschlingt, fallen in eins. Doch neben der rituellen Wiederholung und Überwindung einer früheren Kulturstufe und eines älteren Göttergeschlechts besaß das arkadische Ritual laut Burkert eine soziale Funktion. Er vermutet, dass mit der ‚Verwandlung‘ des zufälligen Kannibalen in einen Werwolf der Ausschluss besonders gewalttätiger, insbesondere jugendlicher Gesellschaftsmitglieder institutionalisiert wurde.16 Das vermeintliche Stück Menschenfleisch und seine vermeintlich verzaubernde Wirkung wäre demnach ein Mittel kollektiver Imagination, die diesen Ausschluss vereinfacht und auf einer religiösen Ebene rechtfertigt. Wer so zum Werwolf gemacht wird, ist schuldlos schuldig; dieser ambivalente Status ermöglicht es ihm, nach neun Jahren der Gewaltabstinenz erneut zum Mitglied der Gesellschaft zu werden. 1.2 Platon und der kannibalische Demos Kronos und Lykaion führen vor Augen, wie das Imaginäre des Kannibalen bereits im Mythos die fundamentale Rolle innehat, Vergesellschaftung durch Gewalt und Gegengewalt zu erklären. Es ist darum nicht weiter verwunderlich, dass der Kannibale später in der altgriechischen Philosophie diese Rolle unter neuen Bedingungen weiter zu spielen hat. Explizit beruft sich Platon auf das arkadische Ritual im Tempel des Zeus Lykaion um zu illustrieren, wie ein Aufwiegler aus der Mitte des Volkes ein tyrannisches Regime und damit eine ungerechte Herrschaft begründen kann. Im Staat spricht sich Platon gegen die Demokratie aus, weil die Herrschaft der ‚schwachen Masse‘ und ihre Vorliebe für Volkstribune zwangsläufig Despoten 15 Vgl. Burkert: Homo necans, S. 98–108. 16 Zur Funktion der rites de Passage vgl. Burkert: Homo necans, S. 95.
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hervorbringe. So, wie derjenige, der aus der gemeinsamen Opferschale zufällig das Menschenfleisch isst, „notwendigerweise ein Wolf werden“17 muss, so werde derjenige, der die Massen zu kontrollieren verstehe, zum figurativen Ungeheuer in Menschengestalt: wenn dieser Mann sich nicht freihält von stammverwandtem Blut, sondern den Gegner wider Recht […] vor Gericht schleift und sich dann mit Blut befleckt, weil er ein Menschenleben vernichtet […], dann ist es diesem Mann verhängt und schicksalsbestimmt […] ein Tyrann zu werden, aus einem Menschen also ein Wolf. […] Dieser Mann hetzt nun gegen die Besitzenden.18
Wie problematisch die rhetorische Diffamation des Volkstribuns hier ist, zeigt sich in der ambigen Formulierung, er schleife seine Gegner „wider Recht […] vor Gericht“. Da dem ‚wölfischen‘ Politiker keine außerjuristische bzw. außerdemokratische Bluttat vorgeworfen werden kann, wird seine Anrufung des Gerichts als vorgeblich widerrechtlich, eigentlich aber als ungerecht innerhalb von Gesetz und Gemeinschaft markiert. Denn ungerecht ist diese Tat nicht hinsichtlich ihrer Mittel des Gerichtverfahrens und der Todesstrafe (die Platon andernorts rechtfertigt),19 sondern ihres Zwecks, der ‚kannibalischen‘ und darum per se ungerechten Verfolgung des reicheren Gegners. Der Vorwurf, dass der Volkstribun „notwendig“ verwerflich agiert, wenn er seine Gegner anklagt, basiert auf einem ideologischen Argument: Kannibalisch ist das Todesurteil, weil es jene trifft, denen aufgrund von Stand und Besitz die Macht im Staat zusteht. Platons diffamatorische Erklärung demokratisch-juristischer Machtprozesse mithilfe des Kannibalen-Mythos ist im Lichte von Burkerts Interpretation des Lykaion-Rituals nicht nur dessen ideologische Vereinnahmung, sondern auch dessen Rückführung auf das in ihm maskierte, aber zugleich aufgehobene Problem: Wie lässt sich Gewalttätigkeit derart kanalisieren, dass sie sich nicht gegen die Gemeinschaft richtet, sondern dieser dienstbar wird? Während das Ritual mit dem ‚kannibalisierenden‘ Schuldspruch eine (laut Burkert) einst notwendige Gewalttätigkeit transformiert – und damit die Rolle Kronos’ heraufbeschwört –, so geht laut Platon in der demokratischen Staatsform eine solche Absonderung und Reintegration der Gewalt notwendigerweise schief. Platons Analogie behauptet also mehr denn nur die Bestialität des Volkstribuns. Die Demokratie versetze eine ausdifferenzierte, weil hierarchische Gesellschaft 17 Platon: Der Staat (Politeia), hg. und übers. von Karl Vretska, Stuttgart 1999 (= UniversalBibliothek 8205), S. 394. 18 Ebd. 19 Zu den verschiedenen Argumentationslinien Platons in seinem Gesamtwerk vgl. Ladikos, Anastasios: Plato’s views on Capital Punishment, in: Phronimon 6.2 (2005), S. 49–61.
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in einen kannibalischen Urzustand zurück, der im Lykaion-Ritual eigentlich bereits überwunden ist. Die wahre Gefahr der Demokratie ist nicht der Volkstribun, sondern das latent kannibalische Volk selbst.20 Platons Diffamierung des Volkes als demokratische Bestie ist wirkmächtiger, als die vergleichsweise kurze und selten diskutierte Stelle seiner Politeia erahnen lässt. Hobbes’ Wendung des homo homini lupus begründet die Notwendigkeit eines starken, ja grausamen Alleinherrschers. An Platons Argument, die Volksherrschaft sei letztlich selbstzerstörerisch, schließen aber auch Gründungsschriften des amerikanischen Staates an, um trotz republikanischer Gesinnung eine Vormacht der Vermögenden zu institutionalisieren.21 In der anti-jakobinischen Rhetorik zwanzig Jahre später wird das aufständische Volk zu jener Rotte vertiert,22 die auch noch in Dantons Tod Paris durchstreift: „Unsere Weiber und Kinder schreien nach Brot, wir wollen sie mit Aristokratenfleisch füttern!“23 Und heute noch ist im Horrorgenre eine Darstellung der kannibalischen Unterschicht virulent, die mit der Angst der liberal-progressiven Bevölkerung vor einer Übermacht ungebildeter, reaktionärer Maßen spielt,24 seien es Hillbillies in Texas Chainsaw Massacre (1974) oder Zombies in Night of the Living Dead (1968), die bezeichnenderweise nach dem streben, was sie sich nicht sinnvoll aneignen können: nach Hirn.25 Es scheint an diesem Punkt auf der Hand zu liegen, zu Schwabs Stück zurückzukommen und in ihm eine Fortsetzung dieser Argumentationslinie wiederzuerkennen. Eine naheliegende Lektüre des Theaterstückes macht in der kannibalischen Tischgesellschaft eine obszöne Ur- bzw. Jagdgemeinschaft aus.26
20 Dies wird weiter durch die von Platon implizierte Analogie des demokratischen Losverfahrens mit dem Zufalls-Kannibalismus im Tempel von Zeus Lykaion untermauert. Gerade jedoch das Losverfahren sollte die Wahl von allzu machtbesessenen oder korrupten Politikern eindämmen. Es bleibt offen, ob Platon diese Wirkung durch die Analogie zwischen Dreifußkessel und Auslosung in Zweifel zieht. 21 Vgl. Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt, Zürich 2015, S. 153. 22 Vgl. Foucault, Michel: Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt a. M. 2008, S. 131–134. Siehe hierzu auch Vogl, Joseph und Matala de Mazza, Ethel: Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie. In: Sylvia Sasse und Stefanie Wenner (Hg.): Kollektivkörper: Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002, S. 285–298. 23 Büchner, Georg: Dantons Tod. Drama, Stuttgart 1968 (= Universal-Bibliothek 6060), S. 12. 24 Vgl. Brown, Jennifer: Cannibalism in Literature and Film, Houndsmill u. a. 2012, S. 107–152. 25 Der Erfinder des modernen Zombie-Filmes, George A. Romero, weiß genau diesen Aspekt im Verlaufe seines Werkes kritisch zu unterminieren: Seine Zombies verwandeln sich von Repräsentanten eines hirnlosen Kapitalismus zusehends selbst zu dessen Leidtragenden und entwickeln affirmierte revolutionäre Tendenzen, vgl. insbesondere Romeros Land of the Dead (2005). 26 Vgl. Campanile: Die Diskurse, S. 462.
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Die boshafte Überlegenheit des schönen Paars im dritten Akt, die sich als Vertreter einer wirklich zivilisierten Oberschicht über die nur vermeintlich zivilisierte breite Masse lustig macht, wäre demnach gleichsam gerechtfertigt. So unsympathisch das Paar gerade dann wird, als sein Tod rückgängig gemacht ist, so zynisch scheint sich hier doch eine Grundidee abendländischen Denkens zu bewahrheiten: Schlimmer noch als die Mächtigen und ihr figurativer Kannibalismus ist der reale Blutdurst der Plebs. ÜBERGEWICHT sollte jedoch nicht vorschnell in diese Diskurslinie eingeordnet werden. Denn neben ihr ist ein Gegendiskurs zu verzeichnen, der dem Kannibalen eine konträre Stellung zuweist: Nicht diejenige des tierischen, sondern des edlen Wilden, nicht diejenige eines rebellischen Wolfes, sondern einer revolutionär-gerechten Gewalt. 1.3 Der Gegendiskurs von Montaigne bis Benjamin Seinen Ursprung nimmt dieser Gegendiskurs, wo Michel de Montaigne 1580 erstmals eine anthropophage Gesellschaft durchwegs positiv zeichnet.27 Die brasilianischen Kannibalen würden aufgrund ihrer natürlich-reichen Umwelt im Überfluss leben, sie benötigten keinen Ackerbau und keinen Handel und darum keine starren Institutionen und Hierarchien. Im kannibalischen Brauch lasse sich die äußerste Form kriegerischen Mutes erkennen, Menschenfleisch werde zum Zeichen einer edlen Rache gegessen. Umgekehrt könne sich der Gefangene als besonders mutig und loyal beweisen, indem er seine Begnadigung ablehnt: Lieber wird er gefressen, als seine Unterlegenheit einzugestehen. Im impliziten „kannibalischen Pakt“28 zwischen Täter und Opfer könne sich im scheinbar Grausamsten die edelste, gemeinschaftsbildende Tugend zeigen. Denn der Mutigste, der sich derart für die Ehre seines Stammes aufzuopfern bereit ist, ist zugleich ein selbstloser Anführer. Als Häuptling hat er keine anderen Privilegien, als dem Stamm im Krieg vorangehen zu dürfen.29 Diesen Kannibalen ist die Schuld der imaginären Jagdgemeinschaft unbekannt, die Burkert in der altgriechischen Mythologie rekonstruiert hat. Indem Montaigne ihnen eine „anakreontische“ Sprache verleiht30 , gleicht er sie dem 27 Vgl. Montaigne, Michel Eyquem de: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung, übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 110–115. 28 Moser, Christian: Kannibalische Katharsis: Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Bielefeld 2005, S. 13–14. 29 Diese Beschreibung deckt sich teilweise mit modernen ethnologischen Untersuchungen indigener südamerikanischer Gesellschaftsformen. Pierre Clastres beschreibt Mechanismen ritualisierter Gewalt, welche die Ausformung starrer Hierarchien und Privilegien und damit eines Staates im westlichen Sinne verhindern. Vgl. Clastres, Pierre: La société contre l’Etat: Recherches d’anthropologie politique, Paris 1974. 30 Montaigne: Essais, S. 115.
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goldenen Zeitalter des griechischen Mythos an; indem er ihren Kontinent Amerika explizit von Platons Atlantis unterscheidet, verortet er sie zugleich jenseits der abendländischen Ideengeschichte. Er erschafft im radikal neuen Ort einen ebenso neuen politischen Mythos: Den eines demokratischen, ja proto-kommunistischen Lebens im Einklang mit der Natur. An dieses Bild knüpft hundert Jahre später Baron von Lahontan in seinem Supplément aux Voyages an. Ein kannibalischer Irokese lobt seine basisdemokratische Gesellschaft und kritisiert die unterdrückenden Hierarchien der Europäer.31 Und darauf wiederum beruft sich implizit Jean-Paul Marat, wenn er 1789 in seiner Constitution proklamiert, in der Revolution gegen den ungerechten Unterdrücker habe man das Recht, diesen zu töten, ja sein ‚bebendes Fleisch zu verschlingen‘. Der freie, demokratische Kannibale ist zum Revolutionär geworden, der den idyllischen Zustand erst noch herzustellen hat.32 Es mutet wie eine historisch-dialektische Zwangsläufigkeit an, dass der Kannibale kurz vor dem ersten Weltkrieg erneut als zentrale Verhandlungsfigur politischer Gewalt wiederauftaucht. Sigmund Freud beschwört 1913 in Totem und Tabu das Bild einer solidarischen Urgemeinschaft, die sich erst über die Tötung und den Verzehr ihres Vaters konstituieren kann. Es resultiert eine „ursprüngliche demokratische Gleichstellung aller einzelnen Stammesgenossen“33 . Denn die befreiende Tat hätte zu einer beständig rituell zu verarbeitenden Schuld geführt, welche die Reinstallation eines Übervaters und die gegenseitige Vernichtung verhindert. Die Apodiktik, mit welcher Freud die historische Distanz zu diesem – seiner Meinung nach realen – Urereignis herzustellen sucht, verrät, wie nah der politische ‚Vatermord‘ im Europa seiner Zeit liegt. Überall drängen radikale Kräfte auf die Wiederholung des letzten großen Königmordes in der Französischen Revolution. Anders freilich ergeht es der bürgerlichen Mitte, aus der Freud spricht; seine Scheu vor einem politischen Umbruch äußert sich in der Ambivalenz, mit welcher er die kannibalische Urhorde zeichnet: Es muss sie gegeben haben, aber es kann – eigentlich: es darf – sie nicht erneut geben.
31 Vgl. Lahontan, Louis-Armand de: Neueste Reisen nach dem mitternächtlichen Amerika [frz. 1703], hg. von Dragsta Rolf, Kamper Dietmar, Berlin 1982; Harris, Marvin: Cannibals and Kings: The Origin of Cultures, Glasgow 1978, S. 115. 32 Die oben erwähnte antirevolutionäre Diffamation des Jakobiners als Kannibale entbehrt also nicht der Grundlage, um nicht zu sagen: der Steilvorlage in der revolutionären Rhetorik selbst. Vgl. Marat, Jean-Paul: La Constitution ou Projet de déclaration des droits de l’Homme et du citoyen suivi d’un plan de Constitution juste, sage et libre, Paris 1789, S. 15; Avramescu, Cătălin: An Intellectual History of Cannibalism, übers. v. Alistair Ian Blyth, Princeton/Oxford 2011, S. 22. 33 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1999, S. 179.
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Ganz anders schließlich argumentiert Walter Benjamin in seinem Essay über Karl Kraus, das zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten erscheint. Obschon ausgehend von den Satiren Swifts und Kraus’, repräsentiert der ‚Menschenfresser‘ zum Ende des Textes mehr denn nur einen satirischen Topos. Er wird zur Allegorie einer „Gerechtigkeit, die destruktiv den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes Einhalt gebietet“34 . Nur noch der blutige Zorn des Kannibalen, so Benjamin, ist dem heuchlerischen Humanismus der bürgerlichen Mitte entgegenzusetzen, die sich mit den Faschisten arrangiert. Als spätes Echo Montaignes ist der Menschenfresser darum Inbegriff einer „Humanität, die sich an der Zerstörung bewährt“35 . Und in Anspielung auf Freuds Urhorde verkündet Benjamin: „Der Ursprung ist das Ziel.“36 Aus den dunklen letzten Sätzen des Essays spricht nicht bloße Verzweiflung über eine zusehends ausweglose politische Lage, in ihnen glimmt die letzte Hoffnung auf ein revolutionäres Aufbegehren, das die gerechte Gemeinschaft in einem bewussten Akt der Gewalt herzustellen bereit ist. 2.
Der Kannibale im Zeitalter des Konsums
Die plötzlich losbrechende Gewalt von Schwabs Tischgesellschaft muss auch vor diesem Hintergrund gelesen werden. Der Triumph des schönen Paars am Ende ist keine Rechtfertigung der notwendigen Erniedrigung und Kontrolle des kannibalischen Plebs. Er steht stattdessen für das Versagen einer Gemeinschaft, die ihre Affekte nicht sinnvoll gegen Unterdrücker und Nutznießer des Systems zu richten fähig ist. Es bleibt der Tischgesellschaft verwehrt, die eigene Unmenschlichkeit im Sinne Benjamins dem lügnerischen Humanismus des Bürgertums entgegenzusetzen, weil sie sich diesem Humanismus in aller Barbarei verpflichtet fühlt. Weder entwickelt die Tischgesellschaft eine revolutionäre noch eine solidarische Haltung, stattdessen ist sie getrieben von Ressentiments gegenüber allem, was ihr fremd ist – und fremd ist sie sich nicht zuletzt auch selbst. Der gemeinsame Kannibalismus ist eine schuldhafte Selbstbefreiung nur auf Zeit oder nur in der Imagination, die bezeichnenderweise den idyllischen menschlichen Naturzustand Montaignes ad absurdum führt. In Jürgens Vision lebt die urtümliche kannibalische Gemeinschaft nicht im Einklang mit der Natur, sie verschmilzt mit dieser: „Einmal ist die Frau Wirtin der Kieselgrund 34 Benjamin, Walter: Karl Kraus [1931], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, S. 332–367, hier S. 367. Vgl. dazu Rickels, Laurence A.: ‚Aristokritik‘, in: Fulda, Daniel, Pape, Walter (Hg.): Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, Freiburg i. Br. 2001 (= Reihe Litterae 70), S. 369–392. 35 Benjamin: Karl Kraus, S. 367. 36 Ebd., S. 360.
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des Flüßchens, dann ein dampfendes Moorgebiet.“37 Die Tischgesellschaft sieht sich in die titelgebende Unform transformiert, ihr kurzer Moment des Glücks besteht im vollständigen Selbstverlust. Im Sinne eines Sisyphos, der seinen Sinn im Wiederholungszwang findet, entwirft Schwab eine gerade aufgrund ihrer Schuld höchst prekär stabilisierte Kannibalen-Gemeinschaft. Anders als Montaignes Kannibalen stellt sich durch die Gewalt keine Harmonie ein, im Gegensatz zur Ritual-Gemeinschaft des Lykaion Tempels und zur Urhorde Freuds ist die Gesellschaft nicht fähig, ihren Kannibalismus lediglich symbolisch zu wiederholen und damit zu sublimieren, geschweige denn zu verarbeiten. Sie muss die kannibalische Tat und damit ihre Schuld immer wieder an weiteren Opfern erneuern, um die brüchig gewordene Vorstellung von Solidarität aufrechtzuerhalten. Am Schluss liegen die Sympathien des Zuschauers auf Seiten der mitleiderregenden, „traurige[n] Gesellschaft“ und nicht auf jener des schönen Paars. Der emotionale Zusammenbruch der Menschenfresser ist im Spannungsbogen der tragischste Moment, nicht ihr kannibalischer Exzess. Die essenzielle Provokation von Schwabs Stück besteht darum nicht im Kannibalismus, sondern in dessen Unfähigkeit, die Versprechen eines kannibalischen europäischen Abendmahls zu verwirklichen. Die Funktion von Schwabs kannibalischer res publica lässt sich nun genauer ab- und eingrenzen. Das kannibalisch Demokratische, wie bereits das Bürgertum und seine aufklärerischen Ideale, tritt nur noch als Schwundstufe, als sprichwörtliche Wurstiade in Erscheinung; es bleibt trauriger Selbstzweck ohne langfristige politische Perspektive. Eines der radikalsten und ambivalentesten Bilder der europäischen Philosophie, die kannibalische Gewalt der Demokratie, existiert in Schwabs Stück nurmehr in Form der Groteske. In ihr werden die verbliebenen politischen Affekte abreagiert, ohne selbst eine gesellschaftspolitische Veränderung – etwa in Richtung von Montaignes Proto-Kommunismus, Marats republikanischer Revolution oder Freuds Ur-Demokratie – zu zeitigen. Von den Umwälzungen, die Schwab 1991 in seinem Stück reflektiert und parodiert, ist dies wohl die entscheidende: In einer neuen Zeit, die sich selbst als postideologische versteht, kann selbst die kannibalische Gemeinschaft keinen stabilen politischen Zusammenhalt mehr finden. Übrig bleibt die Rede Jürgens von der Wurst „als Metapher für eine kulturelle Solidarität“: der Konsum als jener gesellschaftliche Bindungsmechanismus, der sich beständig selbst zu verschlingen droht.
37 Schwab: ÜBERGEWICHT, S. 106.
Kannibalische res publica
Literaturverzeichnis Avramescu, Cătălin: An Intellectual History of Cannibalism, übers. v. Alistair Ian Blyth, Princeton/Oxford 2011. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, übers. v. Horst Brühmann, Berlin 2012. Benjamin, Walter: Karl Kraus [1931], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, S. 332–367. Brown, Jennifer: Cannibalism in Literature and Film, Houndsmill u. a. 2012. Büchner, Georg: Dantons Tod. Drama, Stuttgart 1968 (= Universal-Bibliothek 6060). Burkert, Walter: Homo necans: Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin u. a. 1972. Campanile, Anne: ‚Die Diskurse kommen und gehen, der Appetit bleibt! ‘ Kannibalismus im Theater der Nachkriegszeit: George Tabori, Werner Schwab, Libuse Monikova, Heiner Müller, in: Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, hg. von Daniel Fulda und Walter Pape, Freiburg i. Br. 2001 (= Reihe Litterae 70), S. 445–481. Clastres, Pierre: La société contre l’Etat: Recherches d’anthropologie politique, Paris 1974. Foucault, Michel: Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt a. M. 2008. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1999. Harris, Marvin: Cannibals and Kings: The Origin of Cultures, Glasgow 1978. Hesiod: Theogonie: griechisch und deutsch, in: Ders.: Theogonie. Werke und Tage, hg. und übers. von Albert von Schirnding, Berlin 2012, S. 6–81. Ladikos, Anastasios: Plato’s views on Capital Punishment, in: Phronimon 6.2 (2005), S. 49–61. Lahontan, Louis-Armand de: Neueste Reisen nach dem mitternächtlichen Amerika [frz. 1703], hg. von Rolf Dragsta, Dietmar Kamper, Berlin 1982. Marat, Jean-Paul: La Constitution ou Projet de déclaration des droits de l’Homme et du citoyen suivi d’un plan de Constitution juste, sage et libre, Paris 1789. Montaigne, Michel Eyquem de: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung, übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998. Moser, Christian: Kannibalische Katharsis: Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Bielefeld 2005. Platon: Der Staat (Politeia), hg. und übers. von Karl Vretska, Stuttgart 1999 (= Universal-Bibliothek 8205).
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Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, hg. und übers. von Michael von Albrecht, Stuttgart 2010 (= Universal-Bibliothek 1360). Rickels, Laurence A.: ‚Aristokritik‘, in: Fulda, Daniel, Pape, Walter (Hg.): Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, Freiburg i.Br. 2001 (= Reihe Litterae 70), S. 369–392. Schwab, Werner: ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM. Ein europäisches Abendmahl, in: Ders.: Fäkaliendramen, Graz/Wien 2007, S. 59–120. Versnel, Henk: Inconsistencies in Greek and Roman Religion, Volume 2: Transition and Reversal in Myth and Ritual, Leiden/New York/Köln 1992. Vogl, Joseph, Matala de Mazza, Ethel: Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie, in: Sasse, Sylvia, Wenner, Stefanie (Hg.): Kollektivkörper: Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002, S. 285–298. Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt, Zürich 2015.
Guglielmo Gabbiadini (Università degli Studi di Bergamo)
Poetik der Partizipation für eine Aufarbeitung der Zukunft Zu Andres Veiels Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! (mit einem Seitenblick auf Das Himbeerreich)
1.
Ein Flashforward in die Krise
Am 28. September 2018 feierte in Berlin das neue Stück von Andres Veiel Premiere. Der Titel der eingestandenermaßen zum „Weiterdenken“ einladenden Produktion, die der Film- und Theaterregisseur Veiel1 in Zusammenarbeit mit Jutta Doberstein für das Deutsche Theater Berlin auf die Beine gestellt hat, lautet Let Them Eat Money – Welche Zukunft?! An ihrer anspruchsvollen und in vielerlei Hinsicht innovativen Theaterarbeit waren verschiedene prominente Akteure der deutschen Öffentlichkeit beteiligt, in erster Linie die Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.2 Theaterwelt und bundesrepublikanisches Engagement gingen dabei eine bemerkenswerte Allianz ein, die im deutschsprachigen Bereich einmal mehr und aus ungewohntem Blickwinkel den komplexen Zusammenhang von Kunst und Res publica sowie die Äußerungsmöglichkeiten der Kunst im heutigen Staatswesen markant beleuchtet. Let Them Eat Money – Welche Zukunft?! zeitigte einen verhältnismäßig staunenswerten Erfolg, wie die bisherigen internationalen Pressestimmen bewei1 Laut der Schriftenreihe Theater Theater vom Fischer Verlag gehört Veiel „zu den renommiertesten deutschen Regisseuren“, vgl. Carstensen, Uwe B.,von Lieven, Stefanie: Über die Autoren und ihre Theaterstücke, in: Theater Theater 24 (2013), S. 543–554, hier S. 554. Über Veiels Herkunft, Ausbildung und Wirken informiert vorzüglich der Eintrag „Veiel, Andres“ in Munzinger Online/Personen – Internationales Bibliographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/ document/00000023766, letzter Zugriff: 15. Mai 2019). Über sein aktuelles Theaterstück heißt es dort: „Einen Blick in die Zukunft unternahm V. mit dem Stück Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! ein interdisziplinäres und partizipatives Recherche- und Theaterprojekt, das er zusammen mit der Autorin Jutta Doberstein, dem Deutschen Theater und dem Humboldt-Forum 2017 mit mehr als 200 Beteiligten entwickelte. Aus der Rückschau im Jahr 2028 analysiert es die zehn vergangenen Jahre, in denen u. a. die Europäische Union auseinandergebrochen ist und die gesamte Welt am Abgrund steht.“ 2 Beck, Ulrich, Kohlmaier, Laura: Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! Von Andres Veiel in Zusammenarbeit mit Jutta Doberstein. Uraufführung. Programmheft Nr. 130. Spielzeit 18/19, Berlin 2018, S. 5.
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sen.3 Radio Berlin Brandenburg strahlte den Text außerdem in Form eines Hörspiels aus;4 auch dies ein recht imposanter Publikumserfolg. Das Stück gastierte bisher in Dresden (3. Oktober 2019), in Seoul (20.–21. September 2019), in Siegen (8. Februar 2020) und in Hannover (11. Februar 2020). Woher die Brisanz des Stücks? Woher seine Resonanz? Zunächst einmal: aus Stoff und Handlung. In Let Them Eat Money – Welche Zukunft?! befindet sich die Europäische Union nach dem imaginierten Austritt Italiens anno 2022 in einer der größten Krisen ihrer Geschichte. 2024 versucht man der Krise aktiv entgegenzuwirken, indem man ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ europaweit einführt. Das Ergebnis ist jedoch alles andere als positiv und keineswegs beschwichtigend: Die Banken werden gestürmt, die staatlichen Verschuldungen nehmen in vielen Ländern ein horrendes Ausmaß an. Staatliche und überstaatliche Strukturen kollabieren. „Statt der Krise selbst zeigt Veiel den Rückblick auf die Genese ihrer Projektion.“5 Das Stück inszeniert in der Tat aus der besorgten Perspektive der Gegenwart Ereignisse, die in absehbarer Zeit zustande gekommen sein werden. Die Wahl des Futur II ist hier nicht zufällig: Das Tempus, das die zeitliche Perspektive des Stücks kennzeichnet, ist nämlich das Futurum exactum oder Futurperfekt. 2028 setzt Veiels und Dobersteins kollektives „Gedankenexperiment“6 eine neue globale Krise an. Ein Hör-Loop kündigt sie gleich zu Beginn des Stücks an, und dies mit
3 Siehe beispielsweise: Goldmann, Adam Joachim: German Plays Tackle the World’s Woes, Current and Future, in: The New York Times, 21. November 2018, S. 22. 4 Das Hörspiel kann man anhören unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/hoerspielwelcher-zukunft-gehen-wir-entgegen-let-them-eat.3684.de.html?dram:article_id=437792. Das Hörspiel wird folgendermaßen eingeleitet: „Unter dem Motto ,Welche Zukunft?‘ fanden 2018 in Berlin Symposien und Workshops mit Experten und Publikum statt. 2018 ist Europa von Krisen geschüttelt. Die vielen Flüchtlinge, der Brexit, die Folgen der Finanzkrise, ein politisches Abdriften der Gesellschaften nach rechts. Was wird die Zukunft bringen? Ein Szenario, das in Expertenkreisen für möglich gehalten wird: der Austritt Italiens aus der EU, das Entstehen exterritorialer Staaten, das bedingungslose Grundeinkommen, der ökonomische Crash der Rest-EU. Das Hörspiel entstand nach dem Theaterstück, für das Andres Veiel und Jutta Doberstein im Rahmen einer Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin und der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss die Ergebnisse von Symposien mit Bürgerinnen und Bürgern sowie Expertinnen und Experten am Deutschen Theater Berlin und am Humboldt Forum 2017/2018 verarbeitete.“ 5 Häntzschel, Jörg: Die vielen Metaebenen der Krise. Ist das eine Performance oder ein Thinktank des Humboldt-Forums? Andres Veiels Let Them Eat Money am Deutschen Theater, in: Süddeutsche Zeitung, 1. Oktober 2018, S. 9. 6 Behrendt, Barbara: Die Inseln in der Nordsee werden unsere Zuflucht sein. Premiere von Let Them Eat Money in Berlin, In: Deutschlandfunk Kultur, 29. September 2018 [nicht paginiert] (https://www.deutschlandfunkkultur.de/premiere-von-let-them-eat-money-in-berlindie-inseln-in-der.1013.de.html?dram:article_id=429339, letzter Zugriff: 15. Mai 2020).
Poetik der Partizipation für eine Aufarbeitung der Zukunft
rätselhaft-mantraartiger Gleichförmigkeit, die an Maschinensprache erinnern könnte und daher sogleich verstörend wirkt: 2028 rasen die beiden Züge aufeinander zu. In dreifacher Zeitlupe. Ineinander. Stumm. Ein Video, das millionenfach wieder und wieder vorwärts und rückwärts geschaut wird. Ein Rauschen von fernen her kommend. Vom Crash spricht keiner. Es ist die Welle. Sie geht über die Städte hinweg. Was gibt es da zu verstehen?7
Das Bild der aufeinander zurasenden Züge gilt in diesem Kontext als Allegorie einer angekündigten Krise von Weltformat im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Welt(-krisen-)theater wird da veranstaltet. Typische Merkmale des Katastrophendiskurses (Kollision, Crash, usw.) gehen dabei unmittelbar einher mit apokalyptisch verbrämten Szenarien, die symbolhaft durch das Bild der „Welle“ evoziert werden, die „über die Städte“ hinweggeht. Laut Veiel sei das Ziel jedoch nicht, „die Apokalypse heraufzubeschwören, sondern letztendlich deutlich zu machen, was passieren muss, damit das Richtige passiert.“8 Ein genuin „aufklärerische[r] Gedanke“ durchzieht das Stück.9 Im eben schon zitierten Interview unterstreicht der Autor: Unser Theaterstück Let them eat money fußt auf der Überlegung, dass wir nicht erst, wenn die Krise geschehen ist, zurückschauen sollten. […] Das neue Stück geht in die Zukunft, ist also zum Teil mit Science-Fiction verbunden. Niemand weiß, ob die Zukunft, die wir als Setting entwickeln, so eintreffen wird oder nicht. Das gibt uns Freiheit. Wir stellen Personen in verantwortlichen Positionen nicht bloß, weil unser Setting im Konjunktiv spricht: Alles könnte so weit kommen, dass… Die Verantwortung, um die es geht, ist noch fiktiv. Das könnte, wenn es gelingt, möglich machen, dass bestimmte Funktionsträger auch unter ihren Klarnamen im inszenatorischen Rahmen […] auftreten. Sie wissen, dass sie Teil einer Fiktion sind, die aber durchaus Realität werden könnte.10
Aktuelle Themen aus der Tagespolitik, grundsätzliche Fragen von Verantwortung und Zusammenhalt sowie Umweltproblematiken verdichten sich in einem eindreiviertel Stunden dauernden Stück, das die feuilletonistische Kritik bisher enthusiastisch feierte und dessen sozio-philosophische Dichte sie anerkannte.11 7 Transskriptionszitat des O-Tons bei der Uraufführung. Vgl. den Mitschnitt der Hörspielfassung (00:55 – 01:23), https://www.deutschlandfunkkultur.de/hoerspiel-welcher-zukunft-gehen-wirentgegen-let-them-eat.3684.de.html?dram:article_id=437792, letzter Zugriff: 15. Mai 2020. 8 Veiel, Andres, Lenssen, Claudia: Interventionen – ein Gespräch mit Andres Veiel, in: Lenssen, Claudia: Andres Veiel. Streitbare Bilder, Marburg 2019, S. 17–70, hier S. 49. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 49–50. 11 Zu den Ausnahmen gehört folgender Verriss: Laudenbach, Peter: Hurra, die Welt geht unter. Die Zukunft wird schrecklich! Glaubt zumindest Andres Veiel mit seinem Ausblick ins Jahr 2028: Let Them Eat Money, in: Tip Berlin, 18.–31. Oktober 2018 [nicht paginiert]. Darin
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Erste literaturwissenschaftliche Studien scheinen die insgesamt positive Einschätzung ebenfalls zu bestätigen. „Das Theaterstück“, schreibt beispielsweise Claudia Lenssen in ihrer großangelegten Pionierstudie über Veiels „Streitbare Bilder“, zielt nicht auf verschwörungstheoretischen Schauer, sondern reflektiert denkmögliche Kausalketten, etwa zwischen den aufbrechenden Klassengegensätzen, einer zum Staatsbankrott führenden Überschuldung und der anhaltenden dürrebedingten Migration. All dies erhöht den Druck, die zivilgesellschaftlichen Grundlagen des Staatenbundes zugunsten privater Investoren aufzugeben und damit rechtsfreie Räume zu öffnen.12
Was die Textgattung angeht, hat man andernorts in Bezug auf Let Them Eat Money auch von „Diskurstheater“ (als eine besonderer Erscheinungsform postdramatischen Theaters) gesprochen.13 Dabei wird „Diskurs“ im philosophischlinguistischen Sinn und vermutlich in Anlehnung an Michel Foucault als das dichte Beziehungsgewebe verstanden,14 bei dem Machtkämpfe sprachlich ausgetragen und – bei Veiel und Doberstein – ,plastisch‘ inszeniert werden. Die Rolle und die Bedeutung des Staats, der res publica im Allgemeinen, werden in Veiels Stück radikal in Frage gestellt. Zu den Hauptfragestellungen, die zum Stück geführt haben, zählt laut Veiel insbesondere diejenige, die liest man unter anderem: „Das größte Problem dieser Veranstaltung ist nicht, dass sie eine mühsame Kopfgeburt ist. Das Problem ist, dass es sich bei diesem Kopf offenbar um eine schlecht beleuchtete, nicht besonders gut durchlüftete Gegend handelt. Dieser inhaltlichen Unbedarftheit entspricht das Niveau der Aufführung: Hilfloses Textaufsag-Theater mit lauter leblosen Gestalten, die eher Behauptungen als Figuren sind. Die rührende, unfreiwillig komische Hilflosigkeit des Theaterlaien Veiel im Umgang mit den Mitteln der Bühne, das hochgetunte Gedröhne, die komischen Futurismus-Signale, die hölzerne Leitartikelsprache, die bedauernswerten, von jeder Regie im Stich gelassenen Schauspieler – es ist ein einziges peinliches Elend. Irgendwann sagt jemand auf der Bühne den Satz, der diesen Abend hinreichend charakterisiert: Weshalb ist das alles so unscharf? Gute Frage.“ 12 Lenssen, Claudia: Andres Veiel. Streitbare Bilder, Marburg 2019, S. 294. 13 Decker, Gunnar: Yoga oder Folter? Andres Veiel fragt am Deutschen Theater ,Let Them Eat Money – welche Zukunft?!‘, in: Neues Deutschland, 8. Oktober 2018, S. 28. Ähnlich Hannah Bethke in ihrer kritischen Rezension für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „In der Tat operiert dieses Stück nicht mit unbekannten Größen, aber das ist auch gar nicht entscheidend. Denn es spiegelt eine Diskursrealität der Bürger, die sich für dieses Projekt zusammengesetzt und ihre Vorstellungen einer krisenhaften Zukunft diskutiert haben“. Bethke, Hannah: Selbstbehauptung am Abgrund. Andres Veiels Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! am Deutschen Theater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2018, S. 23. 14 Warnke, Ingo H.: Diskurslinguistik nach Foucault – Dimensionen einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen, in: Ders. (Hg.): Diskurslinguistik nach Foucault: Theorie und Gegenstände, Berlin–Boston 2007, S. 3–23, hier S. 4–6; Ders.: Diskurslinguistik – Verdichtete Programmatik vor weitem Horizont, in: Ders. (Hg.): Handbuch Diskurs, Berlin/Boston 2018, S. IX–XXXIV, hier S X–XV.
Poetik der Partizipation für eine Aufarbeitung der Zukunft
danach fragt, „welche staatlichen Strukturen in einer Welt, die sich zugleich regional und transnational organisiert, noch gebraucht werden“.15 Die „Frage nach einem neuen Staatsbegriff “ finde der Regisseur besonders interessant, „weil ich mich beim Schreiben dieses Theaterstücks über die Zukunft ja hinwegbewegen muss von den Beschreibungen des Heute, die wir lediglich in die Zukunft verlängern“.16 Let Them Eat Money – Welche Zukunft?! versteht sich daher als ein Beitrag oder Denkanstoß zum Entwurf neuer Staatsvisionen für das 21. Jahrhundert. Die entstehenden Leerstellen in den herkömmlichen staatlichen Strukturen signalisieren eine tiefgreifende Krise und werden vorübergehend von unterschiedlichen „Communities“ und „Plattformen“ ausgefüllt. Ein „Untersuchungsausschuss“ übernimmt die Rolle eines Standesgerichts in Zeiten der Krise. Versprochen wird dadurch eine radikale Aufklärung der politischen Entscheidungsprozesse, die in die Krise geführt haben.17 Let Them Eat Money – Welche Zukunft?! sucht in dieser Hinsicht einen Dialog mit der Tradition des deutschsprachigen Theaters der Aufklärungsepoche. Friedrich Schillers Auffassung der öffentlichen Bühne als „moralischer Anstalt“ schimmert da offensichtlich durch.18 Weitere Untersuchungsausschüsse in bürgerlicher Hand möchten ferner die Frage der Verantwortung direkt, d. h. ohne jede Rücksicht, klären. Das revolutionäre Motto „Wir sind das Volk!“ wird dabei gewissermaßen zum „Wir sind das Gericht!“ umfunktioniert19 – mit allen Konsequenzen, im Für und Wider. Lenssen hat den Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Das Strafkommando kehrt die Hierarchie von „Unten“ und „Oben“, Verlierern und Eliten auf den ersten Blick um, es erzwingt eine populistische Verbreitung der Befragungen zur politischen Existenzkrise, doch die Dynamik der entscheidenden Ereignisse ist passé,
15 Beck, Ulrich, Männel, Luisa, Veiel, Andres: Gespräch, in: Theater der Autor_innen. Magazin 18/19. Berlin 2018, S. 20–21, hier S. 21. 16 Ebd. 17 Von einem „Theater der Aufklärung“ hat Stefan Reinecke gesprochen. Vgl. Reinecke, Stefan: Zu dicht, zu eng, zu viel. Andres Veiel skizziert in Let Them Eat Money im Berliner Deutschen Theater mit funkelnder Intelligenz den Untergang von Neoliberalismus und EU. Und erzeugt Ratlosigkeit, in: TAZ, 1. Oktober 2018, S. 18. 18 Bekanntlich verdichten sich Schillers frühe Ansichten zum Theater in einer Vorlesung, die er bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784 hielt. Veröffentlicht wurde die Vorlesung 1785 unter dem Titel „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“. Schiller, Friedrich: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, S. 818–831. 19 Auch darin könnte man das Erbe von Schillers früher Theater-Ethik erkennen, heißt es doch bei ihm: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.“ Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, S. 823.
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wird als Flashbacks in die Gegenwartsebene der Strafkolonie eingeblendet. Nicht durch terroristische Intervention wird der Ausverkauf Europas verhindert, vielmehr zeigt sich, dass die politische Elite vor der Entführung selbst für die Schubumkehr in Richtung Staatserhalt gesorgt hat.20
Eine dialektische Umkehrung der Machtverhältnisse – könnte man hinzufügen – scheint die Grunddynamik des Stücks auszumachen. Von „Revolution“ wird man dabei jedoch kaum reden können, herrschen doch darin vor allem Fragen und viel weniger Fakten vor. Das Stück inszeniert einen Aufklärungsprozess, der Grundstrukturen menschlichen Zusammenlebens hinterfragen und dadurch das politische Bewusstsein der Mitbürger erweitern möchte. Eine allgemeine Finanzkrise spielt ihm einen äußerst zeitgemäßen Anlass zur Entfaltung zu. 2.
Krisen und Bankenkrisen: Vom Himbeerreich zu Let Them Eat Money
Das Thema der Bankenkrise ist für Veiel alles andere als neu.21 Man könnte mittlerweile sogar von einem veritablen Steckenpferd sprechen. Bereits 2012 hatte er das Theaterstück Das Himbeerreich mit folgender Frage verknüpft: Wer ist eigentlich für die Krise verantwortlich? Der Wortlaut der Fragestellung verrät es sogleich: das Thema bzw. das Problem „Verantwortung“ ist für Veiel ein Menetekel, eine Obsession. In der Aufklärung der Verantwortung sieht er zugleich ein Antidot gegen apokalyptische Tendenzen. Im Rückblick auf die Krise und ihre theatralische Verarbeitung in Das Himbeerreich stellte der Regisseur im Berliner Kurier vom 27. September 2018 (also am Vorabend der Premiere von Let Them Eat Money) fest: Zehn Jahre nach der Krise bewegen wir uns immer noch nicht auf sicherem Boden. Die Krise kann jederzeit wieder auftreten, nur diesmal viel härter, weil die Staaten zu hoch verschuldet sind, die Banken können nicht mehr aufgefangen werden. Wir wollten nicht den Weltuntergang beschreiben, sondern die Krise als Chance.
Aufklärung und Verantwortung – das ist also spätestens seit Himbeerreich wohl das Begriffspaar, das Veiels Theaterpoetik am ehesten zu erschließen vermag. Das natürliche Habitat dieses Begriffspaars ist die Sphäre der (bundes-)republikanischen Öffentlichkeit. Kann man aber die Ursachen einer solch tiefgreifenden, globalen Krise im Medium des deutschsprachigen Theaters überhaupt 20 Lenssen: Andres Veiel, S. 303. 21 Bethke: Selbstbehauptung am Abgrund, S. 26. Zur Tradition, in die sich Veiels Werk einschreiben lässt, siehe Heiderich, Jens F.: Inszenierungen des Ökonomischen im Dokumentartheater der Gegenwart. Rolf Hochhuth, Kathrin Röggla, Andres Veiel, in: Der Deutschunterricht 71 (2019), S. 22–31.
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genügend erhellen und dadurch die Krise als Chance für neue Formen menschlichen Zusammenlebens auffassen? So lautet die zwar beunruhigende, aber auch resignationsresistente Frage, die – ganz im Sinne der negativen Ästhetik sowie der Ästhetik des Widerstandes des 20. Jahrhunderts – das neue Stück Let Them Eat Money durchzieht. Im Jahr 2028, nach dem großen „Crash“, entführen Aktivisten der titelgebenden Bewegung „Let them eat money“ die vermeintlichen Verantwortlichen: Franca Roloeg, eine EU-Kommissarin; Stefan Tarp, einen milliardenschweren Investor und Technologie-Pionier; Rappo Rosser, einen Gewerkschafter; Frerich Konnst, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Schauplatz dieser drastischen Entführungs-, Untersuchungs- und Aufklärungsaktion ist ein frostiges Ambiente aus Licht, Stahl und einem Boden aus knirschendem Salz. Rüde werden die Entführten aus Plastiktüten, in denen sie angeliefert wurden, gezerrt und für das Verhör an herabhängenden Gurten gefesselt. Davor steht ein Gerüst aus Metall. Folterkammern aus dem Ancien Régime werden durch Neonröhren ins 21. Jahrhundert hineinprojiziert. Das Gestell könnte außerdem aus der Ferne an das Brandenburger Tor in Berlin erinnern. Ein weißer chemischer Auswurf liegt über allem, durch eingepflanzte Chips „updaten“ sich – so einer der vielen unbekömmlichen Neologismen bzw. Anglizismen des „Bankspeak“22 im Stück – die Menschen fernmedizinisch längst selber. So sieht also das Studio aus, das wie eine high-tech Folterkammer anmutet und zugleich als Kerker von „Let them eat money“ fungiert, der Untergrundorganisation, die das zerfallene Recht in die eigenen Hände nehmen will. Die Wände bestehen aus Monitoren, auf denen mal die Gesichter der Angeklagten eingeblendet werden, mal die User-Kommentare, die den Anklage-Prozess verfolgen. Zwei Verhöre setzen sich in Gang: eins von oben (ein vorprogrammierter EU-Roboter befragt lüsterne Wirtschaftsmanager), eins von unten (die Undergrounder, die das Geschehen auf eigene Faust, will heißen: durch aktualisiertes Faustrecht, aufklären wollen). Die an Schiller erinnernde „Gerichtsbarkeit der Bühne“23 führt aber bei Veiel weder zu Gewalttaten noch zu Exekutionen. Die selbsternannten Rächer der Machtlosen von 2028 tun in Wahrheit – dem Bühnenbild zum Trotz – keinem etwas zuleide. Mit ihren schwarzen Leder-Outfits und ihren asymmetrischen Frisuren erweisen sie sich vielmehr als gewaltfreie,
22 Moretti, Franco, Pestre, Dominique: Bankspeak. The Language of World Bank Reports. New Left Review 92 (2015), S. 75–99, bes. S. 85–87 und 95–96. 23 Bilder der Folterung durchziehen Schillers Vorlesung zum Theater als „moralischer Anstalt“. Das Theater sei der Ort schlechthin, „wo das menschliche Herz auf den Foltern der Leidenschaft seine leisesten Regungen beichtet, alle Larven fallen, alle Schminke verfliegt und die Wahrheit unbestechlich wie Rhadamantus Gericht hält.“ (Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, S. 822–823).
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kosmopolitisch gesinnte Aufklärer,24 die sich der Schwierigkeit ihres Unterfangens bewusst sind. Zugleich ist die Bühne, auf der sie agieren, der Echoraum für eingehende Social Media-Kommentare und für die bohrenden Fragen der „Public Archive Recording Devices“, einer künstlichen Intelligenz, die selbst Zeitzeugen befragt. Veiels Theaterpoetik ist also – wie dies bereits in Das Himbeerreich der Fall war – von einem sorgfältig-aufklärerischen Duktus geprägt, der „auf Recherche, Analyse und Genauigkeit der Darstellung setzt statt auf Spektakel und Provokation“.25 Veiel lehnt sich bei seinem aufklärerischen Gestus an das Vorbild des sozial und politischen engagierten Schaffens Joseph Beuys an, dem er 2017 einen beeindruckenden Dokumentarfilm gewidmet hat. „Aufklärerisch wirken“ – so lautet die Devise bei Beuys. Der Künstler soll „auf eine verfehlte Politik aufmerksam machen“, „über die wahren Schuldigen in unserem System“ informieren, Kunst sei „die einzige revolutionäre Kraft“, weil sie „auf menschlicher Kreativität, auf Selbstbestimmung und auf Selbstregierung basiert.“ Nur so könne „Demokratie Wirklichkeit werden“.26 In Veiels Theaterstücken ergreifen nicht nur Banker und Politiker das Wort, sondern inszeniert wird die spezifisch kodifizierte und institutionalisierte Sprache einflussreicher Berufsgruppen, die durch unheimlich-befremdliche Bühnenfiguren repräsentiert werden. Gerade in den wie verschlüsselt wirkenden Begriffswelten und Anglizismen der Banker tritt der Anspruch auf Exklusion, aber auch die Schäbigkeit von deren Machenschaften voll in Erscheinung: Man geht „schon mit einer klaren Haltung in die entscheidende Sitzung. Die eigentliche Entscheidung ist bereits getroffen“27 – so lautet eine der Kernaussagen aus Das Himbeerreich, die auch für Let Them Eat Money gelten kann. Die damit einhergehende Misere der zwischenmenschlichen Beziehungen bildet die anthropologische Ergänzung der finanziellen Krisenszenarios. Wie Frau Manziger in Das Himbeerreich feststellt: Sie wollen mit dem Kunden auch das nächste Geschäft machen, die Preise sind überall fast gleich, da müssen Sie was anderes bieten, die eigentlichen Deals werden nicht im Büro gemacht, sondern nachts auf der Piste, Entertaining ist alles, das heißt, als Frau müssen Sie fuckable sein, sie müssen beim Kunden Phantasien auslösen.28 24 Die von Sabrina Wagner für Schriftsteller des 21. Jahrhunderts vorgeschlagene Formel „Aufklärer der Gegenwart“ ließe sich mit Fug und Recht auch auf den Fall Veiel/Doberstein übertragen. Vgl. Wagner, Sabrina: Aufklärer der Gegenwart. Politische Autorschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Juli Zeh, Ilija Trojanow, Uwe Tellkamp. Göttingen 2015, S. 301–302. 25 Beck, Ulrich, Bochow, Jörg: Das Himbeerreich. Von Andres Veiel. Uraufführung, in: Programmheft Nr. 67. Spielzeit 2012/13. Deutsches Theater Berlin, Berlin 2012, S. 11. 26 Beuys. Regie Andres Veiel. Zero one film, 2017. 27 Veiel, Andres: Das Himbeerreich, in: Theater Theater 24 (2013), S. 503–542. 28 Ebd., S. 509.
Poetik der Partizipation für eine Aufarbeitung der Zukunft
Von „mündigen“ Menschen im Kantischen Sinne kann da nicht wirklich die Rede sein. 3.
Mikrogeschichten und globale Szenarien: Eine Aufarbeitung der Zukunft? Zur Doppelbödigkeit von Let Them Eat Money
Nicht „Alternativlosigkeit“ habe laut Veiel das System zum Kollabieren gebracht, sondern ein feines Netz zwischen Politik und Wirtschaft mit starkem Monopolismus, kriminellen Kompromissen, um sich greifender Korruption, aufkommendem Populismus und einer guten Prise Naivität. Wie kann man aber komplizierte Verhältnisse anschaulich und verständlich, d. h. adäquat, auf die Bühne bringen? In Let Them Eat Money verfolgt und präsentiert Veiel individuelle, fast ausschließlich verschlungene und misslungene Lebensläufe. Die partikularen Mikrogeschichten einer Reihe von Individuen werden dadurch zum bevorzugten Beobachtungsfeld verheerender Phänomene, die sich auf globaler Ebene abspielen. Eine gewisse Yldune stellt im Stück dafür ein Paradebeispiel dar. Sie geriert sich als Anführerin des Widerstandes. Vorlage für die Figur dürfte mit größter Wahrscheinlichkeit Ulrike Meinhof gewesen sein, die in Veiels Dokumentarfilm Blackbox BRD vorkommt und von der der Ausdruck „Himbeerreich“ stammt. Die RAF-Konstellation – besonders wichtig in der deutschsprachigen dramatischen Produktion der Gegenwart29 und Veiels insbesondere30 – taucht also mehrfach auf: Nicht zufällig fällt im Stück der parodistisch-sarkastische Begriff „PAF“ –gemeint ist damit die „Performative Armee Fraktion“. Die entstehungsphilologischen Zusammenhänge hat Claudia Lenssen geklärt: Mit Yldune stellt das Stück eine körperlich fragile, gleichwohl beinhart entschlossene Frau in den Mittelpunkt der Gruppe. Wie das RAF-Mitglied Ulrike Meinhof hat die radikale Aktivistin eine Vorgeschichte als Patientin, die auf die Behandlung einer Gehirnerkrankung angewiesen ist. Ihr Name ist einer militanten französischen Linken entliehen, Yldune Lévy, die 2008 wegen eines nicht nachweisbaren Attentats auf einen TGVZug verhaftet wurde, während ihres Prozesses Berühmtheit erlangte und inzwischen bezeichnenderweise als Theatermacherin arbeitet. […] Anders als die historische RAF der zweiten Generation, die angesichts ihrer Straftaten in der BRD die Flucht in den sozialistischen Bruderstaat DDR antrat, zögert die Chefin der fiktiven PAF in Andres Veiels und Jutta Dobersteins Stück ihre Flucht auf die exterritoriale Insel hinaus.31 29 Agazzi, Elena: Brücken zwischen dem 21. und dem 18. Jahrhundert schlagen. Von Schiller bis Jelinek. Forthcoming, 2020. 30 Galli, Matteo: Paralleloi Bioi. Andres Veiel, Black Box BRD (2001), in: Ders. (Hg.): Da Caligari a Good Bye, Lenin! Storia e cinema in Germania, Florenz 2004, S. 539–557. 31 Lenssen: Andres Veiel, S. 296, 305.
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Yldune ist allerdings in Veiels Stück das erste von neun Kindern. Sie wächst in den Banlieus von Paris auf, zeigt ein Talent für Sprachen und erhält ein Stipendium für eine Eliteuniversität im Zentrum der Stadt.32 Einer der wenigen wirklichen Freunde dieser Aktivistin ist ein schrulliger, hochbegabter Außenseiter: der Informatik-Student Onz, ein Deutscher, der ihr die deutsche Sprache beibringen kann. Dass er sie liebt, ist ihr nicht aufgefallen. Im Nachtleben tobt sie sich aus, wird im zweiten Semester schwanger, weiß nicht, wer der Vater ist und will es auch nicht wissen.33 Zur Familie kann sie nicht zurück, sie taucht ab. Auf sich allein gestellt, arbeitet sie Tag und Nacht, um ihr Kind durchzubringen. Die Finanzkrise von 2008 geht unbemerkt an ihr vorbei. Sie hat vorher nichts und nachher nichts. Ihre Tochter Sina ist ihr Ein und Alles. Für sie ist sie bereit, jedes Opfer zu bringen. Sie will ein radikal neues Leben, und sie trifft Onz wieder. Aus der Freundschaft wird eine Liebesbeziehung, die ihr Halt und ihrer Tochter einen liebevollen Vater gibt. Das Glück ist diesmal geborgt und von kurzer Dauer. Aber Yldune ist nun nicht mehr bereit, sich ihre Zukunft wegnehmen zu lassen und sagt dem System den Kampf an. Ihre Entschlossenheit, die Online-Petitionen durch reale Aktionen zu ersetzen, fasziniert die Massen.34 Schnell wird Yldune zur mythenbesetzten Anführerin der Bewegung, die sie – unter Anspielung auf den berühmt-berüchtigten Satz, den man irrtümlichtendenziös der Königin Marie Antoinette in den Mund zu legen pflegt („Qu’ils mangent de la brioche!“), – „Let them eat money“ tauft, als die ersten Dürrekatastrophen Europa heimsuchen und die Landkommunen in ihrer Existenz bedrohen. „Yldune lernt, die Blicke auszuhalten, die auf sie gerichtet sind und sie lernt, das Risiko und die Macht zu nutzen, um die Massen hinter sich zu versammeln.“35 Selbstbewusst und rabiat erscheint sie auf der Bühne und, begleitet von Onz, marschiert sie auf das Publikum zu. In wenigen Zeilen, dicht und eng, weiß sie ihr Hauptanliegen zusammenzufassen: YLDUNE: Hey guys! ONZ: Na, ihr habt lange darauf gewartet, wir haben lange darauf gewartet. YLDUNE: Yes, it’s been a long time coming ONZ: Aber jetzt ist es soweit, time’s up! YLDUNE: Game over! ONZ: Re-boot! Denn seit gestern… YLDUNE: Seit gestern haben wir Franca Roloeg, EU-Kommissarin, und Rappo Rosser bei uns, Gewerkschafter, Kopf der Europäischen Arbeitsgruppe, wie das Bedingungslose Grundeinkommen. Sie sind ein Teil des Problems…
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Beck, Kohlmaier: Let them eat money, S. 13. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 13.
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ONZ: Aber before maybe a little introduction, was wir tun hier… Sir, we are ‚Let them eat money‘, and on my right your host this evening is the amazing, the beautiful, the true Yldune! […] YLDUNE: Ihr habt euch bestimmt gefragt, warum ist da draußen alles so beschießen? ONZ: Und ihr fragt euch, warum ist das alles so dizzy? So unscharf… […] YLDUNE: Wir wollen hier ein bisschen die Optiker sein, die Optiker of truth, wir wollen’s hier scharf zeigen und die Wahrheit sagen, und deswegen haben wir ein paar Experten eingeladen.36
Der diegetische Kern des Stücks basiert also auf einer Idee, die Wirtschaft, Politik und ästhetische Verarbeitung zusammenführt: aus der Zukunft heraus zurückblicken, also: Nicht – wie üblich bei Prognosen – in die Zukunft schauen, sondern – und viel ambitionierter – aus der Zukunft ins Heute blicken. Das ist Veiels Anliegen: Keine Retrospektive, keine Rekonstruktion, sondern eine kühne Aufarbeitung der Zukunft. 4.
Krise und Res publica, Krise der Res publica? Entwurf einer Poetik der Partizipation für das 21. Jahrhundert
Zugleich handelt das Stück davon – und dies ist vielleicht im Rahmen des vorliegenden Bandes besonders relevant –, wie in den Ozeanen jenseits der 20-Meilen-Zonen auf künstlichen Inseln libertäre Staaten gegründet werden, die traditionelle Vorstellungen von staatlicher Ordnung und Organisation auf den Kopf stellen. Welche Art von Staat, welche Art von Res publica wird man nach der Krise haben? Das ist die zweite Kernfrage, die im Stück eingekreist wird. Damit verbunden sind weitere Fragen, die an Brisanz und Aktualität ihresgleichen suchen. Die Ankündigung des Stücks benennt sie präzise: Ist die Krise somit eine Chance, Demokratie und Staat radikal neu zu denken? Und wer sind dabei die Gewinner, wer die Verlierer? In seinem Theaterstück, das Veiel und Doberstein auf Grundlage umfangreicher Recherchen geschrieben haben, steht die Konfrontation mit widersprüchlichen Entwürfen von Zukunft – „abseits von Legislaturperioden oder Parteiinteressen“.37
Dazu hat sich in einem Interview für das Deutsche Theater Berlin unlängst Veiel auch selbst direkt geäußert: 36 Vgl. den entsprechenden Mitschnitt aus der Hörspielfassung (04:09 – 04:50), https:// ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2019/03/31/let_them_eat_money_welche_zukunft_ podcast_drk_20190331_1830_eb961da2.mp3, letzter Zugriff: 15. Mai 2020. 37 Textquelle: https://www.welchezukunft.org/theaterstueck, letzter Zugriff: 15. Mai 2020.
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Wir müssen über große Brüche nachdenken, über einen vollkommen anderen Blick auf Staat, auf Regulierung und vor allem auf die Wünsche derjenigen, die sagen, dass der Staat ein Altherrenmodell sei und sogar schadet. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass die Krise einen Staat erfordert, der funktioniert.38
Hervorgehoben wird dabei die Tatsache, dass der Staat – die Res publica – nicht bloß als eine rechtliche Entität begriffen werden soll, sondern – wie Joseph Vogl bemerkt hat – als ein „Consortium“ von verschiedenen Regierungsfunktionen, die den Menschen als Individuum in den Vordergrund zu rücken haben. Die Frage nach den neuen möglichen Formen der Res publica stand auch im Zentrum der Vorbereitungen von Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! Kai von Lewinski, prominenter Jura-Professor in Passau, wurde eingeladen, um eine offene Diskussion zu animieren und die verschiedenen Meinungen zum Thema Staat und Staatlichkeit mit den Instanzen der Rechtswissenschaft womöglich in Harmonie oder zumindest in Dialog zu bringen. „Vater Staat – leere Hülle oder Retter in höchster Not?“ war der Titel einer einschlägigen Workshop-Sektion. Es ging dabei um die Frage, ob und gegebenenfalls wie die Katastrophe aufzuhalten sei. Und der Staat schien eine Art Verzögerungsamt zu bekleiden. Traditionsreiche Metaphern, mit denen von Lewinski seinen Impulsvortrag beschloss, stellten in dieser Hinsicht die Weichen für künftige Debatten: Der Staat […] ist ein Faktum, und seine Existenz und Persistenz ist durch die Finanzkrise empirisch evident. […] Der Staat ist auch der überkommene Grundbaustein der völkerrechtlichen Ordnung. […] Es ist keine alternative Ordnung zu sehen, die gleichermaßen durchsetzungsfähig nach innen und außen ist und dann Stabilität garantiert. Von daher ist der Staat letzte Hilfe, Ankergrund, aber auch nur ein bloßer Baustein. Den Staat kann man sich sozusagen als ein Gebäude, als einen Rohbau vorstellen. […] Als solcher ist er alternativlos. […] Es macht keinen Sinn, den Rohbau Staat in Frage zu stellen. Wir können uns das vorstellen, als sei der Staat etwa ein Haus auf einem Grundstück, was wir geerbt haben. Mit diesem Haus können wir eine ganze Menge machen, vielleicht umbauen, wir können es kleiner machen, größer machen, wir können es auch abreißen und das Grundstück haben […], aber wir können nicht nicht einen Staat haben, solange drum herum die Welt staatlich organisiert ist. Es geht nicht um das „Ob“ des Staates […], sondern es geht um das „Wie“, um dessen Verfassung und Verfasstheit. […] Es sollte hier, damit wir uns nicht in Utopien verlieren, um den Ausbau des Staates gehen, um das, was innen drin gemacht wird. […] Das Haus ist einfach da.39 38 Beck, Männel, Veiel: Gespräch, S. 21. 39 Kai von Lewinski: Vater Staat – leere Hülle oder Retter in höchster Not?. MitschnittTranskription aus www.welchezukunft.org, Sektion: „Der nächste Staat – Rethinking State“. Das Symposium wird dort folgendermaßen präsentiert: „Wollen wir Vollbeschäftigung oder Vollautomation? Brauchen wir ein Bedingungsloses Grundeinkommen? Wollen wir mehr oder weniger Staat? In der zweitägigen Veranstaltung haben Bürgerinnen und Bürger in Work-
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Einen Beitrag zu einer solchen Innenausstattung des Hauses „Staat“ liefert Veiels Stück, indem es die Rolle der Kunst in dieser Diskussion stärker hervorhebt. Inwieweit hilft uns die Kunst dabei? Ist Kunst als soziale Plastik zur Bewältigung von Problemen planetarischen Formats bereits vorhanden? In den Entstehungswegen von Veiels Stück lässt sich vielleicht eine kaum zu unterschätzende Antwort auf diese Fragen finden. Das Stück Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! erzählt also eine Geschichte „zwischen Fiktion und Spekulation“, es beschreibt „eine von vielen möglichen Zukünften“, indem Entwicklungen weitergedacht werden, die sich heute bereits abzeichnen und die amplifiziert werden.40 Um dies zu ermöglichen, haben Veiel und Doberstein den Weg einer kollektiven Partizipation eingeschlagen. Denn das Theaterstück Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! bildet – entstehungsgeschichtlich betrachtet – das dritte Glied eines partizipativen und interdisziplinären Recherche- und Theaterprojekts, das sich in der Form eines Veranstaltungszyklus in vier Schritten artikuliert. (1.) In einem Labor im Hause des Deutschen Theaters haben im September 2017 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürger ein fiktionales, aber faktengestütztes Krisenszenario für die nächsten 10 Jahre entwickelt. (2.) Im April 2018 wurden in einem Symposium die im Labor entwickelten Fragen nach der Zukunft von Staat und Arbeit unter dem Titel „Der nächste Staat – Rethinking State“ vertieft. (3.) Im Theaterstück steht nun, wie gesagt, die Frage nach der Verantwortung für die Ereignisse der Jahre 2018 bis 2028 im Mittelpunkt. (4.) Im Frühjahr 2020 wird in einer Abschlusskonferenz zusammen mit dem Humboldt Forum Bilanz gezogen.41 Der ursprünglich politische Begriff der Partizipation erhält somit eine ästhetisch relevante, ja geradezu grundlegende Funktion. Let Them Eat Money. shops neue Formen von Staat und Arbeit entworfen. Die Kluft zwischen einer globalen Klasse von Global Citizens und einer Gesellschaft, die mit schwindenden Gestaltungsmöglichkeiten zunehmend unzufrieden ist, wird immer größer. Wie können sich Demokratie, Rechtssysteme und unsere Arbeits- und Lebensweisen an die digitale Revolution anpassen? Welche Rolle übernimmt ein zukünftiger Staat zwischen dem Schutz von Eigentum und der Sorge für das Gemeinwohl? Ist er Treuhänder eines Bedingungslosen Grundeinkommens? Ist er durch die Macht der Transnationals bereits dabei, in seinen Grundfesten zu erodieren? Wird er langfristig abgeschafft und von selbstgesteuerten Einheiten freier Individuen ersetzt werden? Diese Fragen standen im Fokus des zweitägigen Symposiums Der nächste Staat – Rethinking State, an dem Interessierte aktiv teilnehmen konnten. Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus Kultur, Aktivismus und Wissenschaft haben sie in verschiedenen Workshops neue Modelle von Arbeit und Lohn, Governance und Partizipation erarbeitet und auf Umsetzbarkeit überprüft. Die Teilnahme am Symposium war kostenlos und erforderte eine Präsenz an beiden Tagen sowie eine Anmeldung.“ 40 Beck,Kohlmaier: Let them eat money, S. 9. 41 Sämtliche Materialien unter www.welchezukunft.org, letzter Zugriff: 15. Mai 2020.
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Welche Zukunft?! stellt die ästhetisch komplexe Überarbeitung von vorangegangenen Gesprächen, Interviews und Workshops dar, an denen freie Bürger und Wissenschaftler teilnehmen konnten. Jeder war willkommen, seine eigenen Erfahrungen demokratisch und kreativ einzubringen. Somit stand Veiel und Doberstein eine partizipative Schatztruhe von Gedanken und Anregungen, was in den nächsten 10 Jahren passieren könnte, zur Verfügung. Daraus haben sie ihr Stück zügig – innerhalb von vier Monaten – destilliert und so gleichsam authentische Polyphonie auf die Bühne gebracht. Damit haben sie die Beziehung von Poetik und Partizipation zur Hauptressource ihres künstlerischen Schaffens, aber auch ihres „Civismus“ gemacht. Gehört nämlich der Begriff der Partizipation seit jeher zu den Kernmerkmalen demokratischer Lebensgestaltung in der Res publica, so wird solche republikanisch gesinnte Partizipation in Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! nicht bloß thematisiert, sondern sie erweist sich – sowohl entstehungs- als auch wirkungsgeschichtlich gesehen – als eine produktive, ja unabdingbare Bedingung künstlerischen Schaffens angesichts der neuen Herausforderungen im globalen Zeitalter.42 Literaturverzeichnis Agazzi, Elena: Brücken zwischen dem 21. und dem 18. Jahrhundert schlagen. Von Schiller bis Jelinek, Forthcoming, 2020. Beck, Ulrich, Bochow, Jörg: Das Himbeerreich. Von Andres Veiel. Uraufführung, in: Programmheft Nr. 67. Spielzeit 2012/13. Deutsches Theater Berlin, Berlin 2012. Beck, Ulrich, Kohlmaier, Laura: Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! Von Andres Veiel in Zusammenarbeit mit Jutta Doberstein. Uraufführung, in: Programmheft Nr. 130. Spielzeit 18/19. Deutsches Theater Berlin, Berlin 2018. Beck, Ulrich, Männel, Luisa, Veiel, Andres: Gespräch, in: Theater der Autor_innen. Magazin 18/19. Berlin 2018, S. 20–21. Behrendt, Barbara. Die Inseln in der Nordsee werden unsere Zuflucht sein. Premiere von Let Them Eat Money in Berlin, in: Deutschlandfunk Kultur, 29. September 2018. https://www.deutschlandfunkkultur.de/premiere-von-letthem-eat-money-in-berlin-die-inseln-in-der.1013.de.html?dram:article_id= 429339 (15. Mai 2019).
42 Für Einladung und freundliche Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. Gerhard Lauer (Basel) und Herrn Prof. Dariusz Komorowski (Wrocław).
Poetik der Partizipation für eine Aufarbeitung der Zukunft
Bethke, Hannah: Selbstbehauptung am Abgrund. Andres Veiels Let Them Eat Money. Welche Zukunft?! am Deutschen Theater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2018. Beuys. Reg. Andres Veiel. Zero one film, 2017. Carstensen, Uwe B., von Lieven, Stephanie: Über die Autoren und ihre Theaterstücke, in: Theater Theater 24 (2013), S. 543–554. Decker, Gunnar: Yoga oder Folter? Andres Veiel fragt am Deutschen Theater ,Let Them Eat Money – welche Zukunft?!‘, in: Neues Deutschland, 8. Oktober 2018. Galli, Matteo: Paralleloi Bioi. Andres Veiel, Black Box BRD (2001), in: Ders. (Hg.): Da Caligari a Good Bye, Lenin! Storia e cinema in Germania. Florenz 2004, S. 539–557. Goldmann, Adam Joachim: German Plays Tackle the World’s Woes, Current and Future, in: The New York Times, 21. November 2018, S. 22. Häntzschel, Jörg: Die vielen Metaebenen der Krise. Ist das eine Performance oder ein Thinktank des Humboldt-Forums? Andres Veiels Let Thern Eat Money am Deutschen Theater, in: Süddeutsche Zeitung, 1. Oktober 2018, S. 9. Heiderich, Jens F.: Inszenierungen des Ökonomischen im Dokumentartheater der Gegenwart. Rolf Hochhuth, Kathrin Röggla, Andres Veiel, in: Der Deutschunterricht 71 (2019), S. 22–31. Laudenbach, Peter: Hurra, die Welt geht unter. Die Zukunft wird schrecklich! Glaubt zumindest Andres Veiel mit seinem Ausblick ins Jahr 2028: Let Them Eat Money, in: Tip Berlin, 18.–31. Oktober 2018. Lenssen, Claudia: Andres Veiel. Streitbare Bilder, Marburg 2019. Moretti, Franco, Pestre, Dominique: Bankspeak. The Language of World Bank Reports, in: New Left Review 92 (2015), S. 75–99. Reinecke, Stefan: Zu dicht, zu eng, zu viel. Andres Veiel skizziert in Let Them Eat Money im Berliner Deutschen Theater mit funkelnder Intelligenz den Untergang von Neoliberalismus und EU. Und erzeugt Ratlosigkeit, in: TAZ, 1. Oktober 2018. Schiller, Friedrich: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, S. 818–831. Tanz auf dem Vulkan. Der Dokumentarfilmer und Theaterregisseur Andres Veiel inszeniert Europas Zukunft am Deutschen Theater, in: Berliner Kurier, 27. September 2018. Veiel, Andres: Das Himbeerreich, in: Theater Theater 24 (2013), S. 503–542. Veiel, Andres, Lenssen, Claudia: Interventionen – ein Gespräch mit Andres Veiel. In: Lenssen, Claudia: Andres Veiel. Streitbare Bilder, Marburg 2019, S. 17–70.
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Guglielmo Gabbiadini
„Veiel, Andres“, in: Munzinger Online/Personen – Internationales Bibliographisches Archiv. http://www.munzinger.de/document/00000023766 (15. Mai 2019). Wagner, Sabrina: Aufklärer der Gegenwart. Politische Autorschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Juli Zeh, Ilija Trojanow, Uwe Tellkamp. Göttingen 2015. Warnke, Ingo H.: Diskurslinguistik nach Foucault – Dimensionen einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen, in: Ders. (Hg.): Diskurslinguistik nach Foucault: Theorie und Gegenstände, Berlin/Boston 2007, S. 3–23. Warnke, Ingo H.: Diskurslinguistik – Verdichtete Programmatik vor weitem Horizont, in: Ders. (Hg.): Handbuch Diskurs, Berlin/Boston 2018, S. IX–XXXIV.
Claudia Nitschke (Durham University)
Verteidigung des Paradieses? Res publica und Utopie bei Thomas Steinaecker
Der Begriff der res publica ist ein facettenreicher Begriff: Verschiedene Aspekte von Gemeingut, Gemeinwohl, Gemeinschaft, Gesellschaft sowie Staat und Staatszwecklehre lassen sich durch das Prisma der „öffentlichen Sache“ erschließen. In seinem Buch Communitas bricht Roberto Esposito mit der gängigen Vorstellung von Gemeinschaft als einer Eigenschaft oder sogar Eigentum der Subjekte, die sie vereint. Gemeinschaft als ein Ganzes, als Gesamtheit des sozialen Körpers und das Gemeinsame bzw. Gemeinschaftliche als Wert bzw. als eine „Errungenschaft“, ist für Esposito keine tragfähige Konzeption. Er geht vielmehr etymologisch auf die Wortwurzel cum munus zurück, wobei er munus als Verpflichtung, Gabe, Amt identifiziert. Aus dieser Vorstellung speist sich seine These, dass Gemeinschaft eben kein Besitz oder Territorium sei, das es zu verteidigen gilt. Stattdessen liege ihr als Kern ein Mangel zugrunde: etwas Auszufüllendes, eine geteilte Verpflichtung, ein von allen zu Erbringendes – etwas, was stets noch aussteht. Der Gegenbegriff zu Communitas, Immunitas, bezeichnet für Esposito dementsprechend eine Immunität, die von dieser Verpflichtung ausnimmt bzw. vor ihr schützt: Therefore the community cannot be thought of as a body, as a corporation [corporazione] in which individuals are founded in a larger individual. Neither is community to be interpreted as a mutual, intersubjective ‚recognition‘ in which individuals are reflected in each other so as to confirm their initial identity; as a collective bond that comes at a certain point to connect individuals that before were separate. The community isn’t a mode of being, much less a ‚making‘ of the individual subject. It isn’t the subject’s expansion or multiplication but its exposure to what interrupts the closing and turns it inside out […]. Not the Origin but its absence, its withdrawal. It is the originary munus that constitutes us and makes us destitute in our mortal finiteness.1
Diese Auffassung von einer Communitas ist für die Analyse von Thomas Steinaeckers Roman Die Verteidigung des Paradieses insofern aufschlussreich, als sie Kerndebatten zum (staatlichen) Gemeinwesen mit Blick auf Essenz, Struktur und Funktion zusammenfasst, dabei alte Dichotomien (besonders die Opposition von privat und öffentlich) vermeidet und letztlich die res 1 Esposito, Roberto: Communitas. The Origin and Destiny of Community, Stanford 2010, S. 7‒8.
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publica nicht an einem ontologischen Surplus, sondern an einem Desideratum (munus) ausrichtet. Organische Körperkonzepte von Politik, aber auch alte, vertragsrechtlich konzipierte Vorstellungen von Souveränität werden ebenso verworfen wie kommunitaristische Anerkennungstechniken; Vorstellungen von Staatszwecklehre, Staatsräson und Gouvernementalität erscheinen ebenfalls von den Bedürfnissen des modernen, neoliberalen Staats produziert. Die Fragen, die sich an Espositos grundsätzliche und terminologische Überlegungen anschließen, sind auch in der postglobalen Gesellschaft nicht überholt, sondern haben sich vielmehr verschärft. Verschiedenartige Krisenerfahrungen hinsichtlich der Politik, der Umwelt und der Märkte unterminieren immer deutlicher das rechtliche, politische, soziale, ökonomische und ökologische Selbstverständnis der westlichen Industrienationen und ihre Vorstellungen von einem (bisher in einem nationalen Rahmen) kodierten Gemeinwesen. Die deutsche Gegenwartsliteratur offeriert dabei ein breites Spektrum möglicher Zugriffe: In Karen Duves Macht (2016), Jonas Lüschers Kraft (2017) oder Alexander Schimmelpfennigs Hochdeutschland (2018) etwa werden im globalen Kontext Res publica-Entwürfe erdacht bzw. hinterfragt. Gerade Duve und Schimmelpfennig verdeutlichen, dass die Extrapolation der Zukunft oft auf einer drastischen Karikatur bzw. Potenzierung von augenfälligen Gegenwartsstrukturen beruht. In solchen dystopischen Szenarien sieht Eva Horn die „Möglichkeit medialer Zeitachsenmanipulation in der Moderne“2 und rückt die proleptischen Katastrophenerzählungen in den Bereich der Prophylaxe. Indem fiktionale Texte und Filme demonstrieren, „dass und wie erzählt wird, legen sie die Notwendigkeit dieses Narrativs in jeder Form von Vorsorge und Prävention frei: die heuristische Annahme einer Position, die aus der Zukunft auf die Gegenwart zurückblickt. Indem sie die Luzidität und die Blindheit der präventiven Prolepse in der Form ihrer Darstellung erkennbar machen, zeigen sie den Preis des Erkennens und Verkennens von Zukunft.“3 Claus Leggewies und Harald Welzers Buch Das Ende der Welt, wie wir sie kannten kreist in diesem Sinne um die Vorstellung eines Kipp-Punktes (Tipping point), an dem eine Situation – durch inkrementelle Verschiebungen – auf einmal außer Kontrolle gerät, also kippt: „Die Kombination der einzelnen Krisen führt zu einer Metakrise, zur Infragestellung des komplexen Zusammenwirkens aller Teilsysteme und damit zur Gefahr eines Systemzusammenbruchs, der nur durch entschlossenes Gegensteuern abzuwenden ist“4 (Hervorhebung von Horn). Eva Horn versteht diese ‚Meta-Krise‘ als eine Krise ohne Ereignis5 , weil die ultimativen Katastrophen, 2 3 4 5
Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M. 2014, S. 375. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 19.
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die in den Texten imaginiert werden, eben noch nicht eingetreten sind oder konsequent im Kontext eines allgegenwärtigen Krisendiskurses ‚entwirklicht‘ werden.6 Gerade in der Antizipation der Katastrophe bieten die literarischen Dystopien also eine extensive Analyse der möglichen Kipp-Punkte, die sie mit Bedacht auswählen. Was hat nun Thomas Steinaeckers dystopischer Roman Die Verteidigung des Paradieses zu diesen gängigen Fragen beizutragen? Es wurde schon angedeutet, dass auch Verteidigung des Paradieses in einer dystopischen Zukunft spielt; die Nähe zu Science Fiction ist in den zahllosen Referenzen des Texts unübersehbar. Gleichzeitig ist dieser zentrale Bezug in ein Netz von Kontinuitäten eingewoben, die weniger ein vollständig unerwartetes Novum7 imaginieren, sondern vielmehr bekannte Ideen neu auflegen und damit die Prä-Texte/Filme, denen sie entnommen wurden, zentral positionieren. Auch Science Fiction selbst wird auf diese Weise zu einem quasi musealen Gegenstand, zum kulturellen Wissen, das der Text als ‚Semiophore‘ (Krzysztof Pomian) ausstellt. Damit wird der Roman in unübersehbarer Weise ein Roman über Literatur. Das Netz literarischer und filmischer Bezüge, durch das sich der junge Protagonist und Icherzähler Heinz bei seinem Überlebenskampf im postapokalyptischen Deutschland bewegt, ist mit Verweisen auf bewährte Plot-Vorlagen wie Cormac McCarthys The Road, Philip K. Dicks Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? bzw. Ridley Scotts Blade Runner sowie Robert Kirkman und Tony Moores Graphic Novel Walking Dead (bzw. deren Adaption als Fernsehserie durch Frank Darabont), um nur wenige zu nennen, dicht gewebt. Diese intensive Hypotextstruktur ist nicht nebensächlich, sondern schreibt sich grundlegend in Heinz’ Charakter ein, der – von einem entsprechenden literarischen Korpus geprägt – eine spezifische moralische Disposition, eine Sehnsucht nach couragierter, engagierter Integrität ausbildet. Die Rolle des Musealen als Stichwortgeber und als ethischer Maßstab wird eng an die Aufforderung zum richtigen Handeln geknüpft. Literatur als Instrument der Analyse, besonders aber auch – weniger pragmatisch formuliert – als Medium und Katalysator von Bildungsprozessen rückt hier in den Mittelpunkt. Es lohnt sich, dies exemplarisch anhand der Gliederung des Textes nachzuvollziehen; nicht nur verschiedenfarbige Hefte markieren hier Zäsuren,8 son6 Vgl. Leggewie, Claus, Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a. M. 2010, S. 17–21. 7 Suvin, Darko: Science Fiction and the Novum, in: Ders.: Defined by a Hollow. Essays on Utopia, Science Fiction and Political Epistemology, Frankfurt a. M. 2010, S. 67–92. 8 Auch hierin finden sich literarische Referenzen: Heinz „schreibt auch immer schön beflissen geradeaus, so richtig 19.-Jahrhundert-mässig, ausserdem in schwarze und gelbe und blaue Hefte, die einen wahlweise an Valérys Cahiers, an Ernst Jüngers, Martin Heideggers oder Robert Gernhardts Hefte denken lassen.“ Bucheli, Roman: Zukunft ist die schlimmere Vergangenheit. Thomas von Steinaeckers Apokalypse, in: Neue Zürcher Zei-
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dern auch Abschnitte, die von Zitaten eingeleitet werden. Diese Zitate geben eine für den gesamten Text aufschlussreiche Richtung vor und beginnen entsprechend elementar: Dem ersten Abschnitt von Heinz’ Bericht ist ein GenesisZitat („Am Anfang war das Wort“) vorangestellt, dem zweiten mit „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“9 ein evokatives Zitat aus Goethes Gedicht Das Göttliche: Edel sei der Mensch, Hülfreich und gut! Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen, Die wir kennen. Heil den unbekannten Höhern Wesen, Die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch;10
Hier werden nicht nur drei ethische Rahmenparameter normativ vorgegeben (edel, hilfreich und gut), sondern auch eine Annäherung an das Göttliche eingefordert. Der Mensch ist dann Mensch, wenn er moralisch mit dem Göttlichen übereinstimmt. Goethes spezifische Referenz auf das Göttliche im Menschen verweist überdies zusammen mit dem Genesiszitat auf die Szene in Faust, in der Faust einen Versuch unternimmt, die Bibel zu übersetzen, und dabei die konventionelle Übersetzung nach seinem Verständnis präzisiert: Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
tung, 29. März 2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/thomas-von-steinaeckers-romandie-verteidigung-des-paradieses-zukunft-ist-die-schlimmere-vergangenheit-ld.10124, letzter Zugriff: 30 Mai 2019. 9 Steinaecker, Thomas: Die Verteidigung des Paradieses, Frankfurt a. M. 2017, S. 21. 10 Goethe, Johann Wolfgang von: Das Göttliche, in: Ders.: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. I 2, München 1987, S. 83.
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Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rath Und schreibe getrost: im Anfang war die That!11
Fausts Argumentation steht zwar in einem anderen literaturhistorischen Kontext; allerdings können über den Autor das Genesis-Zitat und die Maxime zum richtigen Handeln aus Goethes Das Göttliche direkt verbunden werden. Damit ist ein wichtiger Aspekt von Literatur für den Protagonisten benannt: Sowohl die ästhetische Rezeption als auch Produktion werden eng an eine (wiederum literarisch vermittelte) Ethik gekoppelt, die es aktiv umzusetzen gilt. Der Anspruch steht im ironischen Kontrast zu den tatsächlichen Ereignissen und zum dystopischen Szenario, das Steinaecker heraufbeschwört: Die postapokalyptische Welt befindet sich in einem Kriegszustand, in dem verschiedene Kleinstund Großgruppen gegeneinander ausgespielt werden. Dass die Verbindung zwischen dem Göttlichen im Menschen und der Literatur nichtsdestoweniger vielschichtig und eng ist, wird indessen immer wieder bestätigt, etwa, wenn Heinz’ Écriture automatique, mit der er Sätze aufzeichnet, die ihm „ohne Vorwarnung“12 in den Kopf schießen, von dem „Leader“13 als Weltliteratur erkannt wird. Dies firmiert unmittelbar unter der Kapitelüberschrift „Offenbarung“. Zitiert wird auch aus der deutschen Literaturgeschichte (1828/1836) des Schriftstellers Wolfgang Menzel. Letzterer befasst sich mit der spezifischen Literaturaffinität der Deutschen, die mehr lesen und schreiben als handeln. Steinaecker bezieht sich auf folgenden Abschnitt: „Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. […] Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit […] Was auch immer wir in der einen Hand haben, in der andern haben wir gewiß immer ein Buch.“14 Ironisch wird hier ein Nationalcharakter extrahiert und problematisiert, wenn Menzel im selben Abschnitt festhält: „Das Meiste aber wird in Deutschland nur geschrieben, und gar nicht gethan.“15 Menzel geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: „Die Literatur ist die allgemeine Reichsapotheke geworden, und da das ganze Reich immer kränker wird, je mehr es Arzneien einnimmt, so nehmen eben darum die Arzneien nicht ab, sondern zu.“16 In dieser nationalen Verdichtung wird das Volk der Dichter und Denker 11 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust, in: Ders.: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. I 14, München 1987, S. 62–63. 12 Steinaecker: Die Verteidigung, S. 49. 13 Ebd. 14 Menzel,Wolfgang: Die deutsche Literatur, zweite vermehrte Auflage, erster Theil, Stuttgart 1836, S. 3–4; Steinaecker, Die Verteidigung, S. 269. 15 Menzel: Die deutsche Literatur, S. 6. 16 Ebd., S. 4–5.
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dem klassischen Muster der Bibliomanie folgend zum handlungsunfähigen Krankheitsfall. Menzels Pathologisierung erscheint hier historisch spezifisch – der Roman allerdings öffnet dies auch grundsätzlicher für Fragen der Verantwortlichkeit, Steuerbarkeit, Handlungsbefähigung, wie bereits mit Genesiszitat deutlich wird: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Gen 1,2–1,5, LU) In Gottes Schöpfung synthetisiert sich Wort und Tat, das Leben der Menschen erscheint als ein ihr nachgeordnetes Produkt. Trotzdem indizieren die Bibelzitate nicht nur eine Demut gegenüber Gott, sondern – mit dem dominium terrae (Gen 1, 28, LU) – auch auf die privilegierte Position des Menschen im christlichen Kosmos. Neben der christlichen Ethik kommt angesichts der artikulierten Hierarchie bzw. Hegemonie zudem die Frage der Relationalität ins Spiel, in der sich die Lebewesen und die Erde organisieren. Dieser Befund wird im Text mit dem Blick auf künstliche Intelligenz weiter zugespitzt, die zwar ein Produkt des Menschen ist (in einer Art Zitat der Schöpfungsgeschichte), aber durchaus über ein spezifisches Maß an Volition und Selbstbestimmung verfügen kann. Der Mensch erscheint bei Steinaecker nicht nur für den partiellen Weltuntergang (quasi als ‚Anti-Schöpfung‘) verantwortlich; vielmehr wird er seinerseits als Schöpfer dieser alternativen Existenzmodi (mit separaten Moralsystemen) relevant. Die entscheidenden Spannungsfelder zwischen dem historisch Spezifischen und dem anthropologisch Grundlegenden sowie dem Schöpferischen und dem Kreatürlichen werden in den vorangestellten Abschnittszitaten bereits richtunggebend angedeutet. Auch eine intuitiv chronologische Zeitauffassung im Sinne der Kantischen reinen Anschauung gerät in einem der einleitenden Zitate unter Beschuss, wenn bei Augustinus eine göttliche Unendlichkeit jegliche menschliche Zeitorganisation unterminiert: „Alles, was künftig geschehen soll, ist für Gott bereits geschehen.“17 Mit dem letzten, einleitenden Abschnittszitat aus dem Korintherbrief wird dagegen wiederum eine spezifische Chronologie der menschlichen Reifung nahegelegt: „Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.“ (1 Kor 13, 11, LU) Gerahmt wird dieser Bibelvers von Folgendem: „Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. […] Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann 17 Steinaecker, Die Verteidigung, S. 311.
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aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“. (1 Kor 13, 9–13, LU) Die menschlich spezifische Zeit wird in einer eschatologischen Zeit aufgehoben, alle menschliche Erkenntnis als unzureichend („stückweise“) charakterisiert und der Mensch stattdessen auf „Glaube, Liebe, Hoffnung“ verwiesen. Auch hier ist menschliches Erkennen und Handeln auf ein Minimum reduziert, dagegen erscheinen moralisch und prosozial eingefärbte Emotionen und Intuitionen zunehmend bedeutsam (Glaube, Liebe, Hoffnung). In diese Gemengelage von Eingangszitaten, die sich an binären Oppositionen abarbeiten, fügt sich nahtlos Jimmy Carters Voyager-Grußbotschaft an außerirdische Zivilisationen: Mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 wird die Erkundung des interstellaren Raums möglich, die geläufige Grenzen selbstbewusst transzendiert. Dieser expansive Gestus wird mit der spezifischen Demut in den Grußbotschaften konterkariert: Das bisher geschlossene Universum, in dem der Mensch eine Sonderstellung beansprucht, öffnet sich für Möglichkeit anderer Existenzformen. Dem unilateral barrierefreien Weltraum wird damit auch eine andere Entgrenzung gegenübergestellt, nämlich eine bilaterale Öffnung, bei der ein klar designierter Herrschaftsraum der Menschen für andere, außerirdische Lebensformen geöffnet wird. Freilich sind diese in den Grußbotschaften für Wesen formuliert, die eine menschliche Kompatibilität aufweisen müssen, um sie überhaupt verstehen zu können: Damit wird in der scheinbaren Offenheit wiederum hauptsächlich die Limitation des menschlich Vorstellbaren akzentuiert. Alle Zitate sind zusammengenommen nicht nur im hohen Maße selbstreferentiell, sondern geben den bildungstheoretischen, ja normativen Rahmen des Buches vor, der allerdings gleichzeitig radikal zur Disposition gestellt wird: Denn in diese Zitate sind verschiedene Gemeinschaftsvorstellungen eingeschrieben, die über Eigenschaften, Zugehörigkeiten oder Eigentum (sei es dem Deutschsein vs. Europa, Menschsein vs. Gott bzw. Mensch vs. Außerirdische) reguliert werden – ganz im Sinne von Espositos Ausgangsanalyse. Darauf wird gleich noch einmal zurückzukommen sein. Ob und inwieweit die Wirksamkeit bzw. die Berechtigung der in Goethes Das Göttliche aufgerufenen, umfassenden Ethik, die der Protagonist so rückhaltlos zu verkörpern versucht, die Oberhand behält, bleibt im Roman angesichts des ungeklärten Status der verschiedenen Hefte letztlich offen; unklar ist auch, ob die Zitate als Paratext zu verstehen sind oder zur Diegese (der erzählten Welt) gehören. Alle einleitenden Zitate legen überdies eine weitere für den Roman zentrale Technik offen: Der Text beschäftigt sich immer wieder mit Schwellenfiguren, die gängige Grenzen ausloten und in Frage stellen. Im Mittelpunkt dieser Erkundung steht der Mensch als hervorgehobene Lebensform unter anderen Existenzformen. Giorgio Agamben stellt bei seiner genealogischen Analyse von
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Mensch und Tier in Das Offene fest, dass der Begriff ‚Leben‘ zwar nie genau definiert, dafür aber umso extensiver in eine Reihe von Zäsuren und Gegensätzen gegliedert wird: „Die Teilung des Lebens in vegetatives und relationales, organisches und animalisches, animalisches und humanes Leben durchzieht also wie eine bewegliche Grenze vornehmlich das Innere des Menschen, und ohne diese innerste Zäsur wäre die Entscheidung darüber, was menschlich und was nicht menschlich ist, wahrscheinlich nicht möglich.“18 Agamben sieht den Menschen dementsprechend als Ort, aber auch als Produkt eben dieser Teilungen und Zäsuren, für die auch die Abschnittszitate einschlägig sind. Für Agamben (und in Teilen auch für Steinaecker) ist hier weniger das metaphysische Geheimnis der Vereinigung (von Leben und Seele) von Belang, sondern vielmehr die praktische Politik der Trennung. Fragen nach menschlichen Werten und auch nach Menschenrechten knüpfen sich daran unmittelbar an. Agamben sieht eine ‚anthropologische Maschine‘ am Werk, die über die Opposition human/inhuman operiert. Dieser Opposition liegt wiederum eine Zone der Ununterschiedenheit zugrunde, wo, am „Ort einer ständig erneuerten Entscheidung“19 , Zäsuren neu verortet werden. Steinaeckers Text bindet die Zone einer solchen Ununterschiedenheit in seine Argumentation ein, präsentiert sie aber zugleich als politische Aufforderung, die mit Agamben die Stilllegung der anthropologischen Maschine zu fordern scheint. Eine menschliche Handlungsbefähigung, die als Alleinstellungsmerkmal gelten kann, wird im Text indessen nicht aufgegeben; zu einer solchen Ambivalenz trägt insbesondere der Protagonist Heinz bei, der an dieser menschlichen Qualität festhält, mehr noch, der sie im Kontext seiner literarischen Sozialisation glorifiziert. Ironischerweise handelt es sich bei diesem kulturell selektiven Nachlassverwalter der Menschheit nicht um einen Menschen. Ähnlich wie im Blade Runner-Finale erfährt Heinz erst im letzten Teil des Buches, dass er selbst als K.I.-Konstrukt entworfen und entwickelt wurde, um das literarische Erbe des Abendlandes zu erhalten und zu vollenden. Natürlich ist der entsprechende Chip beschädigt und Heinz ist – eine selbst referentielle Bescheidenheitsgeste des Autors – zu Mittelmäßigkeit verurteilt. Viele Rahmenkoordinaten des Romans sind ähnlich kolportageartig konzipiert – der Text imitiert etwa Plotstrukturen von Roland Emmerichs Katastrophenfilm The day after tomorrow, in dem sich US-Bürger in der ungewohnten Situation befinden, Mexiko um Asyl zu bitten müssen. Steinaeckers Roman hebelt in ähnlicher Weise ein deutsches Selbstverständnis aus, indem die Deutschen ebenfalls als Asylsuchende in einem längst nicht mehr uneingeschränkt solidarischen Frankreich vorstellig werden. Der europäische, rationalisierte
18 Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M. 2003, S. 26. 19 Ebd., S. 48.
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Selbstrechtfertigungsdiskurs wird in Steinaeckers postapokalyptischem Frankreich in einer Anekdote zusammengefasst und als standardisierte Fußnote in das behördliche Asylantragsformular integriert, das Heinz bei seiner Einreise ausfüllen muss: In diesem kleinen narrativen Experiment wird konsequentialistisch vorgeführt, wie eine Kleinfamilie durch mehrere nachfolgende Adoptionen die kritische Schwelle ihrer eigenen Absorptions- und Leistungsfähigkeit überschreitet und tragisch scheitert. Ein solcher rückhaltloser, unreflektierter Altruismus erweist sich demnach logisch als selbst-destruktiv. Diese „Veranschaulichung durch die sog. ‚Gutemensch-Parabel‘“20 im Kontext des Behördenberichts ist offensichtlich ebenso verquer wie zynisch und manipulativ, speist sich aber aus zeitgenössischen Diskursversatzstücken der westlichen Welt. Dass Steinaeckers Dystopie einer Gegenwartsanalyse sehr eng verbunden bleibt, fasst Roman Bucheli im Titel seiner NZZ-Rezension „Die Zukunft ist die schlimmere Vergangenheit“21 treffend zusammen. Und in der Tat iteriert Steinaeckers Roman nicht nur einfache Deutungsmuster und Gedankenexperimente, sondern zitiert wiederum Lehrsätze eines (hier post-souveränen) Hobbes’schen Naturzustands, eines Kampfs aller gegen alle, während er gleichzeitig mit der psychologischen Kleingruppendynamik der Flüchtenden experimentiert. Makropolitische Überlegungen folgen in der rechtlosen Peripherie, in der sich Heinz befindet, dem spieltheoretischen Kalkül des Gefangenendilemmas: Jede Begegnung wird als einmalig verstanden und muss mit dem maximalen Misstrauen erfolgen, d. h. Kommunikation muss durch sofortige Überwältigung der Gruppenfremden ersetzt werden, um deren Angriff vorzubeugen. Menschen werden zu bestialischen Gegnern; sie werden einander – frei nach Hobbes – zum Wolf. Diese kontextuelle, pragmatisch-rationale Entmenschlichung im größeren Kontext wird nun in der Kleingruppe konterkariert. Heinz gehört zu einer Gruppe von Menschen, die zu Beginn des Romans auf einer – durch eine Art Geoshield geschützten – Alm leben: „Der Schutzschild verhinderte, das Menschen, Tiere und auch die kleinen Sporen und Samen, die in der großen Ebene beheimatet waren, ins Ressort eindrangen“22 . Die postapokalyptische Interimszeit auf der Alm ist also als Paradies zu verstehen, das sich quasi als Nachfolger des Paradieses der Vorunglückszeit als neue Normalität herausbildet; erst als auch dort das technische Wettersystem ausfällt und die natürlichen Ressourcen zum Überleben kurz- und langfristig in Frage stehen, verlässt die Gruppe ihr ehemaliges Refugium und begibt sich auf die Suche nach einem sicheren Ort. Der Zusammenhalt zwischen den ehemali-
20 Steinaecker, Die Verteidung, S. 366. 21 Bucheli, Zukunft ist die schlimmere Vergangenheit. 22 Steinaecker, S. 94.
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gen Almbewohnern ist eng, allerdings wird diese wahlfamiliäre Toleranz und Menschenfreundlichkeit von auffälligen In- und Out-Group-Mechanismen gesteuert; die radikale Schleusenfunktion greift auch hier. Fremde werden ohne Vorwarnung präventiv erschlagen; aber auch innerhalb der Mikrogemeinschaft scheut man vor Kannibalismus untereinander nicht zurück, wenn der Älteste und Schwächste ihrer ausgehungerten Gruppe dazu auffordert, ihn zu töten und zu verspeisen. Christologische Selbstopferreferenzen gehen mit darwinistischem Pragmatismus Hand in Hand und reihen sich in ein taxonomisch umfassendes Spektrum menschlicher Motivationen, Rituale und Psychodynamiken. Steinaecker bedient sich einer bewährten narratologischen Technik, wenn er die Ereignisse des letzten Teils, in der Heinz als Überlebender von seiner eigenen Hybridität und Mediokrität erfährt, in einem finalen Schritt aushebelt. Beim letzten Blatt des Romans handelt es sich nämlich um einen Vermerk über Heinz’ Hungertod, der gleichzeitig die Tage angibt, die er auf dem Flüchtlingsschiff Loreley verbracht hat. Dieser Vermerk scheint zu insinuieren, dass der gesamte letzte Teil des vorliegenden Romans, der ja ausschließlich aus Heinz’ Aufzeichnungen besteht, auch als Halluzination, als eine Selbsterklärungsvision, als eine Art Freudsche Expedition des drastisch unterernährten Heinz ins eigene Unterbewusstsein gelesen werden kann. Dessen zunehmende Inkohärenz in diesem Stadium wird im Roman in einem visuellen Mimicry durch Wortversatzstücke, Buchstaben und schließlich leere Seiten angedeutet. Diese Schleife funktioniert nicht im Sinne eines Denouements oder einer Auflösung (wie etwa in Blade Runner oder The Sixth Sense), sondern scheint vielmehr den literarischen Status des Texts performativ hervorzuheben. Der Titel Verteidigung des Paradieses eröffnet in der selbstbezüglichen Geste des Schreibens eine aufschlussreiche, selbstevaluative Perspektive, geht es im Text doch immer wieder um die Bedeutsamkeit von Literatur fürs Leben. Damit werden die separaten Geschichten relevanter, die Eingang in Heinz’ Bericht finden. Diese eingefügten Erzählungen gliedern die politischen Entscheidungen in eine langfristige Geschichte, manchmal sogar eine Deep history23 ein, mit der die Probleme der postglobalen Gegenwart im Text neu und anders verortet werden. Im gewissen Sinne wird damit auch die Geschichtslosigkeit des Textes, die von Bucheli beklagte Entsprechung von imaginierter Zukunft und Gegenwart, in einem posthumanen Kontext radikalisiert. Die Analyse der Verantwortungsstrukturen der Vorkatastrophenzeit fällt in Heinz’ Bericht 23 Im Sinne einer Geschichte, die sich in die weitest entfernte Vorzeit der Menschen erstreckt. Der Rekurs auf Bakterien nimmt dabei zahllose Teilungen und Zäsuren zurück, allerdings hier in einer zeitlichen Umkehrung zu einer Art (eben letztlich willkürlichen) Anfang. Vgl. Smail, Daniel Lord: On Deep History and the Brain, Berkeley/Los Angeles/London 2008.
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dagegen nur sehr begrenzt aus – lediglich ein Mitglied seiner Zufallsfamilie, nämlich Cornelius – gehörte dem Council an, das in der Ressortregion entscheidungsbefugt ist; nur einmal kommt es in der Gruppe zu einem expliziten Elitenvorwurf gegen ihn. Ansonsten wird das politische Panorama der Postapokalypse eng an die Gegenwart gebunden, allerdings zumeist mit invertierten Voraussetzungen, etwa, wenn angedeutet wird, dass China nun endgültig weltpolitisch – und auch mit Blick auf sogenannte Rekolonisierungsbemühungen im Katastrophenterritorium – die Oberhand gewonnen hat. In der eingefügten Erzählung über die afrikanische Schildkröte Ti té da Wan Dulis wird hingegen aus der Außenperspektive vom Ende der Menschheit berichtet. Die Schildkröte erzählt von ihrer Gefangensetzung durch James Cook und ihrem Leben im englischen Zoo. Am Ende der Erzählung wird sie als Bioprodukt exportiert, um im Kampf gegen das Artensterben die Reproduktion ihrer Gattung sicherzustellen – und zwar mit dem eingefrorenen Sperma eines bereits verstorbenen Artgenossen. Ähnlich wie die extraktivistische Selbstherrlichkeit des Menschen im Text erscheint auch seine wohlwollende, konservierungsbestrebte Interferenz mit der Natur als unzulässiger und letztlich inkompetenter Eingriff. Das wissenschaftliche Projekt entgleitet den Menschen und die Kinder von der Schildkröte pflanzen sich mit einer heimischen Spezies fort, die sich rasant ausbreitet und „zur Ausrottung einer Froschart führte, was wiederum das Massensterben jener Süßwasserfische nach sich zog.“24 Dem folgt auch hier ein unspezifisches Desaster, nämlich „einige Tage Chaos, in dem Land und Wasser sich miteinander vermengten“25 , das ein Verschwinden der Menschen zur Folge hat. Eine neue menschenähnliche Spezies, kleiner und rücksichtsloser, übernimmt danach die Herrschaft und beginnt, die Schildkröten zu verfolgen. Mit der amoralischen Fortsetzung des Menschengeschlechts in einer Koboldspezies wird hier zugleich ein Fortschrittsmythos und Optimierungsmodus angezweifelt. Die letzten Worte der Erzählung gedenken, durchaus emotional, der Menschen als einer faszinierenden Art: „Es mag keine zweite Spezies auf diesem Erdkreis gegeben haben, die stets derart auf ihre Vergangenheit pochte und all das Schlechte herauskehrte, das durch sie in die Welt gekommen war. Dieser Zug machte sie am Ende doch drollig.“26 Diese Faszination mit der gleichzeitig letalen und sozialen Metareflexivität der menschlichen „Rasse“ spiegelt globale Chancen und Gefahren wider, die der Menschheit inhärent sind, wie sie etwa Yuval Harari in Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit anklingen
24 Steinaecker 145. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 146.
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lässt.27 (Harari 2013) In dieser Außenperspektive geht es nichtsdestoweniger um eine im weitesten Sinne historische Zeit, die den Menschen in einem genesisartigen Finale (Land und Wasser sind ungetrennt, Chaos regiert) aus der Geschichte verabschiedet – und als neue Version wieder empfängt; die zirkulären Zeitschlaufen im Roman sind Programm und unterlaufen eine allzu simple Chronologie. Steinaecker widmet sich sogar einer vormenschlichen Deep history, wenn er die Geschichte der Bakterien Muba und Baba beschreibt, die sich – auf der dampfenden Erdoberfläche gelandet – im Paradies wähnen: Hier wird die Relativität, ja Relationalität des Titelbegriffes noch einmal besonders deutlich greifbar (Steinaecker 2017, 55). Nicht die Erde als ‚Umgebung‘ ist hier für die Bakterien entscheidend, sondern die Erde als ‚Umwelt‘ im Sinne Jakob Johann von Uexküll, insofern Letztere mit den Lebewesen in ein subjektives Verhältnis tritt und sie nicht nur als Objekte aufnimmt. Für Steinaecker ist dabei vor allem die prä- und posthumane Zeit von Belang, die als Kontrapunkt zum fortgesetzten Menschenregime in der fiktiven Gegenwart eingeführt wird. In der Erzählung Fisch Vogel Mensch zieht sich eine Gruppe von Menschen – in einer Art umgekehrten Evolution – aus der zunehmend feindlichen Umwelt wieder ins Meer zurück. Die Post-SapiensGeschichte der Mischwesen, die hier angedeutet wird, ist die Geschichte einer Ausdifferenzierung in Vogel- oder Fischmenschen. Die Fischmenschen jagen zunächst versehentlich die Vogelmenschen und bemerken „zu spät […]. Der Fang besaß ja Beine! Arme, Gesichter!“ Der Krieg, der sich daraus entspinnt, endet in einer Pattsituation und führt zur intellektuellen Verkümmerung der Fischmenschen, sobald sie sich in der Tiefsee verbergen. Die Vogelmenschen ziehen sich ins Inland zurück und vergessen ihrerseits das Meer, dessen Bewohner für die Fischmenschen nur als Kinderschreck lebendig bleibt: „Und doch. Knieten Gefiederte trinkend an Gewässern und leckten spitzzüngig an eignen Spiegelbildern, überlief sie ein Schauer: die Ahnung davon, was sich darunter verbergen möchte.“28 Das Augenmerk liegt aber nicht auf dem scheinbar unausweichlichen, darwinistisch getönten ‚Kampf ums Überleben‘, sondern vielmehr auf einer abzuleitenden Gefahr: Mit der genetischen Ausdifferenzierung der Menschen in Fischund Vogelwesen steht nämlich gleichzeitig die Vorstellung einer klar konturierten und klar bestimmbaren Spezies auf dem Spiel. Auch in Heinz’ Bericht geht es in diesem Sinne immer wieder um die zunehmend schwerer definierbare Grenze zwischen Mensch und Tier oder zwischen K.I. und Mensch. Gerade in intimen Momenten, etwa wenn zwei Mitglieder der Gruppe Eltern werden, gilt das vermeintlich verbindende Gruppenmerkmal, nämlich ihr Menschsein, 27 Vgl. Harari, Yuval: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2013. 28 Steinaecker, S. 299.
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nicht mehr vorbehaltlos. Heinz bemerkt – unangenehm berührt –, dass das Weinen des Babys den Schreien der Paviane gleicht, die auf der Alm ihre erbittertsten Gegner darstellten. Durch Strahlenmutationen degenerieren Menschen überdies in tierähnliche Triebwesen. Oft scheint die moralische Adjustierung der K.I. ausgewogener und besser programmiert (d. h. menschenähnlicher) als bei Menschen – gut funktionierende Ethikchips stechen bei einigen der Roboter positiv hervor. Der Fennek, Heinz’ Spielzeugcomputer, gehört so zu den loyalsten und hilfreichsten Figuren des Textes. Gerade der transhumane Hybridmensch, der in Variationen immer wieder auftaucht, nicht zuletzt als alles entscheidende Erzählerfigur, ist hier aufschlussreich. Auch die Erzählung Der Zehntausendmetermann beschreibt eine ähnliche Transgression, nämlich die Transformation eines eingeschlafenen Wanderers in einen Berg. Beim Aufwachen wird der ahnungslose Mensch/Berg von Menschen attackiert, denen er buchstäblich entwachsen und damit qua Existenz zum Gegner geworden ist, ohne dass von ihm ein Akt der Aggression hätte ausgehen müssen: „Was er im ersten Moment für das Durcheinander von Insekten gehalten hat, stellte sich nun als etwas heraus, das ihn in ausgeklügelten Formationen, in Armeen umzingelte. Kleine Menschen in Helikoptern, groß wie Fliegen. […] Halt, stöhnte er [der Zehntausendmetermann]. Ich – ich bin doch einer von euch.“29 Der Grund für die Verwandlung bleibt kafkaesk opak, protomythisch; etwaige Erklärungen entziehen sich dem metamorphorphisierten Objekt selbst und damit auch dem Leser. Zugleich korrespondiert Fremdheitserfahrung und das Herausbrechen des Zehntausendmetermannes aus einer monolithisch konzipierten biologischen Art wiederum mit einer anderen Vorstellung: die Überzeugung des Menschen von seiner eignen Ewigkeit, dem instinktiven Anspruch auf eine sub specie aeternitatis. Der „Menschenberg“ vergisst schließlich die Welt, zerstört alle Städte und zerstampft fast alle Menschen; die Verschonten flüchten unter die Erde und hausen dort wie Tiere. Eine zufällig evozierte Erinnerung an London durch ein Straßenschild löst beim Bergriesen schließlich einen Weinanfall aus, der das Land überflutet und die überlebenden Menschen eliminiert. Dieser Bergriese, als „letzter Mensch“, ist von seinen eigenen, zu Eis gewordenen Tränen eingeschlossen, die ihn „verlässlich“ bis zu seinen „letzten Zuckungen“30 einsperren. Aus dem Menschen wird wiederum Landschaft, Natur. Diese in zwei Teilen präsentierte, nur zwei Seiten umfassende Geschichte verdient Aufmerksamkeit, weil sie trotz ihrer vermeintlich mythischen Struktur auf wichtige politische Aspekte im postglobalen Zeitalter Bezug nimmt.
29 Ebd., S. 184. 30 Ebd., S. 185.
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Auch Bruno Latour bedient sich in Facing Gaia einer solchen Anthropomorphisierung, einer Personifikation der Natur (Gaia), um die alten Grenzlinien in Frage zu stellen: „We are gradually forced to redistribute entirely what had formerly been called natural und what had been called social or symbolic.“31 (Hervorhebung von Latour) Somit ist nunmehr „an eye is fixed on us, but it is not the eye of God […]; it is the eye of Gaia looking straight at us […] From now on, everything is looking at us. […] we ourselves are so mixed up with it that it has become internal, human, all too human, provisional perhaps, in any case sensitive to everything we do.“32 (Hervorhebungen von Latour) Ähnlich wie es Steinaecker vorführt, hebt Latour auch hervor, dass wir uns für die feedback loops aller unserer Handlungen und deren Konsequenzen, durch „plays, exhibitions, art forms, poetry, and maybe also rituals“33 (Hervorhebung von Latour) sensibilisieren müssen. Latour ist dabei bemüht, einen heuristischen Gesichtspunkt anzuvisieren, mit dem man verantwortlich und sinnvoll durch das neue Zeitalter des Klimaregimes navigieren kann. Geopolitik kann in seinem Sinne immer nur den Rahmen bestimmen, Latours Terrestrisches Manifest dagegen begreift das Terrestrische selbst als Agenten: „Solange die Erde noch stabil schien, konnte man von Raum sprechen und sich darin und auf einem Stück Territorium, das wir angeblich besetzt hatten, platzieren. Was aber soll man tun, wenn das Territorium selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt […], sich mit uns beschäftigt.“34 Steinaecker perforiert in ähnlicher Weise intuitive Grenzen und gibt besonders in den Binnenerzählungen neue Perspektiven vor, die sich von einem teleologischen Narrativ, dem Menschen als Krone und Zentrum der Schöpfung zunehmend verabschieden. In diesem Sinne ergeben sich bei ihm auffällig Parallelen zu Gayatri Spivaks Technik der Defamiliarisierung, mit der letztere in Death of a Discipline „Planetarity“, Planetarität, als einen neuen inter- ja transdisziplinären Metabegriff als Alternative zum Humanismus einführt. „Planet-thought“35 überschreitet das politisch Imaginäre, das den Menschen als global Handelnden versteht und gibt Vorstellungen von einer Spezies-Identität auf. Stattdessen schlägt sie vor, den Menschen als planetary creature zu begreifen, um damit uneingeschränkte Alterität und Differenzen zulassen zu können; das ist eine zentrale Forderung, die in Steinaeckers Roman immer wieder erzählerisch umgesetzt wird. Um die res publica zu definieren, muss – so Steinaecker im Sinne von Latour – nicht 31 Latour, Bruno: Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climatic Regime, Cambridge 2017, S. 109. 32 Ebd., S. 219. 33 Ebd., S. 254, Fußnote 61. 34 Latour, Bruno: Das Terrestrische Manifest, Berlin 2018, S. 53. 35 Spivak, Gayatri Chakravorty: Death of a Discipline, New York 2003, S. 80.
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nur der Gegenstand, das Ziel, die Gemeinschaft, sondern auch die Teilhaber, die Agenten bestimmt werden – und mit dieser Neubewertung gewinnt die fiktive Gegenwart des Textes eine andere Bedeutung. Mag sich auch das Mächtegleichgewicht verschieben, die alten Rahmenkoordinaten von gouvernmentaler Politik und einer axiomatisch als unveränderlich begriffenen Menschheit gelten weiter. Bei der Rekolonisierung des zerstörten deutschen Reiches werden sogar explizit koloniale Machttechniken reaktiviert, d. h. mit veränderten Ausgangsprämissen wiederholt. Die Zukunft als schlimmere Vergangenheit wäre damit bei Steinaecker kein Defekt in der Analysestruktur des Romans, sondern vielmehr Programm. Es geht ihm nicht mehr um oberflächliche Korrekturen, um minimale Nuancierungen und Redistribuierungen im status quo, sondern um grundsätzliche epistemische Verschiebungen der Rahmenwahrnehmung von Gemeinschaft, Gesellschaft und Menschheit. Den alten politischen Kategorien werden mit dem Planetarischen bzw. Terrestrischen andere und neue Zuordnungssysteme entgegengestellt. An einem entscheidenden menschlichen Aspekt arbeitet sich Steinaecker nichtsdestoweniger besonders ab: nämlich die ethische Metareflexion (eben nicht als Applikation; als solche funktioniert sie als K.I.-Chip effizienter als bei den Menschen), die Ti té da Wan Dulis ihrerseits als „drollig“ hervorhebt. Diese ethische Metareflexion ist – wie oben erwähnt – vor allem literarisch reguliert und wird vornehmlich durch Heinz vertreten, dessen immer wieder reflektierte Handlungsmaxime Astrid Lindgrens Die Gebrüder Löwenherz entlehnt ist: „Es gibt Dinge, die man tun muss, weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck.“36 (Hervorhebung Steinaecker) Paradoxerweise wird die menschliche Ethik damit zu dem stärksten, positiven Alleinstellungsmerkmal in einem Roman, der globale Entdifferenzierungsvorgänge zwischen Natur, Mensch und Technologie als epistemologische Chance beschreibt. Dass Heinz als K.I.-Produkt diese ethische Ausrichtung besonders vehement lebt, ironisiert diese Vorstellung zweifellos, allerdings ohne sie vollständig als Ideologie zu entwerten. Das Buch inkorporiert die zentralen „Lektionen“, die Heinz durchlebt und die als mise en abyme für den gesamten Text relevant werden, zudem an exponierter Stelle: In der diffusen Zone zwischen Leben und Tod begegnet der halluzinierende Heinz der Schildkröte Ti té da Wan Dulis, die ihm zwei der Lektionen erteilt. Die erste erhält er im Übrigen von einer Lampe im Raum, die ihn auffordert „aufzustehen“ und die dann auch prompt die Szenerie für die nächsten Lektionen „erhellt“. Heinz sieht seinen verunglückten Vater vor sich, seine ultimative Sehnsuchtsfigur, ebenso wie andere verschwundene Freunde: „Ich bin gar nicht traurig, dass meine Freunde und mein Vater verschwunden sind. Wenn ich will, kommen sie wieder, glaube ich. Ich glaube an euch. ‚Das‘, 36 Steinaecker, S. 199.
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sagte die Schildkröte knarrend in die Stille der Zelle, ‚war die zweite Lektion.‘“37 Wenn der erste Korintherbrief nahelegt, dass es „Glaube, Liebe, Hoffnung“ seien, die einer stückweisen, „durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort“ (1 Kor 13, 12, LU) beschauten Erkenntnis entgegengestellt werden, so kommt hier in der Tat die Liebe zum Tragen und befeuert eine tiefere Erkenntnis, eine Lektion, die zugleich auch die zeitliche Ordnung desintegriert, weil sie in anderen Kategorien operiert. Die dritte Lektion der Schildkröte beschreibt die Klimax der vorangegangenen Erfahrungen: Ich fliege […] ich stürme ans Ufer […] Ich bin die Tiere, die sich ängstlich vor dem Wind verstecken. […] Ich verstecke mich vor mir selbst. Über die Ebenen rase ich. Bis in das große Lager. In die Menschen auf den Straßen fahre ich, mundhinein. Pumpe durch ihre Lungen, durch ihr Herz, trete aus, durch ihre Lippen. Wirble zu den Factorys. Ich bin die Kinder, montiere mit meinen Händen die Toys, die für andere Kinder in China bestimmt sind, glücklichere. Ich bin die Factory. […] Ich treibe Windräder an, es wird Licht. Ins All stobe ich. Ich bin das All und wachse. Ich bin groß. Ich werde größer. Ich höre nicht auf. […]38
Ganz im Sinne von Rosa Braidottis Posthumanismus findet sich hier eine Art „vitalistischer Materialismus“, der „auf einer monistischen, neospinozistischen Ontologie der radikalen Immanenz“39 basiert. Diese Immanenz, so Braidotti, verlange „eine transversal-relationale Ethik“40 , insofern alles Seiende Teil einer Lebenskraft (zoe) sich selbst organisierender, intelligenter Materie sei. Genau wie bei Braidotti verlieren bei Steinaecker die Entgegensetzungen von Natur – Kultur bzw. Mensch – Tier ihren orientierenden Wert. Braidotti definiert das posthumane Subjekt vielmehr im Rahmen einer Ökophilosophie vielfältiger Zugehörigkeiten als ein relationales Subjekt, das in und durch Vielfältigkeit konstituiert wird, als ein Subjekt, das durch Differenzen hindurch funktioniert und auch in sich selbst differenziert ist, aber nach wie vor verantwortlich und realitätsbezogen. Posthumane Subjektivität drückt eine verleiblichte, eingebettete und damit parteiliche Form von Verantwortlichkeit aus, basierend auf einem starken Gefühl der Kollektivität, Beziehungsförmigkeit und damit Gemeinschaftsbildung.41
37 Ebd., S. 340. 38 Ebd., S. 341–343. 39 Braidotti, Rosa: Posthumanismus: Leben jenseits des Menschen. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Laugstein. Frankfurt a. M./New York 2015, S. 119. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 54.
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Eine solche kritische Theorie des posthumanen Subjekts formiert sich bei Braidotti auf der Basis einer „Ethik des Werdens“42 , die sich von dem entfernt, was sie als reaktives Beharren auf einem humanistischen, kosmopolitischen Werteuniversalismus versteht. Anhand dieser Position wird die ethische Ambiguität in Steinaeckers Text noch einmal reformulierbar: Die Transzendierung der oben beschriebenen Zäsuren (Agamben), in denen sich das Humane über Teilungen und Gliederungen konstituiert, findet bei Steinaecker in enger Anbindung eines weitgehend über literarische Referenzen verbürgten Wertekanons statt. Der Kanon wird zitiert, problematisiert und steht oft sogar im Kontrast zu den Ereignissen in den entsprechenden Abschnitten. Seine Relevanz wird allerdings nie vollständig entwertet, sondern in einer Öffnung hin zu anderen Relevanzsystemen rekontextualisiert. Kathrine Hayles hält – mit Blick auf virtuelle Körper – fest: But the posthuman does not really mean the end of humanity. It signals instead the end of a certain conception of the human, a conception that may have applied, at best, to that fraction of humanity who had the wealth, power, and leisure to conceptualize themselves as autonomous beings exercising their will through individual agency and choice. What is lethal is not the posthuman as such but the grafting of the human onto a liberal humanist view of the self. […] Yet the posthuman need not be recuperated back into liberal humanism, nor need it be construed as antihuman. Located within the dialectic of pattern/randomness and grounded in embodied actuality rather than disembodied information, the posthuman offers resources for rethinking the articulation of humans with intelligent machines.43
Heinz als „E-Klon“ ist genau eine solche Manifestation des Posthumanen; als embodied actuality überführt er den ‚liberalen Humanismus‘ letztlich in eine weitreichende ethische, monolaterale Verpflichtung und priorisiert diese vor seinen eigenen Rechten und Interessen. In Heinz lösen sich die problematisch gewordenen Grenzen auf, als Hybrid umfasst er Menschliches und Nichtmenschliches, historisch Gewachsenes und artifiziell Produziertes; er widersetzt sich jeder taxonomischen Kategorisierung und fällt aus den normierten Zeitvorstellungen. Auf der vorletzten Seite des Romans heißt es dementsprechend: „Es war einmal ein Kind auf einer Alm, das war ein E-Klon, ein Junge, eine Bakterie und eine Schildkröte. Es war einmal ein Junge, der wurde ein Häftling und eine Berühmtheit. Es war einmal ein Mann, der wurde ein Mönch. Es war einmal ein Greis, der schrieb ein Buch. Es war einmal ein Mensch.“44
42 Ebd. 43 Hayles, Katherine: How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 2008, S. 286–287. 44 Steinaecker, S. 408.
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Bei Steinaecker erscheint diese Epiphanie der Allverwandtschaft primär als ethische Anweisung, als eine zu erbringende Leistung, eine Obligation, aber auch eine Erfüllung und Vorbestimmung. Das führt zurück zu den Überlegungen von Esposito, der die Immunitas als Gegenteil zur Communitas versteht. Die gegenwärtige politische Ordnung funktioniert bei Steinaecker ähnlich wie bei Esposito über das Konzept der Immunitas; auch bei Steinaecker wird insofern die Communitas, wie eben erwähnt, zu einer ausstehenden Pflicht, einer Gabe. Dagegen erscheint im Roman die – oberflächlich betrachtet – immer noch nationalstaatlich regulierte politische Welt auch nach der Apokalypse lösungsunfähig. Ähnlich wie bei Giorgio Agamben werden subjektive und politische Rechte im Roman gleichermaßen als biopolitische Diskretionszone verstanden, in der politisch qualifiziertes Leben überhaupt erschaffen bzw. willkürlich zugewiesen wird. Agamben hält dazu fest, dass „die Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung, und das Syntagma homo sacer etwas wie die ursprüngliche ‚politische‘ Beziehung, das heißt das Leben, [benennt,] insofern es in der einschließenden Ausschließung der souveränen Ausnahme als Bezugsgröße dient.“45 Die neu-alte Weltordnung mit ihren gouvernementalen Techniken (mit denen über ‚bloßes, politisch nicht qualifiziertes Leben‘ frei verfügt werden kann), so macht der Roman deutlich, ist längst obsolet, erweist sich aber als resilient. Für Steinaecker kommt auch nach dem Kollaps die Dialektik zwischen Aneignung und Kapitalisierung nicht zum Erliegen, sondern wird vielmehr transformiert – das wird in der Rekolonisierungsbewegung und der Anspielung auf die ‚Factorys‘ klar zum Ausdruck gebracht. Das weltökologische Regime46 geht bei Steinaecker – auch nach der apokalyptischen Krise – in einer rekonfigurierten Ausbeutungsstruktur weiter; das Zusammenspiel von ökonomischer Akkumulation, politischer Hegemonie und Naturaneignung wird einfach reproduziert. Steinaecker sieht damit in einer Vorstellung von Souveränität (nach Agamben) den primären Garanten jenes problematischen, intuitiven Denkens, das über eine zugewiesene politische Qualifizierung (eben in der Vergabe oder im Entzug von Rechten) immer wieder neue, ausbeutbare Ressourcen kreieren kann und diese Möglichkeit – dem Roman zufolge – auch umfassend nutzt: „Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität.“47 Souveränität reguliert die Zone der „Ununterscheidbarkeit zwischen 45 Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 95. 46 Siehe Moore, Jason: Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital, London/New York 2015. 47 Agamben: Homo Sacer, S. 37.
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dem Menschlichen und dem Tierischen“48 , zwischen Physis und Nomos. In dieser Zone werden die Teilungen und Zäsuren des politisch qualifizierten Menschseins produziert. Bezeichnenderweise befinden sich die Factorys der Versklavung in der sogenannten „Zone“, wo Ausbeutung praktiziert werden kann, ohne dass sie nationalstaatlich eingefärbt wäre oder mit einer explizierten Rechtstheorie einhergehen müsste (obwohl deutlich nationalstaatlich profilierte Profiteure benannt werden). Die Zone versinnbildlicht Souveränität – im Sinne von Agamben – als Zone der Diskretion, in der politisch qualifiziertes Leben produziert oder vorenthalten wird; sie ist keinem Staat mehr zugewiesen, sondern diesen vielmehr äußerlich. Gleichzeitig wird sie in einem wichtigen Schritt an die extraktivistische Tendenz eines ins „Netz des Lebens“ (Moore) eingewobenen Kapitalismus zu verstehen: „Capitalism does generalize commodity relations, but the actual extent of such generalization depends on an even greater generalization: the appropriation of unpaid work/energy.“49 (Hervorhebung Moore) Steinaecker bringt dabei zwar weiterhin geläufige Akteure auf der Weltbühne (Frankreich, China etc., wenn auch oft mit vertauschten Rollen) in Stellung und unterzieht deren spezifische Rolle einer harschen Kritik; zugleich allerdings erscheint der Nationalstaat nur bedingt handlungsfähig; es zeichnen sich – gerade mit der „Zone“ – Regulierungsmechanismen ab, die nicht mehr lokal begrenzt und benannt werden können; vielmehr finden sich auch bei Steinaecker Anklänge an eine imperiale Souveränität im Sinne von Michael Hardt und Antonio Negri. Im Kontext der Globalisierung ist in diesem Sinne nicht länger der Nationalstaat souverän, sondern vielmehr das Kapital, das alle Entscheidungen reguliert.50 Auf diese komplexe Durchdringung und Durchsetzung deuten auch die in den Roman eingeschalteten Seiten mit Werbung, die dem Format von Rowohlts Pfandbriefanzeigen folgen. Damit erscheint die Unmittelbarkeit des Berichts, den die Aufzeichnungen von Heinz beanspruchen, bereits innerhalb der diegetischen Welt modifiziert, deuten sie doch an, dass Heinz’ Text bereits gedruckt vorliegt. Auch der Text selbst speist sich damit in einer Art Metalepse in den kapitalistischen Kreislauf ein, der gleichzeitig sein Analysegegenstand ist. Die Anzeigen werben nach dem partialen Weltuntergang für eine Rekolonisierung der „Mostly Destroyed Countries“51 : „‚Man liebt […] die Schätze des Geistes in mündelsicheren Papieren anzulegen‘, schrieb der große österreichische Dichter Robert Musil einmal. Das spricht gegen eine Geisteshaltung, die das Risiko 48 49 50 51
Ebd., S. 115–116. Moore: Capitalism, S. 29. Siehe Hardt, Michael, Negri, Antonio: Empire, Cambridge 2000. Steinaecker, S. 380.
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scheut. Es spricht für Recolonize!-Stocks! Recolonize!-Stocks Hohe Devisen – eine Investition ins Land der Dichter und Denker®“52 (Hervorhebungen von Steinaecker). Oder: „‚Kinder verdienen Unbeschwertheit […] und nicht Sklaverei!‘, sagte schon der große deutsche Dichterfürst, Johann Wolfgang von Goethe. Auch Sie missbilligen die Arbeit von Kleinkindern in den Factorys der Zone? […] Wie kann ich helfen? […] Kaufen Sie die Recolonize!-Stocks! […]“53 (Hervorhebungen von Steinaecker) Perpetuiert werden hier Vorstellung von Nationalität (der deutsche, der österreichische Dichter), vertraute Tropen (Dichterfürst), eine humanistische Wertehaltung (gegen Sklaverei, für eine offene Geisteshaltung, unbeschwerte Kindheit); gleichzeitig erscheinen die Zitate auf irritierende Weise rekontextualisiert, indem sie im Kontext der Aktien augenfällig umkodiert werden. Die forcierte Kontinuität (eine Art Expansion des liberalen Humanismus wie bei Hayles) wirkt hier allerdings entschleiernd. Die Unangemessenheit der literarischen Bezüge in der postapokalyptischen Welt legt die Willkür der Kategorien offen. Auch hier wird vor allem die Notwendigkeit laut, alte Ein- und Ausschlusstechniken grundsätzlich umzuformulieren. Die kontextuelle Deplatziertheit der aufgerufenen Bildungsassoziationen verweist zwar auf ihre inhärente Überholtheit, sie verdeutlicht aber auch, wie effizient eine beharrliche Weiterverwendung sein kann. In den postapokalyptischen Redewendungen bleiben alte Klischees auf nachdrückliche Art wirkungsmächtig, weil sie eine Normalität indizieren, die längst fragwürdig und obsolet ist; die Adressaten der Werbung partizipieren damit an einem ideologischen System, das sie einst (und ja in Teilen auch weiterhin) privilegierte. Mit diesen Interventionen wird in Verteidigung des Paradieses durchgehend zur Dekonstruktion bestehender Ordnungen aufgerufen, die in der apokalyptischen Welt des Textes nicht plötzlich emergieren, sondern nur deutlicher sichtbar werden. Die politisch-kapitalistische Ordnung wird dabei ebenso in Frage gestellt, wie die Position des Menschen in ihr. Nur in einem klaren Bruch mit diesem vielgestaltigen Menschenbild mitsamt seinem Alleinstellungs- und Gestaltungsanspruch, den der Roman ständig vorführt, wird eine andere Form der Gemeinschaft als Communitas im Sinne von Esposito denkbar. Mit dem K.I.-Hybrid Heinz, der als autodiegetischer Erzähler die entscheidende Position im Text einnimmt, sind dem Roman allerdings unhintergehbare Ambivalenzen eingeschrieben: Auch wenn Heinz eine spezifische Werteethik der Pflicht und der Demut immer wieder prominent einbringt, bleibt im Roman die epistemische Verunsicherung einer konkreten Gegenvorstellung vorgeordnet.
52 Ebd., S. 227–228. 53 Ebd., S. 295–296.
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Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M. 2003. Braidotti, Rosa: Posthumanismus: Leben jenseits des Menschen. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Laugstein. Frankfurt a. M./New York 2015. Bucheli, Roman: Zukunft ist die schlimmere Vergangenheit. Thomas von Steinaeckers Apokalypse, in: Neue Zürcher Zeitung, 29. März 2016. https:// www.nzz.ch/feuilleton/buecher/thomas-von-steinaeckers-roman-dieverteidigung-des-paradieses-zukunft-ist-die-schlimmere-vergangenheit-ld. 10124, letzter Zugriff: 30. Mai 2019. Esposito, Roberto: Communitas. The Origin and Destiny of Community, Stanford 2010. Goethe, Johann Wolfgang von: Das Göttliche, in: Ders.: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. I 2, München 1987. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust, in: Ders.: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. I 14, München 1987. Harari, Yuval: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2013. Hardt, Michael, Negri, Antonio: Empire, Cambridge 2000. Hayles, Katherine: How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 2008. Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt a. M. 2014. Latour, Bruno: Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climatic Regime, Cambridge 2017. Latour, Bruno: Das Terrestrische Manifest, Berlin 2018. Leggewie, Claus, Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a. M. 2010. Menzel,Wolfgang: Die deutsche Literatur, zweite vermehrte Auflage, erster Theil, Stuttgart 1836. Moore, Jason: Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital, London/New York 2015. Smail, Daniel Lord: On Deep History and the Brain, Berkeley/Los Angeles/London 2008. Spivak, Gayatri Chakravorty: Death of a Discipline, New York 2003. Steinaecker, Thomas: Die Verteidigung des Paradieses, Frankfurt a. M. 2017. Suvin, Darko: Science Fiction and the Novum, in: Ders.: Defined by a Hollow. Essays on Utopia, Science Fiction and Political Epistemology, Frankfurt a. M. 2010, S. 67–92.
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Dariusz Komorowski (Uniwersytet Wrocławski)
Der Gemeinsinn im Lokalen Zum Verständnis der res publica in den Reportagen Fredi Lerchs
Die im Titel des Bandes vorgeschlagene Auseinandersetzung mit der Wiederkehr der res publica im globalen Zeitalter spricht nicht nur die direkt ausgedrückte globale Dimension des Gemeinsinns an, sondern bezieht sich auch auf kleine Gemeinschaften, in denen die Idee des gemeinen Wohls vor dem weltweiten Hintergrund umgesetzt wird oder werden kann. Spannungen zwischen der lokal und global orientierten Interessen in verschiedenen Bereichen wurden mehrmals analysiert, wovon zahlreiche Publikationen zeugen.1 Im Folgenden möchte ich mich auf die Studie Globalization. The human consequences von Zygmunt Bauman stützen, um kurz auf das Verhältnis zwischen dem Lokalen und dem Globalen einzugehen, das für die weiteren Erörterungen wesentlich ist. Bauman sieht in der voranschreitenden Globalisierung ein immer tieferes Auseinandergehen von Werte- und Wahrheitskriterien bestimmenden Zentren und lokalen Gemeinschaften, die jene Werte umzusetzen haben. Er weist auf die steigende Diskrepanz zwischen jenen Zentren hin, die frei von den Verpflichtungen den lokalen Gemeinschaften gegenüber sind und dem „conditio humana“, das immer noch an die Lokalität gebunden bleibt.2 Es entsteht eine Asymmetrie zwischen dem exterritorialen Charakter der Macht und der Territorialität des Lebens und seiner Erscheinungsformen.3 Jenseits des ordnenden Prinzips des Staates, der von seinem Wesen her territorial gebunden ist, agieren die anonym verbleibenden Kräfte ohne jegliche Kontrolle eher impulsartig als zielbewusst4 , wie Bauman in Anlehnung an Wright schreibt, was 1 Hier nur einige Hinweise auf bedeutende Referenztexte: Robertson, Roland: Glocalization. Time – Space and Homogeneity – Heterogeneity. In: Featherstone, Michael, Lash, Scott, Robertson, Roland (Hg.): Global Modernities, London 1995, S. 25–45; Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis, London 1996; Beck, Ulrich: Was ist Globalisisierung? Irrtümer des Globalismus. Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a. M. 1997; Giddens, Anthony: Consequences of Modernity, Cambridge 1991; Ritzer, George (Hg.): The Blackwell Companion to Globalization, Oxford 2007; Wright, Georg Henrik von: The crisis of social science and the withering away of the nation state, „Association“ 1, 1997. 2 Bauman, Zygmunt: Globalization. The human consequences, Cambridge 1998. Hier in der polnischen Übersetzung: Globalizacja. I co z tego dla ludzi wynika, Warszawa 2000, S. 7. 3 Ebd., 15. 4 Ebd., S. 68‒71.
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Dariusz Komorowski
die Unsicherheit der auf ihren Raum angewiesenen Menschen noch erhöht. Vor dem Hintergrund des impotenten Staates wächst das Bedürfnis nach einer ordnenden Kraft, die oft im Lokalen gesucht wird. Die Schweiz als ein kleines Land mit einer starken Affinität zum Regionalen, das aber wirtschaftlich und politisch weltweit vernetzt ist, scheint ein perfektes Feld anzubieten, auf dem nicht nur die Spannungen zwischen den Extremen der Globalisierung und der Lokalität stark zum Vorschein kommen, sondern auch verschiedene Modelle der res publica konzipiert, ausgelebt und literarisch verarbeitet werden können. So ist es auch bis in die 1980er Jahre hinein gewesen, als, wie Pia Reinacher es beschreibt, viele prominente Autoren, darunter Peter Bichsel, Niklaus Meienberg, Otto F. Walter u. v. a. m. „sich die politische Auseinandersetzung aufs Banner“5 schrieben. Bei der nachfolgenden Schriftstellergeneration konstatiert sie jedoch eine Abwendung vom Politischen zugunsten des Privaten, der Liebe, Sex und Partnerstress.6 Autoren wie Peter Weber, Ruth Schweikert oder Peter Stamm sähen in der Schweiz lediglich ihren Herkunftsort, vor dessen Hintergrund ihr privates Leben gedeiht und literarisch beschrieben werden sollte. Eine Bresche in der politischen Neutralität der Schriftsteller hat die Auseinandersetzung über die Rolle des Schriftstellers und der Literatur in der Öffentlichkeit zwischen Lukas Bärfuss, Peter Stamm und Jonas Lüscher geschlagen.7 Schon vorher aber sorgte Milo Rau mit seinen Theateraufführungen für Aufregung. In einem seiner performativen Projekte „City of Change“8 , das er 2010/11 mit dem International Institute of Political Murder und dem Stadttheater St. Gallen realisierte, ging es grundsätzlich darum, wie man angesichts der weltweit intensivierten Migrationsbewegung für den Gemeinsinn sorgen kann. Den Ausgangspunkt bildete die Tatsache, dass ein großer Teil der St. Gallener Einwohner, gemeint waren vor allem die in der Stadt wohnenden und arbeitenden Ausländer, die ohne Bürgerschaftsrechte von den Partizipationsprozessen der Stadtgemeinschaft ausgeschlossen bleiben. Die als Provokation gedachte Initiative richtete sich an die St. Gallener 5 Reinacher, Pia: Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur, München/Wien 2003, S. 7. 6 Ebd., S. 9. 7 In den Jahren 2015–2016 fand eine Debatte statt, die mit dem Essay Die Schweiz ist des Wahnsinns von Lukas Bärfuss angefangen hat und ihre Fortsetzung in den Eröffnungsreden von Peter Stamm (2015) und Jonas Lüscher (2016) an dem Literaturfestival Zürich liest fand. Das Hauptmotiv jener Auseinandersetzung bildete die Frage nach dem Verständnis der Literatur und dem Engagement des Schriftstellers. 8 Mehr zu diesem Theaterprojekt in: McClelland, Richard: „Schweiz erwache!“ Milo Raus City of Change (2010‒2011), das Theater und die Schweizer Demokratie, in: Sidowska, Karolina, Wąsik Monika (Hg.): Vom Gipfel der Alpen… Schweizer Drama und Theater im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin u. a. 2019, S. 221‒234.
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Bürger mit konkreten Vorschlägen, wie man die bisher Ausgeschlossenen in die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Entscheidungsprozeduren einbeziehen kann. Sie setzte voraus, dass alle in St. Gallen Wohnenden berechtigt werden, nicht nur sich bei Abstimmungen zu beteiligen, sondern darüber hinaus selbst Mitglieder von Entscheidungsgremien zu werden. Mit Absicht wird hier nicht von „gewählt werden“ gesprochen, denn Rau sieht keinen großen Unterschied zwischen den Wahlen und zufälligen Zuordnungen, die gleichermaßen willkürlich seien. Für die führenden Posten in der Stadtverwaltung sollten die Kandidaten demzufolge nicht gewählt, sondern in einer Losentscheidung bestimmt werden – unabhängig von ihrem bürgerschaftlichen Status. Auch wenn Raus Vorschlag etwas sonderbar vorkommen kann, weist er auf das Bedürfnis der Stunde hin, nach unkonventionellen Lösungen zu greifen. Fredi Lerch ist in dieser Hinsicht viel zurückhaltender als der rebellisch gestimmte Rau. Lerch war in den Jahren 1982–2001 Redaktor bei der „Wochenzeitung“, dann bis 2017 als freier Journalist im Pressebüro Puncto in Bern tätig. Er schreibt Bücher, Gedichte, Reportagen, Feuilletons, Kolumnen, die nicht nur in der gedruckten Presse erscheinen, sondern auch on-line, wie zum Beispiel in der online Zeitschrift „Journal B“ (bis 2017), oder nur auf seiner home page abzurufen sind. Seit einiger Zeit widmet er sich vor allem seinem Online-Projekt „Textwerkstatt“, das ständig das Archivarische seiner Arbeit aufdeckt und neue Beschäftigungsbereiche präsentiert. Die Zusammenführung beider Autoren kann etwas sonderbar anmuten, denn Lerch steht, man könnte sagen, in vielerlei Hinsicht auf dem Gegenpol zu Rau. Kulturelle Provokation oder Skandal gehören nicht zu seinem Repertoire. Er bezeichnet sich selbst als menschenscheu, versucht eher aufzuklären als die Menschen auf Barrikaden zu führen. Trotzdem bleiben sich beide Autoren ideenmäßig verwandt, was z. B. Lerchs Reportage Wird Bümpliz wieder rot? aus dem Jahr 2017 veranschaulicht. In der Reportage, die als eine literarische Parallele zu Raus Performance gelesen werden kann, fokussiert Lerch seinen Blick auf den ehemaligen Berner Vorort Bümpliz, verkleinert also noch um Einiges den sowieso kleinen Maßstab von einer Stadt auf einen Stadtteil. Zeitlich spannt er einen weiten Bogen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den heutigen Zeiten. Er setzt in der Zeit der Industrialisierung, also eines globalen Prozesses an, dessen Auswirkungen zu einer grundsätzlichen Wandlung in Bümpliz führten. Die bis anhin agrar-wirtschaftliche Gegend wird immer stärker durch die heranziehenden Arbeiter geprägt, die dort günstigere Wohnmöglichkeiten finden als im naheliegenden Bern. In der Folge werden die Arbeiter relativ schnell zu einer bedeutenden Gruppe, die sich ihrer Beschäftigung gemäß zu organisieren vermag. Lerch schreibt dazu: „Ab 1884 gibt es einen Arbeiterverein, der sich ab 1897 Arbeiterbund ‚Eintracht Bümpliz‘ nennt. Es gibt einen
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Grütliverein, es gibt erste Sozialdemokraten und ab 1908 zudem kurzfristig einen Arbeiterverein Stöckacker.“9 Da die soziale und kulturelle Wandlung den wirtschaftlichen Entwicklungen hinterher hinkt, bleiben die Arbeiter von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen – zum Teil wegen gewisser sozialer Trägheitskräften, zum großen Teil aber wegen des Zutuns der Bauerschaft, die um ihre privilegierte Position bangt. Die Bauern sorgen in Bümpliz dafür, dass die Gemeindeversammlungen zu der Zeit veranstaltet werden, wenn die Arbeiter noch in der Fabrik sind. Die neu angekommene aber schon bedeutende soziale Gruppe muss ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen, will sie an der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens teilnehmen. Lerch erinnert bei der Gelegenheit an einen Text von Carl Albert Loosli – der selbst in Bümpliz wohnte –, in dem ein Coup beschrieben wird, wie die Bauern 1908 während einer Gemeindeversammlung durch eine Filibusterei hintertrieben wurden. Am späten Abend, als die Bauern schon ihre Kühe melken gingen, legte die jetzt zahlreich vertretene Arbeiterschaft die künftigen Gemeindeversammlungen auf Sonntagnachmittag fest: „Loosli-Biograf Erwin Marti resümiert die Episode [folgendermaßen]: ‚Die Dominanz der altgesinnten Bauernschaft war erstmals angeschlagen.‘“10 und wie Fredi Lerch den Gedanken weiterentwickelt: Von Jahr zu Jahr wird nun die Arbeiterschaft stärker. 1916 entsteht durch die Fusion der Sozialdemokratischen Mitgliedschaft Bümpliz und des Grütlivereins Bümpliz die Sozialdemokratische Partei Bümpliz. Im gleichen Jahr ergibt die Urnenwahl des Gemeinderats im Dorf erstmals Kräftegleichheit: Neben fünf bürgerlichen werden fünf sozialdemokratische Vertreter gewählt.11
Nach wenigen Jahren wird in Bümpliz die Lage insofern normalisiert, als eine bisher ausgeschlossene soziale Gruppe ihre Stimme gewinnt und über die auch sie betreffenden Angelegenheiten mitentscheiden kann. Dies um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ende des 20. Jahrhunderts konstatiert Lerch eine ähnliche Situation, in der ein zahlreicher Teil der Gesellschaft über seine Stimme bei politischen, Gemeinde betreffenden Entscheidungen nicht verfügen kann. Es sind die Ausländer, die einen Anteil von über 30 % der Bümplizer Bevölkerung ausmachen. Das kantonal geregelte Ausländerrecht verweigert den Ausländern ohne Staatsbürgerschaft die Teilnahme an lokalen Entscheidungsprozessen. Zu gleicher Zeit konnte aber ein aus einer türkischen Familie 9 Lerch, Fredi: Wird Bümpliz wieder rot? (Neue Wege Nr. 6/2017), hier: https://fredi-lerch.ch/ index.php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D=982&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News &tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=4419afcc214ae27bb52c6791a562f518, letzter Zugriff: 4. November 2018. 10 Ebd. 11 Ebd.
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stammender Maschinenzeichner zum Sektionspräsidenten der Sozialdemokratischen Partei gewählt werden. Nachdem er sich kurz darauf einbürgern ließ, wurde er sogar zum Abgeordneten im Stadtparlament erkoren. In demselben Rat sitzt auch der im Aufnahmecamp in Thailand geborene Rithy Chheng. Langsam erstreiten sich manche Ausländer eine Position, die ihnen ermöglicht, sich an der Gestaltung der Gemeinschaft zu beteiligen – dies aber nicht ohne das Entgegenkommen der Einheimischen, die ungeachtet ihres sozialen Status den Ausländern die Türe zur Gemeinschaft öffnen. Auch wenn der Titel der Reportage es suggerieren könnte, bildet die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in Bümpliz nicht ihr Hauptmotiv. Lerch geht es eher um die Enthüllung einer gewissen Täuschung über die Wirklichkeit, der man erliegt, wenn ihre wichtigen Bestandteile und prägende Faktoren nicht wahrgenommen werden. Wie die Arbeiterschaft in der Ära der Industrialisierung lange Zeit nicht als ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft betrachtet, von den Gemeinschaft prägenden Prozessen ausgeschlossen wurde, so bleiben heutzutage die Ausländer, die einen großen Teil der Bümplizer Gemeinschaft ausmachen, innerhalb des bürgerlichen Wahrnehmungshorizonts inexistent. Lerch konstatiert eine gewisse Diachronie in der synchronen Anwesenheit beider Gruppen – der der Über-Staatsbürgerschaft-Verfügenden und jener, die nicht eingebürgert sind. Die erste steckt in den bisherigen Machtstrukturen und beharrt auf tradierten bürgerlichen Wertvorstellungen, die zweite steht für eine Wandlung und macht allein durch ihr Vorhandensein bewusst, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben, sich permanent ändern und nach neuen Handlungsmustern verlangen. Die dank der Zusammenbringung beider Situationen, die fast ein Jahrhundert trennt, hervorgehobene Ähnlichkeit veranschaulicht, dass man einer analogen Täuschung über die Wirklichkeit erliegt. Geändert hat sich lediglich das Objekt, das im Wirklichkeitsbild fehlt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren es die Arbeiter, am Anfang des 21. Jahrhunderts sind es die Ausländer. In beiden Fällen führt der Ausschluss einer sozialen Gruppe zu einer Beschneidung der Wirklichkeit und in der Folge zu Entscheidungen, die die real existierende Gemeinschaft verfehlen. Die in dieser Reportage auffallende Konzentration auf das Lokale wird zu einem Wahrzeichen des publizistischen Schaffens von Fredi Lerch. Selbst wenn er universelle Prozesse, wie z. B. die gerade angesprochene Industrialisierung und ihre Konsequenzen zum Thema wählt, bleibt er an der Mikroskala haften. Im Zentrum seines Interesses stehen die ihm und seinen Nachbarn nächsten Probleme und Entwicklungen – und vor allem Menschen. In den letzten Jahren mit der Intensivierung der Migrationsbewegungen taucht das Motiv der aufgenommenen Flüchtlinge häufiger auf, wobei Lerchs Blick immer auf konkrete Einzelfälle gerichtet ist. Ist es Lindita Salihu, die elfjährig aus dem
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Kosovo oder Ghazal Sultan, die 2012 vor dem Krieg aus Allepo fliehen mussten, Milos Malenovic oder Bekim Halimi, die im Fußball ihren Weg in der Schweiz suchen, jedes Mal stehen einzelne Geschichten im Vordergrund, hinter der ein Mensch steht, der gewürdigt werden soll. Lerch erinnert in diesem Kontext an die berühmte Passage aus den Reisebildern von Heinrich Heine, in der er seinen Besuch auf dem Schlachtfeld von Marengo beschreibt. Dort angekommen denkt Heine über die menschlichen Kosten jeder Schlacht nach, bei der mit jedem Getöteten oder Verstorbenen eine ganze Welt untergeht. Lerch will aber nicht jenen gewaltsam abgebrochenen Geschichten nachtrauern. Er kehrt Heines Aussage um und schreibt in einer von seinen Kolumnen: „Wenn es stimmt, dass unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte liegt, dann stimmt auch, dass in jedem lebenden Menschen eine Weltgeschichte heranwächst.“12 Diese zu achten und zu würdigen, sei die Aufgabe jedes Mitmenschen. Aus diesem Grunde steht Lerch der gegenwärtigen Entwicklung zum globalen Dorf kritisch gegenüber. Im global-medialen Kontext verschwindet der Nächste in einer Welle von Nachrichten über die Menschen, die man gar nicht kennt und denen man, wenn nötig, kaum helfen kann. Wenn Lerch Weltgeschichten im Sinne von Heine erzählen will, dann ist der einzig gerechtfertigte Zugang zu ihnen „aus dem Blickwinkel des einzelnen Menschen möglich“13 . Solche kleinen Weltgeschichten erzählt Lerch nicht nur anhand von Schicksalen einzelner Menschen, sondern auch anhand von Geschichten der Orte, Institutionen oder Vereine, an die das menschliche Los gebunden wird, wie zum Beispiel die Maschinenfabrik „Wifag“, die ca. ein Jahrhundert lang das Leben im Berner Wylerfeld mitgeprägt hat und der Lerch die Reportage Aufstieg und Niedergang der Maschinenfabrik Wifag widmet. Am Beispiel von „Wifag“ stellt er nicht nur die Geschichte eines Betriebs, sondern auch die der Familie, die Wifag-Werke geschaffen und bis zum Schluss geleitet haben. Es ist im Kontext der im Band behandelten Haupfrage nach dem Gemeinwesen insofern von Bedeutung, als die Familie Wirz, die 1953 die alleinige Führung der Firma übernommen hat, ein soziales und kulturelles Programm für alle Beschäftigten entwickelt. Als Otto Wirz 1965 zu seinem 75. Geburtstag eine Festschrift erhält, wird in der Laudatio eben dieses Engagement hervorgehoben. Lerch zitiert aus der Laudatio: „Er habe stets jene Massnamen ergriffen, ‚die dem Arbeitsfrieden und der gerechten Honorierung der geleisteten Arbeit, der Altersfürsorge, der
12 Lerch, Fredi: Die Sache mit der Weltgeschichte, in: Langenthaler Tagblatt, 23.04.2011. Auch online: https://fredi-lerch.ch/index.php?id=29&id=29&tx_news_pi1%5Baction%5D= detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=12&cHash= 6ca1507db39d045b72f3e9ee8195e549, letzter Zugriff: 5. November 2018. 13 Ebd.
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Gesundheit und der Ausbildung des Personals dienten‘.“14 Lerch geht noch auf eine weitere kurze Bemerkung in der Laudatio ein, die besagt, dass das Anliegen von Otto Wirz war, „seinen Mitarbeitern in einer freiheitlichen Atmosphäre Verantwortung zu übertragen und ihnen Gelegenheit zur persönlichen Initiative und Gestaltung zu geben“15 . Auch wenn das zu jener Zeit, denkt man z. B. an Gottlieb Duttweilers Idee von Migros-Genossenschaften, keine Ausnahme war, schreibt sich diese Äußerung in einen in vielen Lerchs Texten verfolgten Gedankengang hinein, der auf maximale Erweiterung der Partizipationskreise abzielt. Im Kreis seiner Aufmerksamkeit befinden sich neben Ausländern Erziehungsanstaltskinder und -jugendliche, Jenische, die an der Existenzgrenze lebenden Arbeiter und Bauern, Außenseiter, aber auch Menschen, die sich in der Bildung lokaler Gemeinschaften engagieren. Mustergültig ist hier das Berner Quartier Murifeld, dem Lerch die Reportage Die Express-Küche im Murifeld 16 widmet. Da geht er direkt auf das Gemeinwesen ein, das im Quartier gelebt wird. Es zeigt sich unter anderem in der Organisation einer lokalen Gemeinschaftsküche, die im Rahmen vom sog. „Gastroprojekt“, die Quartierschulen beliefert aber auch für die Einwohner offene Türen hält. In der Gemeinschaftsküche arbeiten Teilzeit und sammeln Erfahrung im Berufsleben Immigranten, die daneben auch Sprachkurse besuchen und die Möglichkeit haben, einmonatige Praktika in Restaurants zu absolvieren. Die Begegnung mit den Quartiereinwohnern in der Küche ist für Lerch nur der Ausgangspunkt für einen Bericht, wie sie sich alle den willkürlichen Entscheiden der Stadtbehörden widersetzen, die Organisation der Sanierung ihrer Häuser und Pflege der öffentlichen Räume in ihre eigenen Hände nehmen sowie Formen nachbarschaftlicher Kooperation entwickeln. Eine von diesen heißt „Bazore“, eine Verbindung von „Bazar“ und „ore“, gemeint als Zeittausch-Projekt, in dem Quartiereinwohner gegenseitig verschiedene Dienstleistungen anbieten, ohne dafür zu zahlen oder bezahlt zu werden. In das Projekt sind alle involviert, so dass, wie es heißt, mehr Toleranz anderen gegenüber aufgebaut und Vorurteile abgebaut werden können. Es ist
14 Lerch, Fredi: Aufstieg und Niedergang der Maschinenfabrik Wifag AG, in: Nordbern 2015. Auch online: https://fredi-lerch.ch/index.php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D=793 &tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash= 6d74cadd68dd80af3bea200dd790f5d9, letzter Zugriff: 6. November 2018. 15 Ebd. 16 Lerch, Fredi: Die Express-Küche im Murifeld, in: vbg-journal 2006. Auch online: https://fredilerch.ch/index.php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D=850&tx_news_pi1%5Bcontroller %5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=2963d0994a0a53ffd502f3dfdbcf61 53, letzter Zugriff: 6. November 2018.
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nur ein weiteres Beispiel von vielen, an die Lerch sein Augenmerk richtet und als eine erstrebenswerte Form des Gemeinwesens versteht. Die von ihm dargestellten Bemühungen, eine intakte Gemeinschaft zu bilden, erinnern an aristotelische Vorstellung von res publica, in deren Rahmen die Bürger sich selbst organisieren und über sich selbst bestimmen. Diesem gemeinschaftlichen Bedürfnis entspringt eine Idee vom Staat als einer möglichen Organisationsform, in der die Bürger ihre Tugenden entfalten und sich vervollkommnen können. Diese Idee spielt auch im römischen Verständnis der Republik eine entscheidende Rolle. Es sind die „genossenschaftlich verfassten Kommunen und Verbände“17 – wie Wolfgang Mager es beschreibt –, deren Strukturen und Funktionsmechanismen den Nährboden für die Vorstellung der Römischen Republik bilden. Die Idee von einer gemeinschaftlich fundierten res publica findet dann ihre Fortsetzung in der Frührenaissance in Florenz, wo „der körperschaftliche Begriff ‚Republik‘ durch den Rekurs auf die Bürgertugenden in der Respublica Romana ethisch-politisch [noch] vertieft“18 wird. In der Idee des bürgerlichen Humanismus wird eine bedeutende Inspiration für die republikanische Gründungsidee der Schweiz gefunden, die im Theaterstück Wilhelm Tell von Friedrich Schiller ihre literarische Form gewonnen hat. Der Verbindung zwischen der Weimarer Klassik mit ihrer politischen Attitüde und dem florentinischen Republikanismus geht Gerhard Lauer nach, der in Anlehnung an die Studien von Hans Baron die vorherrschende Meinung über Schillers Desinteresse am politischen Geschehen revidiert und die Filiationen des schweizerischen Republikanismus kurz nachzeichnet.19 Hans Baron, ein deutscher Emigrant in den Vereinigten Staaten von Amerika, erforschte in den 1950er Jahren, also lange bevor John Pockock seine ausschlaggebende Studie20 (1975) vorlegte, den bürgerlichen Humanismus in Florenz. In den 1980er Jahren setzte er seine Studien fort, deren Resultate im Werk Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance (1988) veröffentlicht wurden. In Barons einschlägigen Werk wird eine geläufige Meinung revidiert, dass die Kultur des Humanismus erst mit der Herrschaft der Medici ihre Blüte erlebte. Seiner Meinung nach ist sie „eine Schöpfung der Stadt Florenz vor der Herrschaft“21 der mächtigen Mäzenen, in der Zeit als Florenz noch „eine freie
17 Mager, Wolfgang: Republik, in: Brunner, Otto, Conze, Werner, Kosseleck, Reinhardt (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 651. 18 Ebd. 19 Lauer, Gerhard: Das schöne und die Republik. Politische Klassik in Weimar um 1800, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 24 (2011), S. 256‒272. 20 Pocock, John: The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Political Tradition, Princeton 1975. 21 Baron, Hans: Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin 1992.
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Republik war, deren Bürger sich klassische Vorstellungen über Staat, Gesellschaft und Moral aneigneten, weil ihnen die Bürgerschaft des antiken Athen oder Rom ein Modell für ihr eigenes Leben bot.“22 Baron zeichnet ein Bild der florentinischen res publica, deren Verfassung auf Freiheit und Gleichheit der Bürger aufgebaut wurde, nicht auf der Herrschaft weniger, denn „wo man den Menschen Hoffnung auf Ehre im Staate gibt, da erheben sich die Geister und steigen empor; wo man sie verschließt, da werden sie müßig und sinken nieder“23 . So das Motto von Leonardo Bruni, dem Humanisten, Historiker und Florentiner Kanzler. Das Ziel des gemeinschaftlichen Handelns war, gute Bürger zu erziehen, die imstande wären, die ihnen gegebene Freiheit nicht nur zu genießen, sondern sie auch zugunsten der ganzen Gemeinschaft weiter zu pflegen und zu entwickeln. Mit dieser sei die persönliche Entwicklung des Individuums verbunden, die erst „durch die Teilnahme am Leben der polis und der res publica“24 beste Früchte tragen kann. Im Engagement für die res publica, in der „Teilnahme am öffentlichen Leben und an den öffentlichen Angelegenheiten der Stadt“25 , meint Baron, konnten die Tugenden entfaltet werden, die für die Existenz der res publica notwendig waren. Die republikanischen Ideale des bürgerlichen Humanismus liegen, Lauer zufolge, auch dem politischen Ideal der Weimarer Klassik zugrunde, wo sie durch die schottischen Moralphilosophen vermittelt wurden. Es war Adam Ferguson, der die zeitgenössischen Eliten zu „einer politischen Praxis [drängen wollte], die den alten klassisch-republikanischen Werten und den neuen sozialökonomischen Realitäten zugleich Rechnung tragen sollte“26 . Das Fundament der „civil society“ lag, Ferguson zufolge, in der Unabhängigkeit und Gleichheit ihrer Bürger, deren Freiheit durch Landbesitz garantiert werden sollte. Auf solche Vorstellung von Freiheit knüpft Friedrich Schiller direkt in seinem Schauspiel Wilhelm Tell in der Szene an, in der Tell seinem Sohn Walter den Unterschied zwischen den Lebensumständen beim nördlichen Nachbarn erklärt, wo das Land und seine Erträge nur wenigen Privilegierten gehören, und ihrem Kanton, wo man frei wirtschaften und sich selbst verteidigen kann. Die Idee von einer res publica wird bei Schiller dank dem Vermögen der Gemeinschaft zum Selbstschutz, an dem alle gleich sich beteiligen können27 , der freien Bewirtschaftung des Landes und einer breiten Partizipation umgesetzt. Die Bedeutung einer umfassenden Teilhabe an Entscheidungsprozessen wird 22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Ebd. Lauer: Das Schöne und die Republik, S. 262. Ebd., S. 267.
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in der für das Selbstverständnis der Schweizer entscheidenden Szene des Rütlischwurs und im Gespräch zwischen Rudenz und seinem Oheim Attinghausen deutlich zum Ausdruck gebracht. In der ersten Szene des Zweiten Aufzugs wirft Rudenz seinem Oheim vor, er möchte den Adelsstand verraten, sich mit dem Volk verbrüdern, seinen Knechten Pair sein und mit dem Bauer zusammen zu Gericht sitzen. In seiner Antwort darauf bezichtigt Attinghausen seinen Neffen, er sei durch falschen Glanz geblendet, er verkaufe seine freie Seele, indem er Land zu Lehen nehmen und sich von Fürsten abhängig machen wolle, während er auf seinem Erbe freier Mann sein könnte. In dieser zweifachen negativen Darstellung wird das republikanische Ideal evoziert, auf dem die schweizerische sozial-politische Ordnung aufgebaut werden sollte. Dieses sei an die Freiheit der Bürger und deren Gleichheit gebunden, die sich in einer breiten Partizipation an Entscheidungsprozessen äußert. Des adeligen Attinghausen Haltung, im Schauspiel durchaus positiv dargestellt, korrespondiert mit der Szene des Rütlischwurs, wo neben den besitzenden Landleuten auch landlose Bauern und Handwerker auftreten. Und auch wenn Ulrich der Schmid nicht zum Amman gewählt werden kann, da er kein Landgut besitzt, werden er und die ihm Gleichen von der Teilhabe am Gründungsprozess nicht ausgeschlossen. Mein Rekurs auf den Bürgerhumanismus und seine Verwandtschaft mit den republikanischen Ideen, die der Geburt der modernen Eidgenossenschaft zugrunde lagen, beabsichtigt zweifaches zu veranschaulichen. Einerseits wird auf eine alternative Lesart des Gründungsmythos ‒ in Schillers Schauspiel evoziert ‒ hingewiesen, die die Entstehung der schweizerischen Gemeinschaft in einer fortschrittlichen weil öffnenden, nach wie vor aktuellen Perspektive erscheinen lässt. Jene Lesart steht in einer Gegenposition zum Verständnis der nationalen Tradition, die im Programm der Geistigen Landesverteidigung präsentiert war, bis heute aber den vaterländischen Diskurs dominiert, und die eine Besonderheit der Schweiz und somit indirekt ihre Abgeschlossenheit hervorhebt. Zweitens wird damit ein Kontext hergestellt, in dem Fredi Lerchs Schaffen nach dem Gemeinsinn in der Schweiz befragt wird. Diese Neuperspektivierung ist insofern wichtig, als Lerch angesichts des Fichenskandals sagte: „Der alte Mythos Schweiz hat ausgedient, neue Mythen sind noch nicht eingeführt“.28 Um dem nachzugehen, wird im Folgenden auf ein frühes Werk von Fredi Lerch zurückgegriffen, in dem er seine ästhetisch-intellektuellen Positionen darlegt. Es handelt sich um seinen Text Ohne eigene Sprache29 , der zur Zeit seiner Entstehung 1986 als ein Versuch gedacht war, seine Poetik darzustellen, 28 Lerch, Fredi, Simmen, Andreas (Hg.): Der leergeglaubte Staat. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1991, S. 9. 29 Lerch, Fredi: Ohne eigene Sprache, 1986, https://fredi-lerch.ch/index.php?id=301, letzter Zugriff: 13. Dezember 2019.
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dann Fragment geblieben und seit 2018 als „liegengebliebenes Work in progress“ auf seiner Homepage Textwerkstatt zu lesen ist. In Lerchs Gedanken über die Möglichkeit, eigene Sprache zu haben, spielt das Herrschaftsprinzip, das das Verhältnis zwischen der Sprache, dem Bewusstsein und der Wahrnehmung der Realität bestimmt, eine entscheidende Rolle. Sprache ist in diesem Gefüge nicht nur ein Medium, in dem sich das Machverhältnis ausdrückt, sondern ist selbst ein Werkzeug der Machtausübung. Selbst wenn die Macht in der postmodernen Zeit Diffusionsprozessen unterliegt, welche sie auf „komplexe Organisationsstrukturen einer scheinbar menschenlosen Mechanik“30 verteilt, sieht Lerch jene Diffusion lediglich als eine Art Vortäuschungsmanöver der Macht, die anonym und deswegen verantwortungslos bleiben will. Dahinter stecken aber immer noch konkrete Herrschaftsgruppen: Eine Phänomenologie der Macht würde heute – das stimmt – Herrschaft nicht mehr vorab als ‚herrschende Klasse‘ beschreiben, sondern als ‚Maschine‘ oder als ‚Apparat‘. Das wirklich erschreckende an der aktuellen Herrschaft ist die Gewalt ihrer normativen Mechanik eher als die [der – D.K.] Schauspieler, deren Aufgabe es ist, durch wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit ihre Akzeptanz zu erhöhen. Trotzdem beharre ich darauf, dass hinter der menschlosen Mechanik sich personifizierbare Herrschaft verbirgt. Zur herrschenden Klasse muss gezählt werden, wer Verfügungsgewalt hat über diese allumfassende Mechanik.31
In der Reaktion auf jene Herrschaftsmechanismen entstehen, Lerch zufolge, ein herrschendes, beherrschtes und als eine alternative zu diesen zwei ein poetisches Bewusstsein. Während das herrschende Bewusstsein monadisch, homogen bleibt, wird das beherrschte dissoziiert, es ist unfähig, aktiv zu sein: „Das beherrschte – nicht-autarke, geprägte, passive, nicht-homogene, stromlinienförmig deformierte und zerrissene – Bewusstsein nenne ich Stuporbewusstsein. Unter ‚Stupor‘ versteht der Mediziner: ‚Zustand geistig-körperlichen Erstarrung bei Aufhebung aller Willensleistungen, meist ist auch der Denkvorgang eingeschränkt.‘[Pschyrembel (1977), S. 1174]“32 Das herrschende Bewusstsein entwickelt verschiedene Strategien, um das beherrschte unter Kontrolle, d. h. im Stupor zu halten. Eine von ihnen ist, die Herstellung der Überzeugung, dass der Einzelne von nicht beeinflussbaren Strukturen abhängig ist. Diese Abhängigkeit wird als ein permanenter Angriff auf die Sicherheitsschwelle eines Individuums empfunden und was damit zusammenhängt zur Entfaltung eines Gefühls vom stetigen Bedroht-Sein. Angesichts dessen erscheint der Versuch, sich der Anpassung zu entziehen, unvernünftig: „Stuporbewusstsein ist der Selbstschutz, der 30 Ebd., S. 11. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 26.
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die Reflexion der eigenen Situation als hoffnungslos fremdbestimmte und beherrschte unmöglich macht. Stuporbewusstsein ist der überlebensnotwendige Reflex auf äußere unausweichliche Hierarchisierung.“33 Mit dem Stuporbewusstsein geht eine besondere Wirklichkeitswahrnehmung einher, die Lerch als eine illusionäre bezeichnet. Sie „erlebt die ‚objektive Realität‘ wie im Kino; als vermittelte, als unbeeinflussbare, der man völlig ausgeliefert ist.“34 Diesem entmachteten stellt Lerch das poetische Bewusstsein entgegen, das die Gefahr der Stuporisierung wahrnimmt und sich ihm widersetzen will: „Es ist ein Bewusstsein im Stadium des Sich-Befreiens […] Es ist nicht Traube und nicht Wein, es ist der Zustand des Gärens.“35 Das poetische Bewusstsein ist der Wirklichkeit gegenüber skeptisch. Es nimmt sie naiv und ihre Phänomene vereinzelt, ohne einen vorgegebenen Zusammenhang wahr: „Als Zusammenhang wird [nur – D.K.] die Konstellation akzeptiert, in der das einzelne Phänomen in der ‚objektiven Realität‘ erscheint.“36 Was rauskommt, ist ein jeweils aktuelles Bild der Wirklichkeit, das entideologisiert, unvoreingenommen ist. Die poetische Wirklichkeitswahrnehmung bedingt die Aktivitäten, die dem poetischen Bewusstsein zukommen. Dieses trachtet nicht gezielt nach der (Um)Formung der Wirklichkeit, sondern will sie nur beschreiben. Indem es sie beschreibt, hält es dem Menschen den Spiegel vor, in dem er sich selbst und seine Wirklichkeit betrachten kann. Einer solchen kritischen Darbietung schreibt Lerch in Anlehnung an Ludwig Hohl eine treibende Kraft zu, die außerliterarische Wirklichkeit doch verändern kann. Hohl bezieht sich auf einen Essay von Mauriac, in dem er die Darstellung des Menschen in Werken von Montaigne sehr anpreist: „Mit keinem anderen Anspruch als dem, uns ‚darzustellen‘, uns zu beschreiben, ist doch er es, der uns formt, weil er ein genaues Bild unserer selbst vor uns hinstellt. Ihm danken wir es, wenn wir durch die Maschen des Netzes schlüpfen, das der Bürger ‚Plan‘ und der Kollege ‚System‘ in jeder Epoche über uns werfen. Diesen fürchterlichen Häschern wird der Mensch, so wie er ist, der Mensch von Montaigne und von Pascal, als dieser Geist und dieses Fleisch, immer entwischen.“37 Die Maschen zeigen, um wieder auf Lerch zu kommen, den Weg vom Stuporbewusstsein hin zur Freiheit, die eine Grundlage der res publica ist. Dies scheint auch der Weg von Fredi Lerch zu sein, auf dem er zu seiner Sprache kommen will. Mit der Beschreibung der Menschen, ihrer Schicksale, Orte, die vielleicht nur für wenige aber immerhin bedeutend waren und jetzt im 33 34 35 36 37
Ebd., S. 35. Ebd., S. 64. Ebd., S. 46. Ebd., S. 60. Ebd., S. 62.
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Verschwinden begriffen sind, schafft er ein Bild der Wirklichkeit, das aus dem Rahmen fällt. Es stellt Motive in Zusammenhängen dar, die dank der naiven poetischen Wahrnehmung entstehen und neue Gedankengänge initiieren. So ist es in der anfangs dargestellten Reportage aus Bümpliz, in der zeitlich entfernte Zustände zusammengelegt die aktuelle Lage in einem neuen Licht erscheinen lassen. Auch die präsentierten Schicksale der Ausländer, eine Gemeinschaft mit einem alternativen Kooperationsmodus bezogen auf Zeit- statt Geldtausch oder eine Industriellenfamilie, die für ihre Arbeiter sorgt, brechen aus einem geläufigen Rezeptionsschema aus. Jede solche Beschreibung ist jeweils für den Autor ein Akt der Befreiung, ein Sprung durch die Maschen des Systemnetzes und zugleich ein Versuch eine alternative Vorstellung vom Gemeinsinn darzustellen. In dieser Hinsicht erinnert Lerchs ästhetisch-soziales Vorhaben an den schweizerisch-republikanischen Gründungstext von Schiller, in dem zwei Figuren kaum in den vaterländischen Diskurs hineinpassen. Es handelt sich um den schon erwähnten Rudenz und Berta, die auf ihre Adelsprivilegien verzichten, um, den anderen gleich, für die gemeine Sache zu kämpfen. Peter von Matt schreibt dazu: „Von der Bühne war das seltsame Liebespaar zwar nicht zu vertreiben; da hatte Schiller die Handlung zu raffiniert verknüpft. Aber man konnte die beiden wenigstens von der vaterländischen Bildwelt und Rhetorik fernhalten.“38 Es ist lediglich einer der Punkte, an denen sich Lerch als einer zeigt, der die Grundsätze der Eidgenossenschaft ernst nimmt. Wenn er sagt, dass die alten Mythen ausgedient haben, dann meint er den schweizerischen Mythos im vaterländischen Sinne, wo seine Parolen wie Gleichheit und Partizipation auf die Banner geschrieben im alltäglichen Leben aber nicht ausreichend umgesetzt werden. Zu jenen Grundsätzen, die missachtet werden, gehört auch die Aufwertung des Willens zum Gemeinwesen. Es ist eigentlich dieser Wille, den von Matt in Bezug auf Wilhelm Tell anspricht. In Stauffachers Rede an die Verschwörer wird der bevorstehende Aufstand gegen die Herrscher durch den Rekurs auf die ewigen Rechte legitimiert, die unveräußerlich und unzerbrechlich seien. Es ist das Naturrecht, das hier evoziert wird: „Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, wo Mensch dem Menschen gegenüber steht.“39 Es ist, von Matt zufolge, ein Bezug auf den Anfang: „Wenn allgemeine Ungerechtigkeit herrscht, entsteht ein vorstaatlicher Zustand, der legendäre Naturzustand, aus dem heraus die politische Ordnung neu erfunden und entwickelt werden kann.“40 Deutlicher kann der Bezug auf den Bürgerhumanismus kaum zum Ausdruck gebracht 38 Matt, Peter von: Drei Perspektiven auf Schillers Tell, in: Ders.: Das Kalb vor der Gotthardpost, München 2012, S. 241‒258, hier S. 244. 39 Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell, in: Ders.: Schillers Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Berlin/ Weimar 1974, S. 440. 40 Von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost, S. 249.
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werden. Der Mensch, der da dem Menschen gegenüber steht, ist zugleich Bürger, denn zu jener Zeit, wie Lauer es darstellt, funktioniert die Unterscheidung zwischen dem Bürger und citoyen noch nicht. In der vorstaatlichen Republik „ist es nicht der Staat, der den Bürger macht, sondern der Bürger den Staat […] Der Bürgerhumanismus braucht den Begriff des Staates nicht, wenn er vom Bürger redet.“41 An dem Punkt setzt der Wille, die Initiative zum Gemeinwesen an, es kann die Geburtsstunde einer neuen Ordnung werden. Wie schon anfangs erwähnt, ist Lerch kein Revolutionär. Die von ihm angewandte Beschreibung kann aber nicht nur als ein ästhetisches, sondern auch als sozial-politisches Mittel verstanden werden. In seiner Reportage Wie? Gibt’s das noch, das Zaffaraya? wird das Thema des Gemeinwesens direkt angesprochen. Zaffaraya ist eine Siedlung, die in den 1980er Jahren spontan durch illegale Besetzung von Liegenschaften in Bern entstanden ist. Mehrmals mit polizeilichen Gewalt geräumt, erstand die Siedlung immer neu in einem neu besetzten Haus oder einer Liegenschaft auf. Man könnte sagen, es war eine typische Gemeinschaft innerhalb einer jugendlichen Bewegung, die einen Widerstand gegen bürgerliche Kultur und Lebensweise demonstrierte, wo es cool war, kollektiv zu leben.42 Zirka zwei Jahre bleiben sie auf dem Gaswerkareal, wo die Zugezogenen sich bereits eingelebt haben. Im Oktober 1986 veranstalten die Zaffarayaner eine Pressekonferenz, an der sie sich zum kulturellen „Gegengewicht zur staatlichen Integrationskultur“43 erklärten. Kultur verstanden sie nicht als „sich zu tummeln in millionenschweren Opernhäusern und Kunstgalerien“, sondern als „Essen, Arbeiten, Denken, Fühlen, Träumen, zämä sii, zämä rede…“44 . Laut der ein Jahr später durchgeführten Umfrage waren über 60 % der Berner für die weitere Duldung der Siedlung. Als dann die Stadtbehörden doch das Areal geräumt haben, traten 2000 Schülerinnen und Schüler in den Proteststreik, zwei Tage später waren es schon 10000, die „nicht nur den sofortigen Wiederaufbau des Zaffarayas, sondern als Kulturraum zusätzlich die Reitschule“45 verlangten. Die Stadtregierung gab nach und nach einem hin und her wurde die Siedlung in Neufeld wieder aufgebaut. „Sie bauten ein provisorisches Dach und installierten Gasbrenner: das war die erste Küche. Später richteten sie einen Küchenwagen ein, stellten zwei Wagen zusammen: Das war der Raum, in dem 41 Vgl. Lauer, Das schöne und die Republik, S. 260. 42 Vgl. Lerch, Fredi: Wie? Gibt’s das noch, das Zaffaraya? In: Gaberell, Daniel (Hg.): Bern. Gesichter, Geschichten, Bern 2004, S. 97, hier: https://fredi-lerch.ch/index.php?id=112 &tx_news_pi1%5Bnews%5D=199&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_ pi1%5Baction%5D=detail&cHash=791bd6dcf437116392f0495a3aff1bb6. Zugriff am 13.12.2019. 43 Ebd., S. 96. 44 Ebd. 45 Ebd.
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bis zu dreissig Leute gemeinsam essen konnten…Man baute gemeinsam an der eigenen Welt.“46 Wie Lerch schreibt, dauerte diese kollektivistische Phase nicht lang. Als Kinder auf die Welt kamen, veränderten sich die Erwartungen. Es entstand ein Badehaus, eine Dusche, sogar eine Sauna. Manche Leute gingen, manche kamen an. Die Gemeinschaft hat sich organisiert. Es gab so etwas wie einen Marktplatz, auf dem die angekommene Post landete, falls etwas besprochen werden soll, wurde das ebenfalls hier angekündigt. Das Leben wurde etwas geregelter. Die Kinder wohnten da kostenlos, die Erwachsenen mussten einen bestimmten Betrag zahlen. Falls es sich jemand nicht leisten konnte, wurde es akzeptiert. Man ging davon aus, dass jene Person irgendwann einen Job findet und wird zahlen können. Dies war möglich, denn die meisten gingen nun einer teilzeitlichen Lohnarbeit nach. Für Fredi Lerch hat das Zaffaraya bewiesen, dass es möglich ist, in einer überschaubaren Gruppe ein naturnahes Leben ohne hierarchische Strukturen zu führen, „ohne Guru und reine Lehre, ohne Stadtregierung und ohne jene, die die Stadtregierung regieren“47 . Der ausschlaggebende Moment ist der Wille zum Gemeinwesen, das im steten Entstehen begriffen ist. Das Zaffaraya existiert dank den immer neu erstellten, aktuellen, jeweils den Einwohnern angepassten Regeln: „Das Leben im Zaffaraya ist, wie schon immer, gelebte Politik – bloss funktioniert sie immer wieder neu nach jenen Werten, die sich die Leute geben, die gerade hier leben. Unter diesen wechselnden Spielregeln geht es aber immer um das beste Leben für alle in der gemeinsam verwalteten Lebenswelt.“48 Zweifach hebt Lerch eine kleine Dimension der Gemeinschaft hervor. Einmal nennt er die Überschaubarkeit der Gruppe, ein anderes Mal geht er vom Hochdeutschen zum Dialekt über, was auf eine sehr feine Art nicht nur den Umfang des Zaffarayas zum Ausdruck bringt, sondern auch dessen innere Stimmung des Vertrauten und des Eigenen. Und doch dieses Bekannte steht in keinem Widerspruch zur Offenheit neuen Ankömmlingen und ihren Erwartungen gegenüber. Die Gemeinschaft und der Gemeinsinn werden durch die Willigen gebildet, nicht umgekehrt. In kleinerem Ausmaß aber trotzdem korrespondiert diese Vorstellung vom Gemeinwesen mit dem der florentinischen Stadtrepublik und der republikanischen Idee, die in Schillers Wilhelm Tell vermittelt wird. An diesem dynamischen Modell der res publica zeigt sich auch Lerchs Widerstand gegen die systemische Herrschaft, von der er in seinem Ästhetik-Text sagt: „Herrschaft ist, wo und solange sie herrscht, ein ‚abgeschlossenes, endgültiges‘ System.“49 Offenheit sorgt für Partnerschaft statt Herrschaft. 46 47 48 49
Ebd., S. 97. Ebd., S. 99. Ebd. Lerch: Ohne eigene Sprache, S. 17.
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Nur mit Mühe finden wir in Lerchs Texten Stellen, in denen er auf den Staat oder Nation eingeht, und wenn schon dann eher im Kontext einer Kraft, die die Gemeinschaft bedroht und der man sich widersetzen soll. So war es zum Beispiel mit dem Fichenskandal und dem in der Reaktion darauf folgenden Kulturboykott, zu dessen führenden Kräften Lerch gehörte. Sonst steht im Zentrum seines Interesses eine kleine, sich selbst organisierende Gemeinschaft, für deren Zusammenhalt das persönliche Engagement ausschlaggebend ist. Das ist wohl einer der Gründe, warum Lerch sich kleinen Gemeinschaften zuwendet, in denen dank dem persönlichen Einsatz die nächste Umgebung mitgestaltet werden kann; wo der direkte Einfluss auf das aktuelle Geschehen möglich ist und wo man eigene Tugenden entfalten und unter Beweis stellen kann. Die früher dargestellten Beispiele zeigen, wie einzelne Quartierbewohner die Gemeinschaft unterstützen können, wie man sich für andere einsetzen und für das Gemeinwohl sorgen kann. In einem lediglich ein paar Zeilen zählenden Text, der erst seit kurzem auf Lerchs Home Page zu lesen ist, erzählt er von einem Treffen mit seinem Nachbarn und Freund, Pfarrer, Dichter und Schriftsteller Kurt Marti und seiner Frau Hanni. Ich erlaube es mir, hier den kurzen Text in extenso zu zitieren: Das Datum ist sicher: 26. Dezember 2004, ein Sonntag. Auf dem nachmittäglichen Spaziergang begegnen H. und ich im Quartier Hanni und Kurt Marti. Unser Gesprächsthema: die Katastrophenmeldung in den Mittagsnachrichten von diesem riesigen Tsunami in Asien. Bekannt sind erste Meldungen aus touristisch stark erschlossenen Gebieten. Klar ist, dass es noch viel schlimmer sein muss, als bisher gemeldet. Nicht mehr mit Sicherheit erinnere ich mich, ob es an jenem Tag war: Hanni nach einer Herzoperation jetzt am Rollator. Es geht nur noch sehr langsam vorwärts. Zurück an den Kuhnweg. Dort verabschieden wir uns.50
An einem Sonntagspaziergang im Quartier begegnen sie sich und das Thema des Gesprächs kann nicht anders sein, als die verheerende Katastrophe in Asien, die durch Tsunami verursacht wurde und von der alle Medien berichten. Die ersten Meldungen über zahlreiche Tote wirken beklemmend. Beinahe beiläufig wird bemerkt, dass Hanni vor kurzem einer Herzoperation unterzogen wurde und jetzt nur noch langsamen Schrittes am Rollator zu ihrem Haus durch ihren Mann und den Erzähler begleitet wird. Der auf wenige Zeilen reduzierte Text hebt besonders deutlich die Diskrepanz hervor, die sich zwischen dem globalen Thema der Tsunami-Katastrophe und der persönlichen Konfrontation mit Schmerz, Kampf um jeden weiteren Schritt auftut. Über das eine kann man 50 Lerch, Fredi: Martis von Kuhnweg, in: Ders.: Stückwerk. Mäander 8, Nonkonformistische Augenblicke, https://stw.fredi-lerch.ch/index.php?id=218, letzter Zugriff: 10. April 2020.
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reden, sich – auch wenn getrübt – so doch unterhalten. Das andere erlebt man. Dank dem persönlichen Kontakt, dem gemeinsamen Spaziergang und einem freundlichen Gespräch wird jedoch möglich, für eine andere Person etwas zu tun. Mit dem etwas Tun für andere überschreitet Fredi Lerch die lokale Dimension seines Res publica-Verständnis, indem er sich persönlich für gemeine Sachen einsetzt. Dies ist der Fall mit dem Projekt Nonkonform, das sich mit den Berner Subkulturen beschäftigte und zu dem gesammeltes Material auf Lerchs Home Page frei zur Verfügung gestellt ist, oder mit dem Briefwechsel zwischen C.A. Loosli und Jonas Fränkel, der durch Fredi Lerch transkribiert dem Literarischen Archiv übergegeben und den Forschern frei zugänglich gestellt wurde. Nur an diesen zwei Beispielen kann man sehen, wie seine Arbeit, sein Schaffen vom Lokalen zum Regionalen oder sogar Nationalen sich ausbreitet. Auf seiner Internet-Werkstatt befindet sich eine richtige Fundgrube von Themen und Materialien, die für die Gemeinschaft und deren Zusammenhalt gemacht worden sind und von denen man Nutzen machen kann. Das verlangt aber nach weiteren vertieften Studien. Das ist der tiefe Sinn Lerch’schen res publica, die alle Willigen einlädt, an dem Gemeinwesen frei mitzuwirken, wo sie auf Ehre Hoffnung haben können. Dies ist die res publica des Berner Poeten und Humanisten – Fredi Lerch. Literaturverzeichnis Baron, Hans: Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin 1992. Bauman, Zygmunt: Globalization. The human consequences, Cambridge 1998. Hier in der polnischen Übersetzung: Globalizacja. I co z tego dla ludzi wynika, Warszawa 2000. Lauer, Gerhard: Das schöne und die Republik. Politische Klassik in Weimar um 1800, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 24 (2011), S. 256‒272. Lerch, Fredi: Ohne eigene Sprache, 1986, https://fredi-lerch.ch/index.php?id= 301, letzter Zugriff: 13. Dezember 2019. Lerch, Fredi, Simmen, Andreas (Hg.): Der leergeglaubte Staat. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1991. Lerch, Fredi: Wie? Gibt’s das noch, das Zaffaraya? In: Gaberell, Daniel (Hg.): Bern. Gesichter, Geschichten, Bern 2004, S. 97. Hier: https:// fredi-lerch.ch/index.php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D=199&tx_ news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail &cHash=791bd6dcf437116392f0495a3aff1bb6. Zugriff am 13.12.2019.
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Lerch, Fredi: Die Express-Küche im Murifeld, in: vbg-journal 2006. Auch online: https://fredi-lerch.ch/index.php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D= 850&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction %5D=detail&cHash=2963d0994a0a53ffd502f3dfdbcf6153, letzter Zugriff: 6. November 2018. Lerch, Fredi: Die Sache mit der Weltgeschichte, in: Langenthaler Tagblatt, 23.04.2011. Auch online: https://fredi-lerch.ch/index. php?id=29&id=29&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_ pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=12&cHash= 6ca1507db39d045b72f3e9ee8195e549, letzter Zugriff: 5. November 2018. Lerch, Fredi: Aufstieg und Niedergang der Maschinenfabrik Wifag AG, in: Nordbern 2015. Auch online: https://fredi-lerch.ch/index. php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D=793&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash= 6d74cadd68dd80af3bea200dd790f5d9, letzter Zugriff: 6. November 2018. Lerch, Fredi: Wird Bümpliz wieder rot? (Neue Wege Nr. 6/2017), hier: https:// fredi-lerch.ch/index.php?id=112&tx_news_pi1%5Bnews%5D=982&tx_ news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail &cHash=4419afcc214ae27bb52c6791a562f518, letzter Zugriff: 4. November 2018. Lerch, Fredi: Martis von Kuhnweg, in: Ders.: Stückwerk. Mäander 8, Nonkonformistische Augenblicke, https://stw.fredi-lerch.ch/index.php?id=218, letzter Zugriff: 10. April 2020. Mager, Wolfgang: Republik, in: Brunner, Otto, Conze, Werner, Kosseleck, Reinhardt (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 5, Stuttgart 1984. Matt, Peter von: Drei Perspektiven auf Schillers Tell. In: ders.: Das Kalb vor der Gotthardpost, München 2012, S. 241‒258. McClelland, Richard: „Schweiz erwache!“ Milo Raus City of Change (2010‒2011), das Theater und die Schweizer Demokratie, in: Sidowska, Karolina, Wąsik Monika (Hg.): Vom Gipfel der Alpen… Schweizer Drama und Theater im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin u. a. 2019, S. 221‒234. Pocock, John: The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Political Tradition, Princeton 1975. Reinacher, Pia: Je Suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur, München/Wien 2003. Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell, in: ders.: Schillers Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Berlin/Weimar 1974.
Autorinnen und Autoren
Jürgen Barkhoff ist Professor of German (1776) am Department of Germanic Studies in der School of Languages, Literatures and Cultural Studies am Trinity College Dublin, University of Dublin. Zugleich ist er Vice-Provost, Chief Academic Officer und Deputy President seiner Universität. Hauptforschungsgebiete: Literarische Anthropologie, Wechselbeziehungen von Literatur, Medizin und Psychologie um 1800, Kulturelle Identitäten in Europa, Schweizer Literatur. Zahlreiche Aufsätze zu Schweizer Autoren der Gegenwart, vor allem zu Thomas Hürlimann. Mitherausgeber (mit Valerie Heffernan): Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur (de Gruyter 2010). Thomas Fries, Prof. Dr., Titularprofessor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Studium der Germanistik, Komparatistik, Romanistik und Philosophie in Zürich, Paris und Berlin. Promotion 1972. Postgraduate Studies in Paris und in den USA (Yale University, New Haven). Habilitation 1990. 1997 Gastdozent an der Washington University, St. Louis. Forschungsschwerpunkte: Dialog, Literaturtheorie, Rhetorik, Schweizer Literatur und Weltliteratur, deutsch-jüdische Literatur. – Letzte Publikationen: Hg. zusammen mit Sandro Zanetti: Revolutionen der Literaturwissenschaft 1966–1971, Zürich 2019, mit Aufsätzen zu Paul de Man, S. 153‒174, und René Girard, S. 309‒320; „Literarische Lüge, Weltliteratur, Münchhausen“, in: Stefan Howald et al. (Hg.), Das Phänomen Münchhausen. Neue Perspektiven, Kassel 2020, S. 183–198. Guglielmo Gabbiadini, geb. 1984 in Calcinate, ist derzeit Forschungsbeauftragter für Neuere deutsche Literatur an der Universität Bergamo und Lehrbeauftragter auf Zeit für Deutsche Kulturwissenschaft an der Staatlichen Universität Mailand. Er studierte von 2003 bis 2009 Germanistik und Anglistik an der Universität Bergamo und an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2013 wurde er in Bergamo im Fach Neuere Deutsche Literatur (L-LIN/13) promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem in der germanistischen Literaturwissenschaft und -geschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert sowie im Denken Wilhelm von Humboldts. Als Gastforscher und Stipendiat war er u. a. in Heidelberg, Halle/Saale und Turin tätig. Er ist Alumnus der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, des DAAD sowie Fellow der Alexander von Humboldt-Stiftung.
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Autorinnen und Autoren
Dariusz Komorowski, Professor für Germanistik an der Universität Wrocław. Seit 2005 leitet er dort die Forschungsstelle für Deutschschweizer Literatur. SCIEX Fellow an der Universität Lausanne (2011/12). Autor der Monographie über das Schaffen von Jürg Laederach Bewegungsästhetik in den Romanen von Jürg Laederach. Herausgeber von Jenseits von Frisch und Dürrenmatt (2009) und eines Arbeitsbuches für Studierende Ausgewählte Quellen im Diskursfeld ‚Identitäten‘. Die Schweiz (2009) sowie Autor zahlreicher Aufsätze zur Deutschschweizer Literatur. Die neueste Monographie ist Der Intellektuelle im Narrenhabitus. Carl Albert Looslis Publizistik in der nationalen Identitätsdebatte der Schweiz um 1900. (2014). Mitherausgeber der Online-Zeitschrift CH-Studien. Zeitschrift zu Literatur und Kultur aus der Schweiz. Forschungsschwerpunkte: Schweizer Literatur und Kultur, Kultur- und Diskurstheorie, Ideen zur gesellschaftlichen Ordnung, Feuilleton und Pressepublizistik. Wojciech Kunicki, ordentlicher Professor für Germanistik an der Universität Wrocław/Breslau, Leiter des Lehrstuhls für Deutsche Literaturgeschichte bis 1848. Forschungsinteressen: Das Werk Ernst Jüngers und die konservative Revolution in Deutschland, Kultur und Literatur in Schlesien, J.W. von Goethe. Ausgewählte Publikationen: ‚…auf dem Weg in dieses Reich‘. NS-Kulturpolitik und Literatur in Schlesien 1933 bis 1945; Hans LipinskyGottersdorf. Leben und Werk. Mit-Hrsg. und Mitautor: Germanistik in Polen. Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik – 18 Porträts; Germanistik in der Volksrepublik Polen und der kommunistische Sicherheitsdienst: vorläufige Erkundungen; Germanistische Forschung und Lehre an der königlichen Universität zu Breslau von 1811 bis 1918; Johann Wolfgang von Goethe. Lata nauki Wilhelma Meistra. Übersetzung von Wojciech Kunicki und Ewa Szymani. Kommentar von Wojciech Kunicki. Adrian Madej, Dr. phil., geb. 1986 in Ząbkowice Śląskie; 2007‒2013 Jurastudium, 2005‒2010 Germanistikstudium an der Universität Wrocław und PhilippsUniversität in Marburg. Seit 2014 (Promotion) wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens am Germanistischen Institut der Universität Wrocław. Mehrere Forschungsaufenthalte in Deutschland, u. a. am Institut für Slavistik an der Universität Leipzig und im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg. Mehrere Publikationen zu deutschen gegenwärtigen Identitätsdebatten sowie politischen Identitätskonzepten. Neueste Monografie: Deutsche Identitätsdebatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach der Wende 1989 mit besonderer Berücksichtigung des Feuilletons (2016).
Autorinnen und Autoren
Dominik Müller, geb. 1954 in Thun, unterrichtete bis 2018 Neuere deutsche Literatur am Département de langue et de littératur allemandes der Universität Genf. Er promovierte mit einem Vergleich der beiden Fassungen des Grünen Heinrich von Gottfried Keller. Auch danach beschäftigte er sich immer wieder mit diesem Autor, u. a. als Mitglied des Herausgeberteams der 32-bändigen Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur der Schweiz generell, die Wechselverhältnisse zwischen Literatur und bildender Kunst und zwischen Literatur und Tourismus. Er ist u. a. Präsident der Schweizerischen Schillerstiftung und der Stiftung für eine Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe. Claudia Nitschke ist Professorin für Germanistik an der Universität Durham. Zuvor lehrte sie an den Universitäten Tübingen und Oxford. Ihre Forschungsinteressen umfassen das 18. und 19. Jahrhundert, Romantik sowie Nationalismus, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Souveränität in Literatur und Film. Sie hat Monographien zu Utopie und Krieg bei L. Achim von Arnim; Der öffentliche Vater: Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1751–1921) und Anerkennung und Kalkül: Literarische Gerechtigkeitsentwürfe im gesellschaftlichen Umbruch (1773–1819) veröffentlicht sowie Sammelbände zu Familie und Identität und Gastlichkeit und Ökonomie: Wirtschaften im deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts herausgegeben. Daniel Rothenbühler hat nach dem Studium der deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft mit der Dissertation Der grüne Heinrich 1854/55 promoviert (Zürcher Germanistische Studien Bd. 56). Er veröffentlichte Bücher, Anthologie- und Zeitschriftenbeiträge, Artikel, Vor- und Nachwörter und Rezensionen zu zahlreichen Schweizer Autorinnen und Autoren vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. 2006 hat er das Schweizerische Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern (HKB) mitbegründet, wo er heute noch lehrt. Er ist als literarischer Übersetzer tätig und gehört seit 2009 zum Herausgeberteam der Sammlung „edition spoken script“. 2018 wurde er zum Präsidenten des deutschsprachigen PEN-Zentrums der Schweiz gewählt. Peter Rusterholz, Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bern (1980‒2000). 1992‒2004 Präsident des Collegium Generale. Arbeitsschwerpunkte und Publikationen zur Literatur der frühen Neuzeit, zur Semiotik und zur Theorie und Praxis der Interpretation, zur Literatur des 20. Jahrhunderts und zur Literatur aus der Schweiz. Leiter von Nationalfondsprojekten zum Spätwerk Dürrenmatts. Schweizer Literaturgeschichte, hg. mit Andreas Solbach (2007); Chaos und Renaissance im Durcheinandertal Dürrenmatts (2017). Neuere Aufsätze u. a. Literatur und Politik aus verschiedenen Perspektiven (2017),
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Autorinnen und Autoren
Die Brücken Hugo Loetschers: Leben und Erzählen zwischen Autobiographie und Roman (2017), Robert Walsers Sicht seiner Rollen im Welttheater und seine Auseinandersetzung mit Hugo von Hofmannsthal (2018), Tabubrüche in der deutschschweizerischen Literatur. Exemplarische Beispiele von Hugo Loetscher, Urs Allemann und Jonas Lüscher (2020). Jacek Rzeszotnik, ordentlicher Prof. Dr. habil., Germanist, Leiter der Forschungsstelle für Literatur und Medien am Germanistischen Institut der Universität Wroclaw/Breslau (Polen). Mitglied u. a. der Internationalen Vereinigung für Germanistik und des Deutschen Germanistenverbandes (Gesellschaft für Hochschulgermanistik), der Gesellschaft für Polnische Germanisten sowie Gründungsmitglied der Gesellschaft für Fantastikforschung (Hamburg). Forschungsschwerpunkte: Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft. Über 200 wissenschaftliche Veröffentlichungen in Australien, Deutschland, Österreich, Polen, Spanien, der Schweiz, Ungarn, den USA. Über 200 Veröffentlichungen zur Literatur- und Medienwissenschaft (Monografien, Herausgeberschaften, Texteditionen, Aufsätze, Lexikon-Artikel, Rezensionen etc.) Eda Sagarra, geb. O’Shiel Dublin 1933. Studium der Geschichte und Germanistik in Dublin, Freiburg/Br., Zürich, Wien (Dr. Phil.). Dozentin für deutsche Sprache, neuere Literatur und Geschichte an der Manchester Universität 1958‒75, Ordinaria für Germanistik am Trinity College Universität Dublin 1975‒98. Publikationen zur neueren deutschsprachigen Literatur, sowie zur deutschen Sozialgeschichte und Frühgeschichte des irischen Nationalstaats. Mitglied bzw. korrespondierendes Mitglied der Irischen und Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Gründungsvorsitzende des Irish Research Council for the Humanities & Social Sciences. Tobias Weger, geb. 1968 in München, Studium der Geschichte und Volkskunde an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Promotion und Habilitation an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 1997‒2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Stadtarchiv München, 2002‒2004 Kulturreferent am Schlesischen Museum zu Görlitz, 2004‒2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg, seit 2018 am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) in München und Privatdozent an der LMU München. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Geschichte und Kultur Zentral- und Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, europäische Staatenordnung seit dem Wiener Kongress 1814/15, Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen Ostund Südostforschung, Gedächtnis-, Mythen- und Symbolgeschichte, Stereotypenforschung.
Autorinnen und Autoren
Elias Zimmermann, Dr. phil., geb. 1987. Studium der Germanistik und Philosophie in Bern und Berlin. 2012–16 Doktorat im SNF ProDoc-Projekt Das unsichere Wissen der Literatur an der Universität Lausanne, dort Promotion 2016. 2017–18 SNF Postdoc. Mobility Stipendiat an der Humboldt Universität Berlin. 2018–20 Assistent an den Universitäten Bern und Karlsruhe. Seit 2020 Oberassistent der Section d’allemand, Universität Lausanne. Mitgliedschaften (Auswahl): Gesellschaft für die Erforschung der Deutschschweizer Literatur; Vorstandsmitglied/Aktuar des Vereins zur Förderung des Schweizer Literaturarchivs. Schwerpunkte: Schweizer Literatur und Gegenwartsliteratur; Drastik und Erhabenheit; Architektur und Literatur; Kannibalismus und das politische Imaginäre. Publikationen/Herausgeberschaften (Auswahl): Lesbare Häuser? Thomas Bernhard, Hermann Burger und das Problem der Architektursprache in der Postmoderne (2017); Fenster – Korridor – Treppe. Architektonische Wahrnehmungsdispositive in der Literatur und in den Künsten. (2019).
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MENSCHEN MACHEN GESCHICHTE, DOCH VERLÄUFT SIE MEIST NICHT GANZ SO, WIE SIE ES WÜNSCHEN
Alexander Demandt Magistra Vitae Essays zum Lehrgehalt der Geschichte Historica Minora, Band 4 2020. 312 Seiten, mit 16 s/w-Abb., gebunden € 35,00 D | € 36,00 A ISBN 978-3-412-50626-1
Preisstand 1.1.2020
Menschen machen Geschichte, doch verläuft sie meist nicht ganz so, wie sie es wünschen. Das führt auf Gedanken, worauf das beruht, wie etwas hätte verhindert werden können, oder was geschehen wäre, wenn andere Entscheidungen getroffen worden wären. Dies gilt zumal für die politische Geschichte, in der Gewalt und Verführung, Zufall und Leichtfertigkeit das friedliche Zusammenleben gefährden, wo die Faszination der Charismatiker und die Macht der Massen auf unberechenbare Weise zusammenspielen. So gibt der Umgang der Menschen mit ihresgleichen Anlass zu Trauer und Pessimismus, aber auch zum Nachdenken über Alternativen. Ein Ruhepol dagegen bietet die Naturbetrachtung, ein Lichtblick die Kulturgeschichte. Diesem Rahmenthema gelten die vorliegenden zwanzig Essays dieses Bandes, die markante Einzelfälle aus der Geschichte vom Altertum zur Gegenwart beleuchten.